Selbsterkenntnis und Lebenspraxis: Zur apollinischen und platonischen Ethik [1 ed.] 9783666301797, 9783525301791


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Selbsterkenntnis und Lebenspraxis: Zur apollinischen und platonischen Ethik [1 ed.]
 9783666301797, 9783525301791

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Bettina Fröhlich

Selbsterkenntnis und Lebenspraxis Zur apollinischen und platonischen Ethik

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30179-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Fritz Thyssen Stiftung fþr Wissenschaftsfçrderung.  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Der Apollon vom Westgiebel des Zeustempels in Olympia. Abguss der Marmor-Skulptur im Museum von Olympia, 470–460 v. Chr., Abguss 1880/2000, Gips, 310 cm. Sammlung des Winckelmann-Instituts an der Humboldt-UniversitÐt zu Berlin. Foto: Jçrg Alisch.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A: Apollinische Selbsterkenntnis I Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion . . . . . . . . 1. Apollon – Herkunft, Funktionen, genetische Aspekte . . . . . . . 2. Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer . . . . . 3. Selbsterkenntnis in der delphischen Tradition . . . . . . . . . . . a) Die Institution des delphischen Orakels . . . . . . . . . . . . . b) Apollinische Paränese zur Selbsterkenntnis in den delphischen Legenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der delphische Spruch cm_hi sautºm . . . . . . . . . . . . . .

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27 27 32 44 44

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II Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie der spätarchaischen und klassischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Phänomen der Hybris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Motiv der Hybris bei Pindar . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hybris-Konzeptionen in der attischen Tragödie . . . . . . . . . c) Hybris bei Herodot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Apollinische Selbsterkenntnis in Pindars Epinikien . . . . . . . . . a) Pindars Delphi-Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mensch als ›Tagwesen‹ und ›Traum eines Schattens‹ (P. 8, 88–97) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pessimistisches Menschenbild bei Pindar? . . . . . . . . . . . . d) Der Mensch als ein mit sterblichen Gliedern behaftetes Wesen (N. 11, 13–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Mensch in seiner Gottferne und Gottähnlichkeit (N. 6, 1–7). f) Selbsterkenntnis und Maßethik (P. 2, 34; I. 5, 12–16; P. 3, 59–62) g) Maßethik und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 74 75 79 83 85 88 88 90 103 107 109 116 128

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Inhalt

3. Apollinische Selbsterkenntnis in Sophokles’ Tragödien . . . . . . . a) Sophokles und Apollon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mensch als ›Schattenbild‹ (Ai. 118–133) . . . . . . . . . . . c) Apollinische Selbsterkenntnis in Sophokles’ späteren Tragödien. d) Selbsterkenntnis als Begründung einer Ethik des Maßes und eines relativ stabilen Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Apollinische Selbsterkenntnis in Herodots Kroisos-Logos . . . . . . a) Herodot und Delphi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Motiv des ›Lernens durch Leiden‹ bei Herodot . . . . . . . c) Verweigerung der Selbsterkenntnis – das Solon-Kroisos-Gespräch (1, 29–33) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Erschütterung der Glücksgewissheit – die Atys-Adrastos-Geschichte (1, 34–45) . . . . . . . . . . . . . . . e) Einsicht in die Unbeständigkeit des menschlichen Glücks – die Scheiterhaufenszene (1, 86–89) . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Einsicht in das eigene Fehlverhalten – das apologetische Apollonorakel (1, 90–91) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ermahnung zur Selbsterkenntnis – Kroisos als weiser Berater des Kyros (1, 155–156; 206–208) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grenzen der apollinischen Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . .

130 130 132 141 151 158 158 161 168 178 185 191 199 208 216

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Sokrates und Delphi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Problem der Historizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die sokratischen Bezugnahmen auf das delphische cm_hi sautºm . 3. Sokrates’ Delphi-Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Chairephon-Orakel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Authentizität und Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergleich mit den delphischen Legenden . . . . . . . . . . . . c) Chairephons Orakelkonsultation . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das delphische Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sokrates’ Reaktion auf das Orakel . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott . . . . . . . . . . . . . a) Deutungsmöglichkeiten des sokratischen Apollon: Der traditionelle, der reformierte, der impersonale Gott . . . . . . b) Sokratischer Vernunftglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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233 233 236 240 247 247 250 253 254 258 269

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269 280 285

Inhalt

II Selbsterkenntnis bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens . . . . . . . . . . a) Bedeutungsaspekte der Erkenntnis des Nichtwissens . . . . . . aa) Intention und Resultate der sokratischen Wissensprüfung (Laches, Charmides, Politeia I, Euthyphron) . . . . . . . . . bb) Einsicht in die fehlende Erkenntnis des Guten . . . . . . . . cc) Einsicht in die Grenzen des Meinungswissens (Menon) . . . dd) Vergleich mit der apollinischen Selbstbesinnung . . . . . . b) Flucht und Selbsttäuschung – die Schwierigkeit der Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Physisches Sich-Entfernen (Politeia I, Euthyphron) . . . . . bb) Äußere Verortung der Defizite (Laches) . . . . . . . . . . . cc) Ablenkungsstrategien (Menon) . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Angriffsmanöver (Menon, Politeia I, Gorgias) . . . . . . . . ee) Drohungen (Menon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Schwierigkeit der Selbsterkenntnis – Versuch einer Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Selbsterkenntnis und Wahrheitseros . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbsterkenntnis als Ursache des Wahrheitseros (Menon, Lysis, Symposion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dynamik des Eros (Symposion) . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Epistemologischer Exkurs I: Vergänglichkeit der Erkenntnis und Periodizität der Erkenntnisbewegung (Symposion, Phaidros) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Folgerungen für die Hexis des Nichtwissens . . . . . . . . . d) Wissensprüfung als Wahrheitssuche . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verschränkung von Elenchos und Wahrheitssuche in den frühen Dialogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Epistemologischer Exkurs II: Logos und Nous . . . . . . . . cc) Noetisches Erkennen im Tugenddialog . . . . . . . . . . . . dd) Von der destruktiven zur konstruktiven Wissensprüfung . . 2. Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele . . . . . . . . . . . . . . . a) Authentizität und Datierung des Alkibiades Maior . . . . . . . . b) Selbsterkenntnis als Erkenntnis des seelischen Selbst (Alk. I 127e–132b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Identifizierung von Selbst und Seele . . . . . . . . . . . . . bb) Folgerungen für die Sorge um sich selbst . . . . . . . . . . . c) Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Vernunftseele (Alk. I 132b–133c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbsterkenntnis im Anderen – das Augengleichnis . . . . . bb) Identifizierung von Selbst und Vernunft . . . . . . . . . . .

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344 352 353 354 365 376 383 388 388 393 393 399 403 403 410

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Inhalt

cc) Folgerungen für die Sorge um sich selbst . . . . . . . . . . . d) Selbsterkenntnis und Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Seelenreflexion und Erkenntnis des Nichtwissens als Elemente im Prozess der Selbstformung . . . . . . . . . . . bb) Seelenreflexion und Selbstformung im Phaidros (229ef.) . . cc) Der Zusammenhang von Selbstsorge und Selbsterkenntnis . e) Sophistische Selbsterkenntnis im Dialog Charmides . . . . . . . aa) Selbsterkenntnis als selbstbezügliche Erkenntnis (Charm. 166b/c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenz zur Erkenntnis der Vernunftseele . . . . . . . . . cc) Selbsterkenntnis als richtige Einschätzung der fachlichen Kompetenzen und Inkompetenzen (Charm. 167a) . . . . . . dd) Differenz zur Erkenntnis des Nichtwissens . . . . . . . . . . 3. Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten . . . . . . . . . . . . . . a) Der ›Blick auf Gott‹ als höchste Form der Selbsterkenntnis (Alk. I 133c8–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Selbsterkenntnis in Relation zur Erkenntnis des Guten (Alkibiades I, Politeia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strukturvergleich zwischen Alk. I 133c8–16 und den Gleichnissen der Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gott, Nous und Agathon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Selbst und das Gute (Alkibiades I, Politeia) . . . . . . . . . aa) Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . bb) Ein Funktionsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Differenzierung zwischen verschiedenen Selbstbegriffen (Alk. I 129b–133c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Transpersonale und personale Aspekte des Selbst . . . . . . ee) Das Selbst als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Gute bei Platon (Politeia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lebenspraktischer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Gute als Lenkung des ›Auges der Seele‹ (rep. 518c–519b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausrichtung auf das Eine (rep. 474b–480a) . . . . . . . . . . dd) Rückgang in den Hypothesen bis zum ›Voraussetzungslosen‹ (rep. 509c–511e) . . . . . . . . . . . ee) Nicht-hypothetische Ausrichtung auf die Sache (rep. 514a–518b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

9

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Kaum ein Thema hat das griechische Denken intensiver beschäftigt und intellektuell wie existenziell stärker herausgefordert als die Selbsterkenntnis. Ganz gleich, auf welchen Bereich man blickt – ob auf Religion, Dichtung, gnomische Weisheit oder auf Philosophie und Wissenschaft: Selbstbesinnung und epistemische Selbstbeziehung sind thematisch stets präsent. Das Motiv durchzieht die gesamte griechische Geistesgeschichte vom archaischen Zeitalter bis zur Spätantike. Bereits bei Homer wird der Selbsterkenntnis ein besonderer Stellenwert eingeräumt. In der Ilias erscheint der Gott Apollon als Mahner zu einer Einsicht, die den Menschen auf den ihm gebührenden Platz in der göttlichen Ordnung der Welt verweist und ihn damit vor Hybris bewahrt. Eine Ausformung und reflexive Gestalt hat das Motiv freilich erst in der Literatur der klassischen Zeit gefunden. Die von apollinisch-delphischen Themen inspirierte Dichtung und Historiographie des 5. Jh. v. Chr. gestaltete die Selbsterkenntnis als eine mit der Sophrosyne assoziierte praktische Einsicht, die für die Gestaltung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens relevant ist. In der daran anknüpfenden philosophischen Reflexion ist zum einen eine Vertiefung der praktischen Dimension und zum anderen eine Bedeutungserweiterung zu beobachten. Bei Sokrates gewinnt die Selbsterkenntnis den Status eines zentralen ethischen Prinzips, das im Rahmen des Projekts einer rationalen Selbstformung exemplarisch realisiert und paränetisch eingefordert wurde. In der an Sokrates anschließenden und dessen Einsicht aufnehmenden platonischen Philosophie wird die Selbsterkenntnis über die ethischen und politischen Bezüge hinaus als Grundlage von Wissenschaft und Vernunfteinsicht sowie als Ausgangspunkt einer rationalen Theologie thematisiert. Platon erörtert diese Einsicht sowohl im Zusammenhang mit der Tugendproblematik als auch im Kontext der philosophischen Erkenntnissuche und des Zugangs zum Göttlichen. Nachdem die Selbsterkenntnis von Sokrates und Platon ins Zentrum der philosophischen Bemühungen gerückt worden war, blieb sie auch in der nachplatonischen Philosophie ein bestimmendes Grundmotiv. Bei Aristoteles be-

12

Einleitung

zeichnet sie ein zentrales Element der Metaphysik, die in der Betrachtung des sich selbst denkenden göttlichen Nous kulminiert. In der stoischen Tradition besitzt die Selbsterkenntnis eine wichtige Funktion innerhalb des ethischen Projekts einer Therapie der seelischen Leidenschaften und der Einordnung des Menschen in den Naturzusammenhang. Auch im spätantiken Denken wird dem Motiv größte Bedeutung beigemessen. Der Neuplatonismus plotinischer Prägung betrachtet die Selbsterkenntnis als essenzielles Prinzip einer Geistmetaphysik sowie als Ziel der vom Menschen zu realisierenden Aufstiegsbewegung. Angesichts dieser Präsenz und Kontinuität der Motivbehandlung lässt sich die These wagen, dass die Selbsterkenntnis eines der zentralen Themen, wenn nicht sogar das zentrale Thema im griechischen Denken darstellt. Umso erstaunlicher ist es, dass der Gegenstand in der altertumswissenschaftlichen und philosophiehistorischen Forschung bislang vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat.1 Zwar gibt es eine breite und differenzierte Forschung zur Selbsterkenntnis in der aristotelischen Theologie, in den hellenistischen und römischen Philosophenschulen und der neuplatonischen Metaphysik. Die von apollinischer Religion und Dichtung bestimmten Anfänge des griechischen Nachdenkens über die Selbsterkenntnis und die philosophische Neubegründung durch Sokrates und Platon sind hingegen trotz fortwährender Betonung der Bedeutung des delphischen cm_hi sautºm und der sokratischen Einsicht für die spätere philosophische Reflexion noch kaum bzw. in nur unzulänglicher Weise untersucht worden. Die folgende Studie wird sich einer genauen Betrachtung der vorphilosophischen Motivbehandlung sowie der Selbsterkenntnis bei Sokrates und Platon unter besonderer Berücksichtigung des lebenspraktischen Aspekts widmen. Da hier eine philosophische Abhandlung intendiert ist, läge eine thematische Beschränkung auf die sokratisch-platonische Selbsterkenntnis nahe. Es gibt jedoch gute Gründe, die vorphilosophische Reflexion in die Untersuchung einzubeziehen und eine entsprechende Kontextualisierung vorzunehmen. Vor dem Hintergrund der religiös-dichterischen Tradition werden Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Transformationsprozesse erkennbar, die für die Deutung der platonischen Ethik und Anthropologie aufschlussreich sind. In der Untersuchung wird aufzuzeigen sein, dass das klassische philosophische Denken bestimmte Elemente der traditionellen Konzeptionen aufgreift und weiterentwickelt. Dazu gehören insbesondere die Auffassung der Selbsterkenntnis als Begründung von Sophrosyne und maßvollem, kooperativen Sozialverhalten, der 1 Neben der Studie von Göbel (2002), dem begriffshistorisch angelegten Überblick von Hager (1995, 406–413) und den materialreichen Untersuchungen zur Deutungsgeschichte der delphischen Maxime cm_hi sautºm (vgl. Wilkins 1917 u. 1929; Wilamowitz 1926; Courcelle 1974– 75; Tränkle 1985; Reiser 1992) gibt es kaum Versuche einer Gesamtdarstellung der antiken Selbsterkenntnis.

Teil A: Apollinische Selbsterkenntnis

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Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Eudaimonia, die Funktion der Selbstbesinnung als Heilmittel (v²qlajom) gegen die Hybris (vbqir) sowie die seelentherapeutische2 und persönlichkeitsbildende Effizienz dieser Einsicht. Darüber hinaus sind Kontinuitäten hinsichtlich allgemeiner ethischer Prinzipien zu beobachten. Die von Platon exponierte Steuerungsfunktion der Vernunft, die Rolle der Rationalität in Deliberations- und Handlungsprozessen sowie menschliche Freiheit und Selbstverantwortung werden bereits in der frühen griechischen Ethik ansatzweise diskutiert oder als Prämisse zugrunde gelegt. Bei aller Kontinuität lassen sich jedoch auch Transformationen erkennen, die so weitreichend sind, dass es gerechtfertigt erscheint, hinsichtlich der sokratisch-platonischen Selbsterkenntnis von einem für die weitere Reflexion folgenreichen Neuansatz zu sprechen. In der Untersuchung werden folgende Aspekte aufzuzeigen sein: 1) Philosophische Reflexion des Selbstbegriffs, 2) Prüfung der identitätsstiftenden Wertvorstellungen, 3) Ersetzung der mythischen Fundierung durch eine rationale Grundlegung, 4) Einführung eines dialogischdialektischen Erkenntnisverfahrens, 5) Prozessualität der Selbsterkenntnis und Selbstformung, 6) das Selbst als Zugang zum Göttlichen. Eine genaue Analyse dieser Aspekte eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf die platonische Ethik, Anthropologie, Psychologie und Theologie, sondern ermöglicht darüber hinaus eine richtige Einschätzung von Wert und Bedeutung der platonischen Identitätskonzeption im geistesgeschichtlichen Kontext.

Teil A: Apollinische Selbsterkenntnis Die Untersuchung erfolgt in zwei Hauptteilen. Der Teil A widmet sich den vorphilosophischen Konzeptionen der Selbsterkenntnis, die unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert werden. Dabei wird eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs vorzunehmen sein. Die Betrachtung verfolgt nicht das Ziel einer umfassenden Darstellung der Formen der epistemischen Selbstbeziehung vor Platon, sondern wird sich auf eine bestimmte Gestalt der Selbsterkenntnis konzentrieren, die mit der Apollon-Religion eng verbunden ist und aus diesem Grund mit dem Terminus ›apollinische Selbsterkenntnis‹ bezeichnet werden soll. Gemeint ist eine mit der Reflexion auf die Grenzen der menschlichen Kondition verbundene Einsicht in die Differenz zwischen Gott und Mensch, die die Funktion einer Prophylaxe und Korrektur der Hybris erfüllt und Transformationen des religiösen und sozialen Verhaltens zur Folge hat. Diese Form der 2 Zur Seelentherapie (heqape¸a t/r xuw/r) als Intention der sokratisch-platonischen Philosophie vgl. Hadot (1991, 13–47), Horn (1998, 24–26) (2009, 155f.), Erler (2006, 21, 65, 70–72).

14

Einleitung

Selbstbesinnung findet sich zuerst in der homerischen Apollonreligion und der daran anschließenden delphischen Tradition und ist dann in entwickelter und modifizierter Gestalt in der apollinisch inspirierten Dichtung und Historiographie der spätarchaischen und klassischen Zeit, insbesondere bei Pindar, Sophokles und Herodot zu beobachten. Die Beschränkung der Untersuchung auf die apollinische Form der Selbstbesinnung ist in der engen Beziehung zwischen dieser Tradition und der sokratisch-platonischen Philosophie begründet. Sowohl der historische Sokrates als auch Platon knüpfen erkennbar an Delphi und die apollinische Selbsterkenntnis an.3 Die herausragende Bedeutung dieser Überlieferung für das sokratisch-platonische Philosophieren wird im Corpus Platonicum vielfach bezeugt4, insbesondere durch die Präsenz des Gottes Apollon in verschiedenen platonischen Dialogen5, durch die expliziten Bezugnahmen auf den delphischen Spruch cm_hi sautºm und die ausdrückliche Wertschätzung des delphischen Heiligtums.6 In der platonischen Apologie stellt Sokrates durch die Berufung auf den delphischen Gott (apol. 20e) und die Bezugnahme auf das Chairephon-Orakel 3 Die Nähe zur delphischen Tradition wird in der Forschung immer wieder betont. Neben den Darstellungen in den philosophiegeschichtlichen Abrissen (vgl. Döring 1998, 160; Erler 2007a, 339) gibt es einige Forschungsarbeiten, die sich explizit und schwerpunktmäßig mit dem Thema befassen (Kuhn 1960; Bömer 1963; Trawny 2003) oder den Aspekt im Rahmen von thematisch umfassenderen Studien behandeln (Horn 1998, 24–26 u. 226–231; Enders 1999, 137–143; Göbel 2002, 16–51). Hinweise finden sich auch bei Tuckey (1968, 9f.), Betz (1990a, 121–127), Vlastos (1985, 28f.), Heitsch (2002, 198) (2004, 160f.), Pleger (2009, 64f.), Carrera (2009, 328). Daneben gibt es eine Reihe von Arbeiten, die sich mit der Transformation des Apollinischen in der platonischen Philosophie (insbes. im Phaidon) befassen (vgl. Kerenyi [1933] 1980; Guardini [1947] 1964; Albert 1980, 15–26; Ries 2005, 74–76). Dabei wird jedoch ein orphisch-pythagoreischer Apollinismus als Anknüpfungspunkt zugrunde gelegt, der mit dem delphischen Gott nur noch bedingt etwas zu tun hat. Auch Schefers (1996) ausführliche Behandlung des Apollinischen bei Platon erörtert weniger den Anschluss an die delphische Tradition. Der Autorin geht es primär um den theologisch-religiösen Aspekt der platonischen Philosophie, die hier als mystische Apollon-Erfahrung dargestellt wird. 4 Vgl. auch die zahlreichen Legenden und Anekdoten zur Bedeutung von Apollon in Platons Leben, die von späteren Biographen aufgezeichnet worden sind. Vgl. dazu Riginos (1976), Albert (1980, 17–19), Schefer (1996, 252–305), Erler (2007a, 43f.). 5 Die Präsenz des Gottes Apollon im platonischen Werk wurde von Schefer (1996) in einer gründlichen, alle relevanten Stellen berücksichtigenden Untersuchung aufgezeigt. 6 Wie die Belegstellen erkennen lassen, schätzte Platon Delphi als ethische Instanz, die neue sittliche Standards eingeführt und etabliert hat – wie z. B. die Forderung nach Sühnung und Reinigung von Blutschuld (leg. 865b). Im Phaidros wird das delphische Orakel in seiner sowohl die privaten als auch die öffentlichen Angelegenheiten betreffenden Beratungsfunktion gewürdigt. Die Prophetin zu Delphi, so heißt es dort, habe für Hellas viel Gutes (pokk± jak±) bewirkt (Phaidr. 244a/b). In der Politeia schließlich hebt Platon das delphische Heiligtum als Ordnungsmacht in allen kultischen Dingen hervor und zeichnet den delphischen Gott mit dem Titel eines vaterländischen Ratgebers (p²tqior 1ngcgtµr) aus (rep. 427b/c; vgl. auch leg. 738b–d).

Teil A: Apollinische Selbsterkenntnis

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(apol. 21a) eine direkte Beziehung zur delphischen Tradition her. Diese besondere Verbindung wird an späterer Stelle durch die Hervorhebung der Übereinstimmung zwischen dem sokratischen Pragma und dem Wirken des delphischen Apollon nochmals betont. In mythisch-sakraler Ausdrucksweise7 verweist Sokrates darauf, dass seine Prüfung der Wissensansprüche und die Ermahnung zur Selbstsorge der apollinischen Paränese und Protreptik zur Selbsterkenntnis entspricht (vgl. apol. 23b/c).8 Die Bedeutung des delphischen Apollon für die sokratische Philosophie wird zudem durch die Darstellung des Gottes als auftraggebende Instanz und als Initiator der sokratischen Wissensprüfung und Wahrheitssuche kenntlich gemacht (apol. 21b, 23b, 28e, 30d–31b, 30c). Im Phaidon durchzieht die Apollon-Thematik den ganzen Dialog (vgl. insbes. Phaid. 58b/c, 60d–61b, 84e–85b, 118a).9 Analog zur Apologie wird Apollon als Leitgott (85b5f.) und die philosophische Wahrheitssuche als Gottesdienst (85b4) bestimmt. Diese – wiederum mythisch-sakral ausgedrückte – Nähe zur delphischen Tradition wird hier durch einen Philosophiebegriff begründet, der sich an den Wesenszügen des delphischen Gottes orientiert. Das im Dialog entwickelte Konzept einer philosophischen Wahrheitssuche vereint musische (Phaid. 60e–61a), kathartische (Phaid. 69c) und mantische (Phaid. 85b) Momente und knüpft damit an die Grundfunktionen des delphischen Apollon an, der als lousac´tgr, jahaqt¶r und l²mtir verehrt wurde.10 Der Aspekt der Selbsterkenntnis findet hier keine ausdrückliche Thematisierung, steht jedoch zweifellos im Hintergrund als das die Wahrheitssuche auslösende und tragende Moment.11 Neben der Apollon-Präsenz in der Apologie und im Phaidon12 bezeugen die das ganze Werk durchziehenden13 Bezugnahmen auf die Maxime cm_hi sautºm 7 In apol. 23b/c ist von einer ›Hilfe für den Gott‹ (t` he` bogh_m) und von einem ›dem Gott geleisteten Dienst‹ (B toO heoO katqe¸a) die Rede. Zu dieser Wendung vgl. Heitsch (2002, 91f.). Die mythisch-religiöse Ausdrucksweise ist wohl nicht zuletzt in der Intention begründet, den Vorwurf der Asebie zurückzuweisen und die philosophische Tätigkeit in Kategorien zu erklären, die den Richtern vertraut sind. 8 Vgl. Heitsch (2002, 92) (2004, 160f.). 9 Zur Apollon-Präsenz im Phaidon vgl. Schefer (1996, 125–182) und Ebert (2004, 106f.). 10 Vgl. Nilsson (GGR I, 529–547), Burkert (GR, 225–233), Bruit Zaidman/Schmitt Pantel (1994, 194–200), DNP 1 (1996, 863–868). Mit der Betonung der Katharsis als Vorbereitung der Seele auf das Leben nach dem Tod wird im Phaidon erkennnbar ein orphisch-pythagoreisch geprägter Apollinismus dargestellt. Freilich ist hier zu fragen, inwieweit diese Sichtweise der sokratisch-platonischen Auffassung entspricht. Als primärer Anknüpfungspunkt fungiert bei Platon auf jeden Fall der delphische Apollon, auf den sich ja auch Pythagoras ursprünglich bezogen hat. Vgl. dazu Riedweg (2002). 11 Vgl. Horn (1998, 25). Vgl. auch Race (2000, 103), der das Apollon-Motiv im Phaidon im Zusammenhang mit der sokratischen Selbsterkenntnis thematisiert. 12 Vgl. auch die Apollon-Anrufung in rep. 509c1. 13 Vgl. Alk. I 124b, 129a, 130e, 132c/d; Charm. 164d; Prot. 343a/b; Phaidr. 229e; Phil. 48c; Tim. 72a; leg. 923a; pseudo-platon. Amat. 138a; Hipparch. 228e.

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die Verbindung zur delphischen Tradition.14 Besonders hervorzuheben ist die berühmte Passage zu Beginn des Phaidros (229e). Sokrates bekennt sich dort zur Selbsterkenntnis als einer Lebensaufgabe, die Vorrang vor allen anderen geistigen Forschungen hat, und betont damit die Verbindlichkeit der delphischen Maxime für das eigene Leben und Philosophieren. Angesichts der platonischen Bezugnahmen auf die Apollon-Religion und das delphische cm_hi sautºm ist eine eingehende Erörterung dieser Form der vorphilosophischen Selbstbesinnung sinnvoll und gerechtfertigt. Die Untersuchung der apollinischen Selbsterkenntnis wird in Form einer sorgfältigen und detaillierten Analyse von zahlreichen Texten und Fragmenten erfolgen. Diese umfangreiche und ausführliche Darstellung ist nicht zuletzt in der defizitären Forschungslage begründet. In den philologischen Einzeluntersuchungen zur Dichtung und Historiographie der archaischen und klassischen Zeit finden sich zwar immer wieder Hinweise auf eine apollinisch inspirierte Ethik und Selbsterkenntnis. Eine gründliche und umfassende Darstellung, die verschiedene literarische Zeugnisse auswertet und einbezieht, fehlt jedoch bislang. Die wenigen Studien, die sich explizit mit der apollinischen Ethik befassen (Herzog 1922; Dirlmeier [1939] 1970; Pfeiffer [1952] 1960; Schadewaldt [1963] 1975), konzentrieren sich auf die Herausarbeitung von einzelnen Aspekten15 und beschränken sich zumeist auf die Auswertung einer Quelle, sodass die Textbasis häufig außerordentlich schmal ist.16 Neben den genannten Studien finden sich Hinweise zur apollinischen Ethik und Selbsterkenntnis in den historisch-philologischen Untersuchungen zur Deutungsgeschichte der delphischen Maxime cm_hi sautºm17, in den Studien zur antiken Selbsterkenntnis18 sowie in den historischen Abhandlungen zur griechischen Religion19, zum delphischen Heiligtum und den Orakelsprüchen20, die

14 Dazu Horn (1998, 226). 15 Herzog thematisiert den Appell an eine genügsame, bescheidene Lebensweise; Dirlmeier betont das handlungsaktivierende, lebensgestaltende Moment der apollinischen Selbsterkenntnis; Pfeiffer arbeitet die let²moia als Element der apollinischen Ethik heraus und Schadewaldt betont den humanitären Sinn der delphisch-apollinischen Aufforderung zur Selbstbesinnung. 16 So bezieht sich Pfeiffer nur auf die Aitia von Kallimachos. Herzog wertet die von spätantiken Autoren überlieferten delphischen Geschichten aus (vgl. dazu auch Wehrli 1976, 30–60). Dirlmeier (1970, 40f.) weist zwar auf die Elegiendichter, die Theognidea, die pindarischen Oden und das attische Drama als Quellen für die apollinische Ethik hin; in seinen Ausführungen stützt er sich jedoch neben Homer ausschließlich auf Pindars dritte Pythie. Das umfangreichste Quellenmaterial findet sich in Schadewaldts Delphi-Vortrag ([1963] 1975). 17 Vgl. Wilkins (1917, 52f.) (1929, 49f.), v. Wilamowitz-Moellendorff (1926, 172–174), Courcelle (1974–75 I, 11–13), Tränkle (985, 22f.), Reiser (1992, 83f.). 18 Vgl. Hager (1995, 406), Göbel (2002, 16–23). 19 Vgl. Nilsson (GGR I, 647–653), Burkert (GR, 232f.).

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jedoch alle durch äußerste Knappheit charakterisiert sind und über einige wenige, meist unpräzise Ausführungen und Andeutungen nicht hinausgelangen. Der Grund für die bislang fehlende oder in nur unzulänglicher Weise vorgenommene Auswertung der literarischen Zeugnisse besteht vermutlich darin, dass dort weder der Begriff der Selbsterkenntnis gebraucht wird21 noch eine explizite Bezugnahme auf das delphische cm_hi sautºm erfolgt. Die Selbsterkenntnis wird in Dichtung und Historiographie – den spezifischen Genres gemäß – in Form von dramatischen Handlungen, Erzählungen, Chorliedern, Sentenzen unmittelbar vorgeführt, in ihrem Gehalt dargestellt oder paränetisch eingefordert, erfährt jedoch keine terminologische Fixierung und begriffliche Reflexion.22 Die thematische Präsenz der apollinischen Selbsterkenntnis lässt sich jedoch in den einzelnen Texten trotz der fehlenden Terminologie anhand von bestimmten Gestaltungsmerkmalen identifizieren. In den homerischen Epen, den delphischen Geschichten, den pindarischen Oden, sophokleischen Dramen und historischen Logoi finden sich direkte oder indirekte Aufforderungen zur Besinnung und Mäßigung, die dem Gott Apollon23, der Pythia oder dem mit delphischen Traditionen assoziierten athenischen Weisen Solon in den Mund gelegt bzw. die im apollinischen Kontext artikuliert werden wie in Pindars pythischen Oden. Die Paränesen zur Selbstbesinnung und die apollinische Herkunft, ganz gleich, ob der Gott selbst oder ein inspiriertes Medium oder aber ein mit Apollon verbundener Dichter oder Weiser als Mahner dargestellt wird, zeigen an, dass hier eine Selbsterkenntnis thematisiert wird, die mit der ApollonReligion in engem Zusammenhang steht. In der Forschung ist schon häufiger darauf hingewiesen worden, dass das apollinische vq²feo in der DiomedesSzene des fünften Gesangs der Ilias (Il. 5, 440) dem delphischen cm_hi sautºm entspricht.24 Die Betrachtung wird sich nach einigen einleitenden Bemerkungen zu Herkunft, Funktionen und Genese der Apollongestalt (Kap. A I/1) zunächst auf die Auswertung der homerischen Epen (Kap. A I/2) und der delphischen Tradition (Kap. A I/3), insbesondere der von spätantiken Autoren überlieferten, vermutlich auf das 6. Jh. v. Chr. zurückgehenden delphischen Legenden konzentrieren und sich dann in einer eingehenden Analyse mit den pindarischen Epinikien 20 Vgl. Defradas (1972, 268–283), Parke-Wormell (1956, I), Gigon (1995, 705f.), Giebel (2001, 48–51). 21 Die substantivierte Form (cm_sir 2autoO, t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim) taucht gar nicht auf, allenfalls die Imperativform c¸cmysje saut¹m (Aischyl. Prom. 309). Vgl. auch Pind. P. 2, 73. 22 Der Begriff der Selbsterkenntnis (cm_sir 2autoO, t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim) wird erst von Platon verwendet. Vgl. Alk. I 129a2, 130e7, 131b4, 133c8; Charm. 164d4–5, 165b4. 23 In Sophokles’ Aias ist es die Göttin Athene, die Odysseus zur Selbsterkenntnis veranlasst (Soph. Ai.118–133). Durch den Homer-Bezug (vgl. Il. 21, 463–66; Od. 11, 204–224; Od. 18, 124–150) lässt sich dennoch eine apollinische Selbsterkenntnis identifizieren. 24 Vgl. Dirlmeier (1970, 45), Reiser (1992, 84), Göbel (2002, 20 Fußn. 42).

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(Kap. A II/2), den sophokleischen Dramen (Kap. A II/3) und den herodoteischen Logoi (Kap. A II/4) beschäftigen. In die Untersuchung einbezogen werden außerdem Texte und Fragmente von Solon, Theognis, Bakchylides, Aischylos, Euripides, Heraklit. Im Zentrum der ganzen Betrachtung steht die Analyse der Texte von Pindar, Sophokles und Herodot. Die auffällige thematische Präsenz des Selbsterkenntnis-Motivs bei diesen drei Autoren hängt vermutlich mit deren engem Verhältnis zur Apollon-Religion zusammen. Sowohl bei Pindar als auch bei Sophokles und Herodot lassen sich Beziehungen zum delphischen ApollonKult und eine affirmative Einstellung gegenüber dem delphischen Orakel und der Mantik beobachten. Der erste Hauptteil wird mit einer resümierenden Betrachtung abschließen, die die Resultate der einzelnen Analysen in verdichteter, synthetisierender Form präsentiert (Kap. A II/5) und die Grenzen der apollinisch inspirierten Konzeptionen der Selbsterkenntnis aufzeigt (Kap. A II/6).

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis Der zweite Hauptteil der Untersuchung beschäftigt sich mit der Selbsterkenntnis bei Sokrates und Platon. Das erste Kapitel (B/I) ist dem historischen Sokrates gewidmet, der aufgrund seiner engagierten Aufforderung zur Selbstprüfung als Missionar der Selbsterkenntnis in die Geschichte eingegangen ist. Betrachtet man die sokratischen Bemühungen im geistesgeschichtlichen Kontext, so wird man wohl mit einigem Recht behaupten können, dass es das Verdienst des Sokrates war, das Prinzip der Selbsterkenntnis in die Philosophie eingeführt zu haben, auch wenn bereits in der vorsokratischen Philosophie entsprechende Reflexionsansätze zu beobachten sind.25 Eine genauere Untersuchung der sokratischen Konzeption der Selbsterkenntnis ist freilich aufgrund der schwierigen Quellenlage26 mit erheblichen Problemen verbunden. Da wir lediglich die Berichte und Sokrates-Gestaltungen des Schüler- und Anhängerkreises, des Aristoteles und der zeitgenössischen Dichtung zur Verfügung haben und den historischen Sokrates sozusagen nur aus zweiter Hand kennen, ist die Untersuchung mit vielen Unsicherheiten behaftet. Man wird jedoch aus den relevanten Quellentexten zumindest einige Anhaltspunkte gewinnen können, die die Auffassung des historischen Sokrates wenigstens erahnen lassen. In der Untersuchung werden verschiedene Quellen berücksichtigt. Als Hauptquelle fungiert die platonische Apologie, die gewiss nicht als historisches 25 Vgl. insbes. die Fragmente von Heraklit (DK 22 B 43, B 45, B 83, B 101, B 112, B 116). 26 Vgl. dazu Patzer, A. (1987) und Döring (1998) (2001).

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis

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Dokument zu werten ist, aber im Anschluss an Döring (1987) (1998, 155f.) (2001, 677)27 als wichtigstes Zeugnis für das Leben und Denken des historischen Sokrates angesehen werden kann. Neben der Apologie werden relevante Passagen aus platonischen Dialogen des frühen und mittleren Werks, die Memorabilien und die Apologie von Xenophon, die aristotelischen Berichte über Sokrates’ Delphi-Besuch (Peq· vikosov¸ar) und der Alkibiades-Dialog von Aischines aus Sphettos als Quellen herangezogen. Die Betrachtung wendet sich zunächst der von Platon dargestellten sokratischen Bezugnahmen auf das cm_hi sautºm (B I/2) und dem aristotelischen Bericht über den Delphi-Besuch (B I/3) zu und wird dann ausführlich auf das bei Platon und Xenophon angeführte Chairephon-Orakel (B I/4) sowie auf die in der platonischen Apologie dargestellte besondere Beziehung des Sokrates zum delphischen Gott (B I/5) eingehen. Der Darstellung des historischen Sokrates folgt eine ausführliche und umfassende Untersuchung der Selbsterkenntnis bei Platon (B/II), die den Fluchtpunkt der gesamten Arbeit bildet. Wie noch zu zeigen sein wird, gibt es auch hier erhebliche Schwierigkeiten. Zunächst ist zu bemerken, dass sich die Forschungslage zur platonischen Selbsterkenntnis sehr viel positiver darstellt als der Forschungsstand zur apollinischen Ethik. Nachdem der Gegenstand in der älteren Literatur häufig nur in historisch-philologischen Abhandlungen zur griechischen Sophrosyne28 oder in religionshistorischen Untersuchungen zu Ursprung und Deutungsgeschichte der delphischen Maxime cm_hi sautºm29 Aufmerksamkeit gefunden hat, erfährt er in der jüngeren Forschung im Kontext eines verstärkten Interesses an der Konzeption der Person und der personalen Identität bei Platon30 sowie an dessen Theorie der Emotionen größere Beachtung. In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Monographien und Aufsätzen publiziert worden, die sich thematisch mit der platonischen Konzeption 27 Zur Authentizität der platonischen Apologie vgl. auch de Strycker (1994), Patzer, A. (2000), Heitsch (2002, 189–197) (2004, 166–168), Erler (2007a, 101f.), Peterson (2011, 17f.). Erler (2007a, 102) vermutet in der Apologie einen »historischen Kern«. Auch Patzer, A. (2000, 66), der in Bezug auf die Historizität der platonischen Sokrates-Figur eher skeptisch ist, nimmt historische Elemente an: »Wenn irgendwo, so erfahren wir hier, wie Sokrates in Wirklichkeit dachte und wie aus dem Sokratischen Denken die Platonische Philosophie entstehen konnte«. 28 Vgl. North (1966). 29 Vgl. Wilkins (1917) (1929), Wilamowitz-Möllendorff (1926), Courcelle (1974–75), Betz (1973) (1981), Tränkle (1985), Reiser (1992). 30 Das platonische Konzept der Seele bzw. des Selbst wird in der jüngeren Forschung im Zusammenhang mit dem Begriff der Person erörtert (Long 2005) und unter den Aspekten der Individualität und Individuation von Personen (McCabe 1994; Schmitt 2003; Sorabji 1999 u. 2006; Gerhardt 1997a, 1997b, 2003, 2005; Karl 2010), der personalen Identität (Taylor 1996; Sorabji 1999 u. 2006; Gerhardt 1997b, 2003; Karl 2010) und der Persönlichkeitskonstitution (Gill 1996; Schmitt 2003; Gerhardt 2005; Karl 2010; Moore 2015) betrachtet.

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einer vom Einzelnen zu leistenden Selbstprüfung und Selbsterkenntnis befassen.31 Dennoch lassen sich auch hier Forschungsdefizite beobachten, die eine umfassende Beschäftigung mit dem Gegenstand begründen. Viele der Arbeiten zeichnen sich durch ein auf Einzelaspekte begrenztes Untersuchungsinteresse aus. Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Selbsterkenntnis-Motivs bei Platon bleiben dadurch unterbelichtet. Hinzu kommt, dass die Studien meist durch eine außerordentlich schmale Textbasis charakterisiert sind und sich häufig auf einen einzigen platonischen Dialog konzentrieren. Damit ist bereits eine grundsätzliche Schwierigkeit der Untersuchung angesprochen. Zwar wird bei Platon im Gegensatz zu den dichterischen und historiographischen Texten der begriffliche Ausdruck (cm_sir 2autoO, t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim) gebraucht.32 In vielen Dialogen sind zudem direkte Bezugnahmen auf den delphischen Spruch cm_hi sautºm33 enthalten, die eine Thematisierung des Motivs anzeigen. Eine ausgearbeitete Theorie der Selbsterkenntnis lässt sich jedoch in keinem der platonischen Texte finden. Die Sache wird von Platon – analog zu Dichtung und Historiographie – in ihrem Vollzug exemplarisch vorgeführt34, paränetisch eingefordert35 oder mythisch-metaphorisch dargestellt36, aber kaum in Form einer begrifflichen Untersuchung oder einer systematischen Konzeption präsentiert. Es gibt nur drei Dialoge, in denen die Selbsterkenntnis explizit zum Gegenstand des Gesprächs erhoben und ausführlicher erörtert wird: Apologie, Alkibiades Maior37, Charmides. Alle drei Dialoge sind jedoch auf ihre Weise pro31 Vgl. Brickhouse/Smith (1994 u. 2000), Göbel (2002), Benson (2003), Tsouna (2004), Warneck (2005), Moser (2006), Sue (2006), Sorabji (2006), McCabe (2007) (2011), Gill (2006) (2007), Pietsch (2008) (2017), Tschemplik (2008), Carrera (2009), Karl (2010), Hardy (2011), Rider (2011), Renaud (2011), Napolitano (2011), Belfiore (2012), Remes (2013), Ortiz de Landazuri (2015), Moore (2014) (2015). Von den älteren Arbeiten seien hier erwähnt: Martens (1973), Rosen (1972/73) (1974), Annas (1985), Griswold (1986a), Gloy (1986), Beierwaltes (1991), Burnyeat (1992), Rappe (1995), Brunschwig (1996). 32 Vgl. Plat. Alk. I 129a2, 130e7, 131b4, 133c8; Charm. 164d4–5, 165b4. 33 Vgl. Prot. 343a; Charm. 164dff.; Alk. I 124b, 129a, 130e, 132c/d; Phaidr. 229e; Phil. 48c; Tim. 72a; leg. 923a; pseudo-platon.: Amat. 138a; Hipparch. 228e. 34 Vgl. die sokratischen Tugenddialoge des platonischen Frühwerks, insbes. Laches, Charmides, Politeia I, Euthyphron. 35 Vgl. z. B. apol. 29d–30b; Alk. I 124b. 36 Alk. I 132c–133c; rep. 514a–517a. 37 Der Alkibiades Maior wird in der jüngeren und jüngsten Literatur wieder als authentisch angesehen (vgl. Allen 1962; Annas 1985 und 2006, 41–44; Gloy 1986; Forde 1987; Pangle 1987; Ledger 1989; Goldin 1993; Giannantoni 1997, 363–73; Pradeau 1999; Johnson 1999; Scott 2000, 205–7; Denyer 2001; Gordon 2003; De Brasi 2008; Pietsch 2008; Benitez 2012; Belfiore 2012; Döring 2016), nachdem bereits Friedländer ([1928/30]1964, II, 214–226) die zuerst von Schleiermacher ([1809] 1996, 319–326) vorgetragenen Einwände gegen die Authentizität zu entkräften versucht hat. Zur Authentizitätsdiskussion vgl. Erler (2007a, 290f.), Söder (2009, 20), Döring (2016, 164–172).

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis

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blematisch. Die Apologie enthält Aussagen über die Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens, die zwar deren Wert und Bedeutung reflektieren, aber nur unzureichend Auskunft über Sinngehalt, Wissensform und methodisches Verfahren dieser Einsicht geben. Der Charmides ist nur bedingt als platonische Auffassung des Motivs anzusehen, da hier die als sophistisch gezeichnete Figur des Kritias Aussagen über die Selbsterkenntnis trifft, die im Dialog kritisch geprüft werden. Wir finden hier eher eine platonische Auseinandersetzung mit sophistischen Vorstellungen vor als eine eigene Theorie Platons.38 Im Alkibiades I wird zwar im Rahmen einer Protreptik zur Selbstsorge eine ausführliche Identitätserörterung vorgenommen. Der Dialog ist daher von besonderer Bedeutung. Dennoch birgt auch dieser Text Schwierigkeiten in sich, da die logische Erörterung in eine mythisch-metaphorische Darstellung der Selbsterkenntnis mündet, die sich dem unmittelbaren Zugang zunächst verschließt. Ein weiteres grundsätzliches Problem besteht darin, dass in den platonischen Dialogen verschiedene Arten von Selbsterkenntnis dargestellt werden, die sich bezüglich der Wissensform, der Methode und des Gegenstandes teilweise stark voneinander unterscheiden. In der Apologie wird die im Prozess der Selbstprüfung gewonnene Erkenntnis des Nichtwissens als Selbsterkenntnis eingeführt. Der Dialog Charmides verknüpft das delphische cm_hi sautºm mit der Konzeption eines selbstbezüglichen Wissens. Im Phaidros legt Sokrates den delphischen Spruch im Sinn einer Erkenntnis der Seelenstruktur und der seelischen Kräfte aus. Im Alkibiades I ist von einer Einsicht in das ›Göttlichste‹ der Seele die Rede, die in der kommunikativen Interaktion zu gewinnen ist. In demselben Dialog wird zudem eine Selbsterkenntnis konzipiert, die das Selbst im ›Blick auf Gott‹ zu erfassen sucht und die Selbstbeziehung mit einem Gottesbezug verbindet. Die genannten Formen der epistemischen Selbstbeziehung werden von Platon in verschiedenen Dialogen und in differenten Kontexten dargestellt. Der systematische Zusammenhang zwischen den Konzeptionen wird teilweise angedeutet, aber an keiner Stelle expliziert. Es bleibt letztlich die Aufgabe des Interpreten zu untersuchen, wie sich die verschiedenen Auffassungen zueinander verhalten, worin die Ähnlichkeiten und Differenzen bestehen, ob und wie sich diese Ansätze zur Einheit einer komplexen Konzeption verbinden lassen. Angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten soll in der Untersuchung wie folgt verfahren werden: Die Analyse wird sich auf drei Formen konzentrieren, die besonders häufig thematisiert und in verschiedenen Kontexten und Werkphasen erörtert werden und/oder einen besonderen Stellenwert besitzen. Das erste Unterkapitel (B II/1) widmet sich einer ausführlichen Betrachtung der 38 So auch Zehnpfennig (1987), Carone (1998), Gonzalez (1998), Bachmann (2007) (2013).

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Einleitung

Erkenntnis des Nichtwissens. Diese Form der Selbsterkenntnis wird bei Platon am häufigsten und kontinuierlichsten erörtert und soll deswegen einen besonderen Schwerpunkt der Untersuchung bilden. Sie ist insbesondere im Frühwerk – in der Apologie und den Tugenddialogen – thematisch präsent. Reflexionen auf die Erkenntnis des Nichtwissens und deren negatives Korrelat – die Wissenseinbildung (donosov¸a) finden sich jedoch auch in mittleren und späten Dialogen: im Alkibiades I (116e–118b), Phaidros (237c), Symposion (204a/b), Theaitetos (150c, 157c/d, 161b, 210c), Sophistes (229c–230e), Philebos (48c–49a) und den Nomoi (732a/b, 863c/d). In der Untersuchung werden alle relevanten Texte und Passagen ausgewertet und unter folgenden Gesichtspunkten analysiert: 1) Bedeutungsgehalt der Erkenntnis des Nichtwissens, 2) Typologie der Fluchtmöglichkeiten, 3) Kausalzusammenhang mit dem Wahrheitseros, 4) Erkenntnis des Nichtwissens als Begründung der Konstruktivität der elenktischen Wissensprüfung. Das zweite Unterkapitel (B II/2) beschäftigt sich mit einer Form der epistemischen Selbstbeziehung, die auf die Seele und deren Steuerungszentrum – die Vernunftseele – gerichtet ist. Die Reinterpretation des cm_hi sautºm als Reflexion auf den Vorrang der Seele gegenüber den leiblich-materiellen Identitätssphären und die besondere Stellung des Vernunftselbst findet sich insbesondere in den mittleren Dialogen, in entwickelter Form im Alkibiades I (127e–133c), aber auch im Phaidros (229dff.) und der Politeia (611bff.). Ansätze dazu sind jedoch bereits in den Frühdialogen enthalten. Die Identifizierung von Selbst (t¹ aqt¹) und Seele (xuw¶) bezeichnet eine Annahme, die schon der Apologie zugrunde liegt39 und durch die Verwendung des Begriffs der Selbstsorge im Sinn einer Bemühung um die beste Verfassung der Seele auch in anderen Frühdialogen indirekt thematisiert wird (vgl. z. B. Lach. 201b4f.).40 Man kann insofern davon sprechen, dass Platon in den mittleren Dialogen eine im Frühwerk implizit eingeführte Annahme konzeptionell entfaltet und mit dem Selbsterkenntnis-Motiv assoziiert. Die mit dem Motiv der Selbstsorge verbundene Seelenreflexion ist bei aller thematischen Nähe nicht mit der platonischen Theorie der Seele identisch, die insbesondere im Phaidros, in der Politeia und im Timaios dargestellt wird. Platon entwickelt in den mittleren Dialogen im Rahmen des Projekts der rationalen Selbstformung die Konzeption einer individuell zu leistenden Einsicht in Seele und Vernunftvermögen, die als Propädeutik der Seelenbildung fungiert. 39 Auf die Identifizierung von Selbst und Seele weist die synonyme Verwendung von ›Sorge um die Seele‹ (1pil´keia t/r xuw/r) und ›Selbstsorge‹ (1pil´keia 2autoO) hin (apol. 29e1–2, 36c6). Die Gleichsetzung von Selbst und Seele spricht Döring (2001, 678) dem historischen Sokrates zu. Zur Identifizierung von Selbst und Seele als eine auf den historischen Sokrates zurückgehende Vorstellung vgl. auch Wildberg (2007, 236). 40 Vgl. auch symp. 216a5f.

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis

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Diese Selbsterkenntnis steht zwar in engem Zusammenhang mit der theoretischen Psychologie Platons, ist aber dennoch von den theoretischen Erörterungen über Ursprung und allgemeine Strukturmerkmale der menschlichen Seele, so wie sie sich etwa im Phaidros, im Phaidon, in der Politeia und im Timaios finden, zu unterscheiden. Die Untersuchung wird sich auf die paideutische Konzeption der Seelenreflexion konzentrieren und nur gelegentlich bestimmte Aspekte der platonischen allgemeinen Psychologie miteinbeziehen. Im dritten Unterkapitel (B II/3) soll eine Form der epistemischen Selbstbeziehung untersucht werden, die im Alkibiades I als ›Blick auf Gott‹ umschrieben wird. Die Verschränkung von Selbsterkenntnis und der Ausrichtung auf etwas schlechthin Vollkommenes wird zwar nur im Alkibiades I (133c8–16) thematisiert.41 Aufgrund der Auszeichnung dieser Einsicht als vollendete Selbsterkenntnis (133c15) ist sie jedoch für das Verständnis der platonischen Konzeption von Bedeutung und soll deswegen den Abschluss der Untersuchung bilden. Um den Sinngehalt dieser Einsicht zu erschließen, wird in einem textvergleichenden Verfahren der mögliche Zusammenhang mit den Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge untersucht. Die in den Gleichnissen der Politeia enthaltene bildlich-metaphorische Darstellung des Guten und seiner Erkenntnis weist sprachliche, argumentationslogische und inhaltliche Ähnlichkeiten mit dem Spiegelgleichnis des Alkibiades I auf, sodass eine Verknüpfung der in den beiden Dialogen thematisierten epistemischen Vorgänge und Erkenntnisobjekte naheliegt. Diese Überlegungen besitzen freilich aufgrund der unsicheren Textlage einen eher spekulativen Charakter. Die Untersuchung basiert auf der nur bei Eusebios und Stobaios überlieferte Passage Alk. I 133c8–16, die häufig als neuplatonische oder christliche Interpolation betrachtet wird und in ihrer Authentizität nach wie vor umstritten ist, in jüngerer Zeit jedoch verstärkt als authentisch angesehen wird.42 In allen drei Unterkapiteln werden die verschiedenen Darstellungsebenen und Gestaltungsmedien, die Platon zur Erörterung des Motivs gebraucht, einbezogen. Die Betrachtung konzentriert sich also nicht nur auf die Analyse der theoretischen Aussagen und begrifflich-argumentativen Erörterungen, sondern wird auch die bildlichen Vorstellungen – Metaphern und Gleichnisse – sowie die Darstellung der Selbsterkenntnis auf der Ebene der dramatischen Gesprächshandlung einbeziehen. In die Analyse ist eine synthetische Betrachtung eingebettet, die die Relation und den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Selbster41 Vgl. auch Charmides 174c, wo die Identifizierung der Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Guten angedeutet wird. Dazu Ortiz de Landezuri (2015). 42 Vgl. Beierwaltes (1991, 82 Fußn. 9), Goldin (1993, 12 Anm. 30), Johnson (1999, 12), Pietsch (2008, 355 Fußn. 23), Döring (2016, 136f., 169f.).

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Einleitung

kenntnis untersucht. Die Hypothese ist, dass sich die drei Formen zur Einheit einer komplexen, dynamischen Konzeption verbinden lassen. Es wird zu zeigen sein, dass die platonische Selbsterkenntnis im Sinn eines Erkenntnisprozesses zu verstehen ist, der verschiedene Reflexionsebenen und Wissensformen umfasst und durch eine zunehmende Vertiefung des Selbstverständnisses charakterisiert ist. Die Bewegung hat ihren Ausgangspunkt in der kritischen Selbstbeziehung und führt über die Einsicht in die mangelnde Erkenntnis der Arete der Seele (Erkenntnis des Nichtwissens) zur Suche nach dem Verständnis der Bestheit der seelischen Kräfte, die in die Annäherung an das Gute mündet (Erkenntnis des Guten). In diesen Prozess eingebettet ist eine Reflexion auf die besondere Bedeutung von Seele und Vernunftselbst (Erkenntnis der Seele), die als Motivation und Begündung der Selbstsorge fungiert. Wir finden hier im Ganzen eine komplexe Konzeption der Selbsterkenntnis als Persönlichkeitsbildung vor, die mit Aufstiegsvorstellungen verknüpft ist.

Teil A: Apollinische Selbsterkenntnis

I

Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

1.

Apollon – Herkunft, Funktionen, genetische Aspekte

Vor der Betrachtung des Selbsterkenntnis-Motivs im homerischen Epos und der delphischen Tradition soll ein Blick auf die religionshistorische Forschung zum griechischen Apollon-Kult geworfen werden, um einen Eindruck von der Komplexität, Vielfalt und den Wirkungsbereichen dieser Gottesgestalt zu gewinnen. Die historische Forschung hat sich insbesondere mit zwei Fragekomplexen beschäftigt: 1) Ursprung und Verbreitung des Apollon-Kults1, etymologische Fragen; 2) das Problem der Identität der Apollonfigur und die Frage der Einheit der verschiedenen Funktionen und Bedeutungen. Zu 1): Die Herkunftsfrage scheint nach wie vor nicht vollständig geklärt zu sein.2 Nachdem im 19. Jahrhundert der griechische Ursprung des Gottes nur vereinzelt angezweifelt worden war, setzte sich nach Erscheinen des berühmten Aufsatzes von Wilamowitz (1903)3 die Auffassung durch, dass Apollon aus Kleinasien nach Griechenland eingewandert ist. So noch die Auffassung von Nilsson (GGR I, 555ff.), der allerdings im Gegensatz zu Wilamowitz nicht Lykien als Ursprungsland des Apollon annimmt, sondern das von der babylonischen Kultur beeinflusste hethitische Reich (GGR I, 562f.). Die These hat sich erst in jüngerer Zeit als eher problematisch erwiesen. Größere Zustimmung erfährt jetzt die Auffassung Burkerts (1975)4, der durch die Ableitung des Namens Apollon – in seiner dorischen Form Ap´kkym – von der dorisch-nordwestgriechischen Institution der !p´kkai einen griechischen Ursprung nahelegt und damit die alte These von Müller (1844, 200–281), dass Apollon ursprünglich ein Gott der Dorier sei, bestätigt. Fritz Graf hat in seiner jüngsten Studie (2009, 138) der These von Burkert erneut zugestimmt, merkt jedoch an, dass nahöstliche 1 Zur Verbreitung des Apollon-Kults vgl. Wernicke (RE 2, 1: 1895, 3ff.), Farnell (1907, 98ff.), Nilsson (GGR I, 547ff.). 2 Vgl. das Urteil von Graf (2009, 142): »Apollo’s origins are complex and not fully explained«. 3 Vgl. auch Wilamowitz (GdH I, 318ff.). 4 Vgl. auch Burkert (GR, 227).

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

Einflüsse auf Mythos und Kult des Apollon sowie Reste der mykenaischen Tradition nicht zu übersehen sind.5 Zu 2): In Bezug auf die Identitäts- und Einheitsfrage scheint die Unsicherheit und Verwirrung noch größer zu sein. Die Fülle von differenten Funktionen und Bedeutungen6, die durch die Apollon-Kulte überliefert sind, ist in der Forschung immer wieder zum Anlass genommen worden, verborgene Einheitsmomente aufzufinden und ein kohärentes Apollonbild zu konstruieren. Dabei hat man im Wesentlichen zwei Wege beschritten. Zum einen wurde eine besondere Funktion oder Eigenschaft herausgehoben und als identitätsstiftendes Merkmal bestimmt. So vermeint z. B. Picht (1987, 532ff.) im Apollon lousac´tgr, dem Anführer und Herrn der Musen, den eigentlichen und wesenhaften Apollon zu erblicken. Die kathartische und mantische Funktion sei mit diesem Merkmal untrennbar verbunden. Die behauptete Einheit wird an dieser Stelle allerdings nicht weiter expliziert. Ähnlich schon Otto (1961, 73): »Sollte die Musik Apollons nicht im Zentrum seiner mannigfaltigen Vollkommenheiten stehen? Sollte sie nicht der Quell sein, aus dem sie hervorfließen?« Schefer (1996, 7ff.) nimmt in Anknüpfung an Picht eine Einheit von Mantik, Kathartik und Musik an, die sie in der »Lichtnatur« (7) des Gottes begründet sieht. Als Wesenskern des Gottes begreift Schefer das ›Lichthafte‹, das sich in den drei Funktionen widerspiegele. In Opposition dazu heben Detienne (1998) und Bohrer (2009, 204–306), die dunklen, düsteren Seiten des Apollon, das ›Nachtgleiche‹, als Charakteristikum dieser Gottesfigur heraus. Einen anderen Weg beschreitet Nagy (1994), der das Wesen des Gottes aus der dorischen Form des Namens zu erschließen sucht. Unter Bezugnahme auf die etymologischen Untersuchungen von Burkert (1975), der den Namen Apollon auf die altgriechische Institution der !p´kkai, der Jahresversammlungen der Stammesoder Geschlechterverbände zurückführt, gelangt er zu der These: Apollon »is the god of authoritative speech, the one who presides over all manner of speechacts« (7). Aus dieser als »the essence of Apollo« bezeichneten Grundfunktion leitet Nagy die musischen Seiten des Apollon ab und kommt zu dem Schluss: »So also Apollo is not only the god of speech-acts: he is also the god of poetry and song« (7).7 Zum anderen aber hat man versucht, auf der Basis der Annahme eines 5 Zur jüngeren Diskussion der Frage vgl. außerdem DNP 1 (1996, 863f.), Schefer (1996, 5), Bremmer (1998, 24, 29), Graf (2000, 117f.), Rosol (2007). 6 Wernicke (RE 2, 1: 1895, 8–21) führt 23 verschiedene Funktionen und Bedeutungen an, die allerdings teilweise in enger Beziehung zueinander stehen. Die Fülle der Funktionen spiegelt sich in den vielen Beinamen (1pijk¶seir) und literarisch überlieferten Beiwörtern (1p¸heta) wider. Vgl. RE 2, 1 (1895, 8ff.) Eine fundierte Darstellung der zentralen Funktionen findet sich in der Studie von Graf (2009). 7 Vgl. außerdem Bremmer (1998, 29f.).

Apollon – Herkunft, Funktionen, genetische Aspekte

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Wandels des Apollonbildes die verschiedenen Funktionen zur Ganzheit zu verbinden und als dynamische Einheit zu verstehen.8 Die differenten Kernbedeutungen sind dieser Auffassung zufolge als Stufen eines Transformationsprozesses anzusehen, den der Gottesbegriff während der Jahrhunderte durchlaufen hat. Die erstgenannten Deutungsversuche weisen das Problem auf, dass sie der Vielfalt der Funktionen und Wirkungsbereiche dieses Gottes kaum gerecht werden.9 Der zweite Ansatz trägt zwar der Bedeutungsfülle Rechnung, lässt jedoch die Frage offen, ob sich in der Genese der Apollonvorstellung unveränderliche Identitätsmerkmale beobachten lassen bzw. ob es bestimmte Eigenschaften gibt, die sich durch allen Wandel hindurch gleich bleiben. Simon (1985, 118–146) versucht zwar, den genealogischen Ansatz mit dem gestalthaften Ansatz zu verbinden und die unveränderlichen Momente in der Genese des Gottesbildes zu bestimmen, gelangt dabei jedoch nur zu einer Vielheit von konstanten Wesenszügen und Eigenschaften, die wiederum die Frage nach der Einheit aufwirft. Das Identitätsproblem bleibt hier letztlich ungelöst. Fritz Graf (2009) hat in seiner jüngsten Studie zu Apollon gegen die Bemühungen um eine Einheit dieser Gottesgestalt zu bedenken gegeben, dass die uns über archäologische Funde und schriftliche Zeugnisse zugängliche griechische Antike eine komplexe historische Welt erkennen lässt, in der sich eine Vielzahl von lokalen kultisch-religiösen Traditionen entwickelt hat, die teilweise isoliert voneinander entstanden sind oder aber sich im wechselseitigen Kontakt und im Austausch mit den östlichen Zivilisationen herausgebildet haben. Zu beachten sei zudem eine im polytheistischen System gründende Vielgestaltigkeit der Götterfiguren, die sich einer auf Einheitlichkeit zielenden konzeptionellen Analyse widersetze: »Apollo’s many faces are part of this complex system« (180). Das alles ist gewiss richtig. Aber möglicherweise müssen ja trotz aller erkennbaren Komplexität, Vielheit und Partikularität nicht jegliche Einheitsmomente aufgegeben werden. Angesichts der relativ konstant bleibenden Schutzfunktion des Gottes, die sich in der vielfältig bezeugten Anrufung als Abwehrer allen Übels ()ken¸jajor, )potqopa?or, Pqostat¶qior, Pqost²tgr, Pqov¼kan) und als Helfer ((Epijo¼qior) widerspiegelt10, wird man vielleicht von einer all8 So z. B. Wernicke (RE 2,1: 1895, 1–21), Wilamowitz (GdH I/II), Simon (1985, 118–146). 9 So auch Graf (2009, 180): »The historian feels an intellectual pull to construct these fields into an underlying unity. Such a construction might satisfy a thinker’s need of neatness; but it sacrifices so much historical diversity that it loses all value for the historian of religion«. 10 Vgl. dazu Wilamowitz (GdH II, 33), Guthrie (1954, 87), Burkert (GR, 285), Bruit Zaidman/ Schmitt Pantel (1994, 199), DNP 1 (1996, 865f.), Graf (2009, 91ff.). Auf Apollon als Abwehrer allen Übels verweisen die Epikleseis )ken¸jajor, )potqopa?or, Pqostat¶qior, Pqost²tgr, Pqov¼kan (vgl. Wernicke 1895, 16). Zu Apollon als ›Helfer‹, epikofflrios, und als ›Abwehrer‹ des Übels, apotrjpaios, gibt es in der archaisch-klassischen Literatur eine Vielzahl von

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

gemeinen Grundfunktion sprechen können, die sich in verschiedenen Wirkungsbereichen konkretisiert und ausdifferenziert hat. Bei aller Vorsicht und Zurückhaltung bezüglich einer an Einheits- oder Identitätskriterien orientierten Betrachtungsweise deutet auch Graf (2009, 52–128; insbes. 91–101, 122–128) im Rahmen seiner Darstellung der zentralen Funktionen des Apollon immer wieder auf das prophylaktische, Unglücke abwehrende, schützende Moment hin.11 Auf die Konstanz dieses Merkmals hat bereits Nilsson (GGR I, 529–555) aufmerksam gemacht. Im Apollon-Kapitel seiner Abhandlung zur griechischen Religion verbindet er die genealogische Betrachtungsweise mit der Identitätsfrage und verweist in diesem Kontext auf den !potqºpaior und 1pijo¼qior. Auf der Basis der bezeugten Kulte und der am häufigsten mit dem Gott verbundenen Funktionen wird Apollon hier als Gottesgestalt aufgezeigt, die einen Bedeutungswandel durch Funktionsverschiebungen erfahren hat12, die jedoch durch allen Wandel hindurch mit sich selbst identisch geblieben ist. Die als Identitätsmerkmal herausgehobene übelabwehrende und helfende Kraft des Gottes manifestierte sich nach Nilsson ursprünglich im agrarischen Bereich. Wie die Kulte bezeugen, wurde Apollon in frühester Zeit als Gott verehrt, der die Ernte vor Schäden und Plagen und die Herden vor gefährlichen Raubtieren schützte.13 Schon früh wurde der Gott zudem mit dem Bereich der menschlichen Physis und der entsprechenden Sorge um körperliche Unversehrtheit verbunden und als Heiler von individuellen Krankheiten und großen Seuchen angerufen.14 In archaischer Zeit15 rückte zunehmend die bereits bei Homer bezeugte (vgl. z. B. Il. 1, 472–74; 1, 72; Od. 15, 245–255; 15, 526) musische und mantische Funktion ins Zentrum des Gottesbildes. Die in Delphi und anderen Orakelstätten ausgeübte Inspirationsmantik ist nach Nilsson (GGR I, 544) auf das Engste mit der Grundfunktion des Apollon verbunden und stand im Dienst des !potqºpaior und 1pijo¼qior. In ähnlicher Weise hat auch Graf (2009, 99) die apollinische

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Belegen. Vgl. z. B. Thgn. 773–782; Pind. P. 5, 63–69; Soph. El. 637, 1380f.; Oid. T. 150, 162ff., 203–206, 1096; Aristoph. Vesp. 161; Av. 61; Plat. Phaid. 58b. Vgl. auch Oesterheld (2008, 540), der anhand der Orakeltexte des klarischen Apollon-Kultes aufgezeigt hat, dass Apollon als Retter und Helfergott betrachtet wurde. Nilsson (GGR I) versteht die zeitliche Abfolge der Funktionen nicht als Ablösung oder Ersetzung der alten durch neue Aufgabenbereiche, sondern im Sinn einer Bedeutungsverschiebung. Bestimmte Funktionen, die lange Zeit einen eher marginalen Stellenwert in der Verehrung des Gottes besaßen, gewannen allmählich zentrale Bedeutung und verdrängten andere Funktionen, die jedoch nicht völlig aus dem Bild des Gottes verschwanden, sondern weiterhin, wenn auch in eingeschränkter Form präsent blieben. Vgl. dazu insbes. das Kapitel über Apollon als Heilgott (GGR I, 538ff). Vgl. RE 2, 1 (1895, 9f.) u. Farnell (1907, IV, 113–124). Vgl. dazu auch Graf (2009, 120ff.). Vgl. RE 2, 1 (1895, 15f.) u. Farnell (1907, IV, 233ff.). Vgl. dazu auch Graf (2009, 79ff.). Ich übernehme im Folgenden die von Burkert (GR, 20) vorgeschlagene zeitliche Einteilung der klassischen und archaischen Epoche: Früharchaisch 700–625; Reifarchaisch 625–570; Spätarchaisch 570–500; Frühe Klassik 500–450; Hohe Klassik 450–420; Spätklassik 380–325.

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Divination mit der Rolle des Abwehrers von Übeln und des Heilers in Zusammenhang gebracht. Vermutlich lässt sich diese These durch eine entsprechende Auswertung der uns überlieferten Orakelsprüche zu kultisch-kathartischen Angelegenheiten, politischen und legislativen16 Fragen sowie zu ethisch-sittlichen Problemen17 gut belegen. Dies wäre jedoch Gegenstand einer religionshistorischen Abhandlung und kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter verfolgt werden. Will man Nilssons Verknüpfung von genealogischem und gestalthaftem Ansatz aufgreifen, so lässt sich eine Genese der Apollonvorstellung vermuten, die durch eine zunehmende Entfaltung und Ausformung der Schutzfunktion charakterisiert ist. Der übelabwehrende Wesenszug des Gottes manifestierte sich zunächst in der Sphäre der Ökonomie und der menschlichen Physis und wurde dann verstärkt mit dem politischen, sozialen und ethischen Bereich in Zusammenhang gebracht. Oder anders formuliert: Die Wirksamkeit des Gottes wurde zunächst mit der Sorge um das Überleben und die körperliche Unversehrtheit verknüpft und später in zunehmendem Maß auf die Erhaltung und 16 Wilamowitz (GdH, II, 35f.) hat auf die enge Beziehung zwischen der Heilfunktion und der gesetzgeberischen Wirksamkeit des Apollon hingewiesen: »Jetzt richtet man an ihn [sc. Apollon] den pai²m, der für alle Nöte pai¾mia v²qlaja zu geben weiß. Das hat er einmal auch als Arzt getan, später sind es keine Medikamente gegen leibliche Krankheiten, sondern gegen gesellschaftliche und politische Nöte, die der Grieche gewöhnt ist, auch als mºsoi zu bezeichnen.« Soziale Unruhen, Feindschaft zwischen den Parteien sowie bürgerkriegsähnliche Zustände sind die Pest im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, die Apollon ebenso zu heilen versteht wie die materiellen Seuchen. Das Heilmittel besteht hier u. a. in einer guten Gesetzgebung, die der Gott auf entsprechende Anfragen hin anriet oder sanktionierte. Zum Einfluss Delphis auf die Gesetzgebung vgl. Nilsson (GGR I, 640ff.). 17 Apollon fungierte nicht nur als Arzt bei physischen Krankheiten und Seuchen, sondern wurde auch als Heiler und Befreier von den Übeln und Krankheiten der Seele (mºsoi t/r xuw/r) – wie Unverstand, Überhebung (vbqir), Maßlosigkeit – verstanden. Vgl. Pind. P. 5, 63–69. Aischylos bezeichnet den delphischen Gott als Qatqºlamtir (Eum. 62). Die seelentherapeutische Bemühung um Heilung von Selbstüberschätzung und Maßlosigkeit spiegeln in besonderer Weise die von spätantiken Autoren (Porph. de abst. II, 15–17; Diod. IX fr. 5–7; Diog. Laert. 1, 30 u. 1, 106; Plut. qu. R. 84, 284c; Val. Max. VII 1,2; Plin. nat. VII 151) überlieferten delphischen Geschichten wider, die auf das 6. vorchristliche Jahrhundert zurückgehen (zur Datierung vgl. Herzog 1922; Wehrli 1976, 30–60; Parke/Wormell 1956 I, 385). Der Ausdruck ›Krankheit der Seele‹ (mºsor t/r xuw/r) findet sich erst bei Platon, soph. 228b8. Krankheit (mºsor) wird dort synonym mit Aufruhr, Zwist (st²sir) verwendet und zur Bezeichnung von bestimmten seelischen Fehlhaltungen wie Zügellosigkeit (!jokas¸a), Feigheit (deik¸a) und Ungerechtigkeit (!dij¸a) gebraucht (vgl. soph. 228e2–3). Vgl. auch Platon Charm. 157a/b; Gorg. 504e–505b; rep. 444c–e sowie Tim. 86b–87b, wo die Vernunftlosigkeit (%moia) als Krankheit der Seele bestimmt wird. In ähnlicher Weise bezeichnen jedoch bereits die Tragiker Haltungen wie Maßlosigkeit, Starrsinn, Unbesonnenheit, Unverstand als Krankheit (mºsor) des Geistes (vq´mer). Vgl. Aischyl. Pers. 749f.; Soph. Ant. 1052, 1242. Bei Aischylos findet sich sowohl der Ausdruck ›Krankheit der Geistes- und Gemütskräfte‹ (mºsor vqem_m Pers. 750) als auch ›Gesundheit der Geistes- und Gemütskräfte‹ (rc¸eia vqem_m Eum. 535f.).

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

Ordnung der Familien, Dynastien, Poleis sowie auf die gute seelische Verfasstheit und das richtige Handeln der Individuen bezogen. In diesen Aufgabenbereich wäre auch die apollinische Paränese zur Selbsterkenntnis und Mäßigung einzuordnen. Im Folgenden sollen unter Vernachlässigung der Funktionsvielfalt und der differenten Wirkungsbereiche Spuren einer mit der Apollon-Religion in Zusammenhang stehenden Selbsterkenntnis verfolgt werden. Die Betrachtung wird sich auf die homerischen Epen und die sogenannten delphischen Legenden konzentrieren. Auf eine umfassende Auswertung der überlieferten apollinischen Orakelsprüche sowie auf epigraphische Untersuchungen wird verzichtet. Aus den genannten Texten lassen sich erste Orientierungspunkte für eine mit der Apollon-Religion zu verbindende Auffassung von Selbsterkenntnis gewinnen.

2.

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

Das homerische Epos gilt als frühestes Zeugnis einer Apollonvorstellung, die den ethischen Aspekt der Paränese zur Selbsterkenntnis und Mäßigung umgreift, und steht deswegen am Beginn dieser Untersuchung. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das erste Buch der Ilias. Apollon18 wird hier gleichsam in einer Doppelrolle dargestellt – als unheilsendender Gott einerseits, der Krankheit, Tod und Leid über die Menschen bringt, und als übelabwehrender Gott andererseits. Apollon rettet die Achaier von der Pest, die er ihnen selbst gesendet hat.19 Die Sendung der Epidemie erscheint im Epos als eine Vergeltung (m´lesir) der Beleidigung des Apollon-Priesters Chryses. Der Priester, dessen Tochter von den Griechen erbeutet und als Kampfpreis Agamemnon zugeteilt worden war, hatte sich in das Lager der Griechen begeben, um die Tochter gegen Lösegeld freizukaufen. Agamemnon verstieß Chryses mit groben Worten, der daraufhin zu seinem Gott betete. Apollon erhörte das Gebet, stieg zornig vom Olymp herunter und sendete mit seinen Pfeilen die Pest in das Lager der Griechen: […] Es erhörte ihn Phoibos Apollon: Brach auf von des Olympos Gipfeln, Zorn im Herzen, den Bogen um die Schultern und den beiderseits geschloßnen Köcher ; 18 Zur dominanten Rolle des Gottes Apollon in der Ilias vgl. Graf (2009, 10): »This initial role reflects Apollo’s prominence throughout the Iliad. He is a major player in the action of the poem, and with the exception of Zeus, no other god is mentioned as often as he is«. 19 Vgl. Graf (2009, 15): »But he who sends illness can also cure it«. Graf weist zu Recht darauf hin, dass die Heilung von Krankheiten in der Ilias nicht den spezifischen Aufgabenbereich des Apollon bezeichnet: »In the Iliad healing is not the special province of Apollo, but nevertheless it is he who heals the plague.«

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

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es klirrten laut die Pfeile auf den Schultern des Erzürnten, wie er sich in Bewegung setzte – und er schritt dahin, der Nacht gleich… (Hom. Il. 1, 43–47; Übers. J. Latacz)

Apollon tritt hier analog zu Il. 24, 602ff., Od. 11, 305ff. und Od. 8, 224ff. als Rächer der Hybris (vbqir)20 auf. Die über die Achaier hereingebrochene Pest wird im homerischen Gedicht nicht auf die Willkür oder den Neid (vhºmor)21 der Götter zurückgeführt, sondern als göttliche Strafe für die Anmaßung des Agamemnon22 und damit als Folge des menschlichen Fehlverhaltens gedeutet.23 Dieser Deutung des Unheils (koicºr) entspricht das im Folgenden dargestellte Verfahren der Übelabwendung, das nicht nur die bei Krankheiten und Seuchen üblichen kultischen Praktiken wie Reinigungsrituale24, Opfer, Heil- und Preislieder, Tänze umfasst25, sondern epistemische und verhaltenskorrigierende Momente enthält. Zunächst schildert das Epos eine gewisse Unsicherheit bei den Griechen bezüglich der Ursache des göttlichen Zorns. Das Hereinbrechen und Andauern der von Apollon gesendeten Seuche wird zwar als Hinweis darauf verstanden, dass man den Gott durch frevelhaftes Handeln erzürnt hat. Die aufgenommene Suche nach dem Frevel kommt jedoch über vage Vermutungen nicht hinaus: »ob er [sc. Phoibos Apollon] wohl ein Gelübde einklagt oder eine Hekatombe?« (Il. 1, 65; Übers. J. Latacz). Die Achaier sind auf das apollinische Wissen angewiesen,

20 Zur Etymologie und Begriffsgeschichte vgl. RE Suppl. 9 (1962, 1897ff.), ThWbNT 8 (1969, 295ff.), HWPh 3 (1974, 1234f.), RAC 15 (1991, 799ff.), DNP 5 (1998, 771). Zur Hybris bei Homer vgl. Fisher (1992, 151–184). 21 Zur homerischen und nachhomerischen Vorstellung vom vhºmor der Götter vgl. Dodds (1970, 18ff.) und Bulman (1992). 22 Die Verfehlung des Agamemnon wird in Il. 1, 203 und 214 explizit als vbqir bezeichnet. 23 Ähnlich Graf (2009, 17): »The narration is based on a precise model of how illness originates. Illness results from the anger of a god, and the anger results from a human transgression; the transgression must be rectified and the god must be placated and propitiated«. Zu der im religiösen Bewusstsein der Griechen tief verankerten Deutung des Unheils als göttliche Strafe für Freveltaten vgl. Nilsson (GGR I, 630), Dodds (1970, 17ff.) und Giebel (2001, 64). 24 Vgl. Il. 1, 313ff.: »Das Kriegsvolk aber rief der Atride auf zu Reinigungen; /so reinigten die sich, und in die Salzflut warfen sie den Unrat/ und brachten dem Apollon dar vollkommne Hekatomben.« (Übers. J. Latacz). Die vollzogene Reinigung ist nicht von Apollon angeordnet worden, zumindest ist in dem von Kalchas verkündeten Orakel davon nicht die Rede. Apollon tritt hier also noch nicht explizit als jahaqt¶r auf. Nach Rohde (1903 II, 71) haben sich die kathartischen Gebräuche, »mögen sie auch in ihrem Kerne urältestes Besitzthum sein, erst ziemlich spät in Griechenland [ ] ausgebreitet oder wieder geltend gemacht […]«. Im homerischen Epos sieht Rohde nur die »ersten leichten Andeutungen« der später verbreiteten »Vorstellungen von überall drohender ›Befleckung‹ und deren Beseitigung durch die Mittel einer religiösen Reinigungskunst«. Vgl. auch Otto (1961, 68ff.) u. Dodds (1970, 24). 25 Vgl. dazu Nilsson (GGR I, 538ff.).

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

das ihnen vom Seher Kalchas, der in enger Beziehung zu Apollon steht26, übermittelt wird. Der Seher verkündet den Griechen folgenden Götterspruch: Nicht ein Gelübde also ist es, das er einklagt, keine Hekatombe! Vielmehr des Priesters wegen, den entehrt hat Agamemnon und ihm nicht freigegeben hat die Tochter – und die Freikaufsumme nicht genommen – : Deswegen gab der Fernhintreffer Schmerzen und wird weiterhin sie geben! Nicht eher wird er von den Danaern die ekelhafte Seuche nehmen, bevor zurück man ihrem Vater gab das Mädchen mit den hellen Augen – nicht losgekauft, nicht ausgelöst! – und darbringt eine heil’ge Hekatombe in Chryse! Dann – nachdem wir ihn besänftigt – könnten wir ihn wohl versöhnen. (Hom. Il. 1, 93–100; Übers. J. Latacz)

Der apollinische Spruch lässt sich als Paränese zur Erkenntnis des Frevels und zur Wiederherstellung des durch menschliche Anmaßung gestörten Friedens zwischen Gott und Mensch deuten. Indem Apollon die Hybris des Agamemnon als Ursache seines Zorns benennt und konkrete Sühnleistungen anführt, fordert er zur Einsicht in das Fehlverhalten sowie zu einer entsprechenden Verhaltenskorrektur auf.27 Der Spruch verweist darauf, dass die eigentliche Verfehlung in der Kränkung und Missachtung des Gottes besteht. Agamemnon hatte sich über die Aufforderung des Apollon-Priesters, die geraubte Tochter in Ehrfurcht ("fºlemoi )pºkkyma Il. 1, 21) vor dem Gott zurückzugeben, sowie über das Zeichen der Gottesverbundenheit – das Kranzgebinde des Apollon (Il. 1, 14) – grob hinweggesetzt und damit nicht nur dem Priester eine Missachtung und Geringschätzung zuteil werden lassen, sondern auch und vornehmlich dem Gott.28 Durch Einsicht, Wiedergutmachungstat und Opferhandlungen soll die Beleidigung des Gottes gesühnt und eine Achtung der göttlichen Macht demonstriert werden. Von Selbsterkenntnis kann in diesem Kontext insofern gesprochen werden, als es bei der apollinischen Forderung um eine Einsicht in menschliches Fehlverhalten geht, die eine disponierende Wirkung auf künftige Handlungsentscheidungen und Verhaltensweisen hat. Da der begangene Frevel eine Verfehlung gegenüber den Göttern bezeichnet, lässt sich diese Selbstbesinnung als Erkenntnis einer Grenzüberschreitung oder präziser : als Bewusstsein eines Übergriffs in die göttliche Sphäre deuten, die den Menschen auf den ihm ge26 Die Seherkunst (lamtos¼mg) des Kalchas wird in Il. 1, 72 ausdrücklich auf Apollon zurückgeführt. Entsprechend wird die Aussage des Kalchas über den Grund des apollinischen Zorns und dessen Besänftigung als Spruch des Apollon gedeutet (Il. 1, 384f.). Zu Kalchas als apollinischer Seher vgl. Dirlmeier (1970, 35 Anm. 24). 27 Zu dem in der Il. 1 zu beobachtenden religiösen Schema (Unheil – Rückführung auf den Zorn eines Gottes – Einholung eines Orakels – Erklärung einer religiösen oder moralischen Schuld – Wiedergutmachung) vgl. Burkert (1972). 28 Vgl. dazu Schefer (1996, 18).

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

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bührenden Platz in der Ordnung des Ganzen verweist. Diese Art von Selbstbesinnung gewinnt im ersten Buch der Ilias eine personale Bedeutung, da es ja vornehmlich Agamemnon ist, der zur Einsicht in die eigene Verfehlung und zur Wiedergutmachung durch Rückgabe des Mädchens aufgefordert ist. Der in dem Kalchas-Spruch enthaltene Appell zur Einsicht und Sühnung steht in engem Zusammenhang mit Il. 5, 439–444 und Il. 22, 7–13, wo Apollon ebenfalls Erkenntnis und Selbstbeschränkung einfordert. In der berühmten Diomedes-Szene, die in der Literatur häufig als frühestes Zeugnis für eine apollinische Selbsterkenntnis angeführt wird29, findet sich eine direkte und unmittelbare Aufforderung zur Ehrfurcht (aQd¾r) gegenüber dem Gott und zur Mäßigung. Diomedes, der unbeirrt gegen Aineias kämpft, obwohl er sieht, dass dieser von Apollon geschützt wird, der also keinen Respekt vor dem Gott erkennen lässt, wird von Apollon mit folgenden Worten zurechtgewiesen: Da sprach mit schrecklichem Zuruf zu ihm der Ferntreffer Apollon: Besinne dich […] und weiche! und wolle nicht Göttern gleich gesonnen sein, da niemals vom gleichen Stamm die unsterblichen Götter sind und die am Boden schreitenden Menschen! (vq²feo […] ja· w²feo, lgd³ heo?sim Ws( 5heke vqom´eim, 1pe· ou pote vOkom blo?om !ham²tym te he_m wala· 1qwol´mym t( !mhq¾pym) (Il. 5, 439–442; Übers. W. Schadewaldt)

Der Apollon-Logos weist bezüglich der Intention und des Sinnhorizonts Ähnlichkeiten mit dem Kalchas-Spruch aus dem ersten Gesang der Ilias auf. Im Unterschied zur Kalchas-Szene tritt hier jedoch Apollon selbst in Erscheinung und erteilt eine unmittelbare Aufforderung zur Erkenntnis. Das den Logos einleitende vq²feo lässt sich zunächst als Appell an Diomedes deuten, den Gott deutlich wahrzunehmen und sich klar darüber zu werden, dass er den Kampf mit einer göttlichen Macht aufnimmt. Durch den nachfolgenden Hinweis auf Diomedes’ Fehlverhalten und die argumentative Begründung dieser Zurechtweisung erhält das anfängliche vq²feo jedoch einen über das Wahrnehmen und Bemerken hinausgehenden Sinn, nämlich die Bedeutung von sich besinnen, überlegen, etwas bedenken. Es erscheint von daher durchaus berechtigt, das vq²feo mit dem Selbsterkenntnis-Motiv zu verbinden und – wie schon häufiger vorgeschlagen30 – als Präformation des delphischen cm_hi sautºm zu deuten. Als Inhalt der geforderten Selbstbesinnung scheint in dem Logos zunächst die Einsicht in die menschliche Fehlhaltung auf. Die apollinische Mahnung »wolle 29 Es ist schon häufiger darauf hingewiesen worden, dass das vq²feo in Vers 440 dem delphischen ›Erkenne dich‹ entspricht. Vgl. Dirlmeier (1970, 45), Reiser (1992, 84), Göbel (2002, 20 Fußn. 42). 30 Vgl. Dirlmeier (1970, 45), Reiser (1992, 84), Göbel (2002, 20 Fußn. 42).

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

nicht Göttern gleich gesonnen sein« (lgd³ heo?sim Ws( 5heke vqom´eim Il. 5, 440f.; Übers. W. Schadewaldt) verweist auf eine Selbstüberschätzung des Diomedes, die mit einem mangelnden Respekt vor der göttlichen Macht und Stärke einhergeht. Indem Diomedes unbeirrt gegen den von Apollon geschützten Aineias streitet, degradiert er den Gott zum ebenbürtigen Kampfpartner. Wie die Konjunktion 1pe¸ in Vers 441 anzeigt, hat die nachfolgende Reflexion über Götter und Menschen die Funktion einer Begründung der Verfehltheit dieses Tuns. Jede Form der Gleichsetzung mit den Göttern ist Frevel, da Götter und Menschen verschiedenen Geschlechts (vOkom) sind. Die in dieser Aussage angedeutete Differenz wird in Vers 442 spezifiziert: Den ›am Boden schreitenden Menschen‹ stehen die ›unsterblichen Götter‹ gegenüber. Die Unsterblichkeit scheint hier als zentrales Merkmal der göttlichen Sphäre auf. Die angeführte Erdgebundenheit des Menschen lässt sich vor diesem Hintergrund als Sterblichkeit, Endlichkeit, Begrenztheit der Vermögen ausdeuten. Eingefasst ist hier jedoch vermutlich auch der Aspekt der Mühsal, Not, Beschwerlichkeit des Daseins. Bezieht man das einleitende vq²feo auf diese Differenzreflexion, so lässt sich der apollinische Logos als Aufforderung zu einer Selbsterkenntnis deuten, die die Kluft zwischen Göttern und Menschen vergegenwärtigt und dadurch Tendenzen zur Selbstüberhebung und Grenzüberschreitung korrigiert. In ähnlicher Weise fordert Apollon im 22. Buch Achilleus zur Einsicht und Mäßigung auf: Zu dem Peleus-Sohn aber sprach Phoibos Apollon: »Warum verfolgst du mich, Sohn des Peleus, mit schnellen Füßen, du, ein Sterblicher, den unsterblichen Gott? Hast du mich noch nicht erkannt, daß ich ein Gott bin, sondern du eiferst unablässig?« (t¸pte le, Pgk´or uR´, pos·m taw´essi di¾jeir, aqt¹r hmgt¹r 1½m he¹m %lbqotom; oqd´ m¼ p¾ le 5cmyr, ¢r heºr eQli, s» d( !speqw³r lemea¸meir.) (Il. 22, 7–10; Übers. W. Schadewaldt)

Analog zu Il. 1, 93–100 und Il. 5, 439–442 wird hier ein menschliches Tun missbilligt, das den Rangunterschied zwischen Gott und Mensch nicht beachtet und in Selbstüberschätzung und Verkennung der Situation das dem Gott gebührende Verhalten – Achtung, Scheu, Ehrbezeigung – verfehlt. Das Erkenntnismoment ist in Vers 10 enthalten: »Hast du mich noch nicht erkannt (5cmyr), daß ich ein Gott bin?« (Il. 22, 9f.; Übers. W. Schadewaldt). Nachdem Apollon den Held zuvor vom Heer weggelockt hatte, indem er die Gestalt des Agenor annahm und eine Verfolgungsjagd provozierte (Il. 21, 599ff.), fordert er jetzt den in seinem rastlosen Wüten völlig blinden Achilleus dazu auf, in der Gestalt des Agenor endlich den Gott zu erkennen und von der Jagd abzulassen. Analog zur Diomedes-Szene ist die Gotteserkenntnis auch hier mit einer Selbsterkenntnis

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verbunden. Der apollinische Verweis auf die trennende Kluft (»Warum verfolgst du mich […], du, ein Sterblicher, den unsterblichen Gott?« Il. 21, 9; Übers. W. Schadewaldt) ermahnt zur Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit, die mit verhaltenskorrektiven Momenten verbunden ist. Die Erkenntnis der Unverletzbarkeit der göttlichen Macht (»Nie doch tötest du mich, denn ich habe kein menschliches Schicksal« Il. 22, 13; Übers. H. Rup8) soll die Leidenschaft mäßigen und zu einer Haltung der Besonnenheit führen. Zieht man weitere Stellen aus der Ilias heran und berücksichtigt zudem die Odysee, so lässt sich der Bedeutungsgehalt der apollinischen Selbsterkenntnis noch präziser bestimmen. Im 21. Gesang der Ilias findet sich eine Szene, in der Achilleus gegen die reißenden Fluten eines Flusses ankämpft, die der erzürnte mächtige Flussgott gegen ihn heraufbeschworen hat. In die Darstellung des vergeblichen Kampfes gegen die stürmischen Wellen, die den Helden immer wieder einholen und über ihm zusammenbrechen, lässt der Dichter eine Reflexion über Götter und Menschen einfließen: »denn Götter sind stärker als Menschen« (heo· d´ te v´qteqoi !mdq_m Il. 21, 264; Übers. H. Rup8). Verbindet man diese Reflexion mit den oben dargestellten apollinischen Logoi, so lässt sich die dort enthaltene Differenzaussage weiter entfalten. Götter und Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Potentials und des Maßes an Kraft und Stärke voneinander. Bei aller überragenden Exzellenz und ausgezeichneten Kampffähigkeit der homerischen Helden bleiben die Götter doch stets die Stärkeren. Die Überlegenheit der heldischen Existenz31 wird durch die unmittelbare Konfrontation mit den mächtigen Göttern relativiert und in ihrer Begrenztheit kenntlich gemacht. In Il. 21, 462–466 findet sich eine Abgrenzung des göttlichen Seins von der menschlichen Daseinsweise, die das im Apollon-Logos der Diomedes-Szene thematisierte Motiv der Sterblichkeit aufgreift. Der epische Dichter schildert einen Kampf der Götter und lässt in diesem Kontext Apollon gegenüber Poseidon erklären: Erderschütterer, wahnsinnig müßtest du wahrhaft mich schelten, kämpfte ich gegen dich um der elenden Sterblichen willen, die, vergleichbar den Blättern, bald in der Fülle des Lebens aufsprießen, von den Erträgen der Felder sich nährend, bald wieder welken, dem Tode geweiht. (Il. 21, 462–466; Übers. D. Ebener)

Die menschliche Daseinsweise wird in diesen Versen mit den Aspekten der Inkonstanz und Unbeständigkeit assoziiert und in den umfassenden Zusammenhang des Werdens und Vergehens des organischen Lebens eingeordnet. Das 31 Gemeint ist die Überlegenheit gegenüber den durchschnittlichen menschlichen Fähigkeiten. Vgl. Il. 21, 214f.

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Sterbliche gelangt durch Wachstum und Nahrung zu Gestalt, Fülle und Kraft. Die durch Entwicklungsprozesse erreichte Vitalität und Leistungsfähigkeit besitzt jedoch keine unbegrenzte Dauer, sondern ist wie alles Irdische der Zeitlichkeit und dem unaufhaltbaren Verfall unterworfen. Neben dieser Ausgestaltung der Sterblichkeit ist noch ein anderer Apekt im Rahmen der Thematik der Selbsterkenntnis interessant. Während in der Diomedes-Szene und der Achilleus-Phoibos-Begegnung Apollon als Mahner zur Selbsterkenntnis dargestellt wird, erscheint er hier als göttliche Person, die über eine derartige Erkenntnis selbst verfügt, die ein Wissen von den eigenen Potenzen und den spezifischen Merkmalen der göttlichen Beschaffenheit besitzt und die Differenz zwischen Göttern und Menschen stets im Blick hat. Der Besitz der Selbsterkenntnis wird an dieser Stelle in einen engen Zusammenhang mit der Tugend der Sophrosyne gerückt. Aufgrund seines Selbstwissens lässt sich der Gott nicht zu unbedachten, seiner Natur nicht angemessenen Handlungen hinreißen, wie etwa zu einem Kampf mit seinesgleichen um der Sterblichen willen, sondern bewahrt auch in affektiv aufgeheizten Situationen eine Haltung der Besonnenheit (»du würdest mich nicht bei gesundem Verstande [saºvqym] nennen/ Wenn ich mit dir der Sterblichen wegen kämpfte« Il. 21, 462f.; Übers. W. Schadewaldt). Wie man schon häufiger bemerkt hat32, steht diese Darstellung eines durch Sophrosyne bestimmten Apollon in einer gewissen Spannung zum jähzornigen Bogengott des ersten Ilias-Gesangs. Folgt man dem anfangs skizzierten genealogischen Ansatz der Apollon-Deutung, so kann man hier eine Entwicklung der Gottes-Vorstellung vermuten33, die im delphischen ApollonKult manifest wird. In der Odyssee werden die Motive der menschlichen Sterblichkeit und Unbeständigkeit an verschiedenen Stellen aufgegriffen. Im Gegensatz zur Ilias werden sie hier jedoch aus einer rein menschlichen Perspektive dargestellt. In unserem Zusammenhang sind insbesondere zwei Stellen von Interesse: Od. 11, 218–222 und Od. 18, 125–137. Im 11. Gesang findet sich innerhalb der Darstellung von Odysseus’ Hades-Reise ein Logos der Antikleia, der eine Beschreibung der menschlichen Kondition aus der Sicht der Verstorbenen enthält. Nachdem Odysseus vergeblich versucht hat, die Seele seiner verstorbenen Mutter zu umarmen, wendet sich diese mit folgenden Worten an ihren Sohn: Ach, mein geliebter Sohn, du ärmster sämtlicher Helden, nein, dich betrügt nicht Persephoneia, das Kind der Kroniden, sondern es ist das Los (d¸jg) der Menschen im Falle des Todes: Keinerlei Sehnen halten mehr Fleisch und Knochen zusammen, sondern die Glut der lodernden Flammen vernichtet die Teile, 32 Vgl. z. B. Dirlmeier (1970). 33 Vgl. auch Il. 24, 32–54.

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

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wenn die Kräfte des Lebens (hulºr) die weißen Gebeine verlassen und, wie ein Traumbild, die Seele davonfliegt und wesenlos flattert (xuwµ d( A¼t( emeiqor !poptal´mg pepºtgtai). (Od. 11, 216–222; Übers. D. Ebener)

In dem Antikleia-Logos wird die menschliche Sterblichkeit unter dem Aspekt des Verfalls der Leiblichkeit und des damit verbundenen Verlustes aller Lebenskräfte thematisiert. Die im Alter einsetzende Hinfälligkeit des Körpers hat sowohl eine morphologisch-physische als auch eine psychisch-geistige Dimension. Mit der leiblichen Vitalität und Lebensenergie entweicht die Kraft und Schärfe des Geistes sowie die Intensität des Wollens, Begehrens, Fühlens. Nach dem endgültigen Verlust des sinnlichen Körpers im Tod bleibt nur ein Schattenbild (eUdykom) zurück, ein körperloses Abbild der vitalen Person, das ohne Kraft und Tätigkeit in der Dunkelheit des Hades dahindämmert. Durch die abschließende Aufforderung der Antikleia, diese Worte im Gedächtnis zu behalten und an andere weiterzugeben (»merke dir alles; späterhin sollst du es deiner lieben Gemahlin erzählen« Od. 11, 223f.; Übers. D. Ebener), wird angedeutet, dass die Einsicht in das menschliche Schicksal nach dem Tod eine Relevanz für das Leben besitzt und in bestimmten Handlungssituationen regulierend wirken kann. Im 18. Gesang gestaltet der Dichter der Odyssee einen Logos des Helden Odysseus, der aufgrund der deutlichen Anknüpfung an die Apollon-Logoi der Ilias als apollinische Selbsterkenntnis gedeutet werden kann. Odysseus wendet sich mit folgenden Worten an Amphinomos: Lasse dir sagen deshalb, genau gib Obacht und höre: Nährt doch die Erde den Menschen als schwächlichstes Wesen von allen, die da über den Boden der Erde hin schnaufen und laufen! Niemals gedenkt er künftigen Unheils, solange die Götter reiches Gedeihen ihm schenken und rüstig die Glieder sich regen. Lassen jedoch die seligen Götter ins Unheil ihn stürzen, muß er, obschon widerstrebend, geduldigen Herzens es tragen. Denn es entspricht die Sinnesart der Erdenbewohner jeweils dem Tag, den der Vater der Menschen und Götter heraufführt. (to?or c±q mºor 1st·m 1piwhom¸ym !mhq¾pym, oXom 1p( Glaq %c,si patµq !mdq_m te he_m te) (Od. 18, 129–137; Übers. D. Ebener)

In den Versen 130–31 wird das Motiv der Erdgebundenheit aufgenommen, das bereits in den Apollon-Paränesen der Ilias (Il. 5, 442 und Il. 21, 462–466) thematisch präsent war. Die Formulierung in Vers 131 (»die atmen und schleichen auf der Erde« fssa te ca?am 5pi pme¸ei te ja¸ 6qpei) verweist auf eine unmittelbare Bezugnahme auf Il. 5, 442 (»die auf dem Erdboden wandelnden Menschen« wala· 1qwol´mym t( !mhq¾pym). Es liegt nahe, die Passage mit der von Apollon

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geforderten Selbstbesinnung in Zusammenhang zu bringen. Der OdysseusLogos ist gleichsam die menschliche Antwort auf die göttliche Paränese. In diesem Logos wird eine Einsicht gestaltet, die dem adäquat ist, was der Apollon der Ilias fordert. In dieser komplementären Lesart erscheint Odysseus als Figur, die eine Selbsterkenntnis im apollinischen Sinn gewonnen hat und andere zu dieser Einsicht ermahnt (»Lasse dir sagen deshalb, genau gib Obacht und höre« toumej² toi 1q´y, o» d³ s¼mheo ja¸ leu %jousom Od. 18, 129; Übers. D. Ebener). Das Motiv der Erdgebundenheit, das hier mit einer Aussage über die besondere Schwäche des Menschen verknüpft wird (»nährt doch die Erde den Menschen als schwächlichstes [!jidmºteqor] Wesen von allen« Od. 18, 130; Übers. D. Ebener), erfährt in den folgenden Versen eine Ergänzung durch ein weiteres Merkmal der menschlichen Kondition. Durch den Verweis auf die Gefährdung von Reichtum, Gesundheit, physischer Stärke und die Möglichkeit des Eintreffens von Unglück und Elend (Od. 18, 132–134) wird die Wechselhaftigkeit des menschlichen Geschicks thematisiert. Die Reflexion auf den angemessenen Umgang mit einem plötzlich hereinbrechenden Unglück (»muß er, obschon widerstrebend, geduldigen Herzens es tragen [tetkgºti hul`]« Od. 18, 135; Übers. D. Ebener) darf als Andeutung der Sophrosyne-Thematik gelesen werden. Das ›geduldige Tragen‹ meint in diesem Zusammenhang eine Haltung der Selbstbeherrschung, die die Affekte des Schmerzes, der Wut, der Trauer, des Aufbegehrens oder Resignierens zu bändigen versteht. Die Begründung solch einer besonnenen Haltung wird in den Versen 136f. geliefert: »Denn es entspricht die Sinnesart (mºor) der Erdenbewohner/ Jeweils dem Tag (Glaq), den der Vater der Menschen und Götter heraufführt« (Übers. D. Ebener). Die Bestimmung des Menschen als ›Tagwesen‹, die von der späteren griechischen Dichtung, Historiographie und Philosophie vielfach aufgegriffen wurde, wird unten noch genauer zu untersuchen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Ausgeliefertheit des Menschen an den ›Tag‹, an das, was der Tag an Ereignissen und freudvollen oder üblen Dingen bringt, in der Odyssee-Passage als ein spezifisches Merkmal der menschlichen Kondition eingeführt und mit der Haltung der Besonnenheit verknüpft wird. Durch die Vergegenwärtigung der unabänderlichen, vom Menschen nicht beeinflussbaren Kondition kann eine Haltung der Gelassenheit und Selbstbeherrschung eingeübt werden, die die Fähigkeit befördert, auch in Krisensituationen rational und vernunftorientiert zu entscheiden. Nach der Auswertung der relevanten Passagen aus der Ilias und der Odyssee kann folgendes Resümee gezogen werden: Angesichts der vielen Belegstellen lässt sich die These vertreten, dass Apollon bereits bei Homer als Mahner zur Selbsterkenntnis in Erscheinung tritt. Wie sich anhand der zitierten Passagen zeigen lässt, ist im homerischen Epos nicht nur die delphische Aufforderung cm_hi sautºm vorweggenommen, vielmehr klingen hier bereits bestimmte

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

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Grundmotive an, die sich bis in die klassische und hellenistische Literatur hinein verfolgen lassen. Als Gehalt der geforderten Selbstbesinnung scheint im Epos die menschliche Unbeständigkeit, Schwäche und Endlichkeit auf, die von der späteren Dichtung unter Aufnahme der homerischen Metaphern (insbes. Il. 21, 464; Od. 11, 7 u. 22; Od. 18, 137) im Kontext der Selbsterkenntnis-Thematik vielfach reflektiert wird.34 Bei aller Kontinuität dürfen jedoch die Differenzen nicht übersehen werden. Der homerische Gott unterscheidet sich insbesondere bezüglich der Intention seiner Ermahnungen von späteren apollinischen Paränesen. Die Aufforderung zur Selbstbesinnung ist im Epos stets mit einer konkreten Handlungsanweisung verbunden und zielt vornehmlich auf eine Korrektur des menschlichen Fehlverhaltens. Die apollinischen Paränesen und Orakel haben bei Homer insofern verhaltenstherapeutische Effekte (vgl. Il. 1, 141–147; 5, 443f.). Die seelentherapeutische Intention, die in der klassischen Dichtung und Historiographie aufscheint, ist hier noch kaum erkennbar.35 Das wird insbesondere im ersten Buch der Ilias deutlich. Das Wort des Apollon nötigt Agamemnon nicht dazu, seine Charakterhaltung zu überdenken. Den geforderten Sühnhandlungen vermag er ganz äußerlich Genüge zu leisten, ohne die maßlose Besitzgier (vikojteam¾tate p²mtym Il. 1, 122), die seiner ablehnenden, harten Haltung gegenüber der Bitte des Apollon-Priesters Chryses zugrunde lag36, in Frage stellen zu müssen. Die unverändert beibehaltenen Be34 Bei Homer klingt zudem die spätere enge Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Sophrosyne an (vgl. Il. 21, 461–67). Dirlmeier (1970, 36f.) hat darauf hingewiesen, dass in Il. 24, 32– 54 die spätere Konzeption der Sophrosyne vorgezeichnet ist. 35 Das bedeutet freilich nicht, dass bei Homer die seelischen Kräfte noch nicht im Blick sind. Die seelischen Qualitäten und Fähigkeiten sind im Epos thematisch präsent, werden jedoch nicht mit dem Wort xuw¶ benannt. Das Wort xuw¶ bezeichnet im homerischen Epos den Lebensodem, der im Tod entweicht und als körperloses, kraftloses Schattenbild (eUdykom) des Menschen in den Hades eingeht. Vgl. dazu Rohde (1903 I, 3ff.), Claus (1981, 11–102), Bremmer (1983). Für die im Leben wirksamen Geistes- und Willenskräfte verwendet Homer die Ausdrücke hulºr und mºor. Vgl. dazu Snell (1975, 18ff.) und Dodds (1970, 14f.). In Auseinandersetzung mit der von Snell und anderen Forschern vertretenen Auffassung, dass es bei Homer noch keine Einheit der Funktionen des bewussten Lebens gibt und die verschiedenen Kräfte als nebeneinander bestehende Organe betrachtet werden, hat Schmitt (1990) überzeugend aufgezeigt, dass Homer von einer Einheit der seelischen Potenzen ausgeht. Das einheitsstiftende Prinzip sei der Njos, der bei Homer »kein […] bloßes intellektuelles Reflexionsvermögen ist, sondern ein unmittelbares Erfassen eines Sachverhalts in seiner Bedeutung für das Wohl und Wehe des Erkennenden« (182). 36 Vgl. dazu die von Agamemnon angeführte Begründung seines Verhaltens: »daß offenkundig darum der Ferntreffer ihnen Schmerzen sende, /weil ich für jenes Mädchen, die Chryseis, die glanzvolle Freikaufsumme / zu akzeptieren nicht geneigt war, da ich ja viel lieber sie persönlich / zu Hause haben will.« (Il. 1, 110–113; Übers. J. Latacz). Achill wirft Agamemnon im nachfolgenden Streitgespräch Besitzversessenheit (vikojteam¾tate p²mtym Il. 1, 122), Unverschämtheit (!maide¸g Il. 1, 149) und Bedachtheit auf den eigenen Vorteil vor (jeqdakeºvqym Il. 1, 149). Vgl. auch Il. 1, 171 u. 229f. Vgl. dazu Schmitt (2009, 863).

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

sitzansprüche manifestieren sich sowohl in Agamemnons Reaktion auf den durch Kalchas vermittelten Götterspruch als auch in den Folgehandlungen. Der Atride reagiert auf die Forderung des Apollon zunächst mit Unmut und Aggressivität (»da erhob sich unter ihnen / der Held, der Atreussproß, der Weithinherrscher Agamemnon, / voll Unmut. Mit Erregung füllten tief die Sinne, daß sie dunkel wurden, / in ihm sich an, und seine Augen wurden einem Feuer gleich, das lodert« Il. 1, 101–104; Übers. J. Latacz), die sich gegen den apollinischen Seher entlädt (Il. 1, 106–108). Schließlich fasst er den Entschluss, das Mädchen an Chryses zurückzugeben. Die angeführte Begründung lässt erkennen, dass seine Entscheidung nicht aus Einsicht erfolgt, sondern in einer Übelabwägung wurzelt. Agamemnon sieht sich gezwungen, dem Gott Folge zu leisten, da sonst das ganze griechische Heer von der Pest vernichtet werden würde (Il. 1, 117). Dass Agamemnon nicht bereit ist, irgendwelche Einschränkungen hinzunehmen und ungebrochen an seinen Besitzansprüchen festhält, zeigt sich in seiner Forderung an die Achaier, ihm einen Ersatz für das Mädchen herbeizuschaffen (Il. 1, 118–120) sowie in dem gewaltsamen Raub der Briseis (Il. 1, 322ff.).37 Der homerische Apollon, so lässt sich festhalten, fordert zwar zu einer Einsicht in den Frevel und zur Anerkennung der göttlichen Macht auf. Für eine Versöhnung des Gottes und die Abwendung des Unheils ist es jedoch völlig irrelevant, ob hier eine Einsicht aus innerer Überzeugung oder eine ›Einsicht wider Willen‹ erfolgt. Entscheidend ist, dass die geforderten Handlungen vollzogen werden und dem Gott äußerlich Genugtuung geleistet wird. Kennzeichnend für den homerischen Apollon sind zudem die affektive Disposition und die starke Ausrichtung auf die til¶. Die Ehre (til¶) ist in der Ilias nicht nur für die kämpfenden Helden der höchste Wert, sondern auch für den Gott.38 Apollon fordert von den Menschen Ehrbezeigungen, Achtungsbeweise und Hochschätzung seiner Person39 in Wort und Tat und reagiert mit Zorn und tödlicher Rache bei jeder Art von Missachtung, Geringschätzung, Schmähung.40 Am Maßstab der til¶ bemisst sich, was als menschliche Freveltat gilt, nämlich 37 Schmitt (2009, 863) sieht darin eine weitere »blinde Willkürhandlung«, zu der sich Agamemnon in seiner Wut über den Verlust der Geliebten hinreißen lasse. 38 Zur Bedeutung der til¶ im homerischen und nachhomerischen Zeitalter vgl. Peristiany (1965), Vernant (1993, 26ff.), Cairns (1993). 39 Dazu Vegetti (1993, 307): »Die Götter suchen beharrlich den Umgang mit den Sterblichen […], weil sie ständig jener Ehrbezeugungen bedürfen, die ihnen als Herren mit unbegrenzter Macht zustehen.« 40 Die göttlichen und menschlichen Reaktionen auf Beleidigungen und Kränkungen sind bei Homer fast identisch. Vgl. Agamemnons Reaktion auf die Schimpfworte und Zurechtweisungen des Achill: »daß du gut wissest, /um wieviel mächtiger ich bin als du, und auch ein andrer Furcht hat, /gleich viel wie ich zu sagen und sich Aug’ in Auge ebenbürtig mir zu machen!« (Il. 1, 185ff.) sowie die zornige Reaktion Achills auf die Kränkung durch Agamemnon (Il. 1, 188ff.).

Das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer

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direkte Beleidigung des Gottes, kultische Vernachlässigung und Meineid.41 Dodds (1970, 20) ist in seiner Beobachtung zuzustimmen, dass die »Götter der ›Ilias‹ [ ] primär mit ihrer eigenen Ehre (til¶) befaßt [sind]. Leichtfertig von einem Gott sprechen, seinen Kult vernachlässigen, seinen Priester mißhandeln, all das erzürnt sie verständlicherweise.« Der apollinische Zorn wird im homerischen Epos vielfach dargestellt. In der Ilias I begegnen wir einem Gott, der nicht souverän und selbstbeherrscht über dem Geschehen steht, sondern sich vom Jähzorn zur Tat hinreißen lässt: »brach auf von des Olympos Gipfeln, Zorn im Herzen, /den Bogen um die Schultern und den beiderseits geschloßnen Köcher ; /es klirrten laut die Pfeile auf den Schultern des Erzürnten« (Il. 1, 44ff.; Übers. J. Latacz). Die Sendung der Pest ist die Rache des Gottes für die ihm zugefügte Kränkung und Beleidigung. Sie entspringt dem verletzten Ehrgefühl. Einen ähnlichen Beweggrund des Handelns kann man auch in anderen homerischen Szenen beobachten, in denen Apollon als todsendender Bogengott auftritt. Niobe, die sich im Übermut mit den Göttern verglichen und damit geprahlt hat, zwölf Kinder zur Welt gebracht zu haben, während die Göttin Leto nur zwei geboren habe – Apollon und Artemis –, wird durch die Tötung all ihrer Kinder bestraft (Il. 24, 602ff.). Die Brüder Otos und Ephialtes, Helden der Vorzeit, werden von Apollon getötet, weil sie den Olymp erstürmen wollten (Od. 11, 305ff.). Eurytos wird vernichtet, weil er es gewagt hatte, Apollon, den Bogenschützen par excellence, zum Wettkampf mit Pfeil und Bogen herauszufordern (Od. 8, 224ff.). Die Tötung ist immer die affektgeladene Reaktion auf eine verbale Beleidigung oder auf eine Herausforderung zum Wettstreit und zum Kampf, die den Rangunterschied zwischen Gott und Mensch nivelliert und den Gott zum gleichrangigen Kampfpartner degradiert.42 Wie schon häufig betont wurde43, spiegelt sich in dieser Gottesdarstellung das aristokratische Wertsystem der frühgriechischen Zeit wider. Der homerische Apollon verkörpert in vollkommener Form die aristokratischen Wertmaßstäbe und Ideale, die in der kriegerischen Ständegesellschaft maßgeblich waren.44 Verfolgt man die Entwicklung der Apollon-Vorstellung in nachhomerischer Zeit, so ist zu beobachten, dass der stolze Bogengott etwas zurücktrat und sich das Schwergewicht zunehmend auf den Leiergott verlagerte, der als Anführer der Musen mit Preisliedern45 und Tänzen die durch menschlichen Frevel erzürnten 41 Zum Frevelkatalog in homerischer Zeit vgl. Latte (1920/21, 258), Wilamowitz (GdH II, 118ff.), Dodds (1970, 20f.). 42 Es darf freilich nicht übersehen werden, dass sich bei Homer auch Spuren eines ganz anderen Apollonbildes finden. So z. B. die bereits erwähnte Passage Il. 21, 462–467, vor allem aber die Apollon-Rede im 24. Buch der Ilias (24, 33–54). Dazu Dirlmeier (1970, 36f.). 43 Vgl. z. B. Dodds (1970, 1–16) und Vegetti (1993, 306). 44 Zum aristokratischen Ethos vgl. Stein-Hölkeskamp (1989), Stahl (2003, I), Nicholson (2005). 45 Im Homerischen Pythischen Apollon-Hymnos (186ff.) wird vom Inhalt der von den Musen

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Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

Götter versöhnte.46 Apollon entwickelte sich zur reinen Vermittlungsinstanz, die dem Menschen in Form von Orakelsprüchen mitteilte, welche kultischen Handlungen und Sühnetaten zu leisten waren, um die göttliche Strafe abzuwenden und die Harmonie zwischen Mensch und Gott wiederherzustellen.47 Die bereits bei Homer erwähnten Funktionen der Mantik, Kathartik und Musik erhielten durch den Bedeutungszuwachs der Orakelstätten sowie die im Zusammenhang mit der delphischen Forderung nach Blutsühne48 erfolgende Wiederaufnahme der altgriechischen Vorstellungen von Befleckungen (l¸asla) und den sie beseitigenden kathartischen Riten49 ein viel größeres Gewicht und schmolzen zur Einheit einer Funktion zusammen.50

3.

Selbsterkenntnis in der delphischen Tradition

a)

Die Institution des delphischen Orakels

Der Orakelgott Apollon ist in archaischer Zeit zu größter Bedeutung gelangt.51 Als der »Orakelgeber par excellence« (Rosenberger 2001, 22)52 besaß Apollon zahlreiche Orakelstätten in Griechenland und in Kleinasien53, keine war jedoch so

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vorgetragenen Lieder berichtet: »Nun verläßt er [sc. Apollon] die Erde und wandelt hinauf zum Olympos/ Wie ein Gedanke, zum Hause des Zeus in die Kreise der andern/ Und die Unsterblichen wünschen sogleich, daß er spiele und singe./Alle Musen zusammen erwidern mit herrlicher Stimme,/ Preisen der Götter unsterbliche Gaben und preisen der Menschen/ Dulden und Leiden; […]« (Übers. A. Weiher). Diese Entwicklung spiegelt sich in der bildlichen Darstellung des Gottes wider. Seit dem 6. Jh. v. Chr. gewann das musische Element in der künstlerischen Darstellung zunehmend an Bedeutung. Zur Apollon-Darstellung in der griechischen Kunst vgl. RE 2, 1 (1895, 84ff.), Pfeiff (1943), Simon (1985, 118–146). Zur Vermittlerrolle des Apollon vgl. Nilsson (GGR I, 629). Vgl. Nilsson (GGR I, 632ff.). Vgl. Nilsson (GGR I, 98f.). Die Verbindung von Mantik und Musik sehen Bruit Zaidman/Schmitt Pantel (1994, 198) in dem gemeinsamen Ziel, »die Welt der Götter und die der Menschen in Harmonie miteinander zu bringen.« Die Orakelsprüche waren jedoch auch in einer unmittelbaren Weise mit dem musischen Wesenszug des Apollon verbunden, da sie offenbar als Gesang vorgetragen worden sind. Dazu Giebel (2001, 26): »Mit der Orakelverkündung ist oft das Wort !e¸deim ›Verse singen‹ verbunden.« Vgl. Eur. Ion 91ff.: »Es thront auf dem heiligen Dreifuß / die delphische Frau, / sie verkündet den Griechen singend die Worte, / die Apollon gesprochen« (Übers. D. Ebener). Die Glanzzeit Delphis war in spätarchaisch-frühklassischer Zeit, etwa um 550–480 v. Chr. Vgl. DNP 3 (1997, 411f.), DNP 9 (2000, 6), Giebel (2001, 17). Die Weissagung erscheint in der griechischen Literatur schon früh als eine zentrale Funktion des Gottes. Vgl. Hom. Il. 1, 72; 1, 384f.; Od. 8, 79f.; Hom. hymn. del. Apoll. 131f.; Hom. hymn. Herm. 536ff. Vgl. RE 14, 1 (1928, 1266), RE 18, 1 (1939, 846–848) u. DNP 9 (2000, 3f.).

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bedeutungsvoll und wirkmächtig wie das Heiligtum in Delphi54, das als eigentlicher Sitz des Gottes galt.55 Das delphische Orakel genoss höchstes Ansehen in der griechischen Welt und weit darüber hinaus.56 Es wurde nicht nur von Privatpersonen und Gesandtschaften der griechischen Städte und Herrscher konsultiert, sondern auch von kleinasiatischen Königen. Selbst aus Ägypten, Nordafrika, Sizilien, Südfrankreich und Spanien kamen Abgeordnete, um den Rat des Gottes einzuholen.57 Der Besucherandrang war in der Blütezeit des Orakels so groß, dass teilweise drei Pythien im Einsatz waren. Delphi besaß in dieser Zeit den Status eines geistig-religiösen Zentrums58, das die kultischen Angelegenheiten regelte, als Ratgeber bei allen wichtigen staatlichen und privaten Entscheidungen fungierte und mit seinen Orakelsprüchen die geistige Elite Griechenlands – Dichter, Geschichtsschreiber, Philosophen – anregte und inspirierte.59 Das delphische Orakel war »das panhellenische Heiligtum schlechthin« (Roux 1971, 189)60, das in der zersplitterten Welt der griechischen Kleinstaaten einheits- und identitätsstiftend wirkte.61 Wie de Araujo Caldas (2003) unlängst anhand der literarischen Quellen nachgewiesen hat, nahm Delphi nicht erst ab Mitte des 6. Jh. v. Chr.62, sondern 54 Der ursprüngliche Name des Ortes war Pytho (Puh¾). Erst in klassischer Zeit war zur Bezeichnung des Ortes Delphoi (Dekvo¸) gebräuchlich. Vgl. RE 4, 2 (1901, 2525f.) u. Maaß (1993, 1). 55 Zu den Gründungsmythen und Legenden um den Einzug des Apollonkultes in Delphi vgl. Maaß (1993, 3f.) (2007, 13f.), Giebel (2001, 9–12), Rosenberger (2001, 20–22). Der Apollonkult in Delphi ist durch archäologische Funde seit dem frühen 8. Jh. v. Chr. bezeugt. Vgl. Maaß (1993, 5) (2007), DNP 3 (1997, 404), Giebel (2001, 13). 56 Ruhm und Ansehen des Heiligtums spiegeln sich u. a. im herodoteischen Kroisos-Logos wider (vgl. insbes. die Geschichte vom Orakeltest 1, 46–50) und in der Zahl der bei Herodot genannten delphischen Orakel. Von den ca. 90 Orakelsprüchen, die in den Historien Erwähnung finden, werden 77 als delphische Orakel ausgegeben. 57 Vgl. Maaß (1993, 1 u. 20ff.). 58 Symbol dafür war der Omphalos, der als ›Nabel der Welt‹ bezeichnete heilige Stein, der im Inneren des Apollontempels stand und nach der Legende den Mittelpunkt der Erde anzeigte. Zu den Omphalos-Mythen vgl. Giebel (2001, 7) u. Maaß (2007). Nach Maaß stellt »der Mythos von den beiden Adlern, die der Göttervater Zeus von den Enden der Welt losfliegen ließ, um Delphi als deren Mittelpunkt zu erweisen, [ ] die Idee eines geistigen und festlichen Zentrums für die Menschheit in einem bildhaften Geschehen dar« (34). Die »Idee, daß ein spirituelles Zentrum zugleich räumlicher Mittelpunkt einer bekannten Lebenswelt sei« (21f.) finde sich auch an anderen Orten wie Rom und Jerusalem. 59 Vgl. DNP 3 (1997, 410), Giebel (2001, 47), de Araujo Caldas (2003, 10), Maaß (2007, 34 u. 103). 60 Zum Vergleich zwischen Delphi und Olympia, dem zweiten bedeutenden panhellenischen Heiligtum vgl. Maaß (2007, 108–112). Maaß begründet die übergeordnete Rolle Delphis wie folgt: »Unter diesen Gesichtspunkten scheint Delphi in gewisser Weise durch seine philosophischen und ethischen Ansprüche Olympia zu übertreffen. Olympia ist zum zeitlos gültigen Symbol für die Festlichkeit von Wettkämpfen geworden. Delphi dagegen steht für Schicksalserinnerung und Selbstbefragung« (112). 61 Vgl. dazu Nilsson (GGR I, 552) u. Rosenberger (2001, 117–126). 62 So z. B. Defradas (1972, 52f. u. 84–97).

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schon in der frühen Geschichte Griechenlands eine Sonderstellung ein.63 Umso dringlicher ist die Frage, worin die Größe und das Ansehen Delphis begründet sind. Warum hat gerade dieses Heiligtum solch herausragende Bedeutung erlangt und nicht eine der anderen zahlreichen Orakelstätten? Gewiss spielen hier viele Faktoren eine Rolle, z. B. die günstige Lage an der Kreuzung von zwei großen Handelsstraßen oder der weitgehend neutrale Status, den Delphi nach dem 1. Heiligen Krieg, der in der Kontrolle der Amphiktionen über das Heiligtum mündete, besaß.64 Beide Faktoren sind in der Forschung immer wieder als Erklärung angeführt worden. Wagner-Hasel (2000, 261–305) sieht darin die maßgeblichen Gründe für den Aufstieg Delphis. Neben diesen geographischverkehrstechnischen und politischen Faktoren spielte sicher auch der eindrucksvolle und inspirierende Charakter der Landschaft eine wichtige Rolle. Gegen eine zu starke Gewichtung dieser äußeren Faktoren lässt sich jedoch einwenden, dass andere Heiligtümer ebenso gut und bequem zu erreichen waren und sich in landschaftlich attraktiver Lage befanden. Man wird also zur Erklärung noch andere Ursachen heranziehen müssen.65 Vermutlich hängt die Größe und Bedeutung Delphis zu einem wesentlichen Teil mit der dort ausgeübten Inspirationsmantik66 zusammen. Graf hat unlängst (2009, 62) darauf hingewiesen, dass die Inspirationsmantik in den Augen der Griechen die höchste Form der Divination war. Schaut man sich die charakteristischen Merkmale der Inspirationsmantik an, so ist jene Wertschätzung gut nachvollziehbar. Nach Nilsson (GGR I, 626) zeichnet sich diese Form der Divination durch folgende Spezifika aus: 1) Intentionalität der Fragestellung, 2) Individualität und Konkretheit der Anfragen und Antworten, 3) Orientierungsleistungen durch allgemeine Lebensregeln. Zu 1) »Im Gegensatz zu Omina und Träumen, die sich von selbst einstellen, wird hier eine direkte Frage in einer besonderen Angelegenheit an einen Gott gestellt« (626). Zu 2) Und im Gegensatz zu Losorakeln, Hieroskopie und Opferschau, durch die lediglich festgestellt werden konnte, »ob eine Sache dem Gott genehm war oder nicht«, die »ein einfaches Ja oder Nein« zur Antwort hatten, besitzt das Spruchorakel den Vorteil, »daß es nicht nur auf eine besondere Anfrage Antwort geben, sondern auch

63 Vgl. de Araujo Caldas (2003, 49): »Der Verkehr von berühmten Dichtern und Musikern und der frühe Bestand von Weihgaben […] beweisen, daß Delphi mindestens seit dem frühen 8. Jh. reich und bekannt war« (vgl. auch 99). Vgl. auch Graf (2009, 57). 64 Vgl. dazu Maaß (1993, 42ff.). 65 Dempsey (1972, 49ff.) hat zwischen extrinsischen und intrinsischen Ursachen unterschieden. Unter die intrinsischen Ursachen zählt er die in Delphi ausgeübte Inspirationsmantik und die geistigen und praktischen Qualitäten der delphischen Priesterschaft. 66 Zur Inspirationsmantik und den verschiedenen Divinationstechniken in der griechischen Religion vgl. RE 14, 1 (1928, 1261ff.), DNP 3 (1997, 709–711) u. DNP 9 (2000, 5), Rosenberger (2001, 11–64).

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Weisungen und Mahnungen hinzufügen kann« (626).67 Während sich also andere mantische Verfahren im bloßen Ja-Nein-Schema oder in formelhaften Antworten bewegten und damit in ihrer Aussagekraft begrenzt blieben, hatte die in Delphi ausgeübte Inspirationsmantik den Vorzug, dass sie auf das besondere Problem des Ratsuchenden eingehen und konkrete Antworten zu geben vermochte. Zu 3) Darüber hinaus bestand bei dieser Art der Divination die Möglichkeit, eine den Einzelfall übersteigende allgemeine Regel zu geben68, die als Orientierung in anderen Lebenssituationen brauchbar war und an andere Personen weitergegeben werden konnte. Da jedoch die Inspirationsmantik auch an anderen Orten ausgeübt wurde69, ist zu vermuten, dass zuletzt die Qualität der Divination und die Fähigkeiten der delphischen Administration ausschlaggebend für die Attraktivität des Orakels waren.70 Die Anziehungskraft des delphischen Orakels ist wohl letztlich in der Geschicklichkeit71, der Diplomatie und dem geistigen Format der delphischen Priesterschaft72 begründet, die es offensichtlich verstanden hat, das zu allen Zeiten vorhandene, in der Zeit der großen politischen und sozialen Umwälzungen verstärkte73 Orientierungsbedürfnis74 in einer besonderen Weise zu erfüllen.75 67 68 69 70

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Vgl. auch Johnston (2008, 52). Vgl. auch RE 18, 1 (1939, 841) und Gigon (1995, 705). Vgl. RE 14, 1 (1928, 1266). So auch de Araujo Caldas (2003, 5): »Delphi verdankt seine Größe eindeutig den berühmten Orakelsprüchen […]«. Vgl. auch Giebel (2001, 38 u. 69), Maaß (2007, 111f.). In diesem Sinn auch Plat. Phaidr. 244a/b: »Denn die Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn (lam¸a) vieles Gute (pokk± jak±) in privaten und öffentlichen Angelegenheiten für Hellas bewirkt« und Cic. div. 1, 37f. Vgl. Dempsey (1972, 74f.) und Roux (1971, 12). Nach Dempsey (1972) zeichneten sich die delphischen Priester durch »skill and vigour« (74), »a remarkable degree of practical wisdom« (75), durch großzügige Toleranz in Kultfragen sowie durch die Bereitschaft, den Anschluss an die allgemeine Kultur und die philosophischen Gedanken zu suchen, aus. Die delphischen Priester zählten zu den bestinformierten und politisch weitsichtigsten Personen im griechischen Raum. Dazu Giebel (2001, 15 u. 54) und Maaß (2007, 17). Vgl. Meier (1987, 106 u. 111). Die Orientierungsleistung und -funktion der Apollon-Orakel wurde unlängst von Oesterheld (2008) sehr gut herausgearbeitet. Nach Meier (1987, 109–112) hat sich das delphische Orakel in dem von schweren Konflikten und Auseinandersetzungen geprägten späten 7. und 6. Jahrhundert dadurch Ansehen erworben, dass es sich bei der Raterteilung nicht von den partikularen Interessen der konfligierenden Parteien bestimmen ließ, sondern einen überparteiischen Standpunkt einnahm, der am Besten des Ganzen orientiert und darum bemüht war, »für die jeweilige Polis nützlichen, guten Rat zu geben« (111). Meier macht diese Art von ›autonomer Intelligenz‹ als Leistung kenntlich, die im Widerstand gegen die Vereinnahmungsversuche von seiten der Ratsuchenden zu erringen war. Anders Delcourt (1955), Crahay (1956) und Fontenrose (1978), die das delpische Orakel als Instrument der Machtelite deuten und eine weitgehende Manipulation der pythischen Sprüche durch die politische Oberschicht annehmen. Die Autonomie-These wurde jüngst wieder von Oesterheld (2008, 551) vertreten: »Das Orakel ist

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Auf das bestehende Orientierungs- und Legitimationsinteresse verweisen sowohl die schon erwähnte Vielzahl der Anfragen als auch die Gegenstände und Formulierungen der Fragen. Die Probleme, mit denen sich Privatpersonen und offizielle Gesandtschaften an das Orakel wandten, betrafen alle Bereiche des Lebens: 1) kultisch-kathartische Angelegenheiten wie die Gründung neuer Kulte, die Abänderung schon bestehender Kulte, Reinigungen und Sühnungen, 2) politisch-öffentliche Angelegenheiten wie Koloniegründungen, Gesetzgebung, Kriegsentscheidungen, 3) ethisch-sittliche Probleme wie Lebensführung, Glück, Weisheit, Tugend, 4) und schließlich private Angelegenheiten, d. h. alle Fragen des Alltags wie Familiengründung, Rechtsstreitigkeiten, Geschäfte, Ernte, Krankheit, Reisen etc.76 Die Fragen wurden in ganz unterschiedlicher Form vorgetragen, je nachdem, ob sich der gesuchte göttliche Rat auf ein in Erwägung gezogenes Unternehmen, auf das Erreichen eines schon beschlossenen Projekts, auf den Verlauf einer bereits begonnenen Unternehmung oder auf die Abwendung eines erwarteten bzw. schon eingetroffenen Unheils bezog. Häufig wurden Fragen folgenden Typs gestellt: Ist es besser und vorteilhafter (k_iom ja· %leimom) x oder y zu tun? Was muß ich tun, um x zu erreichen/ glücklich zu vollenden/abzuwenden? Wie soll ich mich in Situation y verhalten? Wird x eintreffen?77 Erwartet wurde jeweils Rat, Vorhersage oder Legitimation.78 Ebenso verschieden wie die Anfragen waren auch die Antworten79, die die

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eine Außeninstanz, die in der Welt der politischen Institutionen nicht aufgeht und eben darum, versehen mit autonomer Autorität, auf sie Einfluß zu nehmen vermag. Zugleich kann die religiöse Institution diese Funktion nur ausüben, weil sie von den Protagonisten der Polis in Anspruch genommen und als Teil des eigenen Referenzsystems angesehen wird, das sich aus kultischen und politischen Elementen zusammensetzt. Die Orakel stehen der Polis mit eigener Legitimation gegenüber und gehören doch zu ihr«. Zu Alltagsfragen vgl. Plut. de Pyth. or. 28, 408c u. de E 5, 386c. Neben diesen Grundvarianten gab es noch zahlreiche andere Fragetypen, wie z. B. solche, die auf einen Vergleich hinsichtlich der Bestheit zielten und vom delphischen Gott zumeist eine Bestätigung der eigenen Vorrangstellung erwarteten (Ist jemand besser/glücklicher/weiser als ich? Wer ist am besten?). Zu den verschiedenen Fragetypen vgl. Fontenrose (1978, 35– 38). Zu den Motiven der Orakelanfragen vgl. Rosenberger (2001, 65–126). Nach Rosenberger wurde das Orakel zumeist als Instrument zur Herrschaftslegitimation und Machtsicherung gebraucht. Die das Orakel konsultierenden Herrscher und Poleis suchten nach Bestätigung von bestimmten Projekten durch die göttliche Autorität zum Zweck der Durchsetzung von politischen Zielen und der Machtfestigung. Ähnlich Brandt (1998). Die in Handlungsunsicherheit und Ratlosigkeit begründeten Anfragen sind vermutlich primär von Privatpersonen gestellt worden. Zur Authentizität der überlieferten Orakelsprüche vgl. Parke/Wormell (1956, I/II), Fontenrose (1978), Rosenberger (2001, 11–15), Maaß (1993, 8–11) (2007, 17–19). Etliche der überlieferten Sprüche gelten als ›vaticinia ex eventu‹, sind also nach den betreffenden Ereignissen formuliert worden. Ein großer Teil der Orakel wird der Legendenbildung und der Fiktion zugerechnet. Nur wenige Orakel sind als historisch echt dokumentiert. Maaß (1993, 11) gelangt bezüglich der Authentizitätsfrage zu folgendem Schluss: »Die überlieferten Orakelsprüche sollte man

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inspirierte Pythia den Ratsuchenden verkündete.80 Die Sprüche unterschieden sich sowohl hinsichtlich der Form – die Orakel wurden sowohl in Prosa als auch in Versform erteilt81 – als auch des Stils – einige Sprüche erscheinen ironischbrillant, andere humorvoll, wieder andere geheimnisvoll-feierlich oder nüchtern-ernst. Daneben gab es beträchtliche Unterschiede in der Klarheit der Aussagen. Es sind etliche Sprüche überliefert, die sich durch Direktheit und Eindeutigkeit auszeichnen. In diesen Orakeln wird zumeist eine von zwei vorgelegten Handlungsmöglichkeiten befürwortet oder ein vom Ratsuchenden geplantes Unternehmen bestätigt bzw. negiert. Darüber hinaus gibt es jedoch viele Orakelsprüche, die zweideutig, unklar, dunkel sind. Aufgrund dieser doppelsinnigen, mehrdeutigen Sprüche wurde der delphische Apollon auch Kon¸ar, der ›Schräge, Vieldeutige‹ genannt.82 Das berühmte Wort Heraklits, »der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört, sagt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an« (b %man, ox t¹ lamte?ºm 1sti t¹ 1m Dekvo?r, oute k´cei oute jq¼ptei, !kk± sgla¸mei DK 22 B 93), charakterisiert die Eigenart dieser Sprüche in treffender Weise. Die Frage nach dem Grund dieser dunklen, schwer verständlichen Weise der Mitteilung ist in der spätantiken Reflexion und der modernen Forschung sehr unterschiedlich beantwortet worden. Ein Erklärungsmodell besteht darin, dass sich das delphische Orakel bei schwierigen Entscheidungen oder die Zukunft betreffenden Fragen nicht festlegen wollte. Durch gleichnishafte, rätselhafte Sprüche, die mehrere Deutungsmöglichkeiten offen ließen, konnte eine daher insgesamt als eine poetische, legendenhafte Geschichtsschreibung verstehen. Diese gibt die Ereignisse nicht korrekt im Sinn einer kritischen Geschichtsschreibung wieder, ist aber eine wichtige historische Quelle«. In der jüngeren Forschung werden die von Fontenrose (1978) aufgestellten Kriterien zur Beurteilung der Authentizität, nach denen ein Großteil der literarisch überlieferten delphischen Orakelbescheide als nicht-historisch anzusehen ist, als eher problematisch betrachtet. Vgl. Suarez de la Torre (1992) und Oesterheld (2008). 80 Zum Ablauf der Befragung und zur Weissagung der Pythia vgl. Maurizio (1995), Giebel (2001, 15–24), Rosenberger (2001, 48–64), Maaß (2007, 17). Giebel (2001) erklärt die Weisheitssprüche der Pythia durch einen »Zustand selbstinduzierter Trance« (23) und die Fähigkeit, Meinungen und Stimmungen aus der Umgebung aufzunehmen und zu formulieren, obwohl diese nicht zum eigenen Kenntnisbereich und Wissensstand gehören. »Das würde erklären, dass die Pythia, obwohl in Trance, ihre Antworten nach den Richtlinien einer ›delphischen‹ Politik oder Religion formulierte« (23). Ähnlich Maaß (2007, 17): »Die Lebensklugheit einer Frau, ein poetisch-religiös geprägtes Sprachvermögen, persönliche Frömmigkeit und die Kenntnisse über Anliegen und Frager konnten eine Pythia diesem Ideal [sc. der göttlichen Inspiration] sicher nahekommen lassen. Nicht zuletzt ist daran zu denken, daß die Pythia nicht allein stand, sondern die Unterstützung von erfahrenen Priestern und Heiligtumsbeamten hatte«. Zur Diskussion vgl. Oesterheld (2008, 21 Fußn. 8). 81 Nach Plutarch wurden in archaischer Zeit sowohl in Prosa als auch in metrischer Form Sprüche erteilt (vgl. Plut. de Pyth. or.). Zur Form der Orakelsprüche vgl. Giebel (2001, 24–27) und Rosenberger (2001, 172–176). 82 Der Beiname taucht häufig bei den attischen Tragikern auf, aber auch bei Pind, P. 3, 28; P. 11, 5 und Hdt. 1, 91.

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Falschaussage vermieden und der Ruf der Weisheit und Untrüglichkeit bewahrt werden.83 Plutarch, der selbst Priester in Delphi war, zu einer Zeit freilich, als sich das Heiligtum schon im Niedergang84 befand, weist diese Erklärung zurück und führt stattdessen eine andere Begründung an. Es sei sinnvoll gewesen, bestimmten Klienten, nämlich den Herrschereliten, die »von hohem Selbstgefühl« (l´tqiom oqd³m vqomoOmter, de Pyth. or. 26, 407d) getragen waren, die Wahrheit nur andeutungsweise und verhüllt mitzuteilen. Wenn das Orakel den Mächtigen die Wahrheit unverhohlen offenbart hätte und diese statt der erwarteten Bestätigung vieles hätten hören müssen, was ihren Wünschen und Vorstellungen zuwiderlief, wären sie in Hass und Feindschaft gegen das Orakel entbrannt. Auf diese Weise wäre großer Schaden für ganz Griechenland entstanden (de Pyth. or. 26, 407d/e). Eine dritte Erklärung, die sich ebenfalls bei Plutarch findet (de E 6), aber auch in der modernen Literatur häufig angeführt wird, bezieht sich auf die didaktische Intention85 der in Delphi ausgeübten Inspirationsmantik. Das Rätselhafte und Dunkle vieler Sprüche sei in der Funktion begründet, die Menschen zur Suche nach deren Bedeutung anzuregen und damit die eigene Einsicht und Entscheidungsfindung zu befördern. Der Aspekt der intendierten Aktivität und exegetischen Nachforschung wurde unlängst von Oesterheld (2008) herausgehoben. Die Apollon-Orakel, so seine These, boten Orientierung, indem sie »in ritueller Inszenierung eine punktuelle Teilhabe am außerordentlichen Wissen der Gottheit« ermöglichten, »ein Wissen, das von den Menschen freilich zuerst verstanden, gedeutet und auf die konkreten Lebenssituationen bezogen werden mußte, bevor es Handlungen lenken und Probleme lösen helfen konnte« (20).86 Eine sichere Antwort bezüglich der Frage nach dem Grund des vieldeutigen,

83 Vgl. RE 4, 2 (1901, 2537): »Es verstand sich von selbst, dass der Gott auf gewisse, gar zu neugierige Fragen nur zurückhaltend und oft zweideutig antworten konnte, um seinen Ruf nicht zu gefährden.« DNP 3 (1997, 711) betont die Entbindung von der Verantwortung: »die oft schwer verständlichen Orakelsprüche […] zwangen den Fragenden aber auch zu eigener Interpretation und entbanden somit das Orakel von der Verantwortung in heiklen Angelegenheiten.« 84 Zum Niedergang des Orakels vgl. Baltes (2005, 135–154). 85 Zu Apollon als Erzieher vgl. Dirlmeier (1970, 31–47), Defradas (1972, 282), Althoff/Zeller (2006, 107). 86 Ähnlich bereits Kirchberg (1965, 118): Absicht der Orakelsprüche sei es, »daß der Mensch das dunkle Wort im Gedächtnis behält, seinem Sinn nachforscht und ihn zu begreifen sucht, dann aus der gewonnenen Erkenntnis heraus sich zu etwas entscheidet und die Entscheidung im richtigen Augenblick in die Tat umsetzt.« In engem Zusammenhang damit steht das dialogfördernde Moment des delphischen Orakels, auf das in der jüngeren Literatur oft hingewiesen wurde. Vgl. Bruit Zaidman/Schmitt Pantel (1994, 123), Rosenberger (2001, 76), Giebel (2001, 95). Meier (1987, 109) hat die hohe Rationalität betont, die in Delphi am Wirken war und von der delphischen Theologie gefördert wurde.

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dunklen Orakelstils ist heute aufgrund der spärlichen Quellen kaum möglich.87 Vermutlich spielten alle genannten Faktoren eine Rolle. Bei aller Verschiedenheit, die die überlieferten Orakelsprüche hinsichtlich der Form, des Stils und der Klarheit aufweisen, lässt sich eine inhaltliche Konstante beobachten, die mit den Kategorien des Maßes und der Ordnung umschrieben werden kann. Der sogenannte ›delphische Geist‹ zielte auf die Mäßigung der Leidenschaften, auf innerstaatliche Ordnung und sozialen Frieden; er war um Eindämmung und Humanisierung von kriegerischen Konflikten zwischen den delphinahen Stadtstaaten88 sowie um friedliche Einigung und Verständigung bei zwischenstaatlichen Streitigkeiten bemüht und zielte zuletzt auf die Harmonie zwischen Menschen und Göttern. Der Gott des delphischen Apollon-Kults ist erkennbar durch eine auf das religiöse und politisch-soziale Leben bezogene Ordnungsfunktion bestimmt. Das stabilisierende, ordnungsstiftende Moment manifestierte sich in der Förderung von Gesetzgebung und staatlicher Verfassung89, in der Regelung von Kultreformen, in der Schlichtung von Streitigkeiten sowie in der Einführung und institutionellen Verankerung von neuen sittlichen Standards – wie der Forderung nach Blutsühne.90 Apollon avancierte in nachhomerischer Zeit zur Autorität für religiöse und staatliche Ordnung.91 Im Rahmen dieser Untersuchung ist abschließend die Frage von Interesse, ob und inwiefern die in Delphi ausgeübte Inspirationsmantik mit dem Motiv der Selbsterkenntnis in Zusammenhang steht, welchen Stellenwert die menschliche Selbstbesinnung im Bereich der Mantik hatte. In der älteren Forschung92 ist der delphische Orakelgott häufig als ethische Instanz aufgefasst worden, dessen vorrangige Aufgabe in der Paränese zur Einsicht und Sophrosyne bestand. Das 87 Johnston (2008, 55) hat unlängst vermutet, dass das Dunkle, Rätselhafte des Orakelgotts Apollon in der allgemeinen Sicht der Griechen auf die Götter begründet ist. Die göttliche Hilfe konnte sich als durchaus wertvoll erweisen; die göttlichen Geschenke konnten jedoch mitunter auch fatal sein, wie die Büchse der Pandora. »Similarly, riddling oracles hid their meanings – and their potential usefulness – behind misleading words that tempted inept interpreters down fatal paths«. 88 Vgl. RE 18, 1 (1939, 843). Zur Vermittlerrolle Delphis vgl. auch Maaß (2007, 35). 89 Zum Einfluß Delphis auf die Gesetzgebung vgl. Nilsson (GGR I, 640ff.). 90 Zu den verschiedenen Aufgabenbereichen und Funktionen des delphischen Gottes vgl. Nilsson (GGR I, 625ff.). 91 Vgl. Giebel (2001, 69). Nilsson (GGR I, 632) hat in Bezug auf die Regelung der kultischen Angelegenheiten die These vertreten, dass der delphische Gott »ein sehr vorsichtiger Reformator [war], der das Neue, das unvermeidlicherweise eindrang, den alten Formen geschickt anpaßte« und sehr oft die Weisung gab, »›nach der Sitte der Väter‹ zu handeln«. Möglicherweise ist mit diesem beobachteten reformatorischen Element ein Wesenszug des delphischen Apollon benannt, der sich auch in anderen Bereichen widerspiegelt. Brandt (1998, 199) hat den Kurs Delphis als »konservativ-traditionalistisch« bezeichnet. Vgl. auch Parke/Wormell (1956 I, 114f.). 92 Vgl. insbesondere die Arbeiten von W. Schadewaldt.

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ist gewiss eine idealisierende Betrachtungsweise, die der Komplexität und Vielheit der Aufgabenbereiche des delphischen Apollon kaum gerecht wird. Dennoch wird man im Hinblick auf die mantische Funktion des Gottes sagen dürfen, dass hier Motive der Selbstbesinnung, Selbstprüfung und Selbsterforschung eingefasst sind. Mantik und Selbsterkenntnis scheinen insofern miteinander verbunden zu sein, als die apollinischen Orakel häufig auf die Fehlerhaftigkeit des Handelns oder die Begrenztheit der individuellen Kräfte und Fähigkeiten verweisen und zu entsprechenden Einsichten herausfordern.93 Um diese These zu belegen, müsste freilich eine umfangreiche Quellenanalyse vorgenommen werden, die die überlieferten delphischen Orakelsprüche94 sowie die Spruchsammlungen der anderen großen Apollon-Orakel (Klaros und Didyma)95 auf den Aspekt der Selbsterkenntnis hin untersucht. Im Rahmen dieser Erörterung ist solch eine Quellenauswertung kaum realisierbar. Die folgende Betrachtung wird sich darauf beschränken, die dem delphischen Motivkreis angehörenden delphischen Legenden zu analysieren. In diesen Erzählungen lassen sich Spuren einer Konzeption der Selbsterkenntnis auffinden, die erkennbar in der Tradition der apollinischen Selbstbesinnung steht und von daher für unsere Untersuchung von besonderem Interesse ist.

b)

Apollinische Paränese zur Selbsterkenntnis in den delphischen Legenden

Die delphischen Legenden96 (Hieroi Logoi) bezeichnen eine Form der novellistischen Erzählung, die um die ethischen Motive der Frömmigkeit, des Glücks, der Weisheit kreisen und diese Motivbehandlung mit pythischer Spruchweisheit und dem delphischen Orakel verbinden. Nach Herzog, der sich mit diesen Geschichten in einem materialreichen und immer noch lesenswerten Aufsatz (Das delphische Orakel als ethischer Preisrichter 1922, 149–170) befasst hat, gehen die Erzählungen auf das 6. Jahrhundert v. Chr. zurück.97 In den nachfolgenden

93 In diesem Sinn auch Maaß (2007, 18): »Typische Verrätselungen und das Spiel mit offenen Hinweisen werden vom Frager nicht verstanden, weil es an Selbsterkenntnis fehlt. »Erkenne dich selbst« (gnojthi seautjn) ist die höchste, den Menschen gestellte Maxime, als Haltung der Bescheidenheit gegenüber dem Göttlichen und dem jeweils Unabwendbaren des Schicksals. Verlangt ist mit der Befragung des Gottes die gewissenhafte Selbstbefragung.« 94 Zur Authentizitätsdebatte vgl. Su#rez de la Torre (1992) und Oesterheld (2008), die die skeptischen Forschungsresultate von Fontenrose (1978) korrigieren. 95 Vgl. dazu die erhellende Untersuchung von Oesterheld (2008). 96 Vgl. dazu Herzog (1922), Wehrli (1976), Regenbogen (1961b). 97 So auch Parke/Wormell (1956 I, 385): »Probably all three legends were produced at Delphi in

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Jahrhunderten kursierten sie als überwiegend mündlich verbreitete Wandergeschichten und wurden dabei vielfältig variiert und verändert. Diese »wildwachsende Überlieferung« schließt jedoch nicht aus, so Herzog, »daß sie von einer sehr bewußten einheitlichen Tendenz in ihrem Ursprung und ihrer Weiterbildung getragen werden, daß sie von […] Delphi inspiriert sind« (150). In der folgenden Untersuchung sollen nur die vermutlich ältesten Versionen betrachtet werden.98 Die erste Gruppe von Geschichten bezieht sich auf das Frömmigkeits-Motiv. In der Erwartung, von der Pythia eine Bestätigung zu erfahren, treten wohlhabende Bürger oder Herrscher an das Orakel mit der Frage heran, wer die Götter am besten und schönsten ehre.99 Porphyrios (de abst. II, 15–17) überliefert drei Varianten dieser Geschichte. Die älteste Fassung100, für die Porphyrios als Gewährsmann Theopomp angibt, ist vermutlich folgende: Nach Delphi kam ein Mann aus Magnesia in Asien, der gar reich war und viele Herden besaß. Er pflegte den Göttern jedes Jahr viele und großartige Opfer zu veranstalten, einmal wegen des Wohlstands seines Vermögens, dann auch aus Frömmigkeit (eqs´beia) und in dem Wunsch den Göttern zu gefallen. So kam er zu der Gottheit nach Delphi, führte dem Gott eine Hekatombe vor und ehrte den Apollo in großartiger Weise. Dann begab er sich zum Orakel, um sich einen Spruch zu holen. In der Meinung, daß er am schönsten von allen Menschen den Göttern diene, fragte er die Pythia, sie möge ihm den nennen, der am besten und eifrigsten die Gottheit ehre und der die genehmsten Opfer darbringe. Er glaubte natürlich, daß ihm der erste Preis gegeben würde. Aber die Priesterin antwortete, am besten von allen diene den Göttern Klearchos, der in Methydrion in Arkadien wohne.101 Darüber war er ausnehmend betroffen und begierig, den Menschen zu sehen und zu treffen, um zu erfahren, auf welche Weise er seine Opfer leiste. Er reiste schnell nach Methydrion und sah gleich das kleine und elende Nest verächtlich an, mit dem Gedanken, daß nicht einmal die Gemeinde, geschweige denn einer von den Privatleuten die Götter großartiger und schöner ehren könne als er. Aber er suchte den Mann doch auf und ersuchte ihn, ihm zu sagen, auf

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100 101

the period when the oracle was at its height in the mid-sixth century«. Vgl. auch Wehrli (1976, 30–60). Einen Überblick über die verschiedenen Versionen gibt Herzog (1922, 149–170). Herzog (1922, 150) hat auf den agonalen Charakter dieser Fragen hingewiesen und angemerkt, dass diese Art von ethischem Wettstreit in Delphi, am Ort der pythischen Wettkämpfe, besonders am Platz waren. Auch wenn in den Geschichten vorrangig Nichtgriechen als Fragesteller agierten, seien die Legenden zweifellos im Sinn einer Widerspiegelung der agonalen Mentalität der griechischen Aristokraten aufzufassen, die ständig bestrebt waren, miteinander zu wetteifern und sich zu messen. Zum agonalen Ethos der Aristokraten vgl. Stein-Hölkeskamp (1989, insbes. 45–56), Stahl (2003, I, 45–88), de Araujo Caldas (2003, 59), Nicholson (2005). In klassischer Zeit rühmten sich die zu Macht und Reichtum aufgestiegenen Athener, die gottesfürchtigsten und frömmsten aller Griechen zu sein und den Göttern die zahlreichsten und prächtigsten Feste zu feiern. Vgl. dazu Nilsson (GGR I, 731f.). Zur Datierung auf das 6. Jh. v. Chr. vgl. Herzog (1922, 151). PW II, Nr. 238; PW I, 384.

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welche Weise er die Götter ehre. Klearchos sagte ihm, er erfülle seine Verpflichtungen und opfere eifrig zu den gehörigen Zeiten: Jeden Monat am Neumond bekränze und putze er den Hermes und die Hekate und die übrigen Götterbilder, die von den Vorfahren überkommen seien, und ehre sie mit Weihrauchkörnern und Gerstenschrot und Kuchen. Jährlich mache er die Gemeindeopfer mit und lasse kein Fest aus. Dabei diene er den Göttern nicht durch ein Rindsopfer oder durch das Schlachten von Kleinvieh, sondern indem er als Opfergabe spende, was sich eben biete, er befleißige sich aber von allen ihm wachsenden Früchten und den Gaben der Jahreszeiten, die aus der Erde gewonnen werden, den Göttern die Erstlinge zuzuteilen. Zum Teil lege er sie auf ihren Tisch, zum Teil verbrenne er sie ihnen. Da er für sich auf Selbstgenügsamkeit achte, so verzichte er auf Rindsopfer. (Porph. de abst. 2, 16; Übers. R. Herzog)

In der Forschung wird die Geschichte zumeist im Sinn einer Korrektur von selbstherrlichen, überheblichen Tendenzen interpretiert. So z. B. Giebel (2001, 50): Das Orakel wollte mit diesem, der Erwartung zuwiderlaufenden Spruch, »der Selbstgewissheit des Fragenden einen Dämpfer versetzen«. Das trifft ganz sicherlich den Kern der Geschichte. Um ein adäquates Verständnis zu erlangen, ist jedoch genauer zu betrachten, auf welche Weise die pythische Zurechtweisung erfolgt. In der Erzählung wird zunächst die Vorgeschichte der Anfrage an das Orakel geschildert, um vor diesem Hintergrund die Selbsteinschätzung und das Fragemotiv des Magnesiers verstehbar zu machen. Aufgrund der aufwendigen und üppigen Opfergaben, die der Reiche aus Magnesia jedes Jahr den Göttern darbringt, ist dieser überzeugt davon, alle andere Menschen an Frömmigkeit zu übertreffen. Die an die Pythia gestellte Frage ist von der Absicht motiviert, eine göttliche Bestätigung dieses Selbsturteils einzuholen. Die Pythia gewährt jedoch nicht das Gewünschte, vielmehr erteilt sie dem Fragenden eine herbe Abfuhr. Eine genaue Analyse der pythischen Antwort zeigt, dass diese nicht nur eine bloße Negation des vom Magnesier erhobenen Anspruchs darstellt, sondern zudem eine Infragestellung der Begründung dieses Anspruchs enthält. Wie die Vorgeschichte erkennen lässt, glaubte der Magnesier deswegen der Frömmste zu sein, weil er die Götter mit besonders aufwendigen und reichen Opfern ehrt. Diese Begründung basiert auf der Annahme, dass sich der Grad der Gottesverehrung nach der Kostbarkeit und Größe der Opfergaben bemisst und also derjenige der Frömmste ist, der am meisten spendet. Durch den pythischen Spruch, der Klearchos – einem in einfachsten Verhältnissen lebenden Bauern, der regelmäßig und gewissenhaft die kultischen Verpflichtungen erfüllt und den Göttern zu den vorgeschriebenen Zeiten bescheidene Opfergaben darbringt – den Status des Frömmsten zuerkennt, wird jene Annahme als falsch zurückgewiesen. Der pythische Spruch impliziert den allgemeinen Satz, dass der Arme ein größeres Maß an Frömmigkeit besitzen kann als der Reiche, dass die angemessene Verehrung der Götter also nicht an den Reichtum gebunden ist. Die

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Regelmäßigkeit in der Beobachtung der kultischen Pflichten ist höher zu schätzen als die üppigen Opfer, die den Göttern einige Male im Jahr dargebracht werden. Bemerkenswert ist zudem das didaktisch-methodische Verfahren der hier dargestellten Protreptik. Durch die knappe Antwort der Pythia, die lediglich einen Namen und den Ort benennt, aber nicht weiter ausführt, wer Klearchos ist und auf welche Weise er die Götter ehrt, wird der Fragende zur Selbsttätigkeit herausgefordert. Das Orakel gibt lediglich einen Hinweis; Aufgabe des Fragenden ist es, diesem Hinweis nachzugehen. Der intellektuelle Weg, der vom Fragenden zurückzulegen ist, wird in der Frömmigkeitsgeschichte durch die räumliche Reise veranschaulicht. Nach dem Spruch der Pythia reiste der Magnesier nach Methydrion, um dort Klearchos zu treffen. Neben den Legenden, die um das Frömmigkeitsmotiv kreisen, gibt es zwei weitere Guppen von delphischen Geschichten, die eine ähnliche Struktur und Tendenz aufweisen. Eine der Gruppen beschäftigt sich mit der Frage nach dem Weisesten. Die verschiedenen Versionen sind sehr ähnlich102 und differieren lediglich hinsichtlich des Fragestellers. Einmal ist es der Skythe Anacharsis (Diod. IX fr. 5–7; Diog. Laert. 1, 30; 1, 106), ein anderes Mal Solon (Diod. IX fr. 5–7) oder Chilon (Plut. qu. R. 84, 284c; Diog. Laert. 1, 30). Die ursprüngliche Variante ist vermutlich jene, die Anacharsis als Fragenden anführt.103 Die Geschichte geht analog zur Frömmigkeitslegende auf das 6. Jahrhundert v. Chr. zurück.104 Diogenes Laertius erzählt sie folgendermaßen: Es heißt, die Pythia habe dem Anacharsis auf die Frage, ob einer weiser sei als er selbst, […] geantwortet […]: ›Einen vom Öta bestimm ich, Myson, der in Chenai geboren Und mit Geist und Verstand weit besser begabt ist, als du bist.‹105 Neugierig kam Anacharsis ins Dorf, traf ihn, wie er da im Sommer dem Pflug die Sterze einpaßte, und sagte: ›Aber Myson, noch ist nicht Zeit für den Pflug!‹ ›Wohl aber Zeit, ihn zu reparieren‹, antwortete jener. (Diog. Laert. 1, 106; Übers. F. Jürß)

Es ist wiederum die eitle Selbstüberhebung106, die in der Erzählung vom delphischen Orakel in die Schranken gewiesen wird. Anacharsis107, ein Skythe aus 102 103 104 105 106

Zu den verschiedenen Fassungen vgl. Herzog (1922, 162f.). Vgl. dazu Herzog (1922, 163). Zur Datierung vgl. Herzog (1922, 162). PW 2, Nr. 245. Eine ganz andere Haltung wird in den Becher- und Dreifußgeschichten, die zu den Legenden über die ›Sieben Weisen‹ gehören, sichtbar. Ein aus dem Meer herausgezogener goldener Dreifuß, so eine der Fassungen, sollte laut delphischem Orakel dem Weisesten gehören. Der Dreifuß wurde Thales überreicht, dieser übergab ihn einem anderen der Sieben Weisen, der ihn seinerseits weiterrreichte und so machte er die Runde unter den Sieben, bis er wieder bei Thales anlangte, der ihn schließlich Apollon übergab (vgl. Diog.

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fürstlichem Geschlecht, der – so die Überlieferung108 – aus Wissbegierde viele Länder bereiste und sich dabei ein umfangreiches Wissen von den verschiedenen Sitten und Bräuchen erwarb109, glaubte aufgrund dieser Kenntnisse alle anderen Menschen an Weisheit (sov¸a) zu übertreffen. Diese Begründung des Überlegenheitsanspruchs weist ein ähnlich quantitatives Moment auf wie die Selbsteinschätzung des Magnesiers. Glaubte der Reiche aus Magnesia aufgrund der Üppigkeit der Opfergaben der Frömmste zu sein, so meint Anacharsis aufgrund seiner Polymathie (pokulah¸a) das höchste Maß an Weisheit zu besitzen. Anspruch und Begründung werden vom Orakel analog zur Frömmigkeitslegende durch den Verweis auf eine ganz andere Art von Wissen in Frage gestellt. Der von der Pythia angeführte Myson110 – ein Bauer aus einem kleinen, abgelegenen Dorf, der nie über die Grenzen seines Ortes hinausgekommen ist – verfügt nicht im Entferntesten über jenes Bildungswissen, das der weitgereiste Skythe besitzt. Gleichwohl ist er nach dem Urteil des Orakels der Weisere, weil er über eine bestimmte wertvolle Kompetenz verfügt, nämlich über die Fähigkeit, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen und sein Handeln danach auszurichten. Die Ausbesserung des Pfluges, so das in der Geschichte angeführte Beispiel, erledigt man besser im Sommer, weil im Herbst, wenn der Pflug gebraucht wird, keine Zeit für diese Tätigkeit vorhanden ist. Wie zahlreiche literarische Zeugnisse belegen111, gehörte die Kenntnis des jaiqºr, des rechten Zeitpunktes, zu den Weisheitslehren der archaischen Zeit.

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Laert. 1, 27–33). Einen Überblick über die verschiedenen Varianten gibt RE 2 A, 2 (1923, 2242ff.). Zu Anacharsis ausführlich Ungefehr-Kortus (1996). Vgl. auch Kindstrand (1981). Vgl. Hdt. 4, 46 u. 76f. u. Diog. Laert. 1, 101ff. Anacharsis, der nach der Überlieferung zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. eine längere Griechenlandreise unternahm, wo er auch mit Solon zusammentraf, erwarb sich in Hellas aufgrund seines Wissens, seiner Weisheitssprüche und seiner Geistesschärfe den Ruf hoher Weisheit. Von einigen antiken Autoren wurde er daher den ›Sieben Weisen‹ zugezählt. Vgl. Diog. Laert. 1, 41f. und Plut. 1, 148cff. (Septem sapientium convivium – Gastmahl der Sieben Weisen). Für Herodot war die auf fremde Länder und Sitten gerichtete Wissbegierde eines Anacharsis dieselbe, die auch die ionische Naturphilosophie hervorgetrieben hatte. Dazu Lesky (1971, 350f.). Lesky führt als Beleg das Motiv der heyq¸g an, das Herodot Anacharsis als Motiv für seine Reisen zuspricht (Hdt. 4, 76). Anacharsis verfügte offenbar auch über einen ausgezeichneten technischen Sachverstand. Vgl. Plat. rep. 600a. Myson wurde später von einigen Autoren in die Liste der ›Sieben Weisen‹ aufgenommen. Nach Diogenes Laertius (1, 30) hat Eudoxos von Knidos Myson an die Stelle des Kleobulos gesetzt und Platon (Prot. 343a) setzte Myson an die Stelle des Periander. Vgl. Diod. IX, 7 u. Paus. X, 24, 1. Diesen Austausch erklärt Giebel (2001, 50) folgendermaßen: »Im 4. Jahrhundert v. Chr., in der Zeit der Polisdemokratie, hatten Stadtherrscher, ›Tyrannen‹, wie Periander von Korinth und Kleobulos von Lindos, kein Anrecht mehr auf einen Platz unter den Weisen«. Anders zu Platons Einführung von Myson Fehling (1985, 22f. u. 44) und Manuwald (1999, 336). Vgl. z. B. Thgn. 401f.; Pind. O. 13, 48; Soph. El. 75 u. 1259; Men. monosth. 381f. Zur Genese und Bedeutung des Kairosbegriffs vgl. Theunissen (2002a, 800–923).

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Das Wissen des jaiqºr galt als universelle Kompetenz, die für alle Handlungsund Lebensbereiche relevant war. Zu erinnern ist hier insbesondere an den Kernspruch des Pittakos von Mytilene, »Erkenne den rechten Augenblick« (jaiq¹m cm_hi)112, der eine allgemeine Lebensregel darstellt.113 In der AnacharsisGeschichte wird somit eine allgemeine praktische Lebenskompetenz wertgeschätzt und der Polymathie als das Bessere und Wertvollere gegenübergestellt. Eine ähnliche Tendenz ist schließlich auch in der dritten Gruppe der delphischen Legenden zu beobachten, die sich auf die Frage nach dem Glücklichsten (akbi¾tator) bezieht. Es gibt hier wiederum etliche Versionen.114 Die älteste Variante115 ist vermutlich die von Valerius Maximus (VII 1, 2) und von Plinius (nat. VII 151) überlieferte, in der der König Gyges von Lydien als Fragender agiert. Nach der Legende hielt sich der Lyderkönig Gyges aufgrund seiner Machtfülle und seines Reichtums für den glücklichsten aller Menschen. In seinem Übermut wendete er sich an das delphische Orakel, um die göttliche Bestätigung einzuholen. Auf die Frage des Gyges, ob es irgendeinen Menschen gebe, der glücklicher sei als er, reagierte die Pythia jedoch nicht mit der gewünschten und erwarteten Negation, vielmehr bejahte sie die Frage und führte Aglaos aus Psophis als den Glücklicheren an. Der Bauer Aglaos war der Ärmste der Arkadier, der auf einem kleinen Landflecken lebte, den er nie verlassen hatte, und der zufrieden damit war, sein kleines Äckerchen zu bewirtschaften (»is erat Arcadum pauperrimus, sed aetate iam senior terminos agelli sui numquam excesserat, parvuli ruris fructibus contentus« Val. Max. VII 1, 2). Wir haben hier eine ähnliche Struktur und Grundaussage wie bei den anderen Legenden: Die Güter (t± !cah²) garantieren nicht das höchste Glück, der unbegüterte Arme ist mitunter glücklicher als der Reiche und Mächtige. Das güterbasierte Glück (ekbor) des Lyderkönigs wird durch den Verweis auf eine ganz andere Art von Glück in Frage gestellt. Die Haltung der Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit mit dem Vorhandenen, für die Aglaos exemplarisch angeführt wird, schätzt das Orakel höher als die Erfüllung durch den Besitz von großen Mengen an äußeren Lebensgütern. Mit der Glückslegende in engem Zusammenhang steht die Kroisos-SolonGeschichte, die Herodot erzählt (1, 30–34). In der Forschung ist schon häufig 112 Zu den Quellen vgl. Althoff/ Zeller (2006, 10–51 insbes. 39 u. 51). 113 Diese Gnome verweist auf die Nähe jener Weisheit zur delphischen Religion und Theologie; gehörte Pittakos doch zu einem der ›Sieben Weisen‹, denen eine besondere Beziehung zu Delphi nachgesagt wird. Vgl. Plat. Prot. 343a/b; Diog. Laert. 1, 40f.; Paus. X, 24, 1; Plut. mor. 3, 511B. 114 Vgl. dazu Herzog (1922, 157ff.). 115 So Herzog (1922, 157ff.). Regenbogen (1961b, 121) plädiert für die von Plinius überlieferte Version (Plin. nat. VII 151) als dem der ursprünglichen Fassung am nahesten kommenden Text.

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vermutet worden, dass die Gyges-Aglaos-Geschichte und die Kroisos-SolonErzählung ein und derselben Tradition entstammen.116 In der von Herodot berichteten Version wird die Frage nicht an die Pythia, sondern an den Athener Solon gestellt, der als einer der ›Sieben Weisen‹117 der Überlieferung zufolge in enger Verbindung mit Delphi stand.118 Herodot erzählt (1, 30–33), dass Solon im Rahmen einer größeren Reise nach Sardes kam, wo er vom Lyderkönig Kroisos gastlich aufgenommen wurde. Nach einigen Tagen stellte der König seinem Gast die Frage, ob dieser als weitgereister Mann einen Menschen gesehen habe, der unter allen der glücklichste (akbi¾tator) sei. Kroisos stellte diese Frage in der Erwartung, seinen eigenen Namen zu hören, meinte er doch, aufgrund seines Reichtums und seiner Machtfülle alle anderen an Glück zu übertreffen. Solon gab jedoch nicht die erwartete Antwort, sondern benannte Tellus, einen einfachen Bürger aus Athen, der in bescheidenen Verhältnissen lebte und im Krieg einen ruhmvollen Tod erlitt (Hdt. 1, 30), als den Glücklichsten. Die Parallelen zu den delphischen Glückslegenden sind offenkundig: Analog zur Gyges-AglaosGeschichte wird in der Herodot-Erzählung die Zufriedenheit des einfachen Mannes dem Glück des Mächtigen und Reichen übergeordnet. Die Kernaussage in all diesen Geschichten ist stets dieselbe: Die Güter sind nicht Garant von Tugend und Glück. Die gewissenhafte Beobachtung der traditionellen kultischen Bräuche, die besondere Lebenskompetenz, die sich in verschiedenen Handlungsbereichen manifestiert, und die Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit mit dem Vorhandenen sind höher zu schätzen als die auf Reichtum, Wissensfülle und Macht gründende Frömmigkeit, Weisheit, Erfüllung. Bei aller Klarheit dieser Aussagen bleibt in den delphischen Legenden jedoch offen, worin die Begründung jener Werturteile besteht. Einige Hinweise lassen sich in der herodoteischen Solon-Kroisos-Geschichte finden. In Herodots Erzählung ist eine längere Rede des Solon enthalten, in der dieser sein Urteil über das fragile Glück des Lyderkönigs aufwändig begründet. In dem komplizierten 116 So führt Regenbogen (1961b, 121) die Gyges-Aglaos-Geschichte und den Kern der KroisosSolon-Erzählung auf dieselbe Tradition zurück. Vgl. auch Wehrli (1976, 32–38) und Parke/ Wormell (1956, I, 385). Herzog (1922, 158) vermutet einen Bezug zum delphischen Orakel: »Sein [sc. Herodots] berühmtes Gespräch des Kroisos mit Solon ist ja nichts anderes als eine freie Zusammenfassung delphischer Geschichten, die Herodot in Delphi selbst gehört hatte, zu einem neuen Kranz, der in Beziehung zu dem Novellenkreis von den Sieben Weisen gesetzt ist«. Ähnlich Regenbogen (1961b, 107ff.), der allerdings nur bei der Kleobis & Biton-Geschichte Delphi als Quelle annimmt. 117 Zur Gruppe der als ›Sieben Weise‹ überlieferten Staatsmänner und Intellektuellen vgl. Rösler (1991), Detienne (1996), Althoff/Zeller (2006). 118 Zur engen Beziehung zwischen den Sieben Weisen und Delphi vgl. Plat. Prot. 343a/b; Diog. Laert. 1, 40f.; Paus. 10, 24, 1; Plut. mor. 3, 511B. Vgl. dazu Meier (1987, 106–116 insbes. 110), Rösler (1991, 357–365 insbes. 361f.), Giebel (2001, 49), Althoff/Zeller (2006, 1–9, 52f., 119).

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Argumentationsgang, auf den im Kapitel zur Selbsterkenntnis bei Herodot noch genauer einzugehen sein wird, legt Herodot dem weisen Athener den Satz in den Mund, dass das Glück der Reichen und Mächtigen instabil und unsicher ist. Der Mächtige kann durch Schicksalsschläge, durch den Neid der Götter (vhºmor) oder durch risikoreiche Unternehmungen seine Güter von einem Tag zum anderen verlieren und in seiner Existenz zerstört werden: »Vielen schon winkte die Gottheit mit Glück und stürzte sie dann ins tiefste Elend« (Hdt. 1, 32, 9; Übers. J. Feix). Das Leben des einfachen Bürgers ist im Vergleich dazu stabiler und sicherer. Ein letztes Urteil über das Glück eines Menschen ist freilich erst an dessen Lebensende zu fällen (Hdt. 1, 32, 6f.).119 Da die Kroisos-Solon-Geschichte, wie oben bereits bemerkt, in enger Beziehung zu den delphischen Legenden steht und demselben Gedankenkreis angehört120, kann man die angeführte solonische Argumentation für die Interpretation der Orakelgeschichten fruchtbar machen. Unter Rückgriff auf das Stabilitätskriterium zeigt sich folgende Begründung der Orakelsprüche: Die Frömmigkeit des Bauern Klearchos wird von der Pythia deswegen für wertvoller befunden als die üppigen Opfergaben des Magnesiers, weil die Regelmäßigkeit der Ausübung der kultischen Pflichten, die Orientierung an den traditionellen Bräuchen und der Rückgriff auf leicht zu beschaffende Opfergaben die Dauerhaftigkeit und Stabilität dieser Frömmigkeit gewährleisten. Analog dazu wird die Weisheit des Myson deswegen höher geschätzt als die Polymathie des Anacharsis, weil die Fähigkeit der Erkenntnis des rechten Augenblicks eine mit der Person untrennbar verbundene Disposition darstellt, die als solche eine viel größere Dauerhaftigkeit und Beständigkeit besitzt als das äußere Wissen des Anacharsis. Und schließlich ist das Glück des Bauern Aglaos, der in stiller Genügsamkeit sein Äckerchen bewirtschaftet, deswegen höher zu schätzen, weil es aufgrund der Anspruchslosigkeit und Genügsamkeit sicherer ist als das auf der Fülle der Lebensgüter basierende Glück des Gyges. Die in den delphischen Legenden dargestellten pythischen Sprüche, so die These, verweisen auf die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit des menschlichen Daseins. Im Gegensatz zur Kroisos-Solon-Erzählung wird die Ausgesetztheit der menschlichen Dinge an die Wechselfälle des Lebens hier zwar nicht direkt thematisiert. Dennoch wird man wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit 119 Dieser Gedanke ist auch in den delphischen Glückslegenden enthalten. In der von Valerius Maximus überlieferten Version wird auf das fortgeschrittene Alter des Aglaos, der von der Pythia als der Glücklichste benannt worden war, hingewiesen. Vgl. zu dieser Thematik auch Thgn. 593f.; Bakchyl. fr. 11 Maehler ; Soph. Trach. 1ff.; Soph. Ant. 1156ff.; Soph. Oid. T. 1528ff. Der Gedanke, dass von einem glücklichen Menschen nur gesprochen werden kann, wenn das Glück ein volles Leben hindurch dauert, findet sich auch noch bei Aristoteles (eth. Nic. 1, 1098a, 1100a; 10, 1177b). 120 So Herzog (1922, 158), Wehrli (1976, 32–38), Parke/Wormell (1956, I, 385).

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davon ausgehen können, dass dieses Motiv eine Hintergrundvorstellung bildet. In der politisch-sozialen und ökonomischen Krise121 der archaischen Zeit war die Erfahrung des plötzlichen Verlustes an Besitz, Einfluss und Ansehen in besonderer Weise präsent122 und ist von der Dichtung vielfach widergespiegelt worden.123 Die Vorstellung von der Unbeständigkeit und Instabilität der menschlichen Dinge durchzieht die gesamte archaische und frühklassische Literatur124 und hat mit Sicherheit auch in die religiöse Weisheitsdichtung Eingang gefunden. Deutet man die delphischen Legenden in dem vorgeschlagenen Sinn, so lässt sich leicht die Verbindung zur Selbsterkenntnis-Thematik herstellen. In der Geschichte vom reichen Magnesier klingt das Motiv der Selbsterkenntnis bereits in der anfänglichen Darstellung der Erwartungshaltung des Orakelbesuchers an. Die Erwartung, von der Pythia als Frömmster ausgezeichnet zu werden, deutet ein Selbstbild an, das einer Übersteigerung des aristokratischen Agon-Prinzips entspringt und durch ein gewisses Maß an Realitätsverlust und eine Überschätzung der eigenen Leistungen bestimmt ist. Die Überhebung des Protagonisten verlangt nach einem Korrektiv und bereitet insofern die in Form des pythischen Spruchs gestaltete Paränese zur Selbsterkenntnis und Mäßigung erzähltechnisch vor. Die Paränese selbst wird nicht direkt formuliert, steht aber zweifellos hinter der Orakelantwort. Die pythische Destruktion der auf Bestätigung des Selbsturteils gerichteten Erwartung und die Auszeichnung einer anderen Person zielen auf eine erste Selbstinfragestellung. Das Lakonische und sich der unmittelbaren Evidenz Entziehende der Orakelsprüche fordern zu einer weitergehenden Selbstbesinnung heraus, die auf der Aktivität und Selbsttätigkeit der Adressaten beruht. In der Suche nach dem Sinn und der Begründung des pythischen Urteils soll eine eigene Einsicht erlangt werden, die freilich von dem als erkenntnisresistent dargestellten Protagonisten verfehlt wird. Intendiert ist das Bewussstsein der Zerbrechlichkeit der begüterten Existenz und der darauf gegründeten Tugend, das im Hinblick auf die relative Beständigkeit des einfachen, bäuerlichen Lebens gewonnen werden soll. Diese Art von Selbstbesinnung, die die Fragilität von Besitzständen vergegenwärtigt, fungiert als Korrektiv der zu Beginn der Erzählungen dargestellten Selbstüberhebung des Protagonisten. 121 Zur Krisensituation in der archaischen Epoche vgl. Meier (1987, 104ff.) (1993, 65ff.), SteinHölkeskamp (2000, 74ff.), Gehrke (2007, 49). Siehe dazu unten Kap. A I 3c. 122 Die sozialen, politischen und ökonomischen Umwälzungen des 7. und 6. Jh. v. Chr. waren mit großer Unsicherheit und der Zerstörung von Existenzen bzw. dem plötzlichen Aufstieg von unbedeutenden Personen verbunden. Vgl. dazu Stein-Hölkeskamp (2000, 74–96) u. Gehrke (2007, 49–65). 123 Exemplarisch sei hier eine Sentenz aus der Theognidea angeführt: »Man soll, Kyrnos, nicht das große Wort führen, denn niemand weiß, was eine Nacht und ein Tag einem Mann bringen« (Thgn. 159f.; Übers. D. U. Hansen). 124 Vgl. Fränkel (1960) (1969). Dort auch eine Vielzahl von Belegen.

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Der Sinngehalt der delphischen Geschichten besteht in der Aussage, dass die Hybris eine Fehlhaltung bezeichnet, die durch die Einsicht in die Begrenztheit und Unbeständigkeit der irdischen Güter einzudämmen und zu zügeln ist. Vergleicht man die in den delphischen Legenden enthaltene Paränese zur Selbsterkenntnis mit der apollinischen Selbstbesinnung bei Homer, so werden bestimmte Differenzen, aber auch deutliche Parallelen sichtbar, die für die These sprechen, dass die delphischen Geschichten in der Tradition der vom homerischen Apollon geforderten Selbsterkenntnis stehen. Wie oben aufgezeigt, geht es bei Homer im Rahmen der Selbsterkenntnis-Thematik stets um die Wiederherstellung der durch menschliche Hybris gestörten menschlich-göttlichen Ordnung. Hybris bedeutet hier das Ausgreifen in die göttliche Sphäre und die Missachtung des Rangunterschiedes zwischen Gott und Mensch, die sich in verbalen Beleidigungen, Respektlosigkeit, fehlender Ehrbezeigung äußert. Die vom Gott Apollon geforderte Selbstbesinnung bildet ein Korrektiv dieser Fehlhaltung. Indem sie den Menschen auf seine Sterblichkeit verweist und die unüberwindbare Kluft zwischen menschlicher und göttlicher Dynamis vergegenwärtigt, soll die Hybris gemäßigt und die Rangordnung wiederhergestellt werden. In den delphischen Legenden finden sich bei allen Differenzen ähnliche Grundmotive einer vom Menschen zu realisierenden Einsicht. Die geforderte Selbstbesinnung fungiert auch hier als Korrektiv einer Selbstüberschätzung, die mit dem Phänomen der Hybris assoziiert werden kann. Und auch hier ist es die Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Kondition, die eine mäßigende Wirkung ausüben und die überschießenden agonalen Leidenschaften zügeln soll. Im Unterschied zu Homer scheint sich die Selbsterkenntnis in den delphischen Geschichten jedoch ausschließlich auf die richtige Positionierung in der sozialen Ordnung zu beziehen. Das soll an zwei Beispielen kurz skizziert werden. Während der homerische Held in einer Anmaßung gegenüber den göttlichen Mächten begriffen ist und sich in der Position eines ebenbürtigen, über ähnliche Potenzen verfügenden Kampfpartners des Gottes sieht (vgl. Il. 5, 439–442; Il. 22, 7–10), finden wir in den Protagonisten der delphischen Legenden eine Hybris vor, die in der angemaßten Vorrangstellung gegenüber den anderen Menschen besteht125, die also auf den rein menschlichen Bereich bezogen ist und eine vergleichende Relation zu den anderen sozialen Akteuren, insbesondere zu den standesgemäßen Repräsentanten der Macht- und Wohlstandselite voraussetzt. Eine ähnliche Differenz lässt sich auch hinsichtlich des Bedeutungsgehalts der Selbsterkenntnis beobachten. Während der homerische Apollon eine Ein125 Vgl. Porph.de abst. 2, 16: »in der Meinung, daß er am schönsten von allen Menschen den Göttern diene« (Übers. R. Herzog).

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sicht in die Vergänglichkeit und zeitliche Begrenztheit der menschlichen Lebenskräfte fordert, die durch den vergleichenden Blick auf die göttlichen unvergänglichen Potenzen gewonnen werden soll, steht in den delphischen Geschichten der Aspekt der Wechselhaftigkeit des Geschicks im Vordergrund, der hier nicht mit dem Blick auf die Götter verbunden wird, sondern mit einer Betrachtung der relativen Beständigkeit von bestimmten Lebensweisen im menschlichen Bereich. Die angeführten Differenzen lassen sich jedoch teilweise relativieren. Die in den delphischen Geschichten dargestellte Selbstüberhebung, die aus kompetitiven Bestrebungen erwächst und eine imaginäre Vorrangstellung gegenüber den Repräsentanten des eigenen Standes, letztlich aber eine eingebildete Überlegenheit über alle Menschen bezeichnet, betrifft nicht nur das Selbst- und Sozialverhältnis, sondern auch das Verhältnis zu den Göttern, da hier eine gottähnliche Position eingenommen und die Differenz zwischen Gott und Mensch missachtet wird. Die Hybris gegenüber den Menschen ist in der religiösmythischen Sichtweise immer mit einer Respektlosigkeit und einer Fehlhaltung gegenüber dem Gott verbunden. Auch die oben angeführte Differenz bezüglich des Sinngehalts der Selbsterkenntnis ist weniger beträchtlich, als es zunächst den Anschein hat. Die in den delphischen Legenden aufscheinende Einsicht in die Wechselhaftigkeit des Geschicks lässt sich als Ausdifferenzierung der in der Ilias von Apollon geforderten Vergegenwärtigung der Sterblichkeit auffassen. Wie eng die Beziehung zu Homer ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der Aspekt der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge bereits in der Odyssee thematisiert und im Rahmen einer als apollinische Selbsterkenntnis zu wertenden Einsicht des Odysseus dargestellt wird (vgl. Od. 18, 124–137). Mit diesen Beobachtungen soll keineswegs der Versuch unternommen werden, die Unterschiede zwischen den Konzeptionen und die offenkundigen Akzentverschiebungen zu verwischen oder aufzuheben. Hier geht es lediglich darum aufzuzeigen, dass die delphischen Erzählungen an die apollinische Selbsterkenntnis bei Homer anschließen und in dieser Tradition stehen. Bezüglich der schwierigen Frage, inwieweit die in den delphischen Geschichten aufscheinende Auffassung von Selbsterkenntnis mit der delphischen Theologie in Zusammenhang steht, ob hier Spuren einer von der delphischen Apollon-Religion bestimmten Ethik zu finden sind, können an dieser Stelle nur einige spekulative Vermutungen geäußert werden. Es ist anzunehmen, dass für die delphische Theologie im Anschluss an Homer das Phänomen der Hybris von besonderer Bedeutung war und die ganze Thematik von Übergriff, Grenzüberschreitung und Selbstbeschränkung unter der Perspektive des menschlichgöttlichen Geschehens betrachtet wurde. Die theologische Auffassung hat vermutlich den Aspekt des Übergriffs in die göttliche Sphäre hervorgehoben und

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zum Zweck der Wiederherstellung der Harmonie zwischen Gott und Mensch eine Selbsterkenntnis geltend gemacht, die die Differenzen zwischen göttlicher und menschlicher Dynamis vergegenwärtigt. In der religionshistorischen Forschung hat man schon häufig das delphische cm_hi sautºm in diesem Sinn zu deuten versucht und mit der delphischen Theologie in Zusammenhang gebracht. So z. B. Vernant (1995, 98): »Für das Orakel von Delphi bedeutete ›Erkenne dich selbst‹: Wisse, daß du nicht Gott bist, und begehe nicht den Fehler, es werden zu wollen«.126 Ähnlich bereits Nilsson (GGR I, 651): »cm_hi seautºm bedeutet im Mund des delphischen Gottes: erkenne, daß du ein Mensch bist; überhebe dich nicht!«. Burkert (1977, 232) hat diesen Sinngehalt als Ausdruck des apollinischen Geistes gedeutet und ihn ebenfalls mit einer delphischen Ethik in Zusammenhang gebracht: »Im 6. Jh. sind am Tempel von Delphi Sprüche eingemeißelt worden […]. Zwei vor allen anderen sind es, die Apollons Geist, der ›Weisheit‹ und Ethik zugleich ist, ausdrücken: medHn #gan, »nichts im Übermaß«, und gnithi sautjn, »erkenne dich selbst«; dies ist, wie man längst gesehen hat, nicht psychologisch und auch nicht existenziell-philosophisch im Sinn des Sokrates gemeint, sondern anthropologisch: erkenne, daß du kein Gott bist«. Ähnlich Maaß (2007, 18): »›Erkenne dich selbst‹ (gnjthi seautjn) ist die höchste, den Menschen gestellte Maxime, als Haltung der Bescheidenheit gegenüber dem Göttlichen und dem jeweils Unabwendbaren des Schicksals. Verlangt ist mit der Befragung des Gottes die gewissenhafte Selbstbefragung.«127 Die These einer delphischen Auffassung von Selbsterkenntnis im Sinn einer Einsicht in die Kluft zwischen Gott und Mensch128 erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen als durchaus plausibel. Aufgrund der spärlichen Überlieferung und der fehlenden historischen Zeugnisse kann hier jedoch keine letzte Gewissheit gewonnen werden. Sicher scheint lediglich zu sein, dass das delphische Orakel der Aufforderung zur Selbsterkenntnis einen besonderen Stellenwert zugesprochen hat. Darauf verweist zumindest die Eingravierung des vielzitierten und berühmten cm_hi sautºm an einer zentralen Stelle des delphischen Apollontempels, in der Vorhalle des Tempels. Zu Herkunft, Ort und Urheberschaft des Spruchs wird im nächsten Kapitel Genaueres auszuführen sein.

126 Vgl. auch Vernant (1993, 24): »Für das Orakel bedeutet das ›Erkenne dich selbst‹: Lerne deine Grenzen kennen, werde dir bewußt, daß du ein sterblicher Mensch bist, versuche nicht, dich zu den Göttern aufzuschwingen«. 127 Vgl. auch Maaß (2007, 34, 41, 112f.). 128 Zum Zusammenhang zwischen der Apollon-Religion bei Homer und dem delphischen Apollon-Kult vgl. Nilsson (GGR I, 632) und Burkert (GR, 282ff.).

64 c)

Selbsterkenntnis in der griechischen Apollon-Religion

Der delphische Spruch cm_hi sautºm

In der Spätantike galt die Aufforderung zur Selbsterkenntnis als Inbegriff einer delphischen Ethik.129 Dabei bezog man sich zumeist auf den am delphischen Apollontempel angebrachten Spruch cm_hi sautºm,130 der in Delphi offenbar eine besondere Wertschätzung erfahren hat. Über Herkunft, Alter und genaue Lokalisierung dieses berühmten und vielzitierten Spruchs lassen sich aufgrund der spärlichen und häufig widersprüchlichen Quellenaussagen kaum sichere und genaue Angaben machen.131 Bezüglich der Datierung herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass die Maxime dem 6. Jh. v. Chr. angehört. Diese Datierung wird u. a. durch ein Aristotelesfragment (fr. 3 Rose2 [aus Peq· vikosov¸ar]) gestützt. Dem Fragment zufolge war das Cm_hi seautºm nicht erst an dem Ende des 6. Jh./Anfang des 5. Jh. von den athenischen Alkmeoniden errichteten Tempelbau132 angebracht, sondern bereits an dem 548/47 abgebrannten Vorgängerbau.133 Das würde bedeuten, dass die Gnome aus der ersten Hälfte des 6. Jh. stammt. Nach Murray (1991, 302) gehen die Sprüche »Erkenne dich selbst« (Cmyhi seautºm) und »Nichts im Übermaß« (Lgd³m %cam) auf das frühe 6. Jh. (ca. 600–590 v. Chr.) zurück. Für diese frühe Datierung spricht der bereits angedeutete Zusammenhang zwischen der politisch-sozialen Krise, die in der zweiten Hälfte des 7. Jh. eine Zuspitzung erfahren hat und um 600 in Athen akut wurde, und dem ethischen Appell zur Mäßigung und Einsicht. Es liegt nahe, die Sprüche in einer Zeit anzusetzen, die solcher Mahnungen in besonderer Weise bedurft hat.134 Ungeklärt bleibt freilich nach wie vor die Frage, wann die Maximen am Apollontempel eingemeißelt worden sind. Nimmt man mit Murray eine frühe Datierung bezüglich der Prägung dieser Spruchweisheiten an, so ist zu vermuten, dass sie nicht wesentlich später, also im Laufe der ersten Hälfte des 6. Jh. am delphischen Tempel angebracht wurden135, was ja auch das AristotelesFragment nahelegt. Bezüglich der genauen Lokalisierung der Inschrift cm_hi sautºm liefern die 129 Vgl. das Urteil der spätantiken Autoren: Plut. mor. 116c; Iuv. XI, 27–29. 130 Der Spruch wird klassisch zumeist in der Fassung cm_hi sautºm zitiert. 131 Zur Diskussion von Alter, Ort und Urheberschaft der Maxime vgl. Roscher (1900), Wilkins (1917) (1929); Dempsey ([1918] 1972), Wilamowitz (1926), Snell (1971), Defradas (1972), Courcelle (1974/75), Tränkle (1985), Reiser (1992), Göbel (2002), Tortzen (2002), Althoff/ Zeller (2006), Moore (2015). Zur Deutungsgeschichte vgl. Wilkins (1917) (1929), Wilamowitz (1926), Courcelle (1974/75), Tränkle (1985), Reiser (1992). 132 Baubeginn war ca. 513/512 v. Chr. Vgl. Hdt. 5, 62. Zu den verschiedenen Tempelbauten vgl. Maaß (1993, 99–126) (2007). 133 Vgl. dazu Wilkins (1929, 1) u. Tränkle (1985, 21). 134 Zur Prägung der Sprüche »Maß ist das Beste«, »Nichts allzu sehr«, »Erkenne dich selbst« im Rahmen einer Erziehung der Aristokratie vgl. Defradas (1972, 282) u. Althoff/Zeller (2006, 107). 135 Anders Moore (2015, 28), der die Zeit zwischen 525 und 450 v. Chr. annimmt.

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antiken Autoren widersprüchliche Angaben.136 Entsprechend vielfältig sind die modernen Forschungsmeinungen zu diesem Punkt.137 Weitgehende Einigkeit besteht heute zumindest darin, dass der Spruch in der Vorhalle (Pronaos) des delphischen Apollontempels angebracht war. Dabei stützt man sich vor allem auf Pausanias (10, 24, 1), dessen Zeugnis ein besonderes Gewicht hat, da der Autor den Ort selbst besichtigt hat und als genauer Beobachter von Details gilt. Nach Althoff/Zeller (2006, 8 Fußn. 7)138 ist eine genauere Lokalisierung als die bei Pausanias gegebene nicht möglich. Am umstrittensten ist nach wie vor die Frage der Urheberschaft des cm_hi seautºm. Die Herkunft dieser Spruchweisheit war bereits in der Antike Gegenstand einer intensiven Diskussion.139 Tränkle (1985, 21) fasst die antike Diskussion wie folgt zusammen: Schon vor dem Beginn des 4. Jh. wurden die delphischen Sprüche mit der Legende von den Sieben Weisen verknüpft (zuerst bezeugt bei Plat. Prot. 343b) und dabei das Cm_hi seautºm mit Vorliebe dem Spartaner Cheilon zugeteilt, von anderen aber auch Thales, Solon oder Bias. Wieder andere schrieben die Mahnung einer von den frühen, legendären Pythien zu, Phemonoe oder Phanothea, oder auch dem Urahn eines delphischen Geschlechts (vgl. etwa Hermipp. fr. 47 a–c Wehrli; Diod. 9,10,1; Clem. Strom. 1,14,60; Aus. Lud. sept. sap. 52ff. und 136ff.; Porphyrios bei Stob. Flor. 3,21,26), und schließlich einigte man sich darauf, daß sie auf jeden Fall letztlich auf den Orakelgott Apollon selbst zurückzuführen sei, gleich wie und gleich durch wen dieser sie unter die Menschen zu bringen für gut befunden habe (vgl. etwa Klearch fr. 69 a–d Wehrli; Cic. Leg. 1,58; Fin. 5,44; Tusc. 1,52 u. 5,70; Plut. De E ap. Delph. 17, 392a).140

In der gegenwärtigen Diskussion scheint sich die Meinung durchzusetzen, dass der Spruch nicht in Delphi erfunden wurde, also kein ursprünglich religiöser Spruch war, sondern eine Volksweisheit darstellt, die sich die delphischen Vgl. dazu Reiser (1992, 81 Fußn. 3) u. Göbel (2002, 17 Fußn. 16). Zur Diskussion vgl. Reiser (1992, 81) u. Göbel (2002, 17). Vgl. auch Schröder (1990, 427–431). Vgl. dazu Wilkins (1929, 8), Snell (1971, 9), Tränkle (1985, 21), Reiser (1992, 81), Göbel (2002, 17f.). 140 Vgl. auch Snell (1971, 9) zu diesem Punkt: »›Erkenne dich selbst‹ wird als Sprichwort genommen; das bezeugt Theophrast in seiner Schrift über die Sprichwörter ; Chamaileon in dem Buch über die Götter gibt diesen Spruch dem Thales; die meisten nehmen an, er stamme von Chilon; Hermipp im ersten Buch über Aristoteles sagt, Labys, ein Eunuche in Delphi, hätte dies gesagt, der ein Tempelwächter im Heiligtum gewesen wäre. Klearch aber sagt, es sei ein Gebot des pythischen Apoll und als Orakel dem Chilon gegeben, als dieser fragte, was die Menschen am ehesten lernen sollten; Aristoteles in dem Dialog über Philosophie schreibt es der Pythia zu. Schon vor Chilon war es nämlich aufgezeichnet auf dem delphischen Tempel, der nach dem sogenannten geflügelten und nach dem bronzenen gebaut war. Antisthenes in seinen ›Philosophenschulen‹ sagt, der Spruch ›Erkenne dich selbst‹ stamme von Phemonoe, der ersten Pythia in Delphi, und Chilon hätte ihn sich nur angemaßt«.

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Theologen zu eigen gemacht haben.141 Diese Auffassung lässt sich mit Aristoteles (rhet. 1395a20) belegen, der das »Erkenne dich selbst« und »Nichts allzu sehr« den Volksweisheiten (dedglosieul´ma) zuordnet.142 Die von Aristoteles vorgenommene Klassifizierung des Spruchs steht jedoch keineswegs in Widerspruch zu den frühen Herleitungen, die die Gnome mit den ›Sieben Weisen‹ in Verbindung brachten. Beides lässt sich problemlos miteinander vereinbaren. Folgt man der platonischen Version (Prot. 343a/b), so wurde der Spruch von einem der Weisen geprägt143 und war möglicherweise bereits vor der Anbringung am delphischen Apollontempel, spätestens aber danach ›in aller Munde‹ d. h. so bekannt und verbreitet wie ein Sprichwort oder eine Volksweisheit.144 Wie Manuwald (1999) zutreffend kommentiert, haben die Maximen ›Erkenne dich selbst‹ und ›Nichts im Übermaß‹ nach Platon »durchaus individuelle Verfasser, zirkulieren aber im Unterschied zum Ausspruch des Pittakos (Qd¸ô b6) als Gemeingut« (338) und nicht »als persönlich zugewiesene Einzelaussage« (337). Ganz in diesem Sinn hat Zeller (2006, 107) in Bezug auf die Verbreitung und Popularität der Sprüche von einer »volkstümlichen Ethik« gesprochen und dabei die Möglichkeit einer Prägung durch die Weisen offen gelassen: Mit dem Ausdruck ›volkstümliche Ethik‹ »wird etwas über den Grad der Verbreitung dieser kurzen Sätze ausgesagt, die Herkunft von Einzelpersönlichkeiten aber nicht ausgeschlossen« (107). Zweifellos war die Ermahnung zur Selbsterkenntnis schon vor Prägung des Spruchs im Alltagsdenken präsent.145 Geht die Gnome tatsächlich auf die Weisen zurück, so bestünde deren spezifische Leistung darin, die in den verschiedenen Alltagssituationen in unterschiedlicher Weise artikulierte Lebensweisheit in die Form eines lakonischen Weisheitsspruchs gebracht zu haben. Die von Platon in Prot. 343a/b erwähnte Zusammenkunft der ›Sieben Weisen‹ in Delphi und die gemeinsame Anbringung der Sprüche am Tempel ist sicherlich 141 Vgl. Tränkle (1985, 22), Reiser (1992, 83), Maaß (2007, 41). Vgl. auch Defradas (1972, 274f.). 142 Die Aristoteles-Stelle findet bei Tränkle und Reiser keine Erwähnung, obwohl sie sehr gut geeignet wäre, deren These zu stützen. 143 Eine namentliche Zuordnung wird von Platon nicht vorgenommen. 144 Vgl. Plat. Prot. 343a/b: »Zu diesen Einsichtigen gehörten Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, unser Solon, Kleobulos von Lindos, Myson von Chen, und als siebter wurde ein Spartaner, Chilon, zu ihnen gerechnet. Alle diese waren Verehrer, Liebhaber und Schüler der spartanischen Bildung; man kann ja auch erkennen, daß ihre Weisheit von dieser Art ist: Von jedem liegen kurze, erwähnenswerte Aussprüche vor. Sie trafen auch gemeinsam zusammen und weihten Apollon für seinen Tempel in Delphi das Beste (!paqw¶), was ihre Weisheit hervorgebracht hatte, nämlich Inschriften jener Aussprüche, die in aller Munde sind (cq²xamter taOta $ dµ p²mter rlmoOsim): ›Erkenne dich‹ und ›Nichts im Übermaß‹« (Übers. B. Manuwald). 145 Zum volkstümlichen Verständnis der Selbsterkenntnis im Sinn einer realistischen Einschätzung der individuellen Kräfte, Kompetenzen, Fähigkeiten und Verhältnisse vgl. Reiser (1992, 82f.).

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der Legendenbildung zuzurechnen. Die Prägung dieser Spruchweisheit durch einen jener Staatsmänner und Denker, die später zur Gruppe der Weisen gezählt wurden, kann jedoch durchaus den historischen Tatsachen entsprechen.146 Wenn die oben als wahrscheinlich bezeichnete frühe Datierung zutreffen sollte, käme freilich Chilon, dem in der antiken Literatur häufig die Gnome zugeschrieben wird, als Urheber nicht in Frage, sondern eher Solon oder Thales, der in der vermutlich ältesten147 Liste der Weisen und ihrer Kernsprüche als Verfasser des cm_hi seautºm aufgeführt wird.148 All diese Überlegungen müssen freilich im Bereich der Vermutungen und Spekulationen verbleiben. Eine sichere Entscheidung darüber, ob der Spruch von einem der Weisen oder einer anderen Einzelpersönlichkeit geprägt wurde oder ein Sprichwort anonymer Herkunft war, ist letztlich nicht möglich. Ganz gleich aber, welche Version zutrifft, in dem einen wie in dem anderen Fall wäre jedenfalls nicht Delphi der Urheber des Spruchs. Mit Tränkle (1985, 22) und Reiser (1992, 83) ist davon auszugehen, dass die delphischen Priester diese Gnome aufgegriffen haben. Sie machten sich das Wort »so erfolgreich zu eigen, daß es später stets mit Delphi und seinem Gott verbunden wurde« (Reiser 1992, 83). Diese Aneignung lässt sich jedoch nur dann richtig einordnen, wenn man den Hintergrund der apollinischen Religion berücksichtigt. Tränkle und Reiser werden bei ihrer Bestreitung der delphischen Herkunft des Spruchs und ihrer These, dass die Maxime Ausdruck einer weitverbreiteten Volksweisheit war, nicht ganz der Tatsache gerecht, dass es lange vor Prägung des Cm_hi sautºm neben der volkstümlichen Auffassung149 ein religiös-theologisches Verständnis der Selbsterkennis gab, in dessen Sinn die Gnome ausgelegt werden konnte. Der Spruch passte hervorragend zur apollinischen Religion150, kleidete er doch jene Aufforderung in eine prägnante Formel, die bereits bei Homer mit dem Gott assoziiert wurde. Die Tatsache, dass die Selbsterkenntnis erst im 6. Jahrhundert v. Chr. ihre sprachliche Formulierung in Form eines Weisheitsspruchs gefunden hat und als Inschrift am Apollontempel angebracht wurde, weist daraufhin, dass sie im reifund spätarchaischen Denken einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren hat. Die Gründe dafür sind gewiss vielschichtig und können hier nicht ausgelotet werden. Ein wichtiger Faktor ist jedoch mit Sicherheit die soziale und politische 146 Eher skeptisch sind hier Parke/Wormell (1956, I, 387) die zwar eine Übereinstimmung mit der Tradition der ›Sieben Weisen‹ annehmen, aber solch eine direkte Verknüpfung für unwahrscheinlich halten. 147 So Snell (1971, 11). Zu den verschiedenen Listen der Weisen und der ihnen zugeschriebenen Einzelsprüche vgl. Althoff/Zeller (2006). 148 Vgl. Diog. Laert. 1, 40. Vgl. dazu Snell (1971, 11) u. Althoff/Zeller (2006, 51). 149 Vgl. dazu Reiser (1992, 82f.). 150 So auch Göbel (2002, 19 Fußn. 31).

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Problemlage dieser Zeit. Die archaische Epoche war bekanntlich von massiven Konflikten und sozialen Spannungen geprägt, die ab Mitte des 7. Jahrhunderts eine Zuspitzung erfahren haben.151 In der historischen Forschung wird die Periode deswegen häufig als ›Zeit der Krise‹ bezeichnet152, die nicht nur eine wirtschaftliche, sondern zunehmend auch eine gesellschaftlich-politische und ethische Dimension besaß.153 Als eine der maßgeblichen Ursachen der Probleme führt Gehrke (2007, 49) »die kompetitive, auf Wettkampf ausgerichtete Mentalität der Adelshäuser« an.154 Das ehrgeizige Bestreben der Aristokraten, ihre Standesgenossen zu übertreffen, das in den homerischen Epen vielfach bezeugt wird, intensivierte sich in archaischer Zeit zu einem scharfen Konkurrenzkampf, in dem in zunehmenden Maß um Reichtum, Status und Macht rivalisiert wurde. Im Vordergrund stand zunächst der Wettkampf um den aufwendigeren, prunkvolleren Lebensstil.155 Durch die Begegnung mit dem Luxus und dem Reichtum der östlichen Herrscher und Aristokraten, die im Zusammenhang mit der Kolonisationsbewegung und dem zunehmenden Fernhandel erfolgte, wurden hier offenbar neue Maßstäbe gesetzt.156 Um einen luxuriöseren Lebensstil nach östlichem Vorbild realisieren zu können, war man auf höhere Gewinne angewiesen, die u. a. auf Kosten der Unterschicht erzielt wurden. Die Aristokraten nutzten weidlich die durch Erbteilung und klimatische Katastrophen bedingte wirtschaftliche Not der kleinen und mittleren Bauern aus. Sie unterbreiteten diesen Darlehensangebote, die letztlich das Ziel verfolgten, in den Besitz von Land und Arbeitskraft der Bauern zu gelangen. »So kam es in vielen Fällen zu Verschuldung, dann zum Verlust des Hofes, schließlich der persönlichen Freiheit. Denn man hatte mitsamt der Familie, schließlich mit dem eigenen Leibe zu haften« (Meier 1993, 66). Aufgrund der wachsenden Not und Ver151 Vgl. Vernant (1982, 67), Meier (1987, 105). 152 Vgl. z. B. Vernant (1982, 67), Meier (1987, 104ff.) u. (1993, 65ff.), Gehrke (2007, 49), SteinHölkeskamp (2000, 74ff.). 153 Vgl. Vernant (1982, 67), Meier (1993, 67). 154 Vgl. Stein-Hölkeskamp (1989, 71) (2000, 74), de Araujo Caldas (2003, 57–61). 155 Zu den Elementen des aristokratischen Lebensstils vgl. Stein-Hölkeskamp (1989, 43–56, 104–122) (2000, 76), Stahl (2003 I, 37ff.). 156 Vgl. Vernant (1982, 69f.), Meier (1993, 65), Gehrke (2007, 49). Nach Vernant (1982, 70) erstreckte sich der aristokratische Agon erst ab dem 7. Jahrhundert v. Chr., unter dem Einfluß des Orients, auch auf den Reichtum. Stein-Hölkeskamp (2000, 76) weist hingegen nach, dass der »Besitz und die Zurschaustellung von Luxusgütern« bereits in homerischer Zeit »zentrale Bereiche der aristokratischen Konkurrenz« waren. Gegen eine Überbetonung des ›orientalischen Faktors‹ wendet Stein-Hölkeskamp ein, dass die Interdependenz zwischen der aristokratischen Vorliebe für wertvolle Luxusgüter und dem kompetitiven Ethos dieser Schicht »strukturell bereits eine gewisse Dynamik in sich« trug und von vornherein dazu tendierte, »die Anspruchsfülle der einzelnen Aristokraten, ihr Streben nach Reichtum und Verfeinerung ihrer Lebensart noch zu steigern«. Vgl. dazu auch Stein-Hölkeskamp (1989, 44ff. insbes. 65).

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elendung der unteren Schichten entwickelten sich soziale Unruhen. Es kam zu Konflikten zwischen den Schichten bis hin zum Bürgerkrieg, der oftmals in der Tyrannis mündete. Die Tyrannis157, die sich ab Mitte des 7. Jahrhunderts als Herrschaftsform zu etablieren begann, wird in der historischen Forschung häufig als eine »extreme Steigerung des aristokratischen Ideals« (Gehrke 2007, 52) und des agonalen Strebens angesehen.158 Das Bemühen um den höheren Rang, das sich traditionell im Bereich der kriegerischen und athletischen Leistungen manifestiert hatte, intensivierte sich jetzt zum Kampf um die Macht. »Die Aristokraten gingen immer mehr aufs Ganze; ihr Ziel war nicht nur, die anderen Standesgenossen zu übertreffen, sondern auch über diese und damit über die gesamte Gemeinde zu herrschen« (Gehrke 2007, 51). Der Kampf um die Macht im Staat wurde mit den Mitteln von Fehde und Gewalt ausgetragen. Es kam in vielen Städten zu blutigen Machtkämpfen des Adels, die für eine enorme Destabilisierung sorgten und das Gemeinwesen zu zerrütten drohten. Um die Ordnung und Einheit des Gemeinwesens wiederherzustellen, bedurfte es grundsätzlicher Maßnahmen. Die massiven sozialen und gesellschaftlichen Probleme verlangten nach einer Lösung, die nicht nur die Symptome beseitigte, sondern die Wurzeln des Übels angriff. Als primäre Ursache der Probleme wurde von der zur Konfliktlösung herangezogenen intellektuellen Elite die Gewinnsucht und Machtgier der Führungsschicht erkannt.159 Die als Hybris (vbqir) bezeichneten Auswüchse eines übersteigerten aristokratischen Ehrgeizes wurden verantwortlich gemacht für die Störung des sozialen Friedens und die politische Instabilität. Solon, der die Unmäßigkeit und Habsucht der Aristokraten scharf kritisiert hat (vgl. Sol. fr. 3, 7ff.; 4, 4ff.; 5, 9f. Snell)160, benennt die Hybris explizit als Ursache von Knechtschaft, Bürgerkrieg und Zerstörung des Staates (vgl. Sol. fr. 3, 5ff.; 3, 18f.; 10, 13f. Snell).161 Um der Probleme Herr zu werden und das Gemeinwesen zu stabilisieren, musste die Hybris eingeschränkt und begrenzt werden.162 Dies geschah zum einen auf politischem Weg, durch die Gesetzgebung163, die häufig das Werk von einzelnen, als kompetent erachteten 157 Zur archaischen Tyrannis vgl. Berve (1967), Kinzl (1979), Stahl (1987), Stein-Hölkeskamp (1989, 139ff.) (2000, 85ff.). 158 Vgl. auch Stahl (1987, 104ff.), Stein-Hölkeskamp (1989, 139), Dahlheim (1992, I, 150). 159 Vgl. Stein-Hölkeskamp (1989, 71f.), Dahlheim (1992, I, 144). 160 Zur allgemeinen Adelskritik des 7. und 6. Jh. v. Chr. vgl. Donlan (1973, 145–154), Vernant (1982, 60f.), Stein-Hölkeskamp (1989, 72 u. 123–133) (2000, 79). Zur Thematisierung der Hybris in der archaischen Lyrik vgl. Fisher (1992, 201–246). 161 Vgl. auch Thgn. 603f., 1103f. Ausführlich dazu Fisher (1992, 69–76 u. 207–216). 162 Vgl. Heraklit DK 22 B 43: vbqim wqµ sbemm¼mai l÷kkom C puqjaz¶m »Hybris soll man noch viel mehr löschen als ein Großfeuer« (Übers. J. Mansfeld). Vgl. Vernant (1982, 72 u. 86), Stein-Hölkeskamp (1989, 71f.). 163 Zur Funktion der Gesetze im Sinn einer Begrenzung der Habgier und der Machtkämpfe vgl.

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Individuen war und vom delphischen Orakel gefördert und sanktioniert wurde.164 Zum anderen aber versuchte man die Hybris mittels Belehrung und Ermahnung (paqa¸mesir), d. h. durch die ethische Aufforderung zur Mäßigung und Selbsterkenntnis einzudämmen. Die Aufstellung und schriftliche Fixierung von Regeln, die die adligen Konkurrenzkämpfe und die aristokratische Repräsentationssucht kanalisieren sollten, wurde gleichsam ergänzt durch den unmittelbaren Appell an die Einsicht und Vernunft des Einzelnen. Die Gesetze, die das objektive Moment der Ethik des Maßes verkörperten, konnten ihre Wirkung nur dann vollständig entfalten, wenn sie von der subjektiven Einsicht in die Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Ethik getragen wurden. Die individuelle Einsicht galt als fundierendes und stabilisierendes Moment, das die Aufrechterhaltung der Eunomia gewährleistet.165 Der ethische Appell erfolgte vor allem von seiten der mit der Gesetzgebung beauftragten Weisen166sowie von Religion und Dichtung.167 Seinen prägnantesten und ansprechendsten Ausdruck findet der Appell in den Maximen: Cm_hi seautºm (Erkenne dich selbst) und Lgd³m %cam (Nichts allzusehr).168 Der sachliche Zusammenhang der beiden Spruchweisheiten wird noch genauer zu untersuchen sein. Im Moment bleibt festzuhalten, dass der anfangs erwähnte Bedeutungszuwachs der Selbsterkenntnis im 6. Jahrhundert v. Chr. zweifellos mit der geschilderten Krisensituation zusammenhängt. Die Selbsterkenntnis galt offenbar neben der Gesetzgebung als ein Heilmittel (v²qlajom) gegen die das Gemeinwesen zerstörende Krankheit der Hybris. Sie gewann damit eine gesellschaftlich-politische Dimension, die für die philosophische Konzeption der Selbsterkenntnis folgenreich werden sollte.169 Als Voraussetzung einer maßvollen, auf Einheit und Stabilität bedachten Politik rückte sie jetzt bereits in den Rang eines politischen Prinzips.

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Sol. fr. 3,30ff. Snell; Pind. O. 13, 5–10. Vgl. dazu Fisher (1992, 69–82). Zur Gesetzgebung in archaischer Zeit vgl. Hölkeskamp (1999). Zum Einfluss Delphis auf die Gesetzgebung vgl. Nilsson (GGR I, 640–644). Der Zusammenhang von objektiver Gesetzgebung und subjektiver Einsicht wurde insbesondere von Solon erkannt, der – wie seine Gedichte bezeugen – in eindringlicher Weise versucht hat, auf das Denken seiner Mitbürger Einfluss zu nehmen. Dazu Stahl (1987, 229): »Solon hat […] in seinen Gedichten betont, daß Eunomia nur dann herrsche, wenn sie gleichsam in den Herzen der Bürger verankert sei.« Vgl. auch Gehrke (2007, 59). Vgl. insbes. die solonischen Elegien. Vgl. dazu Stahl (1987, 230f.). Vgl. insbes. Pindar und Sophokles. Vgl. Plat. Prot. 343a/b; Charm. 164d–165a; Pseud.-Plat. Hipparch. 228d/e; Paus. 10, 24, 1. Vgl. dazu Rösler (1991, 362), Göbel (2002, 17 Fußn. 16), Althoff/Zeller (2006, 8). Vgl. Plat. Alk. I 133c–135d.

II

Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie der spätarchaischen und klassischen Zeit

Im Folgenden soll das Motiv der apollinischen Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie der spätarchaischen und klassischen Zeit untersucht werden. Im Zentrum der Betrachtung stehen Texte von Pindar, Sophokles und Herodot. In den pindarischen Epinikien, in Herodots Kroisos-Logos und in Sophokles’ Aias werden Einsichten in die menschliche Begrenztheit gestaltet, die erkennbar an die apollinische Selbsterkenntnis bei Homer und die delphische Tradition anschließen. Die thematische Präsenz des Selbsterkenntnis-Motivs bei den genannten drei Autoren steht nicht zuletzt mit deren engem Verhältnis zur Apollon-Religion in Zusammenhang. Sowohl bei Pindar als auch bei Sophokles und Herodot lassen sich Beziehungen zum delphischen Apollon-Kult und eine affirmative Einstellung gegenüber dem delphischen Orakel1 und der Mantik2 beobachten. Von Pindar ist bekannt, dass er sich – insbesondere in seiner Jugendzeit – häufig in Delphi aufgehalten hat.3 Wie den Berichten des Pausanias (IX 23, 3; X 24, 5) zu entnehmen ist, haben die delphischen Priester dem Dichter eine besondere Wertschätzung und Achtung zuteil werden lassen. Bei Herodot gilt ebenfalls als gesichert, dass er das delphische Heiligtum besucht hat (nach Parke [1984, 209] in den 440er Jahren). In der Forschung wird übereinstimmend davon 1 Der Delphi-Bezug dieser drei Autoren wird sowohl von der älteren als auch von der jüngeren Forschung betont. Zu Pindar vgl. Wilamowitz (1966, 43, 66–88) (GdH, II, 126), Fränkel (1927, 49) (1969, 546 Fußn. 15), Farnell (1961, 462f.), Dirlmeier (1970, 40f.), Schadewaldt (1989, 219– 241, 278) (1975, 28f.), Race (1986, 7), Käppel (1992, 139f.), Theunissen (2002a, 61–63), Janke (2005, 21), Fogelmark (2008, 384). Zu Sophokles vgl. Nestle (1910, 85), Wilamowitz (GdH II, 230), Lesky (1966, 190–203 insb. 192), Diller (1971, 286–303 insb. 287), Schadewaldt (1975, 30f.), Elliger (1965, 79–109), Schmidt (1989, 33–55, insbes. 45–49), LefHvre (2001) (2005). Zu Herodot vgl. Nestle (1910, 85), Wilamowitz (GdH II, 204), Nilsson (GGR I, 763 u. 766), Schadewaldt (1982, 203ff.) (1975, 31), Kirchberg (1966), Forrest (1984, 7), Flower (1991), Harrison (2000, 145), Kullmann (2002, 140), Schwabl (2004, 52). 2 Zur aufklärerischen Kritik an der Mantik und zur Verteidigung der Orakelsprüche durch Herodot und Sophokles vgl. Nestle (1910, 81–91) und Schmidt (1989, 33–55). Vgl. auch Flashar (1994, 51–74, insbes. 70f.) und Burkert (2000). 3 Vgl. RE 20, 2 (1950, 1617f., 1621, 1623).

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

ausgegangen, dass die von Herodot überlieferte Fassung der Kroisos-Geschichte in ihren zentralen Punkten (Scheiterhaufenszene [1, 87]; Rechtfertigungsorakel des Apollon [1, 90–91]) delphischen Ursprungs ist.4 Auf die Präsenz von delphischen Themen bei Pindar und Herodot hat unlängst Maaß (2007, 103) hingewiesen. Unter den Tragikern ist Sophokles aufgrund seiner affirmativen Bezugnahme auf das delphische Orakel (vgl. insbes. Oedipus Rex) und seiner erkennbaren Anknüpfung (vgl. Aias 118–133) an die in der homerischen Odyssee (18, 124– 137) dargestellte apollinische Selbsterkenntnis besonders relevant. In Aischylos’ Dramen ist das Motiv der Selbsterkenntnis zwar auch enthalten, hat hier jedoch eine nachgeordnete Bedeutung. Als Dichter, der eher der Zeus-Religion verpflichtet war, betont Aischylos insbesondere den Gedanken des Rechts und der Rechtlichkeit und ist daher vor allem als Zeugnis für die Hybris-Vorstellung und den Zusammenhang von Einsicht, Gerechtigkeit und Frömmigkeit interessant. Bei Euripides lässt sich auch etliches zum Themenkomplex finden, insbesondere im Ion, Alkestis und in Die Bakchen. In den vom Aufklärungsgedanken bestimmten Tragödien des Euripides tritt jedoch die religiös-mythisch fundierte Auffassung von Selbsterkenntnis deutlich in den Hintergrund.5 Die Texte von Pindar, Sophokles und Herodot sind vermutlich deswegen bislang kaum oder in nur unzureichender Weise unter dem Aspekt der apollinischen Selbstbesinnung ausgewertet worden6, weil hier weder der Begriff der Selbsterkenntnis gebraucht wird7 noch eine explizite Bezugnahme auf die delphische Maxime erfolgt. Dies ist nicht zuletzt in den spezifischen Formmerkmalen jener Literaturgattungen begründet. Die Selbsterkenntnis wird in Dichtung und Historiographie in Form von dramatischen Handlungen, Erzählungen, Chorliedern, Sentenzen unmittelbar vorgeführt, in ihrem Gehalt dargestellt oder 4 Vgl. Miller (1963, 92), Heuss (1995, 94), Forrest (1984, 7), Flower (1991), Erbse (1992, 5f.). 5 In die Untersuchung einbezogen werden außerdem Texte und Fragmente von Solon, Theognis, Bakchylides, Heraklit, Xenophon. 6 In der Literatur zur frühgriechischen Selbsterkenntnis und zur Deutungsgeschichte der delphischen Maxime werden meist nur einige wenige Stellen ausgewertet. So verweist z. B. Reiser (1992, 83f.) auf nur drei Zeugnisse: Hom. Il. 5, 440–443; Pind. I. 5,16; Soph. fr. 590 Pearson. Ähnlich Göbel (2002, 16–23), der zu den von Reiser angeführten Stellen eine weitere hinzufügt (Pind. P. 8, 95f.) und sich ansonsten auf spätere Zeugnisse bezieht. Ebenso spärlich ist das Textmaterial zur vorphilosophischen Selbsterkenntnis bei Wilamowitz (1926, 172– 174) und Tränkle (1985, 22f.) Selbst in den von Courcelle (1974/75) und Wilkins (1917) (1929) vorgelegten materialreichen Untersuchungen zur Deutungsgeschichte der delphischen Maxime ist das Textmaterial zur frühen Deutung des delphischen Spruchs mehr als bescheiden. Wilkins bezieht sich lediglich auf Aischyl. Prom. 309f. und Pind. P. 2, 34 (vgl. 1917, 12–14) und Courcelle führt folgende Stellen an: Aischyl. Prom. 305; Hdt. 7, 10, 55; Aischyl. Pers. 818; Pind. N. 6, 11; P. 2, 34; P. 3, 58. 7 Die substantivierte Form (cm_sir 2autoO, t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim) taucht gar nicht auf, allenfalls die Imperativform c¸cmysje saut¹m (Aischyl. Prom. 309). Vgl. auch Pind. P. 2, 73.

Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

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paränetisch eingefordert, nicht aber begrifflich bestimmt und reflektiert.8 Das Fehlen des begrifflichen Ausdrucks oder eines expliziten Verweises auf das cm_hi sautºm macht die Auswertung dieser Zeugnisse zwar schwierig, aber keineswegs unmöglich. Auf der Grundlage der oben herausgearbeiteten Merkmale der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer kann die thematische Präsenz einer in apollinischer Tradition stehenden Selbstbesinnung in den Texten identifiziert werden. In der Untersuchung wird sich zeigen, dass die in spätarchaischer und klassischer Literatur gestalteten Auffassungen von Selbsterkenntnis bei allen Akzentverschiebungen viele Übereinstimmungen aufweisen. Auf der Grundlage dieser Kongruenzen lässt sich ein ethisches Konzept rekonstruieren, das eine erstaunliche Komplexität besitzt und viele Motive und Vorstellungsmuster der klassischen philosophischen Ethik präformiert. Es wird sich zeigen, dass die apollinische Selbsterkenntnis keineswegs auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern beschränkt ist. Vielmehr liegt hier ein umfassendes ethisches Konzept vor, das die für den Menschen essenziellen Lebensbereiche und Relationen – das Verhältnis zur göttlichen Sphäre, das Verhältnis zur Gemeinschaft und das Verhältnis zu sich selbst – umgreift und die religiöse, politisch-soziale und personale Dimension des menschlichen Daseins gleichermaßen berührt. Da die apollinische Selbstbesinnung in engem Zusammenhang mit dem Phänomen der Hybris (vbqir) steht9, sollen zunächst die in den dichterischhistoriographischen Zeugnissen enthaltenen Hybris-Konzeptionen dargestellt werden. Wie schon erwähnt, wurde die Selbsterkenntnis von der apollinischen Tradition als Heilmittel (v²qlajom) gegen die Krankheit des Sinns (mºsor vqem_m) aufgefasst. Die Aufforderungen cm_hi sautºm und lgd³m %cam waren vornehmlich an die Hybristai adressiert und sollten im Rahmen einer Erziehung zur Sophrosyne die maßlosen Macht- und Besitzansprüche korrigieren. Um die apollinisch inspirierten Selbsterkenntnis-Konzeptionen bei Pindar, Sophokles und Herodot in ihrem Sinngehalt und ihrer Intention erschließen zu können, ist es von daher notwendig, dieses Motiv eingehender zu untersuchen. 8 Der Terminus findet sich erst in der philosophischen Reflexion. Vgl. Plat. Alk. I 129a2, 130e7, 131b4, 133c8; Charm. 164d4–5, 165b4. 9 Der enge Zusammenhang zwischen dem Phänomen der Hybris und dem Motiv der Selbsterkenntnis ist in der Forschung schon häufig beobachtet worden. Göbel (2002, 20) deutet die Selbsterkenntnis als Korrektiv des griechischen Strebens nach göttlicher Unvergänglichkeit: »Das delphische Wort begegnet in seiner Mahnung zur Selbstbescheidung nicht nur der Hybris des Einzelnen, der sich unter den Menschen zu Höchstem berufen fühlt […], sondern vor allem begegnet es dem nicht seltenen griechischen Wunsch nach der Unvergänglichkeit göttlichen Seins, sei es in der bloßen Fortdauer des Namens, dem Streben nach Ruhm des homerisch-heroischen Zeitalters, oder im tatsächlichen Wunsch, ›zum Gott zu werden‹ […]«. Vgl. auch Courcelle (1974, 12), Tränkle (1985, 22), Reiser (1992, 83f.).

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1.

Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Das Phänomen der Hybris

Das Phänomen der Hybris (vbqir)10 ist in der griechischen Dichtung und Geschichtsschreibung vielfach reflektiert worden. Den Erfahrungshintergrund bildeten nicht nur das Macht- und Gewinnstreben der griechischen Aristokraten, sondern auch die Maßlosigkeit der östlichen Herrscher, insbesondere des Lyderkönigs Kroisos und des persischen Königs Xerxes. Der Griechenlandfeldzug des Xerxes, der mit einer verheerenden Niederlage der Perser endete11, wird in der dichterisch-historiographischen Reflexion als Beispiel dafür angeführt, dass Maßlosigkeit und übermenschlicher Machtanspruch Unheil bringen.12 Die Thematisierung von Genese, Erscheinungsweisen und Folgen der Hybris findet sich in besonders ausgeprägter Weise bei Pindar, Aischylos, Sophokles und Herodot. In Form von mythischer Darstellung, paränetischer Dichtung, novellistischer Erzählung und dramatischer Gestaltung wird hier immer wieder die Abfolge13 von Glück (ekbor) – Sattheit (jºqor)/ Hybris (vbqir) – Unglück (%tg)14 aufgezeigt. Aus Wohlstand und Erfolg, so der in den Texten artikulierte Gedanke, erwachsen Übersättigung, Übermut und frevlerische Übergriffe, die letztlich ins Verderben führen. Das Motiv der Abfolge von Glück – Hybris – Unglück soll im Folgenden anhand von relevanten Stellen genauer betrachtet werden. Die Untersuchung wird sich zunächst den pindarischen Oden zuwenden.

10 Zur Etymologie und Begriffsgeschichte vgl. RE Suppl. 9 (1962, 1897ff.), ThWbNT 8 (1969, 295ff.), HWPh 3 (1974, 1234f.), RAC 15 (1991, 799ff.), DNP 5 (1998, 771). Eine umfassende Darstellung der Hybriskonzeption von Pindar, Sophokles und Herodot findet sich in der materialreichen Untersuchung von Fisher (1992, 216–246 [Pindar], 298–342 [Sophokles], 343–385 [Herodot]). Zur Hybrisvorstellung in den griechischen Tragödien vgl. auch Dirat (1973) u. Kaufmann, W. (1980, 73–78). Zur Hybris in den sophokleischen Tragödien vgl. LefHvre (2001). Zur Hybris bei Pindar vgl. Dickie (1984, 83–109). 11 Zu den Perserkriegen vgl. Hignett (1963), Burn (1984), Green (1996), Schubert (2003, 26–57), Gehrke (2007, 66–76). 12 Vgl. Aischyl. Pers. 808, 825–831und Hdt. 7, 8–16. 13 Zu dieser Abfolge vgl. RAC 15 (1991, 801f.), DNP 5 (1998, 771). 14 Die Ausdrücke jºqor, vbqir und %tg sind mehrdeutig. Sie werden sowohl im objektiven Sinn, zur Bezeichnung von Fakten und äußeren Handlungsvollzügen, als auch im subjektiven Sinn, zur Benennung von seelischen Zuständen gebraucht. So bezeichnet das Wort jºqor sowohl die Überfülle an weltlichen Gütern als auch den seelischen Zustand der Übersättigung und des Überdrusses. Das Wort vbqir umfasst das frevelhafte, nämlich gewalttätige, rechtswidrige, anmaßende, entehrende Handeln sowie die entsprechende Haltung der Überhebung und Anmaßung. Mit dem Wort %tg schließlich werden sowohl das Unglück, die Strafe, das Unheil bezeichnet als auch die Verblendung des Sinns; %tg kann jedoch auch die aus der Verblendung hervorgehende Freveltat und Schuld bedeuten. Zur Mehrdeutigkeit der drei Begriffe vgl. RAC 15 (1991, 802).

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a)

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Das Motiv der Hybris bei Pindar

Bei Pindar findet sich eine besonders eindringliche Darstellung der Genese der Hybris. In den Siegesliedern für die erfolgreichen Athleten der panhellenischen Spiele15 spricht der Dichter immer wieder die Warnung aus, sich angesichts der erzielten Leistungen nicht zu überheben und nach Zielen über das menschliche Maß hinaus zu streben. Die Gefahr der Hybris wird häufig im Rückgriff auf mythische Motive dargestellt. In dem Siegeslied für Hieron, dem Tyrannen von Syrakus, deutet Pindar den Tantalos-Mythos als Sinnbild eines unbesonnenen Umgangs mit der Göttergunst. Der von Zeus über das Haupt des Tantalos aufgehängte Stein, der diesem jeden Genuss unmöglich macht, wird als Folge eines nicht ertragenen, in Übermut mündenden Glücks dargestellt: Wenn aber je einen sterblichen Mann des Olympos Wächter ehrten, so war es Tantalos. Doch zu verdauen das große Glück (ekbor) Hat er nicht vermocht, und aus Übersattheit (jºqor) Stürzt’ er in ungemessnes Elend (%tg), das der Vater Über ihn aufgehängt, den gewaltigen Stein Den er beständig erwartet daß er sein Haupt Treffe, und so wird er nimmer froh. (Pind. O. 1, 54ff.; Übers. U. Hölscher)

Tantalos vermochte die ihm von den Göttern erwiesene Gunst nicht mit Maß und Redlichkeit zu tragen, sondern hat sich in seiner Sattheit (jºqor) dazu hinreißen lassen, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten.16 Er gab den Jugend- und Trinkgenossen Nektar und Ambrosia, womit die Götter ihn unsterblich gemacht hatten (O. 1, 60ff.), und musste für diese Hybris mit dem Verlust von Glück und Lebensfreude büßen. Eine ähnliche Tendenz verfolgt die Darstellung des Ixion-Mythos in der zweiten Pythischen Ode. Ixion, König der thessalischen Lapithen, wurde nach der Sage eine besondere Göttergunst zuteil. Nachdem er durch Tötung eines Verwandten 15 Zu den panhellenischen Spielen und der Aufführung der pindarischen Epinikien vgl. Hornblower/Morgan (2007, 45–210). 16 Zum Zusammenhang von Übersättigung bzw. Überfülle (jºqor) und Frevel (vbqir) vgl. Sol. fr. 5, 9 Snell: t¸jtei c±q jºqor vbqim »Fülle gebiert den Frevel« (Übers. Franyj/Gan). Vgl. auch Thgn. 153f. Wenn Pindar in der 13. Olympischen Ode von der Hybris als Mutter der Überfülle spricht (~bqim, Jºqou lat´qa hqas¼luhom O. 13, 10; vgl. auch Hdt. 8,77), so steht dies weder im Widerspruch zu Solon noch zu den oben angeführten pindarischen Gedichten, da jºqor hier eine andere Bedeutung hat. Während in der 13. Olympie die Überfülle an Gütern gemeint ist, die aus unrechtmäßiger Aneignung (vbqir) resultiert, ist bei Solon und in den oben angeführten mythischen Darstellungen die aus Göttergunst, Herkunft und eigner Leistung erwachsende Fülle und Sattheit gemeint, die zur Hybris führen kann, wenn sich der Mensch nicht zu zügeln vermag.

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Blutschuld auf sich geladen hatte und keiner den schutzflehenden Mörder reinigen wollte, wurde er schließlich von Zeus entsühnt und zum Tischgenossen der Götter gemacht. Bei den gemeinsamen Mahlen erfasste Ixion die Begierde nach Hera. Als er seinem Verlangen nachkommen wollte, umarmte er jedoch nur ein von Zeus geschaffenes wolkenhaftes Trugbilde der Göttin. Der mit seinem angeblichen Triumph Prahlende wurde zur Strafe auf ein feuriges Rad geflochten, auf dem er ewig durch die Lüfte wirbelt.17 Pindar deutet die Begierde des Ixion als Manifestation einer Hybris, die aus der erwiesenen göttlichen Gunst erwachsen ist: […] denn bei den wohlgesinnten Kroniden war ihm ein glückliches Leben beschieden, doch er ertrug nicht den reichen Segen (ekbor), und verblendet begehrte er Hera und das wonnige Bett des Zeus, für das sie bestimmt war. Frevelmut (vbqir) trieb ihn zu Verbrechen über die Maßen. Alsogleich erfuhr der Mann das ihm Gebührende und erlitt unendliches Leid. (Pind. P. 2, 25–30; Übers. E. Dönt)

Ixion ist angesichts der göttlichen Zuwendung in Übermut (vbqir) entbrannt und hat in maßloser Selbstüberschätzung nach Gütern gegriffen, die ihm als Menschen nicht zustehen. Das ›Nicht-Ertragen des großen Glücks‹ (lajq¹m oqw rp´leimem ekbom P. 2, 26f.) meint hier analog zur Tantalos-Darstellung die Unfähigkeit, die Glücksgaben und das Wohlwollen der Götter unter Bewahrung einer besonnenen Haltung zu genießen.18 Das Sich-nicht-Begnügen-Können mit dem Vorhandenen und die grenzüberschreitende, maßlose Begierde werden auch in der dritten Pythischen Ode thematisiert. Pindar greift hier Motive aus dem Koronis-Mythos auf. Koronis, Tochter des Lapithen Phlegyas, war nach der Sage die Geliebte Apollons. Als sie von diesem schwanger war, ließ sie sich mit einem Fremden aus Arkadien, Ischys, ein. Apollon bemerkte den Betrug und ließ Koronis durch Artemis töten.19 In der pindarischen Darstellung des Mythos liegt der Akzent auf der Maßlosigkeit des Begehrens. Koronis vermochte nicht, sich mit der ihr zuteil gewordenen Liebe des Apollon zu begnügen, sondern ›begehrte das Fremde‹ (P. 3, 20). In einer generalisierenden, die Form der Paränese aufweisenden Reflexion, die in die mythische Darstellung eingeschoben ist, tadelt Pindar die aus Eitelkeit erwachsende Unmäßigkeit: 17 Vgl. DKP 3 (1979, 31f.). 18 Zur Hybris als Ausdruck und Folge des ›Nicht-Ertragen-Könnens‹ des Glücks vgl. Aristot. eth. Nic. 1124a30–1124b1–5. Vgl. auch Aristot. pol. 1295b1ff. 19 Vgl. DKP 3 (1979, 309f.), DKP 2 (1979, 1460).

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Nein, sie begehrte das Fremde. So geht es vielen. Das aber ist Von den Menschen das eitelste Volk Das das Heimische schmäht Und nach draußen gafft, nach Nichtigem haschend In unerfüllbarer Hoffnung. (Pind. P. 3, 19ff.; Übers. U. Hölscher)

Um die Hybris als Fehlhaltung aufzuzeigen, weist Pindar immer wieder auf die verderblichen Folgen hin.20 Auch hier wird häufig auf mythische Motive zurückgegriffen. Die Sage von Bellerophontes, der auf seinem Flügelross Pegasos in den Himmel flog und einen Absturz erlitt, deutet Pindar im Sinn einer Strafe für Überhebung: […] Wenn einer zu weit auslugt, erweist er sich als zu klein, den ehernen Sitz der Götter zu erreichen. Der geflügelte Pegasos warf seinen Herrn Bellerophontes ab, als er zum Himmelsort, zur Gemeinschaft des Zeus, gelangen wollte.21 (Pind. I. 7, 43ff.; Übers. E. Dönt)

Der Gedanke, auf den die mythische Darstellung zielt, wird im Anschluss an diese Verse in einem kurzen paränetischen Satz festgehalten: Ein ganz bitteres Ende erwartet ein Glück, das wider das Recht errungen. (Pind. I. 7, 47f.; Übers. E. Dönt)

Das anmaßende Streben nach Gottgleichheit, nach göttlicher Machtfülle, Ansehen und Besitz, das die gegebene Ordnung missachtet und verletzt, endet im Untergang. Werden in Verkennung der eigenen Kräfte und Grenzen unrechtmäßige Ansprüche gestellt und frevlerische Übergriffe unternommen, so folgen Sturz und Elend. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch in der achten Pythie, dem Siegeslied für Aristomenes von Aigina: Gewinn ist nur dann ganz willkommen, wenn man sich ihn aus einem Hause holt, dessen Herr ihn zu gewähren willens ist. Gewalt läßt auch den stolz Auftretenden über kurz oder lang scheitern. (Pind. P. 8, 13–15; Übers. E. Dönt) 20 Zu den verderblichen Folgen von Koros und Hybris vgl. auch Hes. erg. 132ff.; Thgn. 605f., 693, 1103f.; Sol. fr. 1, 7ff.; fr. 3, 8; fr. 3, 15ff. Snell; Bakchyl. dith. 1, 57ff. Maehler; Plat. leg. 716b. 21 Das Motiv des Himmelsfluges wird auch in der berühmten achten Pythie aufgegriffen: »Wer aber grad’ ein Schönes errungen hat/ Fliegt vor großer Üppigkeit/ Voller Hoffnung empor mit beflügeltem Mut: / Stärker als Reichtum ist sein Trachten.« (P. 8, 88–91; Übers. U. Hölscher).

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Angesichts der verderblichen Folgen der Hybris spricht Pindar immer wieder die Mahnung aus, sich nicht von Erfolg, Glück und Ruhm zur Überhebung und zur Maßlosigkeit verleiten zu lassen, sondern sich mit dem Vorhandenen zu bescheiden22 : Wenn einer Gesundheit und Glück pflegt, an Gütern genug besitzt und einen guten Namen dazusetzen kann, so strebe er nicht, Gott zu werden. (Pind. O. 6, 23f.; Übers. E. Dönt)

Ähnlich heißt es in der fünften Isthmie: Zwei Dinge sind es allein, die des Lebens holdeste Frucht gedeihen lassen mit blühendem Segen: wenn es einem wohlergeht und er edlen Ruf besitzt. Strebe nicht, Zeus zu werden! Alles hast du, wenn dir von diesem Glück ein Teil zukommt. Sterbliches steht Sterblichen an. (Pind. I. 5, 12–16; Übers. E. Dönt)

Freilich weiß Pindar nur zu gut, dass sich der Mensch gern »in hochfliegende Pläne« (!kk’ 5lpam lecakamoq¸air 1lba¸molem, 5qca te pokk± lemoim_mter) begibt und dass »kein Wahn so sehr [stachelt] wie die Begierde nach Unerreichbarem« (!pqos¸jtym d( 1q¾tym an¼teqai lam¸ai)23 (N. 11, 44 u. 48; Übers. E. Dönt).24 Auch wenn das Mehrhabenwollen hier als eine Art anthropologischer Wesenszug anklingt, der handlungsdeterminierende Kraft besitzt25, versucht der Dichter keineswegs, den Einzelnen von der Verantwortung für sein Handeln zu entlasten. Nach Pindar ist der Mensch in vollem Sinn für Hybris und frevelhaftes Tun verantwortlich. Die ausgesprochenen Warnungen sowie die Aufforderung zum maßvollen Handeln haben nur Sinn vor dem Hintergrund der Annahme, dass der Mensch die Freiheit und prinzipielle Möglichkeit besitzt, die Begierde zu zügeln und mit Erfolgs- und Glückssituationen besonnen umzugehen. Die Abfolge von Glück und Hybris deutet Pindar nicht im Sinn einer Naturgesetzlichkeit; sie ist keineswegs zwangsläufig. Vielmehr steht es in der Entscheidung des Einzelnen, ob er sich von Erfolg und Güterfülle zu Selbstüberschätzung und Übermut verleiten lässt oder ob er die Göttergunst ›ertragen‹ kann und in seinem Streben innerhalb der gegebenen Ordnung verbleibt.26 22 23 24 25

Vgl. auch Sol. fr. 3, 9 Snell. Zu N. 11, 48 vgl. Verdenius (1983). Vgl. auch Sol. fr. 1, 34ff. Snell; Thgn. 694; Bakchyl. fr. 1 Maehler. Ähnlich schon Hom. hymn. pyth. Apoll. 541, wo die Hybris als Themis der sterblichen Menschen bezeichnet wird: »Wie Überhebung (vbqir) ja immer Brauch (h´lir) bei sterblichen Menschen« (Übers. T. v. Scheffer). 26 Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen werden auch von Bak-

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Hybris-Konzeptionen in der attischen Tragödie

In den Tragödien von Aischylos und Sophokles finden sich ähnliche Vorstellungen zum Themenkomplex der Hybris. Der Akzent liegt hier jedoch auf den verderblichen Folgen bzw. der göttlichen Bestrafung des Frevelmuts. In Aischylos’ Die Perser wird der verheerende Ausgang des persischen Feldzugs gegen die Griechen als Strafe für Hybris ausgelegt. In der Dareios-Rede deutet der Dichter das leidvolle Schicksal des persischen Heers als Strafe für Frevelmut und gottlosen Sinn (vbqeyr %poima j!h´ym vqomgl²tym Aischyl. Pers. 808). Aus Niederlage und Unglück der Perser wird die Lehre gezogen, Daß übers Maß ein Mensch nicht heben soll den Sinn. (¢r oqw rp´qveu hmgt¹m emta wqµ vqome?m.) Denn Hochmut (vbqir), aufgeblüht, bringt Frucht im Ährenkorn Der Schuld (%tg), draus tränenreiche Ernte mäht der Herbst. (Aischyl. Pers. 820–822; Übers. O. Werner)

Hier wird in äußerst verdichteter, bildhafter Sprache der Zusammenhang zwischen Hybris und Unglück ausgesprochen: Aus Anmaßung und Überhebung erwachsen frevlerische Übergriffe, die zu Unglück und Leid führen.27 In den nachfolgenden Versen stellt Aischylos diesen Zusammenhang unter dem Aspekt der Rechtlichkeit und der göttlich-menschlichen Ordnung dar. Die Hybris, hier präzisiert als Missachtung des zugefallenen günstigen Schicksals sowie als Gier nach fremdem Gut (Pers. 825f.), erhält ihre gerechte Strafe durch Zeus (Pers. 827f.). Auch wenn Zeus an dieser Stelle als Hüter der Gerechtigkeit anklingt (5uhumor baq¼r Pers. 828)28, darf nicht übersehen werden, dass sich das thematisierte göttliche Missfallen primär auf die Beleidigung der Götter bezieht. chylides betont: !kk ( 1m [l´s]yi je?tai jiwe?m / p÷sim !mhq¾poir D¸jam Qhe¸am, "cm÷r / Eqmol¸ar !jºkouhom ja· pimut÷r H´litor »frei steht es allen Menschen, / zur geraden Dika zu gelangen, der Gefährtin / der heiligen Eunomia und der verständigen Themis« (Bakchyl. dith. 1, 53–55 Maehler ; Übers. H. Maehler). Die behauptete Entscheidungsfreiheit impliziert die Annahme, dass der Mensch nicht nur für rechtswidriges Handeln verantwortlich ist, sondern auch für die Folgen des frevelhaften Tuns: Fe»r rx[il´dym d]r ûpamta d´qjetai / oqj aUtior hmato?r lec²kym !w´ym »Nicht Zeus, der Herrscher in der Höhe, der alles schaut, / ist schuld an der Sterblichen schlimmen Leiden« (Bakchyl. dith. 1, 51f. Maehler ; Übers. H. Maehler), sondern der Mensch selbst. Der Gedanke von der Schuldlosigkeit der Götter, der gegen die populäre Auffassung von der Willkür und dem Neid der Götter geltend gemacht wird, findet sich auch bei Solon (fr. 3, 1–6; fr. 8, 1f. Snell) und bei Theognis (833–36). Vgl. auch Aischyl. Ag. 750–780. In nicht mehr zu überbietender Radikalität wird der Gedanke schließlich von Platon ausgesprochen: AQt¸a 2kol´mou7 He¹r !ma¸tior »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos« rep. 617e4. Vgl. auch rep. 379c. 27 Vgl. auch Aischyl. Ag. 370ff.; Eum. 530ff. 28 Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass Aischylos’ Vorstellung von Zeus als Gründer einer gerechten Weltordnung und als Hüter von Recht und Sitte an Hesiod und Solon anknüpft. Vgl. z. B. Dihle (1991, 122).

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Als Überschätzung der eigenen Kräfte und des eigenen Platzes im menschlichgöttlichen Ordnungsgefüge ist die Hybris notwendig mit einer Missachtung der Götter (Pers. 831; 808ff.) verknüpft und provoziert daher in besonderer Weise deren Zorn. Auch Sophokles betont den Zusammenhang zwischen Hybris und Verderben, das hier eher im Sinn eines notwendigen immanenten Scheiterns gedeutet wird, zuweilen aber auch – analog zu Aischylos – als göttliche Strafe erscheint. So etwa im Aias, einer der früheren Tragödien des Sophokles29, die stark an Aischylos orientiert ist. Aias, einer der Helden des Trojanischen Krieges, im Epos nach Achilleus der Stärkste der griechischen Helden, zieht sich aufgrund seiner anmaßenden Haltung und seiner prahlerischen Worte den Zorn der Athene zu (Ai. 762–777) und wird von dieser mit Wahnvorstellungen bestraft (Ai. 42–70).30 29 Das Drama wurde um das Jahr 450 v. Chr. in Athen uraufgeführt. 30 Das Eingreifen Athenas (Ai. 51f.) wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Während die ältere Forschung das Eingreifen der Göttin als Strafe für Aias’ Hybris gedeutet hat, wird es in der jüngeren Forschung eher im Sinn eines göttlichen Nicht-Ertragen-Könnens von Aias’ Übermenschlichkeit und Größe interpretiert. Zur Diskussion vgl. LefHvre (2001, 41ff.). Gegen die moderne Position, die die Schuld des Aias leugnet oder bagatellisiert, hat LefHvre unlängst überzeugend nachgewiesen, dass Aias in der Tragödie als rbqist¶r dargestellt wird, der gegen Götter und Menschen frevelt (vgl. 2001, 48–51). Das Eingreifen Athenas interpretiert LefHvre jedoch nicht als Strafe für Aias’ Beleidigung der Göttin, sondern im Sinn einer Verhinderung des Frevels gegenüber den Menschen, nämlich der Ermordung der Atriden: »Es ist klar, daß Aias’ frühere Hybris gegen Athena in keinem direkten Zusammenhang mit ihrem Handeln bei seiner Unternehmung der letzten Nacht steht. Daß die Göttin auf einen günstigen Zeitpunkt lauert, um sich an Aias rächen zu können, ist, die Wirksamkeit der Götter vorausgesetzt, eine absurde Annahme. Athena drängt Aias nicht wegen eines Vergehens gegen sie auf die Herde ab, sondern wird wegen einer sich auf der menschlichen Ebene vollziehenden Handlung aktiv« (69). Dagegen ist Folgendes einzuwenden: Der Zusammenhang zwischen Aias’ früherer Hybris gegen die Göttin und ihrem Eingreifen wird sowohl von Athena selbst, in der Mahnrede an Odysseus (Ai. 127f.) indirekt hergestellt, als auch vom Seher Kalchas (Ai. 756–780; insb. 759 u. 776f.). Dass Athena auf einen günstigen Zeitpunkt lauert, wie zuweilen angenommen wurde, ist tatsächlich etwas abwegig. Keineswegs absurd ist jedoch die Annahme, dass die Göttin nicht sofort die einzelne Freveltat rächt, sondern erst nach mehreren Verfehlungen einschreitet. Vgl. Sol. fr. 1, 25–29 Snell. Die Frage: »Schreitet Athena ein, weil sich Aias jetzt gegen die Menschen oder weil er sich früher gegen die Göttin vergangen hat?« (69) ist falsch gestellt. Hier handelt es sich nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Der beabsichtigte Mord an den Atriden ist nur die Spitze des Eisbergs. Als Argument gegen LefHvre lässt sich auch Folgendes anführen: Wenn Athena nur die Absicht gehabt hätte, den Mord an den Griechen zu verhindern, so hätte es völlig ausgereicht, die »heillose Lust« des Aias auf die Herde abzulenken (Ai. 52f.). Athena belässt es jedoch nicht bei diesem Eingriff, sondern forciert die Raserei des Aias und treibt ihn auf diese Weise ganz ins Unheil hinein (vgl. Ai. 59f.). Schließlich fordert sie den eingeweihten Odysseus dazu auf, unter den Griechen zu verbreiten, dass Aias statt der Griechen das Vieh niedergemetzelt hat (Ai. 67). Athena zielt also ganz bewusst darauf ab, Aias der Schande und der Lächerlichkeit preiszugeben. Für Aias, der sich selbst für den Besten hält und als solcher anerkannt und geehrt werden will, ist dies die größte aller Strafen (vgl. Ai. 401ff.). Für eine Deutung der von Athena geschickten Wahn-

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Die allgemeine Aussage, dass menschliche Hybris den Unwillen der Götter erregt und im Unglück endet, legt Sophokles dem Apollon-Seher Kalchas in den Mund: Denn solche übermäßigen, heillosen Leiber Werden gestürzt in schweres Unheil durch die Götter, Sagte der Seher, wenn, als Mensch geboren, Einer nicht auch nach Menschenmaße denkt.31 (Soph. Ai. 758–761; Übers. W. Schadewaldt)

Analog zu Aischylos wird hier die Hybris32 als eine Überhebung verstanden, die sich in anmaßenden Reden33 und Handlungen manifestiert. Die Genese dieser Hybris wird von Sophokles zwar nicht direkt thematisiert, aber angedeutet. Nachdem Athene Odysseus zum Zeugen von Aias’ Wahnvorstellungen gemacht hat, warnt sie diesen mit den Worten: […] rede du Gegen die Götter niemals ein vermessenes Wort, Noch auch erhebe dich zur Wichtigkeit, Sofern du mehr als jemand anders Wucht Hast in dem Arm oder in breiten Reichtums Tiefe. (Soph. Ai. 127–130; Übers. W. Schadewaldt)

Der Besitz von herausragenden physisch-geistigen Qualitäten und materiellen Gütern führt zu einem übersteigerten, aufgeblähten Selbstwertgefühl bis hin zur Selbstvergöttlichung, die sich in der verbalen Beleidigung und Missachtung der göttlichen Autorität äußert. Der in Übermut Entbrannte glaubt der göttlichen Führung und des Beistands nicht zu bedürfen34 (Soph. Ai. 767–775) und wähnt sich gottgleich.35

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vorstellungen als Strafe für Aias’ Beleidigung der Athena hat auch Rademaker (2005, 126) argumentiert. W. Willige übersetzt fstir !mhq¾pou v¼sim bkast½m 5peita lµ jat( %mhqypom vqom0 (Ai. 760f.) folgendermaßen: »wenn ein Mensch, nach Menschenart geschaffen, über Menschenmaß hinaus sich dünkt«. Vgl. Ai. 777: oq jat( %mhqypom vqom_m. Willige schlägt hier vor: »weil er nicht dachte wie ein Mensch.« Das Wort Hybris wird an dieser Stelle nicht gebraucht. Vgl. aber Soph. Ai. 1060ff., 1081, 1088. Zur Entehrung und Herabsetzung anderer Personen als Ausdruck von Hybris vgl. Aristot. rhet. II, 1378b. Dieser Aspekt der Hybris wird von Platon in den Nomoi betont: »wer sich aber in stolzem Dünkel erhebt, weil er stolz auf Reichtum ist oder auf Ehren oder auf körperliche Wohlgestalt verbunden mit Jugend und Unvernunft, und so in seiner Seele in Übermut (vbqir) entbrennt, als bedürfe er weder eines Herrschers noch eines Führers, sondern als sei er sogar imstande, andere zu führen, der bleibt, von Gott verlassen, allein zurück, und indem er in seiner Verlassenheit noch andere seinesgleichen an sich zieht, springt er herum und bringt dabei alles in Verwirrung, und gar vielen gilt er wirklich als jemand; doch nach gar nicht langer Zeit zahlt er der Gerechtigkeit eine nicht zu verachtende Strafe und richtet sich selbst und sein Hauswesen und den Staat völlig zugrunde.« (leg. 716a/b; Übers. K. Schöpsdau). Hier

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Sophokles geht ebensowenig wie Pindar davon aus, dass die Hybris eine unvermeidbare, zwangsläufige Begleiterscheinung von Erfolg und Güterbesitz ist. Auch wenn die Erfahrung der eigenen physischen oder geistigen Exzellenz die zur Überhebung neigenden Kräfte im Menschen fördert und das eitle SichGefallen ›im Wahn eigener Größe‹ (Sol. fr. 1, 34 Snell) provoziert, hat der Mensch doch immer die Möglichkeit, sich zu diesen Neigungen zu verhalten und einen mäßigenden Einfluß auszuüben.36 Die mahnenden Worte, die Sophokles der Göttin Athene in den Mund legt, appellieren an die vernünftige Instanz im Menschen und fordern diesen dazu auf, Stolz und Ehrgeiz zu zügeln.37 Freilich weiß Sophokles ebensogut wie Pindar, wie schwer dies ist. Die Hybris ist auch in den späteren sophokleischen Dramen ein immer wiederkehrendes Thema. In König Ödipus wird noch einmal der Zusammenhang zwischen Hybris und Verhängnis betont. Das notwendig folgende Verderben wird hier am Beispiel des Gewaltherrschers aufgezeigt, der die Hybris in ihrer extremsten Steigerung verkörpert. Der Tyrann erklimmt mit List und Gewalt den Gipfel der Macht und muss in der Folge Sturz und Elend erleiden: Doch Frevelmut (vbqir) schafft Gewaltherrn, Frevelmut, mit vielem eitel überfüllt, was nicht ersprießlich ist und niemals Heil bringt, er steigt bis zum Gipfel empor und taumelt hinab steil in sein Verhängnis Dort weiß er nicht festen Fuß zu fassen. (Soph. Oid. T. 873–879; Übers. W. Willige)

In der folgenen Strophe werden noch einmal wesentliche Manifestationen der Hybris benannt, nämlich rechtswidriges Handeln und fehlende Ehrfurcht vor wird noch einmal der Zusammenhang von Güterfülle, Hybris und Verderben in äußerst prägnanter Form dargestellt. 35 In Aischylos Die Perser wird am Beispiel des Xerxes aufgezeigt, dass sich der Hybristes (rbqist¶r) nicht nur gottgleich wähnt, sondern darüber hinaus sogar glaubt, die Götter beherrschen zu können (Pers. 749f.). 36 Die antiken Autoren des 5. Jh. v. Chr. waren bezüglich der Möglichkeit eines korrigierenden Umgangs mit überheblichen Tendenzen otimistischer als manche der gegenwärtigen Interpreten, die meinen, dass es dem Menschen nicht entspreche, die Hybris zu ›löschen‹. So z. B. Trawny (2003, 240). 37 Die von Sophokles angenommene Selbstverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln wurde in jüngerer Zeit insbesondere von Schmitt (1988a) (1988b) (1997) (1998) u. LefHvre (2001) betont. LefHvre (2001, 46) erklärt : »Er [sc. Sophokles] sieht offenbar den Menschen als verantwortlich für sein Tun an, wenngleich ihm ein simples Spiel von Schuld und Sühne fernliegt«. Vgl. auch LefHvre (1987). Vgl. ferner Winnington-Ingram (1980, 11), SchulteAltedorneburg (2001, 111–118). Ähnlich schon Schottlaender (1961, 5): »bei der Hybris, wie beim Frevel jeder Art, [bleibt] die Freiheit des Entschlusses als Ursprung vollziehbarer Einund Umkehr gewahrt«.

Das Phänomen der Hybris

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den Göttern und den heiligen Stätten. Die Aufzählung der Freveltaten mündet in der Artikulation des Wunsches, dass demjenigen, der »des Frevels Pfad betritt in Worten oder Tat« (Oid. T. 883f.) »ein schlimmes Schicksal« (Oid. T. 887; Übers. W. Willige) ereile. Die Erfüllung dieses Wunsches wird in der letzten Strophe des Chorliedes dem ›Weltbeherrscher‹ Zeus anheimgestellt38 (Oid. T. 903–5).39 Das Gebet an Zeus lässt erkennen, dass die Gewissheit einer allgegenwärtigen, jeden Frevel strafenden Gottheit merklich geschwunden ist. Die Sicherheit bezüglich eines in das menschliche Geschehen eingreifenden, das Recht hütenden Gottes, die die Tragödien des Aischylos bestimmt und auch noch im Aias gegenwärtig ist, ist hier der bloßen Hoffnung gewichen. König Ödipus gehört einer Zeit an40, in der die aufklärerische Kritik41 schon ihre Spuren hinterlassen hatte und der Glaube an die olympischen Götter am Verblassen war.42 »Nirgend ist Apoll in Ehren offenbar : / das Göttliche schwindet« (Oid. T. 909f.; Übers. W. Willige), heißt es resignierend in der letzten Strophe unseres Chorliedes.

c)

Hybris bei Herodot

Das Phänomen der Hybris wird auch in den herodoteischen Historien in eingehender und intensiver Weise thematisiert. In Anknüpfung an Aischylos und 38 Vgl. Soph. El. 174f. 39 Das Gebet an Zeus bezieht sich zwar nicht unmittelbar auf den in der vorangegangenen Strophe artikulierten Wunsch, ist aber dennoch damit in Zusammenhang zu bringen. Der Chor wünscht an dieser Stelle, dass die Orakelsprüche in Erfüllung gehen mögen und deren Erfüllung vor allen Menschen offenbar werde. Gemeint ist hier insbesondere das LaiosOrakel, das sich schon erfüllt hat, dessen Erfüllung nun jedoch zur Bekräftigung des von Iokaste in Zweifel gezogenen Glaubens an die Wahrheit der Orakelsprüche allen Menschen offenbar werden soll (vgl. dazu Scodel 1982, 221f.; Schmidt 1989, 47; Nicolai 1992, 57; Kullmann 1994, 110f.). Da das Laios-Orakel die Prophezeiung eines schlimmen Schicksals beinhaltet, das der Sage zufolge aufgrund einer Freveltat über Laios verhängt wurde (zur sophokleischen Voraussetzung des mythologischen Hintergrundes vgl. Lloyd-Jones 1983, 121–123 u. 2002), und das delphische Orakel unabhängig davon oftmals den Frevlern oder den im Frevel Begriffenen Missgeschicke, Niederlagen, Unheil vorausgesagt hat, kann das Gebet an Zeus durchaus mit der vorangegangenen Strophe in Zusammenhang gebracht werden. Der Wunsch, dass den Frevlern ein schlimmes Schicksal ereile, sowie das Gebet, dass die Orakelsprüche in Erfüllung gehen mögen, sind nahezu identisch. Die umstrittene und vieldiskutierte ›Adressierung‹ des 2. Stasimon ist für diesen Gedanken irrelevant. 40 Das Drama wurde in Athen gegen 427/26 v. Chr. uraufgeführt. Müller (1984) plädiert für eine frühere Datierung, nämlich 433 v. Chr. 41 Zur Religionskritik des 5. Jh. v. Chr. vgl. Nilsson (GGR I, 767ff.) und Burkert (GR, 460ff.). 42 Schmidt (1989, 41) deutet die ganze Tragödie im Sinn einer Gegenaufklärung. Sophokles verfolge die Absicht, »das Ansehen bestimmter religiöser Institutionen, namentlich das Sehertum und das Orakelwesen, gegen die aus der vordringenden Aufklärung resultierenden Zweifel zu retten«. Ähnlich Burkert (2000), der im König Ödipus eine »Bestätigung der Mantik« (20) sieht, in der sich für Sophokles das Göttliche manifestiere (18).

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Sophokles betont Herodot die verderblichen Folgen. In der Artabanus-Rede, die den persischen König Xerxes von dem geplanten Feldzug gegen die Griechen abbringen will (Hdt. 7, 10), wird darauf verwiesen, dass der Gott das übermütige Sich-zur-Schau-Stellen (vamt²feshai) nicht duldet und alles Überragende (t¹ rpeq´wom) stürzt: Du siehst, wie Gottes Blitz die höchsten Geschöpfe trifft und nicht duldet, daß sie sich in ihrem Hochmut erheben43, während ihm das Kleine nichts ausmacht. Du siehst, wie seine Geschosse immer in die größten Gebäude und derartige Bäume schlagen. Denn Gott pflegt alles zu stürzen, was sich überhebt.44 So wird auch ein großes Heer von einem kleinen geschlagen in folgender Art: wenn nämlich der neidische Gott Panik im Heer verbreitet oder einen Donner erdröhnen läßt, wodurch es in einer Weise umkommt, die seiner selbst unwürdig ist. Denn Gott duldet nicht, daß ein anderer außer ihm stolz ist. (Hdt. 7, 10, d/e; Übers. J. Feix)

Analog zu den Tragödien wird hier vor dem Sturz als Folge der Hybris gewarnt.45 Durch das Aufgreifen der populären Vorstellung vom Neid (vhºmor) der Götter46 erscheint das menschlich-göttliche Geschehen jedoch in einem völlig anderen Licht. Der Mensch wird hier in gewisser Weise entlastet und der Gott belastet. Indem als Bezugspunkt des göttlichen Missfallens nicht Rechtswidrigkeit und ehrfurchtsloses Verhalten gegen Götter und heilige Stätten betont werden, sondern die Demonstration der sich in militärischer Stärke manifestierenden Größe, rückt das menschliche Fehlverhalten etwas in den Hintergrund bzw. wird auf die Zurschaustellung der eigenen Potenzen reduziert. Die Schuld liegt hier mindestens ebenso beim Gott, der Größe im irdischen Bereich nicht ertragen kann und aus Neid alles Überragende stürzt. »Denn Gott duldet nicht, daß ein 43 Im Griechischen steht hier das Verb vamt²feshai. Der Akzent liegt also auf dem Sich-zurSchau-Stellen, auf der Demonstration eigener Größe. 44 Die Übersetzung von J. Feix ist etwas irreführend. Der Ausdruck t¹ rpeq´wom bedeutet das Überragende, Herausragende, Emporragende und bezeichnet hier den objektiven Tatbestand der sichtbaren Größe; während die Selbstüberhebung eher im Bereich der subjektiven Haltungen und Handlungsweisen angesiedelt ist. Marg übersetzt wie folgt: »Denn dem Gott gefällt es, alles, was herausragt, zu stutzen«. 45 Zur Intention der Artabanus-Rede vgl. Hdt. 7, 16 a/b. 46 Die alte Vorstellung vom Neid (vhºmor) der Götter, die insbesondere die volkstümliche Anschauung beherrschte, findet sich bei Herodot viel häufiger (vgl. Hdt. 1, 32, 1; 1, 32, 9; 3, 40; 4, 205; 7, 46; 8, 109) als z. B. bei Pindar. Die pindarischen Gedichte sind auch nicht ganz frei davon, allerdings taucht die Phthonos-Vorstellung hier nie im Zusammenhang mit der Hybris auf, sondern ausschließlich im Kontext eines durch Zufall oder eigene Leistung erlangten Glücks. Im Hinblick auf fremdes Wohlergehen und Erfolg spricht Pindar in einigen Gedichten die Bitte aus, dass die Götter nicht neidisch sein mögen und dem Glücklichen weiterhin wohlgesonnen sind (vgl. O. 13, 25; P. 8, 71f.; P. 10, 20f.; I. 7, 39). Die Vorstellung vom Neid der Götter wurde erst von Platon (Phaidr. 247a) und Aristototeles (metaph. 1, 983a) explizit zurückgewiesen. Zur Phthonos-Vorstellung vgl. Dodds (1970, 18ff.) Zu Phthonos bei Pindar vgl. Bulman (1992).

Das Phänomen der Hybris

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anderer außer ihm stolz ist« (oq c±q 1ø vqom´eim l´ca b he¹r %kkom C 2yutºm Hdt. 7,10, e; Übers. J. Feix).47 Bei Herodot findet sich jedoch auch die Vorstellung von der Schuldlosigkeit der Götter. Das prägnanteste Beispiel ist die Kroisos-Geschichte. Der Versuch des Lyderkönigs Kroisos, die Schuld an seiner Niederlage gegen den persischen König dem delphischen Gott anzulasten (Hdt. 1, 87, 4), mündet in eine strenge Zurechtweisung durch die Pythia (1, 91): Kroisos solle sich selbst die Schuld zuschreiben, da er den von Apollon erhaltenen Spruch – wenn er gegen die Perser ziehe, werde er ein großes Reich zerstören – nicht verstanden habe. Wenn Kroisos gut beraten gewesen wäre, hätte er Apollon gefragt, ob dieser sein eigenes oder Kyros’ Reich meine. Die Kroisos-Erzählung im Ganzen ist eine Darstellung jener Abfolge von Glück, Hybris und Verderben, die auch bei Pindar und den Tragikern zu finden ist. Der von Herodot gestaltete Kroisos lässt sich von Reichtum und Machtfülle zu Überhebung und Selbstüberschätzung verleiten (vgl. Hdt. 1, 30, 3; 1, 54), die ihn schließlich ins Elend stürzen (1, 86).48

d)

Zusammenfassung

Anhand des ausgewerteten Materials lassen sich erste Orientierungspunkte für ein Verständnis des mit dem Ausdruck vbqir bezeichneten Phänomens gewinnen. Die Analyse der ausgewählten Texte zeigt, dass die Hybris ein äußerst komplexes Phänomen darstellt. Mit vbqir werden in der spätarchaisch-klassischen Literatur sowohl bestimmte geistige Zustände und seelische Haltungen als auch Handlungen und Verhaltensweisen bezeichnet. In dem folgenden Resümee 47 In Hdt. 3, 80 wird deutlich, dass der Neid eben nicht nur ein Wesenszug der Erfolglosen, Leistungsschwachen, Benachteiligten ist, sondern auch der in höchster Machtfülle Stehenden. Der Neid der Mächtigen ist Ausdruck des eifersüchtigen Wachens darüber, dass kein anderer auch nur in die Nähe der eigenen Machtfülle und Größe gelangt. Er entspringt dem Ehrgeiz, alle anderen zu übertreffen und den höchsten Rang einzunehmen (vgl. Fränkel 1969, 544). Die Zurückführung des Neides auf die Ehrliebe (vikotil¸a) macht deutlich, dass die populäre Vorstellung vom Neid der Götter gar nicht so weit von der Göttervorstellung der gebildeteren Kreise entfernt ist, wie es zunächst den Anschein hat. Aischylos und Sophokles sind zwar häufig darum bemüht, eine geläuterte Gottesauffassung zur Darstellung zu bringen. In den Tragödien scheint jedoch immer wieder durch, dass die darin agierenden Götter vorrangig um ihre eigene Ehre (til¶) bemüht sind. Aus Athenas zorniger Reaktion auf die Prahlerei des Aias spricht das verletzte Ehrgefühl, das wohl letztlich auch die harte Strafe motiviert (vgl. auch Ai. 180ff.; Aischyl. Pers. 831). In der Dichtung des frühen und mittleren 5. Jh. v. Chr. ist die alte homerische Vorstellung von dem gekränkten Gott, der aufgrund von direkter Beleidigung und mangelnder Ehrbezeigung in Zorn entbrennt und Rache übt (m´lesir), trotz aller Reifung des Gottesbildes immer noch präsent. 48 Zur Abfolge Glück – Hybris vgl. auch Hdt. 3, 80.

86

Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

sollen unter Vernachlässigung der Differenzen die Gemeinsamkeiten der Konzepte herausgehoben49 und wesentliche Merkmale des Phänomens in verdichteter Form dargestellt werden. Als zentrales Merkmal der Hybris scheint in den Texten eine falsche Einschätzung der eigenen Kräfte und Kompetenzen und der Stellung im menschlich-göttlichen Ordnungsgefüge auf.50 Aus dem Besitz von herausragenden physischen und geistigen Qualitäten sowie aus der Fülle an äußeren Lebensgütern – so der immer wieder neu formulierte Gedanke – erwächst im Fall mangelnder Besonnenheit eine Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung.51 Der von Schicksal und Göttern Begünstigte verliert im Glücks- und Erfolgsrausch die Fähigkeit zum realistischen Urteil und verfällt einem hypertrophen Selbstgefühl. Die falsche Einschätzung der eigenen Fähigkeiten geht mit einer falschen Positionierung innerhalb der gegebenen Ordnung einher. Der Hybristes (!mµq rbqist¶r) wähnt sich gottgleich sowie allen Menschen überlegen, auch jenen, die ihm aufgrund von Herkunft, Güterbesitz, Prestige und Leis49 Die Konzepte weisen deutliche Übereinstimmungen auf. Es werden dieselben Aspekte thematisiert, auch wenn die Gewichtung teilweise differiert. Hinzu kommen starke Ähnlichkeiten in der inhaltlichen Ausgestaltung der Motive. Man kann insofern von einer weitgehend homogenen Konzeption der Hybris sprechen. Fisher (1992, 1) vertritt in seiner umfassenden Studie zur griechischen Hybris die weitergehende These, dass es eine Kernbedeutung (central meaning) des Begriffs gibt, die die gesamte griechische Dichtung durchzieht: »that there is a single ›focal‹ or ›core‹ meaning to the concept of hybris, that unites its uses in all our surviving texts from Homer to New Comedy«. 50 Anders Fisher (1992, 1), der in der Entehrung von Göttern und Menschen den zentralen Bedeutungsgehalt des Begriffs sieht: »The central meaning may be expressed thus: hybris is essentially the serious assault on the honour of another, which is likely to cause shame, and lead to anger and attempts at revenge«. Das mag für die homerischen Epen zutreffend sein, in reifarchaisch-frühklassischer Zeit tritt jedoch als zweites Moment das unmäßige, die Rechtsordnung verletzende Macht- und Gewinnstreben hinzu, das zwar stets mit der Entehrung von Göttern und Menschen verbunden ist, sich aber nicht unter diese subsumieren lässt. In seiner Fixierung auf Aristot. rhet. 1378b übersieht Fisher zudem, dass in der klassischen Dichtung die als Hybris bezeichneten Beleidigungen und Kränkungen zumeist im Zusammenhang mit der Haltung der Aufgeblasenheit (rpeqgvam¸a, tOvor) sowie der Selbstgefälligkeit und Anmaßung (aqh²deia) thematisiert werden. Die Überheblichkeit des Sinns wird als Grund des gottlosen, entehrenden, rechtswidrigen Handelns kenntlich gemacht und kann von daher als Kern der Hybris gefasst werden. Zur Hybris als seelische Disposition vgl. Bertram, vbqir jtk., ThWbNT 8 (1969, 295–298), Rieks, Hybris, HWPh 3 (1974, 1234), Dickie (1984, 83–109). Nach Bertram (1969, 296) ist bereits bei Homer die »Überheblichkeit der Gesinnung« bei der Verwendung des Begriffs vielfach mitgesetzt (vgl. Hom. Od. 14, 262; 17, 431; Il. 1, 203). Fishers (1992, 245) Bestreitung der gängigen These, dass Sophrosyne und Selbsterkenntnis als positive Gegenbegriffe zur Hybris anzusehen sind (»there is no reason to see hybris as the main contrary of sophrosyne or ›self-knowledge‹ in all its aspects«), ist zurückzuweisen, da diese Bestreitung auf einer allzu engen Auffassung des Hybris-Begriffs beruht. Zu einer ausführlichen Kritik an Fisher vgl. Cairns (1996, 1–32). 51 Vgl. Sol. fr. 5, 9 Snell; Thgn. 153f.; Pind. O. 1, 55–57; P. 2, 26–28; Soph. Ai. 127–130, 758–779; Hdt. 1, 30, 1–3; 1, 54, 1; 1, 204, 2; 3, 80; Plat. leg. 716a/b.

Das Phänomen der Hybris

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tungen faktisch ebenbürtig sind.52 Diese Art von Selbstverkennung53 wird in den Zeugnissen als Grund eines verfehlten, frevelhaften Handelns dargestellt. Der mit Selbstüberschätzung und Megalomanie einhergehende Anspruch auf die höchste Güterfülle generiert ein maßloses Macht- und Gewinnstreben, das die dem Menschen durch Recht und Status gesetzten Grenzen überschreitet und sich in einem rücksichtslosen und rechtsbrüchigen Handeln manifestiert.54 Aus Überhebung und Selbstvergöttlichung resultiert zudem ein Mangel an Ehrfurcht und Achtung gegenüber Göttern und Menschen, der sich in verbalen Beleidigungen, Kränkungen und Entehrungen äußert.55 Diese beiden Momente – unmäßige Strebensziele und mangelnde religiöse und soziale Achtung – sind im konkreten Handlungsvollzug unmittelbar verbunden und führen letztlich zu Unglück und Verderben.56 In den literarischen Zeugnissen wird immer wieder die Unausweichlichkeit des Scheiterns des Hybristes betont.57 Die pindarischen Gedichte, die sophokleischen Dramen und historischen Logoi implizieren den Gedanken, dass ein Handeln, das der Natur des Menschen nicht gemäß ist und in Diskrepanz zur inneren und äußeren Realität steht, zum Misserfolg verurteilt ist. Die Verkennung der Begrenztheit der eigenen Kräfte, die daraus resultierende fehlerhafte Bestimmung des Zustehenden und Erreichbaren sowie die falsche Einschätzung der konkreten Situation und der am Handlungsprozess beteiligten Akteure führen zwangsläufig zum Misslingen der Unternehmungen. Betrachtet man die Hybris-Konzeption der genannten Autoren unter dynamischen und axiologischen Gesichtspunkten, so zeigt sich zum einen, dass hier ein Phänomen dargestellt wird, das analog zum Verlauf einer physischen Krankheit zunehmend den ganzen Menschen erfasst und allmählich alle psychischen Kräfte und Handlungen bestimmt.58 Zum anderen ist zu beobachten, dass die Hybris als Ursache von ethischen Fehlhaltungen, der jaj¸a59 betrachtet wird. Aus der falschen Selbsteinschätzung resultieren praktische Unvernunft, 52 Vgl. Aischyl. Pers. 749f.; Sept. 438ff; Pind. P. 2, 26f.; Soph. Ai. 766–777; Hdt. 1, 204, 2; Plat. leg. 716a/b. 53 Die falsche Selbsteinschätzung wird erst in der klassischen Philosophie, von Platon (vgl. Phil. 48d/e) und Aristoteles (vgl. eth. Nic. 1125a20–30), als Selbstverkennung bezeichnet und damit als Gegenbegriff zur Selbsterkenntnis aufgezeigt. 54 Vgl. Aischyl. Pers. 825f.; Ag. 381–384; Pind. O. 13, 9f.; P. 2, 28; 8, 11f.; I. 7, 47f.; Soph. Oid. T. 873, 883–85; Hdt. 3, 80; 8, 77; Plat. leg. 716a/b. 55 Vgl. Hes. erg. 134–137; Aischyl. Pers. 809–812; Sept. 438ff.; Soph. Ai. 766–777; Oid. T. 886; Hdt. 8, 109. 56 Vgl. Hes. erg., 132ff.; Sol. fr. 1, 7ff.; fr. 3,8; fr. 3, 15ff. Snell; Thgn. 605f., 693, 1103f.; Bakchyl. dith. 1, 57ff. Maehler ; Pind. O. 1, 57f.; P. 2, 29f.; I. 7, 43ff.; Aischyl. Pers. 807f., 821f.; Sept. 444f.; Eu. 538ff.; Soph. Ai. 758–761; Oid. T. 873–879; Hdt. 1, 86; 1, 214; 7, 10; 8, 109. 57 Vgl. Pind. P. 8, 13–15; I. 7, 43–48; Aischyl. Pers. 820–22; Eu. 525–565; Soph. Oid. T. 873–879; Hdt. 7, 10. 58 Vgl. insbes. Aischyl. Pers. 821f. und Soph. Oid. T. 873ff. 59 Vgl. Soph. Ai. 133.

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Unmäßigkeit im Streben und Handeln, Rechtlosigkeit und Gottlosigkeit. Das bedeutet freilich nicht, dass jedes Fehlverhalten unter den Begriff der Hybris subsumiert wird. Auf diesen Aspekt hat Bertram (ThWbNT 8 [1969], 296 Fußn. 7) überzeugend hingewiesen: »Ein Bruch der Ordnungen, die durch Gewohnheit oder Gesetz vorgeschrieben sind, ist zunächst !dij¸a. Er wird vbqir, wenn der Bruch aus überheblichem Stolz oder Anmaßung hervorgeht. So macht das Motiv aus bloßer !dij¸a einen Akt der vbqir.« Entscheidend sind die der Fehlhandlung zugrunde liegenden Motive und Intentionen der agierenden Person. Eine Verfehlung wird nur dann als Hybris beurteilt, wenn sie in einem falschen Selbstverhältnis gründet. Nach der Darstellung der Hybris-Konzeptionen soll im Folgenden die apollinisch inspirierte Auffassung von Selbsterkenntnis untersucht werden, die in der spätarchaischen und klassischen Literatur, insbesondere bei Pindar, Sophokles und Herodot zur Darstellung gelangt. Da sich Spuren dieser Form der Selbstbesinnung auch bei anderen Dichtern dieser Epoche finden lassen, werden weitere Autoren einbezogen. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext Texte von Aischylos, Simonides, Bakchylides, Theognis, Solon.

2.

Apollinische Selbsterkenntnis in Pindars Epinikien

a)

Pindars Delphi-Bezug

Die pindarischen Gedichte sind für die Untersuchung einer in apollinischer Tradition stehenden Selbsterkenntnis von großer Bedeutung, da Pindar der Überlieferung zufolge ein besonderer Verehrer des Gottes Apollon war60 und in Delphi höchste Wertschätzung erfuhr. Nach dem Bericht des Pausanias (IX 23, 3) wurde Pindar von der delphischen Priesterschaft zu den Theoxenien61, zu den 60 Vgl. insbes. die Fragmente der pindarischen Hymnen auf Zeus und Apollon sowie die Paiane. Apollon ist jedoch auch in den Epinikien stets präsent als Adressat von Anrufungen und Gebeten (vgl. z. B. P. 8, 61–69) oder als Gegenstand der preisenden Darstellung (vgl. z. B. P. 5, 63–69; P. 9, 40–49). Zur Apollon-Verehrung Pindars vgl. Wilamowitz (1966, 66–88), Fränkel (1927, 49) (1969, 546 Fußn. 15), Farnell (1961, 462). 61 Die Theoxenien waren Speiseopfer, die den Sinn hatten, die Götter zu ehren und die Beziehungen zwischen Menschen und Göttern zu intensivieren. Vgl. dazu RE 5 A, 2 (1934, 2256). Zu den Theoxenien vgl. auch Mommsen (1878, 299ff.) u. Nilsson (1906, 160ff.) Eine Einladung zu diesem Fest war eine besondere Ehrung und Auszeichnung (vgl. Mommsen 1878, 301f.; Nilsson 1906, 161). Von den Theoxenien ist zwar in dem Pausanias-Bericht nicht explizit die Rede. Es heißt dort, dass die Pythia den bereits in ganz Griechenland geschätzten Pindar zu noch höherem Ruhm erhob, »indem sie den Delphern befahl, von allen Erstlingsgaben an Apollon den gleichen Anteil zuzuweisen« (Paus. IX 23, 3; Übers. E. Meyer). Unter Berücksichtigung von Plutarch lässt sich die Aussage jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Theoxenien beziehen. Plutarch (de sera 557F) berichtet davon, dass die

Apollinische Selbsterkenntnis in Pindars Epinikien

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Festmählern zu Ehren der Götter eingeladen. Auf Geheiß der Pythia sollte Pindar derselbe Anteil an den Opfergaben (!paqwa·) gegeben werden wie den anderen Teilnehmern des Mahles. Pausanias berichtet zudem, dass sich im delphischen Apollontempel ein hqºmor Pimd²qou befand (X 24, 5). Der »Thron ist aus Eisen«, so Pausanias, »und auf ihm soll Pindar gesessen haben, wenn er nach Delphi kam, und die Gesänge gesungen haben, die sich auf Apollon beziehen« (Übers. E. Meyer). Diese Geschichte ist der Legendenbildung zuzurechnen und besitzt aufgrund der uns bekannten Aufführungspraxis der religiösen Lieder wenig historische Glaubwürdigkeit. Die von Pausanias berichtete Teilnahme an den delphischen Theoxenien und die Zuweisung von Opferportionen könnten hingegen der historischen Wirklichkeit entsprechen.62 Da Pindar viele Lieder für den kultischen Gebrauch sowie Oden für die Sieger der Pythischen Spiele verfasst hat, war er in Delphi bestens bekannt und gewiss hoch geachtet.63 Selbst wenn man skeptischer ist und die berichtete Teilnahme für nicht authentisch hält, muss dem Bericht nicht jeder historische Wert abgesprochen werden. Ein historischer Kern ist sicherlich enthalten. Die Geschichten verweisen darauf, dass Pindar von der delphischen Priesterschaft Ehre – in welcher Form auch immer – zuteil geworden ist.64 Nachkommen des Dichters an den delphischen Theoxenien teilnahmen und einen Anteil an den Opfergaben erhielten (!malm¶shgti d³ t_m 5macwor Heonem¸ym ja· t/r jak/r 1je¸mgr leq¸dor, Dm !vaiqoOmter to»r Pimd²qou jgq¼ttousi kalb²meim !pocºmour). Die glaubhaft berichtete Teilnahme der Nachkommen an jenem Opferfest lässt sich als Bewahrung eines Rechtes deuten, dass ursprünglich Pindar selbst zugebilligt wurde (so Mommsen 1878, 302). Zu dieser Frage vgl. auch Nilsson (1906, 161 Fußn. 2). Der Bericht von Pindars Anteil an den Opfergaben findet sich auch in späteren Zeugnissen, allerdings teilweise in stark modifizierter Form. Vgl. dazu RE 20, 2 (1950, 1612). Förstel (1972, 126 Fußn. 121) betrachtet die späteren Berichte in den Pindarviten als vergröbernde Entstellungen. 62 Für die Historizität plädiert die ältere Forschung: Lenschau RE 20, 2 (1950, 1612), Förstel (1972, 126). Lefkowitz (1981, 65) ist in Bezug auf die Pausanias-Berichte über Pindar vorsichtig. Sie spricht von »mute testimony«, da die berichteten Sachverhalte von Pindar selbst nicht erwähnt werden. Skeptischer ist Race (1986, 4), der den Zeugnissen keinen historischen Wert beimisst und die Berichte über die delphische Pindar-Ehrung als nachträgliche Reflexion auf Pindars apollinische Dichtung und Apollonverehrung deutet: »All these tales reflect the deeply religious nature of his poetry, and in particular his great devotion to Apollo, for whom he wrote many hymns and who figures very prominently in the victory odes«. Vgl. auch Race (1997, 7). 63 Nilsson (1906, 162) führt an, dass in dem Schatzhaus der Athener in Delphi ein Ehrendekret für Kleochares aus Athen gefunden worden ist, welches bezeugt, dass Kleochares von den delphischen Priestern mit Vorzugsrechten beschenkt wurde, weil er Apollon ein Prosodion, einen Paian und einen Hymnus zugeeignet hatte. Vor diesem Hintergrund ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Pindar, der Apollon unzählige Lieder geweiht hat, in Delphi eine ganz besondere Ehrung, wie z. B. die Teilnahme an den Theoxenien, erfahren hat. 64 Pindar bezeichnet sich im Paian für die Athener (fr. 52e Snell) als Diener (heq²pym) des Apollon (Vers 45). Freilich ist hier insbesondere der Musendienst gemeint, d. h. Pindar versteht sich als Diener des Apollon lousac´tgr. Vgl. auch fr. 52f Snell und fr. 52 m Snell. Zu Pindars Selbstverständnis als Diener Apollons vgl. Farnell (1961, 462).

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In der Forschung ist schon häufig beobachtet worden, dass das cm_hi seautºm bei Pindar eine leitmotivische Bedeutung hat. Race (1986, 7) meint in Bezug auf das pindarische Werk: »It is full of warnings about man’s dependence upon the gods, his limitations, and the hardships of life. His message, if there is one, is essentially that of the mottoes on Apollo’s temple at Delphi: ›Know Thyself‹ and ›Nothing in Excess‹«. Ähnlich Janke (2005, 21).65 Die folgende Untersuchung wird an diese Beobachtungen anknüpfen und anhand ausgewählter Texte den Bedeutungsgehalt und den Stellenwert der apollinischen Selbsterkenntnis bei Pindar herausarbeiten. Da die pindarischen Gedichte einen schwierigen, durch extreme Verdichtung und schnelle, unvermittelte Übergänge charakterisierten Stil aufweisen66, werden an vielen Stellen sorgfältige Analysen vorgenommen, die zu Wiederholungen in der Darstellung der Gehalte und Aussagen führen können.

b)

Der Mensch als ›Tagwesen‹ und ›Traum eines Schattens‹ (P. 8, 88–97)

Pindars Konzeption der Selbsterkenntnis wird insbesondere in der achten Pythie67, in der sechsten Nemee und der elften Nemee greifbar. Aus der achten Pythie, dem Siegeslied für Aristomenes von Aegina, sind in diesem Zusam65 »Seine Mahnungen, an Siegreiche, Ruhmerfüllte, Machtvolle adressiert, verdichten sich zu Gnomen delphischer Religiosität: Erkenne dich selbst! Gedenke, daß du ein Sterblicher bist!« (Janke 2005, 21). Ähnlich bereits die ältere Forschung: Wilamowitz (1966, 83), Kunsemüller (1935, 30), Schadewaldt (1989, 278) (1975, 28). 66 Die Dunkelheit und schwere Verstehbarkeit der pindarischen Dichtung wurde häufig beobachtet. Allerdings gibt es unterschiedliche Erklärungen dieses Phänomens. Schadewaldt (1989, 242) und andere Forscher erklären das »assoziative Element« der pindarischen Dichtung mit dem »›vorlogischen‹ Charakter der pindarischen Denkform […], die noch der archaischen Welt angehört«. Bowra (1964, 210) spricht vom »oracular style«, den Pindar in Anknüpfung an die delphischen Orakel entwickelt habe, um den Eindruck von Erhabenheit und Distanziertheit zu erzeugen: »The responses of oracles, such as those of the Pythia at Delphi, were not only well known but impressive through their riddling ambiguity, and we may suspect that Pindar used some of their devices to secure his own effects of majesty and remoteness«. Von »orakelhafter Dunkelheit« der pindarischen Sentenzen hat bereits Dornseiff (1921, 130) gesprochen. Nach Fränkel (1969, 487) beruht »Pindars Dunkelheit« darauf, »daß er im spätesten Alter seiner Epoche als Meister, wissend und gläubig, zu Verstehenden und Gläubigen spricht in gesammelter, abkürzender Kunstform, nicht beschreibend und erklärend sondern andeutend und erinnernd« (so auch Dihle 1991, 86–90). Fränkel geht demnach davon aus, dass die zeitgenössischen Hörer die Lieder verstanden haben. Dies bezweifelt Latacz (1991, 482f.): »Mögen die Hörer auch hochgebildete Adlige gewesen sein, die zudem mit dem Typus ›Chorlieddichtung‹ jahrelange Erfahrung hatten und das Pindar-Lied darum viel selbstverständlicher in ihren Erwartungshorizont einordnen konnten – es bleiben Zweifel. Möglicherweise werden die meisten Pindar-Lieder einigermaßen zureichend erst von der neuzeitlichen philologischen Interpretation verstanden«. 67 Zur Interpretation von P. 8, 88–97 vgl. Fröhlich (2013).

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menhang vor allem die letzten beiden Strophen (insbes. Verse 88–97) von Interesse: Wem aber jüngst ein Erfolg zufiel, der erhebt sich in hoffnungsbeflügeltem Mannesmut zu überquellender Wonne, sein Trachten läßt Reichtum hinter sich. Schnell wächst bei den Menschen die Freude, ebenso schnell fällt sie auch zu Boden, wenn sie durch ein verfehltes Denken um ihren Grund gebracht wird.68 Eintagswesen! Was ist einer, was ist einer nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch. Aber wenn gottgeschenkter Glanz kommt, ruht helles Licht und freundliches Dasein auf den Menschen. 1p²leqoi7 t¸ d´ tir; t¸ d( ou tir; sji÷r emaq %mhqypor. !kk( ftam aUcka diºsdotor 5kh,, kalpq¹m v´ccor 5pestim !mdq_m ja· le¸kiwor aQ¾m. (Pind. P. 8, 88–97; Übers. E. Dönt)

Die vielzitierten Verse aus der achten Pythie, einem der letzten Gedichte Pindars69, haben in der Forschung eine besondere Würdigung erfahren. Fränkel (1960, 23) spricht in Bezug auf P. 8, 95–96a von einem Vers, »der in seiner gedrängten Kraft in den erhaltenen Werken des Dichters nicht seinesgleichen hat«. Nach Theunissen (2002a, 45) fasst der Vers »die tiefsten Einsichten eines langen Dichterlebens zusammen«.70 Gewiss haben die Verse auch bei den Zeitgenossen ihre Wirkung nicht verfehlt. Auch wenn Pindar geistig und stilistisch einer anderen Epoche angehörte und das Athen der Jahrhundertmitte nur noch wenig mit seiner Dichtung anzufangen vermochte, wird er zweifellos eine Rezeption erfahren haben. Auf Dichterpersönlichkeiten wie Sophokles hatten die pindarischen Lieder eine inspirierende Wirkung. Darauf verweist zumindest die Selbsterkenntnis-Passage aus der Prologszene des Aias, die eine große gedankliche Nähe zu den letzten Strophen der achten Pythie erkennen lässt.71 Zunächst beschreibt Pindar das Hochgefühl desjenigen, der, wie der besungene Athlet, einen sportlichen Sieg oder eine andere großartige Leistung vollbracht hat. Der Siegreiche ist voller Freude, Zuversicht und Selbstvertrauen. 68 Eine bessere Übersetzung dieser Strophe findet sich bei Hölscher (2002): »Wer aber grad’ ein Schönes errungen hat/ Fliegt vor großer Üppigkeit/ Voller Hoffnung empor mit beflügeltem Mut: / Stärker als Reichtum ist sein Trachten. / In kurzem wächst das Freudige den Menschen, /So aber auch stürzt es zu Boden, /Von abgewandter Gunst erschüttert«. 69 Das Gedicht wird auf das Jahr 446 v. Chr. datiert. Zur Datierung vgl. Pfeijffer (1999, 425). Pindar war zu diesem Zeitpunkt über 70 Jahre alt (als Geburtsjahr nimmt man 522 oder 518 v. Chr. an). Vgl. DNP 9 (2000, 1031). Nach den antiken Quellen ist Pindar im Alter von 80 Jahren gestorben. 70 Vgl. auch die Urteile von Burton (1962, 193) und Carne-Ross (1985, 183 u. 189). 71 So auch Fränkel (1960, 34f.).

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Aufgrund des Erreichten blickt er optimistisch in die Zukunft in Erwartung weiterer Siege und Erfolge, er fliegt »voller Hoffnung empor mit beflügeltem Mut« (8, 90f.; Übers. U. Hölscher). Die Erfahrung lehrt jedoch, so die in Vers 93 einsetzende Gegenbewegung, dass das Glück plötzlich in Unglück umschlagen kann, dass die Götter, der Daimon72, die Tyche73 ihre Gunst von einem Tag zum anderen abwenden können74 und alle hochfliegenden Hoffnungen und Erwartungen gegenstandslos werden (8, 92–94).75 Dieser Erfahrungssatz bildet die Basis für die nun folgende anthropologische Aussage. Pindar stellt nach einer ersten Bestimmung des Menschen als ›Tagwesen‹ (1p²leqor) die Identitätsfrage (t¸ d´ tir; t¸ d( ou tir;) und gelangt zu einer Antwort, die sowohl die unbeständige, vergängliche personale Existenz als auch das unvergängliche Selbst des Menschen thematisiert. Doch zunächst zur Bestimmung des Sterblichen als ›Tagwesen‹. Die Bedeutung des Ausdrucks 1p²leqor bzw. 1v¶leqor ist vielfach untersucht worden.76 Grundlegend ist noch immer die Arbeit von Fränkel ([1946] 1960). Nach Fränkel lässt sich das Kompositum von 1p· und Bl´qa entweder als ›das was auf Tag ist‹ deuten, also als das Kurzlebige, gleichsam nur einen Tag Lebende bzw. das jeden Tag Wiederkehrende, von-Tag-zu-Tag-Dahinlebende oder als ›das was Tag auf sich hat‹, d. h. was dem Tag unterworfen ist (1960, 23).77 Bei 72 Vgl. Pind. P. 8, 76. 73 Vgl. Pind. O. 12. 74 Hölscher (2002, 51) übersetzt P. 8, 94 (!potqºp\ cm¾lô seseisl´mom) »von abgewandter Gunst erschüttert« und betont damit (wohl in Hinblick auf 8, 76f.) den objektiven Aspekt des Falls. Dönt (1986, 153) hebt hingegen in seiner Übersetzung das subjektive Moment hervor: »wenn sie [sc. die Freude] durch ein verfehltes Denken um ihren Grund gebracht wird«. Offenbar hat Pindar beide Momente im Blick: Es sind subjektive Erwartungen, die enttäuscht werden. Die sich wandelnde Gunst der Götter aber ist es, die maßgeblich zur Nichterfüllung der Erwartungen beiträgt. Zum pindarischen Gebrauch von cm¾la im Sinn von Erwartung vgl. Theunissen (2002a, 1077). Vgl. auch Pfeijffer (1999, 594): »cm¾la in Pindar denotes a mental disposition, ›attitude‹, which determines one’s intentions and purposes, often with a moral dimension«. 75 Der Wechsel von Glück und Unglück ist ein in den pindarischen Epinikien häufig wiederkehrendes Motiv. Vgl. O. 2, 33–37; P. 3, 104–106; I. 3,18. Unserer Stelle besonders nahe ist O. 12, 10–12a. Allerdings wird hier der Umschlag von Unglück ins Glück betont: pokk± d( !mhq¾poir paq± cm¾lam 5pesem, / 5lpakim l³m t´qxior, oR d( !miaqa?r, / !mtij¼qsamter f²kair / 1sk¹m bah» p¶lator 1m lijq` ped²leixam wqºm\. »Vieles ergibt sich für die Menschen wider Erwarten, / einmal wider freudiges Erwarten, ein andernmal tauschen in kurzer Zeit / manche, die bedrückende Stürme bestehen müssen, / ein tiefes Glück gegen Leid« Übers. E. Dönt. Den Hintergrund der von der Dichtung reflektierten Wechselhaftigkeit des Lebens bilden die sozialen, politischen und ökonomischen Umwälzungen des 7. und 6. Jh. v. Chr., die mit großer Unsicherheit und der Zerstörung von Existenzen bzw. dem plötzlichen Aufstieg von unbedeutenden Personen verbunden waren. Vgl. dazu Stein-Hölkeskamp (2000, 74–96) u. Gehrke (2007, 49–65). 76 Zur Diskussion vgl. Fogelmark (2008, 383 Fußn. 3). 77 Zu den verschiedenen Bedeutungen des in der griechischen Dichtung häufig verwendeten

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Pindar werde das Wort in der zweiten Bedeutung gebraucht.78 Fränkel wendet sich dezidiert gegen eine Auslegung des pindarischen 1p²leqor im Sinn von Kurzlebigkeit: »Ich glaube, daß Pindars 1p²leqoi ganz und gar nichts mit der Kürze des menschlichen Lebens zu tun hat. Der Begriff soll hier nicht die Vorstellung einer Zeitdauer erwecken« (24). Er plädiert demgegenüber für eine Deutung des Ephemeren als Ausgeliefertheit des Menschen an die »verschiedenartigen Ereignisse die irgendein neuer Tag über uns hereinbrechen lassen mag« (25), als ein den Wechselfällen des Lebens Unterworfensein.79 Gemeint sei letztlich die Instabilität, Unbeständigkeit, das Prekäre80 der äußeren Lage und der geistig-emotionalen Verfasstheit des Menschen.81 Theunissen (2002a) stimmt dieser Auffassung weitgehend zu, meint jedoch im Gegensatz zu Fränkel, dass die Kurzlebigkeit nicht erst in späterer Zeit als Bedeutungsgehalt des Wortes gesetzt worden sei, sondern sich schon in dem von Pindar und der frühen griechischen Lyrik verwendeten Begriff findet: »Während anzuerkennen ist, daß Pindar und seine Vorgänger mit dem Ephemeren letztlich das meinen, ›was Tag auf sich hat‹, muß man gegen die Behauptung opponieren, damit sei nur dies gemeint. Das Ephemere schließt all das ein, was Fränkel von ihm ausschließt, wenn auch nicht als etwas Gleichursprüngliches« (48). Nach Theunissen sind die verschiedenen Bedeutungsaspekte nicht voneinander zu trennen. Todverfallenheit und Verborgenheit der Zukunft, d. h. das von-Tag-zuTag-Leben gehörten mit zum Phänomen der Ausgeliefertheit. Daran ist so viel richtig, dass die verschiedenen Aspekte eine Sinneinheit bilden. Ob tatsächlich alle genannten Bedeutungen im pindarischen Begriff des Ephemeren enthalten sind, mag hier dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass in der achten Pythie die Unbeständigkeit gemeint ist82 und die anderen Aspekte hier keine Rolle spielen, wie Theunissen ja auch ausdrücklich zugesteht (49). Nach der Bestimmung des Menschen als ›Tagwesen‹ folgt eine Doppelfrage, die als Identitäts- und Seinsfrage bezeichnet werden kann: »Was ist einer? Was ist einer nicht?« t¸ d´ tir; t¸ d( ou tir; (Vers 95; Übers. E. Dönt). Der Sinngehalt

78 79 80 81 82

Wortes und den entsprechenden Belegstellen vgl. Fränkel (1960, 36–39). Vgl. auch Fränkel (1969, 610f.) und Pfeijffer (1999, 596f.). Fränkel weist diese Bedeutung in seinem EVGLEQOS-Aufsatz auch für die frühe griechische Lyrik nach. Die Bedeutung ›kurzlebig‹ sei dem Wort erst in späterer Zeit beigelegt worden. Als ältesten erhaltenen Beleg führt Fränkel ein Antiphonfragment an (DK 87 B 50). Vgl. Soph. Ai. 131f.: ¢r Bl´qa jk¸mei te j!m²cei p²kim ûpamta t!mhq¾peia »Der Tag läßt sinken und er führt herauf auch wieder alle die Menschendinge« (Übers. W. Schadewaldt). Vgl. auch Soph. Ant. 1158; Trach. 126–135; Oid. K. 607–620; Bakchyl. epin. 3,75ff. Maehler. Vgl. dazu Fränkel (1960, 27). So auch Burton (1962, 191f.), Pfeijffer (1999, 597), Janke (2005, 41f.). So auch Janke (2005, 41f.): »Ephemeros, auf dem der Tag liegt, heißt der Mensch, weil sein Anblick nicht standhält, sondern sich von einem Tag zum anderen wandeln kann«. Das Wort ›ephemer‹ habe in Pindars achter Pythie die Bedeutung von »unfest, schattenhaft, schwankend, dem Schicksalstag preisgegeben zu sein«.

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dieser Frage lässt sich im Hinblick auf die von Pindar thematisierten identitätsstiftenden Qualitäten und Güter erschließen. Als das Erstrebenswerte und das Dasein Erfüllende rühmt Pindar in all seinen Gedichten hervoragende Leistungen (!qet²), die als Aktualisierung der angeborenen Fähigkeiten (vu²) verstanden werden, sowie zugefallene und erworbene Güter wie vornehme Herkunft, physische Schönheit, Ruhm, guter Ruf, Reichtum, Macht.83 Der Einzelne ist das, was er leistet und was er besitzt, also z. B. ein erfolgreicher Athlet, ein tüchtiger, ruhmvoller Krieger, ein mächtiger und reicher Herrscher.84 Sein Selbstverständnis und seine Identität bestimmen sich wesentlich durch die ihn auszeichnende Exzellenz und den damit verknüpften Status innerhalb der Gemeinschaft. Angesichts der Erfahrung, dass Erfolg, Sieg, Gewinn plötzlich in Misserfolg, Niederlage, Verlust umschlagen können, dass der glanzvolle Sieger von heute schon morgen der geschmähte Verlierer sein kann85 und dass umgekehrt der erfolglose, unbeachtete Mann plötzlich zu Größe und Ruhm aufzusteigen vermag, wird jedoch die Identität höchst fragwürdig, unsicher, schwankend. Aufgrund des jederzeit möglichen Umschlags in das Nichtsein lässt sich nur noch von einem Sein »auf Widerruf« (Fränkel 1960, 27) sprechen. Es ist ein Sein, das so flüchtig ist wie ein Schatten (sji²). Dies ist jedoch nur ein Teil der Antwort auf die Seins- und Identitätsfrage, die in Vers 95f. in Form einer gnomischen Weisheit präsentiert wird. Der auf die Frage folgende Satz lautet: ›Eines Schattens Traum ist der Mensch‹ (sji÷r emaq %mhqypor Vers 95f.). Die berühmte Sentenz ist vielfach interpretiert worden. 83 In seiner Deutung des Ausdrucks ›gottgeschenkter Glanz‹ (aUcka diºsdotor 8, 96) führt Rudberg (1970, 267) folgende Güter an: »schöne Natur, reiches Menschenleben, Eros (vor allem männlicher), königliche Macht, Herrschaft, vornehme Herkunft und Geburt, Ehre, besonders durch Sieg in den großen Agonen, auch Sage, Gesang und Lied«. 84 Die Aussage von der Unbeständigkeit der menschlichen Kondition bezieht sich primär auf dieses Sein, auf die menschliche Exzellenz und die äußeren Besitzstände. Fränkel (1960, 25) betont m. E. den emotional-geistigen Aspekt zu stark, wenn er als das Wandelbare, Unbeständige neben der »äußeren Lage« gleichgewichtig das »Denken und Fühlen« der Menschen anführt (ähnlich Burton 1962, 191). Die emotional-geistige Verfasstheit wird zwar von Pindar beschrieben (vgl. 8, 81–94), aber die gemeinten wechselnden affektiven Zustände wie Freude, Hoffnung, Zukunftszuversicht, frohe Erwartung, Schmerz, Trauer, Niedergeschlagenheit, Resignation sind Reaktionen auf Sieg, Niederlage, Gewinn und Verlust, die damit den primären Gegenstand der Unbeständigkeit bezeichnen. Für die griechische Lyrik, die Fränkel bei der Interpretation Pindars immer mit im Blick hat, mag seine Deutung zutreffen. 85 Hier ist weder gemeint, dass der Fall unvermeidlich und unausweichlich ist (wie z. B. CarneRoss 1985, 189 u. Burnett 2005, 235f. annehmen), noch, dass sich die Lage des Einzelnen jeden Tag ändert (in diese Richtung tendieren Burton (1962, 191) u. Pfeijffer (1999, 449). Fränkel (1960, 27) hat dazu sehr treffend bemerkt: »es ist nicht gemeint daß unsere Lage fortgesetzt wechselt, sondern vielmehr daß sie sich von einem Tag zum anderen radikal ändern k a n n. Je länger sich unser Leben ausdehnt, desto wahrscheinlicher wird es daß wir einen Tag des Umsturzes erleben«. Dass es bei der Metapher des Ephemeren nicht um den Gedanken eines unvermeidlichen, raschen Wechsels von Glück und Unglück geht, wird auch bei Bakchylides deutlich (vgl. Epin. 3, 75–82 Maehler).

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Zumeist wird sie als Metapher für die Nichtigkeit der menschlichen Existenz gedeutet.86 Dabei wird häufig angemerkt, dass Pindar Homer (Od. 11, 207 u. 222) zitiert. In den gemeinten Versen der Odyssee vergleicht der Dichter die in den Hades eingekehrte Seele (xuw¶) aufgrund ihrer Körperlosigkeit und ihrer Flüchtigkeit mit einem Traumbild (emeiqor) und einem Schatten (sji²). Die Homer-Zitierung deuten die Interpreten meist87 im Sinn eines Verstärkungseffekts. Pindar wende diese Metaphern auf die Lebenden an und erziele durch ihre Verbindung den Effekt einer Steigerung.88 Durch die Genitivbildung, die Schatten und Traum zueinander in Beziehung setzt, steigere Pindar die schon durch das Bild des Schattens ausgedrückte Substanzlosigkeit des Menschen zu einem »potenzierten Nichts« (Theunissen 2002a, 54).89 »Um wieviel der Schatten dem Menschen an Wirklichkeit nachsteht, um soviel ist der Traum dieses Schattens unwirklicher als der Schatten selbst, eines solchen Schattens Traum aber ist der Mensch«, so die Deutung von Bieler ([1933] 1970, 193). Ähnlich Jüthner (1936, 143): Das Bild des Schattens habe »Pindar nicht genügt, um die Nichtigkeit des Menschendaseins zu kennzeichnen, sondern er entfernt sich doppelt von der Wirklichkeit: nach ihm ist der Mensch nicht bloß ein Schatten, sondern ein Traumbild von einem Schatten oder, wie wir sagen würden, ein Schatten von einem Schatten, also ein Nichts«. Burton (1962, 192) spricht von »the quintessence of the unreal«. Race (1986, 100) bemerkt: »Either dream or shadow would alone imply darkness and tenuousness, but their combination multiplies the effect«. Und Pfeijffer (1999, 598) spricht von einem Superlativ des Nicht-Greifbaren, Ausweichenden: »Both shadow and dream are common images for something intangible or evasive. ›A dream of a shadow‹ is, so to speak, the superlative of this.«90 86 Vgl. Bieler (1970, 191), Jüthner (1936, 142), Fränkel (1960, 26), Burton (1962, 192), Race (1986, 100), Bremer (1992, 411), Pfeijffer (1999, 598), Theunissen (2002a, 54), Janke (2005, 42). Während die Nichtigkeit von diesen Autoren im Sinn einer Bestimmung der allgemeinen menschlichen Kondition verstanden wird, versucht Toohey (1987) eine konkretere Deutung, indem er die Metapher als Bild für das Nichtvorhandensein von solchen Qualitäten wie »esteem, honour, reputation« (81) auslegt: »if we try to define more closely what Pindar’s metaphorical meaning is for skias onar, we would say this: it represents a life which has not been endowed with the charis of honour, esteem and renown« (84). 87 Anders z. B. Lefkowitz (1977, 216), Nagy (2000, 111), Burnett (2005, 236f.). 88 So bereits Ps.-Plut. Consol. ad. Apoll. 104B. 89 Die Schatten- und Traum-Metapher findet sich in der gesamten klassischen Dichtung, insbesondere bei Aischylos und Sophokles. Zu den entsprechenden Stellen bei den Tragikern und Aristophanes vgl. Bieler (1970, 192f.) u. Pfeijffer (1999, 598f.) Als Parallelen zu Pind. P. 8, 95f. werden häufig Aristoph. Av. 686f. und Aischyl. Ag. 839 angeführt. 90 Nach Janke (2005, 42f.) ist zwischen der Bedeutung von Schatten und Traum zu unterscheiden: »Schatten bedeutet das Wesenslossein, Traum ein Unwirklichsein, beides zusammen das vollständige Nichtsein sterblichen Daseins. […] Was die Nichtigkeit steigert, ist ihre Vervollständigung in der Verschränkung von Wesenlosigkeit und Unwirklichkeit«. So schon ansatzweise Burton (1962, 192). Anders hingegen Jüthner (1936, 142), der von

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Das Problem dieser Deutungsversuche besteht darin, dass sie die Wirklichkeitsbezüge nicht sinnvoll klären können. Als Bezugspunkt der Traum-Metapher wird der Mensch in seiner leibhaft-sinnlichen Existenz angenommen. Pindar vergleicht demnach den lebendigen Menschen mit einem Traum, den ein Schatten träumt. Wer aber ist der träumende Schatten? Worauf bezieht sich dieser Teil des Bildes? Auch auf den Menschen? Etwas anderes ist schwerlich vorstellbar. Einen Gott oder Halbgott wird Pindar kaum mit einem Schatten vergleichen. Wenn sich jedoch beide Elemente der Metapher auf den leibhaftsinnlichen Menschen beziehen, dann hätten wir es hier mit einer Doppelaussage zu tun, die in sich wenig stimmig ist. Die Aussage des Bildes bestünde zum einen in dem Satz, dass der Seinsgrad des Menschen so gering ist wie der eines Schattens, und zum anderen darin, dass er noch weitaus geringer ist. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Aussagen nicht gleichgewichtig sind, da der Mensch ja primär mit dem Traum des Schattens verglichen wird, bleibt eine gewisse Spannung bestehen.91 Theunissen (2002a) hat das Problem durch die Annahme von differenten Bezugspunkten zu lösen versucht. Seiner Meinung nach bezieht sich die Schatten-Metapher auf den Menschen in seinem Daseinsvollzug, während der Traum das Bild bezeichnet, das sich der Mensch von der Welt macht: »Der Mensch ist ein Schatten und hat einen Traum, aber so, dass er auch ist, was er hat. Er vergegenständlicht sich in seiner Welt, in der er […] irgendwie alles ist« (54). Der Entwurf sei freilich genauso nichtig wie der Entwerfende, sodass als Grundaussage des Bildes der Satz stehen bleibe: Der Mensch ist ein Nichts. »Pindars Aussage über den Menschen und die menschliche Welt lautet: Der Mensch, in seinem Daseinsvollzug ein Nichtsein, gewinnt auch dadurch, daß er sich eine Welt erzeugt, kein Sein. Als eines Schattens Traum ist er im Gegenteil »ziemlich gleichbedeutenden Bezeichnungen für das Unwirkliche, Wesenlose, Scheinhafte« ausgeht. 91 Die Lösung, die Nagy (1990, 195f.) (2000, 111) und vor ihm schon Lefkowitz (1977, 216) vorgeschlagen hat, führt m. E. in die Irre. Nagy nimmt an, dass die Schatten-Metapher hier wie bei Homer auf die in den Hades eingekehrten Seelen bezogen ist (so auch wieder Burnett 2005, 237). Unter Bezugnahme auf die Amphiaraos-Vision (P. 8, 44–55) meint er, dass die verstorbenen Vorfahren, also die Schatten, vom Sieg und Glanz der lebenden Nachfahren träumen. Der siegreiche Nachfahre ist die Verwirklichung des Traumes der toten Vorfahren und insofern eines Schattens Traum. »It is as if we the living were the realization of the dreams dreamt by our dead ancestors« (2000, 111). Die Deutung ist aus zwei Gründen wenig plausibel. Zum einen widerspricht sie der inneren Bewegung der beiden Schlussstrophen. Die Verse 88–93 beschreiben den Aufschwung und den Zukunftsoptimismus des athletischen Siegers; in Vers 93 setzt die Gegenbewegung ein, zu der auch noch Vers 95 und 96a gehören. Die aufsteigende Bewegung, die Reflexion auf Sieg und Glanz, beginnt dann erst wieder ab Vers 96 (»Aber wenn gottgeschenkter Glanz kommt….«). Der Einsatz der aufsteigenden Bewegung wird durch die Konjunktion !kk² markiert. Zum anderen aber ist in der Sentenz vom Menschen allgemein (%mhqypor) und nicht nur von den Siegreichen, Glanzerfüllten die Rede.

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ein potenziertes Nichts« (54). Theunissens Deutung der pindarischen TraumMetapher erinnert bei aller Tiefgründigkeit eher an neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie als an archaisches Gedankengut und erscheint von daher etwas problematisch. Eine Möglichkeit, die oben aufgezeigten Probleme unter Vermeidung von Anachronismen zu lösen, bietet sich an, wenn man das Fragment 131b mitheranzieht: Aller Menschen Leib folgt dem überstarken Tod, lebend aber bleibt zurück ein Abbild des Daseins (aQ_mor eUdykom), denn dieses allein stammt von den Göttern; es schläft, wenn die Glieder schaffen, doch den Schlafenden zeigt es in vielen Träumen (1m pokko?r ame¸qoir) des Frohen und Schlimmen nahende Entscheidung. (Pind. fr. 131b Snell; Übers. H. Fränkel)

In dem Fragment wird zwischen der leiblichen Existenz, die mit dem Tod zerfällt, und einem Selbst unterschieden, das göttlichen Ursprungs ist92 und als Abbild des lebendigen Menschen (aQ_mor eUdykom)93 nach dessen Tod fortdauert. Dieses unvergängliche Selbst94 tritt im tätigen Leben, in den bewussten Denkvollzügen, Willensakten und Handlungen nicht in Erscheinung. Es offenbart sich nur im Traum95 in Form einer Ankündigung des positiven oder negativen Ausgangs von Handlungsvollzügen. Rohde (1903, I, 6) hat in Bezug auf dieses Selbst von der Vorstellung eines »schwächeren Doppelgängers« des leibhaft-bewussten Ich gesprochen, die schon bei Homer zugrunde liege und im Seelenglauben aller frühen Kulturen anzutreffen sei. Das Pindar-Fragment führt er als Beleg dafür an, dass jene Vorstellung aus den Traumerscheinungen gewonnen wurde: »Nicht aus den Erscheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und Denkens im wachen und 92 Nach Lloyd-Jones (1990, 95) ist das Pindar-Fragment das früheste erhaltene Zeugnis für die griechische Vorstellung einer ›unsterblichen‹ oder ›göttlichen‹ Seele: »I know of no assertion that the soul comes from the gods earlier than Pindar fr. 131b«. 93 Zum pindarischen Gebrauch des Ausdrucks eUdykom zur Bezeichnung der unvergänglichen Seele vgl. Bremmer (1983, 79f.), Claus (1981, 117f.), Lloyd-Jones (1990, 95). Zur Bedeutung von xuw¶ bei Pindar vgl. Claus (1981, 116f.) u. Sullivan (1991, 163–183). Zur Einordnung der pindarischen Seelenvorstellung in eine Entwicklungsbewegung von der homerischen xuw¶ zur klassischen Vorstellung einer unsterblichen, göttlichen Seele vgl. Burkert (GR, 446), Vernant (1991, 190), (Bremmer 2002a, 23f.). Rohde (1903 I, 6) und Bowra (1964, 94) betonen die Nähe des mit aQ_mor eUdykom bezeichneten Selbst zur homerischen Vorstellung von Psyche. Allerdings bemerkt Rohde (1903 I, 6) bezüglich der Annahme des göttlichen Ursprungs: »das ist freilich nicht homerischer Glaube«. 94 Burkert (GR, 446) spricht von einem »beständigen Etwas«, dass Pindar in Antithese zum empirischen Wachbewusstsein beschreibe. 95 Vgl. auch Aischyl. Eum. 104f. Zur Vorstellung der Tätigkeit der ›free soul‹ während des Schlafs vgl. Bremmer (1983, 51f.) Vgl. auch Dodds (1970, 76).

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bewussten Menschen, sondern aus den Erfahrungen eines scheinbaren Doppellebens im Traum […] ist der Schluss auf das Dasein eines zwiefachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines selbständig ablösbaren ›zweiten Ich‹ in dem Innern des täglich sichtbaren Ich gewonnen worden« (6). »Wenn das andere Ich, seiner selbst unbewußt, im Schlafe liegt, wacht und wirkt der Doppelgänger« (7). Die Inanspruchnahme des Pindar-Fragments für die Erklärung der homerischen Seelenvorstellung ist inzwischen vielfach als Anachronismus kritisiert worden.96 Die Deutung der homerischen Psyche als schattenhafter Doppelgänger des Menschen hat hingegen Beachtung und Nachfolge gefunden. Nach Vernant (1991, 189) ist die Psyche bei Homer »like a body […] it is the double of the living body, a replica that can be taken for the body itself that has the same appearance, clothing, gestures, and voice. But this absolute likeness is also a total insubstantiality«. Das Pindar-Fragment sieht Vernant bei allen erkennbaren Modifikationen der Seelenvorstellung in Kontinuität zur homerischen Tradition: Das aQ_mor eUdykom sei »the double of a vital being« (190). Bremmer (1983) spricht in seiner Untersuchung über die frühgriechische Seelenkonzeption von einer dualistischen Vorstellung. Er unterscheidet zwischen der der Psyche korrespondierenden »free soul« und den den Kräften des ›inneren Lebens‹ (thymos, noos, menos) korrespondierenden »body souls«. »The free soul is active during uncousciousness, and passive during consciousness when the conscious individual replaces it. […] The body souls are active during the waking life of the living individual« (9).97 Ob und inwieweit die Doppelgänger-Theorie und die dualistische Konzeption auf die pindarische Seelenvorstellung zutreffen, kann hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist, dass in dem Fragment 131b zwei Ebenen der personalen Identität unterschieden werden – die leiblich-bewusste Existenz einerseits und ein geistiges Selbst andererseits, das tieferen Schichten des Bewusstseins zugeordnet wird. Diese Differenzierung bietet möglicherweise den Schlüssel für das Verständnis unserer Sentenz aus der achten Pythie. Als Wirklichkeitsbezug der Schatten-Metapher lässt sich die sinnlich-bewusste Existenz des Menschen verstehen, die durch äußere Besitzstände sowie durch die Aktualisierung der physischen Kräfte und der affektiven, volitionalen, kognitiven Vermögen bestimmt ist. Diese Existenz wird aufgrund ihrer Flüchtigkeit und Unbeständigkeit mit einem Schatten verglichen. So wie Odysseus seine in den Hades eingegangene Mutter umarmen will, aber nicht kann, weil das körperlose Abbild (eUdykom) nicht greifbar ist98, so vermag der Mensch die ihn auszeichnenden Kräfte, 96 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Rohde vgl. z. B. Claus (1981). 97 Vgl. auch Bremmer (2002a, 2). 98 Vgl. Hom. Od. 11, 204–207: »Doch mich verlangte es, innig die Arme um die Seele meiner

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Qualitäten und Güter nicht dauerhaft festzuhalten, sie entgleiten ihm immer wieder und verfallen am Ende des Lebens in unwiederbringlicher Weise.99 Unvergänglich und beständig ist nur das Selbst, das sich im Traum offenbart. Dieses Selbst, so die hier vertretene These, ist der Bezugspunkt der TraumMetapher. Die im Fragment 131b enthaltene Vorstellung von der Wirkungsweise und Erscheinungsform des aQ_mor eUdykom bietet einige Anhaltspunkte für solch eine Deutung. In dem Fragment ist die Rede davon, dass das unvergängliche Selbst, dass hier mit dem Ausdruck eUdykom bezeichnet wird, in vielen Traumbildern (1m pokko?r ame¸qoir) das in naher Zukunft Eintreffende – Ereignisse, Handlungsausgänge, Schicksalsschläge – zeigt. Es bringt während des Schlafes des bewussten Ich bestimmte Traumbilder hervor, wirkt also als geistige Kausalität von diviniatorischen Traumvisionen und ist nur über diese Erscheinungen erfahrbar. Im wachen Bewusstseinszustand bleibt der Person das eUdykom verborgen. Im Hinblick auf diese Vorstellungsmuster liegt die semantische und sprachliche Zusammenführung von eUdykom und emaq nahe. Da das eUdykom der lebenden Person allein im Medium des Traumes zugänglich ist und nur durch die erzeugten Traumphänomene als Realität wahrgenommen wird, bildet der Traum (emaq) die Erfahrungsgrundlage einer reflexiven Bestimmung und poetischen Gestaltung dieses unzerstörbaren Selbst. Der Gebrauch des Wortes emaq im Kontext der Identitätsproblematik entspringt, so deutet zumindest das Fragment 131b an, einer psychisch-religiösen Deutung von Traumerlebnissen. Die Vorstellung von schattenhaften Seelen als Wirkursachen von Traumbildern findet sich bereits bei Homer. In den homerischen Epen sind es nicht nur die Götter und Traumboten, die den Menschen Traumgesichter senden und ihnen auf diese Weise Botschaften überbringen, sondern auch die Schattenbilder der Verstorbenen. Im 23. Gesang der Ilias (Verse 62–107) findet sich eine Szene100, in der das eUdykom des verstorbenen Patroklos dem schlafenden Achill ein Traumgesicht sendet. Nachdem Achill der Schlaf übermannt hat, schwebt die Seele (xuw¶) bzw. das eUdykom (vgl. Hom. Il. 23, 103) des Patroklos herbei. Er tritt an das Haupt des Peliden und richtet eine Ansprache mit einer Weisung beverstorbenen Mutter zu schlingen. Dreimal setzte ich an, es drängte mich, sie zu umfassen, dreimal entglitt sie meinen Händen, ein Traumbild, (emeiqor), ein Schatten (sji²)« Übers. D. Ebener. 99 Der Aspekt des Nicht-Greifbaren, Entgleitenden wurde insbesondere von Pfeijffer (1999, 598) betont. Beim Versuch, eine Analogie zwischen der Odysseus-Stelle und der pindarischen Metapher aufzuzeigen, bezieht Pfeijffer das Nicht-Greifen-Können allerdings ausschließlich auf das intellektuelle Erfassen: Die Seelen der Verstorbenen können nicht gefasst werden (Od. 11, 207) »as in our context here men’s nature cannot be grasped intellectually because of the impermanence of their daily condition« (598). Diese intellektuelle Deutung der Nichtgreifbarkeit gewinnt an Tiefe, wenn man sie durch die existenzielle Dimension, wie oben vorgeschlagen, ergänzt. 100 Vgl. auch Hom. Od. 794ff.

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züglich seiner Bestattung an ihn, die den schlafenden Achill in Form eines Traumgesichtes erreicht. Die ganze Szene mündet in eine Reflexion des Traumerlebnisses: Nachdem Achill seinen Freund im Schlaf vergeblich versucht hat zu umarmen und er darüber bestürzt erwacht, wird ihm bewusst, dass es der Schatten des Patroklos war, der zu ihm gesprochen hatte. Das Motiv der durch Traumgesichter wirkenden Schattenbilder der Verstorbenen wird von Aischylos in den Eumeniden aufgegriffen. Zu Beginn des Dramas taucht das eUdykom der Klytaimestra auf und spricht die schlafenden Erinyen an: »Ihr schlaft wohl?101 Auf denn! Schlafende – was soll’s damit?« (Eum. 94; Übers. O. Werner). Nachdem sie ihre Klagen und Vorwürfe vorgebracht hat, sendet sie den noch immer Schlafenden ein Traumbild, das den Erinyen das Entkommen des Orestes vor Augen führen und sie zum Handeln anstacheln soll: »Ein Traumbild (emaq), ruf ich, Klytaimestra, euch jetzt auf!« (Eum. 116; Übers. O. Werner). Analog zur Ilias-Stelle werden hier die Schatten der Verstorbenen mit der Fähigkeit verbunden, Traumbilder in lebenden Personen oder Wesen zu erzeugen und auf diese Weise Botschaften zu vermitteln, die handlungsmotivierende Kraft besitzen. Angesichts dieser Belege ist davon auszugehen, dass das Fragment 131b an ältere Denkmuster anknüpft. Bei Pindar wird jedoch eine entscheidende Transformation dieser Vorstellungen vorgenommen. In dem Fragment ist nicht von einer externen, sondern von einer internen Ursache der Traumbilder die Rede, es ist das eigene eUdykom, das in dieser Weise Botschaften übermittelt. Diese Internalisierung ist mit der Annahme verbunden, dass das eUdykom nicht erst nach dem Tod wirkt, sondern bereits in der vitalen, lebendigen Person anwesend ist und eine geistige Tätigkeit entfaltet. Es ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass die im Fragment 131b enthaltene Seelenvorstellung in eine Entwicklungsbewegung einzuordnen ist, die in die Konzeption einer mit dem Leib verbundenen und nach dem Tod sich ablösenden unsterblichen Seele mündet.102 Die angeführten Stellen aus der Ilias und den Eumeniden verweisen darauf, dass nicht nur die kausale Verknüpfung von bestimmten Traumphänomenen mit den schattenhaften Seelen, sondern auch die Vorstellung einer im Schlaf erscheinenden Traumfigur den Gebrauch von emaq zur Bezeichnung des eUdykom nahelegt. Im Pindar-Fragment wird keine Aussage darüber getroffen, in welcher Form das eUdykom zukünftige Ereignisse und Handlungsausgänge ankündigt. Legt man die von Artemidor vorgenommene Klassifikation von Träumen103 zugrunde, so sind hier sowohl allegorische Träume denkbar, die die Zukunft 101 Vgl. Pind. O. 13, 67. 102 VGl. Burkert (GR, 446), Vernant (1991, 190), Bremmer (2002, 23f.). 103 Vgl. RE 6 A, 2 (1937).

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durch Symbole und Metaphern andeuten, als auch solche, die eine unmittelbare Darstellung eines zukünftigen Ereignisses beinhalten oder aber Träume, in denen Traumfiguren die Zukunft in verbaler Form offenbaren. Pindar knüpft vermutlich auch in diesem Punkt an die homerische Tradition an und hat wohl vornehmlich die Prophezeiungen durch Traumfiguren vor Augen. Darauf deutet der Gebrauch des Wortes emeiqor im Fragment 131b hin, das ja bei Homer meist eine Traumgestalt bezeichnet.104 Analog zu den Göttern der homerischen Epen, die in ganz verschiedenen Erscheinungsformen in den Träumen der Menschen auftauchen, kann offenbar auch das eUdykom, das ja nach pindarischer Vorstellung göttlichen Ursprungs ist, in unterschiedlicher Gestalt der schlafenden Person erscheinen. Angesichts dieser Vorstellungsmuster ist die Verwendung von emaq im Rahmen einer poetischen Umschreibung des dem Wachbewusstsein verborgenen Selbst nachvollziehbar und liegt gleichsam auf der Hand. Das Wort emaq hat in diesem Kontext die Bedeutung von Traumbild, Traumgesicht und bezieht sich auf das vom Träumenden in einer bestimmten Gestalt gesehene eUdykom. Die an die homerische Tradition anknüpfende enge Verbindung von eUdykom und emaq in Fragment 131b vermag Indizien dafür zu liefern, dass sich die Traum-Metapher in P. 8, 95 auf das im Inneren des Menschen verborgene unvergängliche Selbst bezieht.105 Der eigentliche Sinn des Gebrauchs von emaq an dieser Stelle liegt jedoch nicht in dem bloßen Verweis auf das eUdykom, sondern in einer Bestimmung des beschränkten Seinsgrades dieses Selbst. Das eUdykom, das durch Traumbilder seine Botschaften vermittelt und im Traum in verschiedenen Gestalten erscheint, ist hinsichtlich seiner wesenhaften Beschaffenheit selbst wie ein Traum oder Traumbild.106 Zwar ist es im Gegensatz zur leiblichen Existenz unzerstörbar und ewig107, hat also in Bezug auf die zeitliche Dauer einen höheren Seinsstatus, hinsichtlich der Seinsintensität bleibt es jedoch hinter dem leiblichen Ich zurück. Es besitzt nur eine ›Traumwirklichkeit‹. Ihm kommen weder die das tätige Leben auszeichnenden Strebevermögen und Kräfte zu noch ein volles, waches Bewusstsein. Nach homerischer Vorstellung sind die Seelen, die als Abbilder der Lebenden in den Hades eingehen, körperlos, kraftlos und ohne helles Bewusstsein.108 Pindars Gebrauch des Wortes eUdykom 104 Vgl. Dodds (1970, 57). 105 Zur metaphorischen Beschreibung der in den Hades eingehenden Seele als ›Traumbild‹ (emeiqor) vgl. Hom. Od. 11, 207 u. 222. 106 Pindar knüpft mit diesem Vergleich unmittelbar an Hom. Od. 11, 222 an. 107 Bremmer (1983, 80) weist daraufhin, dass für Pindar der Grund der Unvergänglichkeit jener Seele in deren göttlichem Ursprung liegt. So bereits Rohde (1903 II, 208). Nach Norwood (1974, 60) war Pindar der Erste, der die Unsterblichkeit der Seele durch ihren göttlichen Ursprung erklärt hat: »The soul’s immortality had long been a familiar doctrine, but Pindar was the first to explain it by a divine origin«. 108 Vgl. z. B. Hom. Il. 23, 103f.; Od. 11, 138–149, 204–224.

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zur Bezeichnung des unvergänglichen Selbst im Fragment 131b deutet darauf hin, dass er an dieser Vorstellung festhält. Der Ausdruck ›Abbild des Lebens‹ (aQ_mor eUdykom) impliziert, dass es eine Differenz zwischen den Kräften des vitalen Lebens und dem Vermögen des unvergänglichen Selbst gibt und dieses bezüglich der Vitalität schwächer, eben ein ›Abbild‹ ist. Der Verweis auf das Unzerstörbare, Unvergängliche im Menschen ist insofern keine erhebende, die ›Schattenexistenz‹ transzendierende Vorstellung, sondern die fortgesetzte Thematisierung der Begrenztheit des Menschen.109 Als pindarische Antwort auf die Seins- und Identitätsfrage lässt sich somit folgendes festhalten: Das Sein des Menschen ist unbeständig, flüchtig, instabil, seine Identität ist schwankend, er gleicht einem Schatten. Der Mensch besitzt jedoch einen unzerstörbaren, verborgenen Identitätskern, der dem Werden und Vergehen nicht unterworfen ist und nach dem Tod fortbesteht. Er ist also mehr als ein bloßer Schatten. Dieses unzerstörbare Selbst hat jedoch, gemessen an den Kräften des sinnlich-aktiven Lebens, nur eine geringe Seinsintensität, sodass der Mensch letztlich nicht mehr als eines Schattens Traum ist. Sollte die vorgeschlagene Deutung zutreffen, so hätten wir es hier mit einer komplexen Auffassung des menschlichen Seins zu tun, die zu einer Gnome im ›Orakelstil‹ verdichtet worden ist. Die Sentenz wäre nicht nur eine einfache Steigerung der Nichtigkeit des menschlichen Daseins, sondern die Artikulation einer differenzierten Sicht auf den Menschen, die verschiedene Ebenen der Personalität einbezieht und deren jeweilige ontologische Begrenztheit deutlich macht. Welches der ursprünglich intendierte Sinn der Sentenz ist, kann gewiss nicht endgültig geklärt werden. Die vorgeschlagene Deutung ist nur der neuerliche Versuch einer Sinngebung, die zumindest einige Plausibilität besitzt. Es ist durchaus vorstellbar, dass Pindar am Ende seines Lebens eine Antwort auf die Frage nach dem Menschen formuliert, die gleichsam alle Register zieht und die verschiedenen, im Laufe des Lebens erworbenen Überzeugungen zur Summe vereinigt.110 Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass der alternde Dichter, der kurz vor dem Tod steht, bei der Identitätsproblematik auch dasjenige im Blick hat, was unzerstörbar ist und nach dem Tod fortbesteht.

109 Zur vieldiskutierten Frage, inwieweit die in O. 2 und den Fragmenten 129, 133 dargestellten orphisch-pythagoreischen Jenseitsvorstellungen bzw. der Seelenwanderungsglaube den pindarischen Auffassungen entsprechen vgl. Lloyd-Jones (1990), Willcock (1995, 137–140 u. 154–161), Boeke (2007, 56 u. 72). 110 Vgl. Theunissens (2002a, 45) Urteil, dass der Vers »die tiefsten Einsichten eines langen Dichterlebens« zusammenfasse.

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c)

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Pessimistisches Menschenbild bei Pindar?

Ehe sich die Untersuchung der sechsten Nemee zuwendet, soll ein Aspekt thematisiert werden, der für das Verständnis von Pindars Anthropologie relevant ist, nämlich die Frage nach pessimistischen Zügen in Pindars Menschenbild. Betrachtet man die Verse P. 8, 93–96 vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Hochstimmung des athletischen Siegers (Verse 88–92), so erscheinen sie zunächst als resignative, äußerst bedrückende Einsicht in die Hinfälligkeit des menschlichen Glücks. Die dargestellte Absturzbewegung (93f.) und die nachfolgende Aussage über die Begrenztheit der menschlichen Kondition wirken auf den ersten Blick wie eine Entwertung der zuvor besungenen Leistungen. Die artikulierte Hoffnung und Zukunftszuversicht des Siegers scheinen hier einem ernüchterten, düsteren Realismus zu weichen. Es vermag von daher kaum zu überraschen, dass die Verse häufig als Ausdruck von Resignation und Pessimismus gewertet werden.111 Viele Interpreten sehen Pindar in der Tradition der frühen archaischen Lyrik, die sich durch Klage und Ohnmachtsgefühle auszeichnet.112 So unlängst wieder Janke (2005, 40) in Bezug auf P. 8, 95f.: »archaische Gnomik [gesteht] am Ende klagend die Nichtigkeit, Ohnmacht, Schattenhaftigkeit unseres menschlichen Wesens ein«. Gegen diese Deutung ist zu Recht eingewendet worden, dass die Verse nicht in der Darstellung der menschlichen Begrenztheit und Schwäche münden, sondern im Verweis auf glanzvolle Momente (aUcka diºsdotor), auf die Schönheit von hervorragenden Leistungen und das menschenmögliche Glück (Verse 96f.). So hat bereits Dornseiff (1921, 132) hervorgehoben, dass Pindar »eine dem Leben zugewandte, praktische […] Natur« sei. »Er spricht nie von der Niedrigkeit und 111 Vgl. z. B. Norwood (1974, 62), Finley (1955, 36–38), Carne-Ross (1985, 189), Toohey (1987, 86). Die pessimistische Lesart Pindars entspricht der gängigen Deutung der apollinischen Selbsterkenntnis. In der älteren und jüngeren Forschung wird die apollinische Selbstbesinnung häufig im Sinn eines Pessimismus missverstanden. Vgl. Diels (1921, 25), Regenbogen (1961b, 110–112), Wehrli (1976, 78 Fußn. 1), v. Fritz (1967, 218–222), Burkert (GR, 232), Lloyd (1987), Frings (1996, 7). Die auf die Philologie des 19. Jahrhunderts zurückgehende Betonung des Pessimismus als bestimmendes Element in der griechischen Religion, Dichtung und Historiographie wurde bereits von Wilamowitz (GdH II, 123f.) und Pohlenz (1961, 118) als unhaltbar aufgezeigt. Im Anschluss daran ist darauf hinzuweisen, dass zwischen dem auf Leiderfahrungen basierenden Lebensüberdruss, der sich häufig in der archaischen Lyrik ausspricht, und der religiösen apollinischen Weisheit, die prinzipiell von der Möglichkeit des erfüllten Lebens ausgeht und dieses von der Harmonie zwischen Göttern und Menschen abhängig weiß, unterschieden werden muss. 112 Bei aller Ähnlichkeit der Aussagen über die ›Ephemerität‹ des Menschen gibt es jedoch beträchtliche Unterschiede. Man vergleiche etwa die pindarischen Gedichte mit Semonides von Amorgos fr. 1 Snell. Die dort präsentierte illusionslose, pessimistische Weltsicht, die mit einem kaum noch zu übertreffenden Sarkasmus verbunden ist, hat wenig mit der apollinischen Frömmigkeit und Ethik Pindars zu tun.

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Machtlosigkeit der Menschen gegenüber den Göttern, ohne sogleich irgendein lebenstechnisches Linderungsmittel dazuzugeben. Selbst die müdeste Stelle, das t¸ d´ tir; t¸ d( ou tir; im Altersgedicht P 8 klingt aus in den Gedanken, daß ein Agonsieg leuchtender Glanz und honigsüße Zeit für die Menschen ist.«113 Die Pessimismus-These lässt sich zudem mit dem Hinweis auf die paränetische Funktion der Verse 92–96 zurückweisen. Wir haben es hier nicht mit einer assoziativ an die Zustandsbeschreibung des athletischen Siegers angeschlossenen Reflexion zu tun. Vielmehr dient der Verweis auf die Gebrechlichkeit des Glücks und die Unbeständigkeit des menschlichen Seins dem Zweck, den besungenen siegreichen Athleten vor der Hybris zu bewahren.114 Freilich erscheint die Paränese hier nicht in Form einer ausdrücklichen Aufforderung zum Maßhalten oder zur Selbstbesinnung, wie z. B. in O. 1, 114 (»Schau nicht noch weiter aus!«), in I. 5, 14 (»Strebe nicht, Zeus zu werden!«) oder in N. 11, 13–16 (»Wenn einer glücklich ist […], so soll er daran denken, daß er mit einem sterblichen Leib angetan […]« Übers. E. Dönt). Vermutlich ist die Sentenz deswegen so selten als ethischer Appell erkannt worden. Eine Mahnung zum Maßhalten und eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis werden meist nur in der 4. Triade gesehen.115 In der Antistrophe der vorletzten Triade findet sich ein Gebet an Apollon, in dem der Dichter für den Sieger um der »Götter unvergängliche116 Huld« (he_m d( epim %vhomom 8, 71f. Übers. U. Hölscher) bittet. Diese Bitte wird in den folgenden Versen mit der Aussage begründet, dass Erfolg und Gelingen nicht ausschließlich vom Menschen abhängen, sondern zuletzt auf das Wirken der Götter und der dämonischen Kräfte zurückgehen.117 »Ein Waltendes (da¸-

113 Ähnlich Burton (1962, 192), Wirth (1963, 165), Bowra (1964, 98), Race (1986, 100). Hubbard (1985, 89f.) versucht den Pessimismusvorwurf mit der These zurückzuweisen, dass die Gegensätze Glück – Unglück, Sein – Nichtsein, Licht/Glanz – Dunkelheit/Schatten von Pindar als Antithesen verstanden werden, die in einer Harmonie ("qlom¸a) zur Einheit gebracht werden. In Bezug darauf könne man eher von einer optimistischen Tendenz sprechen: »But we could just as well say that the ode is optimistic. It is the nature of "qlom¸a to combine and thus mediate both qualities into a unified vision of human existence« (90). 114 In diesem Sinne auch Carne-Ross (1985, 48 u. 182) und Pfeijffer (1999, 449f.) Vgl. auch Miller (1989, 475), der die Gefahr der Überhebung betont: »the moral and psychological position of a successful athlete is fraught with risk precisely because he is successful«. Miller weist in seiner Analyse von P. 8, 67–78 zu Recht auf die Abfolge von Glück (ekbor) – Übersättigung (jºqor) – Hybris (vbqir) – Verderben (%tg) hin, die von Pindar in anderen Gedichten (z. B. O. 1 und P. 2) thematisiert wird. 115 So Hubbard (1983, 291), Miller (1989, 475ff.), Janke (2005, 39). 116 Werner (1967, 187) und Dönt (1986, 153) übersetzen %vhomor hier wörtlich mit ›neidlos‹. So auch Bremer (1992, 189): »der Götter Obacht ohne Neid erbitte ich, Xenarkes, für Eure Lebenslagen«. Diese Übersetzung ist gewiss korrekter. Hölschers Übersetzung ist jedoch durchaus berechtigt, weil es in der Bitte um das Fortdauern der göttlichen Gunst geht. 117 Vgl. Janke (2005, 39): »Es liegt am Ende nicht in der Hand des Menschen, mittels seiner Sophia und aus edlem Wuchs allein Großes zu vollbringen. […] Was die Weisheit und Arete

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lym) gewährt es, das wechselnd / Einen emporwirft und einen nieder«, heißt es in P. 8, 76f. (Übers. U. Hölscher). Für ein fortdauerndes Glück reicht es also nicht aus, in der Anspannung der Kräfte und dem Leistungswillen nicht nachzulassen, ausschlaggebend ist vielmehr die anhaltende Gunst der Götter. Um die göttliche Gunst zu bewahren, ist ein maßvolles Verhalten geboten.118 Dieses Verhalten ist sowohl vom Dichter gefordert, der in seiner Lobpreisung des Siegers das Übermaß zu meiden hat, als auch vom besungenen Athleten.119 »Gehe mit Maß dahin!«120 (l´tq\ jataba¸m( P. 8, 78; Übers. U. Hölscher), so die Aufforderung des Dichters an den jungen Athleten. Nach Theunissen und Miller ist in dieser Mahnung die Aufforderung zur Selbsterkenntnis impliziert121: »Aristomenes soll sich in einer Weise verhalten, die seinem Menschsein angemessen ist. Er soll bedenken, daß ein Mensch für überragende Leistungen göttlicher Hilfe bedarf. Dazu muß er sich seines Menschseins bewußt werden« (Theunissen 2002a, 61). Ähnlich Miller (1989, 475) der von der zu realisierenden »recognition of human limitations« spricht.122 Während Miller sich in seiner Analyse auf P. 8, 67–78 beschränkt und es versäumt, die Aufforderung zur Selbsterkenntnis, die er dort richtig sieht, auf die Verse 92–96 auszudehnen, vollzieht Theunissen diesen Schritt. Nach Theunissen (2002a) sind die nachfolgenden Verse (Verse 78–96) als Fortsetzung der mit dem Gebet an Apollon eingeleiteten Mahnung aufzufassen. Um den richtigen Ton zu treffen und den Sieger nicht zu brüskieren, setze Pindar beim Sieg an (Verse 78– 82) und nehme »seinen Weg hin zu den Tageswesen über die Besiegten« (62f.).123

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gedeihen läßt, was den Sieg im Ringkampf bereitet, was die Fügung dichterischer Sprache letztlich glücken läßt, ist von Gott her.« Vgl. auch Pindars Deutung des Tantalos- und des Ixion-Mythos (O. 1, 54ff.; P. 2, 25–30). Vgl. auch I. 3, 4–6. Zur Selbsterkenntnis und Mäßigung als notwendige Bedingung für weiteren Erfolg vgl. Miller (1989, 484). Nach Hubbard (1983, 291) dient das maßvolle Lob dem Zweck, Menschen und Götter nicht eifersüchtig und neidisch zu machen. Theunissen (2002a, 62) betont hingegen den Aspekt der Bewahrung des Knaben vor Überheblichkeit. Gundert (1978, 68–76) thematisiert beide Aspekte. Der hier angeführten Hölscher-Übersetzung liegt der Text nach Bowra zugrunde. SnellMaehler, Gentili und Pfeijffer lesen hingegen: %kkot( %kkom vpeqhe b²kkym, %kkom d( rp¹ weiq_m, l´tq\ jataba¸mei »Er [sc. der Daimon] wirft den einen in die Höhe, den anderen unter den Arm, und schreitet mit Maß in den Ring« Übers. T. Poiss. Vgl. auch Janke (2005, 39), Boeke (2007, 60). Die Verknüpfung des l´tq\ jataba¸m( mit dem apollinischen cm_hi sautºm und lgd³m %cam wurde bereits von Coppola (1931, 210) hergestellt. Miller (1989, 475) bemerkt unter Berufung auf O. 13, 47f.: »Such self-awareness, or ›existential modesty‹ […] is the fact of morality itself«. Nach Theunissen und Miller ist es kein Zufall, dass in P. 8, 67ff. Apollon angerufen wird, wacht doch »dieser Gott in besonderem Maße über eine Selbsterkenntnis […], in der Menschen sich der Schranken ihres Daseins bewußt werden« (Theunissen 2002a, 61). Ähnlich Miller (1989, 47). Eine Fortführung der in der 4. Triade thematisch präsenten Warnung wird auch von Erbse (2003, 255) angenommen.

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Betrachtet man die Verse P. 8, 92–96 unter den angeführten funktionalen Gesichtspunkten, so verflüchtigt sich der anfängliche Eindruck eines düsteren Pessimismus. Die Reflexion auf die Begrenztheit des Menschen steht hier im Dienst eines aktiven, gelingenden Lebens und der menschenmöglichen Eudaimonia. Der Mensch kann zwar den Willen der Götter und das Schicksal letztlich nicht beeinflussen, er bleibt ein den Ereignissen ausgesetztes ›Tageswesen‹, er vermag jedoch durch Selbsterkenntnis und maßvolles Handeln die Voraussetzungen für einen fortdauernden Erfolg und ein relativ stabiles Glück zu schaffen.124 Auf den positiven, lebensfördernden Sinn der apollinischen Selbsterkenntnis hat bereits die ältere Forschung hingewiesen. Schadewaldt (1975, 25f.) entwickelt in seinem Delphi-Aufsatz den Gedanken, dass erst die Einsicht in die Grenzen des Menschen eine echte Identitätsfindung und Selbstverwirklichung ermöglichen: »Er [sc. der delphische Gott] entwirft den Menschen auf seine Sterblichkeit hin, da menschliches Sein sterbliches Sein ist, und er den Menschen so erst in die Wahrheit seines Seins stellt. Er bringt ihn so zu echtester Identität mit sich selbst und weist ihm den ihm zukommenden Ort als Mensch in der großen Ordnung von Himmel und Erde an […]. Und so, in der Selbstbegrenzung der Sterblichkeit und der festgehaltenen Distanz vom Göttlichen, kann der Mensch am meisten Mensch sein, seine volle Kraft entbinden, um die ihm eigene Dignität in der Möglichkeit zur Freiheit und Persönlichkeit zu verwirklichen«.125 Einen ähnlichen Gedanken hat bereits Dirlmeier ([1939]1970) in seinem vielbeachteten Apollon-Aufsatz formuliert. Die Einsicht in die Grenzen unserer Natur, die zunächst handlungslähmend zu sein scheint, hat in Wirklichkeit einen handlungsaktivierenden Sinn, weil sie dazu auffordert, das in den Möglichkeiten des Menschen Stehende zu realisieren. Wir sollen als Menschen »die Lebensaufgabe durchführen, der wir gewachsen sind« (42). Die apollinische Selbsterkenntnis ist nach Dirlmeier weder »Resignation« noch »quietistische Bescheidung«, sondern die Aufforderung zur Verwirklichung der dem Menschen zukommenden Aufgaben, die mit einem Formungsprozess126 verknüpft seien.127 Im Bestreben, gegen die pessimistischen Deutungsversuche die konstruktiven Aspekte des cm_hi seautºm aufzuzeigen, gerät Dirlmeier jedoch unvermerkt in die Behauptung der Gegenthese hinein (»es liegt also ein bezwingender Opti124 Der Pessimismus wird bei Pindar letztlich durch die starke Frömmigkeit abgewendet, die von dem Leitgedanken getragen ist, dass die Götter gut sind und der Mensch am Guten begrenzt teilhaben kann, wenn er sich seiner Natur gemäß verhält und die Überhebung meidet. 125 Zur Lebenszugewandtheit des cm_hi seautºm vgl. auch Schwartz (1951, 64). 126 »In cm_hi seautºm liegt nur eines: Menschen-Bild und Menschen-Tun soll ein geformtes sein« (Dirlmeier 1970, 44). 127 Ähnlich auch Elliger (1965, 104). Der apollinische Geist sei »Einsicht in die dem Menschen gesetzten Grenzen, aber nicht als Resignation, sondern als Verpflichtung«.

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mismus in dem schlichten Satz: ›erkenne dein Wesen‹« 45), die ebenso fragwürdig ist wie die zurückgewiesene Deutung. Bei aller Berechtigung des Verweises auf den positiven Sinn der apollinischen Selbsterkenntnis wäre es verfehlt, darin eine optimistische Anthropologie sehen zu wollen.

d)

Der Mensch als ein mit sterblichen Gliedern behaftetes Wesen (N. 11, 13–16)

In der elften Nemee128 werden Einsichten formuliert, die große Ähnlichkeit zu den Aussagen der achten Pythie aufweisen. Es gibt jedoch auch Differenzen, die im Folgenden hervorgehoben werden sollen. Die relevanten Verse finden sich in der Epode der ersten Triade: Wenn aber einer Segen (ekbor) hat und übertrifft An Schönheit (loqv¶) andere und hat in Wettkämpfen Als Bester bewiesen seine Stärke (b¸a): Er denke daran: mit sterblichen Gliedern Ist er angetan, und zum Ende von allem Wird Erde ihn umkleiden. (Pind. N. 11, 13–16; Übers. W. Schadewaldt)

Die Erfolgreichen und Glücklichen, die mit guten Anlagen gesegnet sind, werden hier an ihre Vergänglichkeit erinnert. Schöne Gestalt (loqv¶) und physische Kraft (b¸a) sind nicht von Dauer, sondern letztlich dem Verfall preisgegeben.129 128 Die elfte Nemee wird meist zu den späten Oden Pindars gezählt. Zur Diskussion der Datierung vgl. Verdenius (1988, 96) u. Henry (2005, 119). Zur Einordnung des Gedichts, das kein Siegeslied, sondern ein Festlied zum Amtsantritt eines Prytanen ist, in die Epinikien durch die frühen Editoren vgl. Race (1997, I, 122). 129 Nach Wilkins (1979, 54) (vgl. auch 1929, 57) ist der Gedanke der Sterblichkeit des Menschen erst in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. unter dem Einfluß der Stoa betont und mit der delphischen Maxime cm_hi seautºm verknüpft worden: »But the connection with cm_hi sautºm was probably due rather to the influence of the Stoics in their claim that the maxim was the foundation of philosophy, and to their insistence to an unprecedented degree upon our cultivating an attitude of impassivity toward misfortune and sorrow and death, by reminding ourselves that these things are an inevitable part of the human lot«. Dass die Hervorhebung des Vergänglichkeitsmotivs auf den Einfluss der Stoa zurückgeht, mag zutreffend sein. Die These, dass der Sterblichkeitsgedanke erst im 4. Jh. v. Chr. mit der Selbsterkenntnis verknüpft wurde, ist hingegen fraglich. Wilkins (1979, 52) erklärt, dass das Sterblichkeitsmotiv in der älteren Dichtung zwar häufig auftaucht, so auch bei Pindar, dass der Dichter jedoch dabei kaum die delphische Maxime vor Augen hatte: »But it is not at all likely that Pindar had the apophthegm in mind here«. Die Verse, auf die sich Wilkins bei ihrer These bezieht (Pind. P. 3, 59–60) sind vielleicht tatsächlich nicht so gut geeignet, die Verbindung mit dem Motiv der Selbsterkenntnis herzustellen. Es gibt jedoch etliche Stellen im pindarischen Werk, in denen der Sterblichkeitsgedanke im Zusammenhang mit der Aufforderung zum Maßhalten und der Warnung vor Hybris formuliert wird (vgl. insb. Pind.

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Die Anschaulichkeit und Realitätsnähe, mit der an dieser Stelle die Endlichkeit geschildert wird, ist häufig zum Anlaß genommen worden, den Versen eine besondere Trostlosigkeit und Dunkelheit zu attestieren.130 Aber auch hier gilt es, die Funktion der Gnome zu beachten. In N. 11 geht es ebensowenig wie in der achten Pythie darum, Erfolg und Exzellenz zu entwerten oder zu verdunkeln. Der Hinweis auf den Verfall der Physis am Ende des Lebens hat vielmehr die Funktion, die durch Wohlgestalt und körperliche Kraft Ausgezeichneten vor Hybris zu bewahren.131 Im Gegensatz zu P. 8 wird die Ermahnung zur Einsicht hier jedoch direkt ausgesprochen: lelm²shy, »er denke daran« heißt es in Vers 15. Die Aufforderung richtet sich zunächst an Aristagoras, dem das Festlied gewidmet ist und dessen hervorragende Anlagen in Vers 12 gepriesen worden sind, im weiteren Sinn aber an all jene, die sich ähnlicher Qualitäten erfreuen.132 Henry (2005, 125f.) hat unlängst zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mahnung in N. 11, 13–16 im Zusammenhang mit dem Beginn der nachfolgenden Strophe zu lesen ist. Einem Mann, der solch vorzügliche Qualitäten besitzt, geziemt das Lob von seiten der Bürger, heißt es dort (Vers 17). Henry parallelisiert die ganze Passage mit dem Beginn der dritten Isthmie, wo es heißt: »Wenn einer der Männer, dem es geglückt ist mit rühmlichen Kämpfen / oder mit der Macht des Reichtums, niederhält im Busen den leidigen Überdruß (jºqor), / so ist er würdig, daß ihn das Lob der Bürger umgebe« (Verse 1–3; Übers. F. Dornseiff).133 Damit legt der Interpret die Deutung nahe, dass in der elften Nemee analog zu I. 3 die Mäßigung als Voraussetzung des Bürgerlobs ange-

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N. 11, 13–16). Die Besinnung auf die sterbliche Natur des Menschen klingt dort unmissverständlich als Gehalt der Selbsterkenntnis an, auch wenn der Bezug zur delphischen Maxime nicht explizit hergestellt wird. Im Hinblick darauf, dass der Sterblichkeitsgedanke in späterer Zeit zum wesentlichen Gehalt der Selbsterkenntnis erhoben und die delphische Maxime primär im Sinn des memento mori ausgelegt wurde (vgl. dazu Reiser 1992, 84ff.) kann von einer späteren Bedeutungsverengung gesprochen werden. Dasselbe Phänomen lässt sich auch für die Bedeutungsgeschichte des Wortes 1p²leqor bzw. 1v¶leqor, das mit der Selbsterkenntnis aufs Engste verbunden ist, beobachten, wie Theunissen (vgl. 2002a, 48f.) aufgezeigt hat. So Norwood (1974, 62). Im Vergleich zu P. 8, 95 gebe die elfte Nemee (13ff.) eine »yet gloomier warning«. Ähnlich Lefkowitz (1979, 52), die die Passage mit N. 6, 1–7 vergleicht und in N. 11 einen dunkleren Ton beobachtet. Gegen diese Deutung hat Verdenius (1988, 103) eingewendet, dass die ›dunklen‹ Verse 15–16 mit den Versen 17–18, in denen die Preiswürdigkeit des exzellenten, erfolgreichen Mannes beschrieben wird, verbunden sind, die Gedankenbewegung also nicht in der Aussage über die Sterblichkeit ausläuft. Gegen Verdenius und für die Auffassung von Lefkowitz hat unlängst Theunissen (2002a, 50, Fußn. 12) plädiert mit dem Verweis auf die besonders »realistische Darstellung der Todverfallenheit«. Vgl. Carne-Ross (1985, 154) und Henry (2005, 126): »Such a man should remember that he is mortal and not aspire above his station«. Die Verallgemeinerung wird durch die Verwendung des Pronomens tir in Vers 13 (eQ d´ tir) angezeigt. Vgl. auch P. 11, 55–58.

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sprochen wird134 : Nur derjenige verdient das Lob, der neben seinen Erfolgen und hervorragenden Qualitäten auch die Fähigkeit zur Selbstbescheidung besitzt, also in der Lage ist, die aufkeimende Überhebung zu zügeln und einen ›gesunden Sinn‹ zu bewahren.

e)

Der Mensch in seiner Gottferne und Gottähnlichkeit (N. 6, 1–7)

In der sechsten Nemee, dem dritten der hier besprochenen pindarischen Gedichte, findet sich eine Strophe, die zwar keine unmittelbare Mahnung zur Einsicht und Mäßigung enthält, die jedoch für die Thematik der Selbsterkenntnis relevant ist, weil darin die condicio humana eine umfassende Bestimmung erfährt. Gemeint ist die berühmte Eingangsstrophe des Liedes, die die spätantiken Autoren stark beeindruckt135 und in der Forschung immer wieder besondere Beachtung und Würdigung erfahren hat.136 Vor der Analyse zunächst die Verse in der Übersetzung von Hölscher : Eins ist der Menschen – ein andres der Götter Geschlecht. Aber von Einer Mutter haben den Odem wir beide. Es trennt nur die ganz verschiedene Kraft (d¼malir): Das eine ist nichts (oqd´m) – der eherne Himmel aber dauert, ein unerschütterter Sitz, in Ewigkeit. Aber dennoch kommen in etwas wir, an großem Sinn (l´car mºor) oder Natur (v¼sir), den Unsterblichen nahe, ob wir gleich nicht wissen das Ziel des Tages, oder zu welchem das Schicksal nach den Nächten uns zu laufen bestimmt ist.137 (Pind. N. 6, 1–7; Übers. U. Hölscher)138 134 So auch Boeke (2007, 68): »A man who heeds the implied warning against overreaching oneself deserves the respect of his community«. 135 Vgl. Gerber (1999, 45). Dort auch entsprechende Belege. 136 Vgl. Bury (1965, 98): »The first strophe of the Ode, is one of the most solemn passages in Pindar«. Ähnlich Dihle (1991, 95): »In die fünfziger Jahre gehört das 6. nemeische Gedicht, dessen erste Zeilen wohl die tiefsinnigste Aussage des Dichters über das Wesen des Menschen enthalten. […] Nichts, was in späterer griechischer Dichtung oder Philosophie über Würde und Begrenzung des Menschen gesagt worden ist, hat der in diesem Gedicht ausgesprochenen Einsicht Wesentliches hinzugefügt«. 137 Eine gelungenere Übersetzung von den Versen 6–7 findet sich bei Schadewaldt: »Ob wir auch weder für den Tag noch über Nacht hin wissen, /Nach welcher Richtschnur uns den Lauf das Schicksal vorschrieb«. Vgl. auch Bremer (1992, 255): »ob wir auch am Tage nicht wissen und nicht über die Nächte hin, /nach welcher Richtschnur uns das Schicksal /zu laufen vorschrieb«. 138 Zur Datierung des Gedichts vgl. Gerber (1999, 34ff.) und Henry (2005, 49). Gerber hält 475 v. Chr. für wahrscheinlich.

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In einer komparativen Betrachtung werden hier Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Göttern bestimmt. Zunächst thematisiert Pindar die grundlegende Verschiedenheit: Das Geschlecht der Menschen ist ein anderes als das der Götter (Vers 1).139 Die Differenz zwischen Menschen und Göttern besteht in der Zeitlichkeit bzw. Überzeitlichkeit (Verse 2–5). Neben diesem grundsätzlichen Unterschied gibt es jedoch gewisse Ähnlichkeiten hinsichtlich geistiger und physischer Qualitäten (Verse 4–5). Zuletzt haben beide einen gemeinsamen Ursprung. Sowohl die Götter als auch die Menschen stammen von der Erdmutter Gaia ab (Verse 1–2).140 In der Forschung ist häufig die Frage diskutiert worden, ob in diesem Proömium der Akzent auf der Gottähnlichkeit oder auf der Gottferne liegt. Für die Differenzthese haben in jüngerer Zeit insbesondere Gerber (1999), Burnett (2005) und Boeke (2007) plädiert.141 Gerber (1999, 43) erklärt: »it is the difference that receives greates prominence«. Ähnlich Burnett (2005, 158): »the thought sequence after the opening line is: common mother, yet separate powers; like in mind and nature, yet separate in knowledge/ignorance of fate«. Mit besonderem Nachdruck hat sich Boeke (2007) für die Differenzthese ausgesprochen. Die von Pindar häufig thematisierten konstitutionsbedingten Schwächen des Menschen wie Krankheit, Alter, Not, Tod seien in der sechsten Nemee »concentrated in the crucial difference between men and gods which overshadows the apparent resemblances and places them in different spheres. […] Against the eternity of the god’s existence man amounts to nothing (oqd´m), and the vaunted resemblance is puny (ti)« (39). Die Kernaussage der ganzen Strophe beinhaltet nach Boeke »the enormity of the difference and distance between them [sc. men and the gods]« (40). Bowra (1964), Bremer (1992) und Theunissen (2002a) meinen hingegen, dass der Akzent eher auf der grundsätzlichen Verwandtschaft und der Möglichkeit

139 Die Untersuchung folgt hier der Lesart von Kloch-Kornitz (1961a, 370f.), der ým !mdq_m, 4m he_m c´mor im Sinn der Verschiedenheit interpretiert (so auch Race 1986, 99). Dem entspricht die zitierte Übersetzung von U. Hölscher. Zur Diskussion der Frage, ob die Eingangsworte im Sinn der Differenz oder der Einheit (Dönt 1986, 205 übersetzt: »Ein und dieselbe ist der Menschen und der Götter Abkunft«) zu verstehen sind vgl. Gerber (1999, 43–45) und Theunissen (2002a, 230–334). Gerber und Theunissen plädieren für die Einheitsthese. Das von Kloch-Kornitz (1961a, 371) dagegen vorgebrachte Tautologie-Argument ist jedoch von keinem der beiden Interpreten wirklich entkräftet worden. Die Differenzthese lässt sich auch mit dem Argument plausibilisieren, dass die Vorstellung von zwei Geschlechtern auf die traditionelle Vorstellung rekurriert. Vgl. Hom. Il. 6, 180 und 6, 145–149. Zur älteren Diskussion dieser Frage vgl. Thummer (1957, 65 Fußn. 1). 140 Mit der gemeinsamen Mutter ist Gaia gemeint, deren Rolle als Mutter der Götter bei Hesiod (theog. 44–48 u. 105ff.) beschrieben wird. Vgl. auch Hom. hymn. An die Mutter der Götter und Hom. hymn. An die Allmutter Erde. 141 Vgl. auch Kloch-Kornitz (1961b).

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einer momenthaften Gottnähe liege.142 Nach Bowra (1964, 96) manifestiert sich in der Strophe »Pindar’s belief that there is after all some kinship between men and gods, which is manifest when men realise their powers to the utmost«. Bremer (1992, 411) meint in Bezug auf N. 6, »daß nicht die Trennung, sondern die Verbindung beider Bereiche das letzte Wort Pindars ist«. Ähnlich Theunissen (2002a), der die Verse 4b–5 (»aber dennoch kommen in etwas wir, an großem Sinn oder Natur, den Unsterblichen nahe« Übers. U. Hölscher) als »Kernaussage« (227) betrachtet und damit die »prinzipielle Möglichkeit des Überstiegs« (234) angesprochen sieht. In gewisser Weise treffen beide Deutungen zu. Der Differenzthese ist insofern zuzustimmen, als die Unterschiede zwischen Menschen und Göttern durch die aufgezeigten Ähnlichkeiten keineswegs aufgewogen oder übertrumpft werden. Die Differenz bleibt das Bestimmende im Verhältnis zwischen Göttern und Menschen. Das »ehrfürchtige Gefühl der Distanz gegenüber den Göttern«, das nach Kloch-Kornitz (1961b, 156) kennzeichnend für Pindars Religiosität ist, durchzieht die ganze Strophe. Dennoch hat auch die von Bowra, Bremer und Theunissen vertretene These eine Berechtigung, da in den Versen auf die Aussage abgezielt wird, dass es bei aller Differenz bestimmte Ähnlichkeiten gibt. Durch den Verweis auf den gemeinsamen Ursprung und die dadurch bedingte Entsprechung in den geistig-gestalthaften Qualitäten143 will Pindar deutlich machen, dass die Differenz keine absolute ist. Die Götter sind nicht das schlechthin Andere, sondern das ursprünglich Verwandte.144 Theunissen (2002a, 234) hat die überzeugende These aufgestellt, dass Pindar gegen die in der frühgriechischen Lyrik anzutreffende »Verabsolutierung des Trennenden opponiert«, und offensichtlich Semonides von Amorgos vor Augen 142 Vgl. auch Bury (1965, 98f.): »But the main thought is that men and gods have a common mother«. 143 Zur Deutung von l´car mºor und v¼sir in den Versen 4b–5 vgl. Kloch-Kornitz (1961b, 156), Bowra (1964, 97), Gerber (1999, 47), Theunissen (2002a, 70 u. 227), Burnett (2005, 158), Henry (2005, 56). 144 Vgl. Kloch-Kornitz (1961b, 155f.): »Zwischen Menschen und Göttern herrscht also eine Art Familienähnlichkeit, die gemeinsame Mutter ist […] die Mutter Erde. Begrifflich formuliert ist das die Immanenz des Göttlichen im Gegensatz zur christlichen Annahme eines transzendenten Schöpfers. Daß Menschen und Götter in ein und demselben Sein leben und weben, ist der Grund dafür, daß ihr Gegensatz kein absoluter, sondern ein polarer ist.« Vgl. auch Bury (1965, 99) und Race (1986, 99). Die durch die Immanenz der Götter begründete Relativität der Differenz wurde von Vernant (1993, 12) als spezifisches Merkmal der griechischen Auffassung vom göttlich-menschlichen Verhältnis hervorgehoben: Die griechischen Götter »haben die Welt nicht erschaffen, sondern sind in ihr und durch sie geboren. […] Ihre Transzendenz ist daher äußerst begrenzt; sie besteht nur in Bezug auf die menschliche Sphäre. Ebenso wie die Menschen, wiewohl über ihnen stehend, sind die Götter integraler Bestandteil des Kosmos. Das heißt, für den Griechen besteht zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen nicht jene radikale Trennung, die für uns die natürliche Ordnung vom Übernatürlichen scheidet«.

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hatte, »der die Kluft so tief aufgerissen hat wie wohl kein anderer«. Das Proömium entwerfe »eine Theoanthropologie, welche die überkommene Vorstellung von einer unüberwindbaren Kluft zwischen Göttern und Menschen durch die Idee einer Einheit von Einheit und Unterschied berichtigt«. Im Folgenden soll der Aspekt der Differenz eingehender betrachtet werden, da dieser für die Untersuchung der apollinischen Selbsterkenntnis von besonderem Interesse ist.145 In den Versen 2b–4a findet sich eine nähere Bestimmung der im Eingangsvers ausgesagten Verschiedenheit der Geschlechter. Die Differenz zwischen Menschen und Göttern besteht in der unterschiedlichen Art der Dynamis: die¸qcei d³ p÷sa jejqil´ma d¼malir »Es trennt nur die ganz verschiedene Kraft« (Übers. U. Hölscher). Diese Differenzbestimmung ist als solche mehrdeutig und gewinnt erst durch den nachfolgenden Satz an Präzision. »Das eine [sc. Geschlecht] ist nichts – », so heißt es dort, »der eherne Himmel aber dauert, ein unerschütterter Sitz, in Ewigkeit«146 b d³ w²kjeor !svak³r aQ³m 6dor l´mei oqqamºr (Übers. U. Hölscher). Theunissen (2002a, 229) deutet das ›Nichts‹ im Sinn einer »völligen Kraftlosigkeit«, die im Gegensatz zur »geballten Kraft« der Götter stehe.147 Diese Deutung impliziert die Annahme, dass der Intensitätsgrad der Kraft das zentrale Unterscheidungsmerkmal darstellt. Für diese Lesart gibt es jedoch in der Passage keinerlei Anhaltspunkte.148 Das ›Nichts‹ ist ebenso mehrdeutig wie die zuvor thematisierte Dynamis. Die Frage, in welcher Hinsicht das menschliche Geschlecht nichts ist, beantwortet Pindar erst durch die nachfolgende Bestimmung der Götter. Durch die Beschreibung des Göttlichen als unzerstörbar, unerschütterlich, ewig wird deutlich, dass sich die in den Versen 2–3 ausgesagte Verschiedenheit der Dynamis auf die Dauer und Stabilität bezieht.149 Im Gegensatz zu den göttlichen Potenzen150 kann die Kraft der 145 Dihle (1991, 95) sieht in der Differenzbestimmung der sechsten Nemee eine Artikulation »der durch delphische Frömmigkeit geschärften Erkenntnis der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind und die ihn von den Göttern trennen« und stellt damit explizit den Bezug zur apollinischen Selbsterkenntnis her. 146 Vgl. Hes. theog. 128 u. Hom. Od. 6, 42–46. 147 »Die den zweiten Schritt einleitenden Worte die¸qcei d³ p÷sa jejqil´ma d¼malir zielen […] auf den Gegensatz von geballter Kraft und völliger Kraftlosigkeit. Kraft haben allein die Götter. […] Weil aber den Menschen keine Kraft innewohnt – eben darum sind sie ein Nichts –, muß ihnen die Kraft zum Überstieg von den Göttern zuteil werden« (Theunissen 2002a, 229). 148 Theunissen bezieht sich auf O. 13, 83. 149 So kürzlich auch Boeke (2007, 39): »The d¼malir allotted to the gods is of a totally different order to that of man. Their power or vital force is one of immortality, represented here by the image of heaven as a dwelling-place both secure and everlasting«. Ähnlich schon Race (1986, 99). Wenig überzeugend ist hingegen Kloch-Kornitz (1961b, 155), der die angeführte d¼malir auf den Handlungserfolg bezieht und sie als Fähigkeit versteht, die selbstgesetzten Ziele zu erreichen. Auf diese Deutung weist in den Versen nichts hin, was Kloch-Kornitz indirekt eingesteht, indem er als Belege P. 2, 49 und N. 7, 6 anführt. 150 Vgl. Pind. fr. 143 Snell: »[die Götter sind] Ohne Krankheit, vom Alter befreit, der Not / Nicht

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Menschen durch Krankheit und Not geschwächt werden und verfällt im Alter und Tod irreversibel. Das Sein des Menschen wird hier unter dem Gesichtspunkt des möglichen und letztlich unvermeidbaren Verfalls betrachtet und von daher als ›Nichts‹ bezeichnet.151 Mit dem ›Nichts‹ ist der Mensch gleichsam von seinem Ende her bestimmt. Genau genommen ist die Nichtigkeit des Menschen eine latente, die erst mit dem tatsächlich einsetzenden Kräfteschwund manifest wird.152 Die Unzerstörbarkeit und unbegrenzte Dauer des göttlichen Seins wird in dem Proömium als Kerndifferenz zwischen Göttern und Menschen kenntlich gemacht. Damit artikuliert Pindar eine Sichtweise, die bereits im Epos zu finden war und bis in die klassische Zeit hinein vorherrschend blieb. Nach Burkert (GR, 290) ist es der Tod, der im religiösen Denken der Griechen die Trennungslinie zwischen menschlichem und göttlichem Bereich bezeichnet: »hier die Sterblichen auf dem Weg zu ihrem Ende, dort die todlosen Götter«.153 Das Wort !h²matoi ist einer der in der frühgriechischen Literatur am häufigsten verwendeten Ausdrücke zur Bezeichnung der Götter. In Anknüpfung daran lässt sich das spezifische Merkmal des göttlichen Seins auch mit dem Prädikat der Unsterblichkeit fassen. Dabei ist freilich immer hinzuzufügen, dass nicht die unendliche Fortdauer des Daseins als solche gemeint ist, sondern die Unbegrenztheit der vollen, aller Fähigkeiten teilhaftigen Existenz. Der Akzent liegt auf dem dauernden Besitz der Kräfte oder – klassisch formuliert – auf dem dauernden Besitz des Guten154, nicht aber auf dem bloßen Weiterleben. In der Eingangsstrophe der 6. Nemee sind noch weitere Differenzen zwischen Gott und Mensch thematisch präsent. Die Verse 4–5 (»aber dennoch kommen in etwas wir, an großem Sinn oder Natur, den Unsterblichen nahe« Übers. U. Hölscher) implizieren eine Aussage über den geringeren Grad der menschlichen

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kundig, dumpferdröhnender / Fahrt durch den Acheron ganz entronnen…« (Übers. O. Werner). Vgl. auch Soph. Oid. K. 607ff. Fränkel (1969, 541) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Aussage ›der Mensch ist im Vergleich zu den Göttern ein Nichts‹ keine Selbsterniedrigung oder Demutshaltung verbunden ist: »das christliche Gefühl der Zerknirschung und Selbstentäußerung vor Gott liegt Pindar sehr fern«. Die Identifizierung des Nichts mit dem Verlust der sinnlich-mentalen Kräfte findet sich auch bei Sophokles fr. 871 Radt: »Doch immer dreht sich auf des Gottes raschem Rad / mein Schicksal weiter und verändert seine Art, / so wie des Mondes Antlitz nie zwei Nächte lang / in einer und derselben Form verharren kann: / ja, aus dem Unsichtbaren kommt er anfangs jung, / verschönert sein Gesicht und rundet’s mehr und mehr, / und jedesmal, wenn es am stattlichsten erscheint, / vergeht es wiederum und kehrt zurück ins Nichts (p²kim diaqqe? j!p· lgd³m 5qwetai)« Übers. W. Willige. Ähnlich Vegetti (1993, 306): »Die Unsterblichkeit schafft eine unüberwindbare Grenze zwischen Gott und Mensch«. So auch Boeke (2007, 54) in Bezug auf Pindar : »The analysis of Nem. 6, 1–7 has shown that death is what primarily distinguishes man from god. Mortality is his central characteristic«. Vgl. die Diotima-Rede in Platons Symposion (insbes. 207a).

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Kräfte. Die Menschen verfügen zwar aufgrund des gemeinsamen Ursprungs über ähnliche geistige und gestalthafte Qualitäten und sind insofern den Göttern nah. Dennoch bleibt eine unüberwindbare Kluft: »Die Götter sind und bleiben die ›Stärkeren‹« (Burkert GR, 292), die den Menschen hinsichtlich des Grades an Wirkkraft, Schönheit, Macht, Wissen um ein Vielfaches übertreffen.155 Diese unaufhebbare, durch keinen unendlichen Annäherungsprozess zu minimierende Differenz wird an der epistemischen Fähigkeit anschaulich vorgeführt (vgl. Verse 6–7). Zwar besitzt der Mensch eine praktische Rationalität; er vermag sein Leben planend zu gestalten und Geschehnisse und Handlungsfolgen zu überdenken. Bezüglich der Voraussicht des künftigen Geschicks und des Ausgangs der Handlungen sind ihm jedoch deutliche Grenzen gesetzt. Wir wissen weder »am Tage« noch »über die Nächte hin, nach welcher Richtschnur uns das Schicksal zu laufen vorschrieb« (ja¸peq 1valeq¸am oqj eQdºter oqd³ let± m¼jtar %lle pºtlor ûmtim( 5cqaxe dqale?m pot· st²hlam Verse 6–7; Übers. D. Bremer). Die Voraussicht der Folgen des Handelns und der künftigen Ereignisse sowie die damit verbundene Erfolgssicherheit im Handeln (vgl. P. 2, 49) bleiben den Göttern vorbehalten. In der sechsten Nemee klingt noch eine dritte Differenz an: die im menschlichen Bereich anzutreffende Unbeständigkeit der Kräfte und Güter. Mit dem Motiv des Veränderlichen, Wandelbaren ist primär der Wechsel, das Auf und Ab der Kräfte angesprochen und nicht so sehr der definitive, irreversible Verfall. Der Aspekt wird durch die Feldmetapher in der Antistrophe veranschaulicht (Verse 8–11). So wie der Ackerboden im Wechsel einmal Früchte trägt und dann wieder brach liegt, so wechseln auch die Leistungen innerhalb der berühmten menschlichen Geschlechter : eine Generation ist leistungsstark und erringt unzählige Siege in den athletischen Wettkämpfen, die nächste Generation erscheint hingegen leistungsschwach und erfolglos. Das hier angedeutete zyklische Modell steht in engem Zusammenhang mit der das ganze pindarische Werk durchziehenden Annahme eines Wechsels von Glück und Unglück.156 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der sechsten Nemee eine komplexe anthropologische Konzeption enthalten ist, die alle Aspekte umgreift, die in der bisherigen Untersuchung als Gehalt der apollinischen Selbstbesinnung herausgehoben werden konnnten. In Anknüpfung an die homerischen Epen wird im Präomium die condicio humana in ihren Möglichkeiten und Grenzen157 bestimmt und die Endlichkeit des Menschen in allen Aspekten ausgelotet. 155 Es wurde schon oft darauf hingewiesen, dass die griechischen Götter nicht das Absolute verkörpern. Zwar sind sie gegenüber den Menschen die Stärkeren; sie besitzen jedoch keine Allmächtigkeit und auch keine Allwissenheit. Vgl. dazu Burkert (GR, 283), Vernant (1993, 12), Vegetti (1993, 308), Veyne (2008, 15f.). 156 Zum zyklischen Modell vgl. Soph. Trach. 126–135. 157 Vgl. Hölscher (2002, 109f.): Die pindarischen Gedichte sind »durchdrungen von dem Be-

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In der Forschung ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass die apollinische Einsicht in die menschliche Begrenztheit die Konzeption eines unbegrenzten, vollkommenen Seins einschließt. So betont Burkert (GR, 233) den in der apollinischen Selbsterkenntnis mitgesetzten »Entwurf des Höheren, Absoluten«. »Die Erkenntnis der Schranke besagt, daß das Beschränkte nicht alles ist« (233).158 Im Hinblick auf die in der Selbsterkenntnis implizierte Gottesvorstellung könnte man hier mit Theunissen (2002a, 234) von einer ›Theoanthropologie‹ sprechen. Allerdings mit dem einschränkenden Zusatz, dass es sich bei dieser ›Anthropologie‹ nicht primär um eine theoretische Klärung des Menschen handelt, sondern um eine existenzielle Einsicht, die für die Gestaltung der Lebenspraxis relevant ist. Auf die der apollinischen Selbsterkenntnis zugrunde liegende anthropomorphe Gottesvorstellung kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.159 Im Kontext dieser Untersuchung ist lediglich daran zu erinnern, dass die Götter im religiösen Denken der archaischen Zeit als individuelle Personen betrachtet wurden, die über ein Höchstmaß an Qualitäten und Fähigkeiten verfügen. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass die im Epos gestalteten anthropomorphen Götterfiguren Projektionen von aristokratischen Ideal- und Wunschvorstellungen bezeichnen.160 Die Götter wurden als vollkommene Verkörperung jener Werte betrachtet, die man selbst anstrebte, aber nur in begrenztem Maße zu erreichen vermochte. Bei aller Läuterung, die die homerischen Götter im Laufe der Zeit erfahren haben161, ist dieses Gottesbild

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wußtsein von den Grenzen des Menschen: seiner Sterblichkeit, dem Wechsel des Glücks, der Ungewißheit der Zukunft«. Mit Trawny (2003, 236) kann man hier von einer »Differenzendreiheit« sprechen. Zwar lässt sich bei Pindar eine bestimmte Gewichtung der drei Aspekte beobachten. Die Vergänglichkeit bzw. Sterblichkeit wird eindeutig als Hauptdifferenz kenntlich gemacht. Es wird jedoch nirgendwo erkennbar, dass die Differenzen auseinander ableitbar sind. So auch Trawny (2003, 236). Trawny bezieht sich allerdings nicht auf Pindar, sondern auf die hoch- und spätklassische Literatur. Zu den Voraussetzungen der Selbsterkenntnis vgl. auch Snell (1975, 170): »Diese Einsicht setzt mancherlei voraus, was nicht selbstverständlich bleiben sollte. Wenn sich selbst erkennen heißt, sich auf das Menschliche zu beschränken und nicht in das Göttliche überzutreten, so gilt als ausgemacht, daß man Macht und Herrlichkeit der Götter kennt – aber auch, daß der Mensch nach ähnlicher Macht und Herrlichkeit strebt«. Vgl. dazu Burkert (GR, 282ff.). Nach Burkert wurden die vom Epos gestalteten anthropomorphen Götter erst ab Ende des 6. Jh. v. Chr. problematisch. In diesem Zeitraum gewannen die zunächst in der Dichtung auftretenden ›Personifikationen‹ abstrakter Begriffe zunehmend größere Bedeutung (287). Bei Pindar finden sich sowohl die traditionellen anthropomorphen Göttervorstellungen als auch Personifikationen. Vgl. dazu Fränkel (1927, 58ff.). So z. B. Vegetti (1993, 306): »Im Epos feierte diese Aristokratie sich selbst, ihre Ursprünge und ihre Helden; zugleich verlieh sie ihren Gottheiten Form und Gestalt, wobei sie ihre eigenen Idealvorstellungen auf sie projizierte«. Vgl. die Götterkritik von Xenophanes DK 21 B 14–16. Vgl. Pindars Bemühungen um eine Reinigung der Götter (O. 1, 35 u. 53). Dazu Rudberg

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lange Zeit vorherrschend geblieben und dürfte auch noch die Polis-Religion des 6. Jh. v. Chr. maßgeblich bestimmt haben.162 Bedenkt man, dass dieses anthropomorphe Gottesverständnis als Maßstab der Selbstbesinnung fungierte, so werden die Grenzen der vorphilosophischen Selbsterkenntnis in ersten Umrissen sichtbar. Die apollinische Selbstbesinnung erscheint vor diesem Hintergrund als Einsicht in die mangelnde Fähigkeit des Menschen, an den präferierten Werten dauerhauft und umfassend teilzuhaben.163 Die zugrunde gelegten Wert- und Zielvorstellungen sowie das Verständnis von personaler Identität bleiben dabei unhinterfragt.

f)

Selbsterkenntnis und Maßethik (P. 2, 34; I. 5, 12–16; P. 3, 59–62)

Die Analyse des sechsten nemeischen Gedichts hat gezeigt, dass im Proömium ein anthropologisches Konzept enthalten ist, das sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen des Menschen umfasst. Aufgrund seines göttlichen Ursprungs ist der Mensch mit geistig-physischen Potenzen ausgestattet, die den Kräften der Götter ähnlich sind. Die gegebenen Qualitäten ermöglichen es ihm, hervorragende Leistungen zu vollbringen und eine momenthafte Gottnähe zu erlangen. Bei aller Ähnlichkeit und Nähe bleiben jedoch die menschlichen Kräfte und Leistungen selbst in den höchsten Augenblicken, auf dem Gipfel der Tüchtigkeit, hinter den göttlichen Taten zurück. »Nimmer kann er den ehernen Himmel ersteigen«, so heißt es in der zehnten Pythie, »Doch allen Glanzes, daran sterbliches Volk wir rühren, /Zum Äußersten dringt seine Fahrt« (P. 10, 27–29; Übers. U. Hölscher).164 Der Mensch ist in der Lage in einer ›äußersten Fahrt‹, unter Aufbietung aller Kräfte an die ›Säulen des Herakles‹165 zu rühren – darin

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(1970, 270): »Die ethische Forderung wird strenger : die Gottheit muß gut sein, die Götter sind gut, und man darf sie nicht schmähen«. Nach Burkert (GR, 287) begannen erst gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. die vom Epos gestalteten plastischen Götterindividualitäten problematisch zu werden. Die Einführung der zunächst in der Dichtung auftretenden Personifikationen abstrakter Begriffe in den Kult sei im 4. Jh. erfolgt. In der Forschung wurde schon häufig darauf verwiesen, dass es aufgrund des gemeinsamen Ursprungs zwischen Menschen und Göttern nur Abstufungen und Gradunterschiede gibt, aber keine kategoriale, wesensmäßige Differenz. Nach Vernant (1993, 14) äußert sich »der Unterschied zwischen unten und oben […] in einer relativ bruchlosen Abstufung, die vom Weniger zum Mehr, von der Entbehrung bis zur Fülle reicht, ohne daß dabei der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom Relativen zum Absoluten, vom Zeitlichen zum Ewigen aufgrund ihrer Inkommensurabilität einen vollständigen Wechsel der Ebene erfordert hätte.« Vgl. auch Veyne (2008, 16). Dönt (1986, 167) schlägt folgende Übersetzung vor: »Den ehernen Himmel kann er niemals ersteigen:/ doch in dem Maße, in dem wir sterbliches Volk an Ruhmesglanz zu rühren vermögen, erreicht er ihn [sc. den Ruhmesglanz] in seiner äußersten / Fahrt«. Vgl. O. 3, 43f. u. I. 4, 12.

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besteht seine Größe. Er vermag jedoch niemals den Himmel zu erreichen und eine Gottgleichheit zu erlangen166 – darin besteht seine Grenze. Aus diesen theoanthropologischen Grundannahmen zieht Pindar zwei Konsequenzen, die in Form von Paränese und Appell das ganze Werk durchziehen. Zum einen wird zu einer Aktualisierung der gottverwandten Kräfte aufgefordert und eine Leistungsethik geltend gemacht. Daseinserfüllung und menschenmögliche Eudaimonia sind nur durch die Verwirklichung der Natur, d. h. der angeborenen, ursprünglich gottgegebenen167 Anlagen zu erreichen. Zwar begründen die gottverwandten Fähigkeiten schon als solche, unabhängig von ihrer Manifestation in der herausragenden Leistung den Wert des Menschen.168 Aber : »Seine Natur macht […] noch nicht allein den Wert des Mannes aus: er kann sie ›beschämen‹, ›verleugnen‹. […] Schlecht ist der Zauderer, der Faule, der Sparsame. […] Die Qualität, die unbekannt, verborgen, innerlich bleibt, ist keine: sie hat nach außen zu treten in der weithin sichtbaren Tat« (Hölscher 2002, 112f.).169 Das Gelingen der geforderten Leistungen ist nach Pindar von verschiedenen Faktoren abhängig. Der erfolgreiche Aufstieg170 zu Tüchtigkeit, Ruhm und Glanz bedarf nicht nur der guten Natur (vu²)171, sondern auch der eigenen Anstrengung172 und der vom Menschen unverfügbaren, geschenkten Gunst der Götter. Nach Theunissen (2002a, 71) ist hier von einer wechselseitigen Bedingtheit der 166 Vgl. I. 7, 43f. 167 Zum göttlichen Ursprung der von Pindar mit dem Ausdruck vu² bezeichneten Anlagen vgl. Theunissen (2002a, 72), Thummer (1957, 65–67) und Fränkel (1927, 45 u. 56). Fränkel bezieht sich insbesondere auf P. 1, 41f.: 1j he_m c±q lawama· p÷sai bqot´air !qetair, ja· sovo· ja· weqs· biata· peq¸ckysso¸ t( 5vum »Von den Göttern kommen alle Möglichkeiten sterblicher Leistung, kommt die Klugheit und der Arme Kraft und die Gewalt der Rede« (Übers. H. Fränkel). Hölscher (2002, 23) übersetzt folgendermaßen: »Von den Göttern nämlich kommt / Alles Vermögen sterblichen Tüchtigkeiten: / Werden Weise, oder mit Armen Gewaltige, oder Beredte«. 168 Zur pindarischen Wertschätzung der angeborenen Fähigkeiten (vu²) und der Abgrenzung von der sophistischen Annahme der Erlernbarkeit aller Dinge vgl. Hölscher (2002, 111f.). Zur Bedeutung von vu² bei Pindar vgl. Theunissen (2002a, 70–72). 169 Vgl. Pind. I. 1, 67f. 170 Theunissen (2002a, 217ff.) spricht in diesem Kontext von ›Überstieg‹ und ›Transzendenz‹. Beide Begriffe sind zur Bezeichnung des gemeinten Sachverhaltes jedoch kaum geeignet. Der Mensch übersteigt nach Pindar nicht sein Dasein auf eine andere Seinsweise hin, er erreicht niemals das »gegenüberliegende Ufer«, wie Theunissen (2002a, 229) richtig bemerkt, sondern schöpft im gelingenden Leistungsstreben lediglich die durch Veranlagung vorgegebenen Möglichkeiten des irdischen Daseins voll aus. Der Mensch kann auf keine Weise, auch nicht momenthaft, das göttliche Sein berühren; sein Streben ist vielmehr »ein die Ferne nicht vollständig überwindendes Nahekommen«, wie Theunissen (2002a, 229) wiederum richtig sieht. 171 Bei aller Gemeinsamkeit hinsichtlich des göttlichen Ursprungs der geistigen und physischen Potenzen gibt es nach Pindar erhebliche individuelle Unterschiede bezüglich des Grades und des Umfangs der angeborenen Kräfte. Vgl. N. 7, 54–56; O. 1, 113. 172 Vgl. z. B. Pind. I. 6, 10f.

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Faktoren auszugehen: »Zwar verbürgen Anlage und Anstrengung für sich noch nicht den Sieg; aber auch umgekehrt vermag die Hilfe der Götter nichts, wenn es an !qet² und vu² mangelt«. Die zweite Konsequenz, die Pindar aus den oben aufgezeigten anthropologischen Grundannahmen zieht, besteht in der Mäßigung der agonalen Antriebe, Ansprüche und Handlungsziele. Aus dem Faktum der begrenzten menschlichen Kondition wird eine Maßethik abgeleitet, die in Form von Appellen und Ermahnungen das ganze pindarische Werk durchzieht. »Wenn einer Gesundheit und Glück pflegt, / an Gütern genug besitzt und einen guten Namen dazusetzen kann, so strebe er nicht, Gott zu werden«, heißt es in der fünften olympischen Ode (5, 23f.; Übers. E. Dönt). Ganz ähnlich wird in der fünften Isthmie erklärt: »Zwei Dinge sind es allein, die des Lebens holdeste Frucht gedeihen lassen mit blühendem Segen: / wenn es einem wohlergeht und er edlen Ruf besitzt. / Strebe nicht, Zeus zu werden!« (I. 5, 12–14; Übers. E. Dönt). Hier wie dort wird dazu ermahnt, sich mit dem Vorhandenen zu bescheiden und nicht nach Zielen Ausschau zu halten, die dem Menschen nicht angemessen sind. Damit wird keineswegs der Mittelmäßigkeit und dem kleinen behaglichen Glück das Wort geredet.173 Der Mensch soll sich im Sinn der Leistungsethik hohe und höchste Ziele setzen und das Mögliche ausschöpfen. Gewarnt wird lediglich vor Grenzüberschreitungen: »Durch äußerste Mannhaftigkeit / rühren sie von zu Hause bis an die Säulen des Herakles. / Doch strebe nach keinem noch größerem Erfolg!« (I. 4, 11–13; Übers. E. Dönt). Oder : »Könige haben den äußersten Gipfel erreicht. / Schau nicht noch weiter aus!« (O. 1, 113f.; Übers. E. Dönt).174 Das Darüber-hinaus-Streben führt zu Sturz und Untergang, wie in der siebten Isthmie anhand des Bellerophontes-Mythos anschaulich dargestellt wird (vgl. I. 7, 43ff.). Leistungsethik und Maßethik sind bei Pindar untrennbar miteinander verknüpft. Das erfolgreiche Leistungsstreben birgt aufgrund der menschlichen Neigung zur Selbstüberschätzung und Selbstvergöttlichung175 die Gefahr in sich, in Hybris umzuschlagen und damit das erreichte Glück in Unglück zu verkehren. Um die Gefahr zu bannen und die mit der Tüchtigkeit verbundene Ehre, Güterfülle und Eudaimonia zu bewahren, ist die Mäßigung nötig. Mit anderen 173 So auch Fränkel (1969, 541): »Pindar tritt […] nicht für kleinmütigen Verzicht ein, oder für den goldnen Mittelweg bürgerlichen Behagens, oder ein Glück im Winkel«. 174 Nach Theunissen (2002a, 225) ist bei Pindar das Verbot der Himmelsstürmerei im NichtKönnen begründet: »Weil es Menschen verwehrt ist, hinauszugelangen zum erzbödigen Sitz der Götter (I.7.44), ist ihnen auch verboten, danach zu streben«. Analog dazu sieht Theunissen das Sollen der Leistungsethik im Können begründet. 175 Die von Pindar thematisierte menschliche Neigung zur Gleichsetzung mit den Göttern ist im Zusammenhang mit der oben erwähnten Annahme der Gottgegebenheit der menschlichen Kräfte zu sehen. Der göttliche Ursprung und die Verwandtschaft hinsichtlich der Potenzen ist nicht Ursache, aber Möglichkeitsbedingung der Selbstvergöttlichung.

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Worten: Die aristokratische Leistungsethik bedarf zur Stabilisierung und Sicherung ihrer Erfolge der apollinischen Maßethik, die Pindar so tief verinnerlicht hat wie wohl kaum ein anderer Dichter dieser Epoche. Da die Maßethik bei Pindar in der menschlichen Kondition begründet wird, erscheint der Appell zur Mäßigung häufig im Zusammenhang mit der Aufforderung zur Selbsterkenntnis.176 Die Verbindung von Selbstbesinnung und Maßethik wird insbesondere in der zweiten pythischen Ode und in der fünften Isthmie deutlich. In der zweiten Strophe der Ode für Hieron von Syrakus (P. 2) bedient sich Pindar der mythischen Ixion-Erzählung, um die verderblichen Folgen eines unangemessenen Verhaltens gegenüber den Göttern zu veranschaulichen. Ixion wurde nach der Sage eine besondere Göttergunst zuteil. Nachdem er durch Tötung eines Verwandten Blutschuld auf sich geladen hatte und keiner den schutzflehenden Mörder reinigen wollte, wurde er schließlich von Zeus entsühnt und zum Tischgenossen der Götter gemacht. »Doch er ertrug nicht den reichen Segen, und verblendet / begehrte er Hera und das wonnige Bett des Zeus, / für das sie bestimmt war. Frevelmut trieb ihn zu Verbrechen / über die Maßen. Alsogleich erfuhr der Mann das ihm Gebührende / und erlitt unendliches Leid« (P. 2, 26–30; Übers. E. Dönt). Nach einer wiederholten Formulierung der Verfehlung des Ixion führt Pindar schließlich folgende Gnome an177: Es gilt, sich selbst gemäß stets bei allem zu sehen das Maß.178 (wqµ d³ jat( aqt¹m aQe· pamt¹r bq÷m l´tqom). (Pind. P. 2, 34; Übers. D. Bremer)

Der Kontext macht deutlich, dass der Satz nicht im Sinn eines ethischen und erkenntnistheoretischen Relativismus bzw. eines protagoräisch verstandenen Menschenmaßes zu verstehen ist. Im Hintergrund steht hier, wie auch sonst bei Pindar, ein religiöses Bewusstsein, das den Menschen stets ins Verhältnis zu den Göttern setzt. Wilkins (1979, 14) sieht in der Gnome eine indirekte Anspielung (»an indirect allusion«) auf die delphische Maxime cm_hi sautºm.179 In Anknüpfung an die Scholien180 erklärt sie: »the idea of taking one’s own measure was to the Greek an

176 Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis wird besonders deutlich in N. 11, 15f. artikuliert. 177 Norwood (1974, 189) sieht darin die von Pindar herausgehobene ›Moral‹ der Ixion-Geschichte. 178 Dönt (1986, 97) übersetzt P. 2, 34 wie folgt: »An sich selbst soll man bei jedem allemal die Grenze sehen«. 179 Die Verknüpfung von P. 2, 34 mit dem delphischen cm_hi seautºm findet sich auch bei Courcelle (1974/75, I, 13). 180 Wilkins stützt sich auf das Scholion: t_m jat± tµm 2autoO d¼malim t¹ l´tqom sjope?m ja· to¼tym 1pihule?m, ja· lµ t_m rp³q d¼malim aq´ceshai. floiom d³ toOto t` rp¹ W¸kymor 1m

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instant reminder of cm_hi sautºm« (14). Das ist gewiss richtig. Es fragt sich jedoch, inwiefern in der Gnome die Selbsterkenntnis thematisch enthalten ist. Wie kann der Zusammenhang von Selbstmaß und Selbsterkenntnis präziser bestimmt werden? Die Analyse zeigt zunächst, dass der Weisheitsspruch zwei Aussagen in sich birgt. Erstens: Der Mensch soll in allen Situationen und hinsichtlich aller Dinge das Maß erkennen und entsprechend handeln. Der praktische Tätigkeitsaspekt ist hier zweifellos mitgemeint, auch wenn er nicht explizit thematisiert wird.181 Zweitens: Der Mensch soll das Maß im Hinblick auf das eigene Selbst bestimmen. Wie in der Analyse der achten Pythie angedeutet, bindet Pindar die personale Identität an die physischen und geistig-seelischen Anlagen und deren Aktualisierung. Das Angemessene in der konkreten Situation bestimmt sich folglich nach Vermögen und Leistungen und dem dadurch begründeten Rang innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Der Einzelne soll im Hinblick auf seine Natur – auf Anlagen, Herkunft und Exzellenz – eine korrekte Einschätzung darüber treffen, welche Position er in bestimmten Handlungskontexten und Kräfteverhältnissen einnimmt und was ihm jeweils zusteht. Aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass Pindar bei der Aufforderung in Vers 34 nicht nur das individuelle Selbst im Blick hat, sondern primär die Orientierung an der menschlichen Natur meint. Der der Gnome vorausgehende Ixion-Mythos thematisiert das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern und beschreibt exemplarisch die Überschreitung der menschlichen Grenzen, die im apollinisch geprägten Denken Pindars die größte und folgenreichste Verfehlung ist. Die Paränese in Vers 34 bezieht sich vornehmlich auf die Einhaltung der Grenze zwischen Mensch und Gott und lässt sich daher wie folgt paraphrasieren: Der Mensch soll das ihm Angemessene und Zukommende im Hinblick auf die spezifisch menschliche Kondition bestimmen. Damit die menschliche Natur als Orientierungspunkt des Handelns fungieren kann, muss sie in ihrer spezifischen Beschaffenheit und ihrer Relation zur göttlichen Natur bewusst gemacht werden. Das Motiv der Selbsterkenntnis ist also insofern in die Paränese eingefasst, als die Vergegenwärtigung der condicio humana die Vorausssetzung für die geforderte Bestimmung des situativ Angemessenen und des entsprechenden Verhaltens ist.182 Dekvo?r (eccqav´mti [cm_hi saut¹m] (Drachmann, Vol. II, 42; hier zitiert nach Wilkins 1979, 14 Fußn. 16). 181 Die gemeinte Art von Einsicht (bq÷m) ist als handlungsgenerierende Erkenntnis zu verstehen Zur Einheit von Erkennen und Handeln im traditionellen griechischen Denken vgl. Dirlmeier (1970, 45). 182 Vor dem Hintergrund dieser Deutung lässt sich die thematisch verwandte Gnome »Bei jeglichem ist ein Maß gegeben; dies einzusehen ist der beste Kairos« (6petai d( 1m 2j²st\ / l´tqom7 mo/sai d³ jaiq¹r %qistor. O. 13, 47f.) im Sinn einer Aussage über die lebenspraktische Relevanz der Einsicht in das objektiv gegebene Maß verstehen. Die situations-

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Die dargestellte Verknüpfung von Selbstbesinnung und Mäßigung findet sich in ähnlicher Form in der fünften isthmischen Ode. Die relevante Passage lautet wie folgt: Zwei Dinge aber weiden allein Des Lebens Blüte, die erfreulichste, Mit wohlblühendem Segen (ekbor): Wenn einem Gutes widerfuhr (ew p²sweim) und er edlen Ruhm (kºcor 1skºr) vernimmt. Trachte nicht, Zeus zu werden: alles hast du, Wenn dich dieser schönen Dinge Teil erreicht. (eU se to¼tym lo?q( 1v¸joito jak_m) Sterbliches Sterblichen geziemt (hmat± hmato?si pq´pei). (Pind. I. 5, 12–16; Übers. W. Schadewaldt)

Die Argumentation verläuft hier in drei Schritten. Zunächst wird das durch den athletischen Sieg bedingte Glück des Phylakidas besungen. In den Versen 12–13 trifft Pindar die allgemeine Aussage, dass es zwei Dinge sind, die das Leben erfüllen und das Glück verbürgen: Der durch die Götter wesentlich mitbedingte Erfolg (vgl. Vers 11) und der damit einhergehende Ruhm. Dem Preisen des Siegerglücks folgt im zweiten Schritt die Warnung vor Hybris und die Aufforderung zur Bescheidung. Im dritten Schritt wird eine Begründung der geforderten Selbstbeschränkung angeführt: ›Sterbliches Sterblichen geziemt‹ (hmat± hmato?si pq´pei I. 5, 16).183 Die Gnome ist in diesem Kontext der eigentliche Schlüsselsatz und soll daher genauer betrachtet werden. In der Forschung wird die Sentenz des Öfteren mit der apollinischen Ethik und dem cm_hi sautºm assoziiert. So meint z. B. Janke (2005, 36), dass aus dem Satz »delphische Frömmigkeit« spreche. Reiser (1992, 84) und Göbel (2002, 20f.) sehen in der Sentenz eine Paraphrase des ›ursprünglichen‹, d. h. religiös-theologischen Bedeutungsgehaltes des cm_hi sautºm. Ähnlich wie in der zweiten Pythie wird jedoch das Motiv der Selbsterkenntnis in I. 5 nicht explizit thematisiert. Auch hier gilt es folglich in der Analyse aufzuzeigen, inwiefern der Satz das cm_hi sautºm impliziert. bezogene Erkenntnis des Maßes bewahrt vor Schaden und Unheil und ist Voraussetzung eines gelingenden Handelns und eines relativ stabilen Glücks. Theunissens Vorschlag, das Wort jaiqºr an dieser Stelle mit »Treffen des Punktes« (2002a, 848) zu übersetzen und seine Paraphrase der Gnome (»die Beachtung des Umstands, daß jeglichem ein Maß einwohnt, ist das beste Treffen des Punktes – das besagt: Sie verbürgt die größte Treffsicherheit« 2002a, 848) deuten in eine ähnliche Richtung. Auch Dönts (1986, 77) Übersetzungsvorschlag (»Beigegeben ist bei jedem ein Maß. Dies einzusehen ist die Erfüllung.«) drückt das Handlungsgelingen und die Eudaimonia als Folge der Einsicht in das Maß aus. 183 Zu dem sinnverwandten sophokleischen Spruch hmgtµm d³ v¼sim wqµ hmgt± vqome?m (fr. 590 Radt) und den entsprechenden Variationen in der klassisch-hellenistischen Dichtung vgl. oben Kap. A II 3c. Dem hmgt± vqome?m nahe steht auch P. 3, 59f. Zur Bedeutung dieser Gnome vgl. Theunissen (2002a, 225): »Das Wort hmat± hmato?si pq´pei […] könnte als Motto über Pindars Gesamtwerk stehen«

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Zunächst ist zu beobachten, dass analog zu P. 2, 34 das Angemessene und das Selbst in ein Begründungsverhältnis gebracht werden. Das dem Menschen Gebührende, Geziemende, Zukommende bestimmt sich im Hinblick auf seine Natur. Weil der Mensch eine sterbliche Natur besitzt, gebührt ihm nur Sterbliches, nicht aber – so darf man hinzufügen – Unsterbliches. Die an dieser Stelle vorgenommene Bestimmung des Gebührenden ist freilich interpretationsbedürftig. Angesichts des vorangehenden Verses: »alles hast du, / Wenn dich dieser schönen Dinge Teil erreicht« (I. 5, 14–15)184, verbietet sich eine rein temporale Deutung des Sterblichen, wie sie z. B. Race (1986, 99) vorgeschlagen hat.185 Die Thematisierung des Anteils am Schönen in Vers 15 weist vielmehr daraufhin, dass das Sterbliche an dieser Stelle primär quantitativ zu verstehen ist. Weil die menschliche Dynamis begrenzt ist und der Mensch einen vergleichsweise geringen Anteil an den physisch-geistigen Potenzen besitzt, gebührt ihm auch nur ein begrenzter Anteil an den ›schönen Dingen‹, d. h. an solchen Gütern wie Erfolg, Ruhm, Macht, Reichtum.186 Wie oben ausgeführt, sind mit dem Ausdruck hmatºr bzw. hmgtºr nicht nur der Aspekt der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins und die Inkonstanz der menschlichen Kräfte und Güter gemeint, sondern auch der begrenzte Umfang der Potenzen und Güter. In unserer Sentenz liegt der Akzent ganz offensichtlich auf dem letzten Aspekt. Nach dieser Auslegung lässt sich leicht erkennen, inwiefern hier die Selbsterkenntnis impliziert ist. Um nach herausragenden Leistungen das Maß hinsichtlich der Strebensziele und Ansprüche zu wahren, ist eine Einsicht in das dem Menschen Gebührende nötig, die zu ihrer Begründung der Selbsterkenntnis bedarf. Die Einsicht, dass Menschen (nur) Sterbliches zukommt ist auf die Vergegenwärtigung der menschlichen Sterblichkeit in all ihren Aspekten angewiesen. In der dritten Pythie lassen sich ebenfalls Spuren einer apollinischen Selbsterkenntnis erkennen. Allerdings ist dieses Motiv dort nicht in ähnlicher Weise thematisch präsent wie in den oben besprochenen Oden. Dennoch wird die dritte Pythie in der Forschung weitaus häufiger mit dem cm_hi seautºm in Zu-

184 Hölscher (2002, 85) übersetzt wie folgt: »Alles hast du, / Wenn dich dieser Güter Anteil trifft«. 185 Race (1986, 99) deutet die Stelle im Sinn der Erinnerung an das Sterbenmüssen: »Memento mori (remember that you must die) is the warning behind all of Pindar’s praise: ›Do not seek to become Zeus… mortal things befit mortals‹ (Isth. 5.14–16). One should enjoy success, but by remembering that nothing human is permanent«. 186 Auch hier gibt es neben der gattungsbezogenen eine individuelle Ausdeutung, die mitgemeint ist. Nach Pindar hat jeder gemäß seiner individuellen Anlagen Teil am Glück. Vgl. insbes. N. 7, 54–56: »Nach der angeborenen Art haben wir ein verschiedenes Leben erlost, / der eine das, der andere das. Unmöglich kann einer / sich die ganze Glückseligkeit gewinnen« (Übers. E. Dönt). Vgl. auch Bakchyl. epin. 5, 50–55 Maehler.

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sammenhang gebracht als die fünfte Isthmie und P. 2, 34. Zunächst die relevante Passage in der Übersetzung von Hölscher : Gebührliches sich von den Göttern zu wünschen Ist sterblichem Sinn geboten, (wqµ t± 1oijºta p±q dailºmym lasteu´lem hmata?r vqas¸m) Das Nächste erkennend das unser Anteil ist. (cmºmta t¹ p±q podºr, oVar eQl³m aUsar.) O meine Seele, trachte nicht Nach unsterblichem Leben: schöpfe das Mögliche aus! (Pind. P. 3, 59–62; Übers. U. Hölscher)

In den Versen sind folgende Aussagen enthalten: 1) Von den Göttern soll man sich nur das dem Menschen Zustehende erbitten. 2) Man soll nicht nach den Dingen streben, die dem Menschen nicht zukommen. 3) Man soll das Menschenmögliche realisieren und ausschöpfen.187 Damit schließt sich der Kreis: Die auf das Mögliche, Ausführbare gerichtete Handlungsaufforderung entspricht der in Vers 59 gebotenen Bitte an die Götter um das Gebührende. Die in unserem Zusammenhang zentrale Aussage ist in Vers 60 enthalten: cmºmta t¹ p±q podºr, oVar eQl³m aUsar (»Das Nächste erkennend das unser Anteil ist« Übers. Hölscher). Wie Theunissen (2002a, 225f) zutreffend bemerkt, umschreibt das t¹ p±q podºr188 das ›vor dem Fuß Liegende‹, ›das Nächste‹, »den uns zugewiesenen Bereich, tº oder t± pºqsy, das Ferne, hingegen den Bezirk, zu dem Sterbliche keinen Zutritt haben und sich auch nicht verschaffen dürfen«.189 Das ›vor dem Fuß Liegende‹ ist somit als eine Bestimmung des Sich-Ziemenden, Gebührenden (t± 1oijºta) zu verstehen, das im vorhergehenden Vers thematisiert wird. Betrachtet man das Verhältnis des in Vers 59 artikulierten Gebotes und der in Vers 60 getroffenen Aussage über die erforderliche Erkenntnis, so wird deutlich, dass hier eine Konditionalbeziehung besteht. Die Erkenntnis des ›Nahen‹, des ›vor dem Fuß Liegenden‹ ist Voraussetzung und Ermöglichungsbedingung eines angemessenen Bittverhaltens gegenüber den Göttern. Das geforderte Maß in den Wünschen lässt sich nur auf der Basis der Wahrnehmung der dem Menschen angemessenen Handlungsziele verwirklichen. Da das folgende Verbot nur die Negativformulierung des Gebotes darstellt, ist die Konditionalbeziehung auf dieses auszudehnen. Die angeführte Erkenntnis ist nicht nur die Grundlage einer angemessenen Bitte gegenüber den Göttern und der entsprechenden Handlungsausrichtung, sondern auch die Voraussetzung der 187 Vgl. P. 11, 50f.: heºhem 1qa¸lam jak_m, dumat± laiºlemor 1m "kij¸ô »Von der Gottheit das Schöne mir wünsch’ ich, / Nach dem Möglichen strebend mit den Genossen der Jugend.« (Übers. U. Hölscher). 188 Vgl. P. 3, 60; P. 8, 32; P. 10, 61–63; N. 6, 55; I. 8, 12. 189 Zur Polarität des ›Nahen‹ und des ›Fernen‹ bei Pindar vgl. Hubbard (1985, 11–27).

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Vermeidung des unmäßigen Strebens. Die Erkenntnis des ›Nächsten‹ begründet das richtige Tun und gewährleistet die Vermeidung des falschen Handelns. Wie oben bereits erwähnt, wird P. 3, 60 (cmºmta t¹ p±q podºr, oVar eQl³m aUsar) häufig mit dem delphischen cm_hi seautºm in Zusammenhang gebracht. Im Wesentlichen lassen sich hier zwei Meinungen unterscheiden. Zum einen wird die Identität der in Vers 60 gemeinten Erkenntnis mit der Selbsterkenntnis behauptet (so z. B. Race 1986, 56).190 Andere Interpreten hingegen deuten den Vers als Variation, Abwandlung, Umformulierung des cm_hi seautºm (so z. B. Burton 1962, 89191; Lefkowitz 1976, 149; Theunissen 2002a, 226 Fußn. 14). Die Identitätsthese beruht auf zwei Prämissen, nämlich dass oVar eQl³m aUsar auf cmºmta bezogen ist und aWsa hier die Bedeutung von ›Geschick‹ oder ›Schicksal‹ hat.192 Die gemeinte Erkenntnis bezieht sich nach dieser Lesart auf zwei Gegenstände: auf das Nahe und auf das menschliche Geschick, das im Sinn der Sterblichkeit und der begrenzten Kondition, also im Sinne der apollinischen Selbsterkenntnis gedeutet wird. Race (1986, 56) paraphrasiert die Gnome folgendermaßen: »We humans must seek what is ›proper‹ from the gods by knowing (gnonta) what is at our feet (i. e., the ›near‹) and the limitations of ›our human condition‹. We must rely on the gods for help, but in order to seek what is ›proper‹ from them, we must know what our resources and our limitations are«. Diese Lesart und Übersetzung ist zweifellos möglich und durch den Verweis auf die in den Versen 55–58 geschilderte Grenzüberschreitung des Asklepios, der mittels seiner Heilkunst einen Mann vom Tod auferwecken wollte, vielleicht auch begründbar. Viel überzeugender und plausibler ist jedoch die von Hölscher (2002, 33) vorgeschlagene Lesart. Hölscher bezieht oVar eQl³m aUsar nicht auf cmºmta, sondern betrachtet den Relativsatz als Bestimmung des ›vor dem Fuß Liegenden‹. Zudem übersetzt er aWsa nicht mit ›Geschick‹ oder ›Schicksal‹, sondern entscheidet sich für die Bedeutung: ›der (gebührende) Teil‹. Mit seiner Übersetzung – »das Nächste erkennend das unser Anteil ist« – macht Hölscher also den Vorschlag, dass das ›vor dem Fuß Liegende‹, ›Nahe‹ der eigentliche 190 So bereits die ältere Forschung: Wilamowitz (1966), Nilsson (GGR I, 736), Schadewaldt (1989, 338). Zur Identitätsthese neigen auch: Farnell (1961, 469), Miller (1989, 476 Fußn. 41), Boeke (2007, 45). 191 Burton (1962, 89) betrachtet das cm_hi seautºm als Einheitspunkt der ganzen Ode: »There is thus an inner unity of thought pervading the whole structure, the parts being held together by variations on the theme of cm_hi seautºm«. 192 Vgl. die Übersetzung von Race (1997, I, 251): »It is necessary to seek what is proper from the gods with our mortal minds, / by knowing what lies at our feet and what kind of destiny is ours«. Ähnlich Bremer (1992, 133): »Es gilt, von Göttern zu suchen, was zu sterblichem Sinne paßt, / erkennend, was vor dem Fuß liegt: von welchem Geschick wir sind«. Schadewaldt (1989, 343) übersetzt zwar aWsa mit ›Teil‹, meint aber ähnlich wie Race die sterbliche Kondition : »Not ist, von den Daimonen das sterblichen Sinnen Geziemende / Zu erstreben, erkennend das, was vor dem Fuße ist: Welchen Teiles wir sind« (1989, 338).

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Gegenstand der gemeinten Erkenntnis ist und dieses ›Nahe‹ als unser Anteil bestimmt wird.193 Unter Rekurs auf I. 5, 15 lässt sich hinzufügen, dass mit ›Anteil‹ der uns gebührende Teil an den schönen Dingen, also an Erfolg, Ruhm, Reichtum etc. gemeint ist. Diese Lesart ist deswegen so überzeugend, weil es der leitmotivischen Bedeutung des in Vers 59 angeführten ›Gebührenden‹ gerecht wird. Mit dem ›Geziemenden‹ oder ›Gebührenden‹194 (t± 1oijºta) ist ein Thema vorgegeben, das die nachfolgenden Verse durchzieht. Das Gebührende ist der gebotene Gegenstand des an die Götter gerichteten Wunsches, es ist Objekt der Erkenntnis und es bezeichnet das Strebensziel und die gebotene Handlungsausrichtung.195 Folgt man Hölschers Lesart, so erschließen sich die Verse als kohärente Sinneinheit. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint vieles für die Variationsthese zu sprechen, d. h. für Annahme, dass in P. 3, 60 eine Abwandlung oder Umformulierung des cm_hi seautºm vorliegt. Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch etliche Schwierigkeiten. Die Variationsthese wird nicht ganz dem Begründungsverhältnis gerecht, das in den oben besprochenen Oden (I. 5, 12– 16; P. 2, 34) impliziert ist. Die Erkenntnis des ›Nahen‹, d. h. des dem Menschen Zustehenden ist weniger eine Abwandlung oder Variation der apollinischen Selbsterkenntnis als vielmehr eine Funktion derselben. Wie oben aufgezeigt, ist nach pindarischer Auffassung die Erkenntnis des Angemessenen in der Selbsterkenntnis begründet. Die Selbsterkenntnis fungiert hier gewissermaßen als Prinzip der praktischen Urteilskraft, als Orientierungspunkt bei der Bestimmung des dem Menschen allgemein Zustehenden und des Ziemenden in der konkreten Situation. Freilich ist die Erkenntnis des Gebührenden auch eine Form der epistemischen Selbstbeziehung. Der Bereich der dem Menschen generell möglichen Handlungsziele und das situativ Angemessene bezeichnen einen wesentlichen Teil seiner Identität. Dennoch ist es verfehlt, hier von einer modifizierten oder varriierten Selbstbesinnung zu sprechen. Es handelt sich eher um eine abgeleitete Erkenntnis, die auf die apollinische Selbsterkenntnis verweist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verse aus der dritten Pythie durchaus mit dem cm_hi seautºm in Zusammenhang zu bringen sind, aber in anderer Weise als es in der Literatur zumeist geschieht. Es liegt keine Identität

193 In diesem Sinn auch Hubbard (1985, 11 Fußn. 2 u. 24f.). 194 Vgl. Hom. Il. 24, 40. 195 Die Lesart von Race ist nicht nur wegen der fehlenden Beachtung des Leitthemas wenig überzeugend. Das Problem ist zudem, dass sie zwei Erkenntnisobjekte auf eine Stufe stellt, die ganz unterschiedlichen Ebenen angehören. Das ›vor dem Fuß Liegende‹ bewegt sich auf der Handlungsebene; das mit der menschlichen Kondition identifizierte ›Geschick‹ hingegen ist auf der grundsätzlicheren Ebene der ontologischen Bedingungen angesiedelt.

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vor, sondern eine Verschiedenheit. Die Differenz ist jedoch nicht im Sinn einer Modifikation, sondern eher im Sinn einer Funktion aufzufassen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch ein Aspekt, der in den bisher betrachteten Versen eher im Hintergrund stand. Pindar akzentuiert im Kontext der Erkenntnis des Maßes bzw. des Gebührenden zumeist das hemmende Moment. Die Einsicht soll eine Mäßigung der Ansprüche und Strebensziele herbeiführen und vor Grenzüberschreitungen bewahren. Dieser Aspekt ist in der dritten Pythie zwar auch enthalten (vgl. Vers 61f.); der Akzent liegt hier jedoch auf dem handlungsaktivierenden Moment, auf der positiven Handlungsaufforderung. Der Mensch soll sich das Gebührende von den Göttern wünschen und es in seinem Handeln aktiv und energisch anstreben. Er soll die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte nutzen und das Mögliche, Machbare ausschöpfen. Die Erkenntnis des Gebührenden mündet also nicht in einem passiven Nicht-Tun oder einer resignativen Selbstbeschränkung, sondern in einer aktiven Verwirklichung der eigenen Natur, in einer Selbstverwirklichung, die den gegebenen konstitutionellen Bedingungen gemäß ist. Die Aktivierung ist gleichsam die positive Kehrseite der Hemmung. Beide Momente sind in der hier gemeinten Erkenntnis untrennbar miteinander verknüpft. Nach der Analyse der für den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Maßethik relevanten Oden ist folgendes Resümee zu ziehen: Es hat sich gezeigt, dass die Selbstbesinnung bei Pindar als Begründung und Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis des Gebührenden und Angemessenen fungiert. Es ist zudem deutlich geworden, dass die Erkenntnis des Gebührenden, Ziemenden als handlungsbestimmend verstanden wird. Sie ist nach Pindar untrennbar mit einer Regulierung der Ansprüche, Leidenschaften, Strebensziele und einer Ausrichtung auf die menschenmöglichen Handlungsziele verknüpft. Die von Pindar in diesem Kontext thematisierte Mäßigung steht mit jener Tugend in engstem Zusammenhang, die in der archaischen und klassischen Dichtung vielfach zum Gegenstand gemacht wird: die Sophrosyne. Freilich wird das Wort von Pindar kaum gebraucht. North (1966, 24) hat darauf hingewiesen, dass Pindar zwar viele Themen der Sophrosyne berührt, aber das Adjektiv s¾vqym nur selten gebraucht und das Substantiv syvqos¼mg völlig vernachlässigt. Das Adjektiv, so North, wird zumeist in politischen Kontexten verwendet und im Sinn einer »political moderation« (1966, 26) verstanden.196 Daneben finde sich jedoch auch eine andere Verwendung, wie z. B. in der dritten Pythie (3, 63), wo der Lehrer des Asklepios, Chiron, s¾vqym genannt wird. Unter Berufung 196 So auch Rademaker (2005, 88–92). Rademaker beobachtet bei Pindar, Bakchylides und Theognis ein annähernd identisches Verständnis von politischer Sophrosyne, das er wie folgt umschreibt: »syvqos¼mg is a quality both of the ›good‹ aristocratic leaders who refrain from injustice against their subjects, and of those citizens who acquiesce in the status quo and refrain from st²sir« (92).

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auf diese Stelle, die ja unmittelbar auf die oben besprochene Passage folgt, meint Race (1986, 139, Anm. 26), dass die Gnome in P. 3, 59f. zur Tugend der Sophrosyne auffordere, die in diesem Kontext als »wise restraint« zu verstehen sei.197 Im Hinblick auf diese Stellen und die starke Beachtung der Maßethik im pindarischen Werk lässt sich die These vertreten, dass die Sophrosyne bei Pindar thematisch präsent ist, auch wenn der sprachliche Ausdruck nur selten verwendet wird. Im Kontext der Selbsterkenntnis-Problematik werden bei Pindar jedoch nicht nur Sophrosyne, Mäßigung und Selbstbeherrschung, sondern auch die Haltungen der Rechtlichkeit198 und religiösen Ehrfurcht thematisiert. In der siebten Isthmie wird im Zusammenhang mit der Geschichte von Himmelsstürmerei und Sturz des Bellerophontes deutlich gemacht, dass Maßlosigkeit und Grenzüberschreitungen immer mit Unrecht und Gesetzlosigkeit verbunden sind. »Ein ganz bitteres Ende erwartet / ein Glück, das wider das Recht (d¸jg) errungen« (I. 7, 47f.; Übers. Dönt), so die Moral aus der Geschichte. Das heißt umgekehrt, dass Maß und Besonnenheit untrennbar mit Rechtlichkeit und Gesetzlichkeit verknüpft sind. Angesichts der oben dargestellten Konzeption der Maßethik ist dieser Zusammenhang unmittelbar evident. Aus der Beherrschung der Hybris und der Ausrichtung des Wollens auf ›sterbliche‹ Ziele resultiert ein Handeln, das die durch die Rechtsordnung gesetzten Grenzen des Güterstrebens einhält. Die Beschränkung auf das den Sterblichen Zustehende geht mit einem sozialen Verhalten einher, das der im menschlichen Bereich geltenden Rechtsordnung adäquat ist. Ein enger Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Tugend lässt sich auch hinsichtlich des religiös-kultischen Handlungsbereichs beobachten. In seiner religiös bestimmten Hybris-Konzeption betont Pindar den Gedanken, dass menschliche Selbstüberhebung stets mit Missachtung und Beleidigung der Götter verbunden ist. In dieser Überzeugung ist der positive Gedanke impliziert, dass Selbsterkenntnis und Mäßigung mit einer ehrfürchtigen Haltung (!id¾r) gegenüber der göttlichen Sphäre assoziiert sind. Die erworbene Selbsterkenntnis äußert sich zum einen in dem unmittelbaren Respekt und der Scheu vor den Göttern. Zum anderen aber ist mit dieser Einsicht das Bewusstsein der Angewiesenheit auf göttliche Hilfe verbunden, die sich in der Bitte um Beistand sowie in Dankesgebeten nach errungenen Erfolgen bekundet. In den pindarischen 197 Kunsemüller (1935, 19) sieht die Sophrosyne bei Pindar in direktem Zusammenhang mit der Selbsterkenntnis. Die Sophrosyne werde bei Pindar zu einer »religiös-ethischen Forderung; sie ruft den Menschen zur Selbsterkenntnis, zur Erkenntnis der menschlichen Grenzen gegenüber der Gottheit«. 198 Zur Verknüpfung von Sophrosyne und Recht bzw. Rechtlichkeit vgl. fr. 94b, 61–65 Snell; I. 8, 23–26; fr. 52a, 10 Snell. Zur Verbindung von gerechtem und maßvollem Handeln bei Pindar vgl. Thummer (1957, 109–113).

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Gedichten wird immer wieder die an die Sieger der athletischen Wettkämpfe gerichtete Mahnung artikuliert, den Erfolg nicht ausschließlich sich selbst zuzuschreiben, sondern wesentlich auf das Walten der göttlichen Mächte zurückzuführen (vgl. P. 8, 76f.). Der Erfolgreiche und Glückliche soll nicht vergessen, in allem Gott als Ursache (aQt¸a) anzusehen und ihn zu ehren (vgl. P. 5, 25).199 Im Zusammenhang mit der Maßethik werden bei Pindar also nicht nur das Prinzip der Selbsterkenntnis, sondern alle zentralen Tugenden thematisiert, die in den ethischen Konzeptionen der griechischen Klassik systematisch ausgearbeitet worden sind. North (1966, 25) sieht bei Pindar jenen Tugendkanon präformiert, der in klassischer Zeit zur Geltung gelangt ist und durch Platon sowie die Stoa seine philosophische Ausformulierung erfahren hat.200 Sie bezieht sich dabei insbesondere auf die achte Isthmie, wo im Kontext der Preisung des Aiakos und dessen Kinder (Verse 21–25a) die späteren vier Grundtugenden angeführt werden: Gerechtigkeit (dijaios¼mg), Tapferkeit (!mdqe¸a), Besonnenheit (syvqos¼mg) und Weisheit (sov¸a) bzw. Einsicht (vqºmgsir). Die Frömmigkeit (eqs´beia), die im klassischen Tugendkanon oft mitenthalten sei, werde an dieser Stelle zwar nicht genannt; sie erfahre jedoch in der unmittelbar folgenden Passage eine Thematisierung (Vers 40).201

g)

Maßethik und Glück

Selbsterkenntnis und Mäßigung werden bei Pindar immer wieder als Voraussetzungen des glücklichen Lebens benannt. Als primäre Quelle des Glücks (ekbor)202 erscheint in den Gedichten die durch Natur, göttliche Gunst und 199 Vgl. auch Pind. I. 3, 4–5. Die Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Frömmigkeit findet sich in ähnlicher Weise bei Bakchylides: »Aber beflügelte Hoffnung (trübt) uns Tageswesen / den Verstand. Doch der Herrscher Apollon / … sprach zu des Pheres Sohn: / ›Wer sterblich ist, muß zwiefache Gesinnung / hegen: daß du nur morgen noch einmal / das Licht der Sonne sehen wirst, / und daß du noch fünfzig Jahre lang / ein Leben in vollem Reichtum wirst vollenden können. / Mit gottgefälligen (fsior) Taten erfreue dein Herz (hulºr), denn das / ist der höchste Gewinn‹« (Epin. 3, 75–84 Maehler). Aus der Tatsache der Sterblichkeit des menschlichen Daseins wird die Konsequenz eines gottgefälligen Tuns gezogen, wobei fsior hier alle Tugenden einschließt und im Sinn eines maßvollen, frommen, gerechten Handelns gemeint ist. 200 Ähnlich bereits Schwartz (1951, 53): »Die vier Kardinaltugenden sind also bei Aischylos schon da, aber auch er hat sie vorgefunden. So müssen sie schon dem 6. Jahrhundert, der Zeit des adligen Lebens angehören«. Gemeint ist insbesondere Aischyl. Sept. 610. 201 Die Frömmigkeit wird in Vers 40 dem Aiakos-Sohn Peleus zugesprochen. 202 Zur Bezeichnung von ›Glück‹ werden die Ausdrücke eqtuw¸a, ekbor und eqdailom¸a gebraucht. Bei Pindar findet sich vor allem das auf das Güterglück bezogene ekbor (vgl. dazu Janke 2005, 52ff.). Bei Sophokles und Herodot werden alle drei Ausdrücke verwendet. Im

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eigene Anstrengung bewirkte herausragende Leistung, die zu Ruhm, Einfluss und Güterbesitz führt. Die Maßethik hingegen besitzt die Funktion der Sicherung und Stabilisierung eines schon erreichten Glücks. Durch die in der Erfolgssituation zu leistende Mäßigung und Bescheidung soll das Gewonnene bewahrt und die Dauerhaftigkeit des Glücks, also das zukünftige Gelingen garantiert werden.203 Der Zusammenhang von Maß, religiöser Ehrfurcht und Fortdauer des Glücks wird insbesondere in der dritten Isthmie deutlich: Wenn einer Glück hat in ruhmreichen Kämpfen oder durch die Macht des Reichtums und im Herzen schmerzliche Übersättigung (jºqor) bannt, ist er wert, des Ruhmes unter den Mitbürgern teilhaftig zu sein. Zeus, große Erfolge (lec²kai !qeta·) stellen sich für die Menschen durch dich ein. Der Segen (ekbor) ehrfürchtig bedachter Menschen währt länger, verwirrten Sinn begleitet er nicht in gleicher Weise blühend alle Zeit. (Pind. I. 3, 1–6; Übers. E. Dönt)

Die Zügelung von Übersättigung und Überhebung (jºqor) ist mit der Einsicht verknüpft, dass der errungene Erfolg nicht ausschließlich der eigenen Kraft und Leistung zuzuschreiben ist. Aus dieser Selbstbeschränkung resultiert eine religiöse Ehrfurcht (aQd¾r), die wiederum die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Götter ihre Gunst nicht abwenden und die eigenen Anstrengungen und Unternehmungen auch in Zukunft zum Erfolg führen. Das ›Glück ehrfürchtig bedachter Menschen währt länger‹. In ähnlicher Weise wird auch in der fünften Pythie der Zusammenhang von Maßethik und Glück thematisiert. Als Mittelglied zwischen Mäßigung und Glück fungiert hier allerdings nicht die religiöse Ehrfurcht, sondern die Rechtlichkeit, die ja, wie oben aufgezeigt, für Pindar ebenfalls untrennbar mit der Maßethik verbunden ist. In der Ode wird zunächst Arkesilaos, der königliche Sieger, gepriesen und dessen rechtmäßiger und kluger Umgang mit dem Reichtum gewürdigt. In diesem Zusammenhang heißt es: Weise (sovo·) tragen schöner Auch die gottgegebene Macht (d¼malir). herodoteischen Solon-Kroisos-Gespräch (1, 30–32) werden sowohl ekbor und eqdailom¸a als auch eqtuw¸a gebraucht. Zur Verwendung der Begriffe in der archaisch-klassischen Literatur vgl. Lauriola (2006). 203 Die glücksstabilisierende Funktion der Maßethik wird u. a. an jenen Stellen deutlich, wo der Zusammenhang von Hybris und Glücksverlust thematisiert wird. Vgl. z. B. N. 11, 29ff: »Doch bei den Menschen bringt den einen leere Überheblichkeit / um sein Glück, beim anderen wiederum bemängelt man allzusehr / seine Kraft, und eine mutlose Seele zerrt ihn am Arm zurück und läßt ihn / den Erfolg, der ihm zuteil werden müßte, verfehlen.« (Übers. E. Dönt).

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Dich aber, der wandelt im Recht (1m d¸jô), umwohnt viel Segen (ekbor). (Pind. P. 5, 12–14; Übers. D. Bremer)

Die Weisen (sovo·) sind in diesem Kontext mit den Besonnenen zu identifizieren, geht es doch hier um die Fähigkeit, die gottgeschenkte Dynamis (und das damit verbundene Glück) mit Maß und Redlichkeit zu tragen und die Hybris zu bannen.204 Die Besonnenen, die sich nicht zur Selbstüberhebung verleiten lassen, sondern das Maß wahren und damit in der Sphäre des Rechts verbleiben, erfreuen sich eines relativ stabilen Glücks.205 Die Maßethik erscheint bei Pindar jedoch nicht auschließlich in der Funktion einer Sicherung und Stabilisierung der durch Anlagen, göttliche Gunst und eigene Leistung erlangten Erfüllung, sondern klingt mitunter auch als Primärquelle des Glücks an. In der elften Pythie finden sich folgende Verse: Doch wenn einer den Gipfel erreicht hat, sich seiner ruhig versichert und den gräßlichen Hochmut (vbqir) meidet, der wird zu einem schönen Todesende gelangen und seinem beglückten Geschlecht der Güter höchste Freude hinterlassen, die eines guten Namens (eq¾mulom jte²mym jqat¸stam w²qim poq¾m). (Pind. P. 11, 55–58; Übers. E. Dönt)

Die Bewahrung von Maß und Genügsamkeit in Erfolgssituationen verschafft einen guten Ruf, der nach Pindar zu den größten Glücksgütern zählt. Das Glück resultiert hier nicht primär aus dem errungenen Erfolg, sondern aus der Ehre, die der besonnene Umgang mit diesem Erfolg einbringt.

3.

Apollinische Selbsterkenntnis in Sophokles’ Tragödien

a)

Sophokles und Apollon

Das apollinische Motiv der Einsicht in die Begrenztheit und Vergänglichkeit der menschlichen Kräfte wird von der attischen Tragödie in vielfältiger Weise aufgenommen und dramatisch gestaltet. Insbesondere bei Sophokles finden sich apollinische Themen, die in die Dialoghandlungen und Chorlieder eingeflochten und zur Charakterisierung der positiven, als s¾vqom bezeichneten Figuren oder zur Darstellung von Mahn- und Lehrreden verwendet werden. Ähnlich wie bei Pindar ist die Selbsterkenntnis bei Sophokles ein Grundthema, das in allen 204 Das Nicht-Ertragen-Können des durch göttliche Gunst erlangten Glücks wird in O. 1, 54ff. und in P. 2, 25–30 thematisiert. 205 Zum Zusammenhang von Mäßigung, Rechtlichkeit und Dauerhaftigkeit des Glücks vgl. auch P. 11, 50–53.

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Werkphasen aufgegriffen und variiert wird. Die Bedeutung des Motivs für das sophokleische Drama ist in der Forschung schon häufiger gesehen worden. Am weitesten geht hier LefHvre (2001, 69), der das delphische cm_hi sautºm als Leitgedanken des ganzen Werks betrachtet: »Das Gebot cm_hi sautºm könnte über jedem Stück des Priesters Sophokles stehen, im Aias über jeder einzelnen Szene« (67). Ähnlich schon Diller (1971, 287), der jedoch die leitmotivische Bedeutung auf die früheren Werke beschränkt wissen will: »das cm_hi sautºm wird vor allem in den frühen sophokleischen Tragödien vom Aias bis zum König Oidipus in kaum verhüllter Form ausgesprochen«. Im Unterschied zu Pindar lassen sich bei Sophokles keine direkten Beziehungen zum delphischen Apollon-Kult aufzeigen. Dennoch besteht auch bei Sophokles ein biographischer Bezug zur Apollon-Religion, der hier allerdings durch den Asklepios-Kult vermittelt ist.206 Der Heilgott Asklepios, der in der griechischen Mythologie als Sohn des Apollon und der Koronis galt207, fand ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. in Griechenland große Verbreitung. Nachdem der Asklepioskult in Epidauros eine zentrale Kultstätte gefunden hatte, wurde er schließlich auch in Athen eingeführt.208 Zunächst verehrte man den Gott im Eleusinion, dem Heiligtum der Demeter und der Kore, am Nordwestabhang der Akropolis. Der Überlieferung zufolge hat Sophokles den Gott mit einem Paean begrüßt. Aufgrund des großen Zulaufs musste schon bald ein anderer Kultplatz gesucht werden. Wie durch die Quellen bezeugt wird, hat sich Sophokles dabei in besonderer Weise engagiert. Er hat Asklepios in dem Bezirk des Heilheros Amynos, dessen Priester er der Überlieferung zufolge war, aufgenommen und den Kult dort angesiedelt, bis Asklepios eine eigene Kultstätte am Südabhang der Akropolis erhielt. Diesen Berichten ist zu entnehmen, dass Sophokles eine besondere Verbindung zu Heilgöttern besaß und damit nicht nur der Polis-Religion im Allgemeinen, sondern insbesondere dem Gott Apollon verbunden war, der den Zeugnissen zufolge auch als Gott der Heilkunst verehrt wurde.209 Bereits in frühgriechischer Zeit wurde Apollon als Heiler von individuellen Krankheiten und großen Seuchen angerufen.210 Die Heilfunktion des Apollon wird in der epischen, lyrischen und dramatischen Dichtung vielfach bezeugt.211 In besonders deutlicher Form verweist der Corpus Hippocraticum auf die Verbindung des Apollon-Kultes mit der antiken Heilkunst. Der in dieser Sammlung medizinischer Texte überlieferte, dem Arzt 206 207 208 209 210 211

Zur Verbindung des Sophokles zum Asklepios-Kult vgl. Flashar (2000, 37). Vgl. Pind. Pyth. 3, 1–46. Zur Einführung des Asklepioskultes in Athen vgl. Auffahrt (1995, 342–346). Vgl. Kap. A I 1. Vgl. dazu Farnell (1907 IV, 233ff.), Nilsson (GGR I, 538ff.), Graf (2009, 79ff.). Vgl. Hom. Il. 1; Il. 16, 528f., 677ff.; Il. 24, 18ff.; Pind. Pyth. 3, 1–46; Pyth. 5 , 63f.; Soph. Oid. T. 149f., 162f.; Aischyl. Eum. 62; Eur. Androm. 900.

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Hippokrates von Kos (460–370 v. Chr.) zugesprochene Eid beginnt mit den Worten: »Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, daß ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde« (mlmuli )p|kkyma Qgtq¹m, ja· )sjkgpi¹m, ja· zce_am, ja· Pam\jeiam, ja· heo»r p\mtar te ja· p\sar).212 Hier wird Apollon ausdrücklich als Arzt angerufen und in einem Zusammenhang mit Asklepios genannt. Über den Aspklepios-Kult kann man insofern bei Sophokles auch Verbindungen zur Apollon-Religion vermuten. Viel entscheidender für diese Untersuchung ist jedoch Sophokles’ Anknüpfung an apollinische Motive des homerischen Epos. Die Homer-Zitierung bezeugt, dass Sophokles in dieser Tradition der Selbsterkenntnis steht und insofern als Quelle angesehen werden kann.

b)

Der Mensch als ›Schattenbild‹ (Ai. 118–133)

Eine apollinisch inspirierte Auffassung von Selbsterkenntnis findet sich bei Sophokles inbesondere im Aias, in dem berühmten Dialog zwischen Athena und Odysseus zu Beginn des Dramas (118–133). LefHvre (2001, 47f.) sieht in diesem Dialog ein »theologisch-ethisches Programm, wie es Sophokles in den erhaltenen Stücken nie wieder so eindeutig und eindrücklich formuliert. Es ist Delphis cm_hi sautºm, die Mahnung, sich zu erkennen«.213 Zu einem ähnlichen Urteil ist bereits Lesky (1966, 192) gelangt. Der Passage kommt in der Tat eine besondere Bedeutung zu, da in ihr alle Elemente einer apollinischen Selbsterkenntnis enthalten sind, die in den späteren Tragödien immer wieder aufgegriffen, aber nicht mehr im Zusammenhang dargestellt werden. Zunächst sei der Kontext kurz skizziert: Ausgangspunkt ist der von den Griechen angesetzte Wettstreit um die Waffen des gefallenen Achilleus. Nachdem die Heeresversammlung eine Entscheidung zugunsten des Odysseus getroffen hat, entbrennt Aias, der aufgrund seiner kriegerischen Leistungen Anspruch auf die Waffen zu haben glaubt, in Zorn. Er beschließt, sich an den Heerkönigen und an Odysseus für diese Kränkung zu rächen. Als Aias nachts aufbricht, um die Atriden zu ermorden, greift Athena ein. Sie wendet seine ›heillose Lust‹ auf das Herdenvieh ab und gibt ihm Wahnvorstellungen ein, sodass sich Aias, im Glauben, die Griechen zu ermorden, an Schafen und Rindern vergeht. Odysseus, der sich am nächsten Tag in der Nähe von Aias’ Hütte 212 Vgl. dazu Flashar (1971, 94–120) u. Flashar (2016). 213 Vgl. auch Lesky (1966, 192): »In dieser Prologszene des Aias ist der ganze Sophokles. Die Götter seines Volkes zu ehren, hatte er von seinen Vorfahren gelernt, und die Mahnung des delphischen Gottes, sich in der Bedingtheit des Menschlichen zu erkennen, war so tief in sein Herz gegraben, daß sie sein Werk in wesentlichen Zügen bestimmte«.

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einfindet, um zu prüfen, ob das nächtliche Herdengemetzel tatsächlich auf Aias zurückgeht, wird dort von Athena empfangen und über die Vorgänge aufgeklärt. Die Göttin präsentiert ihm den geistesverwirrten Aias und führt dann mit Odysseus folgenden kurzen Dialog: ATHENE: Du siehst, Odysseus, der Götter Macht, wie groß sie ist! Wer mochte im Vergleich mit diesem Mann Vorschauender und tüchtiger erfunden werden, Um das zu tun, was an der Zeit war je? ODYSSEUS: Ich wüßte keinen. Und er jammert mich, Der Unglückliche – ist er auch mein Feind –, Wie er zusammengejocht ist mit dem Unheil – Nicht so sehr sein Teil wie mein eigenes bedenkend.214 Seh ich doch, wie wir alle, die wir leben, Nichts anderes sind als Scheinbilder und leichter Schatten.215 ATHENE: Darum, dieses vor Augen, rede du Gegen die Götter niemals ein vermessenes Wort, Noch auch erhebe dich zur Wichtigkeit, Sofern du mehr als jemand anders Wucht Hast in dem Arm oder in breiten Reichtums Tiefe. Der Tag läßt sinken und er führt herauf auch wieder Alle die Menschendinge. Den Verständigen aber Lieben die Götter und verabscheuen den Schlechten. (Soph. Ai. 118–133; Übers. W. Schadewaldt)

Athenas anfänglicher Verweis auf die Kraft und Stärke (Qsw¼r) der Götter (118) wirft ein erhellendes Licht auf die Intention der Vorführung des Aias. Die Demonstration des seiner Verstandeskraft und seiner Tüchtigkeit (119f.) beraubten Helden diente offenbar dem Zweck, die Größe der göttlichen Macht und den durch sie begründeten Rangunterschied zwischen Gott und Mensch unmittelbar einsichtig zu machen.216 Die Götter sind dem Menschen unendlich überlegen, besitzen sie doch die Dynamis, in das Geschehen einzugreifen und die 214 Eine bessere Übersetzung von Ai. 124 oqd³m t¹ to¼tou l÷kkom C toql¹m sjop_m findet sich in Schadewaldts Delphi-Aufsatz (1975, 30): »Nicht nur sein Schicksal, auch mein eigenes bedenkend«. 215 Nach LefHvre (2001, 68) wird hier Pind. P. 8, 95f. zitiert. So bereits Schol. Soph. Ai. 125f. Dagegen Bieler (1970, 193 Fußn. 3): »Die Verse Soph. Aias 125f. […], die der Scholiast nach Pindar gebildet sein läßt, weisen gerade durch ihre Übereinstimmung mit k 207 gegen Pindar auf die Odyssee als Vorbild hin; absichtlich läßt der Dichter seinen Odysseus ein Wort des Homerischen mit leichter Änderung wiederholen, nur daß es jetzt von den Lebenden gilt, nicht von den Toten«. 216 So auch Latacz (1993, 182) und Rademaker (2005, 125). Daneben ist freilich noch eine zweite Intention zu beobachten. Athena macht Odysseus zum Zeugen von Aias’ Wahnsinn, damit dieser das Gesehene unter den Griechen verbreitet (Ai. 66f.). Odysseus fungiert damit als Gehilfe von Athenas Plan, Aias der Lächerlichkeit auszusetzen und ihn damit für seine Hybris zu strafen.

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menschlichen Kräfte nach ihrem Willen zu lenken und zu beeinflussen. Die an späterer Stelle des Dramas nachgelieferte Geschichte von Aias’ Hybris (Ai. 762– 777) lässt erkennen, warum Sophokles Athena so dezidiert auf die übergeordnete Stellung der Götter hinweisen lässt. Die im Prolog dargestellte Demonstration und verbale Artikulation der göttlichen Macht erfüllt die Funktion einer Klärung und unmittelbaren Sichtbarmachung des Verhältnisses zwischen menschlicher und göttlicher Dynamis, die die megalomanen, zu Hybris neigenden Tendenzen menschlicher Bestrebungen korrigieren soll. Odysseus nimmt in seiner Antwort darauf keinen unmittelbaren Bezug. Er artikuliert zunächst sein Mitleid mit Aias (121–123), der zwar, wie er ausdrücklich gesteht, sein Feind ist, dessen Schicksal ihn jedoch berührt. Der Anblick des geistesverwirrten Helden, der ›vorher ein Mann war‹ (pqºshem oQj !m³q fd( Gm Ai. 77), der hinsichtlich seiner kriegerischen Leistungen als %qistor angesehen wurde und zudem über eine herausragende Verstandeskraft verfügte, jetzt aber im Zustand des Wahnsinns jeglichen Wertes beraubt scheint, jammert ihn. Die nachfolgende Aussage (124) macht deutlich, dass Odysseus’ Betroffenheit in dem Gedanken gründet, dass ihm selbst ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte, dass auch er – durch welche Ursachen auch immer – von einem Tag zum anderen seiner Verstandeskraft und geistigen Klarheit beraubt werden kann und am Ende seines Lebens unvermeidlich seine Kräfte einbüßen wird. Diese selbstreflexive Überlegung gründet in der an Aias gewonnenen Einsicht in die generelle Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des menschlichen Seins: Seh ich doch, wie wir alle, die wir leben, Nichts anderes sind als Scheinbilder und leichter Schatten.217 (bq_ c±q Bl÷r oqd³m emtar %kko pkµm eUdyk( fsoipeq f_lem C jo¼vgm sji²m.) (Soph. Ai. 125f.; Übers. W. Schadewaldt)

In diesen Versen wird eine Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Kondition formuliert, die erkennbar in der Tradition der vom homerischen Apollon geforderten Selbstbesinnung steht (vgl. Il. 5, 439–442; Il. 22, 7–10)218 und von daher als apollinische Selbsterkenntnis bezeichnet werden kann.219 Am Schicksal des Aias gewinnt Odysseus die Einsicht in die Gebrechlichkeit und Unbeständigkeit der menschlichen Existenz. Die unmittelbare Erfahrung, dass der Einzelne seiner ihn auszeichnenden Exzellenz plötzlich verlustig gehen 217 Vgl. auch Soph. fr. 13 Radt; fr. 945 Radt; fr. 593 Radt. 218 Der Homer-Bezug wird durch die verwendeten Metaphern und Motive deutlich.Vgl. Il. 21, 463–66; Od. 11, 204–224; 18, 124–150. 219 LefHvre (2001, 66) spricht in Bezug auf diese Einsicht vom »›delphische[n]‹ Odysseus«, der in dieser Tragödie als einziger fähig sei, sich zu erkennen.

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kann, führt Odysseus zu der Erkenntnis, dass das menschliche Sein einen höchst fragwürdigen Status besitzt. Zwar ist es kein bloßer Schein – Aias’ früherer Verstandeskraft und Tüchtigkeit wird ja keineswegs der Seinscharakter abgesprochen (vgl. Ai. 77, 119–121, 1340). Aber es ist eben auch kein volles Sein im Sinn der Beständigkeit, Dauer, Stabilität und Beharrung. Die Einsicht, die Sophokles Odysseus gewinnen lässt, bewegt sich nicht in der Dichotomie von Nichts und Sein bzw. Schein und Sein, sondern beruht auf einer Differenzierung zwischen verschiedenen Seinsgraden. Der Mensch ist auf einer unteren Seinsstufe angesiedelt, er besitzt ein Sein niederen Grades, das so flüchtig und unbeständig ist wie ein Traumbild (eUdykom)220 oder Schatten (sji²).221 Die in dieser Weise gedeutete Odysseus-Reflexion lässt sich als Entfaltung und Ausdifferenzierung jener Einsicht in die Sterblichkeit des Menschen auffassen, die der homerische Apollon einfordert: »Besinne dich […] da niemals vom gleichen Stamm die unsterblichen Götter sind und die am Boden schreitenden Menschen« (vq²feo […] 1pe· ou pote vOkom blo?om !ham²tym te he_m wala· 1qwol´mym t( !mhtq¾pym Il. 5, 440–442; Übers. W. Schadewaldt); »Warum verfolgst du mich […] du, ein Sterblicher, den unsterblichen Gott?« (t¸pt´ le Pgk´or uR³ pos·m taw´essi di¾jeir aqt¹r hmgt¹r 1½m he¹m %lbqotom Il. 22, 8–10; Übers. W. Schadewaldt).222 Die im Aias angesprochene Unbeständigkeit der Kräfte und Lebensgüter bezeichnet einen bestimmten Aspekt der den Menschen auszeichnenden Endlichkeit und Sterblichkeit, der bereits bei Homer thematisiert wird. In dem im 21. Buch der Ilias geschilderten Kampf der Götter erklärt Apollon gegenüber Poseidon: Erderschütterer, wahnsinnig müßtest du wahrhaft mich schelten, kämpfte ich gegen dich um der elenden Sterblichen willen, die, vergleichbar den Blättern, bald in der Fülle des Lebens aufsprießen, von den Erträgen der Felder sich nährend, bald wieder welken, dem Tode geweiht. (Il. 21, 462–466; Übers. D. Ebener)

Die menschliche Sterblichkeit wird in diesen Versen mit den Aspekten der Inkonstanz und Unbeständigkeit assoziiert und in den umfassenden Zusammenhang des Werdens und Vergehens des organischen Lebens eingeordnet. Das 220 Treffender als ›Scheinbild‹ ist vielleicht die Übersetzung von eUdykom mit ›Traumbild‹. Am besten ist das Wort in diesem Zusammenhang mit ›Schattenbild‹ zu übersetzen. Die Ausdrücke eUdykom und sji² werden hier zur Bezeichnung der Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des menschlichen Seins gebraucht. 221 Vgl. Soph. fr. 593 Radt. Die Sterblichen werden hier mit den Blättern einer Pappel verglichen. Dieser Vergleich darf als Zitat von Hom. Il. 21, 464 angesehen werden. 222 Dazu Göbel (2002, 21f.): »In der vorphilosophischen Reflexion bleibt die Selbsterkenntnis als Erkenntnis des (Nur)-Menschlichen vor allem Erkenntnis der Sterblichkeit; der bqotºr, hmetºr steht dem göttlichen !h²mator gegenüber«.

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Sterbliche gelangt durch Wachstum und Nahrung zu Gestalt, Fülle und Kraft, die jedoch keine unbegrenzte Dauer besitzen, sondern der Zeitlichkeit und dem unaufhaltbaren Verfall unterworfen sind. Dem sophokleischen Aias noch viel näher sind jedoch die Verse 124–137 aus dem 18. Buch der Odyssee. Der epische Dichter nimmt in diesen Versen die Formel von den Sterblichen als den ›am Boden schreitenden Menschen‹ aus Il. 5, 442 auf223 und verknüpft diese mit dem Motiv der Wechselhaftigkeit des Geschicks: Ihm [sc. Amphinomos] gab Antwort darauf der kluge Odysseus und sagte: […] Lasse dir sagen deshalb, genau gib Obacht und höre: Nährt doch die Erde den Menschen als schwächlichstes Wesen von allen, die da über den Boden der Erde hin schnaufen und laufen! Niemals gedenkt er künftigen Unheils, solange die Götter Reiches Gedeihen ihm schenken und rüstig die Glieder sich regen. Lassen jedoch die seligen Götter ins Unheil ihn stürzen, muß er, obschon widerstrebend, geduldigen Herzens es tragen. Denn es entspricht die Sinnesart der Erdenbewohner Jeweils dem Tag, den der Vater der Menschen und Götter heraufführt. (to?or c±q mºor 1st·m 1piwhom¸ym !mhq¾pym, oXom 1p( Glaq %c,si patµq !mdq_m te he_m te.) (Od. 18, 124–137; Übers. D. Ebener)

Im Gegensatz zu Il. 21, 462–466 wird hier weniger die Unaufhaltsamkeit des Verfalls betont als vielmehr das Unstetige, Veränderliche des Geschicks innerhalb des menschlichen Daseins. Man kann hier unschwer die Vorlage erkennen, die Sophokles bei der Gestaltung der Odysseus-Einsicht im Aias vor Augen gehabt haben mag. Der Vers Ai. 131f. »Der Tag läßt sinken und er führt herauf auch wieder alle die Menschendinge« (Übers. W. Schadewaldt) lässt sich als Zitat von Od. 18, 132f. lesen: »Denn es entspricht die Sinnesart der Erdenbewohner/ Jeweils dem Tag, den der Vater der Menschen und Götter heraufführt« (Übers. D. Ebener). Das plötzliche Umschlagen der Dinge und Verhältnisse, diese Art von Ausgeliefertheit an den ›Tag‹ (Bl´qa) wird im Aias in der Odysseus-Rede thematisch vorbereitet und im Athena-Logos (Ai. 126–133) als Motiv aufgenommen. Betrachtet man die Ilias-Stellen, die Odyssee-Passage und den sophokleischen Aias im Zusammenhang, so lassen sich sehr gut die Verbindungslinien erkennen. Die in Il. 5, 440–442 und 22, 8–10 von Apollon angemahnte Selbstbesinnung wird in Il. 21, 462–466 in ihrem Bedeutungsgehalt näher bestimmt und in der Odyssee aus der menschlichen Perspektive dargestellt und durch weitere Aspekte ergänzt. Odysseus taucht bereits bei Homer als Figur auf, die über eine apolli223 Vgl. auch die Aufnahme des Motivs bei Sophokles fr. 945 Radt.

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nische Selbsterkenntnis verfügt und in diesem Sinn im sozialen Umfeld agiert und die Sophrosyne realisiert. Der Athena-Odysseus-Dialog des Aias schließt erkennbar an diese Homer-Stellen an, insbesondere an Od. 18, 124–137. Bei aller Nähe zu Homer scheint sich der Aias jedoch in einem Punkt von der epischen Sichtweise zu unterscheiden. Während der homerische Apollon dezidiert auf die Kluft zwischen Gott und Mensch verweist, wird in der sophokleischen Odysseus-Einsicht die Differenz zu den Göttern mit keinem Wort erwähnt. Die Selbstbesinnung scheint ausschließlich auf die menschliche Sphäre bezogen zu sein. LefHvre (2001, 68) hat in diesem Sinn erklärt, dass die Worte des Odysseus »gerade nicht, wie es oft angenommen wird, im metaphysischen Sinn als Eingeständnis der Nichtigkeit des Menschen vor dem Göttlichen aufzufassen [sind].224 Davon ist nicht die Rede. Odysseus sieht vielmehr, wie schnell der Mensch aus einem kleinen Anlaß – z. B. aus Starrköpfigkeit – stürzen kann. Sophokles argumentiert auf der menschlichen Ebene«. Daran ist soviel richtig, dass die Götter hier in der Tat nicht ausdrücklich erwähnt werden. In der Einsicht des Odysseus ist jedoch ein Vergleichsmoment enthalten, das den Bezug zur göttlichen Sphäre herstellt, auch wenn dieser nicht expliziert wird. Der Erkenntnis, dass das menschliche Sein so flüchtig wie ein Schatten ist, liegt die Annahme eines vollkommenen Seins zugrunde, das durch die Prädikate der Ewigkeit, Unvergänglichkeit, Beständigkeit, Beharrung bestimmt ist – und, so darf man wohl hinzufügen, den Göttern zugesprochen wird. Die OdysseusEinsicht impliziert den Gedanken, dass den göttlichen Mächten im Unterschied zu den Menschen ein dauerhaftes Sein zukommt. Man darf nicht vergessen, dass hier ein Dialog zwischen einer Göttin und einem Menschen geführt wird, in dem das göttlich-menschliche Verhältnis thematisch stets präsent ist. Und schließlich ist an die Eingangsworte der Athene zu erinnern (»du siehst, Odysseus, der Götter Macht, wie groß sie ist« 118), die ausdrücklich auf die göttliche Stärke verweisen und damit implizit die Differenz zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen thematisieren. Da letztlich der gesamte Dialog zwischen Odysseus und Athena vom Motiv der Hybris des Aias und der göttlichen Strafe für diesen Frevel bestimmt ist, spricht einiges für die These, dass die Odysseus-Einsicht den Aspekt der Bewahrung und Wiederherstellung der göttlich-menschlichen Ordnung umfasst und auch in diesem Punkt in der Tradition der apollinischen Selbsterkenntnis bei Homer steht. Das Ende des Athena-Odysseus-Dialogs gestaltet Sophokles in Form einer göttlichen Paränese (127–133), die im Kontext dieser Untersuchung von Bedeutung ist, da sie den Zusammenhang von Selbstbesinnung und maßvollem Verhalten deutlich macht. Athena greift in ihrer Rede Odysseus’ Einsicht auf (127) und zieht daraus Schlussfolgerungen für das praktische Handeln: Weil das 224 Vgl. z. B. Jebb (1896, xli) u. Kamerbeek (1953, 9).

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menschliche Sein unbeständig und vergänglich ist, verbieten sich jegliche Anmaßung und Prahlerei gegenüber Göttern (128) und Menschen (129).225 Es gibt keinen Grund, sich angesichts des Besitzes von herausragenden geistig-physischen Kräften und äußeren Gütern zu überheben und sich selbstgefällig im ›Wahn eigener Größe‹ zu ergehen, sind doch Kräfte und Güter den Wechselfällen des Lebens unterworfen: Der Tag läßt sinken und er führt herauf auch wieder Alle die Menschendinge ¢r Bl´qa jk¸mei te j!m²cei p²kim ûpamta t!mhq¾peia (Ai. 131f.; Übers. W. Schadewaldt)

Zur Begründung der Unangemessenheit von übermäßigem Stolz, Einbildung und Selbstüberhebung wird hier noch einmal der Aspekt der Unbeständigkeit des menschlichen Seins thematisiert und damit Odysseus’ Einsicht bekräftigt. Zugleich wird in der Athena-Rede der Bereich des Vergänglichen erweitert und damit umfassend bestimmt. Der Athena-Logos lenkt den Blick über den kognitiv-seelischen Bereich hinaus auf die Physis und die Sphäre der Lebensgüter (»Sofern du mehr als jemand anders Wucht/ Hast in dem Arm oder in breiten Reichtums Tiefe« 129f.) und bezieht somit alle Ebenen des menschlichen Daseins (»alle Menschendinge« ûpamta t!mhq¾peia Ai. 132) in die Instabilitätsaussage ein (131f.). Im letzten Satz der Athena-Rede ist eine positive Wendung enthalten. Nachdem zuvor aufgezeigt worden war, welches Verhalten sich angesichts der Begrenztheit des Menschen verbietet, wird jetzt positiv ausgesagt, welches das angemessene, richtige Verhalten ist. Dem Menschen geziemt es, besonnen zu sein. Die s¾vqomer werden von den Göttern geliebt, heißt es in Ai. 132f. (to»r d³ s¾vqomar heo· vikoOsi). LefHvre (2001, 47) bemerkt zu Recht, dass sich die syvqos¼mg hier nicht nur auf das Verhalten gegenüber den Göttern bezieht, wie häufig angenommen wird, sondern auch auf die soziale Interaktion. Gemeint ist das ›gesunde‹ Selbst- und Weltverhältnis, die richtige Einschätzung der eigenen Stellung in der Gemeinschaft, die sich in der Achtung der Rechte und Leistungen der anderen sozialen Akteure manifestiert.226 Der s¾vqom ist das positive Ge225 Vgl. Thgn. 159f.: »Man soll, Kyrnos, nicht das große Wort führen, denn niemand weiß, was eine Nacht und ein Tag einem Mann bringen« (Übers. D. U. Hansen). 226 Coray (1993) gelangt in ihrer Untersuchung zu den Ausdrücken des Wissens und Erkennens bei Sophokles zu einer ähnlichen Deutung. Das Kompositum syvqome?m bezeichnet nach Coray einen spezifischen Wissenszustand, »nämlich das Wissen um das richtige Verhalten aus einer geistigen Haltung, frei von jeder Leidenschaft, das Wissen um die eigene Position im Verhältnis zu anderen« (181). An den relevanten Aias-Stellen zeige sich syvqome?m »vor allem als ein Wissen um Mässigung und Zurückhaltung im Umgang mit Gleich- oder Höhergestellten, um das Zurückstellen der eigenen Interessen« (182). Wäh-

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genbild zu dem von den Göttern gehaßten jajºr (133), der in der Tragödie durch Aias repräsentiert wird. Die Schlechtigkeit (jaj¸a) des Aias umfasst sowohl die Anmaßung gegenüber Athena (vgl. Ai. 762–777) als auch die Hybris gegen die Atriden und Odysseus (vgl. Ai. 40–49).227 Der zweite Aspekt der positiven Wendung besteht in dem Verweis auf die Gunst der Götter, die dem Besonnenen zuteil werde (132f.). Sieht der Mensch die Begrenztheit seiner Natur ein und verhält sich ihr gemäß, so wird er von den Göttern geliebt und gewinnt dadurch eine, wenn auch nicht absolute, so doch relative Stabilität des Glücks.228 Die letzten Sätze der Athena-Rede implizieren insofern das Paradox, dass das menschliche Sein gerade dadurch Beständigkeit und Stabilität gewinnt, dass es als unbeständig und flüchtig eingesehen wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in dem Dialog zwischen Athena und Odysseus (Ai. 118–133) folgende Elemente einer Konzeption der apollinischen Selbsterkenntnis enthalten sind: 1) Es geht um eine Einsicht in die spezifisch menschliche Seinsverfassung, die die Erkenntnis der Differenz zum göttlichen Sein einschließt; 2) Diese Einsicht fungiert als Begründung einer Ethik des Maßes; 3) Die Maß-Ethik steht im Zusammenhang mit Handlungserfolgen und einem gelingenden Lebensvollzug. 4) Die Selbsterkenntnis ist Garant eines relativ stabilen Glücks. Neben diesen inhaltlichen Grundelementen werden im Athena-OdysseusDialog zwei weitere Aspekte deutlich, die für das Verständnis der apollinischen Selbsterkenntnis von Bedeutung sind. Zum einen zeigt sich, dass bei der hier konzipierten Selbstbesinnung Individualität und Universalität in komplexer Weise ineinander verschränkt sind. Am besonderen, individuellen Schicksal wird die Einsicht in die allgemeine Konstitution des Menschen gewonnen, die auf den Erkennenden selbst zurückbezogen und insofern wieder personalisiert wird. Die dargestellte Form der Selbstbeziehung ist bei aller Allgemeinheit des rend Coray eine einheitliche Verwendung des Begriffs beobachtet, glaubt Rademaker (2005) bei Sophokles zwei verschiedene Bedeutungen von Sophrosyne erkennen zu können. In den frühen sophokleischen Tragödien werde die Sophrosyne als Gehorsam gegen Götter und menschliche Autoritäten verstanden, als Anerkennung der übergeordneten Stellung von Göttern und Führungspersönlichkeiten (123, 125, 141). In den späteren Dramen hingegen trete ein Verständnis von Sophrosyne als Haltung der Vorsicht hinzu, die als wünschbare Bürgertugend gekennzeichnet werde (141). Rademakers Auffassung ist insofern problematisch, als hier zwei Merkmale voneinander getrennt werden, die bei Sophokles untrennbar zusammengehören. Vorsicht im Handeln und Achtung der übergeordneten göttlichen und menschlichen Autoritäten werden in den Dramen als zwei Erscheinungsweisen der Mäßigung erkennbar. Zur Sophrosyne bei Sophokles vgl. auch North (1966, 50– 68). 227 So auch LefHvre (2001, 47) u. Rademaker (2005, 126f.). 228 Das ist am Beispiel des Odysseus zu sehen, der als s¾vqym von Athena geliebt wird und sich ihres Schutzes erfreut, d. h. vor Schaden und Übel bewahrt wird. Vgl. Ai. 34–37. Vgl. auch Soph. fr. 194 Radt.

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Gehalts letztlich auf das erkennende Individuum bezogen, das sich selbst, die je eigenen Kräfte und Güter als unbeständig und vergänglich einsieht und daraus Konsequenzen für das eigene Handeln zieht. Die beobachtete Verschränkung von Allgemeinem und Individuellem ist keineswegs trivial oder selbstverständlich. So scheint z. B. Göbel (2002, 18ff.) eher von einer Trennung auszugehen. Göbel unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen der delphischen Mahnung cm_hi sautºm, die er im Sinn von differenten, voneinander unabhängigen Erkenntnisakten versteht. »In der Regel bezieht sich diese Mahnung auf die begrenzten Möglichkeiten des Einzelmenschen und besonders auf überhebliche Selbst-Überschätzung« (18). Daneben gebe es jedoch ein anthropologisches Verständnis, das die Maxime mit der Begrenztheit und Sterblichkeit des menschlichen Wesens verbinde: »Schon zu vorphilosophischer Zeit wird das delphische cm_hi seautºm bald auch als anthropologisches Motiv verstanden, d. h. als allgemeine Frage ›Was ist der Mensch?‹, als Appell zur Selbsterforschung als Erforschung der menschlichen Natur : ›Wisse, was ein Mensch ist‹« (19). Nach Göbels Lesart ist die in apollinisch-delphischer Tradition stehende Selbsterkenntnis in ihrer anthropologischen Bedeutung eine »theoretische Daseinserhellung« (22 Fußn. 51), die Strukturen, Wesen und Grenzen des menschlichen Lebens klärt. Dieser Lesart widersprechen jedoch die dichterischhistoriographischen Zeugnisse. Nicht nur bei Pindar und Sophokles, sondern – wie noch zu zeigen sein wird – auch bei Herodot wird die Einsicht in die allgemeine Konstitution des Menschen stets an das Individuum zurückgebunden. Analog zur sophokleischen Athena-Rede erfolgt bei Pindar und Herodot die Thematisierung der Endlichkeit des menschlichen Seins im Rahmen einer an den Einzelnen gerichteten Ermahnung. Es ist stets die individuelle Person, die sich der Vergänglichkeit der eigenen Kräfte und Güter bewusst werden und sich diesem Faktum gemäß verhalten soll. Es erscheint insofern verfehlt, zumindest aber missverständlich, hier von ›theoretischer Daseinserhellung‹ zu sprechen. Angesichts der Darstellungen in den Zeugnissen liegt vielmehr die Annahme nahe, dass eine praxisrelevante Erkenntnis gemeint ist, die dem Zweck dient, zu einer Ethik des Maßes hinzuführen.229 Der zweite Aspekt, der am Athena-Odysseus-Dialog deutlich wird, betrifft die methodische Komponente und die epistemische Form. Die von Odysseus paradigmatisch erlangte Selbsterkenntnis ist nicht das Ergebnis einer intellektuellen Anstrengung; sie wird nicht durch einen mühsamen Denkprozess oder eine anspruchsvolle dialektische Erkenntnissuche gewonnen, sondern resultiert 229 Das zeigt auch die philologische Untersuchung von Coray (1993) zu den Ausdrücken des Wissens und Erkennens bei Sophokles. In Bezug auf die Erkenntnisgehalte des mit cicm_sjeim ausgedrückten Denkvorgangs stellt Coray fest: »An allen Belegen bei Sophokles besteht der Inhalt in Alltagswissen, das auf konkrete Lebenssituationen ausgerichtet ist, und nie in theoretischem, vom konkreten Leben losgelösten Wissen« (252f.).

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aus der Verarbeitung einer empirischen Erfahrung.230 An der Wahrnehmung des seiner Verstandeskraft beraubten Aias wird sich Odysseus plötzlich der Begrenztheit des menschlichen Seins und der ihn auszeichnenden Kräfte bewusst. Die hier konzipierte Selbsterkenntnis hat die Form eines unmittelbaren ›Innewerdens‹, ›Gewahrwerdens‹, das durch die Wahrnehmung von empirischen Phänomenen veranlasst wird. Snell (1975, 310 Anm. 34) hat in Hinblick auf diesen epistemologischen Aspekt treffend davon gesprochen, dass die Aufforderung cm_hi sautºm im Sinn eines »mach die Augen auf« zu verstehen ist.

c)

Apollinische Selbsterkenntnis in Sophokles’ späteren Tragödien

Die im Athena-Odysseus-Dialog des Aias enthaltenen Elemente einer apollinisch inspirierten Selbsterkenntnis werden von Sophokles in den späteren Tragödien immer wieder aufgegriffen. In der Antigone wird noch einmal das Motiv der Veränderlichkeit der Menschendinge verarbeitet, das bereits in der Athena-Rede (Ai. 131f.) thematisch präsent war. Der Gedanke wird hier ganz ähnlich formuliert, aber in einen anderen Kontext gestellt. In der Antigone fungiert er als Begründung der Vorsicht bei der Beurteilung des Glücks oder Unglücks eines Menschenlebens. Betont wird in diesem Zusammenhang die Unvorhersehbarkeit des zukünftigen Geschicks: Kein Menschenleben gibt es, wie’s auch stehen mag, das je ich wieder preisen oder tadeln will. Denn Schicksal (t¼wg) hebt empor und Schicksal bringt zu Fall. Den Hochbeglückten wie den Unglückseligen, und niemand sieht vorher, was Menschen treffen wird.231 (Soph. Ant. 1156–1160; Übers. W. Willige)

War es im Athena-Logos der Tag (Bl´qa Ai. 131), der die Veränderungen herbeigeführt hat, so wird dies jetzt der t¼wg zugesprochen. Der gemeinte Sachverhalt ist jedoch derselbe. Das auf Glücksgütern, psychisch-physischen Qualitäten und eigenen Leistungen basierende Wohlergehen kann plötzlich durch missliche Umstände, eine unglückliche Verkettung von Ereignissen, durch Eingriffe der Götter, eigene Verfehlungen oder gewaltsame Einwirkungen von außen zerstört werden. Und umgekehrt kann der Unbegüterte, Elende plötzlich 230 Zu der in der griechischen Literatur mit dem Verb cicm¾sjeim bezeichneten Erkenntnistätigkeit vgl. Coray (1993, 224): »An den meisten Stellen mit cicm¾sjeim geht der Akt des Erkennens von einer Sinneswahrnehmung aus, und zwar sehr häufig von einer der Augen. Durch das geistige Verarbeiten von Information, die (meist) über visuelle Wahrnehmung aufgenommen worden ist, wird eine Person fähig, einen weiterführenden, richtigen Schluß zu ziehen«. 231 Vgl. Soph. fr. 593 Radt.

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zu Reichtum und Ansehen gelangen. Schmitt (1988a und 1997) hat unter Bezugnahme auf Alexander von Aphrodisias (De Fato) für die antiken Tragödien einen Schicksalsbegriff geltend gemacht, der das Handeln und Planen des Menschen als Determinante miteinbezieht: »Durch einen richtigen oder falschen Gebrauch seiner Vermögen, selbst unterscheidend und handelnd in andere Ursachenzusammenhänge einzugreifen, gestalte der Mensch den Verlauf seines Schicksals, auch wenn dieses Schicksal durch v¼sir, durch Götter, durch Zufall usw. noch weitere Determinanten habe, partiell mit und sei unter dieser Einschränkung dafür auch mitverantwortlich« (1988a, 12). In Anknüpfung an Schmitt wird hier die Auffassung zugrunde gelegt, dass das Schicksal bei Sophokles nicht nur ein von äußeren Faktoren bedingtes Geschehen ist, sondern vom Subjekt durch seine Entscheidungen und Handlungen mitgestaltet und insofern mitverantwortet wird.232 Die in den Antigone-Versen artikulierte Alltagserfahrung der Wechselfälle des Lebens wird in den Trachinierinnen mit dem Kyklos-Motiv verknüpft. Die Vorstellung eines übergeordneten Kreislauf-Prinzips, auf die im Herodot-Kapitel noch genauer einzugehen sein wird, basiert auf der Überzeugung, dass Glück und Unglück im Leben des Einzelnen zirkulieren.233 In den Trachinierinnen findet sich eine besonders prägnante Formulierung dieses Gedankens im Einzugslied des Chors: […] Kein Los ohne Leid beschied des Alls Walter und Herr Kronion für uns sterblich Geschlecht. Sondern es kreisen Leid und Lust über uns allen wie die Kreisläufe des Großen Bären. Für Menschen hat weder Tag noch Nacht Bestand, auch Unheil nicht und nicht der Wohlstand; sondern schnell entweicht und kommt den andren zu das Freuen wie das Darben. (Soph. Trach. 126–135; Übers. W. Willige)

Wohlergehen und Unheil werden hier in Analogie zu Gestirnen vorgestellt, deren Bewegung als Umlauf um die Erde gedacht wird. So wie die Himmelskörper kreisen Glück und Unglück über allen Menschen und bringen ihnen im Wechsel positive und negative Ereignisse. Dies vor Augen habend äußert Deianeira, 232 Vgl. auch Schulte-Altedorneburg (2001, 111–118, bes. 114). 233 Das Kyklos-Motiv findet sich in besonders ausgeprägter Form bei Herodot. Die Vorstellung, dass dem allzu großen Glück das Unglück nachfolgt, war in der volkstümlichen Anschauung stark verbreitet. Vgl. dazu Nilsson (GGR I, 734–740).

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nachdem sie die Botschaft von den Siegen ihres Gatten Herakles erhalten hat, die Furcht, »daß dem Erfolgreichen noch Unheil droht« (Trach. 297; Übers. W. Willige). Das Kreislaufmotiv kann jedoch umgekehrt auch als Begründung von Zuversicht fungieren.234 Das Wechselvolle, Unbeständige des Geschicks wird schließlich auch im König Ödipus thematisiert. Der Gedanke erscheint dort im Zusammenhang mit einer Aussage über die Nichtigkeit des Menschen, die zunächst an Odysseus’ Einsicht im Aias erinnert, sich aber bei genauerer Betrachtung erheblich von dieser unterscheidet. Gemeint sind die berühmten Verse aus jenem Chorlied, das der Darstellung von Ödipus’ schmerzhafter Erkenntnis der Realität folgt: Io! Geschlechter der Sterblichen! Wie muß ich euch gleich dem Nichts, Ihr Lebenden, zählen! – (¢r rl÷r Usa ja· t¹ lgd³m f¾sar 1maqihl_) Denn welcher, welcher Mann trägt mehr Des Glücks (eqdailom¸a) davon, Als nur soviel wie den Schein und nach Dem Schein den Niedergang? – (C tosoOtom fsom doje?m ja· dºnamt( !pojk?mai) (Soph. Oid. T. 1186–1192; Übers. W. Schadewaldt)

Das Chorlied wird in der jüngeren Forschung verstärkt diskutiert. Eine besondere Aufmerksamkeit erfährt es durch jene Interpreten, die das gesamte Drama im Sinn einer Darstellung der condicio humana auslegen. Unter Berufung auf die erste Strophe des Liedes (insbes. Verse 1186–1192) wird für die These argumentiert, dass das Stück an der Figur des Ödipus exemplarisch die Nichtigkeit, Scheinhaftigkeit, Hinfälligkeit, Ausgesetztheit und Bedrohtheit der menschlichen Existenz vor Augen führe.235 In jüngerer Zeit wurde diese Auffassung insbesondere von Manuwald (1992) und Lurje (2004) vertreten, die sich damit explizit gegen die von LefHvre (1987) und Schmitt (1988a) aufgeworfenen These von der subjektiven Schuld oder Verfehlung des Ödipus wenden.236 Manuwald 234 In diesem Sinn fordert der Chor Deianeira, die aufgrund der Abwesenheit ihres Gatten Herakles in Trauer und Leid versinkt, dazu auf, die Hoffnung nicht aufzugeben (Trach. 136f., 124ff.). 235 So z. B. Reinhardt (1933), Schadewaldt (1960), Dodds (1968), Manuwald (1992), Lurje (2004). Für Reinhardt (1933) ist der Oedipus »d i e Tragödie des menschlichen Scheins« (110). In seiner Argumentation gegen die Deutung des Stücks im Sinn einer Schicksalstragödie beruft er sich explizit auf das vierte Stasimon (Vers 1189). Ähnlich Schadewaldt (1960, 286). Nach Auffassung von Dodds (1968, 28) ist der Oedipus »a play about the blindness of man and the desperate insecurity of the human condition: in a sense every man must grope in the dark as Oedipus gropes, not knowing who he is or what he has tu suffer ; we all live in a world of appearance which hides from us who-knows-what dreadful reality«. 236 Eine umfassende Darstellung der von LefHvre und Schmitt ausgelösten Debatte über die

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(1992, 36) sieht in Ödipus »ein paq²deicla (v. 1193) der Nichtigkeit menschlichen Lebens (vv. 1186–1188) und der Scheinhaftigkeit (vv. 1189–1192) und möglichen Fallhöhe (vv. 1196ff.) menschlichen Glücks (v. 1190), mithin der Ausgesetztheit und Bedrohtheit unseres Daseins«. Eine ähnliche Deutung findet sich bei Lurje (2004, 398f.) Unter Bezugnahme auf die Verse 1186–1196 meint Lurje, dass es in der Tragödie darum gehe, an der Figur des Ödipus den Menschen als »das stets im Düster der Illusion tappende Tageswesen« (398), und »die Nichtigkeit des menschlichen Lebens« (399) aufzuzeigen. Lurje zieht die Parallele zur Odysseus-Einsicht des Aias (Ai. 125f.)237 und gelangt zu der Aussage, dass Ödipus für den Chor (wie für den verstehenden Leser) – »genauso wie Aias für Odysseus – zum paq²deicla der Tragik und Nichtigkeit des menschlichen Lebens« (399) werde. In diesem Sinn wird hier zuletzt das ganze Werk des Sophokles gedeutet. Die sophokleische Tragödie sei Ausdruck »einer bestimmten ›tragischen‹ Sicht der Welt, wie sie […] von Odysseus im Aias (Ai. 125f.) und dem Chor im Oedipus Rex (vv. 1886–1996) jeweils als eine aus dem Geschehenen und Gesehenen gewonnene Erkenntnis und im dritten Stasimon des Oedipus Coloneus als deren letzte Konsequenz formuliert wird« (400).238 Es ist hier nicht der richtige Ort, die Frage zu diskutieren, ob über diese Stellen tatsächlich ein Zugang zum Verständnis des sophokleischen Gesamtwerks gewonnen werden kann bzw. ob das vierte Stasimon aus dem König Ödipus den Erklärungsschlüssel für diese Tragödie bietet. Im Rahmen der Erörterung der Konzeption einer apollinischen Selbsterkenntnis interessiert hier lediglich die Frage, ob das Chorlied des König Ödipus tatsächlich im Sinn einer allgemeinen, der Auffassung des Autors entsprechenden Aussage über die Nichtigkeit und Scheinhaftigkeit der menschlichen Existenz zu deuten ist und diese Deutung auf den Aias übertragen werden kann. Um es vorweg zu sagen: Beide Fragen sind zu verneinen. Die skizzierte Deutung erscheint in verschiedenen Hinsichten als problematisch. Fragwürdig ist insbesondere die von Lurje vorgenommene Parallelisierung von Ai. 125f. und Oid. T. 1186–1196. Nach Meinung Lurjes will Sophokles an beiden Stellen der »Nichtigkeit des menschlichen Lebens« (399) Ausdruck verleihen. Damit werden implizit folgende Aussagen identifiziert: 1) Das menschliche Leben ist dem Nichts gleich (¢r rl÷r Usa ja· t¹ lgd³m f¾sar 1maqihl_ Oid. T. 1187f.); 2) Die Menschen sind nichts anderes als Schattenbilder (eUdyka) oder leichter Schatten Frage der subjektiven Schuld sowie eine gründliche Auseinandersetzung mit der die subjektive Verfehlung des Ödipus fokussierenden Deutung findet sich bei Lurje (2004). Zur Debatte vgl. auch Rumpff (2003). 237 So bereits Dodds (1968, 29). 238 Die Verknüpfung mit dem Oedipus Coloneus (607–15, 1211–49) findet sich ebenfalls schon bei Dodds (1968, 29).

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(sji²) (Ai. 125f.). Die beiden Aussagen unterscheiden sich jedoch sowohl hinsichtlich des Gehalts als auch des Bezugspunktes voneinander. Das Schattenbild ist keineswegs dem Bereich des Nichts zuzuordnen, vielmehr zeichnet es sich durch einen, wenn auch geringen Seinsgrad aus.239 Bekanntlich ist im griechischen Epos, an das Sophokles anknüpft, mit dem Ausdruck eUdykom die aus dem Körper des verstorbenen Menschen entwichene, in den Hades eingegangene Seele (xuw¶) bezeichnet worden.240 Als kraftloses, körperloses Abbild des Menschen besitzt die in den Hades eingegangene Psyche zwar nicht mehr den Seinsgrad des Lebenden, aber, wie Rohde (1903 I, 3) treffend bemerkt hat: »Ein N i c h t s ist es jedenfalls nicht, was in die finstere Tiefe eingehen kann, über ein Nichts kann, sollte man denken, das Götterpaar drunten nicht herrschen«. Die Tatsache, dass im Aias die lebenden, im Besitz ihrer Kräfte befindlichen Menschen als Schattenbilder bezeichnet werden, lässt vermuten, dass hier an eine proportionale Gleichheit des Verhältnisses zwischen menschlichem Sein und vollkommenem Sein einerseits sowie körperloser Seele und lebendigem Menschen andererseits gedacht ist. Die Menschen verhalten sich hinsichtlich ihres Seins zu den Göttern auf dieselbe Weise wie die in den Hades entwichene Psyche zum lebenden Menschen. Ganz gleich aber, ob solch eine Verhältnisbestimmung mitgedacht ist, auf jeden Fall sind der Odysseus-Satz und die Aussage des Chors im Ödipus nicht vorbehaltlos zu identifizieren. Die Differenz wird noch deutlicher, wenn man die Bezugspunkte der Aussagen betrachtet. Der Satz aus dem Chorlied des Ödipus, dass das menschliche Leben nichtig ist (Verse 1187f.), und die folgende Aussage über die Scheinhaftigkeit des menschlichen Glücks (Verse 1189–91) befinden sich logisch keineswegs auf derselben Ebene, wie in einigen Interpretationen unterstellt wird. Die beiden Aussagen sind nicht im Sinn einer bloßen Kumulation von Bestimmungen des menschlichen Daseins zu verstehen, wie z. B. Manuwald (1992, 36) durch seine Aneinanderreihung der Aussagen nahelegt. Vielmehr besteht hier ein Begründungsverhältnis.241 Die in den Versen 1187f. ausgesagte Nichtigkeit des menschlichen Lebens wird mit dem Argument begründet, dass das menschliche Glück (eqdailom¸a) keine objektive Realität besitzt, sondern dem Bereich des subjektiven Dafürhaltens (doje?m 1191; dona 1192) angehört (Verse 239 Das wird auch noch in Platons Höhlengleichnis (rep. 516a/b) angedeutet. Die Schatten (sji±i) und Wasserbilder (eUdyka) außerhalb der Höhle sind Abbilder der wirklichen Dinge, die wiederum ihr Sein der Sonne verdanken. Die Schatten bezeichnen hier den niedrigsten Wahrheits- und Seinsgrad, als Schatten der wirklichen Dinge gehören sie jedoch prinzipiell dem Bereich des Seins an. Freilich würde Platon das von Sophokles mit dem Ausdruck ›Schattenbild‹ bezeichnete Sein, also z. B. die durch Aias repräsentierte Arete, wohl eher dem Bereich der Doxa, d. h. dem Höhlenbereich zuordnen. 240 Vgl. dazu Rohde (1903 I). 241 Darauf weist die Konjunktion c²q (Vers 1189) hin, mit der die begründende Argumentation eingeleitet wird.

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1189–1192). Es ist ein auf der Unkenntnis von Fakten, Ereignissen, Identitäten beruhendes Scheinglück, das beim Übertritt in den Zustand des Wissens sofort erlischt und eine zerstörte Existenz zurücklässt (Vers 1192). Als Paradigma der Scheinhaftigkeit des menschlichen Glücks und des nachfolgenden Niedergangs führt der Chor Ödipus an (Verse 1193ff.), der als Herrscher von Theben und Gatte von Iokaste ein vermeintliches Glück genoss und nach der Aufdeckung der Wahrheit in seiner Existenz zerstört ist. Die Verse über das Scheinglück verweisen darauf, dass der Geltungsbereich der anfänglichen Nichtigkeits-Aussage einzuschränken ist. Der Mensch ist nicht schlechthin und in jeder Hinsicht ein Nichts, sondern in Bezug auf die Scheinhaftigkeit seines Glücks. Der Referenzpunkt im Aias ist hingegen ein ganz anderer. Odysseus’ Einsicht in die Unbeständigkeit des menschlichen Seins bezieht sich primär auf die geistig-psychischen und physischen Kräfte, die den Wert des Menschen begründen. Diese menschliche Exzellenz wird keineswegs als Scheintüchtigkeit, im Sinn eines bloß subjektiven Dafürhaltens gedeutet. Nach Odysseus’ Überzeugung war Aias vor dem Eingreifen der Athena hinsichtlich seiner kriegerischen Leistungen nicht nur ein vermeintlicher, sondern ein wirklicher %qistor (vgl. Ai. 77; 119–121; 1340). Am grundsätzlichen Seinscharakter dieser Arete wird nicht gezweifelt. Am Schicksal des Aias wird lediglich die Einsicht gewonnen, dass die menschliche Arete hinsichtlich der Beständigkeit Grenzen aufweist. Es bleibt festzuhalten, dass in den beiden Dramen keineswegs identische Aussagen getroffen werden. Während der Aias die Unbeständigkeit und Flüchtigkeit des menschlichen Seins betont, stehen im König Ödipus die Scheinhaftigkeit des Glücks und die darin begründete Nichtigkeit des menschlichen Lebens im Zentrum. Angesichts dieser Differenz ist das Verhältnis der beiden Aussagen zu klären. Ist Sophokles im König Ödipus zu einer pessimistischeren, die frühere Einsicht revidierenden Auffassung der menschlichen Existenz gelangt? Oder sind beide Sätze kompatibel und bezeichnen zwei Elemente innerhalb einer komplexen anthropologischen Konzeption? Um einer Antwort auf diese Fragen näherzukommen, soll zunächst der Allgemeinheitsgrad der im Ödipus getroffenen Aussage untersucht werden. Lurje sowie andere Interpreten242 gehen davon aus, dass die vom Chor ausgesagte Scheinhaftigkeit des menschlichen Glücks als sophokleische Bestimmung der Situation des Menschen überhaupt aufzufassen sei. Das Chorlied legt solch eine Interpretation in der Tat nahe. Die Frage: »Denn welcher, welcher Mann trägt mehr des Glücks davon, als nur soviel wie den Schein« (1189–91; Übers. W. Schadewaldt) hat den Charakter einer Suggestivfrage, die die Meinung 242 Vgl. z. B. Dodds (1968, 28).

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vermitteln will, dass es eben keinen Menschen gibt, der über den Schein hinausgelangt. In diesem Sinn erklärt der Chor einige Verse später, dass er »von Sterblichen nichts glücklich preisen [kann]« (bqot_m oqd³m lajaq¸fy 1195f.). Hinsichtlich der hier vorgenommenen Generalisierung ist jedoch alle Vorsicht geboten. Diese Aussage ist nicht vorbehaltlos mit der Meinung des Autors zu identifizieren, wird der Satz doch am Ende des Dramas relativiert. Im Epilog zieht der Chor aus dem Schicksal des Ödipus die Lehre, dass man niemanden glücklich preisen soll, ehe er sein Leben vollendet hat243 : Drum, ist einer sterblich, achtet drauf, nach jenem letzten Tag auszuschauen: Keinen darf man glücklich preisen, eh er denn an des Lebens Ziel gelangt ist und kein Leid erduldet hat.244 (Soph. Oid. T. 1528–30; Übers. W. Willige)

Die Aufforderung, bei der Beurteilung der Eudaimonia eines Menschen auf das Ende des Lebens zu schauen, hat nur Sinn vor dem Hintergrund der Annahme, dass ein wahrhaftes Glück durchaus möglich ist. Würde Sophokles hier von der Prämisse ausgehen, dass alle gleichermaßen im Schein befangen sind, wäre die angemahnte Vorsicht im Urteil völlig unbegründet. Die Schlussverse des Ödipus sowie vergleichbare Stellen aus anderen Tragödien (Ant. 1156–60; Trach. 1ff.) legen nahe, dass Sophokles analog zu seinem Freund Herodot245 ein reales, d. h. nicht nur eingebildetes, vermeintliches Glück annimmt, dass zwar ebenso gebrechlich ist wie das Scheinglück246, aber mitunter ein volles Leben hindurch andauert.247 Die an die Bürger von Theben (und den Zuschauer) gerichtete Paränese des Epilogs lässt sich als Korrektiv des vorherigen Urteils des Chors lesen.248 Im Gegensatz zur ruhigen, besonnenen Haltung des Schlusschors, der aus der Distanz heraus das Geschehene reflektiert und allgemeine Schlussfolgerungen zieht, ist das vierte Stasimon ganz und gar vom Affekt beherrscht. Der Chor 243 244 245 246

Vgl. Soph. Ant. 1156–60; Trach. 1ff. Vgl. Soph. fr. 646 Radt. Vgl. insbes. die Kroisos-Solon-Geschichte (Hdt. 1, 29–33). Während das Scheinglück durch die Aufdeckung der Wahrheit vernichtet wird, kann das tatsächliche Glück durch Schicksalsschläge, eigene Verfehlungen etc. zerstört werden. 247 Vgl. die von Herodot in der Kroisos-Solon-Geschichte angeführten Beispiele des Athener Bürgers Tellos (Hdt. 1, 30, 4) und der Brüder Kleobis und Biton (Hdt. 1, 31, 2) sowie den in der delphischen Legende um die Frage nach dem Glücklichsten dargestellten Bauern Aglaos. Solche Beispiele eines glücklichen Lebens dürften dem apollinisch inspirierten Sophokles vor Augen gestanden haben. Dieses ›kleine‹ Glück wird als stabiler eingeschätzt als das ›große‹ Glück, das stets von der Zerstörung bedroht ist. Vgl. Soph. fr. 106 Radt. 248 Freilich ist in dieser Korrektur nicht die Intention des Epilogs zu sehen. In den Schlussversen liegt der Akzent auf der Gebrechlichkeit des Glücks, ganz gleich, ob dieses ein scheinhaftes oder wirkliches ist. Die Frage nach Schein oder Sein des Glücks ist für den hier formulierten Gedanken irrelevant.

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spiegelt dort das Entsetzen und die Verzweiflung des Ödipus wider, der zuvor die ganze Wahrheit erkannt und seiner Freveltaten sowie seines Scheinglücks gewahr geworden ist. Die Fähigkeit zu einem differenzierten Urteil über die menschliche Eudaimonia, die eine Distanzierung vom eigenen Schicksal und die Einbeziehung der Realität außerhalb des subjektiven Geschicks erfordert, ist an dieser Stelle noch gar nicht vorhanden. Der Chor geht hier – analog zur ÖdipusFigur – völlig in der Erfahrung dieses besonderen Schicksals auf. Das Leid des Ödipus wird als übermächtige Wirklichkeit erlebt und aus diesem Erleben heraus mit der Wirklichkeit schlechthin identifiziert. Vergleicht man die affektive Verfasstheit des Chors in Oid. T. 1186–96 mit der Darstellung der Odysseus-Figur aus dem Aias, so zeigt sich auch in dieser Hinsicht eine Differenz zwischen den beiden Passagen. Odysseus empfindet zwar Mitleid mit dem geistesverwirrten Aias und ist insofern ebenfalls affektiv berührt. Im Gegensatz zum Chor des Ödipus geht er jedoch nicht im Affekt auf, sondern bewahrt eine ruhige, beherrschte Haltung. Seine Einsicht in die Seinsverfassung des Menschen ist nicht affektbedingt, sondern Resultat und Ausdruck einer besonnenen Überlegung. Die Richtigkeit und Vernünftigkeit dieser allgemeinen Einsicht wird von Sophokles dadurch betont, dass er sie von Athena, deren Mahnrede stilistische, formale, aber auch inhaltliche Ähnlichkeiten249 mit dem Epilog des Ödipus aufweist, bestätigen lässt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann jetzt das Verhältnis der anthropologischen Aussagen im König Ödipus und im Aias näher bestimmt werden. Angesichts der Beobachtung, dass im Ödipus das Scheinglück nicht als allgemeines, konstitutionelles Merkmal der menschlichen Existenz bestimmt wird, sondern als eine mögliche, durch verschiedene Faktoren bedingte250 Ver249 Die inhaltliche Übereinstimmung besteht in der Aufforderung zur Sophrosyne, die mit der Unbeständigkeit der menschlichen Kräfte und Güter (Aias) bzw. des menschlichen Glücks (Ödipus) begründet wird. Das Wort syvqos¼mg taucht zwar im Epilog des Ödipus nicht auf; die Sophrosyne ist jedoch zweifellos gemeint, wenn hier zur Vorsicht im Urteil (Verse 1528– 30) und implizit zur Mäßigung des Neides gegenüber den augenscheinlich Glücklichen (vgl. Vers 1526) aufgefordert wird. 250 Es ist in jüngerer Zeit zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Unwissenheit, auf der das Scheinglück des Ödipus beruht, nicht nur durch äußere Faktoren oder durch die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit (so Diller 1963; Halliwell 1990; Budelmann 2000, 133–194; Race 2000; Lurje 2004, 395 u. 398) bedingt ist, sondern auch im subjektiven Versagen des Ödipus begründet ist. Vgl. LefHvre (1987 u. 2001, insbes. 140), Schmitt (1988a, insbes. 21 u. 1997), Erbse (1993), Coray (1993, 215), Flashar (1994, 66 u. 2000, 114), Flaig (1998, 119–124). Das von diesen Autoren beobachtete Versäumnis einer unterlassenen oder nicht konsequent genug betriebenen Nachforschung wird durch das Ende des Dramas belegt, in dem Ödipus eben dieses Versäumnis eingesteht. Vgl. Oid. T. 1484f.: dr rl¸m, § t´jm(, ouh( bq_m ouh( Rstoq_m/ patµq 1v²mhgm 5mhem aqt¹r Aqºhgm. (»Der ich, ihr Kinder! sehend nicht und fragend nicht/ Euch Vater dort ward, wo man selber mich hineingepflügt« Übers. W. Schadewaldt). Das subjektive Versagen der Akteure lässt sich auch bei Herodot beobachten. Die von Herodot in der Kroisos-Geschichte berichtete Aussage der Pythia,

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fehlung eines gelungenen Lebens, ist es wenig plausibel anzunehmen, dass Sophokles hier eine Revision seiner früheren Auffassung vom Menschen vorgenommen hat und zu einer pessimistischeren Sichtweise gelangt ist. Es ist viel eher davon auszugehen, dass im Aias und im Ödipus verschiedene Aspekte des menschlichen Seins thematisiert werden, die die Elemente einer komplexen anthropologischen Konzeption darstellen. Man wird Sophokles kaum gerecht, wenn man ihn auf eine ›tragische Weltsicht‹ im Sinn der oben skizzierten Nichtigkeit, Scheinhaftigkeit, Ausgesetztheit der menschlichen Existenz zu reduzieren versucht. Die Texte verweisen vielmehr auf eine differenzierte, vielschichtige Anthropologie, die den Menschen in seiner Größe, seiner Begrenztheit und seiner Fehlbarkeit auszuloten versucht. Sophokles thematisiert die Dynamis des Menschen, indem er die auf den verschiedenen Gebieten vollbrachten technischen und praktischen Leistungen würdigt (vgl. insbes. Ant. 332ff.) und die Göttlichkeit der menschlichen Vernunft (vq´mar, vqºmgsir) betont.251 Zugleich hat er jedoch ein deutliches Bewusstsein von der Vergänglichkeit und Unbeständigkeit der menschlichen Kräfte.252 Und schließlich weiß er um die Fehlbarkeit des Menschen, um das sowohl konstitutionell253 als auch subjektiv bedingte Versagen der Vernunft, das die Sterblichen häufig in Verblendung und Schein gefangen hält. Das sophokleische Menschenbild wird letztlich bestimmt von der Ambivalenz des Menschen, der in seinen höchsten nicht der Gott sei am Unglück des Kroisos schuld, sondern er selbst, weil er den Orakelspruch falsch verstanden und versäumt habe, noch einmal nachzufragen und sich um ein richtiges Verständnis zu bemühen (Hdt. 1, 91, 4–5), lässt sich auch auf Ödipus anwenden. 251 Für Sophokles sind die menschlichen Vermögen, insbesondere die Vernunft, göttliche Gaben. »Die Götter […] pflanzen den Menschen Vernunft ein« (heo· v¼ousim !mhq_poir vq´mar) heißt es in der Antigone (683). Der Gedanke wird später von Platon (Alk. I 133c; rep. 518e, 589d1, 590d; Tim. 88b2, 90c) und Aristoteles (eth. Nic. 1177b) entfaltet. 252 Die Einsicht in die generelle Beschränktheit der menschlichen Kräfte geht bei Sophokles keineswegs mit einer Abwertung der menschlichen Leistungen einher. Anders Schmidt (1989, 51), der den Oedipus im Sinn einer Geringschätzung der menschlichen Verstandesleistungen deutet: »Im ›König Ödipus‹ unternimmt Sophokles darüber hinaus in gegenaufklärerischer Absicht den Versuch, den menschlichen Geist zu einem Unwert zu machen. Im Namen des Gottes wertet er menschliches Wissen rigoros ab. Er versucht es erstens als irrelevant zu erweisen. Was zählt es schon noch am Ende, daß Ödipus einst die Stadt rettete, indem er das Rätsel der Sphinx löste? Zweitens versucht er das menschliche Wissen sogar als schädlich zu erweisen«. Dagegen ist einzuwenden, dass die Leistungen des Verstandes im Oedipus keineswegs abgewertet, sondern lediglich in ihrer Bedeutung für die Erlangung der Eudaimonia eingeschränkt werden. Die technisch-instrumentelle Vernunft ist nicht Garant eines glücklichen Lebens. Zur Kritik an Schmidts These vgl. auch Kullmann (1994, 113). 253 Die Grenzen der menschlichen Vernunft bestehen nach Sophokles insbesondere in der Unfähigkeit, das vergangene, vor allem aber das zukünftige Geschehen, den Ausgang von bestimmten Handlungen und Unternehmungen zu erkennen. Das sichere und vollkommene Wissen vom Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen ist den Göttern vorbehalten. Allerdings hat der Mensch durch Mantik und Orakelsprüche einen Zugang zu diesem göttlichen Wissen.

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Augenblicken zu ungeahnter Größe emporsteigt und in seinen tiefsten Momenten dem Nichts gleicht. Abschließend sei noch das Alterswerk des Sophokles, Ödipus auf Kolonos, erwähnt, in dem nochmals der Gedanke der Unbeständigkeit der Menschendinge formuliert wird, der jetzt jedoch deutlich resignative Züge aufweist.254 Ödipus spricht folgende Worte zu Theseus: […] nur den Göttern ist Des Alters Bürde fremd und auch der Tod; Das andre unterliegt der Macht der Zeit (wqºmor). Die Kraft der Erde, Kraft des Leibs vergeht, Untreue wächst, wo treuer Glaube stirbt, Und nie weht ungetrübter Freundesgeist Vom Mann zum Manne, von der Stadt zur Stadt; […] Und wenn aus diesem Theben heut der Glanz Des Friedens strahlt, so führt die lange Zeit Noch manchen Tag und manche Nacht herauf, Die treuen Handschlag, um ein kleines Wort, Verwandeln kann in rauhen Schwertertanz. (Oid. K. 607–620; Übers. E. Buschor)

Hier ist nicht mehr von einem Sinken und Aufsteigen der Menschendinge, von einem ›Auf‹ und ›Ab‹ der Geschicke die Rede, sondern von der Vergänglichkeit alles irdischen Seins. Das zyklische Modell eines stetigen Wechsels von prosperierenden und absteigenden Phasen wird durch ein Verfallsmodell abgelöst, nach dem alle irdischen Dinge irgendwann dem Vergehen anheimfallen. Statt der t¼wg oder dem Kreislauf der Ereignisse wird jetzt die Macht der Zeit (wqºmor)255 geltend gemacht, der alles Irdische letztlich unterliegt. Im Gegensatz zum Odysseus-Logos des Aias, in dem die Differenz zu den Göttern zwar mitgedacht, aber nicht expliziert wurde, ist die Kluft zwischen Sterblichen und Unsterblichen in den Versen des Kolonos thematisch präsent. In Anknüpfung an traditionelles Gedankengut formuliert Sophokles den Gedanken, dass die Götter im Unterschied zu den Menschen ein unvergängliches, ewiges Sein besitzen, das keinen Verfall der Kräfte, kein Altern, keinen Tod erleidet. Die Überzeitlichkeit ist der göttlichen Sphäre vorbehalten: »nur den Göttern ist des Alters Bürde fremd und auch der Tod« (Oid. K. 608). Der Mensch hingegen ist durch das Merkmal der Zeitlichkeit bestimmt.

254 Zu der im Kolonos zum Ausdruck kommenden Altersresignation vgl. auch Oid. K. 1211– 1238. 255 Vgl. Soph. Ai. 646f.

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d)

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Selbsterkenntnis als Begründung einer Ethik des Maßes und eines relativ stabilen Glücks

Die Selbsterkenntnis in der Bedeutung einer Vergegenwärtigung der Endlichkeit des menschlichen Daseins hat bei Sophokles – ähnlich wie bei Pindar – die Funktion eines ethischen Leitprinzips, das ein maßvolles Handeln und ein relativ stabiles Glück begründet. Dieser lebenspraktische Aspekt wird nicht nur im Aias thematisiert, sondern auch in den späteren Dramen, insbesondere in der Antigone und der Elektra. In der Elektra gestaltet Sophokles die Einsicht in die sterbliche Natur des Menschen als Begründung einer maßvollen Trauer. Nachdem Elektra die Nachricht vom Tod des Bruders, die sie aufgrund ihrer Uneingeweihtheit in die von Orest ersonnenen listigen Rachepläne für wahr hält, empfangen hat, bricht sie in laute Klagen aus. Da es ihr nicht gelingt, ihre emotionale Verfassung zu stabilisieren und sie sich stets von neuem in Jammern und Klagerufen ergeht, wird sie schließlich von einer der Frauen von Mykene mit folgenden Worten zur Mäßigung256 aufgerufen: Von einem Sterblichen stammst du, Elektra! Bedenke es! und sterblich war Orest! Drum klage nicht zu sehr! Uns allen Wird abgefordert, daß wir dies erleiden. (Soph. El. 1171–73; Übers. v. W. Schadewaldt)

Die Parallelen zur Athena-Rede des Aias sind unübersehbar. Hier wie dort fungiert der Verweis auf die Begrenztheit des Menschen als Begründung einer Haltung des Maßes und der Besonnenheit. Interessanter als die Ähnlichkeiten sind jedoch die Differenzen, die das bisher rekonstruierte sophokleische Konzept einer apollinischen Selbsterkenntnis noch weiter erhellen. Während im Aias aus der Begrenztheit des Menschen ein von Ehrfurcht und Achtung bestimmtes Verhalten gegen Götter und Menschen abgeleitet wird, dient der Vergänglichkeitshinweis in der Elektra als Begründung eines durch Akzeptanz des Gegebenen bestimmten Verhaltens gegenüber dem Tod. Die geforderte Mäßigung bezieht sich hier nicht auf die agonalen Kräfte und Bestrebungen des Menschen, sondern auf Emotionen wie Trauer und Schmerz.257 Damit wird das im Aias entworfene Konzept der Sophrosyne hinsichtlich des Phänomenbereichs ergänzt und vervollständigt. Die Besonnenheit ist nicht nur im politisch-rechtlichen und menschlich-göttlichen Bereich gefordert, sondern auch in existenziellen Grenzsituationen wie der Begegnung mit dem Tod. Analog 256 Vgl. auch die Aufforderung zur Mäßigung in Soph. El. 140ff., 153ff., 173ff., 213ff. 257 Die Forderung einer maßvollen Trauer um die Verstorbenen findet sich bereits bei Homer. Vgl. Il. 6, 486; 24, 44ff.; Od. 1, 353.

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dazu kann sich auch die entsprechende Fehlhaltung in unterschiedlichen Situationen und hinsichtlich verschiedener psychischer Kräfte manifestieren, wie an den Protagonisten der beiden Dramen deutlich wird. Sowohl Aias als auch Elektra verfehlen das Maß. Auf diesen Aspekt hat vor einigen Jahren LefHvre (2001, 157) hingewiesen: »Elektra steht in ihrer Maßlosigkeit Aias und Antigone gefährlich nahe«. Die Parallele zur Figur des Aias lässt sich jedoch noch weiter ziehen. So wie Aias’ Zügellosigkeit im Umgang mit Athena und den Atriden in einer Selbstüberschätzung wurzelt, wird auch bei Elektra eine Hybris sichtbar. Elektras ausufernde Trauer ist Ausdruck davon, dass sie das Faktum der Sterblichkeit nicht zu akzeptieren bereit ist und implizit Anspruch auf unbegrenzte Lebensdauer erhebt. Eine weitere Differenz zwischen dem Athena-Logos des Aias und der ElektraPassage besteht in der Funktion der Mahnreden. Athenas Rede dient erkennbar dem Zweck, Odysseus in seiner Disposition zur Sophrosyne zu bestärken. Die bereits vorhandene Haltung soll durch die Selbsterkenntnis gefestigt und begründet werden. Im Gegensatz dazu geht es in der Rede an Elektra darum, eine Fehlhaltung zu korrigieren. Die Selbstbesinnung, zu der Elektra explizit aufgefordert wird (Ik´jtqa, vqºmei El. 1171), hat die Funktion, eine Verhaltensänderung herbeizuführen und eine charakterliche Qualität auszubilden, die vorher allenfalls der Möglichkeit nach vorhanden war. Legt man die Annahme zugrunde, dass die Verse die Auffassung des Autors widerspiegeln258, so ist zu schließen, dass die Selbsterkenntnis nach dem sophokleischen Konzept in noch viel stärkerem Sinn Kausalität der Besonnenheit ist als im Aias angedeutet. Sie erfüllt nicht nur eine Begründungs- und Stabilisierungsfunktion, sondern ist zudem Wirkprinzip der Arete. Die Tatsache, dass Elektra die notwendige Einsicht nicht gewinnt und in ihrer maßlosen Trauer verharrt, ist kein Argument gegen diese Deutung. Entscheidend ist, dass hier die Aufforderung zur Einsicht und Verhaltenskorrektur artikuliert wird. Impliziert diese doch die Annahme, dass Elektra trotz ihrer Disposition zur überschwenglichen Emotion259 prinzipiell die Möglichkeit besitzt, ihr Verhalten zu ändern. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Mensch für Sophokles ebensowenig wie für Pindar vollständig von Charakter und Umständen determiniert. Er hat prinzipiell die Freiheit und Möglichkeit, sich zur ›inneren‹ und ›äußeren‹ Wirklichkeit zu verhalten und korrigierend einzugreifen bzw. Einfluss auf Verhalten und Schicksal zu nehmen. Sophokles’ Darstellung von Figuren, die zumeist die notwendige Selbsterkenntnis verfehlen, ist nicht im Sinn einer Leugnung der Realisierbarkeit zu 258 Dafür plädiert LefHvre (2001, 159). 259 Elektra wird als Figur dargestellt, die nicht nur in negativen Affekten wie Trauer, Schmerz, Hass, Zorn das Maß verfehlt, sondern auch in der Freude unmäßig ist. Dazu LefHvre (2001, 167f.).

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verstehen260, vielmehr wird das unbestreitbare Faktum veranschaulicht, dass Selbsterkenntnis und Selbständerung zu den schwierigsten Aufgaben gehören. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen kann jetzt der Versuch unternommen werden, die Relation zwischen dem cm_hi seautºm und dem lgd³m %cam, zwischen Selbsterkenntnis261 und Sophrosyne zu klären. In der spätarchaisch-klassischen Literatur werden die beiden Forderungen häufig zusammen angeführt262, sodass der Eindruck entsteht, dass es keine nennenswerte Differenz gibt. Es vermag von daher kaum zu verwundern, dass in der Forschung zumeist von einer weitgehenden Bedeutungsgleichheit ausgegangen wird. North (1966, 33) erklärt in ihrer Untersuchung zur griechischen Sophrosyne, dass Sophokles die Besonnenheit letztlich mit der Selbsterkenntnis identifiziert: »Sophocles interprets sophrosyne chiefly as the power to recognize reality and identifies it closely with self-knowledge.«263 Eine differenziertere Betrachtungsweise findet sich bei Webster (1969, 40), der die Selbsterkenntnis als intellektuelles Moment der Sophrosyne bestimmt.264 Diese habe einen mo260 So etwa Rademaker (2005, 123), der meint, dass in den frühen Tragödien die Unmöglichkeit einer Vereinbarkeit von heroischen Charakteren und entsprechenden Tugenden mit der Sophrosyne aufgezeigt werde: »Thus, Sophocles’ treatment of the figure of Ajax suggests that the syvqos¼mg of obedience, [….] is hardly compatible with the ethos and status of the ›hero‹«. 261 Die Selbsterkenntnis wird in der späteren Literatur im Anschluss an den Imperativ cm_hi seautºm mit dem Ausdruck cm_sir 2autoO bzw. t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim bezeichnet. Vgl. Plat. Alk. I 129a2, 130e7, 131b4, 133c8; Charm. 164d4–5, 165b4. 262 Vgl. auch Heraklit DK 22 B 116: !mhq¾poisi p÷si l´testi cim¾sjeim 2yuto»r ja· syvqome?m. »Es ist allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und besonnen zu sein« (Übers. nach J. Mansfeld). In den platonischen Dialogen finden sich häufige Bezugnahmen auf die traditionelle Annahme einer engen Beziehung zwischen Selbsterkenntnis und Sophrosyne. Vgl. Plat. Charm. 164dff.; Alk. I 131b, 133c; Tim. 72a. Die Verbindung von Sophrosyne und Selbsterkenntnis findet sich bereits bei Hom. Il. 21, 462–64. Dazu North (1966, 4f.). 263 Whitman (1951, 8f.) geht in seiner Sophokles-Interpretation ebenfalls von einer Identifikation von Sophrosyne und Selbsterkenntnis aus. Vgl. auch die ältere Forschung: Kunsemüller (1935, 19) und Schwartz (1951, 55). 264 Der Begriff der Sophrosyne war offenbar von Anfang an mit einem intellektuellen Moment verknüpft. Nach Kunsemüller (1935, 18) enthält die Sophrosyne im griechischen Epos »den Begriff zweckmäßiger Klugheit«, d. h. ein praktisches Wissen um die Regeln des Standes. In der spätarchaisch-klassischen Zeit beobachtet Kunsemüller ein enges Zusammenrücken von syvqome?m und vqome?m (19). So auch Schwartz (1951, 54), der unter Bezugnahme auf Pindar feststellt, dass es »überhaupt schwer ist, syvqos¼mg und vqºmgsir zu unterscheiden«. Die enge Beziehung zwischen Sophrosyne und Einsicht zeigt sich insbesondere in der sophokleischen Tragödie. In der Forschung ist wiederholt festgestellt worden, dass bei Sophokles beide Ausdrücke mitunter synonym gebraucht werden. Vgl. Elliger (1965, 90), Webster (1969, 40), Butaye (1980, 295ff.), LefHvre (2001, 258f.). Zu syvqome?m und vqome?m bei Sophokles vgl. Coray (1993, 154ff.). In Platons Nomoi (631c) wird die Nähe der Sophrosyne zur Phronesis dadurch angezeigt, dass der Sophrosyne der zweite Platz in der Güterordnung, d. h. der Platz nach der Phronesis eingeräumt wird. Vgl. auch das Schlussgebet im Phaidros (Phaidr. 279 b/c), in dem der sovºr mit dem s¾vqym gleichgesetzt wird.

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ralischen und einen intellektuellen Aspekt: »morally it means modesty and the avoidance of excess; intellectually it means the recognition of the limits of human possibility« (40). Noch genauer ist LefHvre (2001, 5), der die Selbsterkenntnis als Voraussetzung der Mäßigung bezeichnet: »Die Beachtung der delphischen Maximen des cm_hi sautºm und des lgd³m %cam ist die Voraussetzung dafür, Maß zu halten, syvqos¼mg zu üben«.265 Die oben durchgeführten Analysen der relevanten Passagen aus dem Aias und der Elektra weisen in eine ähnliche Richtung. In Anknüpfung an Webster und LefHvre wird hier die These vertreten, dass die Selbsterkenntnis in der sophokleischen Konzeption als intellektueller Kern der Besonnenheit und als Ursache der Mäßigung erscheint. Die Vergegenwärtigung der Begrenztheit des menschlichen Seins und die damit assoziierte richtige Positionierung in der göttlich-menschlichen Ordnung soll eine Mäßigung der agonalen, auf die til¶ gerichteten Bestrebungen, sowie der Emotionen bewirken und einen ›gesunden Sinn‹ verschaffen.266 Der gesunde Zustand der vq´mer, die ›Sinnesgesundheit‹267 besteht in der Freiheit von unmäßigen Ansprüchen und Leidenschaften und im Erstreben von Zielen, die der menschlichen Natur und den individuellen Kräften angemessen sind. Das gesunde Denken ist nach Sophokles das maßvolle Denken. Diese Art von ›Sinnesgesundheit‹ ist auch in dem vielzitierten Fragment 590 thematisch präsent, das häufig als einzige oder als eine der wichtigsten Belegstellen für die vorphilosophische, apollinisch geprägte Auffassung von Selbsterkenntnis angeführt268, aber kaum sorgfältig interpretiert wird. Meist wird lediglich das hmgt± vqome?m aus dem ersten Vers zitiert; die übrigen, für das Verständnis äußerst wichtigen Verse finden kaum Beachtung. Das ganze Fragment lautet wie folgt: Doch sterblicher Art ziemt sterblicher Sinn; eins wissen wir doch recht gut: es gibt außer Zeus keinen Meister und Herrn für das, was in Zukunft sich soll erfüllen.269 265 In diesem Sinn auch Theunissen (2002a). Das delphische cm_hi sautºm lehre »nichts anderes als eine den einschränkenden Bedingungen dieser Welt angemessene Selbstbeschränkung« (212). 266 Eine andere Deutung der lebenspraktischen Relevanz der Selbsterkenntnis findet sich im Oid. K. Die Selbsterkenntnis wird dort als Begründung einer Haltung der Humanität angeführt: »Wie könnt ich einen, der ins Elend kam, / Verachten, meine Hilfe ihm entziehn? / Ich weiß: ich bin ein Mensch, es macht vielleicht / Der nächste Tag schon unsere Lose gleich«. (Oid. K. 565–568; Übers. E. Buschor). 267 So Kunsemüllers (1935, 18) Übersetzung des griechischen Ausdrucks syvqos¼mg. 268 Vgl. z. B. Tränkle (1985, 23) und Reiser (1992, 84). 269 Eine bessere Übersetzung findet sich bei Lloyd-Jones (1996, 297): »Human nature must think human thoughts, knowing that there is no master of the future, of what is destined to be accomplished, except Zeus«.

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hmgtµm d³ v¼sim wqµ hmgt± vqome?m, toOto jateidºtar, ¢r oqj 5stim pkµm Di¹r oqde·r t_m lekkºmtym tal¸ar f ti wqµ tetek´shai (Soph. fr. 590 Radt; Übers. W. Willige)

Vergleicht man diese Verse mit den oben angeführten Stellen zur apollinischen Selbstbesinnung bei Sophokles, so erkennt man schnell, dass das cm_hi seautºm nicht primär im ersten Vers steckt – wie häufig angenommen wird –, sondern in den letzten drei Versen. Der Gedanke, dass kein Mensch vorhersehen kann, was die Zukunft bringen wird, welches sein künftiges Geschick ist, ist bei Sophokles untrennbar mit dem Unbeständigkeitsmotiv verknüpft.270 Die Zukunft nicht erkennen zu können, bedeutet nicht zu wissen, ob die vorhandenen Kräfte und Güter auch morgen noch Bestand haben.271 Angesichts der generellen Gebrechlichkeit des menschlichen Seins soll der Mensch nicht das Unsterbliche erstreben, sondern das Sterbliche bedenken.272 Das hmgt± vqome?m hat hier einen ausschließlich praktischen Sinn und ist auf die konkreten Handlungsüberlegungen bezogen. Der geforderte Gegenstand des vqome?m sind Pläne, Erwartungen, Hoffnungen, Handlungsziele, die der Begrenztheit des Menschen Rechnung tragen.273 Sophokles knüpft damit unverkennbar an Pindar an, der diesen Gedanken in seiner Warnung vor Hybris wiederholt artikuliert und ganz ähnlich formuliert, wie z. B. in der fünften Isthmischen Ode: hmat± hmato?si pq´pei »Sterbliches steht Sterblichen an« (I. 5, 16; Übers. E. Dönt).274 270 Vgl. Soph. Ai. 1415–1420; Ant. 1156ff.; Oid. T. 1524–1530. 271 Vgl. Soph. fr. 592 Radt u. fr. 593 Radt. In diesem Sinne warnt auch der Dichter der Theognidea: »Man soll, Kyrnos, nicht das große Wort führen, denn niemand weiß, was eine Nacht und ein Tag einem Mann bringen.« (Thgn. 159f.; Übers. D. U. Hansen). Vgl. auch Bakchyl. epin. 3, 75–82 Maehler : »Aber beflügelte Hoffnung (trübt) uns Tageswesen / den Verstand. Doch der Herrscher Apollon / …sprach zu des Pheres Sohn: / ›Wer sterblich ist, muß zwiefache Gesinnung / hegen: daß du nur morgen noch einmal / das Licht der Sonne sehen wirst, / und daß du noch fünfzig Jahre lang / ein Leben in vollem Reichtum wirst vollenden können‹« Übers. H. Maehler. Vgl. auch Pind. P. 8, 88–96. 272 Bei Epicharmos (fr. 263 Kaibel = fr. 23 B20 DK; bezeugt bei Aristot. rhet. 1394b24) findet sich die Gnome in folgender Formulierung: hmat± wqµ t¹m hmatºm, oqj !h²mata t¹m hmat¹m vqome?m; »Sterbliches soll der Sterbliche denken, nicht Unsterbliches« (Übers. Verf.). 273 Das hmgt± vqome?m aus dem fr. 590 weist große Nähe zu der im Aias artikulierten Forderung auf, nach Menschenmaß bzw. wie ein Mensch zu denken. Vgl. Ai. 760f. u. 777 (vgl. auch Aischyl. Pers. 820). 274 Vgl. auch Pind. P. 3, 59ff.; P. 3, 20ff.; O. 5, 23f.; I. 7, 43ff. Das hmgt± vqome?m durchzieht die ganze klassische Dichtung. Vgl. bspw. Epich. fr. 263 Kaibel; Eur. Alc. 799; Eur. Bacch. 396; Trag. adesp. 308 Nauck2 ; Antiph. fr. 289 Kock. Freilich ist im Einzelfall immer zu prüfen, welcher Gehalt mit dieser Sentenz verbunden wird. Die Sinnverwandlungen und Bedeutungsverschiebungen sind teilweise beträchtlich. So nimmt z. B. das hmgt± vqome?m in Euripides’ Alkestis eine hedonistische Färbung an. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem hmgt± vqome?m findet sich bei Aristoteles eth. Nic. 1177b30ff. (vgl. auch Plat. Tim. 90c).Vgl. dazu Dirlmeier (1956, 592 Anm. 232, 7). In hellenistischer Zeit wird die

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In Euripides’ Alkestis wird die Forderung hmgt± vqome?m mit einer ähnlichen Argumentation begründet: »Der Tod ist über alle Sterblichen verhängt, / und keinen Menschen gibt es, der da sicher weiß, / ob er den nächsten Tag noch leben wird. Wohin / des Schicksals Lauf sich wendet, das ist unbekannt, / läßt sich nicht lehren, auch nicht wissenschaftlich fassen.« (Alc. 782–786; Übers. D. Ebener). Das hmgt± vqome?m (emtar d³ hmgto»r hmgt± ja· vqome?m wqe¾m »Wer sterblich ist, muß sterblich auch empfinden« Alc. 799; Übers. D. Ebener) wird hier allerdings ganz anders verstanden als bei Sophokles. Aus der Vergänglichkeit des Daseins und der Ungewissheit des künftigen Geschicks wird die Konsequenz gezogen, den Augenblick zu genießen, fröhlich zu sein und das kurze Leben nicht durch düstere Gedanken, Verdrossenheit und Schwarzgalligkeit zu verderben. Bei Euripides findet sich jedoch auch die oben angeführte Bedeutung des hmgt± vqome?m im Sinn einer Bescheidung in den Zielen (vgl. Eur. Bacch. 396). Neben dem Aspekt der Mäßigung wird in den späteren sophokleischen Tragödien im Kontext der Selbsterkenntnis-Thematik der Zusammenhang von Einsicht und Glück (eqdailom¸a) thematisiert. In besonders eindrucksvoller Weise geschieht dies in der Antigone. Aus dem Schicksal des Kreon zieht der Chor am Ende des Dramas die Lehre: Das weitaus Erste an höchstem Glück (eqdailom¸a) Ist Besonnensein (t¹ vqome?m). Und not auch ist, Vor den Göttern nie zu verletzen die Scheu (lgd³m !septe?m). Doch große Worte Großprahlender, Wenn unter großen Schlägen sie gebüßt, Haben im Alter gelehrt die Besinnung. (Soph. Ant. 1348–1353; Übers. W. Schadewaldt)

Die Sophrosyne bzw. die Einsicht (vqome?m)275 führt Sophokles hier als wichtigste Voraussetzung276 der Eudaimonia an. Die Frage, inwiefern die Einsicht Ursache der Eudaimonia ist, wird an dieser Stelle nicht weiter erörtert. Sie lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der Abfolge von Hybris und Unglück (%tg), die in Gnome zum Prinzip der Humanität transformiert. Vgl. Men. Monost. 1: %mhqypom emta de? vqome?m t!mhq¾pima. Zur Deutung vgl. Bickel (1942, 186–191) u. Dornseiff (1944, 110–111). 275 Nach LefHvre (2001, 258f.) ist das vqome?m in Vers 1348 mit syvqome?m bedeutungsgleich. Vgl. auch Butaye (1980, 295). Die Verwendung von vqome?m an dieser Stelle zeigt an, dass hier das intellektuelle Moment der Sophrosyne betont wird, das, wie oben aufgezeigt, im Kern mit der Selbsterkenntnis zusammenfällt. Vgl. auch LefHvre (2001, 81), der die Schlussverse der Antigone mit der Selbsterkenntnis in Zusammenhang bringt: »somit ist die Antigone ein Stück, das zu Besonnenheit und Einsicht mahnt, das Delphis cm_hi sautºm und lgd³m %cam als höchstes Gut preist, als eqdailom¸ar pq_tom«. 276 So auch LefHvre (2001, 81) in seiner Paraphrase von 1348f.: »Die bei weitem wichtigste Voraussetzung für die eqdailom¸a ist die Besonnenheit«. Der Gedanke wird am deutlichsten in der Übersetzung von Lloyd-Jones (1994, 127): »Good sense is by far the chief part of hapiness« pokk` t¹ vqome?m eqdailom¸ar pq_tom rp²qwei7 (Ant. 1348f.).

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den Tragödien häufig thematisiert wird und die auch im zitierten Schlusslied der Antigone anklingt (1350–1352), leicht klären. Werden in Verkennung der eigenen Kräfte unrechtmäßige Ansprüche gestellt und frevlerische Übergriffe unternommen, so der immer wieder neu formulierte Gedanke, folgen Sturz und Untergang.277 Das Handeln des rbqist¶r steht in Widerspruch zu seiner faktischen Kondition und ist damit zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Daraus lässt sich umgekehrt der Schluss ziehen, dass die Person, die in Übereinstimmung mit der eigenen Natur agiert, langfristig zu Erfolg und Wohlergehen gelangt. Die durch Selbsterkenntnis begründete Bescheidung in den Zielen und die realistische, nüchterne Einschätzung der konkreten Situation führen zum einen zum Erreichen des Erstrebten.278 Zum anderen aber resultiert aus der Besonnenheit eine Eintracht und Harmonie mit Göttern und Menschen, die auf den Zustand der agierenden Person zurückwirkt und die Eudaimonia befördert.279 Die aus der Sophrosyne resultierende Eudaimonia bezeichnet freilich nur ein relativ stabiles Glück. Den Besonnenen können ebenso wie den Unbesonnenen unvorsehbare, plötzliche Schicksalsschläge treffen, die die Handlungsfähigkeit einschränken oder gar zerstören. Das vqome?m ist zwar für Sophokles die wichtigste Voraussetzung des Glücks (eqdailom¸ar pq_tom), aber eben nicht die einzige. Angesichts der skizzierten Relevanz der vernünftigen Einsicht für ein gelingendes Leben vermag es kaum zu überraschen, dass die Vernunft von Sophokles als höchstes Gut bezeichnet wird. »Die Götter […] pflanzen die Vernunft den Menschen: Das höchste aller Güter, die es gibt« (heo· v¼ousim !mhq¾poir vq´mar, p²mtym fs( 1st· jtgl²tym rp´qtatom Ant. 683f.; Übers. W. Schadewaldt) erklärt Haimon dem uneinsichtigen Kreon. Während hier die gegebene Vernunftanlage gemeint ist, wird an späterer Stelle die Aktualisierung der praktischen Vernunft hervorgehoben. So erklärt der Seher Teiresias, dass die Wohlberatenheit das höchste der Güter ist (fs\ jq²tistom jtgl²tym eqbouk¸a Ant. 1050). In der Elektra findet sich ein ähnliches Werturteil: »nichts Besseres kann der Mensch gewinnen als sichere Voraussicht und verständigen Sinn!« (pqomo¸ar oqd³m !mhq¾poir 5vu j´qdor kabe?m %leimom oqd³ moO sovoO El. 1015f.; Übers. W. Schadewaldt). Die »verständige Einsicht ist ein mächtiger Gott« (!kk( B vqºmgsir 277 In der Elektra wird darauf verwiesen, dass auch das Unmaß in den Affekten, also z. B. unmäß&ge Trauer und Zorn, ins Unglück führt. Vgl. El. 140ff., 214ff. Dazu ausführlich LefHvre (2001, 159–170). 278 Vgl. auch Eur. Bacch. 395–402: t¹ sov¹m d( oq sov¸a / tº te lµ hmgt± vqome?m. / bqaw»r aQ¾m7 1p· to¼t\ / d´ tir #m lec²ka di¾jym / t± paqºmt ( oqw· v´qoi. / laimol´mym oVde tqºpoi ja· / jajobo¼kym paq ( 5loice vyt_m. »Klügelei und ein Streben hinaus über irdische Ziele sind Weisheit nicht. Kurz ist das Leben; drum erntet, wer allzu Hohes erstrebt, kaum die Früchte des Tages. Menschen, die derart handeln, sind töricht in meinen Augen und übel beraten« (Übers. D. Ebener). 279 Auf den Zusammenhang zwischen Sophrosyne und religiöser Haltung weisen die Schlussverse der Antigone (1348–50) hin. So auch Elliger (1965, 97).

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"cahµ he¹r l´car fr. 922 Radt; Übers. Verf.)280 heißt es im Fragment 922. Umgekehrt wird die Unvernunft als schlimmster Schaden bezeichnet (lµ vqome?m pke¸stg bk²bg Ant. 1051)281 sowie als Krankheit (mºsor Ant. 1052), die einer Heilung bedarf. Diese Aussagen unterstreichen nicht nur den Stellenwert, den Sophokles der Vernunft im Allgemeinen beimisst, sondern verweisen zudem auf die Bedeutung der Selbsterkenntnis als Leitprinzip der praktischen Vernunft.

4.

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a)

Herodot und Delphi

Es ist schon häufig beobachtet worden, dass das delphische Orakel und der delphische Gott in Herodots Historien einen zentralen Stellenwert einnehmen.282 Die auffällige Präsenz lässt sich mit der besonderen Bedeutung des delphischen Heiligtums für das geistig-religiöse und politische Leben Griechenlands in spätarchaisch-frühklassischer Zeit erklären.283 Diese Erklärung ist jedoch nicht hinreichend. Hinzu kommt, dass Herodot offenbar eine große Sympathie für das delphische Orakel empfand284, die ihn mit seinem Freund Sophokles sowie mit Pindar verband, wenngleich Herodot keineswegs jene Apollon-Frömmigkeit besaß, die für Pindar charakteristisch ist.285 Die affirmative, positive Haltung Herodots gegenüber Delphi wurde in der Forschung schon häufig bemerkt.286 Bischoff (1932, 19) hat in seiner immer noch 280 Vgl. auch Soph. fr. 939 Radt. 281 Vgl. auch Soph. fr. 924 Radt. 282 Zuletzt Bowden (2005, 69). Die Dominanz Delphis in den Historien wird schon daran deutlich, dass von den ca. 90 Orakeln, die von Herodot erwähnt werden, 77 delphische Orakel sind bzw. Delphi zugesprochen werden. Zur Historizität der von Herodot angeführten delphischen Orakel vgl. PW I/II u. Fontenrose (1978). Zur Quellenanalyse vgl. Crahay (1956). Der skeptische Befund von Crahay und Fontenrose, dass sämtliche bei Herodot bezeugten Orakelsprüche als nicht-authentisch anzusehen sind, ist in der jüngeren Forschung korrigiert worden. Vgl. Suarez de la Torre (1992) und Oesterheld (2008, 22–25). Zur Funktion der Orakel bei Herodot vgl. Kirchberg (1965). Zur Untersuchung der Divination bei Herodot vgl. Klees (1965) u. Levy (1997). 283 Zur Bedeutung des delphischen Orakels siehe Kap. A I 3a. 284 Anders Bowden (2005, 72f.), der die Präsenz des delphischen Orakels, insbesondere im Kroisos-Logos, nicht mit Herodots Affinität zu Delphi erklärt, sondern mit dessen Bestreben, den Leser an das göttliche Eingreifen in die menschlichen Angelegenheiten zu erinnern. Vgl. auch Bowden (1991, 21 u. 52). 285 In Anbetracht dieser Differenz ist Bowden (2005, 72) zuzustimmen. Zweifelhaft bleibt jedoch sein genereller Versuch, Herodots Affinität zu Delphi abzuschwächen. Herodot bekennt sich in den Historien eindeutig zum Orakelglauben (vgl. 8, 77). 286 Forrest (1984, 7) spricht von »Herodotos’ attachment to Delphi« sowie von »his love of Delphi«. Erbse (1992, 22) bescheinigt Herodot eine »Achtung vor dem berühmten Orakel«.

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lesenswerten Untersuchung die These aufgestellt, dass die in den Historien gestalteten Warnerfiguren – also etwa Solon, Amasis, Artabanus – Weisheiten vermittelten287, die der delphischen Tradition zuzuordnen seien288, und diese Weisheitssprüche Herodots eigenen Auffassungen entsprächen: »Für Herodot sind wohl die 5pea (›Gnome‹ heißt damals nicht cm¾lg, sondern 5por) einesteils etwas Altes, eine Tradition […], sie sind aber zugleich seine eigenen, wie wir stark fühlen, wenn nicht der Fassung nach, so sicher in Hinsicht des Gehaltes«.289 In diesem Sinn ist insbesondere die Solon-Rede des Solon-Kroisos-Gesprächs (1, 29–33) gedeutet worden. Der Logos enthalte anthropologische und ethische Überzeugungen, die mit der Meinung des Autors zu identifizieren seien.290 So in jüngerer Zeit wieder Kullmann (2002, 140), der bei Herodot eine Internalisierung der apollinisch-delphischen Ethik beobachtet und sich dabei wohl vornehmlich auf den Solon-Logos stützt. Für den Bezug der Historien zur Apollon-Religion ist unabhängig von diesen Spekulationen das Faktum entscheidend, dass Herodot in den 440er Jahren das Heiligtum besuchte und im Rahmen seiner historischen Forschungen Erkundigungen bei den delphischen Priestern eingeholt hat.291 In der Forschung wird davon ausgegangen292, dass die von Herodot überlieferte Fassung der KroisosGeschichte delphischen Ursprungs ist. Die auf Apollon konzentrierte, ethischreligiös eingefärbte Erzählung vom Fall des lydischen Reiches und vom Wei-

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291 292

Harrison (2000, 145) bemerkt ein besonderes Interesse und eine Haltung des Respekts: »the prominence of Delphi in the Histories must, surely, reflect an especial interest and respect«. Anders Bowden (2005, 72f.) (1991, 21 u. 52). Zu Herodots wohlwollender Haltung gegenüber Delphi vgl. auch Kirchberg (1966), Flower (1991), Schwabl (2004, 52). So auch Bichler (2000, 247 Fußn. 120) in Bezug auf die Solon-Rede. Zu den entsprechenden Belegen vgl. Harrison (2000, 38f.). »Die Weisheit, die wir die Warner aussprechen hören, ist die Weisheit einer großen Epoche, am festesten geformt in den delphischen Sprüchen […]« Bischoff (1932, 19). Zur delphischen Tradition bei Herodot vgl. Murray (1987, 105–107). Ähnlich Heuss (1995, 95). Die These von der weitgehenden Übereinstimmung der Solon-Rede mit Herodots eigenen Auffassungen stellte lange Zeit die Communis opinio dar. Der herodoteische Solon wurde in der Regel als Sprachrohr des Autors betrachtet (so z. B. Stahl 1975, 7). In der jüngeren Literatur hat man diese Ansicht in Frage gestellt mit der Begründung, dass Herodot die solonischen Überzeugungen nicht explizit bestätigt und somit seine eigene Stellung dazu unklar bleibt (vgl. z. B. Lang 1984 u. Waters 1985). Eine gründliche Auseinandersetzung mit diesen Einwänden und eine Argumentation für die frühere Sichtweise findet sich bei Shapiro (1996) (vgl. auch Shapiro 1994, 350 Fußn. 5). Für die These einer Entsprechung von Solons Rede und den herodoteischen Auffassungen haben in jüngerer Zeit auch Visser (2000, 13 Fußn. 29) und Scardino (2007, 92) plädiert. Nach Parke (1984, 209) besuchte Herodot das delphische Heiligtum in den 440er Jahren. Nach den uns vorhandenen Kenntnissen wurde er ca. 485 geboren (vgl. DNP 5 1998, 469), folglich war er ca. 45 Jahre alt. Vgl. z. B. Stoessl (1959, 486), Miller (1963, 92), Forrest (1984, 7), Heuss (1995, 94), Erbse (1992, 5f. u. 22).

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terleben des Kroisos als weiser Berater des Perserkönigs Kyros wird als delphische Version der Ereignisse gedeutet, die sich Herodot angeeignet hat.293 Als delphisch gilt insbesondere der Höhepunkt der herodoteischen Kroisos-Erzählung, nämlich die Rettung des Kroisos durch Apollon (1, 87) und die nachfolgende Orakelbefragung (1, 90–91). Aufgrund dieser Herkunft ist zu vermuten, dass sich hier am ehesten Spuren der apollinischen Selbsterkenntnis finden lassen. Die Untersuchung wird sich deswegen auf die Kroisos-Erzählung konzentrieren und nur ergänzend Parallelstellen aus anderen Büchern des herodoteischen Geschichtswerks heranziehen. Überblickt man die umfangreiche Literatur zum Kroisos-Logos, so fällt auf, dass das Motiv der Selbsterkenntnis kaum thematisiert wird. In den meisten Interpretationen findet das delphische cm_hi seautºm keine Erwähnung.294 Am stärksten ist das Selbsterkenntnis-Motiv in den älteren Untersuchungen von Stoessl (1959), Schadewaldt (1970) (1975) (1982) und v. Fritz (1967) präsent.295 Die eher marginale Thematisierung des Motivs ist zunächst überraschend, da – wie bereits erwähnt – die delphische Herkunft der Geschichte vermuten lässt, dass hier Elemente der apollinischen Ethik Eingang gefunden haben und insbesondere die dargestellten Kroisos-Einsichten mit dem cm_hi sautºm in engem Zusammenhang stehen. Das Problem besteht jedoch darin, dass Herodot weder den Begriff der Selbsterkenntnis (cm_sir 2autoO, t¹ 2aut¹m cicm¾sjeim) verwendet noch explizit den Bezug zur delphischen Maxime herstellt. Daraus ist 293 Vgl. Schwabl (2004, 52 Anm. 44 u. 55) sowie Heuss (1995, 94ff.) Nach Heuss (1995, 413) hat Herodot die Tendenz der delphischen Version noch gefördert, indem er der Solon-KroisosBegegnung, die ursprünglich ein volkstümliches, unpolitisches Motiv gewesen sei, eine Aufgabe für die Klärung der lydischen Katastrophe zugewiesen habe. Die von Heuss und anderen als unkritisch und tendenzverstärkend angesehene herodoteische Aneignung der delphischen Version hat dazu geführt, den Kroisos-Logos im Sinn einer bloßen delphischen Apologetik zu deuten, die auf Kosten der historischen Wirklichkeit geht. Vgl. z. B. Högemann/Oettinger (2008, insbes. 10). Weitere Literatur dazu bei Harrison (2000, 223 Fußn. 2). 294 Verweise auf das Thema der Selbsterkenntnis finden sich bei Bischoff (1932, 19), Murray (1987, 106), Visser (2000, 23), Schulte-Altedorneburg (2001, 154 Fußn. 2), Giebel (2001, 47). Vgl. auch Stahl (1975, 14) und Fisher (2002, 201f.). 295 Stoessl (1959, 486) interpretiert die Scheiterhaufenszene (1, 86–89) im Sinn der Selbsterkenntnis und stellt dabei explizit den Bezug zu Delphi her : »Der Einfluß Delphis auf diese Erzählung ist unverkennbar : der delphische Gott rettet Kroisos durch ein Wunder, und das ganze Geschehen wirkt wie eine Exemplifizierung des delphischen Gebotes cm_hi sautºm«. Ähnlich v. Fritz (1967, 238), der im cm_hi sautºm des delphischen Gottes eines von zwei Elementen sieht, die die Hauptgeschichte wesentlich bestimmen. Anders wiederum Bowden (2005, 70f.), der Herodots Kroisos-Logos von der xenophontischen Version (vgl. Kyropädie 7, 15–29) abzusetzen versucht und damit indirekt die Präsenz der delphischen Maxime bei Herodot negiert: »Xenophon’s version might be seen to be supporting a ›Delphic‹ code of conduct. Herodotus’ version is not explicit in this way, and although the oracle has an important role in the story, it does not follow that a ›Delphic‹ morality […] is being advocated«. Am stärksten wird das delphische Moment von Schadewaldt (1970, 587f.) (1982, 203–219) (1975, 31f.) betont.

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freilich nicht zu schließen, dass das Motiv der Selbstbesinnung in der Geschichte keine Rolle spielt. Wie oben aufgezeigt, wird die Selbsterkenntnis in den sophokleischen Dramen und pindarischen Epinikien in Form von dramatischen Handlungen, Chorliedern, Sentenzen unmittelbar vorgeführt, in ihrem Gehalt bestimmt oder paränetisch eingefordert, d. h. sie wird mit den Mitteln der Dichtkunst dargestellt, nicht aber begrifflich reflektiert. Ähnliches ist bei Herodot zu beobachten. Man könnte zunächst erwarten, dass dem Historiographen im Rahmen seines Genres andere Möglichkeiten der begrifflichen Reflexion zur Verfügung stehen als dem Dichter. In der Tat finden sich in den Historien viele auktoriale Kommentare. Diese Bemerkungen dienen jedoch nicht der begrifflichen Bestimmung der berichteten Handlungen und Einsichten der geschichtlichen Akteure, sondern haben die Funktion, das erzählte Geschehen zu deuten (vgl. z. B. 1, 34, 1), die eigene Position hinsichtlich der Quellen und überlieferten Berichte (vgl. z. B. 1, 5, 3), der Institutionen (vgl. z. B. 8, 77) und Ereignisse zu klären oder Verfahrensweisen und Darstellungsintentionen mitzuteilen und zu begründen (vgl. z. B. 1, Pr.; 1, 5, 4). Herodots Erzählungen stehen den Werken der Dichtkunst letztlich sehr nahe. Weisheiten und Einsichten wie etwa die Selbsterkenntnis, werden in erzählerischer, novellistischer Form präsentiert, ohne sie begrifflich zu fixieren oder philosophisch zu reflektieren. Die Identifizierung der thematischen Präsenz der apollinischen Selbsterkenntnis in den Historien wird auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsresultate erfolgen. Die anhand der sophokleischen und pindarischen Texte herausgearbeiteten charakteristischen Merkmale der in apollinischer Tradition stehenden Selbsterkenntnis lassen sich in den Einsichten, Mahnreden, Aussagen, die in den Historien, insbesondere im Kroisos-Logos gestaltetet werden, wiederfinden. Bei aller erkennbaren Kontinuität wird sich jedoch zeigen, dass bei Herodot bestimmte Aspekte stärker gewichtet werden und andere Momente zurücktreten oder neu hinzukommen.

b)

Das Motiv des ›Lernens durch Leiden‹ bei Herodot

Bezüglich des Bedeutungsgehalts scheint die Selbsterkenntnis bei Herodot zunächst keine wesentliche Erweiterung zu erfahren. Im Gegenteil: Hier ist eher eine inhaltliche Beschränkung zu beobachten, da bestimmte Aspekte in den Hintergrund treten oder ganz verschwinden. Das Schwergewicht liegt bei Herodot auf der Einsicht in die Unbeständigkeit und Instabilität des menschlichen Daseins. Das Motiv taucht bereits im Prooimion auf, wo es als eine auf Erfahrung basierende, eigene Einsicht des Autors präsentiert wird (»da ich nun weiß, daß

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der Menschen Glück nie stille steht« 1, 5, 4; Übers. W. Marg)296, und durchzieht als Leitprinzip den gesamten Kroisos-Logos.297 Die Aspekte der zeitlichen Begrenztheit des menschlichen Lebens sowie des beschränkten Umfangs der dem Menschen zur Verfügung stehenden geistig-physischen Kräfte treten demgegenüber in den Hintergrund.298 Auch der in früheren Ausformungen der apollinischen Selbstbesinnung zentrale Differenzgedanke, der das menschliche Sein im Verhältnis zur göttlichen Vollkommenheit bestimmt und das richtige Verhalten gegenüber den göttlichen Mächten intendiert, wird bei Herodot, zumindest im Kontext der Selbsterkenntnis-Thematik blasser. Zuletzt verstärkt Herodot jene Tendenz zur Ausrichtung auf das rein menschliche Geschehen und zur Akzentuierung der Wechselhaftigkeit des Geschicks, die schon bei Sophokles beobachtet werden konnte. Der Aspekt, der bei Herodot neu hinzutritt und im Folgenden herausgearbeitet werden soll, betrifft vor allem die Genese der Selbsterkenntnis. Bei Pindar werden zwar Ermahnungen zur Einsicht und Mäßigung sowie Warnungen vor Selbstüberschätzung und Grenzübertretungen ausgesprochen. Unthematisch bleibt hier jedoch der Prozess des Erwerbs der geforderten Erkenntnis. Durch den Verweis auf die Neigung zur Hybris in Erfolgssituationen wird lediglich angedeutet, dass der Gewinn der Selbsterkenntnis keine einfache Sache ist. Bei Sophokles findet sich neben den Paränesen auch die Darstellung eines positiven Erkenntnisvollzuges, nämlich in der oben ausführlich besprochenen Prologszene des Aias, wo Odysseus nach der Beobachtung des wahnsinnigen Aias im Gespräch mit Athena zur Selbsterkenntnis gelangt. Hier wird jedoch eine Figur dargestellt, die über eine besonnene und verständige Natur verfügt, die also ohnehin schon die Disposition zur Vernunft in sich trägt und von daher beim Erwerb der Einsicht keine größeren Widerstände zu überwinden hat. Die Erkenntnisszene verläuft somit auch wenig dramatisch, von einem Ringen des Akteurs mit sich selbst ist wenig zu spüren, die Grundstimmung ist nachdenklich und ruhig. 296 Auf den Aspekt der Einführung des Autors als Träger dieses Wissens, die dem Motiv einen besonderen Stellenwert verleiht, hat insbesondere Stahl (1975, 2) hingewiesen. 297 Vgl. insbes. Hdt. 1, 32; 1, 86; 1, 207. Zum herausragenden Stellenwert der in 1, 5, 4 getroffenen Aussage innerhalb des gesamten herodoteischen Geschichtswerks vgl. Hellmann (1934, 22), Regenbogen (1961a, 85), Fornara (1971, 77), Stahl (1975, 1f.), Raaflaub (1987, 234), Shapiro (1996, 356), Harrison (2000, 33 u. 62), Schwabl (2004, 35 Fußn. 8 u. 37). Schadewaldt (1970, 583) hat die leitmotivische Bedeutung von 1, 5, 4 mit dem in der Unbeständigkeitsaussage implizierten Zeitaspekt begründet, der für den Historiker besonders relevant sei: »Der Mensch […] erscheint für den Historiker in dem Blickfeld der Zeit, die für ihn nicht […] das Prinzip der Vergänglichkeit, wohl aber der Wandelbarkeit ist«. 298 Die Kürze des Lebens erfährt in der Xerxes-Geschichte eine Thematisierung. Vgl. Hdt. 7, 46.

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Eine ganz andere Dynamik des Erkenntnisgewinns wird uns im herodoteischen Kroisos-Logos präsentiert. Der lydische König, auf der Höhe seiner Macht voller hypertropher Selbstgewissheit, verweigert zunächst die Selbsterkenntnis, zu der er von Solon nachdrücklich aufgefordert wird, und gelangt dann in einem schmerzlichen, langwierigen Prozess schließlich doch zur Einsicht. Die Genese der Selbsterkenntnis wird von Herodot als Prozess der Wandlung (letabok¶)299 beschrieben. Der entscheidende Faktor, der die Dynamik verursacht und den Prozess vorantreibt, ist das Leid, die Erfahrung des Verlustes der identitäts- und glückserzeugenden Güter. Es ist schon oft bemerkt worden, dass Herodot hier an Aischylos’ p²hei l²hor (Ag. 177)300 anknüpft. Die herodoteische Kroisos-Geschichte wirkt in der Tat wie eine Exemplifizierung des im Agamemnon angeführten Satzes: ›Durch Leid lernen‹. Es scheint von daher durchaus berechtigt mit Kurt v. Fritz (1967, 38)301 von zwei Elementen zu sprechen, die den Kroisos-Logos prägen: »So wird auch die Hauptgeschichte vielleicht schon von zwei Elementen bestimmt, die verschiedenen Ursprungs sind, aber zusammenpassen: dem cm_hi seautºm des delphischen Gottes und dem p²hei l²hor h´mta des großen Tragikers Äschylus«. Das Motiv des ›Lernens durch Leiden‹ lässt sich auch bei Sophokles auffinden302, wo es ebenfalls in engster Verbindung zur Selbsterkenntnis steht. Am deutlichsten wird dies in der Antigone. Kreon, nach dem Tod der Ödipus-Söhne König von Theben, verbietet gemäß der von ihm selbst aufgestellten staatspolitischen Maxime, dass Feinde der Stadt ungeehrt bleiben sollen, die Bestattung des Polyneikes. Antigone widersetzt sich der Anordnung mit der Begründung, dass das Verbot die ewigen, unveränderlichen Satzungen der Götter verletze, und wird von Kreon in eine Felskammer gesperrt. Kreon lässt sich von dem immer stärker werdenden Widerstand gegen das Bestattungsverbot und das vom Volk als ungerecht empfundene harte Vorgehen gegen Antigone nicht zur Einsicht in die Fragwürdigkeit seines Tuns führen, vielmehr verhärtet er sich 299 Der Ausdruck letabok¶ wird erst bei Euripides (Iph. A. 343ff. u. 500) in der Bedeutung eines Wandels der Gesinnung und Charakterhaltung gebraucht. Herodot verwendet den Begriff vorrangig zur Bezeichnung von ethnischen und politischen Wandlungen. Vgl. dazu Immerwahr (1966, 150 Fußn. 3). 300 Im Agamemnon wird das Motiv im Zusammenhang mit einer Reflexion auf Zeus angeführt, dessen Wirken der Chor als Hinführung zur Einsicht über das Leiden deutet. Vgl. auch Ag. 1562–64. Ag. 177 wird in der Forschung insbesondere mit Hdt. 1, 207, 1 (t± d´ loi pah¶lata 1ºmta !w²qita lah¶lata c´come »Sind doch meine Leiden, bitter wie sie waren, mir zur Lehre geworden« Übers. W. Marg) parallelisiert. 301 Vgl. auch Erbse (1992, 21 u. 23). 302 Zur Nähe von herodoteischem Kroisos-Logos und sophokleischer Tragödie hinsichtlich der Darstellung von Wandlungen der Figuren und Akteure vgl. Fohl (1913, 35) u. Stoessl (1959, 486). Zu den Ähnlichkeiten zwischen Herodot und Sophokles allgemein vgl. Fohl (1913), Myres (1953, 137), Immerwahr (1966, 70), Stahl (1975, 6 u. 19), Erbse (1992, 17). Weitere Literatur bei Fisher (2002, 217 Fußn. 71).

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zunehmend. Erst die düstere Prophezeiung des Sehers Teiresias, der Unheil und Verderben als Folge des unfrommen Tuns vorhersagt, bewegt Kreon zur Umlenkung303, die freilich zu spät kommt. Das Unglück ist in Form der Selbsttötung der Antigone und dem dadurch veranlassten Selbstmord ihres Verlobten Haimon bereits eingetreten. Während die Worte des Sehers den König zwar zur Änderung seiner Beschlüsse und Entscheidungen zu führen vermochten, aber noch keine eigentliche Einsicht in die Verfehltheit seines Tuns herbeiführten, wird diese Erkenntnis angesichts der schmerzvollen Erfahrung von Haimons Freitod gewonnen. Kreon, den Leichnam des Haimon in den Armen haltend, von Schmerz überwältigt, gibt sich selbst die Schuld am Tod seines Sohnes. Er bezichtigt sich des Starrsinns (steqeºtgr) und des Unverstandes (dusbouk¸a) und erkennt die Falschheit seiner Anordnungen (¥loi 1l_m %mokba boukeul²tym Ant. 1265). Kreons Reaktion auf den Vorwurf des Chores, dass er das Rechte zu spät erkannt habe, ist unverkennbar eine Anknüpfung an das aischyleische ›Durch Leid lernen‹. Sein Ausruf 5wy lah½m de¸kaior (»ich habe es gelernt, ich Armseliger!« Ant. 1272) ist ganz im Sinn des p²hei l²hor gemeint.304 Die von Kreon erlangte späte Einsicht ist zweifellos eine Selbsterkenntnis, die in Verbindung zur apollinischen Tradition steht.305 Die Einsicht in die Verfehltheit des die göttliche Sphäre verletzenden Bestattungsverbotes impliziert die Erkenntnis der Grenzen menschlicher Verfügungsgewalt. Gleichwohl ist hier nur bedingt von einer apollinischen Selbsterkenntnis zu sprechen, weil Kreon diese Tiefendimension der Einsicht nicht wirklich erreicht.306 Kreon ist ganz vom Affekt bestimmt und beurteilt sein Tun nach Maßgabe des aktuell erfahrenen Unheils, d. h. das Handeln wird aufgrund der verderblichen Folgen als schlecht und verfehlt bewertet. Die eigentliche Verfehlung hingegen, nämlich die Überschreitung der menschlichen Grenzen und der Übergriff in den göttlichen Machtbereich307 – die vom Seher Teiresias aufgedeckte Hybris308 – ist hier noch 303 Zur Umkehr (let²stasir) bzw. zum eUjeim wird Kreon sowohl von Haimon (Ant. 718) als auch von Teireisias (Ant. 1029) aufgefordert. Darauf hat insbesondere LefHvre (2001, 97) hingewiesen. Die let²stasir befindet sich in gedanklicher Nähe zu der von Herodot geschilderten Wandlung des Kroisos. 304 So auch LefHvre (2001, 98). Vgl. auch die Sentenz des Schlusschores: »Doch große Worte Großprahlender, / Wenn unter großen Schlägen sie gebüßt, / Haben im Alter gelehrt die Besinnung« (Ant. 1350–52; Übers. W. Schadewaldt). 305 Angedeutet, aber nicht expliziert von Stoessl (1959, 486). 306 LefHvre (2001, 97) spricht von einem »Erkenntnisvorgang wider Willen«. Er werde von der Katastrophe zur Einsicht gezwungen und vollziehe keine innere Umkehr aus tieferer Einsicht. 307 Anders LefHvre (2001, 87): »Kreons Bestattungsverbot ist nicht von vornherein ein Fehler. Einen solchen macht er erst, wenn er verkennt, daß Antigone nicht staatsgefährdend handelt«. Dagegen ist anzuführen, dass sowohl Teiresias (vgl. Ant. 1070–1073) als auch Kreon (vgl. Ant. 1265) nicht erst das Vorgehen gegen Antigone, sondern bereits das Be-

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nicht eigentlich erfasst.309 Die im herodoteischen Kroisos-Logos dargestellte Selbsterkenntnis ist demgegenüber fundamentaler und steht der apollinischen Einsicht sehr viel näher als Kreons Selbstbesinnung. In der folgenden Betrachtung des Kroisos-Logos soll der Erkenntnisprozess im Zentrum stehen, der bei Herodot im Gegensatz zur sophokleischen Tragödie in seiner gelingenden, lebensgestaltenden Form dargestellt wird. In der Antigone wird zwar die Entwicklung vom starrsinnigen, erkenntnisresistenten Herrscher zum leidgeprüften, einsichtsfähigen Menschen dramatisch gestaltet. Das Drama lässt jedoch offen, ob Kreon in der Lage ist, seine Einsicht zu vertiefen, sie zur wirklichen Selbsterkenntnis zu vollenden und sich davon in seinem Denken und Handeln bestimmen zu lassen. Im Kroisos-Logos hingegen wird die Entwicklung eines unbelehrbaren, allzu selbstgewissen Herrschers zum Weisen gestaltet, der die Selbsterkenntnis im apollinischen Sinn erlangt und andere dazu ermahnt.310 In der jüngeren Forschung ist von verschiedenen Interpreten bezweifelt worden, dass hier tatsächlich ein gelingender Erkenntnisprozess dargestellt wird. Nachdem die ältere Herodot-Philologie vom Wandlungsmotiv im KroisosLogos fraglos ausgegangen war311, und Stoessl (1959) schließlich in einem Aufsatz zu Herodots Humanität diesem Motiv einen zentralen Stellenwert eingeräumt und die »Fähigkeit der menschlichen Seele zur Wandlung und Läuterung […] zum beherrschenden Akkord« (485) der Kroisos-Geschichte erklärt hat, sind von Stahl (1975) in einer vielbeachteten Studie Einwände vorgetragen worden, die eine heftige, bis heute andauernde Kontroverse ausgelöst haben. Stahl stellt gleichsam die Gegenthese zu Stoessl auf, indem er behauptet, dass im Kroisos-Logos nicht die menschliche Fähigkeit zur Charakteränderung, sondern die Begrenztheit dieser Fähigkeit dargestellt werde. Zwar schildere Herodot zunächst einen Erkenntnisprozess, der Kroisos von der Blindheit zur Weisheit, von der Arroganz zur Bescheidenheit führe, und der schließlich auch auf den persischen König Kyros, in dessen Gewalt sich Kroisos nach seiner Niederlage befindet, übergreife. Beide erlitten jedoch in der Folge einen Rückfall in den

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stattungsverbot als Verfehlung ansehen. Kreons späte Einsicht ¥loi 1l_m %mokba boukeul²tym (1265) bezieht sich auf beide Beschlüsse. Vgl. die Antigone-Rede (Ant. 450–525) und die Teiresias-Rede (Ant. 998–1090). Die Einsicht in die Begründung der Verfehlung ist in Kreons Erkenntnis in gewisser Weise schon enthalten, da Kreons Einsicht ein spätes Eingeständnis der Wahrheit der TeiresiasRede ist, die neben der Prophezeiung des Unheils die Hybris des Kreon offengelegt hat. Vgl. Ant. 1072f. Teiresias macht an dieser Stelle deutlich, dass Kreon seinen Kompetenzbereich überschreitet, indem er über einen Toten verfügt, der als solcher den Untergöttern zugehört und den Bräuchen und Gesetzen des Hades unterliegt. So bereits Antigone in ihrer Argumentation gegen Kreon (vgl. insbes. Ant. 519–521). Zur Frage der Historizität der herodoteischen Kroisos-Darstellung vgl. Miller, M. (1963), Heuss (1995), Parke (1984), Erbse (1992). Vgl. z. B. Hellmann (1934, 104), Marg ([1953] 1982, 294 Fußn. 1), Schadewaldt (1982, 214).

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alten Unverstand: Kyros gerate aufgrund von Erfolgen in eine Hybris hinein, die ihn zur Planung eines Angriffskrieges gegen die Massageten verleite; Kroisos hingegen verführe Kyros mit strategischen Ratschlägen zu diesem Krieg, statt ihn davon abzuhalten, und gebe zudem in Verkennung der Realität einen falschen und schlechten Rat, der Kyros letztlich das Leben gekostet habe. Nach Stahl besteht die von Herodot intendierte Grundaussage der Geschichte darin, dass der Mensch zwar Einsicht zu erlangen vermag, dass diese Einsicht jedoch ein ephemeres Phänomen bezeichnet und eine nachhaltige Überwindung von Blindheit und Maßlosigkeit nicht möglich ist. Herodots Sichtweise sei durch einen »deep pessimism« (22; vgl. auch 35) gekennzeichnet, der eine Korrektur jenes Optimismus und Idealismus darstelle, der in Aischylos’ p²hei l²hor zum Ausdruck komme. Stahls These hat in der Forschung viel Zustimmung erfahren.312 Zuletzt ist sie in modifizierter und erweiterter Form von Pelling (2006) vorgetragen worden.313 Die These hat jedoch auch erheblichen Widerspruch provoziert, der seit den 90er Jahren mit zunehmender Klarheit und Deutlichkeit artikuliert wird. Nachdem bereits Long (1987, 121) und Erbse (1992, 26ff.)314 gegen Stahl argumentiert haben, hat sich Shapiro (1994) mit dessen Sichtweise eingehend auseinandergesetzt. Shapiro versucht die These von der Ephemerität der menschlichen Erkenntnis und der damit verknüpften Unmöglichkeit einer nachhaltigen Charakterformung durch den Nachweis außer Kraft zu setzen, dass weder Kroisos noch Kyros einen Verlust der Einsicht erleiden. Kroisos zeige sich auch in seinem Rat bezüglich des Massagetenfeldzuges als ein von Einsicht und Besonnenheit bestimmter Mann (»Croesus gives Cyros good advice, consistent with Solonian wisdom« 351). Und bei Kyros könne deswegen nicht von einem Verlust der Einsicht gesprochen werden, weil er sie aufgrund der fehlenden eigenen Leiderfahrung niemals wirklich erreicht habe. Shapiro gelangt zu folgendem Resultat: »wisdom is presented as being very difficult to gain, but once gained, very difficult to lose« (354f.). In ähnlicher Weise haben in der jüngeren Forschung Visser (2000, 25) und Schulte-Altedorneburg (2001, 158–161) darauf

312 Vgl. z. B. Waters (1985, 138), Lateiner (1989, 221–22 u. 289 Fußn. 39), Gould (1989, 78, 143 Fußn. 13), Harrison (2000, 43ff.), Munson (2001, 266). 313 Pelling (2006, 171f.) meint, dass nicht die beschränkte Lernfähigkeit als solche im KroisosLogos thematisiert werde, sondern die Schwierigkeit, die richtige Lektion aus der Erfahrung zu lernen. Im Zentrum stehe jedoch ein anderer Aspekt, nämlich die Begrenztheit der Möglichkeit, Einsicht und Weisheit zu vermitteln, insbesondere jenen, die ein hypertrophes Selbstbewusstsein besitzen, wie die in den Historien dargestellten orientalischen Herrscher. 314 Erbse (1992, 23) knüpft explizit an Stoessl (1959) an und bekräftigt dessen These von der Wandlung des Kroisos als zentralen Gehalt des Kroisos-Logos: Kroisos sei »durch sein unglückliches Schicksal belehrt, ein anderer geworden [ ]. Damit aber fassen wir den genuin herodoteischen Grundgedanken des ganzen lydischen Logos«.

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hingewiesen, dass Kroisos’ Rat bezüglich des Massagetenfeldzuges keineswegs als Rückfall in Unverstand und Maßlosigkeit zu deuten ist.315 Die folgende Analyse wird an die genannten Arbeiten anknüpfen und aufzuzeigen versuchen, dass im Kroisos-Logos ein gelingender Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstbildung dargestellt wird. Im Vorfeld der Untersuchung ist anzumerken, dass Herodot durch die Art und Weise der charakterlichen Darstellung des Kroisos eine positive Entwicklung dieser Figur von Anfang an vorbereitet. Kroisos wird nicht als ausschließlich negativer Charakter gezeichnet, wie man oftmals gemeint hat316, vielmehr erscheint er als ambivalente Persönlichkeit, die neben der Tendenz zur Selbstgefälligkeit, Anmaßung und Hybris auch nachdenkliche, besinnliche und humane Züge aufweist. Wie Schneeweiss (1975, 165) und in jüngerer Zeit insbesondere Visser (2000, 18 u. 23) und Schulte-Altedorneburg (2001, 132f. u. 138–145) sehr gut herausgearbeitet haben317, wird Kroisos bei Herodot als ein geistig interessierter und zur Einsicht grundsätzlich fähiger Mann dargestellt, der auch humane Potenzen wie die Fähigkeit zum Mitleid, zur Fürsorge, zum Verständnis besitzt. So wird im Rahmen des Solon-Kroisos-Gesprächs vom Interesse des Lyderkönigs an griechischer Bildung und Weisheit berichtet (1, 29–30). In der Kroisos-Bias-Episode (1, 26–27) lässt sich Kroisos von den Argumenten des an seinem Hof weilenden weisen Bias aus Priene bzw. Pittakos vom geplanten Seekrieg gegen die Inselgriechen abbringen und erscheint damit als »einsichtsfähiger Mann«, der sich auch kritischen, den eigenen »Vorhaben zuwiderlaufenden Sachargumenten zugänglich zeigt und in der Lage ist, sich in einer unrichtigen, allzu einseitigen Denkweise korrigieren zu lassen« (Schulte-Altedorneburg 2001, 132f.). Die humanen Fähigkeiten des herodoteischen Kroisos werden insbesondere in der Atys-Adrastos-Geschichte (1, 34–45) deutlich, am großmütigen Umgang mit Adrastos, der aufgrund unglücklicher Zufälle zum Mörder des lydischen Königssohnes wird.318 Die ambivalente Charakterisierung des Kroisos ist für die Plausibilität und Glaubwürdigkeit der nachfolgenden Geschichte von erheblicher Bedeutung. Hätte Herodot eine Herrscherfigur gestaltet, die vollkommen von Hybris durchsetzt ist, wäre der geschilderte Erkenntnisprozess kaum nachvollziehbar. 315 Vgl. auch Schwabl (2004, 61) und Löffler (2008, 47ff.). 316 So z. B. Heuss (1995), Bichler/Rollinger (2000, 86f.), Bichler (2000, 244–255). 317 Vgl. auch Immerwahr (1966, 155). Pelling (2006) hat ebenfalls die positiven Charakterzüge des Kroisos hervorgehoben. Er vernachlässigt jedoch die Hybris-Tendenzen des Kroisos und gerät damit ungewollt in eine Vereinseitigung des ›positiven‹ Kroisos hinein, die genauso fragwürdig ist wie das ausschließlich negative Bild. Der von Pelling (vgl. insbes. 153ff. u. 172) gezeichnete milde, vorsichtige, nicht übersteigert selbstbewusste Herrscher bedarf im Grunde genommen keiner Selbsterkenntnis. 318 Vgl. dazu die exzellente Analyse von Schulte-Altedorneburg (2001, 138–145).

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Die von Herodot dargestellte Genese der Selbsterkenntnis durchläuft drei Stufen. Zunächst verweigert Kroisos die Selbsterkenntnis, zu der ihn Solon im Gespräch über das Glück des Menschen auffordert. Die zweite Stufe bezeichnet den Prozess einer sich allmählich herausbildenden und sich vertiefenden Einsicht. Im Wesentlichen lassen sich hier drei Phasen beobachten: Die erste Erschütterung der anmaßenden Glücksgewissheit durch den Tod des Atys; die Einsicht in die Unbeständigkeit des menschlichen Glücks angesichts des Verlustes von Macht, Reichtum und Freiheit als Folge des verlorenen Krieges gegen Kyros; die Einsicht in die Mitverantwortung für den Verfall des lydischen Reiches. Die dritte Stufe schließlich wird bestimmt durch den gewandelten Kroisos, der als weiser Berater des Kyros andere zur Selbsterkenntnis ermahnt und damit Solons Stelle einnimmt.

c)

Verweigerung der Selbsterkenntnis – das Solon-Kroisos-Gespräch (1, 29–33)

Es ist schon oft darauf hingewiesen worden319, dass die am Beginn des ersten Buches platzierte Solon-Rede programmatischen Charakter hat und den philosophisch-ethischen Rahmen für das gesamte Werk bildet. Diese Beobachtung, für deren Richtigkeit vieles spricht320, trifft mit Sicherheit auf den Kroisos-Logos zu. Der Solon in den Mund gelegte Satz321 von der Unbeständigkeit des menschlichen Seins und der darin gründenden Wandelbarkeit des Glücks, der die Aussage des Proömiums (1, 5, 4) repetiert und expliziert, durchzieht wie ein Leitfaden die ganze Erzählung. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Wahrheit dieses Satzes nicht nur exemplarisch am Schicksal des Kroisos vorgeführt, sondern als eine vom Menschen einzusehende geltend gemacht wird.322 Die gemeinte Aussage stellt bei Herodot nicht lediglich eine Deskription der Faktizität dar, sondern bezeichnet eine ethisch relevante Einsicht, die für das Gelingen des Lebens unerlässlich ist. Vor der Darstellung des Gesprächs zwischen Kroisos und Solon323 schildert 319 So in jüngerer Zeit z. B. Shapiro (1996, 362), Harrison (2000, 38–41 u. 50ff.), Fisher (2002, 201). 320 Vgl. die Ausführungen von Shapiro (1996, 352–362) und Harrison (2000, 50ff.). 321 Zum Verhältnis des herodoteischen und historischen Solon vgl. insbes. Chiasson (1986), der die Differenzen und Übereinstimmungen ausführlich thematisiert. Vgl. außerdem Erbse (1992, 12f.), Harrison (2000, 36ff.). 322 Ausdrücklich in Hdt. 1, 86, 4. 323 Zur Historizität des Solon-Kroisos-Gesprächs vgl. Strasburger (1982, 32f.), Miller (1963), Rieks (1975, 26f.), Asheri (1988, 282f.), Arieti (1995, 44 Fußn. 69), Frings (1996, 3 Anm. 2). Aufgrund von chronologischen Problemen gilt eine Begegnung zwischen Kroisos und Solon in Sardes als höchst unwahrscheinlich.

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Herodot zunächst die Situation und das Selbstverständnis des Lyderkönigs. Nach etlichen militärischen Erfolgen war Kroisos auf einem Höhepunkt seiner Machtentfaltung angekommen. Sein Reich dehnte sich auf alle Städte diesseits des Halys-Flusses aus, wird in 1, 28 berichtet. Sardes strotzte vor Reichtum und Prunk (1, 29, 1), die Schatzkammmern des Königs waren prall gefüllt (1, 30, 1). Diese Beschreibung des äußeren Zustands wird im Folgenden durch die Aufdeckung der inneren Haltung komplementiert. Die von Herodot berichtete prahlerische Zurschaustellung des eigenen Reichtums (1, 30, 1) und das übermäßige Streben nach Bewunderung und Hochschätzung der eigenen Person (1, 30, 2) weisen auf Züge von Megalomanie hin. Wie Herodots Kommentar (1, 30, 3) deutlich macht, soll die an Solon gestellte Frage des Lyderkönigs, wer von allen Menschen der glücklichste (akbi¾tator) sei (1, 30, 2), vom Leser als Manifestation eines von Selbstüberschätzung und Dünkel geprägten Selbstbildes verstanden werden. Unter Zugrundelegung der oben rekonstruierten HybrisKonzeption kann man den zu Beginn der Historien dargestellten Kroisos als Hybristes (rbqist¶r) bezeichnen.324 Kroisos glaubt, eine über das Menschenübliche hinausgehende gottähnliche Existenz zu führen, die mit einer scheinbar unzerstörbaren, dauerhaften Machtfülle und Prunkanhäufung ausgestattet ist. Die anhaltende Phase des Gelingens aller Unternehmungen hat zu einer Glücksgewissheit geführt, die den gegenwärtigen Erfolg auf die Zukunft projiziert und das eigene Glück der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit, d. h. der Zeitlichkeit enthoben glaubt. Kroisos meint insofern »mehr als ein Mensch zu sein« (1, 204, 2)325 – wie später von Kyros gesagt wird – und ist damit in einer Überhebung begriffen, die sich oben als zentrales Element des Phänomens der Hybris gezeigt hat.326 324 In der Literatur wird Kroisos’ Haltung in der Solon-Episode häufig als ›Hochmut‹ (Erbse 1992, 16; Bichler 2000, 247), als ›Selbstsicherheit‹ (Marg 1982), als ›selbstsichere Sattheit‹ (Bischoff 1932, 32) oder als ›Überheblichkeit‹ (Schneeweiß 1975, 172; Visser 2000, 18) bezeichnet. Bei Schneeweiß (1975, 172) heißt es: »Durch die überhebliche Zuversichtlichkeit in den Bestand seines Glückes hob sich Kroisos über die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind«. Ebendies ist Hybris, auch wenn der Ausdruck von Herodot an dieser Stelle nicht verwendet wird. 325 Heuss (1995, 78) betont hinsichtlich der von Kroisos realisierten Grenzüberschreitung eher den Anspruch auf das Glücksmaximum. 326 Ähnlich Cairns (1996, 18 Fußn. 80): »Croesus’ prosperity has led him to place himself on a level higher than other men and to presume to know and control what no mortal can know or control. The signs of hybris are all there«. Anders Fisher (1992, 357–60) (2002, 218), der meint, dass Kroisos’ Selbstüberschätzung keine Hybris sei, da sie keine Beleidigung bzw. Kränkung anderer hervorbringe. Eine Hybris des Lyderkönigs sieht Fisher erst in dessen Krieg gegen Kyros (2002, 219). Dagegen ist einzuwenden, dass hier ein auf die Verletzung der Ehre verengter Hybrisbegriff zugrunde gelegt wird, der dem von klassischer Dichtung und Historiographie gebrauchten Begriff nicht adäquat ist (siehe Kap. A II 1). Die Hybris im klassischen Sinn setzt nicht erst mit Beleidigung und Kränkungen ein, sondern ist bereits gegeben, wenn sich ein Mensch selbst überschätzt und sich gottähnlich wähnt. Das ist bei

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Solons Rede setzt genau an diesem Punkt327 an und ermahnt zur Einsicht in die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge. Die solonische Aufforderung zur Selbsterkenntnis verläuft in zwei Stufen. Zunächst werden Kroisos’ hypertrophe Selbsteinschätzung und seine anmaßende Glücksgewissheit dadurch erschüttert, dass Solon nicht ihn, sondern den Athener Tellos als Glücklichsten benennt und dem argivischem Brüderpaar Kleobis & Biton den zweiten Rang zugesteht. In beiden Fällen handelt es sich um einfache Bürger, die nicht im Entferntesten an den Wohlstand des Kroisos heranreichten, sondern nur ein bescheidenes Vermögen besaßen, die jedoch während ihrer ganzen Lebenszeit über Stabilität und Prosperität der äußeren Lebensverhältnisse, gesunde und tüchtige Nachkommen sowie eigene Unversehrtheit – wie im Fall des Tellos – oder über körperliche Stärke und Wohlgestalt sowie Erfolg in athletischen Wettkämpfen – wie im Fall von Kleobis & Biton – verfügten und einen ruhmvollen Tod erlitten.328 In der nachfolgenden, durch das Unverständnis und den Unmut des Kroisos veranlassten Begründung der beiden Urteile ist die eigentliche Mahnung zur Selbsterkenntnis enthalten. Solon beginnt die Begründung seiner Zurücksetzung des Kroisos-Glücks gegenüber den beiden dargestellten Bioi mit einer Ausführung über die Wechselhaftigkeit und Veränderlichkeit des menschlichen Geschicks (1, 32, 1–4). Die Kernaussage dieses ersten Teils der Rede lautet: Das menschliche Sein ist grundsätzlich dem Werden und Vergehen, d. h. der VerKroisos der Fall. Zur Bestreitung der Hybris bei Kroisos vgl. auch Gould (1989, 79–80). Pelling (2006, 150f.) hat zu dieser Frage eine vermittelnde Position vorgetragen: »But in any case it remains true that such thoughts, insufficiently alert as they are to the boundary between god and human, resemble those which lead to or accompany hybristic behavior elsewhere«. Eine Bestätigung der Deutung von Kroisos’ Haltung als Hybris findet sich bei Aristoteles rhet. 1385b: »Diejenigen Menschen, welche sich für außerordentlich glücklich halten, empfinden kein Mitleid, sondern überheben sich (rbq¸fousi). Wenn sie nämlich glauben, im Besitz aller Güter zu sein, so glauben sie natürlich auch an die Unmöglichkeit, etwas Böses erleiden zu können. Denn auch dies gehört zu den Gütern« (Übers. C. Rapp). 327 Nämlich an der »überheblichen Zuversichtlichkeit in den Bestand seines Glückes« (Schneeweiss 1975, 122). Vgl. auch Bischoff (1932, 33), Immerwahr (1966, 159f.), Cairns (1996, 22). Immerwahr (1966) spricht von »a false sense of security« (159) und »Croesus’ confidence in prosperity« (160). 328 Zu den Quellen der Geschichten vgl. Weber (1927, 154–166), Regenbogen (1961b, 106–123), Wehrli (1976, 32–40), Pohlenz (1961, 112f.), Defradas (1972, 217–23), Parke/Wormell (1956, I, 379f.), Schneeweiß (1975, 166–172), Erbse (1992, 14f.) Es wird mit großer Übereinstimmung davon ausgegangen, dass die Biton & Kleobis-Geschichte argivischer Herkunft ist und in Delphi umgestaltet wurde. Das Motiv des Todes nach der ruhmvollen Tat wird als spezifisch delphisch angesehen. Die Tellos-Erzählung ist in der Forschung aufgrund der Ähnlichkeit mit der von Plin. nat. 7, 151 und Val. Max. 7, 1, 2 überlieferten delphisch geprägten Gyges-Aglaos-Geschichte (siehe Kap. A I 3b) häufig mit delphischer Tradition in Zusammenhang gebracht worden. Die Tellos-Geschichte ist vermutlich eine athenische Umformung der älteren Gyges-Aglaos-Erzählung und gehörte dem Sagenkreis um die Sieben Weisen an.

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änderung unterworfen. Auf diese Aussage zielt die angestellte Berechnung der menschlichen Lebenszeit. An den 26250 Tagen, die man durchschnittlich zu leben hat, »bringt kein einziger Tag das gleiche wie der andere« (1, 32, 4; Übers. W. Marg). Der Mensch besitzt keine beharrliche, unzerstörbare Identität, sondern ist der Wechselhaftigkeit ausgeliefert, er ist »ganz, was sich mit ihm ereignet (sulvoq¶)« (1, 32, 4; Übers. W. Marg), was ihm zufällt oder ihm begegnet. Je länger er lebt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Missgeschicke zustossen und er Unglück und Leid erfahren muss (1, 32, 2). Besonders gefährdet sind jene, die so wie Kroisos über ein besonderes Maß an Reichtum, Macht und Erfolg verfügen, provoziert doch diese herausragende Stellung den Neid der Götter.329 »Ich weiß«, so Solon zu Beginn seiner Ausführungen, »dass das Göttliche330 voller Neid ist (vhomeqºm) und gern Verwirrung stiftet (taqaw_der)« (1, 32, 1; Übers. Ley-Hutton). Gemeint ist das eifersüchtige Wachen darüber, dass kein Sterblicher auch nur in die Nähe der göttlichen Machtfülle und Größe gelangt.331 Ragt einer der Sterblichen heraus und agiert zudem in provozierender Weise, so greift die Gottheit ein und ›stiftet Verwirrung‹, d. h. sie sorgt für Destabilisierung in Form von Katastrophen, Unglücken etc., die den zu mächtig Gewordenen zu Fall bringen.332 »Denn der Gott liebt es, alles zu stürzen, was herausragt« (vik´ei c±q b he¹r t± rpeq´womta p²mta joko¼eim) heißt es später in der Artabanus-Rede (7, 10, e; Übers. J. Feix). Wir haben hier also nicht nur eine Mahnung zur Einsicht in die Unbeständigkeit des Glücks, sondern zugleich eine Warnung333 vor dem Sturz durch die 329 Der göttliche Phthonos ist nur einer der die Unbeständigkeit des Glücks bedingenden Faktoren. So wie bei Sophokles findet sich auch bei Herodot eine Pluralität von Kausalitäten. So auch Schneeweiß (1975, 172). In den meisten Fällen liegt ein komplexer Ursachenzusammenhang vor, der sowohl göttliches als auch menschliches Handeln einschließt. Vgl. Scardino (2007, 101): »Herodot weiß, daß sich Ereignisse generell nicht monokausal erklären lassen, sondern daß jeweils verschiedene Ursachen zusammenwirken«. Ähnlich Harrison (2000, 235). Mit der Annahme einer Multikausalität lässt sich jene Inkompatibilität der Aussagen auflösen, die Pelling (2006, 148f.) in der Solon-Rede zu erkennen vermeint. 330 Zu den Begriffen heºr und he?om vgl. Harrison (2000, 158–181). Zu den religiösen Vorstellungen bei Herodot vgl. außerdem Nilsson (GGR I, 759–767), Gould (1994), Mikalson (2002). 331 Zur Diskussion der Phthonos-Vorstellung bei Herodot siehe Kap. A II 4d. Nach Shapiro (1996, 352–355) entspricht die Vorstellung von der neidischen Gottheit, die z. B. Solon (1, 32, 1), Amasis (3, 40, 2), Artabanus (7, 10; 7, 46, 4) und Themistokles (8, 109) in den Mund gelegt wird, Herodots eigener Auffassung: »However, not only do Herodotean characters say explicitly that the gods are jealous, Herodotus confirms this claim both directly, through his own comments, and indirectly, through the juxtaposition of events and the repetition of key words and phrases«. 332 Dazu Pelling (2006, 149 Anm. 31). Pelling wendet gegen Gould (1989, 79) ein, dass taqaw_der kein Prädikat der Gottheit bezeichnet, sondern die dem Gott zugeschriebene »capacity to disrupt and confuse«. 333 Diese Warnung wird am Ende der Rede noch einmal unverhohlen ausgesprochen (1, 32, 9).

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Gottheit. Im Vordergrund steht an dieser Stelle freilich die Mahnung zur Selbsterkenntnis. Indem Solon in seiner Rede die Wechselhaftigkeit der menschlichen Dinge betont, fordert er den verblendeten Kroisos indirekt dazu auf, sich von der Fixierung auf das gegenwärtig Gegebene und der anmaßenden Glücksgewissheit zu lösen. Der Blick wird von der besonderen, aktuellen Situation des Kroisos weg auf die Situation des Menschen überhaupt gelenkt, es wird ein allgemeines Grundmerkmal der menschlichen Existenz angeführt, von dem auch Kroisos nicht ausgenommen ist. Solons Verweis auf die menschliche Verfasstheit ist eine Aufforderung, sich als Mensch zu verstehen und die Begrenztheit des eigenen Seins anzuerkennen. Analog zur Odysseus-Einsicht in Sophokles’ Aias wird die für die apollinische Selbsterkenntnis so wichtige Differenz zwischen Mensch und Gott nicht explizit ausgesprochen. Zwar wird die Gottheit zu Beginn der Rede sowie am Ende erwähnt334, ansonsten ist jedoch ausschließlich vom Menschen die Rede. Das heißt jedoch nicht, dass das Göttliche als Maßstab und Orientierungspunkt völlig aus dem Blick geraten ist. Bei der Bestimmung des Menschlichen wird das Über-Menschliche, d. h. Göttliche stets mitgedacht.335 Wie in der OdysseusEinsicht ist das göttliche Sein hier als Hintergrundvorstellung präsent. Die Ausführungen über die Begrenztheit des Menschen erfolgen unter der Voraussetzung einer unbegrenzten, unveränderlichen und alle Glücksgüter dauerhaft besitzenden göttlichen Wirklichkeit.336 Im zweiten Argumentationsschritt der Solon-Rede (1, 32, 5–7) wird zunächst eine Schlussfolgerung aus dem Faktum der Wechselhaftigkeit des menschlichen Geschicks gezogen. Weil es so ist, dass die menschlichen Dinge der Veränderung unterworfen sind, kann man erst am Ende des Lebens über das Glück (ekbor) eines Menschen urteilen.337 Diese Aussage basiert auf der Prämisse, dass nur derjenige als glücklich (ekbior) zu bezeichnen ist, der im dauernden Besitz der ihm gegebenen glücksgenerierenden Güter, d. h. ohne größere Missgeschicke, Einbußen und Verluste sein Leben führt und beendet. Diesem auf die zeitliche Dauer bezogenen und damit quantitativen Glückskriterium wird ein weiteres quantitatives Merkmal hinzugefügt. Glücklich ist nur derjenige, der im Besitz aller erworbenen und gegebenen Güter (p²mta jak±) sein Leben beendet (1, 32, 334 Auch dies ist eine Parallele zum Aias (vgl. Ai. 118 u. 132f.), wenngleich dort nicht vom neidischen Gott die Rede ist. 335 So auch Bischoff (1932, 32): Kroisos hat Solon »gereizt, sein Wissen über jenes Menschliche auszubreiten. Deshalb begegnet uns der Begriff ›Mensch‹ in seiner Rede häufig genug […] und der Begriff des he?om, das im Beginn der Rede einmal aufleuchtete, wird dem geheim entgegengesetzt«. 336 Vgl. z. B. Hdt. 1, 32, 8: »Alles dies [sc. die Glücksgüter] nun miteinander zu erlangen, ist uns Menschen versagt« (Übers. W. Marg), den Göttern aber nicht, so ist hier hinzuzufügen. 337 Zur Auseinandersetzung mit dieser traditionellen Auffassung vgl. Aristot. eth. Nic. 1100a10– 1101b9.

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5). Der Gedanke wird im Folgenden durch die Gegenüberstellung eines Reichen, der aufgrund von Unglücksfällen bestimmte Güter verliert, und einem nur mäßig Besitzenden, der keine derartigen Unglücke zu erleiden hat, veranschaulicht. Ein Mann, der zwar nur über geringen Wohlstand verfügt, aber aufgrund einer Begünstigung durch das Schicksal (eqtuw¶r) »unversehrt bleibt, ohne Krankheit, ohne Leid, treffliche Kinder und ein gutes Aussehen hat« (1, 32, 6; Übers. Ley-Hutton) ist glücklicher als ein Reicher, der derartige Unglücke erfährt, etwa den Verlust der Nachkommen oder schwere Krankheiten. Mit anderen Worten: Der Reichtum ist keine hinreichende Glücksbedingung; für ein glückliches Leben sind noch weitere Güter relevant.338 Mit dieser Argumentation wird eine weitere Fehlmeinung des Kroisos indirekt thematisiert. Bezog sich der erste Teil der Solon-Rede auf den Irrglauben, dass die aktuelle Macht- und Besitzfülle fest und beständig ist, so wird jetzt auf die Meinung Bezug genommen, dass Reichtum und Macht die ausschließlichen Glücksfaktoren darstellen. Das anmaßende Selbsturteil des Lyderkönigs basierte ja vornehmlich auf diesen beiden Momenten und blendete damit alle Faktoren aus, die ebenfalls glücksrelevant sind. So wie beim Irrglauben bezüglich der Glücksbeständigkeit liegt auch hier eine Fixierung auf bestimmte Teilaspekte der Wirklichkeit vor. Es ist freilich kein Zufall, dass es gerade jene beiden Momente sind, auf die sich Kroisos in seinem Selbsturteil stützt. Verursachen doch Macht und Reichtum im herkömmlichen Verständnis einen weit höheren Selbstgenuss als körperliche Unversehrtheit und gesunde Nachkommen, die mehr oder weniger als Selbstverständlichkeit aufgefasst werden. Nach der Korrektur von Kroisos*’ verengter, einseitiger Sichtweise wird noch ein drittes Glückskriterium angeführt – das schöne Lebensende (1, 32, 7).339 Gemeint ist vorzugsweise ein ruhmvoller Tod, wie im Fall des Tellos oder der Brüder Kleobis & Biton, daneben aber einfach nur ein Lebensabend ohne großes Leiden, in Ansehen, Ehre und Wohlstand, umgeben von der Familie und guten Freunden. Erst wenn alle drei Momente zusammentreffen – relative Beständigkeit der Güter, Präsenz aller erreichten und gegebenen Güter bis zum Le-

338 So noch Aristoteles trotz der auf die tugendgemäße Tätigkeit der Seele konzentrierten Glückskonzeption: »denn wer sehr hässlich aussieht oder von niedriger Herkunft oder einsam und kinderlos ist, den kann man wohl nicht glücklich nennen, und noch weniger vielleicht den, der gänzlich schlechte Kinder oder Freunde hat oder gute, die gestorben sind« (eth. Nic. 1099b; Übers. U. Wolf). Vgl. auch Aristot. rhet. 1360b–1361. Arieti (1995, 46f.) hat richtig bemerkt, »that the Aristotelian idea of happiness was already present in Greek thought long before its systematic formulation«. 339 Auch dieser Gedanke findet sich bei Aristoteles: »Es gibt ja viele Veränderungen im Leben und vielfältige Zufälle, und der Glücklichste kann im hohen Alter in großes Unglück geraten, wie die trojanischen Sagen von Priamos erzählen. Wer aber ein solches Schicksal hat und elend stirbt, den wird niemand glücklich nennen« (eth. Nic. 1100a; Übers. U. Wolf).

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bensende und ein schöner Lebensabschluss – kann man von einem glücklichen Leben sprechen. Vor dem Hintergrund dieser Glückskonzeption wird verständlich, warum der herodoteische Solon für Tellos und Biton & Kleobis als die Glücklichsten votiert hat statt für Kroisos, der nicht nur nach dessen Selbstverständnis, sondern auch nach der populären Auffassung der eigentliche Glückskandidat gewesen wäre. Sowohl der Athener Tellos als auch das argivische Brüderpaar haben alle genannten Glückskriterien erfüllt.340 Die nachgeordnete Platzierung von Biton & Kleobis ist darin begründet, dass die Brüder ihren ruhmvollen Tod in jungen Jahren erlitten haben und dadurch nicht die Möglichkeit besaßen, ihre Güter und Qualitäten ein volles Leben lang zu genießen, Nachkommen zu erzeugen und ein gutes Alter zu erleben.341 340 So auch Schulte-Altedorneburg (2001, 137). 341 Ähnlich Pohlenz (1961, 113), Arieti (1995, 48), Shapiro (1996, 351). Freilich ist hinzuzufügen, dass die spezifische Qualität der Brüder – körperliche Kraft – und der aus athletischen Erfolgen erwachsende Ruhm noch unbeständiger und gefährdeter sind als die bürgerlichen Güter des Tellos und damit ohnehin fragwürdig ist, ob sie das Beständigkeitskriterium jemals hätten erfüllen können. Der relativ frühe Tod ist in diesem Fall das Beste, da sie im Moment der höchsten Erfüllung (Entelechie) sterben und in dieser Gestalt für die Nachwelt weiterleben. So auch Arieti (1995, 50): »People whose brilliance is limited to great deeds of physical strength inevitably feel the loss of such strength; death at the peak prevents the sorrow of the descent. The deaths of Cleobis and Bito came at the critical moment for them, and their statues […] will keep them forever panting and forever young.« Zum Aspekt der Verewigung vgl. auch Shapiro (1996, 351): »They died at their highest moment and lived eternally in that moment, at least in others’ memories.« Versteht man den von der Gottheit gesendeten Tod in diesem Sinn, dann lässt sich Diels’ (1921, 25) These von der pessimistischen ›delphische[n] Priesterweisheit‹, die in der Folge vielfach aufgegriffen wurde (vgl. Regenbogen 1961b, 110–112; Schadewaldt 1982, 194; v. Fritz 1967, 218–222; Lloyd 1987; Frings 1996, 7; Giebel 2001, 92) kaum halten. Der Schluss der Geschichte wird häufig als Ausdruck einer resignativen Weisheit gedeutet, die das menschliche Leben aufgrund seiner Wechselhaftigkeit und des damit verbundenen Leidens gering schätzt und den Tod als das für den Menschen Beste ansieht. Die Kernaussage der Geschichte besteht jedoch nicht darin, dass der Tod als solcher das Beste ist, sondern nur der Tod nach hervorragenden Leistungen und der preiswürdigen Tat. Die apollinische Antwort auf die Frage (1, 31, 4) nach dem Besten für den Menschen ist das Weiterleben im Gedächtnis der Menschen und die damit verbundene Dauerhaftigkeit der erreichten Arete – kurz gesagt: die Unsterblichkeit. Der von der Gottheit gesendete Tod ist auf das ewige Leben bezogen, auf die Teilhabe am Göttlichen. Von der Tendenz her richtig Pohlenz (1961, 113) u. Schneeweiß (1975, 167). In diesem Sinn ist auch die apollinische Legende von Trophonios und Agamedes zu verstehen (vgl. Pind. fr. 2 Snell/Bowra; Plut. Consolatio ad Apoll. 431; Cic. Tusc. I 47, 113), den beiden Baumeistern des ersten delphischen Tempels, die nach vollendetem Werk ihren Lohn von Apollon einforderten und den Tod zugeteilt bekamen. Die delphische Hochschätzung der von den beiden Baumeistern sowie von dem argivischem Brüderpaar geleisteten Tat ist darin begründet, dass es sich in beiden Fällen um fromme, gottgefällige Taten handelt. Bei der Kleobis & Biton-Geschichte ist nicht die gewaltige körperliche Leistung als solche entscheidend, sondern das Faktum, dass die Mutter, die die beiden Brüder in Ermangelung der Zugtiere selbst im Wagen transportierten, eine Herapriesterin

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Die Tatsache, dass Solon keinen reichen und mächtigen Herrscher, sondern einen einfachen Bürger als Glücklichsten benannt hat, bedeutet keine generelle Abwertung des Reichtums, wie man oftmals gemeint hat. Weder wird hier der Reichtum als Glücksfaktor verworfen oder in seiner Bedeutung reduziert342 noch wird das auf Prunk und Reichtum basierende Luxusleben des orientalischen Herrschers als ›äußeres Scheinglück‹ bewertet und dem ›wahren Glück‹ des einfachen Polisbürgers entgegengesetzt.343 Hinter dem von Herodot gestalteten solonischen Urteil steht schlicht und ergreifend die Erfahrung344, dass es einem Reichen und Mächtigen kaum gelingt, seine Güterfülle über einen längeren Zeitraum hinweg oder gar bis zum Lebensende zu bewahren, da er dem Neid der Götter ausgesetzt ist und sich zudem in ständigen Macht- und Konkurrenzkämpfen mit seinesgleichen befindet. Das Glück des einfachen Bürgers ist im Vergleich dazu stabiler. Die Dauerhaftigkeit und Stabilität sind hier die entscheidenden Momente bei dem Plädoyer für das Leben eines Tellos.345 Dass der Reichtum als solcher keineswegs abgewertet wird, zeigt sich insbesondere im Schlussteil der Solonrede (1, 32, 8–9).346 Nach der Formulierung des Gedankens, dass keinem Menschen alle Glücksgüter und Vorzüge insgesamt zukommen, sondern diese verschieden verteilt sind, wird in einer Art Resümee eine abschließende Glücksdefinition gegeben. Am glücklichsten von allen Menschen ist derjenige, der von den Gütern »während seines ganzen Lebens am meisten hat und sein Leben glücklich beendet« (1, 32, 9; Übers.Ley-Hutton; Hervorhebung B.F.). Konkret heißt das: Wenn ein Herrscher vom göttlichen Neid verschont

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war, die aufgrund eines kultischen Festes zum Heiligtum der Göttin gebracht werden musste. Man sollte sich nicht von der in die Kleobis & Biton-Geschichte eingefügten gnomischen Weisheit (»und die Gottheit offenbarte an ihnen, dass es für einen Menschen besser ist, tot zu sein als zu leben« 1, 31, 3; Übers. Ley-Hutton) irritieren lassen. Wie Harrison (2000, 39) überzeugend aufgezeigt hat, handelt es sich hier um eine alte Spruchweisheit, die keineswegs der delphischen Sichtweise entsprechen muss. Es deutet alles daraufhin, dass Herdot in der Solon-Rede delphische Erzählungen, volkstümliche Weisheiten und moderne sophistische Argumentationen (vgl. Regenbogen 1961b, 123) aufgegriffen und miteinander vermengt hat. So z. B. Hellmann (1934, 46 u. 52; vgl. auch 106) u. Frings (1996, 7). So Regenbogen (1961b, 106f.), Hellmann (1934, 41f.), Pohlenz (1961, 112f.), Schadewaldt (1982, 197–199), Frings (1996, 7). Der Erfahrungsreichtum des athenischen Weisen wird in 1, 32, 2 betont. So auch Krischer (1964), Schneeweiß (1975), Erbse (1992, 13), Schulte-Altedorneburg (2001, 136). Besonders prägnant wird der Gedanke von Schneeweiss (1975) formuliert: »Solon stellt der Glücksauffassung des Kroisos nicht ein andersartiges Glück entgegen, sondern nur den Zweifel an der Dauerhaftigkeit« (169), »für den Weisen gilt allein, was Bestand hat« (172). Ähnlich Schulte-Altedorneburg (2001, 136): Solon komme es »auf die Beständigkeit des menschlichen Glücks« an. Das gesteht letztlich auch Regenbogen (1961b, 116 Fußn. 10) zu: »Es läuft keineswegs darauf hinaus, den bescheidenen Mann als solchen höher zu stellen als den Reichen und Mächtigen. […] Herodot würde ohne weiteres zugeben, daß es besser ist, reich und unglücklich als arm und unglücklich zu sein«.

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bleibt und es ihm gelingen sollte, seinen Reichtum und seine Macht bis zum Lebensende zu erhalten347 und er dazu noch über die anderen Güter – Gesundheit, tüchtige Nachkommen, gutes Aussehen etc. – verfügt und er zuguterletzt einen schönen Lebensabschluss findet, dann ist sein Leben selbstverständlich dem Bios eines Tellos vorzuziehen.348 Die in der Solonrede enthaltene Glückskonzeption ist eine güterorientierte und damit primär quantitative349, keine qualitative bzw. ethisch-sittliche. Das absolute, vollkommene Glück, das dem Gott vorbehalten bleibt, besteht im dauerhaften Besitz aller Güter. Das menschenmögliche Glück ist demgegenüber ein relatives und unvollkommenes. Der Glücksgrad bestimmt sich hier nach der Menge und dem Umfang der Güter relativ zum Besitz der anderen Menschen. Mit dieser abschließenden, auf die menschliche Begrenztheit rekurrierenden Glücksbestimmung wird indirekt noch einmal die Selbstüberschätzung des Kroisos thematisiert. Die im Verhalten des Lyderkönigs zum Ausdruck kommende wahnhafte Einbildung, einen gottähnlichen oder gar gottgleichen Glückszustand erreicht zu haben, wird durch den Hinweis auf die konditionelle Unvollkommenheit des Menschenglücks korrigiert. Der Mensch bleibt grundsätzlich in der Bedürfnisstruktur verhaftet. Er besitzt niemals alles, es gibt immer Dinge, die ihm fehlen (1, 32, 8). Auf diese Weise befindet er sich trotz aller Erfolge und der Gunst des Schicksals stets im Zustand des Mangels, der mit Leiden verbunden ist. Am Ende steht hier noch einmal die Aufforderung, sich als Menschen, d. h. in seiner Begrenztheit zu erkennen, die eben nicht nur eine zeitliche Dimension hat, sondern auch auf den Umfang des Glücks bezogen ist. Solon beschließt seine Rede mit einer recht deutlichen Warnung, die bereits zu Beginn seiner Ausführungen anklang. Nach der ausdrücklichen Mahnung, bei allem auf das Ende zu sehen, spricht er den unheilverheißenden Satz aus: »Denn schon so manchem hat der Gott das Glück gezeigt und ihn dann mit seinen Wurzeln umgestürzt« (1, 32, 9; Übers. W. Marg).350 Kroisos’ Reaktion351 auf Solons Rede zeugt von einer Haltung der Unein347 Diese Möglichkeit wird bei Herodot keineswegs ausgeschlossen, wie etwa Krischer (1964, 176) meint: »der Reichste, d. h. Glücklichste, hat überhaupt keine Chancen, dem Verderben zu entgehen«. Die Erfahrung spricht zwar dagegen, aber daraus wird keine Notwendigkeit eines Scheiterns abgeleitet. Es besteht prinzipiell die Möglichkeit, durch Bescheidenheit und Verzicht (vgl. Hdt. 3, 40) dem Neid der Götter zu entgehen und das Unglück zu vermeiden. 348 So auch Krischer (1964, 175f.), Schneeweiß (1975, 171). 349 So auch Schneeweiß (1975, 171 u. 178) u. Pelling (2006, 147). 350 Die Analyse der Solon-Rede konnte aufzeigen, dass die Rede in sich stimmig ist. Die Aussagen sind kompatibel, der Argumentationsgang ist logisch schlüssig und nachvollziehbar, die Botschaft ist klar. Es kann also keine Rede davon sein, dass »Solon’s words are cryptic, and deliver a mixed message« (Munson 2001, 184). 351 Vgl. insbes. Hdt. 1, 30, 3.

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sichtigkeit und Unwilligkeit. »Kroisos schickte ihn [sc. Solon] weg«, so Herodot, »ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen« (1, 33; Übers. Ley-Hutton). Das an Grobheit grenzende Verhalten gegenüber dem athenischen Weisen, das im krassen Gegensatz zur vorherigen Gastfreundschaft und Kommunikationsbereitschaft steht (1, 30, 1–2), ist nicht nur Ausdruck einer enttäuschten Erwartung, sondern weist darüber hinaus auf ein starres Festhalten am illusorischen Selbstbild hin.352 Kroisos lässt sich von den solonischen Worten auch nicht ansatzweise dazu bewegen, sich von der Fixierung auf das gegenwärtig Gegebene zu lösen und seinen »Blick zu wenden« (Schulte-Altedorneburg 2001, 134).353 Er vollzieht keinerlei Bewegung hin zu Einsicht und Besinnung, vielmehr verhärtet er sich im Verlauf des Gesprächs zunehmend. Dies wird u. a. deutlich an der Steigerung der negativen Emotionen, die von anfänglicher Verwunderung (1, 30, 3), über Gereiztheit (1, 31, 1), Aufgebrachtheit (1, 32, 1) bis hin zur Verachtung reichen (1, 33). In einer fundamentalen Selbstverkennung befangen bezichtigt er schließlich Solon der Torheit (!lah¸a), den er doch anfänglich als Weisen empfangen und geschätzt hatte (1, 30, 2)354 und der sich im Gespräch durch seine rückhaltlose Sachbezogenheit, seine Besonnenheit und seinen Erfahrungsreichtum tatsächlich als solcher erwiesen hat. Wir erleben also im Solon-Kroisos-Gespräch einen Lyderkönig, der sich in seiner Wirklichkeitssicht vom Wunschdenken und Selbstgenuss leiten lässt und nicht bereit ist, die Verfasstheit des menschlichen Seins zu erkennen und diese zum Maßstab und regulativen Prinzip des Handelns zu machen. Die Verweigerung, sich von Verblendung und Ichfixierung zu lösen und die objektive Realität anzuerkennen, deutet auf die kommende Katastrophe hin.355 Wie Schulte-Altedorneburg (2001, 138) richtig gesehen hat, ist die »Unfähigkeit des Kroisos, in Bezug auf die Einschätzung seiner Situation und seiner Möglichkeiten den Kopf zu wenden, d. h. seine Neigung, am unmittelbar evident Scheinenden unbeirrbar festzuhalten« einer der maßgeblichen, von Kroisos selbst zu verantwortenden Faktoren, die zum Scheitern führen. 352 Scardino (2007, 92) bemerkt richtig, dass Kroisos »die erste Chance [verpaßte], die Instabilität der condicio humana anzuerkennen«. Von einer »verpaßten Möglichkeit einer intellektuellen Einsicht« spricht auch Schulte-Altedorneburg (2001, 139). 353 Schulte-Altedorneburg (2001, 134) meint, dass die Unfähigkeit zur Einsicht, die Kroisos hier im Gegensatz zum Bias-Gespräch (1, 26–27) zeigt, mit der jetzigen Erwartungshaltung zusammenhängt. Dazu ist anzumerken, dass es im Solon-Gespräch nicht nur um ein militärisches Unternehmen geht – wie im Bias-Gespräch –, sondern um das innerste Selbstverständnis des Kroisos und von daher erheblich mehr Widerstände vorhanden sind. Es ist also nicht die Erwartungshaltung als solche, die für das Ausbleiben der Blickwende verantwortlich ist. 354 So auch Pelling (2006, 152). 355 Ähnlich Pelling (2006, 152): »And such dismissiveness [sc. des Solon] is itself enough to signal that Croesus will not prosper«.

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Erste Erschütterung der Glücksgewissheit – die Atys-Adrastos-Geschichte (1, 34–45)

Herodots Bericht zufolge ließ das Unglück nicht lange auf sich warten. »Nach der Abreise Solons wurde Kroisos von einer schweren Rache (m´lesir) des Gottes heimgesucht – wahrscheinlich«, so Herodots Vermutung, »weil er sich für den glücklichsten aller Menschen gehalten hatte« (1, 34, 1; Übers. Ley-Hutton). Dieser Kommentar macht bei aller Vorsicht der Formulierung deutlich, dass der göttliche Eingriff nach Meinung des Autors eine Reaktion auf das Fehlverhalten des Kroisos darstellt, das, wie oben aufgezeigt, als Hybris zu bezeichnen ist.356 Gleichwohl ist die hier gemeinte wirkende Macht keineswegs im Sinn des aischyleischen Gottes zu verstehen, des strengen Richters (euhumor baq¼r Pers. 828), der jeden Frevel mit einer gerechten Strafe vergilt und die Menschen durch Leid zur Einsicht führen will. Wie in jüngerer Zeit insbesondere Fisher (1992, 358) und Cairns (1996, 18f. Fußn. 80) betont haben, ist die an dieser Stelle angeführte Nemesis mit dem Phthonos zu verbinden, auf den in der Solon-Rede verwiesen wird (1, 32, 1). Es ist die ›Zuteilung‹357 der neidischen Gottheit (»the ›indignation‹ of an ›envious‹ deity«, Fisher 1992, 358), die Kroisos nach dem Weggang des Solon trifft. In der Forschung ist immer wieder der Versuch unternommen worden, den herodoteischen Phthonos ethisch aufzuwerten und ihn von der volkstümlichen Anschauung, nach der die Götter den Menschen ihr Glück missgönnen, abzusetzen. So meinte z. B. Pohlenz (1961, 115), dass es »nicht das Glück als solches, sondern die daraus entspringende Hybris ist, der die Gottheit den Erfolg mißgönnt«. Die populäre Vorstellung vom Neid der Götter habe Herodot »dahin vertieft, daß die Gottheit notwendig dem Menschen das Überschreiten seiner Schranken verwehrt« (116). So habe auch im Falle des Kroisos »nicht das Glück selber, sondern das Pochen auf das Glück« den Gott herausgefordert, »weil solch selbstgewisser Hochmut die Grenzen des Menschentums verkennt« (114).358 In 356 Zur Deutung der Nemesis als Reaktion auf Kroisos’ Fehlverhalten vgl. Marg (1982, 292), Kirchberg (1965, 16), Erbse (1992, 16), Cairns (1996, 18 Fußn. 80 u. 22), Schulte-Altedorneburg (2001, 138). Marg (1982, 291) hat darauf hingewiesen, dass das anmaßende Selbstverständnis des Kroisos freilich schon vor dem Solon-Gespräch vorhanden war, dass diese Haltung jedoch erst im Gespräch verbal zur Erscheinung gelangt und insofern die Unterredung zum auslösenden Faktor wird. 357 Zur Etymologie und Bedeutung von m´lesir vgl. Pohlenz (1961, 114 Fußn. 2), v. Fritz (1967, 223), Schulte-Altedorneburg (2001, 138 Fußn. 2). 358 Vgl. auch Regenborgen (1961a, 90 u. 94) u. v. Fritz (1967, 223). Regenbogen betont im Kontext der herodoteischen Phthonos-Konzeption den Ausgleichsgedanken. Das Wirken des göttlichen Phthonos sei im Sinn einer Wiederherstellung des durch herausragende Größe gestörten Gleichgewichts zu verstehen. Ähnlich v. Fritz (1967, 223), der in Bezug auf die in 1, 34, 1 angeführte Nemesis von einer Wiederherstellung der »richtigen Verteilung« spricht.

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ähnlicher Weise hat Cairns (1996, 18–22) in Auseinandersetzung mit Fisher (1992) die Konzeption eines »moralized phthonos« (18)359 geltend zu machen versucht.360 Während Fisher (1992, 358f.) in Hist. 1, 34, 1 einen ›unmoralized phthonos‹ am Werk sieht, also einen Phthonos im populären Sinn, der auf den Erfolg und das Glück des Menschen bezogen ist, meint Cairns, dass sich der Phthonos hier nicht nur auf den großen Reichtum des Kroisos richtet, »but at his mistaken attitude to that wealth« (22), die als »transgression of limits« zu den »hybristic attitudes« (18) gehöre. Cairns sieht hier eher eine ›moralische Anklage‹ (»moral charge« 18) als ein ›nicht-moralisches Ressentiment‹ (»nonmoral resentment« 20) des Gottes.361 Cairns ist darin zuzustimmen, dass die Hybris des Kroisos einen entscheidenden Faktor darstellt, der für den nachfolgenden Eingriff der Gottheit in hohem Maß mitverantwortlich ist. Wie Cairns selbst in seiner Formulierung andeutet (22), ist es jedoch nicht die Hybris allein, sondern auch der Reichtum als solcher, der die Gottheit herausfordert. Beim Phänomen des Phthonos spielen offenbar beide Aspekte eine Rolle. Die Gottheit schreitet bei Herodot in der Regel dann ein, wenn jemand übermäßigen Erfolg hat und diesen Erfolg zur Schau stellt, sich damit brüstet sowie sich anmaßend gegen Gott und Mensch verhält.362 Für die Beurteilung der Frage, ob das Einschreiten der Gottheit eher im Sinn einer ›moralischen‹ Bestrafung des menschlichen Fehlverhaltens zu verstehen ist oder als bloßes Ressentiment gegen menschliches Glück, scheint jedoch nicht der Referenzpunkt des göttlichen Grolls entscheidend zu sein, sondern die Begründung. Mit anderen Worten: Es ist nicht danach zu fragen, ob der Phthonos eher auf die Hybris oder auf den Erfolg als solchen gerichtet ist, vielmehr gilt es, die Intention und Motivation des göttlichen Vorgehens zu untersuchen. Wie insbesondere in der Artabanus-Rede (7, 10, d–e) deutlich wird, ist das Eingreifen der göttlichen Macht bei Herodot in dem Bestreben begründet, den eigenen Rang zu behaupten. Der Gott wacht eifersüchtig darüber, dass die bestehenden Rangunterschiede beachtet werden und unverändert erhalten bleiben. Er ist argwöhnisch, wenn einer der Sterblichen zu herausragender Größe und Macht aufsteigt (»denn der Gott liebt es, alles zu stürzen, was herausragt«) und ist bis aufs Äußerste gereizt, wenn die göttliche Überlegenheit in 359 Fisher (1992, 362) bemerkt zwar bei Herodot auch ›moralisierte‹ Formen des Phthonos und unterscheidet in Bezug auf Herodot sowie andere klassische Autoren zwischen »moralised, unmoralised or ambiguous versions«; im Falle des Kroisos (1, 34, 1) sieht er jedoch keinen Hinweis auf die Bestrafung eines Fehlverhaltens, also auf einen ›moralisierten‹ Phthonos. 360 Für einen versittlichten Phthonos bei Herodot hat auch Scardino (2007, 104–106) argumentiert. 361 Fisher (2002, 218) hat gegen diese Deutung das Argument vorgebracht, dass die als göttliche Reaktion auf ein menschliches Fehlverhalten verstandene Nemesis disproportioniert ist und in keinem Verhältnis zu Kroisos’ Verfehlung steht. 362 Vgl. z. B. die Artabanus-Rede 7, 10, 5 und die Themistokles-Rede 8, 109.

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Frage gestellt und der exklusive Rang des Gottes angegriffen wird (»denn der Gott duldet nicht, daß ein anderer außer ihm stolz ist« Übers. J. Feix).363 Bei aller Distanzierung und Entfernung von der homerischen Göttervorstellung ist diese bei Herodot nach wie vor präsent. Es ist das Menschlich-Allzumenschliche, das auf die Gottheit projiziert wird. Von einem geläuterten Phthonos kann hier kaum die Rede sein.364 Folglich ist auch beim Zusprechen von ›Moralität‹ alle Vorsicht geboten. Nachdem Herodot in 1, 34, 1 von der Nemesis des Gottes berichtet hat, schildert er im Folgenden die genaueren Umstände des Unglücks. Wir erfahren das Drama der Ankündigung der Ereignisse im Traum, des von Kroisos unternommenen Versuchs, das Unglück durch Vorsichts- und Sicherungsmaßnahmen zu verhindern und des schließlichen Eintreffens des unvermeidbaren Übels: Atys, der Sohn des Kroisos, wird auf einer Eberjagd von Adrastos, einem Phryger, der unvorsätzlich Brudermord begangen hat und von Kroisos entsühnt und am Hof aufgenommen worden war, versehentlich getötet. Der Tod seines Sohnes trifft Kroisos tief. Er »war außer sich« (1, 44, 1; Übers. W. Marg), völlig verstört, »wund und weh von dem Unglück« (1, 44, 2; Übers. W. Marg). Der tiefe Schmerz des Königs wird für den Leser unmittelbar nachvollziehbar durch die Hintergrundinformation, dass der zweite Sohn taubstumm und damit untauglich war (1, 34, 2). Atys war sozusagen der einzige Erbe365, der die Zukunft der Dynastie verkörperte. Mit seinem Tod stand die Nachfolge des Reiches auf dem Spiel. Der Lyderkönig ist also an einer empfindlichen Stelle getroffen worden. Kroisos’ Reaktion auf den Tod des Atys verläuft dreistufig. Nachdem er zunächst im Affekt und unter Anrufung von Zeus bittere Vorwürfe gegen Adrastos erhebt, den er doch entsühnt und wie einen Sohn aufgenommen und der nun dieses Gute durch solch ein schlimmes Übel vergolten hat (1, 44), kommt es nach der unmittelbaren Begegnung mit dem Mörder zu einer Veränderung des affektiven Zustands und zu einer ersten intellektuellen Verarbeitung des Geschehens. In einer ergreifenden Ansprache (1, 45, 1) stellt sich Adrastos als ein vom Unglück verfolgter Mann dar, der nun das zweite Mal einen anderen Menschen unvorsätzlich getötet hat und der darüber hinaus mit dieser Tat ausgerechnet seinem Wohltäter größten Schaden zugefügt hat. Er bittet Kroisos, 363 Zieht man diese Motivation in Betracht, so trifft es eben keineswegs zu, dass derjenige die göttliche Missgunst »nicht zu fürchten [braucht], der sich selbst bescheidet und sich frei von Schuld weiß« (Pohlenz 1961, 119). Zwar hat der Mensch durch die Realisierung von Zurückhaltung, Bescheidenheit und Verzicht größere Chancen, dem Neid der Gottheit zu entgehen; die Gefahr bleibt jedoch im Falle eines erfolgreichen, von permanentem Glück geprägten Lebens immer bestehen. 364 So auch Nilsson (GGR I, 766): »Mithin liegt hier keine geläuterte Form von Religion vor.« 365 Vgl. die Aussage des Kroisos gegenüber Atys: »Du bist ja mein einziger Sohn. Der andere, der Behinderte, zählt nicht für mich« (Hdt. 1, 38, 2; Übers. Ley-Hutton).

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ihn zu töten, da das Leben für ihn nicht mehr lebenswert sei. Kroisos empfindet angesichts dieser Worte Mitleid mit Adrastos. Er vergibt ihm und verweist auf die Gottheit, die die eigentliche Schuld an dem Unglück trägt: »Doch bist nicht du mir schuld an diesem Schlimmen, nur daß du, ohne zu wollen, es ausführtest, sondern wohl einer von den Göttern, der mir auch schon lange vorher angezeigt hat, was kommen sollte« (1, 45, 2; Übers. W. Marg). In einer dritten Phase verfällt Kroisos einer tiefen, mehrjährigen Trauer, die offenbar nicht von einer weitergehenden Aufarbeitung begleitet wurde. Für den Prozess der Selbsterkenntnis ist die zweite Phase von besonderem Interesse. Das in der Begegnung mit Adrastos gewonnene deutliche Bewusstsein, dass dieser Atys unvorsätzlich getötet hat, führt Kroisos zu der Einsicht, dass Adrastos ja nur das Instrument in der Hand eines Gottes war, der das Unglück intendiert und herbeigeführt hat und insofern die eigentliche Schuld am Tod des Atys trägt. Das Mitleid mit dem vom Unglück verfolgten Mörder und die Erkenntnis der hinter der Tat wirkenden göttlichen Macht stellen zweifellos eine humane Leistung sowie einen Fortschritt in der Ursachenklärung dar ; von einer Selbsterkenntnis und einer entsprechenden Modifizierung der vorherigen Einstellung kann hier jedoch noch keine Rede sein.366 Weder stellt Kroisos eine Beziehung zur Solon-Rede her367 noch erkennt er seine Mitschuld am Tod des Sohnes.368 Kroisos vollzieht lediglich den Schritt von der Fixierung auf das Individuum, das die Tat ausgeführt hat, zur Einsicht in die göttliche Wirkursache. Eine weitergehende Erforschung der Ursachen- bzw. Schuldfrage erfolgt hier nicht.369 Man kann insofern von einer zweiten verpassten Chance des Erwerbs 366 Anders Stoessl (1959, 484), Erbse (1992, 17), Visser (2000, 18 u. 22), die in der Einsicht in die göttliche Verursachung des Unglücks eine Erkenntnis der menschlichen Schwäche und Abhängigkeit sowie eine Anerkennung des unausweichlich sich vollziehenden Götterwillens sehen. Damit wird m. E. die von Kroisos erlangte Einsicht überbewertet. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass hier eine über das besondere Ereignis hinausgehende allgemeine Einsicht gewonnen wird. Kroisos’ Erkenntnis des Gottes als Urheber bleibt rein situationsbezogen und stellt keine Aussage über das allgemeine Wirken des Göttlichen oder über das allgemeine Verhältnis zwischen Mensch und Gott dar. Ebensowenig plausibel ist die Deutung von Scardino (2007, 93), der Kroisos’ Erleben der Unbeständigkeit des menschlichen Glücks mit einer entsprechenden Einsicht verbindet, die allerdings »weder vollständig noch von Dauer sei«. Scardino übersieht die Differenz zwischen Erfahrung und intellektueller Verarbeitung, die an dieser Stelle von Kroisos noch keineswegs geleistet wird. 367 So auch Stahl (1975, 8). Das jetzt eingetretene Unglück, das exakt dem von Solon angeführten Beispiel einer Person entspricht, die zwar über großen Reichtum verfügt, aber dennoch unglücklich ist, weil sie den Verlust der Nachkommen hinnehmen muss (1, 32, 5– 6), hätte für Kroisos Anlass sein können, die Wahrheit der ganzen Solon-Rede einzusehen und die damals verweigerte Selbsterkenntnis zu erlangen. 368 So auch Schulte-Altedorneburg (2001, 143f.) und Löffler (2008, 20f.) Vgl. auch Kirchberg (1965, 16) und Bichler (2000, 248). Schulte-Altedorneburg sieht hier dieselbe Uneinsichtigkeit, die Kroisos schon im Solon-Gespräch hat erkennen lassen. 369 Löffler (2008, 19) erkennt bereits bei der Deutung des Traumes (1, 34, 1–2), der den Tod des

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der Selbsterkenntnis sprechen.370 Gleichwohl ist die Atys-Episode eine wichtige Etappe in dem von Herodot dargestellten Erkenntnisprozess. Kroisos ist existenziell erschüttert und macht eine Leiderfahrung, die seine vorherige Glücksgewissheit in einer ersten Weise beschränkt. »Für den Glücklichsten kann er sich nicht mehr halten«, wie Marg (1982, 292) richtig bemerkt hat. Da er es jedoch versäumt, das Unglück intellektuell aufzuarbeiten, hat die Leiderfahrung keine weiteren Auswirkungen auf sein Denken und Handeln. Die Neigung zur Selbstüberschätzung und die übermäßige Zuversicht bezüglich des Erfolgs und des Gelingens seiner politisch-militärischen Unternehmungen bleiben bestehen. Sie manifestieren sich in den zahlreichen Fehlleistungen, die Kroisos im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung des Krieges gegen Kyros vollbringt, und tragen entscheidend zu dessen Scheitern bei. Inwiefern sich die schon im Solon-Gespräch offenbar gewordene und nach dem Atys-Tod im Wesentlichen beibehaltene Hybris auch im Perserfeldzug zeigt, soll hier nur kurz angedeutet werden. Kroisos, der zwei Jahre in Trauer um seinen Sohn passiv verharrt hatte, wird aktiv, als ihn die Nachricht vom Sturz des Astyages durch den Perserkönig Kyros erreicht. Durch die anwachsende Macht der Perser beunruhigt, erwägt Kroisos einen Präventivkrieg, der freilich von Anfang an, wenn auch zunächst noch untergründig, vom Expansionsdrang (vgl. 1, 73, 1) mitbestimmt wird.371 Um sich der Zustimmung und des Beistands der Gottheit zu vergewissern372, konsultiert Kroisos das delphische Orakel.373 Nach einem Testorakel374, das die Zuverlässigkeit des Orakels prüfen sollte, und der Spendung von großzügigen Opfergaben, mit denen Kroisos Apollon für sich

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Atys prophezeit, eine versäumte Ursachenforschung: »Er [sc. Kroisos] stellt keine Frage nach der Ursache und Bedeutung des Traums. […] Er zieht nicht in Betracht, dass seine Interpretation unzureichend sein könnte.« Vgl. Schulte-Altedorneburg (2001, 139). So auch Bischoff (1932, 35 u. 37), Kirchberg (1965, 17) und Bichler (2000, 248). Vgl. auch Heuss (1995, 79). Wie insbes. Kirchberg (1965, 17) hervorgehoben hat, war Kroisos nicht offen für einen Rat, sondern suchte lediglich nach göttlicher Bestätigung seines bereits gefassten Kriegsentschlusses. Ähnlich Heuss (1995, 85), der meint, dass Kroisos von vornherein auf Propaganda für seine Kriegspolitik zielte und mit der Orakelaktion den »Wind öffentlicher Zustimmung einzufangen« gedachte. Die Konsultation des Orakels ist keineswegs ein Zeichen dafür, dass Kroisos aus seiner Unglückserfahrung gelernt hat, wie z. B. Visser (2000, 18) und Schulte-Altedorneburg (2001, 145) meinen. Vielmehr entspricht dies dem im 6. Jh. v. Chr. üblichen Vorgehen bei wichtigen politischen und militärischen Entscheidungen. So auch Kirchberg (1965, 17). Zur Historizität dieses Orakels vgl. Parke/Wormell (1956, I, 132f.), Wormell (1963), Heuss (1995, 82), Fontenrose (1978, 113), Parke (1984, 216f.), Erbse (1992, 20 Fußn. 15), Högemann/Oettinger (2008, 8). Die meisten der genannten Autoren halten das Orakel für nichtauthentisch (Parke sieht darin eine Erfindung der delphischen Priester). Nur Myers und Heuss plädieren für eine Authentizität, Wormell schlägt eine vermittelnde Sichtweise vor.

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einzunehmen gedachte (1, 50, 1)375, wendet er sich mit der Anfrage an den delphischen Gott, ob er einen Feldzug gegen die Perser unternehmen solle und ein Heer von Verbündeten für sich gewinnen könne (1, 53, 1–2). Die berühmte Antwort der Pythia lautete, dass Kroisos ein großes Reich zerstören werde, wenn er den Feldzug unternehme (1, 53, 3).376 Hinsichtlich der zweiten Frage gab sie den Rat, die Mächtigsten unter den Griechen zu finden und als Verbündete zu gewinnen (1, 53, 3).377 Kroisos’ Reaktion auf das Orakel war nach Herodots Schilderung von Siegesgewissheit bestimmt. Der Lyderkönig sah sich in seiner Kriegsoption bestätigt und glaubte an einen Sieg über die Perser (1, 54, 1).378 Das Ausbleiben jeglichen Nachdenkens über Sinn und Bedeutung des Spruchs und die Verkennung des so offenkundig zweideutigen379 Orakels als eindeutige Aussage zu Kroisos’ Gunsten ist zum einen in dem vorher gefassten Kriegsentschluss begründet sowie in dem Glauben an eine durch Weihgeschenke und Opfergaben erkaufte Gunst des Gottes, die sich nach Kroisos’ Auffassung nur in zustimmenden, ihn bestätigenden Aussagen niederschlagen konnte.380 Zum anderen aber ist die Reaktion Ausdruck jener Haltung, die sich bereits im SolonGespräch gezeigt hatte: einer vom Wunschdenken bestimmten Wirklichkeitssicht und einer zu großen, auf den früheren militärischen Siegen basierenden Erfolgssicherheit. Kroisos zieht auch nicht ansatzweise in Erwägung, dass der Spruch das Lyderrreich meinen und er also scheitern könnte. Dieselbe unbesonnene Haltung zeigt sich auch im Umgang mit dem dritten eingeholten Orakel und dem Sandanis-Rat. Der dritte Orakelspruch381, der eine 375 Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass Kroisos’ Umgang mit dem Orakel eine höchst fragwürdige Frömmigkeit darstellt. Vgl. Kirchberg (1965, 18), Visser (2000, 18–20), Bichler (2000, 248–250), Schulte-Altedorneburg (2001, 145–148). Visser (2000, 23) meint, dass Kroisos »Apollon nicht als Gott [behandelt], sondern als einen mächtigen Herrscher, mit dem man politische Geschäfte machen kann«. 376 Zur Historizität des Feldzugsorakels vgl. Parke/Wormell (1956, I, 133f.), Heuss (1995, 83), Fontenrose (1978, 114), Erbse (1992, 18), Schwabl (2004, 47 Fußn. 33). Nach Fontenrose (1978, 114) ist das Orakel »clearly a post eventum composition«. Heuss, Erbse und Schwabl hingegen halten es für authentisch. 377 Zu diesem zweiten Teil des Orakelspruchs sehr erhellend Kirchberg (1965, 20f.). Kirchberg zeigt auf, dass die eindeutige Auskunft auf die zweite Frage des Kroisos keineswegs eine Aufhebung der Zweideutigkeit der ersten Aussage bzw. eine absichtliche Irreführung darstellt. 378 Im Folgenden wird wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Auslegung eine Fehldeutung war und Kroisos das Orakel missverstanden hat. Vgl. Hdt. 1, 71, 1; 73, 1; 75, 2; 86, 1; 91. 379 Anders Heuss (1995, 84), der das Orakel für eindeutig hält und damit Kroisos entlastet. Delphi wie auch die gesamte griechische Öffentlichkeit hatten, so Heuss, keinen Zweifel daran, dass Kroisos einen Sieg über die Perser erringen würde. So auch Högemann/Oettinger (2008, 9f.). Zur Zweideutigkeit des Orakels vgl. Parke/Wormell (1956, I, 133f.). Nach Aristoteles (rhet. 1407a37) war das Feldzugsorakel das zweideutige Orakel par excellence. 380 So auch Kirchberg (1965, 19), Visser (2000, 22) u. Schulte-Altedorneburg (2001, 146). 381 Auf die Frage des Kroisos, ob seine Herrschaft lange währen würde, antwortete die Pythia:

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eindeutige Warnung vor dem Perserkönig enthält382, wird von Kroisos in einer wörtlichen Auslegung als Bestätigung seiner Erwartung einer dauerhaften Herrschaft aufgefasst383 und damit gründlich missverstanden. Der kurz vor Beginn des Perserfeldzuges an ihn gerichteten Rede des weisen Sandanis (1, 71, 2–4), der ihn ebenfalls vor den Persern warnt und von dem Feldzug abrät, schenkt Kroisos keinerlei Beachtung. Die Tatsache, dass Kroisos auch die deutlichen, ganz offenkundigen Warnungen überhört, ist durch die Wirkung des vorherigen Orakelspruchs zu erklären. Die vermeintliche Bestätigung des Gottes hat in dem Lyderkönig einen Zuwachs der ohnehin schon übermäßig ausgeprägten Erfolgsgewissheit und Selbstsicherheit bewirkt.384 Diese Potenzierung der vorhandenen Fehlhaltung macht ihn völlig blind für reale Gefahren und führt im Kriegsverlauf zu folgenreichen Fehleinschätzungen.385 Die Überschätzung der eigenen Potenzen zeigt sich zum einen in dem übereilten Kriegsbeginn. Kroisos startet eine Offensive gegen die Perser, ohne das Eintreffen der Truppen der Bündnispartner abzuwarten.386 Zum anderen aber kommt es nach der ersten unentschiedenen Schlacht zu einer gravierenden Fehlentscheidung. Kroisos zog sich nach Sardes zurück, um dort im Verlauf des Winters die alliierten Streitkräfte zu versammeln und dann im Frühjahr mit einem größeren Heer die Perser erneut anzugreifen. Sein eigenes Heer, das aus Söldnern bestand, löste er einstweilen auf, »da er keinesfalls erwartete, Kyros werde jemals nach einem so unentschiedenen Ausgang des Kampfes gegen Sardes ziehen« (1, 77, 4; Übers. Ley-Hutton). Dies sollte sich als fundamentale Unterschätzung der Kampfstärke und Entschlusskraft der Perser erweisen.387 Kyros zog mit seinem Heer nach

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»Wenn ein Maulesel König der Meder wird, dann, zartfüßiger Lyder, musst zum Hermos mit den vielen Steinen du fliehen und nicht zögern, dich auch nicht scheuen, feige zu sein« (1, 55, 2; Übers. Ley-Hutton). Kroisos’ Reaktion schildert Herdodot wie folgt: »Kroisos freute sich über diese Worte […], da er glaubte, niemals werde ein Maulesel statt eines Mannes König der Meder sein – und weder er selbst noch seine Nachkommen würden je die Herrschaft verlieren« (1, 56, 1; Übers. Ley-Hutton). Zur Historizität des Orakels vgl. Heuss (1995, 89), Fontenrose (1978, 114), Bichler (1988), Erbse (1992, 18), Schwabl (2004, 45). Das Orakel wird zumeist als nachträgliche Fiktion gewertet. Zur Deutlichkeit der Warnung vgl. Schwabl (2004, 45). Stahl (1975, 9) hat darauf hingewiesen, dass diese Erwartung gegen »Solon’s and Herodotus’ words about the average instability of human affairs« verstößt. Kroisos hat also nichts aus seiner Leiderfahrung gelernt. So auch Scardino (2007, 95): »infolge seiner Fehleinschätzungen und seiner Selbstsicherheit, die durch die Orakelbefragung noch gestiegen war, erwies er sich als unfähig, auf guten Rat zu hören«. Ähnlich Schulte-Altedorneburg (2001, 149). Vgl. Schulte-Altedorneburg (2001, 150f.). Stahl (1975, 10) spricht von der »discrepancy between reality and Croesus’ concept of it«. Herodot »envisages the theme of subjective (and wishful) thinking versus the objective (but unrecognized) truth of the facts«. Zu Kroisos’ Fehlentscheidungen im Kriegsverlauf vgl. auch Löffler (2008, 34–35). Vgl. Heuss (1995, 79). Vgl. Bichler (2000, 251).

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Sardes und belagerte nach einer Feldschlacht die lydische Metropole. Nach 14 Tagen gelang es ihm, die Mauer einzunehmen und die Stadt zu stürmen. Kroisos fiel in die Hände des Siegers. Er hatte, so Herodots Kommentar, »gemäß dem Orakelspruch sein eigenes großes Reich zerstört« (1, 86, 1; Übers. Ley-Hutton).

e)

Einsicht in die Unbeständigkeit des menschlichen Glücks – die Scheiterhaufenszene (1, 86–89)

Nach der Gefangennnahme wurde Kroisos zu Kyros geführt, der einen großen Scheiterhaufen errichten und Kroisos, an den Füßen gefesselt, zusammen mit 14 Lydersöhnen hinaufführen ließ.388 Einer der möglichen Beweggründe für dieses Tun war, so Herodot, die Erkundung, ob einer der Götter Kroisos vor dem Flammentod retten würde (1, 86, 2). Hatte Kyros doch erfahren, dass Kroisos ein frommer (heoseb¶r) Mann war.389 Als Kroisos auf dem Scheiterhaufen stand, kam ihm der Ausspruch Solons in den Sinn, »gerade so, als ob er ihm [sc. Solon] durch göttliche Eingebung gesagt worden sei, nämlich dass keiner, solange er lebe, glücklich (ekbior) sei« (1, 86, 3; Übers. Ley-Hutton). Durch die Darstellung von bestimmten Folgereaktionen – wie tiefes Atmen, Seufzen, langes Schweigen und schließlich das dreimalige Anrufen des Solon – deutet Herodot an, dass Kroisos in diesem Moment eine fundamentale Einsicht gewinnt, die ihn ganz erfasst und bewegt. Im Gegensatz zur Atys-Episode, die Kroisos zwar erschüttert hat, aber noch keine letzte Nötigung zur Einsicht darstellte, ist Kroisos jetzt, nach dem Verlust aller Güter und in Anbetracht des bevorstehenden Todes gezwungen, den bisherigen Glücksanspruch aufzugeben. Angesichts des eigenen üblen Geschicks wird die Wahrheit des solonische Ausspruchs, dass man niemanden vor dem Ende seines Lebens glücklich (ekbior) nennen dürfe (vgl. 1, 32, 7), erkannt.390 Da dieser Satz im Solon-Logos als Folge der Unbeständigkeit des menschlichen Seins angeführt wird, kann hier unterstellt werden, dass Kroisos die allgemeine Wahrheit über die menschliche Kondition miterfasst und damit eine Selbsterkenntnis im apollinischen Sinn erlangt.391 388 Erbse (1992, 21) sieht in den folgenden Ausführungen den »Höhepunkt des ganzen Logos«. Ähnlich Stoessl (1959, 486). 389 Kyros’ Verhalten bezeugt eine ähnliche Unfrömmigkeit wie Kroisos’ Erprobung der Orakel (vgl. 1, 46–49). So auch Bichler (2000, 252 Fußn. 140), der von einer »mutwilligen Erprobung des Götterwillens« spricht, »mit der sich Kyros nicht anders verhält als vordem Kroisos«. Die Kunde von Kroisos’ Frömmigkeit bezieht sich auf dessen Orakelanfragen und die unzähligen Weihgeschenke und Opfergaben (vgl. Hdt. 1, 50–52). 390 Deutet man die von Kroisos herausgehobene Quintessenz der Solon-Rede in diesem Sinn, so löst sich die von Pelling (2006, 158) beobachtete Differenz zwischen Kroisos’ Wiedergabe und den ursprünglichen solonischen Worten auf. 391 Eine Verknüpfung von Kroisos’ Einsicht mit der vom delphischen Gott geforderten

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Kyros, durch die Anrufung des Solon neugierig geworden, stellt an Kroisos die Frage, wen er rufe. Wiederum wird durch das tiefe Schweigen und die mehrmalige Nötigung zur Antwort darauf hingedeutet, dass sich Kroisos in einem existenziell bedeutsamen Erkenntnisprozess befindet. Auch die Antwort, die er endlich gibt, zeugt von einer völligen Versunkenheit in die eigenen Gedanken: »Ich hätte viel Geld dafür ausgegeben, daß er [sc. Solon] mit allen Herrschern ins Gespräch gekommen wäre« (1, 86, 4; Übers. J. Feix). Der Gedanke lässt eine Blickwendung erkennen, die den zukünftigen Warner ankündigt. Nachdem Kroisos die Wahrheit der solonischen Rede erkannt hat, führt ihn jetzt die Allgemeingültigkeit dieser Wahrheit zur Hinsicht auf die anderen Menschen und zwar in dem Sinn, dass das Unglück, das ihm selbst geschehen ist, jeden anderen Herrscher auch treffen kann und insbesondere die Mächtigen einen solonischen Warner und Mahner benötigen. Die Aussage, dass er viel Geld (lec²kym wqgl²tym) dafür aufgewendet hätte, ist insofern bemerkenswert, als sie anzeigt, dass jetzt ein ganz neues Element in Kroisos’ Wertesystem Eingang gefunden hat, nämlich Einsicht und Weisheit392, für die er bereit ist, Teile seines zuvor als höchsten Glücksfaktor angesehenen Reichtums zu opfern.393 Auf Kroisos’ Worte reagieren die Perser mit Unverständnis und Nachfragen. Die nun folgende Reflexion auf die Solon-Begegnung ist eine Explikation dessen, was der kundige Leser, der um die Vorgeschichte weiß, bereits kennt. Kroisos erzählt zunächst von Solons Besichtigung seines Reichtums und dessen unbeeindruckter Haltung.394 Er geht im Anschluss daran auf den prophetischen Charakter der Solon-Rede ein (»wie alles so für ihn gekommen sei, wie jener es gesagt« 1, 86, 5; Übers. W. Marg) und thematisiert schließlich die gemeinten Adressaten: »wobei Solon nicht so sehr ihn selbst gemeint habe, sondern das Selbsterkenntnis findet sich auch bei Stoessl (1959, 485f.): »Der Einfluß Delphis auf diese Erzählung ist unverkennbar : der delphische Gott rettet Kroisos durch ein Wunder, und das ganze Geschehen wirkt wie eine Exemplifizierung des delphischen Gebotes cm_hi sautºm«. Immerwahr (1966, 85) spricht zwar von der gewonnenen Selbsterkenntnis, aber stellt keinen Bezug zu Delphi her : »The central idea of the whole is Croesus’ self-recognition through learning from suffering«. 392 Freilich besaß die Weisheit (sov¸g) für Kroisos auch früher schon einen gewissen Wert (vgl. Hdt. 1, 29–30). Allerdings war er damals mehr an einem äußeren Bildungswissen als an einer existenziellen Einsicht interessiert. 393 So auch Pelling (2006, 157 Fußn. 61), der hier »a preference for a whole new perspective« sieht und nicht »a forcing of a new insight into the same value-scheme« wie Kurke (1999, 160) meint. 394 Die Aussage – ja· hegs²lemor p²mta t¹m 2yutoO ekbom !povkauq¸seie (1, 86, 5) – bezieht sich auf den ersten Teil des Solon-Gesprächs, wo Solon Tellos und Biton & Kleobis als die Glücklichsten bezeichnet hatte. Kroisos hatte diese Bevorzugung als Geringschätzung und Abwertung seines auf Reichtum und Macht basierenden Glücks empfunden. Vgl. Hdt. 1, 32, 1.

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ganze Menschengeschlecht und in erster Linie diejenigen, die sich selbst für glücklich halten« (1, 86, 5; Übers. Ley-Hutton).395 Kyros gerät aufgrund von Kroisos’ Erzählung ins Nachdenken und revidiert in der Folge seinen Entschluss, diesen auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Die Überlegungen, die Kyros anstellt, werden in der Forschung häufig im Sinn einer überspringenden Selbsterkenntnis gewertet und mit der von Kroisos erlangten Einsicht auf eine Stufe gestellt oder dieser gar übergeordnet.396 Dagegen hat Shapiro (1994) zu Recht eingewendet, dass Kyros’ Einsicht nicht in der eigenen Leiderfahrung wurzelt und damit der existenziellen Tiefe und Ernsthaftigkeit der von Kroisos erlangten Erkenntnis ermangelt. Der Bericht von Solons Worten habe auf ihn »only a temporary and superficial effect« (353).397 Das ist im Grunde richtig, man kann jedoch die Differenz noch weiter ausformulieren. Kyros stellt insgesamt zwei Überlegungen an. Er fasst zunächst den Gedanken, »dass er, selbst ein Mensch, einen anderen Menschen, der ihm an Glück nicht nachgestanden hatte, lebend dem Feuer übergeben wollte« (1, 86, 6; Übers. Ley-Hutton). Dies lässt sich als humaner Akt deuten, als Manifestation einer Mitleidsethik, die aus der Einsicht in die grundsätzliche Gemeinsamkeit der menschlichen Situation erwächst.398 Ausschlaggebend für das Mitgefühl dürfte allerdings die eingefügte Spezifizierung sein. Kyros sieht in Kroisos den ehemals ranggleichen Menschen und stellt damit den Bezug zu sich selbst her, der wohl letztlich die plötzliche Milde begründet. Die zweite Überlegung bezieht sich auf eine mögliche göttliche Vergeltung der geplanten Tötung des Kroisos:399 »er habe außerdem eine Strafe (t¸sir) befürchtet und erwogen, dass nichts im menschlichen Leben sicher sei« (1, 86, 6; Übers. Ley-Hutton). Der hier formulierte Gedanke der Unstetigkeit und Unsicherheit der Menschendinge400 ist der 395 Bischoff (1932, 37) sieht in dieser Rede bereits den Warner. Vgl. auch Stahl (1975, 13), Schulte-Altedorneburg (2001, 151) u. Pelling (2006, 158): »Croesus becomes teacher as well as learner«. 396 Vgl. Hellmann (1934, 107), Stoessl (1959, 486), Stahl (1975, 14–16), Arieti (1995, 103), Pelling (2006, 159). Hellmann meint, dass Kyros’ Einsicht über die des Kroisos hinausgehe. Ähnlich Pelling (2006, 159): »He [sc. Cyrus] too echoes Solon, and in part reverts more closely to Solon’s words than anything in Croesus’ outburst«. 397 So bereits Bischoff (1932, 39 u. 43). Kyros erlange nur eine situationsbedingte Erkenntnis, aber noch kein eigentliches Wissen. 398 Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Humanität und Selbsterkenntnis findet sich bei Sophokles, in der Odysseus-Einsicht des Aias (121ff.). 399 Ein entscheidender Faktor bei der Entstehung dieses Gedankens ist sicherlich auch das Verhalten des Kroisos, das seinen Ruf eines frommen, gottgeliebten Mannes (1, 86, 2) zu bestätigen scheint. 400 Schwabl (2004, 56 Fußn. 53) sieht hier ganz richtig eine Nähe zu den in 1, 5, 4 und 1, 207, 2 formulierten Sentenzen: »Offenkundig bilden die drei Stellen eine Motivkette, mit der – sinngebend für den Gesamtzusammenhang – die Kyrosgeschichte an die Kroisosgeschichte geknüpft wird«.

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Kroisos-Einsicht zwar durchaus konform, dennoch handelt es sich um eine differente Einsicht, da der Gedanke bei Kyros ein Argument innerhalb eines Nutzenkalküls darstellt und damit instrumentalisiert wird. Die von Kyros angestellte Nutzenüberlegung besteht in der Kalkulation, dass es besser ist, auf die Genugtuung und den Triumph über Kroisos zu verzichten, als die Vergeltung der Gottheit zu erfahren, die ihm den Verlust sämtlicher Güter einbringen könnte.401 Kyros ist somit weit davon entfernt, die Solon-Einsicht in ihrem ganzen Ausmaß zu verstehen und in einem tieferen Sinn zu erfassen. Es handelt sich insofern keineswegs um einen ›Rückfall in die alte Blindheit‹402, wenn Kyros später ein maßloses Denken und Handeln realisiert. Vielmehr ist das spätere Verhalten ein Hinweis darauf, dass er die Selbsterkenntnis nicht wirklich erreicht hat. Nachdem Kyros seine Meinung geändert hatte, befahl er, das Feuer zu löschen und Kroisos vom Scheiterhaufen heruntersteigen zu lassen. Die Flammen hatten sich jedoch bereits so stark ausgebreitet, dass das Feuer nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden konnte. In dieser Situation habe Kroisos, so erzählt Herodot unter Berufung auf einen Bericht der Lyder (1, 87, 1), Apollon angerufen und um Beistand und Rettung aus der Not gefleht. Das Wunder geschah: Es brach ein Unwetter mit heftigen Regengüssen herein, wodurch das Feuer gelöscht wurde. Wie in der Forschung schon oft betont worden ist403, hat die Geschichte von der wundersamen Errettung des Kroisos, die im Kontrast zur historischen Wirklichkeit steht404, eine bestimmte Funktion innerhalb des auf den delphischen Gott konzentrierten Kroisos-Logos. Für Fortgang und Höhepunkt der Geschichte ist es eben nicht nur wichtig, dass Kroisos überhaupt am 401 Das übersieht Löffler (2008, 40f.), wenn er von drei verschiedenen Gründen spricht, die Kyros zur Aufhebung seiner Entscheidung bewogen: »Der erste Grund ist Kyros’ reflexive Erkenntnis, dass er selbst ein Mensch ist und einem anderen Menschen, der auf gleicher Stufe mit ihm steht, das Leben durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen nehmen möchte. Den zweiten Grund bildet die Angst vor Strafe der Götter. Der dritte Grund ist die Überlegung, nichts sei unter Menschen von Bestand«. 402 So Stahl (1975, 21f.) Vgl. auch Harrison (2000, 44) u. Pelling (2006, 165f.). Löffler (2008, 41 Fußn. 103) beobachtet eine widersprüchliche Darstellung des Kyros: »Kyros’ Erkenntnis seines Mensch-Seins steht in Widerspruch zu den Gründen, die Herodot in 1, 204 für den Angriff von Kyros auf die Massageten nennt: sein auf seiner Herkunft beruhender Glaube, ›mehr zu sein als ein Mensch‹ und sein Kriegsglück, das ihm zuteil sei.« Zieht man die Äußerlichkeit der in 1, 86 erlangten Einsicht in Betracht, so erweist sich der Widerspruch als scheinbarer. 403 Vgl. Heuss (1995, 91), Erbse (1992, 22f.), Duplouy (2000, 34), Schwabl (1969, 260) (2004, 52 Fußn. 44). Zur Darstellung von Kroisos’ Rettung bei Bakchylides (epin. 3, 22–62 Maehler) vgl. Segal (1971), Burkert (1985, 10–12), Duplouy (2000), Schwabl (2004, 49–53). Bei Bakchylides wird Kroisos durch Entrückung zu den Hyberboreern gerettet: »Nichts ist unglaublich, was der Götter Wille / schafft: damals trug der Delos-geborene Apollon / den Greis zu den Hyperboreern« (3, 57–59; Übers. H. Maehler). 404 Vgl. Burkert (1985). Burkert hat anhand der Quellen nachgewiesen, dass der historische Kroisos bei der Eroberung von Sardes (547 v. Chr.) im Auftrag des Kyros getötet worden ist.

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Leben bleibt, sondern dass es Apollon ist, der ihn errettet. Von der Vorgeschichte her erscheint es plausibel, dass Kroisos gerade diesen Gott anruft.405 War doch Apollon aufgrund der vorgenommenen Orakelbefragungen seit der Phase der Kriegsplanung mit dem Geschick des Lyderkönigs in besonderer Weise verbunden. Zudem glaubte Kroisos aufgrund seiner Opfergaben ein Anrecht auf göttliche Hilfe zu haben. Kroisos verweist bei der Anrufung des Apollon explizit auf die von ihm geleisteten Gaben und Weihgeschenke (1, 87, 1) und fordert damit in gewisser Weise die Gegenleistung ein.406 Die Rettung des Kroisos war für Kyros ein Beweis, dass Kroisos ein gottgeliebter (heovik¶r) und guter Mann (!mµq !cahºr) ist. Er ließ ihn vom Scheiterhaufen herunterholen und fragte ihn nach dem Grund seines gegen die Perser unternommenen Feldzuges. Kroisos’ Antwort ist der Versuch einer Selbstentlastung. Zunächst beschuldigt er Apollon: »Der Gott der Griechen war freilich schuld daran, da er mich aufgefordert hat, in den Krieg zu ziehen« (1, 87, 3; Übers. Ley-Hutton). Im zweiten Schritt führt er das Geschehene auf das Wirken einer Gottheit zurück: »Dass dies aber so geschah, war irgendwie einer Gottheit (da¸lym) willkommen« (1, 87, 4; Übers. Ley-Hutton). Kroisos’ Schuldzuweisung, die die eigene Mitschuld völlig verkennt und den Daimon zwar zu Recht, wie sich später herausstellt (1, 91, 1), Apollon jedoch zu Unrecht für den Krieg verantwortlich macht, ist keineswegs eine Unstimmigkeit gegenüber der vorherigen Einsicht407, wie man oftmals gemeint hat. Das fehlende Bewusstsein der eigenen Schuld zeigt vielmehr an, dass Kroisos den Prozess der Selbsterkenntnis noch längst nicht abgeschlossen hat.408 Kroisos hat zwar die Einsicht in die Unbeständigkeit und Unsicherheit des menschlichen Seins gewonnen, aber noch keine praktischen Schlussfolgerungen daraus gezogen. Die Reflexion auf das der menschlichen Kondition adäquate Verhalten und die damit verknüpfte Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens ist an 405 Kroisos bezeichnet Apollon später als den Gott, den er am meisten unter allen Göttern geehrt hat. Vgl. Hdt. 1, 90, 2. 406 Die Apollonanrufung ist nicht zuletzt darin begründet, dass dieser Gott als Helfer und Retter in der Not galt (siehe Kap. A I 1). Vgl. Schwabl (2004, 49 Fußn. 37). Schwabl verweist auf Hom. Il. 15, 254–275. 407 So Heuss (1995, 92). Ähnlich Fisher (2002, 202), der Kroisos’ Bestreitung seiner Verantwortung für den Krieg vor dem Hintergrund der unmittelbar danach geäußerten Einsicht in die verderblichen Folgen eines Krieges (1, 87, 4) für unglaubwürdig hält. Vgl. auch SchulteAltedorneburg (2001, 152): »Von einem ›Erwachen der vqºmgsir‹ auf dem Scheiterhaufen kann man angesichts dieses offenen Beweises für einen Rückfall in die alte Blindheit gegenüber einer angemessenen Selbsteinschätzung somit wohl kaum sprechen«. 408 Darauf wird im Folgenden mit dem Satz hingewiesen: »Kroisos jedoch schwieg weiter, in Nachdenken versunken« (Hdt. 1, 88, 1; Übers. Ley-Hutton). Ähnlich Bichler (2000, 25), der Kroisos’ Schuldabweisung und die nachfolgende Orakelkonsultation als »deutliches Zeichen dafür« wertet, »daß er noch keineswegs zu voller Einsicht gefunden hatte«. Vgl. auch Kirchberg (1965, 26) u. Pelling (2006, 161 Fußn. 75).

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dieser Stelle noch nicht erreicht. Ähnlich Stahl (1975, 13), der von zwei Schritten des Erkenntnisprozesses spricht: »The first concerns man’s general insecurity, the second Croesus’ specific situation and own vain actions«. Trotz der noch nicht erfolgten Handlungsreflexion wird im Folgenden bereits eine erste Änderung der bisherigen Haltung sichtbar. Die Realisierung des richtigen Verhaltens geht hier in gewisser Weise der Reflexion voraus. Nach einem erneuten langen Schweigen und einer Phase des Nachdenkens wandte sich Kroisos um und sah, dass die Perser Sardes verwüsteten und plünderten. Er gibt Kyros daraufhin einen Rat, der seine Rolle als weiser Berater des Perserkönigs konstituiert.409 Kroisos macht Kyros zunächst klar, dass die Menge der Perser nicht seinen, sondern dessen Besitz wegschleppt: »Sie plündert weder meine Stadt noch meinen Besitz. Denn ich habe keinen Anteil mehr daran. Das Deine tragen und schleppen sie fort« (1, 88, 3; Übers. Ley-Hutton). Er zeigt sodann eine Gefahr auf, die Kyros aus dieser Plünderung erwachsen könnte, nämlich ein aus Übermut (vbqir) erfolgender Aufstand der früher armen, aber jetzt plötzlich zu Reichtum und Besitz gelangten Perser, und führt im Anschluss daran aus, durch welche Maßnahme dieser Gefahr begegnet werden kann: Kyros solle den Persern an den Stadttoren die Schätze abnehmen und dieses Tun mit notwendigen Weihgaben an Zeus begründen, um sich nicht den Hass der Perser zuzuziehen. Der Unterschied zur früheren Haltung ist offenkundig. Hervorzuheben ist zunächst die Distanzierung vom eigenen Besitztum. In der nüchternen, leidenschaftslosen Bestreitung der Besitzrechte an den geplünderten Schätzen manifestiert sich zum einen eine besonnene Anerkennung der gegebenen Situation und zum anderen eine anfängliche Lösung von der bisherigen güterbestimmten Identität. Ein weiteres Indiz für eine modifizierte Haltung ist die an Kyros gerichtete Warnung410 vor einem Aufstand der Perser. Die Betrachtung der Folgen der Plünderung und die Voraussicht einer möglichen Gefahr zeugen von einer Haltung der Vorsicht und Überlegung, die Kroisos bei der Planung und Durchführung des Perserfeldzuges hat vermissen lassen. Auch der erteilte Rat, die Schätze unter Verweis auf die an Zeus zu leistende Weihgaben abzunehmen, bekundet eine Haltung der Um- und Weitsicht. Diese erste Beratung, so das Resümee, zeigt, dass sich Kroisos von der bisherigen wunschgeleiteten, zu Einseitigkeit und Realitätsverkennung neigenden Denkweise gelöst hat und in 409 Ähnlich Erbse (1992, 24): »Die Geschichte ist konzipiert als Zeugnis für die segensreiche Wirksamkeit des ehemaligen lydischen Königs, der nun zum weisen Berater geworden ist«. 410 Die Warnung ist Ausdruck einer Frömmigkeit, die eng mit der oben genannten Sophrosyne verknüpft ist. Kroisos begründet seine wohlmeinende Raterteilung mit dem Satz, dass ihn die Götter in den Dienst des Kyros gegeben hätten: »Da die Götter (heo·) mich dir zum Sklaven (doOkor) gegeben haben, halte ich es für richtig, dir kundzutun, wenn ich mehr sehe« (Hdt. 1, 89, 1; Übers. Ley-Hutton). Vgl. auch Hdt. 1, 207, 1.

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anfänglicher Weise zu einer Haltung der Sachlichkeit und Besonnenheit gefunden hat, die sich in der richtigen Einschätzung der Realität, im klugen Bedenken der Handlungsfolgen und im Erwägen des Besten in der konkreten Situation manifestiert.411

f)

Einsicht in das eigene Fehlverhalten – das apologetische Apollonorakel (1, 90–91)

Kyros freute sich über Kroisos’ Rat und forderte diesen aus Dankbarkeit auf, einen Wunsch zu äußern. Die nun folgenden Ausführungen des Kroisos sind eine Wiederholung und Verschärfung jenes Vorwurfs gegen Apollon, den er bereits zuvor in Form einer Schuldzuweisung artikuliert hatte (1, 87, 3). Kroisos bat darum, Apollon jene Fußfesseln schicken zu lassen, die er auf dem Scheiterhaufen getragen hatte, und anzufragen, »ob es für ihn ein Gebot sei, diejenigen zu täuschen, die ihm Gunst erweisen« (1, 90, 2; Übers. Ley-Hutton). Kyros gewährte diese Bitte und Kroisos sandte »Lyder nach Delphi und trug ihnen auf, die Fesseln auf die Schwelle des Tempels zu legen und zu fragen, ob sich der Gott nicht irgendwie schäme, durch seine Orakelsprüche Kroisos zu einem Feldzug gegen die Perser ermuntert zu haben« (1, 90, 4; Übers. Ley-Hutton). Er ließ zudem fragen, »ob es bei den griechischen Göttern Brauch sei, undankbar zu sein« (1, 90, 4; Übers. Ley-Hutton). Der Wortlaut der Anfrage macht deutlich, dass sich Kroisos durch Apollon getäuscht und betrogen sieht. Er hält ihm vor, dass der Gott Gutes mit Schlechtem vergolten habe. Die von einer gewissen Selbstgerechtigkeit zeugenden, voller Bitterkeit vorgetragenen Vorwürfe der Täuschung, Undankbarkeit und Ungerechtigkeit lassen wenig von der zuvor gezeigten Haltung der Besonnenheit erkennen. Es ist jedoch etwas voreilig, hier eine Unstimmigkeit in der Gestaltung der KroisosFigur412 oder einen Hinweis auf die fehlende Wandlungsfähigkeit des Kroisos zu sehen.413 Es ist durchaus nachvollzienbar, dass Kroisos zwar bei der Beurteilung von künftigen Gefahren Realitätssinn, Weitsichtigkeit und Vernunft zeigt, hinsichtlich der Einschätzung und Beurteilung des ihm zugestoßenen Unglücks jedoch noch erhebliche Defizite aufweist. Die Einsicht in die Mitverantwortung 411 Schulte-Altedorneburg (2001, 152) bemerkt richtig: »Mittels dieser sach- und situationsgemäßen Beratung nimmt Kroisos nunmehr die Funktion des Warners ein, die Bias, Solon und Sadanis seinerzeit ihm gegenüber ausgeübt hatten«. So auch Erbse (1992, 24). 412 So z. B. Heuss (1995, 92f.). 413 So Harrison (2000, 43), der meint, dass diese Verhaltensweisen »are not apparently the actions of a man who has learnt the Solonian lesson of humility and acquiescence to the divine«.

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für ein erlittenes Übel ist erfahrungsgemäß weitaus schwieriger zu erlangen, als nach einem Unglück zu einer Vorsicht im Handeln zu finden. Die lange, häufig als etwas umständlich bezeichnete Antwort414 der Pythia (91,1–6)415 beinhaltet eine umfassende Verteidigung des Apollon, die den Gott als wohlmeinende, zu Gunsten des Ratsuchenden handelnde Instanz darstellt.416 Zunächst weist die Pythia darauf hin, dass das Unglück des Kroisos eine Sühne für den Frevel seiner Vorfahren ist. Nach dem Mord an Kandaules und der widerrechtlichen Machtübernahme durch Gyges (vgl. 1, 8–13) sei vom Schicksal bestimmt worden, dass die Rache der Herakliden den fünften Nachkommen des Gyges treffen wird (vgl. 1, 13, 2). Apollon habe zwar versucht, die Moiren umzustimmen und die Vergeltung zeitlich zu verzögern, sodass erst die nächste Generation das Unglück trifft. Er habe jedoch lediglich eine Aufschiebung der Katastrophe um drei Jahre erwirken können. Durch den Zusatz, dass Apollon Kroisos außerdem vor dem Flammentod gerettet habe, wird der Nachweis einer positiven Einflussnahme auf Kroisos’ Schicksal bekräftigt. Der zweite Teil der pythischen Antwort bezieht sich auf den Hauptpunkt der Anklage, d. h. auf den Vorwurf, dass der Gott mit seinem Orakelspruch Kroisos getäuscht und in die Irre geführt habe. In einer langen Argumentation wird ausgeführt, dass sich Apollon auch hier wohlwollend und helfend dem Lyderkönig gegenüber verhalten hat. Der Spruch sei eine Warnung417 gewesen, die Kroisos jedoch nicht verstanden habe. Für dieses Missverständnis und das Versäumnis, den Sinn des Spruchs durch eine entsprechende Nachfrage an Apollon zu erschließen, sowie für die Fehldeutung des Maultier-Orakels (vgl. 1, 55) trage Kroisos selbst die

414 Heuss (1995, 92) sieht in dieser Antwort und der nachfolgenden Einsicht des Kroisos den »Höhepunkt des ganzen lydischen Logos«. 415 Zur Historizität des Orakels vgl. Parke/Wormell (1956, I), Heuss (1995, 94), Fontenrose (1978), Erbse (1992, 22), Högemann/Oettinger (2008, 10). Es wird in der Forschung davon ausgegangen, dass diese letzte Orakelanfrage des Kroisos eine Erfindung der delphischen Priesterschaft war, die zu apologetischen Zwecken in Umlauf gesetzt worden ist. 416 Dieses positive Gottesbild steht in einer gewissen Spannung zur der im Solongespräch entworfenen neidischen Gottheit. Wie schon oft gesehen wurde, ist die Inhomogenität der Vorstellungen in der Aufnahme von verschiedenen Einflüssen und Quellen begründet. Vgl. RE Suppl.-Bd. 2 (1913, 486ff.), Nilsson (GGR I, 766f.), v. Fritz (1967, I, 242). 417 Anders Hellmann (1934, 111), der im Rahmen seiner schicksalsbetonten Herodot-Auslegung die apologetische Argumentation des delphischen Gottes im Sinn einer bloßen Vorhersage der unausweichlichen Ereignisse deutet: »er [sc. Apollon] hat nicht verführt, sondern sein Orakel hat lediglich Auskunft darüber gegeben, was kommen mußte« . Diese Deutung ist angesichts des Hinweises der Pythia, dass Kroisos noch einmal hätte nachfragen müssen, wenn er einen guten Beschluss hätte fassen wollen (ew l´kkomta bouke¼eshai 1, 91, 4), wenig plausibel. Der Hinweis impliziert die Annahme der Entscheidungsfreiheit. Kroisos hätte sich nach Meinung des delphischen Orakels auch gegen den Krieg entscheiden können und damit den Verlauf seines Geschicks in irgendeiner Form geändert.

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Verantwortung (2yut¹m aUtiom).418 Die Vorwürfe gegen den Gott seien gegenstandslos. Das Apollon-Orakel, das sowohl die Schicksalsbestimmtheit als auch die Selbstverantwortung des Menschen betont, verweist auf die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Determiniertheit und menschlicher Freiheit, auf die unten noch ausführlicher einzugehen sein wird. Zunächst ist die Reaktion des Kroisos von Interesse. Herodots Darstellung fällt an dieser Stelle außerordentlich knapp aus. Er beschränkt sich auf folgenden Satz: »Als er die Worte vernommen hatte, erkannte er, dass der Fehler ("laqt¸a) sein eigener war und nicht der des Gottes« (1, 91, 6; Übers. Ley-Hutton). Kroisos erlangt jetzt also, soviel ist der Aussage zu entnehmen, jene Einsicht in die Mitverantwortung für das Unglück, die er in der Scheiterhaufen-Szene noch nicht zu erreichen vermochte. Worin das eingesehene Fehlverhalten genau besteht, lässt sich aus dem Orakel erschließen. Wenn Kroisos »einen guten Beschluss hätte fassen wollen« (ew l´kkomta bouke¼eshai), so die Pythia, hätte er »fragen müssen, ob er sein eigenes Reich meine oder das des Kyros« (1, 91, 4; Übers. Ley-Hutton). Die Fehlhaltung des Kroisos bestand demnach in einer falschen Wissensgewissheit und Urteilssicherheit, die auf eine Suche nach Sinn und Bedeutung des Spruchs verzichten zu können glaubte und das richtige Verständnis schlicht unterstellte.419 In der unterlassenen Nachforschung liegt das eigentliche Versäumnis.420 Da dieser Orakelspruch, wie so viele andere delphische Sprüche auch, keineswegs auf den besonderen Fall beschränkt ist, sondern eine allgemeine Forderung impliziert, kann man davon sprechen, dass Kroisos hier zugleich eine situationsübergreifende ethische Einsicht gewinnt. Der pythische Spruch ver418 Löffler (2008, 36) sieht darin das »wesentliche Argument der Verteidigung«. 419 Wie oben aufgezeigt, wird bei Herodot ein enger Zusammenhang zwischen falscher Wissensgewissheit und Hybris angedeutet. Kroisos’ unterlassene Nachfrage und unbedachte Orakelauslegung erscheint als Ausdruck der im Solongespräch offenbar gewordenen Grundhaltung der Hybris. So auch Kirchberg (1965, 28), die die in 1, 34, 1 als Fehlhaltung angeführte Hybris mit dem jetzigen Vorwurf der Pythia sinnvoll verknüpft. Es ist insofern durchaus plausibel, die von der Pythia benannte Fehlleistung im Sinn der Selbstverkennung bzw. der versäumten Selbsterkenntnis zu deuten, wie das in der Literatur zuweilen geschieht. Schulte-Altedorneburg (2001, 154 Fußn. 2) sieht in den von der Pythia benannten Deutungsfehlern »eine konkrete Auslegung und Erklärung des Delphischen ›cm_hi seautºm‹ […]: Die Orakel, die Kroisos erbeten und erhalten hat, sind letztlich allesamt Warnungen oder Hinweise auf die ihm – d. h. seiner Persönlichkeit bzw. seinem Denken – eigenen Möglichkeiten und Grenzen.« Angedeutet auch bei Visser (2000, 22f.). Deutlicher bei Giebel (2001, 47). 420 In der xenophontischen Variante der Kroisos-Erzählung sieht Kroisos die als Selbstverkennung verstandene Überschätzung seiner Kräfte ein: !cmo_m %qa 1lautºm, fti soR !mtipokele?m Rjam¹r ålgm eWmai […] ( Akk± mOm d¶, 5vg, § JOqe, cicm¾sjy l³m 1lautºm »Ich kannte mich selbst also nicht, weil ich glaubte, zum Krieg gegen dich stark genug zu sein [….]. Doch heute, mein Kyros, erkenne ich mich selbst« (Kyropädie 7, 2, 24–25; Übers. R. Nickel).

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weist darauf, dass ein gelingendes Handeln auf vernünftige Überlegung (vqºmgsir), Beratung (eqbouk¸a) und Suche (f¶tgla) nach der richtigen Beurteilung und Auslegung von handlungsrelevanten menschlichen und göttlichen Aussagen angewiesen ist.421 Das in der konditionellen Beschränktheit des Erkenntnisvermögens wurzelnde grundsätzliche Wissensdefizit des Menschen erfordert eine permanente Bemühung um Einsicht, eine immer wieder neu vollzogene Suche nach dem situativ Besten. Die Realisierung von Nachforschung und Frage ziemt sich nach Auffassung des Orakels in besonderer Weise im Umgang mit den Göttern, verfügen doch die göttlichen Mächte, insbesondere Apollon, über das den Menschen fehlende Wissen. Man kann hier von einer Vertiefung und Erweiterung der zuvor erlangten Selbsterkenntnis sprechen. Analog zu der im sophokleischen Aias dargestellten Erkenntnis des Odysseus (Ai. Verse 121–133) gewinnt Kroisos gleichsam im zweiten Schritt die Einsicht in das dem Menschen angemessene Verhalten. Die von der Pythia geforderte ethische Haltung scheint freilich in einer gewissen Spannung zum ersten Teil des Orakelspruchs zu stehen, in dem die Unausweichlichkeit des Schicksals betont wird. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass man dem von den Moiren verhängten Geschick (pepqyl´mg lo?qa)422 letztlich nicht entrinnen kann, scheint der Appell an die menschliche Vernunft jegliche Motivations- und Überzeugungskraft zu verlieren. Eine genaue Betrachtung des Orakelspruchs und des gesamten Kroisos-Logos zeigt jedoch, dass Herodot keinem Fatalismus das Wort redet, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen auszuloten sucht. In der Kroisos-Erzählung wird durch das Motiv der von Apollon erwirkten Rettung angedeutet, dass der Mensch – vermittelt durch göttliche Hilfe – einen gewissen Einfluss auf sein Geschick nehmen kann. Kroisos wird in der Scheiterhaufen-Szene ausdrücklich als ein frommer Mann (heoseb¶r) bezeichnet (vgl. 1, 86, 2)423, der als solcher die Hilfe des Apollon erfährt (1, 87, 2).424 Zwar können auch die Götter das Schicksal nicht völlig abwenden (1, 91, 1), es steht 421 Diese pythische Weisheit hat sich Kroisos intellektuell und existenziell angeeignet, wie die spätere Ratgebertätigkeit beweist. Vgl. insbes. den Rat an Kambyses: § basikeO, lµ p\mta Bkij_, ja· hul` 1p_tqape, !kkû Uswe ja· jatak\lbame seyut|m: !cah|m ti pq|moom eWmai, sov¹m d³ B pqolgh_g. »Herr und König, erlaube nicht alles dem Ungestüm deiner Jugend und deinem Belieben, sondern fasse und beherrsche dich. Gut ist’s, vorher zu überlegen, klug, vorzusorgen« (3, 36, 1; Übers. W. Marg). Vgl. auch die Artabanus-Rede Hdt. 7, 10 d–f. 422 Zur homerischen Herkunft dieser Vorstellung vgl. v. Fritz (1967 I, 239–242). 423 Der Ruf des frommen Mannes (heoseb¶r), von dem in 1, 86, 2 gesprochen wird, ist Kroisos durch seine Orakelkonsultationen sowie die zahlreichen Opfergaben und Weihgeschenke zuteil geworden. 424 So auch Burkert (1985, 11) und Erbse (1992, 22f.). Vgl. die Kroisos-Rettung bei Bakchylides: Kroisos sei von Apollon gerettet worden »seiner Frömmigkeit (eqs´beia) wegen, weil er von allen Menschen / die reichsten Spenden zur heiligen Pytho geschickt hatte« (3, 61f.; Übers. H. Maehler).

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jedoch in ihrer Macht, es zu verzögern, abzumildern oder günstig zu beeinflussen. Weitaus schwieriger ist die Frage, ob und inwieweit der Mensch bei Herodot das Geschick unmittelbar beinflussen kann, ob er über einen entsprechenden Gestaltungsspielraum verfügt. Versucht man diese Frage unter Rekurs auf das Apollon-Orakel zu beantworten, so gewinnt man zunächst den Eindruck, dass sich bei Herodot keine kohärente Antwort findet. Der erste Teil des Orakels scheint eine vollkommene Determiniertheit zu behaupten, die den Menschen zum Opfer der Schicksalsmächte macht und ihm keinerlei Handlungsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeit lässt. Der zweite Teil hingegen unterstellt eine auf die Handlungssituation bezogene Wahl- und Entscheidungsfreiheit und deutet durch den ethischen Appell an, dass der Mensch sein Geschick mitgestalten kann und er eine Mitverantwortung für das Gelingen des Lebens trägt. In der Forschung wird zumeist eine der beiden Sichtweisen unter Vernachlässigung der jeweils anderen akzentuiert und als herodoteische Auffassung geltend gemacht.425 Die Betonung des Schicksalsgedankens findet sich in besonders ausgeprägter Form bei Hellmann (1934). Der Mensch sei nach Herodot eingespannt »in Zusammenhänge, die außerhalb seines Wollens liegen, die ihn überkommen als eine unausweichliche Notwendigkeit« (32). Hinter allen Handlungen und Entscheidungen stehe die das Geschehen lenkende göttliche Macht, die auf die Erfüllung von übergeordneten Sinnzusammenhängen und des darin eingespannten Fatums des Einzelnen hinwirke. So deute Herodot auch die Täuschungen und Irrtümer des Kroisos nicht im Sinn von subjektiven Fehlleistungen, sondern als eine vom Gott geschickte »Trübung seiner Vernunft« (74), als eine den Schicksalsvollzug vorbereitende »Umdunkelung des menschlichen Verstandes« (74). Die Kategorien der Entscheidungsfreiheit und persönlichen Verantwortung für das Handeln hätten hier keinen wirklichen Sinn: »Lo?qa ist das Geschehen, das sich im Schicksal des Kroisos abspielte […]. Wo aber lo?qa waltet, ist kein Raum für irgendwelche ›Schuld‹fragen […]« (111). Gegen diese Sichtweise ist eingewendet worden, dass in wichtigen Entscheidungssituationen bei Herodot regelmäßig die Figur des Warners auftaucht und Alternativen aufgezeigt werden, die eine Wahl- und Entscheidungsfreiheit des handelnden Akteurs voraussetzen.426 Zudem werde immer wieder auf die Verantwortung der Akteure für ihre Beschlüsse und Handlungsvollzüge verwiesen, wie z. B. im apologetischen Apollon-Orakel, wo Kroisos explizit eine Mitschuld an den Ereignissen gegeben und damit die Möglichkeit der menschlichen Einflussnahme auf das Geschick betont werde.427 425 Eine Darstellung der älteren und jüngeren Diskussion findet sich bei Visser (2000, 14ff.). 426 Darauf hat zuerst Bischoff (1932) hingewiesen. 427 So z. B. Visser (2000, 21).

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In jüngerer Zeit haben insbesondere Visser (2000) und Schulte-Altedorneburg (2001) – in Anknüpfung an die Arbeiten von Schmitt und LefHvre – die menschliche Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung bei Herodot betont. Nach Visser (2000, 23) vertritt Herodot die »Sicht einer individuellen Verfehlung des Kroisos« und sieht in ihm »einen für sein Schicksal selbst verantwortlichen Täter«. »Kroisos’ […] Unglück basiert auf einem falschen Entschluß, der sich aus einem immer weiter verirrenden Denken ergeben hat« (23). Ähnlich Schulte-Altedorneburg (2001, 155): »Das Handeln und Scheitern des Kroisos gründet […] wesentlich auf der konsequenten oder unbeirrbaren Applikation der Prämissen seines Denkens auf die unterschiedlichen Situationen bzw. Einflüsse.« Der Sturz des Kroisos entspringe »der selbst zu verantwortenden und durch göttliche Eingriffe zwar gezielt provozierten, niemals jedoch erzwungenen freien Entfaltung der charakterlichen Eigenarten« (158). In diesen Deutungen wird zwar zu Recht der von der fatalistischen Auslegung völlig vernachlässigte Aspekt der subjektiven Verfehlung und Selbstverantwortung hervorgehoben. Die Marginalisierung und Abschwächung des Schicksalsgedankens, die hier vorgenommen wird, ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Visser (2000, 21) begegnet dem im Rechtfertigungsorakel enthaltenen Schicksalsglauben mit dem Hinweis, »daß es sich hier ausdrücklich um die gleichsam offiziell von Delphi gegebene Erläuterung handelt, die nicht exakt Herodots eigene Meinung repräsentieren muß«. Und Schulte-Altedorneburg (2001, 157) deutet in Anknüpfung an Schmitts Homerdeutung (1990) das Wirken der göttlichen Schicksalsmächte im Sinn von allwissenden, »überzeitlichen ›Langzeitplan[ern]‹« die zur Erfüllung der ausgleichenden Vergeltung Persönlichkeiten auswählen, deren charakterliche Dispositionen dem Ziel entsprechen (vgl. 155–58). Mit anderen Worten: Kroisos war für die Vergeltung des GygesFrevels der geeignete Mann, weil er aufgrund seines Charakters für die zum Sturz des lydischen Reiches führenden Fehlentscheidungen prädisponiert war. Mit dieser Deutung wird jedoch der Sinn des über Kroisos verhängten Geschicks verfehlt. Das Unglück soll ja eine Strafe für die Freveltat des Gyges sein, die die vorherbestimmte Person trifft.428 Nach der Deutung von Schulte-Altedorneburg wird Kroisos im Grunde genommen nicht durch die Rache- und Schicksalsgötter bestraft, sondern durch seinen eigenen Charakter. Da sowohl die Schicksalsdeutung von Hellmann als auch die von Visser und Schulte-Altedorneburg präferierte Lesart problematisch sind, ist zu fragen, ob die Lösung in einer Vereinbarkeit von Freiheits- und Notwendigkeitsgedanke zu suchen ist. Das setzt allerdings voraus, dass bei Herodot beide Ideen einer Einschränkung unterliegen. Menschliche Freiheit und notwendiger Schicksals428 So unlängst auch Scardino (2007, 99) gegen Schulte-Altedorneburg: »Aber das Faktum, daß Kroisos für Gyges’ Tat bestraft wurde, kann nicht wegdiskutiert werden«.

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vollzug sind nur dann kompatibel, wenn man weder die eine noch die andere Kausalität als absolut setzt. Solch eine Relativierung lässt sich bei Herodot in der Tat beobachten. Die in der Orakel-Erzählung dargestellten Bemühungen des Apollon um eine Verlagerung der Vergeltung auf die nächste Generation setzen die Annahme voraus, dass das vorherbestimmte Fatum bezüglich des zeitlichen Eintreffens und in substanzieller Hinsicht modifiziert werden kann und der Vollzug nicht mit absoluter Notwendigkeit geschieht.429 In ähnlicher Weise wird bei Herodot auch die menschliche Freiheit als eine eingeschränkte gedacht. Dabei ist zwischen Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit zu unterscheiden. Wie Schulte-Altedorneburg (vgl. insbes. 2001, 209) zu Recht betont, ist der Mensch bei Herodot im vollen Sinn für seine Handlungen verantwortlich und kann in den verschiedenen Situationen frei wählen und entscheiden. Darüber darf jedoch nicht der in den Historien vielfach thematisierte Aspekt übersehen werden, dass der Mensch eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten besitzt, weil sein Leben von vielen Faktoren mitbestimmt wird – Zufall, Herkunft, Beschaffenheit der Physis, unvorhersehbare Naturereignisse und eben auch göttliche Strafe für die von den Vorfahren verübten Frevel, über die er nicht verfügen kann, die er bestenfalls günstig zu beeinflussen vermag. Die selbstverschuldete Fehlhandlung ist zweifellos vermeidbar, nicht aber das von den Göttern als Strafe für frühere Frevel verhängte Geschick.430 Das menschliche Verhältnis zum Fatum wird hier offenbar analog dem Verhältnis zur gegebenen physischen Kondition gedacht. Der Mensch ist einer schlechten leiblichen Kondition weder gänzlich ausgeliefert noch kann er sie völlig abändern. Der ihm zukommende Gestaltungsspielraum besteht in der Möglichkeit, die Physis durch gesunde Ernährung und sportliche Betätigung günstig zu beeinflussen. Analog dazu kann der Mensch das über ihn verhängte Fatum zwar nicht gänzlich abwenden; durch maßvolles und überlegtes Handeln vermag er jedoch Einfluss darauf zu nehmen.431 Bei einem als prinzipiell modifizierbar gedachten Fatum

429 So auch Löffler (2008, 36): »dabei ist auffällig, dass Herodot das Schicksal, obwohl selbst ein Gott diesem nicht entgehen könne (1, 91, 1), dennoch auch als beinflussbar darstellt (1, 91, 3)«. 430 Die göttliche Strafe konnte allenfalls durch eine schnelle Reinigung und Buße abgewendet werden. Nach den herkömmlichen religiösen Vorstellungen war es durchaus möglich, nach einer Blutschuld die Rachegötter durch Opfer und Bußhandlungen zu besänftigen. 431 So hätte Kroisos z. B. durch eine Entscheidung gegen den geplanten Präventivkrieg das Fatum modifizieren können. Das Unglück wäre zwar unweigerlich eingetroffen, möglicherweise infolge eines von Kyros angezettelten Angriffskrieges, aber wesentlich später. Bei einem Schicksalsvollzug, der nicht von Kroisos’ Fehlverhalten mitverantwortet wäre, sondern allein auf Kyros’ Aggression basierte, könnte man die von Schulte-Altedorneburg (2001, 155–158) in Anknüpfung an Schmitt angeführte Annahme einer Auswahl von charakterlich prädisponierten Personen sinnvoll geltend machen. Kyros wäre unter diesen Bedingungen das von den Göttern ausgewählte Organ, die Strafe an Kroisos zu vollziehen.

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liegt es nahe, nicht nur den Göttern, sondern auch den Menschen eine gewisse Einflussnahme zuzugestehen. Sind doch Götter und Menschen im religiösen Denken der Griechen nicht fundamental, sondern nur graduell verschieden. Die Lösung eines zwar letztlich unvermeidbaren, aber beeinflussbaren Fatums ist bereits von Bischoff (1932) im Ansatz vorgeschlagen worden. Nach Bischoff (1932, 75) ist die Macht des Fatums bei Herodot nicht »so streng und konsequent, daß für menschliches Wollen und Ermessen daneben kein Raum bleibt«. »Schuld und Schicksal gehen zusammen, und wäre die erste beseitigt, bekäme das letztere eine andere Form« (75). Gegen diese Deutung hat Harrison (2000, 227) vor einigen Jahren den Einwand vorgetragen, dass der Niedergang des Kroisos selbst bei einer Vermeidung von eigenen Fehlentscheidungen keine andere Form gehabt hätte, war doch die Art und Weise des Falls »predetermined in detail« wie das Apollon-Orakel zu erkennen gibt. Das ist richtig, aber wie die Fürsprache des Appollon bei den Moiren und das entsprechende Resultat zeigen, gab es ja trotz vorheriger Festlegung der Details Möglichkeiten der Abänderung. So hätte Kroisos durch ein Ablassen vom geplanten Präventivkrieg evtl. den Zeitpunkt des Falls noch einmal verzögern können. So wie der Mensch das Schicksal durch sein Fehlverhalten beschleunigen kann432, kann er es eben auch durch Vorsicht und kluge Entscheidungen aufhalten. Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Mensch bei Herodot trotz der letzten Unausweichlichkeit des Schicksals als verantwortliches Subjekt gedacht wird, das sein Geschick mitgestalten kann. Der ethische Appell, der im apologetischen Apollon-Orakel (1, 90–91) anklingt, läuft insofern keineswegs ins Leere, sondern ist in einer differenzierten Freiheitskonzeption begründet. Darüber hinaus lässt sich das Argument anfügen, dass die ethische Paränese nach Herodot auch dann noch ihren vollen, lebensfördernden Sinn hat, wenn die Katastrophe eingetroffen und das Fatum vollzogen ist. Am Beispiel des Kroisos wird aufgezeigt, dass eine nach dem Verlust aller Güter erworbene Einsicht zu einem Glück zu führen vermag, das zwar keineswegs die Strahlkraft der vorherigen Existenz besitzt, aber dennoch eine Teilhabe an der menschlichen Eudaimonia darstellt.433 Als weiser Berater des Kyros führt Kroisos das Leben eines geachteten Zu Kroisos’ Entscheidungsfreiheit und zur möglichen Einflussnahme auf das Schicksal vgl. auch Visser (2000, 21) u. Löffler (2008, 36). 432 Vgl. dazu v. Fritz (1967, I, 40). 433 Der Gedanke wird von Xenophon in der Kyropädie aufgenommen und expliziert. In der xenophontischen Variante der Geschichte stellt Kroisos nach dem Tod seines Sohnes an Apollon die Frage, was er tun solle, um den Rest seines Lebens möglichst glücklich zu vollbringen. Der Gott gab zur Antwort: »›Wenn du dich selbst erkennst, Kroisos, wirst du dein Leben glücklich vollenden‹ » (Saut¹m cicm¾sjym eqda¸lym, Jqo?se, peq²seir 7, 2, 20; Übers. R. Nickel). Die Wahrheit dieses Satzes wird in der xenophontischen Erzählung durch die Darstellung von Kroisos’ neuem Glück nach erlangter Selbsterkenntnis bestätigt (Hdt. 7, 2, 25–28).

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und respektierten Mannes.434 Aufgrund seiner Klugheit und Besonnenheit erfährt er eine besondere Anerkennung und Wertschätzung, die jetzt an die Stelle der früheren, auf Reichtum und Macht bezogenen sozialen Bewunderung treten. Diesem äußeren Moment korrespondiert der Zustand einer inneren Zufriedenheit und Ausgeglichenheit435, der zusammen mit der auf der Selbsterkenntnis basierenden Daseinsakzeptanz eine Haltung der Ataraxie begründet. Dieses neue, ganz anders geartete Glück bezeichnet die letzte Stufe in Kroisos’ Entwicklungsprozess, die abschließend betrachtet werden soll.

g)

Ermahnung zur Selbsterkenntnis – Kroisos als weiser Berater des Kyros (1, 155–156; 206–208)

Nach dem Fall des Lyderreiches schildert Herodot, wie die Perser die Führung in Asien übernahmen (1, 95ff.). In der auf den Bios und die Taten des Kyros zentrierten Geschichte wird Kroisos als Weiser dargestellt, der durch den schmerzhaften Selbsterkenntnisprozess zu einer Haltung der Besonnenheit und Sachlichkeit gefunden hat und nun die ehemals durch Solon repräsentierte Rolle des Mahners übernimmt.436 Die durch Leiden und Einsicht gewonnene Vernunft zeigt sich insbesondere in den in 1, 155ff. und 1, 206f. dargestellten Beratungssituationen, in denen Kroisos den von Machtgier und Erfolgsrausch verblendeten Perserkönig zur Mäßigung auffordert. Die erste Beratung bezieht sich auf den Abfall der Lyder von Kyros nach dessen Abzug aus Sardes. Der Lyder Paktyes hatte mit dem ihm anvertrauten Gold des Kroisos Söldner angeworben und sich gegen den Perser Tabalos, der von Kyros als Statthalter eingesetzt worden war, erhoben (1, 154). Kyros suchte daraufhin Rat bei Kroisos. Er selbst erwog eine Versklavung der Lyder, um die Gefahr des Abfalls ein für allemal zu bannen. Kroisos gab einen Rat, der sowohl die Lyder vor der drohenden Versklavung schützte als auch den Wünschen des Kyros entsprach. Der König solle den Lydern eine Lebensweise und Erziehung aufnötigen, die sie verweichliche und ihrer tapferen Natur beraube. Eine Erhebung gegen die Perser sei dann nicht mehr zu befürchten (1, 155, 4).437 434 Vgl. Hdt. 1, 88, 1 und 1, 208. 435 In der xenophontischen Version der Kroisos-Erzählung ist von Kroisos’ eqhul¸a (Kyropädie 7, 2, 29) die Rede. 436 So auch Stahl (1975, 20): »Croesus […] becomes the new Solon, i. e. the spokesman for the author’s human theme«. 437 Bichler (2000, 255) hält den Rat für zwiespältig: »Die Verweichlichung der Lyder freilich ist nicht konsequent zu Ende gedacht. So erscheinen sie in späterer Zeit sowohl als Kombattanten der Perser im Abwehrkampf gegen die Griechen […] wie auch in Xerxes’ Landheer. Kroisos aber hatte sich als zwiespältiger Ratgeber erwiesen. Denn die Rettung seines Volks war teuer erkauft«.

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An der Rede des Kroisos sind in diesem Kontext drei Aspekte von Bedeutung. 1) Kroisos beginnt seine Rede mit der Aufforderung zur Mäßigung des Zorns (o» l´mtoi lµ p²mta hul` 1, 155, 3). Der negative Affekt und die geplante Vergeltung seien ungerechtfertigt und unangemessen, da das Volk der Lyder weder für den früheren Krieg gegen die Perser noch für den jetzigen Aufstand verantwortlich sei. Für den jetzigen Abfall trage Paktyes die Verantwortung und sei entsprechend zu bestrafen. Die Aufforderung zur Mäßigung wird hier also mit dem Appell zur nüchternen Beurteilung der Situation verknüpft. Nicht das affektgeleitete Tun garantiert das Erreichen der angestrebten Ziele, sondern die dem Handeln als Basis der Entscheidung vorangestellte nüchterne Analyse der Realität. Den paränetischen ersten Teil seiner Rede schließt Kroisos mit der Aufforderung ab, den Lydern Nachsicht und Vergebung (succm¾lg) zu gewähren.438 Damit wird eine Haltung der Humanität439 eingefordert, die vor der Katastrophe als positive charakterliche Disposition des Kroisos bereits sichtbar geworden war, insbesondere in der Atys-Adrastos-Geschichte, die jetzt aber durch die gewonnene Selbsterkenntnis eine Begründung erfahren hat und als ethische Grundhaltung Raum gewinnt. 2) Die Rede des Kroisos fordert die Sophrosyne nicht nur ein, sondern führt sie auch exemplarisch vor. Mit dem Hinweis, dass für den Krieg gegen die Perser nicht die Lyder, sondern er selbst verantwortlich sei und er dafür büße (»das Frühere nämlich habe ich zu verantworten und ich büße dafür« 1, 155, 3; Übers. Ley-Hutton), macht Kroisos deutlich, dass er die von Apollon erteilte Lektion gelernt und seine früheren Schuldzuweisungen korrigiert hat. Kroisos übernimmt jetzt die volle Verantwortung für sein Tun und erhebt keinerlei Vorwürfe mehr gegen die Götter. Seine Rede ist völlig frei von negativen Emotionen oder verborgenen Ressentiments. 3) Das dritte Moment, das an der Kroisos-Rede herauszuheben ist, bezeichnet die reale Einschätzung der eigenen begrenzten Möglichkeiten, Kyros zur Einsicht zu bewegen. Im Wissen um Kyros’ übermäßige Selbstgewissheit und der entsprechenden Beratungsresistenz belässt es Kroisos nicht bei dem Hinweis auf die Unschuld der Lyder und der Aufforderung, die Bestrafung auf Paktyes zu beschränken. Vielmehr bietet er eine Alternative an, die dem von Kyros ge438 Löffler (2008, 43) übersieht diese Paränese, wenn er meint: »Die Informationen, die Kroisos liefert, erfreuen Kyros, weil sie vom Perserkönig nicht verlangen, dass er sich oder seine Werte hinterfragt. Der Rat des Kroisos betrifft die Art und Weise, wie Kyros die Lyder davon abhalten kann, Schwierigkeiten zu bereiten«. 439 Schwabl (2004, 58) sieht darüber hinaus auch in der von Kroisos vorgeschlagenen Handlungsoption, die Lyder durch Verweichlichung unschädlich zu machen, einen Akt der Humanität: »für Herodots Bild des (von Kroisos beeinflußten) Kyros ist dabei aber wohl der Gegensatz von möglicher brutaler Versklavung und einer humaneren Form der Herrschaft […] besonders wichtig«.

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planten Vorgehen adäquat ist, weil es eine Maßnahme gegen die Lyder insgesamt darstellt. »Er wusste nämlich«, so Herodot, »dass er Kyros nicht überreden werde, seine Meinung zu ändern, wenn er nicht einen brauchbaren Vorschlag mache« (1, 156, 1; Übers. Ley-Hutton). Kroisos ist sich also völlig im Klaren darüber, dass Kyros allenfalls zu einer Modifizierung, nicht aber zu einer grundsätzlichen Änderung seines Beschlusses bereit ist.440 Auch darin zeigt sich die neu gewonnene Haltung der Vernunft und Realitätsnähe. Kroisos lässt sich nicht von falschen Hoffnungen oder Erwartungen leiten, sondern schätzt die Situation völlig richtig ein und erzielt deswegen Wirkung beim Adressaten der Rede. Kyros ließ von der geplanten Versklavung ab und griff den Vorschlag des Kroisos auf (1, 156, 2). Der dritte Rat des Kroisos erscheint wie ein Kulminationspunkt des gesamten Selbsterkenntnis-Prozesses. Alle Momente der gewonnenen Einsicht treffen hier zusammen. Den situativen Hintergrund der Beratung bildet ein von Kyros geplanter Krieg gegen die Massageten. Die Beweggründe und Motive für dieses militärische Unternehmen werden in 1, 204, 2 explizit benannt. Kyros glaubte, eine besondere Herkunft zu haben und etwas Größeres als ein Mensch zu sein (t¹ doj´eim pk´om ti eWmai !mhq¾pou)441, d. h. zu einer das menschliche Maß übersteigenden Machtfülle bestimmt zu sein. Zudem besaß er aufgrund des Gelingens aller bisherigen Feldzüge eine übermäßige Erfolgssicherheit und Siegeszuversicht, die ihn zum Krieg ermunterten. Die Parallelen zur Selbsteinschätzung und Einstellung des Kroisos zum Zeitpunkt des Solongesprächs sind unübersehbar. Kyros weist dieselben Tendenzen zur Hybris auf wie damals der Lyderkönig, allerdings treten diese bei ihm in noch viel ausgeprägterer Form zutage. Die Hybris des Kyros manifestiert sich im aggressiven Anspruch auf die größte Machtfülle. Mit der so motivierten und begründeten Kriegsplanung fällt Kyros keineswegs hinter die in der Scheiterhaufenszene (1, 86, 6) erlangte Einsicht zurück, wie insbesondere Stahl (1975, 21f.) nachzuweisen versucht hat.442 Vielmehr ist die jetzige Selbstüberschätzung ein Hinweis darauf, dass er die Einsicht nicht wirklich erreicht und internalisiert hat.443 Nach der Darstellung der den Kriegsentschluss veranlassenden Beweggründe berichtet Herodot von den aktiven Vorbereitungen des Feldzuges und von der Reaktion seitens der Massageten, die eine Beratung erst erforderlich werden lässt. Tomyris, die Königin der Massageten, lässt Kyros durch Boten eine 440 Es geht also Kroisos keineswegs darum, ein »wirksameres Mittel« zur Ruhigstellung der Lyder vorzuschlagen, wie Erbse (1992, 24) meint. Die angeführte Handlungsalternative ist vielmehr als Versuch anzusehen, das Schlimmste für die Lyder zu verhindern; sie ist das kleinere Übel gegenüber der von Kyros geplanten Versklavung. 441 Vgl. Soph. Ai. 760f. u. 777. 442 Vgl. auch Harrison (2000, 44) u. Löffler (2008, 45f.). 443 So auch Bischoff (1932, 39 u. 43), Marg (1982, 294), Shapiro (1994, 353).

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Nachricht senden, die strukturell die Rede des Kroisos antizipiert.444 Der erste Teil der Botschaft enthält eine Aufforderung zum Abbruch der Kriegsvorbereitungen. Da Tomyris die Situation jedoch realistisch einschätzt und weiß, dass Kyros den Mahnungen kaum Gehör schenken wird (1, 206, 2), lässt sie sich im zweiten Teil ihrer Botschaft auf die Kriegssituation ein und stellt dem Perserkönig zwei Alternativen zur Wahl. Er soll entweder in ihr Gebiet vorrücken und den Kampf auf massagetischem Gebiet austragen oder er soll das massagetische Heer in seinem Land empfangen. Kyros beruft daraufhin eine Versammlung ein und berät sich mit dem persischen Thronrat.445 Die Berater plädieren übereinstimmend für die zweite Alternative, d. h. für den Kampf auf dem eigenen Territorium. Der anwesende Kroisos kritisiert diesen Vorschlag und stimmt als einziger für die entgegengesetzte Variante. Bevor er seinen Gegenvorschlag artikuliert und argumentativ begründet, signalisiert er in Form von Paränesen und Warnungen, dass es das Beste wäre, von dem Vorhaben ganz abzulassen.446 Da dieser Teil der Rede wesentliche Aspekte der Selbsterkenntnis enthält, soll er genauer betrachtet werden. Zunächst bekundet Kroisos sein Wohlwollen gegenüber Kyros, indem er die Abwendung jeglichen Unheils, das er für das persische Herrscherhaus voraussieht, als grundsätzliche Handlungsabsicht geltend macht. Die Absicht selbst und die Begründung dieser Handlungsmaxime (»da Zeus mich dir übergeben hat« 1, 207, 1; Übers. Ley-Hutton)447 sind Ausdruck einer Akzeptanz des gege444 So auch Bischoff (1932, 43f.), Pelling (2006, 169) und Löffler (2008, 47): »Die beratende Rede des Lyders ist in ihrer Struktur der warnenden Rede der Tomyris ähnlich«. 445 Löffler (2008, 47) hat darauf hingewiesen, dass nicht die von Tomyris gegebenen Warnungen Gegenstand der Beratung sind, sondern lediglich die im zweiten Teil der Botschaft zur Wahl gestellten Möglichkeiten der Kriegsführung: »Kyros bestätigt dadurch, dass er den Teil der Informationen, die eine Reflexion und eine Änderung seiner Motive bzw. Bewertungskategorien verlangen, nicht versteht bzw. nicht auf ihn eingeht.« Ähnlich schon Shapiro (1994, 351): »Tomyris’ first request does not even receive consideration.« 446 So auch Bischoff (1932, 43): »Bevor er aber seine Meinung […] äußert, sucht er mit Worten, die sich auf das Allgemein-Menschliche beziehen, das ganze Unternehmen zu verhindern«. Anders Stahl (1975, 29): »His knowledge of the ›wheel of human affairs‹, which does not grant continuous success to mortals, should make him try to dissuade Cyrus from any further conquests. But he fails to do so«. Kroisos vollziehe hier die Bewegung »from restraining warner to encouraging seducer« (29). Ähnlich Bichler (2000, 267). Bichler hebt den zweiten Teil der Rede hervor und übersieht dabei, dass im ersten Teil der eigentliche Rat enthalten ist, nämlich das geplante militärische Unternehmen abzubrechen. Erbse (1992, 26–28) hingegen betont zwar zu Recht Kroisos’ Ermahnung zur Vorsicht und Aufgabe des Kriegsplans, begeht jedoch den Fehler, den zweiten Teil der Rede im Sinn des ersten zu deuten. Der praktische Ratschlag sei eine »Trugrede« (27), ein absichtlich schlechter Rat, der Kyros zum Widerspruch reizen und zum Überdenken seines Kriegsentschlusses bewegen soll. Diese Konstruktion ist wenig überzeugend und basiert zudem auf Stahls fragwürdiger These, dass hier ein schlechter Rat gegeben wird. 447 Vgl. Hdt. 1, 89, 1.

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benen Geschicks sowie einer Frömmigkeit, die den göttlichen Willen ohne Groll und Bitterkeit respektiert. Um seine Kompetenzen anzudeuten, thematisiert Kroisos im nächsten Schritt die gewonnene Einsicht: »Meine schlimmen Leiden sind mir zur Lehre geworden« (T± d´ loi pah¶lata 1ºmta !w²qita lah¶lata c´come 1, 207, 1; Übers. Ley-Hutton). Wie in der Forschung schon häufig bemerkt, knüpft Herodot hier an Aischylos’ p²hei l²hor an. Die in dem KroisosSatz zum Ausdruck kommende Auffassung des Leids im Sinn eines einsichtsfördernden Faktors impliziert die Annahme, dass diejenigen, die noch keine einschneidende Leiderfahrung gemacht haben und das Glück stets auf ihrer Seite hatten – also z. B. Kyros –, in der Regel von Illusionen und trügerischen Hoffnungen bestimmt werden. Dieser Aspekt spielt für das Verständnis des zweiten Teils des Kroisos-Rates eine maßgebliche Rolle, wie gleich zu zeigen sein wird. Im dritten Schritt wendet Kroisos seine Selbsterkenntnis auf Kyros und die aktuelle Situation an. Er richtet an Kyros die Mahnung, sich nicht unsterblich zu wähnen, sondern das eigene Menschsein anzuerkennen und verbindet diese Paränese mit der Warnung vor dem Umschlagen des bisherigen Glücks in Unglück: »Wenn du glaubst, unsterblich (!h²mator) zu sein und ein eben solches Heer zu befehligen, dann dürfte es keinen Wert haben, dir meine Meinung kundzutun. Wenn Du aber erkannt hast, dass auch du nur ein Mensch bist und über andere Menschen gebietest (eQ d( 5cmyjar fti %mhqypor ja· o» eWr ja· 2t´qym toi_mde %qweir), […], dann begreife zunächst, dass es in menschlichen Angelegenheiten einen Keislauf (j¼jkor t_m !mhqypg¸ym pqgcl²tym) gibt und dass er, in ständiger Bewegung, nicht zulässt, dass immer dieselben Glück (eqtuw¸a) haben« (1, 207, 2; Übers. Ley-Hutton). Nach dem Gesetz des ewigen Kreislaufs der Dinge (j}jkor) wird sich das Geschick des Kyros eines Tages wenden und ein Unglück eintreffen, das der Größe des vorausgegangenen Glücks proportional ist.448 Die nicht ausgesprochene, aber provozierte praktische Schlussfolgerung aus dieser Prophezeiung ist die Revision des waghalsigen, riskanten Kriegsentschlusses, durch die ein großes Unglück möglicherweise vermieden und das bisher Erreichte bewahrt werden könnte. Die Kyklos-Konzeption spielt bei Herodot, wie schon oft bemerkt worden ist449, eine zentrale Rolle. Sie stellt in gewisser Weise den Versuch dar, nach dem 448 Vgl. den Brief des Amasis an Polykrates (3, 40). 449 Regenbogen (1961a, 85f.) meint, dass »diese Anschauung [ ] bei Herodot das Ganze und das Einzelne [trägt]« und »Herodot[s] eigenste Meinung« darstelle. Hellmann (1934, 22f.) deutet den Kreislaufgedanken als Leit- und Einheitsprinzip des Werkes und als »Schlüssel zum Verständnis Herodots«. Erbse (1992, 26) sieht darin ein »Grundgesetz herodoteischer Geschichtsbetrachtung« und Scardino (2007, 102) das »wichtigste Deutungsmuster«. Vgl. auch Harrison (2000, 62). Das Kyklos-Motiv findet sich auch bei Sophokles. Vgl. Trach. 126–135. Vgl. dazu Kap. A II 3c.

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Verblassen der olympischen Götter und dem Wiederaufkommen der populären Vorstellung von der neidischen, unberechenbaren Gottheit das Weltgeschehen und das darin eingebundene Einzelschicksal als geordnet, sinnvoll und gerecht zu begreifen. Durch die zum Weltgesetz erhobene Alltagserfahrung, dass jeder einmal Glück und Unglück hat450, wird der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge das Willkürliche, Unvorhersehbare genommen. Die Vorstellung von einer hinter allem Geschehen wirkenden Gesetzlichkeit macht den Wechsel berechenbarer und damit erträglicher. In ähnlicher Weise hat Scardino (2007, 102) vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass »die Idee des Kyklos […] die radikale Unsicherheit der condicio humana und das ›Prinzip des Wechselns und der Wandelbarkeit‹ des Schicksals in ein logisches System einbettet«. Der in der Warnung des Kroisos formulierte Kyklos-Gedanke verweist noch einmal auf die bei Herodot vorausgesetzte Möglichkeit einer menschlichen Einflussnahme auf das Geschehen. Sowenig wie dem Fatum ist der Mensch dem Kreislauf der Dinge451 ohnmächtig ausgeliefert. Durch eine Haltung des Verzichtes und der Selbstbeschränkung452, die den vom Gesetz herbeigeführten Ausgleich in gewisser Weise vorwegnimmt, ihn selbsttätig und in eigener Ver-

450 Wie Nilsson (GGR I, 736f.) aufgezeigt hat, war dies ein fester Bestandteil der vokstümlichen Lebensanschauung. Zu Herodots Anknüpfung an volkstümliche Vorstellungen vgl. Nilsson (GGR I, 736f.) 451 Das Verhältnis zwischen göttlicher Macht (he?om) und dem allgemeinen Gesetz des Kreislaufs der Dinge wird bei Herodot nicht eindeutig geklärt. Das Kyklos-Gesetz erscheint häufig als eigenständiges, unabhängiges Prinzip, zu dessen Erfüllung viele Faktoren und Kräfte beitragen, das jedoch nicht durch eine übergeordnete Instanz konstituiert und garantiert wird. Anders Scardino (2007, 103–105), der das Göttliche (he?om) als regulative Kraft deutet, die dann wirksam wird und den vom Kyklos-Prinzip intendierten Ausgleich herbeiführt, wenn die Selbstregulierung des menschlichen Geschehens nicht funktioniert. In ähnlicher Weise hat schon Regenbogen (1961a) den Zusammenhang zwischen dem Göttlichen und dem Kyklos-Motiv betont. Die Artabanus-Rede im 7. Buch zeige, wie eng der »›Neid‹ der Gottheit […] mit dem Gedanken des Ausgleichs zusammenhängt« (90). »Den Ausgleich herbeizuführen […] das ist im Sinne Herodots die wesentliche Funktion des Göttlichen, des he?om« (94). Die These vom göttlichen Phthonos als übergeordneter Kraft, die den vom Kyklos-Gesetz beabsichtigten Ausgleich verfolgt, setzt die Vorstellung eines geläuterten, gereinigten Phthonos voraus. Diese Annahme wurde oben (siehe Kap. A II 4d) als unhaltbar zurückgewiesen. Die herodoteische Vorstellung des he?om, das mit dem volkstümlichen Neid-Motiv verknüpft wird, ist weit entfernt von der hesiodischen Gottesvorstellung, die Zeus als Prinzip einer ausgleichenden Gerechtigkeit begreift (vgl. erg. 5– 8). 452 Vgl. den Rat des Amasis an Polykrates: »Du aber folge mir nun und tu etwas gegen dein Glück, etwa dies: Überleg’s dir und such etwas aus, was dir das Teuerste ist, und dessen Verlust dir am meisten wehtut, und das wirf fort, und zwar so, daß es nie wieder auftaucht unter den Menschen. Und wenn danach Glück und Leid dir noch nicht im Wechsel begegnen, behandle dich weiter mit dem Verfahren, das ich dir empfehle« (Hdt. 3, 40, 3–4; Übers. W. Marg).

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antwortung realisiert, vermag der Mensch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass er von größerem Unglück verschont bleibt. Im zweiten Teil der Kroisos-Rede wird ein Vorschlag unterbreitet, wie Kyros in dem geplanten Krieg taktisch vorgehen könnte. Dies scheint zunächst in Widerspruch zur vorherigen Paränese und der Aufforderung zur Revision des Kriegsentschlusses zu stehen.453 Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen lässt sich diese Spannung jedoch leicht auflösen. Kroisos weiß vor dem Hintergrund der eigenen früheren Unbelehrbarkeit, dass sich der erfolgsverwöhnte Kyros kaum durch Ermahnungen und Warnungen in seiner Denkweise korrigieren und vom Kriegsplan abbringen lässt.454 Der zweite Teil der Rede trägt sowohl der vorhergesehenen mangelnden Bereitschaft des Kyros zur Umkehr Rechnung als auch der als Handlungsmaxime angeführten Bemühung um Unheilabwendung. Falls Kyros, wie zu erwarten ist, die Warnung nicht beachtet und in den Krieg gegen die Massageten zieht, muss zumindest das Schlimmste, nämlich die Zerstörung des persischen Reiches verhindert werden.455 Der von Kroisos präsentierte Vorschlag, den Krieg auf massagetischem Boden auszutragen, ist in diesem Sinn zu verstehen. Trägt Kyros den Kampf im eigenen Land aus, so läuft er im Fall einer Niederlage Gefahr, das Reich insgesamt zu verlieren (1, 207, 3). Führt Kyros jedoch den Kampf auf massagetischem Boden, so verliert er bei einer Niederlage höchstwahrscheinlich das Leben. Sein Reich sowie das Leben seines Sohnes, das den Bestand der Dynastie sichert, bleiben jedoch erhalten. Im Fall des Sieges bringt ihm diese Variante große Vorteile, da er in das Reich der Massageten vordringen und deren Herrschaftsgebiete einnehmen könnte (1, 207, 4).456 Die skizzierten Folgen einer Niederlage werden von Kroisos 453 So Erbse (1992, 27) und Pelling (2006, 167). 454 So bereits Bischoff (1932, 44). In jüngerer Zeit ist wiederholt darauf verwiesen worden, dass der Kriegsentschluss zum Zeitpunkt der Beratung bereits gefasst ist und es für Kyros lediglich darum geht, die Art und Weise der Kriegsführung zu diskutieren. Vgl. Shapiro (1994, 351), Visser (2000, 25), Schulte-Altedorneburg (2001, 158), Schwabl (2004, 59), Pelling (2006, 169), Löffler (2008, 47). Die Tatsache, dass Kroisos den Kyros dennoch zur Selbsterkenntnis und Revision des Kriegsentschlusses ermahnt, bezeugt nicht ein letztes Festhalten an falschen Hoffnungen, sondern die Einsicht in die Unmöglichkeit einer sicheren Kenntnis von Motiven, Antrieben und Reaktionen der Handlungakteure. Kroisos bietet mit seiner Ermahnung dem Perserkönig die Möglichkeit zur Umkehr, deren Ergreifen durch Kyros wenig wahrscheinlich, aber eben auch nicht völlig ausgeschlossen ist. 455 Ähnlich Shapiro (1994, 351): »he [sc. Croesus] tries to minimize any possible losses that might ensue from a defeat« und Pelling (2006, 169): »All he can do is to move to second best and try to minimize the risk.« Vgl. auch Löffler (2008, 49 Fußn. 120). – Eine Parallele zu Kroisos’ Verhalten gegenüber Kyros findet sich im ersten Buch der Ilias, im Umgang Athenes mit Achill (190–221). Wie Schmitt (2009, 864f.) in einer exzellenten Analyse aufgezeigt hat, versucht Ahene durch ihren Zuspruch den zornigen Achill vom Schlimmsten zurückzuhalten. 456 Der zweite Rat des Kroisos (1, 155–156) weist eine ähnliche Struktur auf. Kroisos signalisiert dort zunächst, dass es das Beste wäre, von der geplanten Bestrafung aller Lyder abzulassen

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zwar nicht ausgesprochen – aus guten Gründen, so ist hier hinzuzufügen, wäre doch ein Verlust des eigenen Lebens für den narzistischen, in einer verengten Sichtweise befangenen Kyros die Katastrophe schlechthin.457 Sie lassen sich jedoch aus der Argumentation erschließen und sind in der präsentierten Gefahrenanalyse der abgelehnten Alternative zum Teil impliziert.458 Die von Stahl und anderen Autoren459 artikulierten Zweifel an der Klugheit und Besonnenheit von Kroisos’ Vorschlag erweisen sich als völlig gegenstandslos, wenn man in Betracht zieht, dass sich Kroisos in seiner Beratung am Ziel der Erhaltung des persischen Herrscherhauses (vgl. 1, 207, 1) und des persischen Reiches orientiert und sein Vorschlag, der von Kyros angenommen wurde, dieses Ziel erreichte.460 Zwar verlor Kyros im Krieg gegen die Massageten sein Leben; sein Reich blieb jedoch bestehen und der Fortbestand der Dynastie war durch die Unversehrtheit seines zu Hause geblieben Sohnes Kambyses, der nach dem Tod des Vaters die Thronfolge antrat, gesichert. Kroisos’ Maxime, die Erhaltung von Reich und Dynastie dem individuellen Leben überzuordnen, ist als Ausdruck seiner Weitsicht und überlegenen Perspektive zu deuten. In Bezug auf die gesamte Rede ist festzuhalten, dass Kroisos weder widersprüchliche Aussagen trifft noch durch einen schlechten Rat oder eine angebliche Forcierung des Kriegsentschlusses in die alte Unbesonnenheit und Blindheit zurückfällt. Im Gegenteil461: Dieser Rat bezeugt eine gelungene, internalisierte Selbsterkenntnis und stellt einen Höhepunkt der gewandelten Existenz des Kroisos dar. Alle im Selbstbesinnungsprozess erworbenen Kom-

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und die Maßnahme auf die Verantwortlichen des Aufstands zu beschränken. Im zweiten Teil präsentiert er im Wissen um die Beratungsresistenz des Kyros eine Alternative, die dem von Kyros gefassten Beschluss adäquat ist und das Ziel verfolgt, das Schlimmste zu verhindern. Vgl. auch die Botschaft der Tomyris (1, 206), die analog strukturiert ist. Ähnlich Schulte-Altedorneburg (2001, 161), der meint, dass Kroisos möglicherweise deswegen die Folgen einer Niederlage im Feindesland nicht ausspricht, »um seinem Rat […] Akzeptanz zu sichern«. So auch Flory (1987, 178 Fußn. 25), Shapiro (1994, 351), Visser (2000, 25), Schulte-Altedorneburg (2001, 161), Pelling (2006, 168 Fußn. 97) gegen Stahl (1975, 28), der meint, dass Kroisos die Folgen einer Niederlage im Feindesgebiet nicht bedacht und damit eine schlechte Beratung realisiert hätte (vgl. auch Erbse 1992, 26). Visser (2000, 25) erklärt das »Übergehen daraus, daß sich das Ergebnis von selbst versteht: Bei einer Niederlage im Massageten-Land wäre die persische Expedition eben gescheitert, mit weiteren Folgen muß angesichts der Friedfertigkeit der Königin Tomyris nicht gerechnet werden«. Schwabl (2004, 61 Fußn. 66) hat darauf hingewiesen, dass die nicht ausgesprochene Alternative der Niederlage im Feindesgebiet schon in der Warnung vor der Unsicherheit aller menschlichen Dinge (Hdt. 207, 2) impliziert sei. Vgl. Stahl (1975, 27–30), Asheri (1988, 381), Harrison (2000, 43), Bichler/Rollinger (2000, 88f.), Pelling (2006, 170f.). Ähnlich Shapiro (1994, 351f.), Visser (2000, 25), Schulte-Altedorneburg (2001, 161). So auch ausdrücklich Shapiro (1994, 351f.): »Thus, this episode, far from illustrating that Croesus inexplicably forgets his wisdom, shows just the opposite: he still gives good advice«.

Apollinische Selbsterkenntnis in Herodots Kroisos-Logos

207

petenzen und Einsichten werden hier zur Einheit einer Handlung verknüpft. Kroisos’ Rat zeugt sowohl von pädagogischem Geschick, Menschenkenntnis und menschlicher Reife als auch von einer auf der Einsicht in die menschliche Kondition beruhenden Weitsicht und einer Sicherheit der praktischen Urteilskraft, die Handlungsziele und die entsprechenden Mittel klug abzuschätzen vermag. Mit dem endgültigen Wechsel von der Seite des uneinsichtigen, verblendeten Herrschers zur Rolle des weisen Ermahners und Warners, der andere zur Selbsterkenntnis und Umkehr bewegen will, ist ein gewisser Abschluss des Erkenntnisprozesses erreicht. Nach der Analyse der gesamten Kroisos-Erzählung kann folgendes Resümee gezogen werden: Die Untersuchung hat gezeigt, dass im ersten Buch der Historien ein gelingender Prozess der Selbsterkenntnis und Charakterbildung dargestellt wird. Herodot führt im Kroisos-Logos eine Dialektik von Selbstverkennung und Selbsterkenntnis vor. Die im Solon-Kroisos-Gespräch aufgezeigte Selbstüberschätzung des erfolgreichen, mächtigen Herrschers wird als Grund einer Realitätsverkennung kenntlich gemacht, die sich in einer falschen Einschätzung von Handlungssituationen und Akteuren sowie in Fehldeutungen von relevanten menschlichen und göttlichen Aussagen und Verhaltensweisen ausprägt. Die auf der Grundlage der Fehleinschätzungen getroffenen falschen Entscheidungen führen zum Scheitern der einzelnen Unternehmungen bis hin zum Sturz, der zur Einsicht und Reflexion herausfordert und damit die Chance zur Selbsterkenntnis bietet. Die zentrale Aussage des Kroisos-Logos besteht darin, dass Selbstverkennung und Hybris letztlich in die Katastrophe führen, die wiederum die Möglichkeit der Selbstbesinnung in sich birgt und bei Ergreifen dieser Möglichkeit einen Wendepunkt im Bios darstellt. In der Kroisos-Geschichte formt Herodot den Lyderkönig zu einer Person, die diese Möglichkeit aktiv ergreift und zu einer Einsicht im apollinischen Sinn gelangt. Am Beispiel des Kroisos wird die Selbsterkenntnis als Überwindung einer von Wunschdenken und übermäßiger Erfolgssicherheit bestimmten Wirklichkeitssicht und als Begründung eines vernünftigen Selbst- und Weltverhältnisses aufgezeigt. Durch die Einsicht in die generelle Gebrechlichkeit und Instabilität des menschlichen Glücks tritt die Möglichkeit des Scheiterns und der Verfehlung der angestrebten Ziele in das Bewusstsein des Handelnden, die eine Haltung der klugen Vorsicht, der nüchternen Überlegung und besonnenen Abwägung befördert. Die gewonnene praktische Rationalität ist durch den Versuch charakterisiert, unter Berücksichtigung aller zugänglichen Fakten und Erfahrungen die Situationen und Akteure richtig einzuschätzen, Handlungsfolgen zu erwägen, mögliche Gefahren zu bedenken und warnende oder zuratende Stimmen nicht voreilig zu negieren oder zu affirmieren, sondern die Argumente zu erwägen und zu prüfen. Die Selbsterkenntnis, so die ideelle Essenz des Kroisos-Logos, befördert eine Suche nach der besten Lösung oder Entscheidung, die freilich

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

immer auch scheitern oder im Irrtum münden kann, die jedoch im Regelfall zu besseren Urteilen gelangt als die Realitätsignoranz und vermeintliche Urteilssicherheit des Hybristes. Analog zu Pindar und Sophokles ist die Selbsterkenntnis auch bei Herodot nicht mit einem handlungslähmenden Pessimismus verbunden, sondern steht im Dienst eines aktiven, gelingenden Lebens. Die apollinische Selbsterkenntnis wird hier ähnlich wie in den besprochenen Texten der Dichtkunst als Begründung von praktischer Vernunft, Besonnenheit und Frömmigkeit dargestellt und als eine wesentliche Voraussetzung für fortdauernden Erfolg und menschenmögliche Eudaimonia verstanden. In besonderer Weise wird bei Herodot die Fähigkeit der vernünftigen praktischen Überlegung akzentuiert, die hier eine Art Kernkompetenz darstellt.

5.

Zusammenfassung

In der Untersuchung hat sich gezeigt, dass bei Pindar, Sophokles und Herodot das apollinische Motiv einer auf die Grenzen des Menschen rekurrierenden Selbstbesinnung entfaltet und in verschiedenen Hinsichten transformiert wird. Es lassen sich sowohl Bedeutungsverschiebungen als auch Kontinuitäten zur homerischen und delphischen Tradition beobachten. Betrachtet man die Konzeptionen in Relation zueinander, so wird deutlich, dass diese viele Übereinstimmungen aufweisen. Bei allen Modifikationen und Differenzen im Einzelnen werden ähnliche Vorstellungen von Bedeutungsgehalt, ethischer Dimension und Glücksrelevanz der Selbsterkenntnis artikuliert. Auf der Grundlage dieser Kongruenzen lässt sich ein ethisches Konzept rekonstruieren, das eine erstaunliche Komplexität aufweist und viele Motive und Vorstellungsmuster der klassischen philosophischen Ethik präformiert. Im Folgenden sollen die wesentlichen Momente dieser Konzeption noch einmal im Zusammenhang dargestellt werden. Bedeutungsgehalt der apollinischen Selbsterkenntnis: Wie oben aufgezeigt, ist die Aufforderung cm_hi sautºm als Reaktion auf das Phänomen der Hybris (vbqir) zu verstehen. Als Hybristes galt in der traditionellen Sichtweise eine Person, die in ihrem Selbstverständnis, ihren Ansprüchen und Strebenszielen die dem Menschen gesetzten Grenzen verkennt und in die göttliche Sphäre übergreift. Die Maßlosigkeit in den Macht- und Besitzansprüchen erforderten eine Einsicht, die hemmend und zügelnd wirkte. Nach theologisch-religiösem Verständnis konnte diese Leistung nur von einer Erkenntnis erbracht werden, die die konditionellen Schwächen des Menschen in den Blick nimmt und die Kluft zwischen Mensch und Gott vergegenwärtigt. Die apollinische Selbster-

Zusammenfassung

209

kenntnis ist wesentlich ein Differenzbewusstsein.462 Wir finden hier eine theologisch fundierte Anthropologie vor, die den Menschen in Relation zum göttlichen Sein bestimmt. Der Abstand zwischen Menschen und Göttern wird dabei weniger qualitativ als primär quantitativ bestimmt. Die Fokussierung des quantitativen Aspekts ist in der anthropomorphen Gottesvorstellung begründet, die von einer grundsätzlichen Verwandtschaft der Potenzen ausgeht und das Göttliche nicht durch ein prinzipielles qualitatives Anderssein charakterisiert sieht.463 Die Differenzbestimmung basiert hier also auf der Prämisse der Ähnlichkeit, die stets mitgedacht werden muss, will man dem komplexen Menschenbild der apollinischen Tradition gerecht werden und Missverständnisse vermeiden. Als spezifisches Merkmal der menschlichen Natur erscheint in den dichterisch-historiographischen Texten die Sterblichkeit. Die Trennungslinie zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre ist der Tod. Der bqotºr, hmgtºr, der Sterbliche steht dem göttlichen !h²mator, dem Unsterblichen gegenüber. Das in Dichtung und Geschichtsschreibung gestaltete cm_hi sautºm kann insofern als Aufforderung zur Erkenntnis des Menschen in seiner Sterblichkeit interpretiert werden. Diese Auslegungsformel erschließt sich jedoch nur dann, wenn die Sterblichkeit ausdifferenziert wird und die verschiedenen Aspekte beachtet werden. Das Merkmal der Sterblichkeit bezeichnet in der apollinisch inspirierten Anthropologie zum einen die zeitliche Begrenztheit des menschlichen Daseins.464 Der Akzent liegt dabei nicht auf der Endlichkeit des Lebens als solchem, sondern auf der zeitlichen Beschränktheit der an verschiedenen Kräften und Gütern partizipierenden Existenz. Das ›Sterbenmüssen‹ meint in diesem Kontext den unvermeidbaren Verlust der identitätsstiftenden und sinngebenden Besitztümer und Qualitäten. Mit dem Kennzeichen der Sterblichkeit ist zweitens die Unbeständigkeit der menschlichen Fähigkeiten und Güter gemeint, die in den Zeugnissen häufig mit dem Gedanken der Zirkulation von Glück und Unglück verknüpft wird.465 Der Aspekt der Instabilität bezeichnet im Unterschied zu dem mit dem Tod ver462 Das ist in der religionshistorischen und philologischen Forschung schon häufig gesehen worden. Vgl. Nilsson (GGR I, 651), Snell (1975, 170), Burkert (GR, 232), Vernant (1993, 12f. und 24) (1995, 98). Gegen Moore (2015, 23) lässt sich einwenden, dass es genügend Belege für diese Deutung des cm_hi sautºm gibt. 463 Vgl. Pind. N. 6, 1–7; P. 1, 41f.; fr. 141 Snell; Soph. Ant. 683. 464 Vgl. Pind. N. 11, 13–16; fr. 131b Snell; Soph. Ai. 118–133; El. 1171–73; Oid. T. 607–610; fr. 13, fr. 593, fr. 871, fr. 945 Radt; Hdt. 7, 46. 465 Vgl. Thgn. 159f.; Bakchyl. epin. 3,75ff. Maehler ; Pind. O. 2, 33–37; O. 12, 10–12a; P. 3, 104– 106; P. 8, 76f., 88–97; N. 6, 8–11; I. 3, 18; Soph. Ai. 118–133; Ant. 1156–1160; Trach. 126– 135; Oid. T. 1186–1192; fr. 13, fr. 106, fr. 592, fr. 593, fr. 646, fr. 871, fr. 945 Radt; Hdt. 1, 5, 4; 1, 32; 1, 86; 1, 207; 3, 40; 7, 10e.

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

bundenen endgültigen, irreversiblen Verfall primär den Wechsel, das Prosperieren und Abnehmen der Leistungsstärke und Güter innerhalb des individuellen Lebens sowie der Generationenabfolge. Eine besondere Betonung erfährt dabei die Inkonstanz der äußeren Güter. Diese Hervorhebung spiegelt zum einen die Erfahrung des plötzlichen Verlustes von Macht, Einfluss und Besitz wider, die insbesondere in der politisch-sozialen und ökonomischen Krise der archaischen Zeit präsent war. Zum anderen aber ist sie Ausdruck der besonderen Gefährdung dieser Güter, die stets dem sozialen Neid und dem Konkurrenzstreben der am Handlungsgeschehen beteiligten Akteure ausgesetzt sind. Das Merkmal der Sterblichkeit meint drittens den begrenzten Umfang der physisch-geistigen Kräfte und äußeren Besitztümer. Die Sterblichen vermögen zwar, so die insbesondere bei Pindar artikulierte Auffassung, aufgrund des gemeinsamen Ursprungs und der darin begründeten ähnlichen Qualitäten den Göttern nahe zu kommen.466 Die erreichbare Gottnähe wird jedoch nicht im Sinn eines Überstiegs zum göttlichen Sein gedacht, sondern als äußerste Grenze vorgestellt, die zu überschreiten dem Menschen nicht möglich ist. Der Sterbliche kann niemals »den ehernen Himmel ersteigen« (Pind. P. 10, 27).467 Die Götter bleiben trotz aller menschlichen Leistungsbereitschaft, Kraftanstrengung und hervorragenden Anlagen stets die überlegenen Mächte, die die Sterblichen hinsichtlich der Kräfte und Güterfülle um ein Vielfaches übertreffen. Diese unaufhebbare, durch keinen unendlichen Annäherungsprozess zu minimierende Differenz wird in den Zeugnissen insbesondere an der epistemischen Fähigkeit veranschaulicht, die hier stets im praktischen Kontext thematisiert wird.468 Im Gegensatz zu den Göttern besitzt der Mensch bezüglich des für die Handlungspraxis relevanten Zukunftswissens deutliche Grenzen und ist bei der Voraussicht von Handlungsfolgen, von künftigen Ereignissen und Entscheidungen beteiligter Akteure auf göttliche Hilfe angewiesen. Die drei genannten Aspekte der Sterblichkeit469 – Endlichkeit der menschlichen Existenz, Inkonstanz der Kräfte und Besitztümer, beschränkter Umfang der physisch-geistigen Potenzen und äußeren Lebensgüter – bezeichnen den Bedeutungsgehalt der in apollinischer Tradition stehenden Selbsterkenntnis. Die Einsicht in diese verschiedenen Dimensionen der Sterblichkeit ermöglicht nach apollinischer Auffassung eine Korrektur der megalomanischen, zur Hybris

466 Vgl. Pind. O. 3, 43f.; P. 10, 27–29; I. 4, 12. 467 Vgl. auch Pind. I. 7, 43f. 468 Sol. fr. 1, 65 Snell; Thgn. 130, 159f.; Pind. O. 7, 24ff.; O. 12, 5–9; P. 10, 63; N. 6, 6f.; N. 11, 43ff.; fr. 52f., fr. 53, fr. 61, fr. 182 Snell; Soph. Ai. 1418–20; Ant. 1160; fr. 590, fr. 593 Radt. 469 Der Ausdruck bqotºr, hmgtºr wird in der Dichtung in diesem umfänglichen Sinn gebraucht. Als Begriff, der die Differenz zu den Göttern, den Unsterblichen (!h²mator) anzeigt, umfasst er alle Momente der menschlichen Begrenztheit.

Zusammenfassung

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neigenden Tendenzen, die im Sinn einer Seelentherapie und ethischen Selbstformung vorgestellt wird. Selbsterkenntnis und Sophrosyne: Die Erkenntnis der Endlichkeit der menschlichen Existenz und die damit einhergehende richtige Positionierung in der göttlich-menschlichen Ordnung wird in den dichterisch-historiographischen Zeugnissen als Pharmakon gegen die Selbstüberhebung und als Begründung einer Mäßigung der Ansprüche aufgefasst. Durch die in Erfolgs- und Glückssituationen stets neu zu vergegenwärtigende Einsicht, dass die menschlichen Kräfte und Güter den Wechselfällen des Lebens unterworfen sind und das menschliche Dasein durch Unbeständigkeit gekennzeichnet ist, können, so der bei Pindar, Sophokles und Herodot artikulierte Gedanke, die aufkommende Hybris gebändigt und die Leidenschaften gezügelt werden. Die Mäßigung der Begierden ist in der apollinisch geprägten Ethik untrennbar mit der Ausbildung einer deliberativen Haltung verknüpft. Die Eindämmung der den Thymos beherrschenden Leidenschaften setzt dieser Konzeption zufolge eine praktische Vernunft (vqºmgsir) frei, die die jeweils angemessenen Handlungsziele und die entsprechenden Mittel bedenkt. In den Zeugnissen sind verschiedene Konzeptionen einer praktischen Vernunft erkennbar. In den pindarischen Gedichten wird eine praktische Urteilskraft geltend gemacht, die sich bei der Bestimmung des Angemessenen in der konkreten Situation an der gewonnenen Selbsterkenntnis orientiert. Die Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Natur erscheint dort in der Funktion eines regulativen Prinzips, das in der Handlungsüberlegung präsent ist.470 In der tragischen Dichtung und Historiographie471 wird demgegenüber ein Konzept der Deliberation entworfen, das drei Elemente vereint: 1) die Voraussicht (pqºmoia; pqolgh¸a), d. h. die Antizipation und Erwägung von Handlungsausgängen und –folgen, wobei die Möglichkeit des Scheiterns der geplanten Unternehmung stets mitberücksichtigt wird; 2) die gute Beratung (eqbouk¸a), die die Sachkompetenz, Erfahrung und Weisheit von anderen Personen zur Entscheidungsfindung heranzieht; 3) die auf der Aufhebung der anmaßenden Wissensgewissheit basierende Suche (f¶tgla) nach der richtigen Auslegung von eingeholten Göttersprüchen. Das bestimmende Moment in dieser Konzeption ist die Suche nach dem situativ Besten, die dem Faktum des menschlichen Wissensdefizits Rechnung trägt. Mäßigung und Vernunft (vqºmgsir) – diese beiden in der Selbsterkenntnis gründenden Haltungen – werden von der apollinisch inspirierten Ethik als Einheit aufgefasst und mit dem Ausdruck syvqos¼mg bezeichnet. Die sogenannte ›Sinnesgesundheit‹ ist nicht schon mit der Eindämmung der Emotionen, 470 Vgl. Pind. P. 2, 34; I. 5, 16; P. 3, 60. 471 Vgl. Soph. Ant.; Oid. T; Hdt. 1; 3, 36, 1; 7, 10.

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Ansprüche, agonalen Leidenschaften gegeben, sondern gewinnt erst volle Realität, wenn das vernünftige Denken hinzutritt und das Handeln bestimmt. Die Formung des Menschen zur Sophrosyne meint wesentlich die Überwindung des blinden, von maßlosen Begierden und Leidenschaften getriebenen Tuns durch ein vernunftbestimmtes Agieren. Vor dem Hintergrund dieser Analyse kann der enge Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Sophrosyne, der bekanntlich ein wesentliches Merkmal der traditionellen griechischen Ethik darstellt472, präziser bestimmt werden. Die Selbsterkenntnis fungiert demnach als Begründung der Sophrosyne, und zwar in zweifacher Hinsicht. Sie stellt sowohl eine argumentative Rechtfertigung der geforderten Selbstbeschränkung dar als auch das generierende Moment. Die argumentative Begründung der Mäßigung basiert hier auf der Annahme der Proportionalität von Kraftquantum und Güteranteil: Weil die menschliche Dynamis begrenzt ist und der Mensch nur in beschränkter Weise Anteil an den physischen und geistigen Grundqualitäten hat, gebührt ihm auch nur ein begrenzter Anteil an den als erstrebenswert und glücksgenerierend betrachteten Gütern.473 Das tugendgenerierende Moment der Selbsterkenntnis äußert sich in Selbstbildung und Persönlichkeitsformung. Das Ausmaß der Selbstformung hängt dabei zum einen von der charakterlichen Disposition ab und zum anderen von der Intensität der gewonnenen Selbsterkenntnis. Wie an Herodots KroisosLogos deutlich wird, gewinnt die Selbsterkenntnis an Nachhaltigkeit und Effizienz, wenn sie an der eigenen Leiderfahrung gewonnen und die Gebrechlichkeit der menschlichen Existenz am Beispiel des eigenen Daseins schmerzhaft erlebt wurde.474 Selbsterkenntnis als Begründung von Rechtlichkeit und Frömmigkeit: Nach der dargestellten apollinischen Ethik begründet die Selbsterkenntnis nicht nur die Sophrosyne, sondern auch die Tugenden der Frömmigkeit (eqs´beia)475 und Gerechtigkeit (dijaios¼mg). Aus der Einsicht in die nicht aufzuhebende Differenz zwischen Sterblichen und Unsterblichen resultiert dieser Konzeption zu472 Vgl. dazu die umfassende Studie zur griechischen Sophrosyne von North (1966). Die Verbindung von Sophrosyne und Selbsterkenntnis findet sich bereits bei Hom. Il. 21, 462– 64. Vgl. auch Herakl. fr. 116 DK und die platonischen Bezugnahmen auf diese traditionelle Vorstellung in Charm. 164dff.; Alk. I 131b, 133c; Tim. 72a. 473 Die Begründung der Notwendigkeit der praktischen Vernunft besteht in der Erkenntnis der begrenzten epistemischen Fähigkeit des Menschen: Weil der Mensch die Handlungssituation, die relevanten Faktoren und die Handlungsfolgen nicht sofort und nicht vollständig zu überblicken vermag und von daher in einer grundsätzlichen Handlungsunsicherheit befangen ist, bedarf er der Überlegung, Beratung und Suche nach dem Richtigen und situativ Besten. 474 Hdt. 1, 86; 1, 207, 1. 475 Zur engen Verbindung von Sophrosyne und Frömmigkeit vgl. Soph. Ant. 1348–50; El. 307; Ai. 132f. u. Eur. Bacch. 1150.

Zusammenfassung

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folge eine Ehrfurcht (!id¾r) gegenüber den Göttern, die sich in verbalen und materialen Ehrbezeigungen sowie in kultischer Pflichterfüllung manifestiert. Mit der Selbsterkenntnis ist nach apollinischer Sichtweise zudem die Einsicht in die Angewiesenheit auf göttliche Hilfe verbunden, die sich in der Bitte um göttlichen Beistand, in Dankesgebeten nach errungenen Erfolgen476 sowie in Frage und Ratsuche477 bekundet. Für die delphische Theologie war der Aspekt der Frömmigkeit gewiss der zentrale Punkt bei der Forderung nach Selbsterkenntnis, zielte doch die Religion primär auf die Harmonie zwischen Göttern und Menschen, die als maßgeblich für das Gelingen der menschlichen Unternehmungen und der Eudaimonia angesehen wurde. Die Selbsterkenntnis wird in der apollinisch geprägten Ethik jedoch nicht nur als wesentlich für die Einstellung gegenüber den Göttern betrachtet, sondern erscheint zudem als praktisches Prinzip, das das menschliche Sozialverhalten determiniert. Aus der Korrektur von anmaßenden, megalomanischen Tendenzen erwächst dieser Konzeption zufolge eine Achtung gegenüber den Ansprüchen und Leistungen anderer Menschen, die unmittelbar mit der Sophrosyne verknüpft ist.478 Die Mäßigung der Leidenschaften und die Ausrichtung des Wollens auf ›sterbliche‹ Ziele (hmgt± vqome?m) führen zu einem Handeln, das der im menschlichen Bereich geltenden Rechtsordnung adäquat ist und die durch das Recht gesetzten Grenzen einhält. Selbsterkenntnis und Glück479 : Wie die Zeugnisse erkennen lassen, geht die apollinische Ethik von einer engen Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Glück aus. Die Einsicht in die Grenzen des menschlichen Daseins trägt nach apollinischer Sichtweise – vermittelt über die Tugend – wesentlich zum menschlichen Glück bei. Durch die Ehrfurcht gegenüber den Göttern schafft der Mensch die Voraussetzung für göttliche Gunst, die zusammen mit der Wahl von angemessenen Strebenszielen und der realistischen Einschätzung von Kräften, Akteuren und Situationen zum Erreichen der selbstgesetzten Ziele sowie zur Erhaltung der Lebensgüter beiträgt.480 476 Vgl. z. B. Pind. P. 8, 61–80; P. 5, 25; I. 3, 4–5. 477 Vgl. z. B. Hdt. 1, 91. 478 Zur unmittelbaren Verknüpfung von Sophrosyne und Recht bzw. Rechtlichkeit vgl. Pind. fr. 94b, 61–65 Snell; I. 8, 23–26; fr. 52a, 10 Snell. 479 Zur Bezeichnung von ›Glück‹ werden die Ausdrücke eqtuw¸a, ekbor und eqdailom¸a gebraucht. Bei Pindar findet sich vor allem das auf das Güterglück bezogene ekbor (vgl. dazu Janke 2005, 52ff.). Bei Sophokles und Herodot werden alle drei Ausdrücke verwendet. Im herodoteischen Solon-Kroisos-Gespräch (1, 30–32) werden sowohl ekbor und eqdailom¸a als auch eqtuw¸a gebraucht. Zur Verwendung der Begriffe in der archaisch-klassischen Literatur vgl. Lauriola (2006). 480 Vgl. Sol. fr. 1, 7–10 Snell; Bakchyl. dith. 1, 50–56 Maehler ; Pind. P. 5, 12–14; P. 11, 50–58; I. 3, 1–6; fr. 52b, 50–52 Snell; fr. 214 Snell; Aischyl. Ag. 750–762; Soph. Ai. 133; Ant. 1348f.; fr. 194 Radt; Hdt. 7, 10, d.

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

Da die anhaltende Göttergunst und die zum Habitus ausgebildete Sophrosyne nicht nur singuläre Handlungserfolge hervorbringen, sondern für eine gewisse Stabilität und Dauerhaftigkeit des Glücks sorgen481, so der insbesondere bei Pindar und Sophokles artikulierte Gedanke, resultiert der paradoxe Sachverhalt, dass die menschliche Existenz gerade durch die Einsicht in deren konditionelle Flüchtigkeit und Unbeständigkeit eine relative Beständigkeit und Stabilität gewinnt. Der lebensfördernde, handlungsaktivierende Sinn der apollinischen Selbsterkenntnis: Die aufgezeigte enge Verknüpfung von Selbsterkenntnis, Tugend und Glück weist darauf hin, dass das apollinische Konzept der Selbstbesinnung nicht im Sinn einer pessimistischen Wirklichkeitssicht zu verstehen ist. Die Erkenntnis der menschlichen Begrenztheit bezeichnet keine resignative Einsicht, die die Handlungskraft lähmt und eine Haltung der Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Passivität oder des Zynismus befördert. Vielmehr stellt sie eine realistische Einschätzung der menschlichen Dynamis und der Stellung des Menschen innerhalb des Ganzen dar, die einen handlungsaktivierenden Impuls in sich trägt und im Dienst eines aktiven, gelingenden Lebens steht. Im Anschluss an LefHvre (2005, 15) wird hier die These vertreten, dass die apollinische Einsicht nicht nur eine hemmende, zügelnde Funktion hat, sondern zugleich auf eine Freisetzung und Aktivierung der dem Menschen zur Verfügung stehenden konstruktiven Kräfte zielt.482 Die Einsicht in die unaufhebbaren Grenzen entwirft den Menschen auf das ihm Mögliche hin483, in dessen aktiver und bewusster Ergreifung er seine Kräfte und Fähigkeiten erst wirklich entfalten kann. Erst die Selbstbeschränkung macht die Selbstentfaltung möglich, da die volle und schöpferische Entbindung aller Potenzen der Wahl einer Lebensaufgabe und der Konzentration auf Handlungsziele bedarf, die der Natur des Menschen gemäß sind. Menschliche Freiheit und Selbstverantwortung als Prämissen der apollinischen Ethik: Die in der apollinischen Einsicht implizierte Dialektik von Selbstbegrenzung und Selbstverwirklichung deutet auf die dem Menschen zugesprochene Freiheit und Selbstverantwortung hin. Die Maxime cm_hi sautºm ist ein Appell an den Einzelnen, sein Leben vernünftig zu gestalten und durch die Realisierung der Tugend die Voraussetzungen für Erfolg und Gelingen zu schaffen. Zwar wird das Leben stets von einer Vielzahl von Faktoren determiniert, die nicht in der Verfügung des Menschen stehen – wie Einflussnahme der göttlichen Mächte, verhängtes Geschick, Zufall, Herkunft, Beschaffenheit der Physis, unvorhersehbare Naturereignisse. Der Mensch besitzt jedoch die Mög481 Vgl. Pind. P. 11, 50–58; I. 3, 5; Soph. fr. 194 Radt. 482 So bereits Schwartz (1951, 64), Dirlmeier (1970, 42ff.), Schadewaldt (1975, 25f.). 483 Vgl. Pind. P. 3, 59–62; P. 11, 50f.

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lichkeit, durch Phronesis und Sophrosyne den Verlauf und den Ausgang von Handlungen sowie den Lebensvollzug im Ganzen positiv zu beeinflussen. Dieser auf das Handlungsresultat bezogenen Verantwortung, die aufgrund der Vielzahl der Einflussfaktoren nur eine eingeschränkte sein kann, korrespondiert eine uneingeschränkte Verantwortung im Bereich der Willensentscheidungen und der Handlungswahl. Zwar werden in den Zeugnissen immer wieder naturgegebene Anlagen, charakterliche Dispositionen und außersubjektive Faktoren als handlungsdeterminierende Wirkkräfte angeführt. Damit wird jedoch keineswegs die Möglichkeit einer Selbstformung geleugnet, sondern lediglich deren Schwierigkeit veranschaulicht. Der apollinische Appell zur Realisierung von Vernunft und Mäßigung impliziert die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich über Willensfreiheit verfügt und prinzipiell die Möglichkeit hat, sich zu den verschiedenen Einflussfaktoren zu verhalten und korrigierend einzugreifen. Es steht letztlich in seiner Verantwortung, ob er sich von Erfolg, Ruhm und Güterfülle zur Hybris verleiten lässt oder ob er seine Begierde zügelt und mit Erfolgs- und Glückssituationen besonnen umgeht.484 Die Zeugnisse lassen freilich keinen Zweifel daran, dass Selbsterkenntnis und Selbstformung zu den schwierigsten Aufgaben gehören. Der Mensch neigt zur Megalomanie und zur Pleonexie und erliegt leicht der Verführungskraft des Erfolges.485 In anmaßenden Tendenzen befangen ist er zu einer wirklichen Einsicht oftmals kaum bereit und erwirbt allenfalls eine oberflächliche Erkenntnis, die ephemeren Charakter hat und ihre lebensgestaltende Kraft schnell verliert.486 Die herodoteische Kroisos-Darstellung versucht dieser Grundkonstante des menschlichen Daseins gerecht zu werden, indem sie im Anschluss an Aischylos (Ag. 177) das Leiden als Weg zur Einsicht betont.487 Konzeption einer ganzheitlichen Ethik: Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungsresultate lässt sich die These wagen, dass die enge Verknüpfung von Einsicht, Tugend und Glück nicht im aufklärerischen Rationalismus des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurzelt oder ein spezifisch sokratisch-platonisches Konzept darstellt, sondern bereits in der apollinisch geprägten Dichtung und Geschichtsschreibung präsent ist, wenn auch nicht in philosophisch reflektierter Form. In der von delphisch-apollinischen Motiven bestimmten Ethik sind jene Grundannahmen präformiert, die in der klassischen Philosophie philosophisch begründet werden: 1) Selbsterkenntnis als Prinzip der Persönlichkeitsbildung; 2) Erkenntnis als Grund von Tugend und individuellem Glück sowie als Vor-

484 Vgl. insbes. Sol. fr. 3, 1–7; fr. 8, 1–4 Snell; Thgn. 833–36; Bakchyl. dith. 1, 51f. Maehler ; Aischyl. Ag. 750–780; Hdt. 1, 91. 485 Vgl. Pind. N. 11, 44–48; P. 8, 89–94; Sol. fr. 1, 34ff. Snell; Thgn. 694; Bakchyl. fr. 1 Maehler. 486 Vgl. Hdt. 1, 86, 6 u. 1, 204, 2. 487 Hdt. 1, 207, 1.

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Apollinische Selbsterkenntnis in Dichtung und Historiographie

aussetzung des politischen Handelns; 3) die in der Vernunft gründende Einheit der Tugenden. Auch wenn die Frömmigkeit in der traditionellen Sichtweise gewiss der zentrale Punkt war, ist die apollinische Selbsterkenntnis keineswegs auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern beschränkt. Vielmehr liegt hier ein umfassendes ethisches Konzept vor, dass die für den Menschen essenziellen Lebensbereiche und Relationen – das Verhältnis zur göttlichen Sphäre, das Verhältnis zum Anderen bzw. zur Gemeinschaft und das Verhältnis zu sich selbst – umgreift und die religiöse, politisch-soziale und personale Dimension des menschlichen Seins gleichermaßen berührt. Man kann insofern von einer anthropologisch-theologisch begründeten ganzheitlichen Ethik sprechen. Im zweiten Hauptteil der Untersuchung wird zu zeigen sein, dass die Selbsterkenntnis in der klassischen Philosophie eine Vertiefung und Neubegründung erfährt. Das von der religiös-dichterischen Tradition Erreichte wird von Sokrates und Platon aufgegriffen und durch eine neue Grundlegung transzendiert. Die angedeutete philosophische Überschreitung der Tradition impliziert, dass das apollinische Konzept der Selbsterkenntnis bestimmte Grenzen aufweist. Da diese Defizite für das Verständnis der philosophischen Konzeption von Bedeutung sind, wird die Untersuchung mit einer kritischen Betrachtung der vorphilosophischen Auffassung der Selbsterkenntnis abschließen.

6.

Grenzen der apollinischen Selbsterkenntnis

Eine Grenze der apollinischen Selbsterkenntnis besteht zweifellos in deren theologischem Fundament. Das anthropomorphe Gottesverständnis, das hier als Maßstab und Orientierungspunkt der Einsicht fungiert, hat sich zwar über eine längere Zeit hinweg als durchaus brauchbares und funktionstüchtiges Konzept erwiesen. Den sich zunehmend Geltung verschaffenden rationalen Ansprüchen auf eine tragfähige und stringente Begründung von ethischen Prinzipien vermochte es jedoch immer weniger zu genügen. Im Kontext des religionskritischen Diskurses der spätarchaisch-klassischen Zeit verlor die Selbsterkenntnis folglich zunehmend ihre theologischen Grundlagen. Die im späten 6. Jh. v. Chr. einsetzende und von der Aufklärung forcierte Religionskritik führte zu einem Verblassen des mythologischen Aspekts und zu einer Humanisierung der apollinischen Ethik. Beide Faktoren – Entmythologisierung und Humanisierung – haben entscheidend zu jenem Transformationsprozess beigetragen, aus dem zum einen die philosophische Selbsterkenntnis sokratisch-

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platonischer Prägung und zum anderen die hellenistische Konzeption der Selbsterkenntnis erwachsen sind.488 Neben dem fragwürdigen theologischen Fundament lassen sich zwei weitere Problemfelder beobachten: 1) fehlende Reflexion des Selbstbegriffs, 2) mangelnde Prüfung der herkömmlichen Wertkategorien und Glücksvorstellungen. Zu Punkt 1): Die vorphilosophische Selbsterkenntnis weist bezüglich der Klärung und Bestimmung des Selbstbegriffs deutliche Defizite auf. Intendiert ist lediglich die Einsicht in bestimmte Merkmale der menschlichen Kondition wie zeitliche Endlichkeit, Unbeständigkeit, Instabilität; unthematisch bleibt jedoch das Subjekt bzw. die Instanz, die als Träger dieser Merkmale fungiert. Mit anderen Worten: Gegenstand der epistemischen Selbstbeziehung sind besondere Prädikate und Eigenschaften des Selbst, nicht aber das Selbst selbst. Aus den relevanten Quellentexten lässt sich erschließen, welche Vorstellung von personaler Identität der apollinischen Ethik zugrunde liegt. Der vorausgesetzte Selbstbegriff ist sehr weit gefasst und umgreift alle Seinsbereiche, die für die menschliche Existenz essenziell sind: den Bereich der seelischen Kräfte und Vermögen, den der leiblichen Kondition sowie die Sphäre des äußeren Besitzstandes, die mit der Stellung innerhalb der Gemeinschaft eng verknüpft ist. Das Selbst wird als undifferenzierte Einheit von physischen, psychischen und geistigen Vermögen sowie äußeren Gütern vorgestellt, wobei noch kaum Versuche erkennbar sind, die verschiedenen Ebenen präziser zu bestimmen und deren Relation zueinander zu klären, also etwa zwischen einem koordinierenden, leitenden Prinzip und einem Selbst im weiteren Sinn zu unterscheiden. Bei aller Undifferenziertheit ist jedoch zu beobachten, dass eine bestimmte Gewichtung vorgenommen wird. Der Fokus liegt eindeutig auf der äußeren Besitzlage und der damit verknüpften sozialen Rolle. Die personale Identität bestimmt sich der traditionellen Sichtweise zufolge wesentlich über die aus Herkunft und/oder eigenen Leistungen resultierenden Güter – wie Reichtum, Macht, Einfluss, Ruhm, Reputation – und den entsprechenden Rang innerhalb der sozialen Ordnung. Das in den Zeugnissen erkennbare Selbstkonzept ist in hohem Maß von materiellen und sozialen Identifikationsmustern geprägt. Dieser Selbstbegriff ist einer der maßgeblichen Gründe dafür, dass im Rahmen der Selbstreflexion der Unbeständigkeitsaspekt eine zentrale Rolle spielt und die menschliche Existenz als prekär, instabil, unsicher eingeschätzt wird. Beruht das Selbstverständnis primär auf der äußeren Besitzlage und der sozialen Stellung, 488 Neben der in der Dichtung, insbesondere bei Menander greifbaren Konzeption wird der hellenistische Selbsterkenntnis-Diskurs vor allem von der stoischen Philosophie bestimmt. Vgl. insbes. Zenon und Chrysipp sowie die Philosophie der Kaiserzeit (Seneca, Epiktet und Marc Aurel). Die stoische Selbsterkenntnis steht in der Nachfolge der sokratisch-platonischen Tradition, deren Motive sie aufnimmt. Zu den Konzepten der Selbsterkenntnis in der Stoa vgl. Göbel (2002).

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die aufgrund der Vielzahl von äußeren, nicht in der Verfügungsgewalt des Handlungssubjekts stehenden Einflussfaktoren stets gefährdet sind, ist die Identität in starkem Maß den Wechselfällen des Lebens unterworfen, d. h. dem ›Tag‹ ausgesetzt.489 Zu Punkt 2): Mit dem Selbstkonzept eng verknüpft sind bestimmte Wert- und Glücksvorstellungen, die analog zur Identitätsauffassung keine systematische Klärung und kritische Reflexion erfahren. Die Einsicht in die menschliche Begrenztheit korrigiert zwar die auf Selbstüberschätzung beruhende Überzeugung von der Möglichkeit eines dauerhaften und unbeschränkten Besitzes aller Lebensgüter und stellt das von Mangelerscheinungen freie Dasein als eine den Sterblichen verwehrte göttliche Existenz vor Augen. Ungeprüft und unreflektiert bleiben hier jedoch der Wert der Lebensgüter sowie die damit verbundenen Glücksvorstellungen.490 Die apollinische Selbsterkenntnis basiert auf der Prämisse, dass die Lebensgüter einen intrinsischen Wert besitzen und als solche wünschenswert und erstrebenswert sind. Diese axiologische Voraussetzung spiegelt sich in den verschiedenen Glückskonzeptionen der klassischen Dichtung und Historiographie wider. Bei Pindar findet sich eine güterorientierte Glücksvorstellung, die physische, materielle und soziale Aspekte ins Zentrum rückt. Als wünschbarer und dem Menschen prinzipiell erreichbarer Glückszustand wird hier das Zusammentreffen von verschiedenen, als besonders relevant eingeschätzten Faktoren betrachtet: leibliches Wohlergehen, gutes Geschick, d. h. das Ausbleiben von schweren Schicksalsschlägen, materieller Wohlstand und soziales Prestige.491 Eine besondere Akzentuierung erfährt der aus hervorragenden Leistungen und außergewöhnlichen Taten erwachsende Ruhm, der von Pindar als höchster Gewinn (I. 1, 50f.) und äußerste Grenze des Glücks (I. 6, 10–13) bezeichnet wird. Der herausragende Stellenwert dieses durch Dauerhaftigkeit charakterisierten sozialen Ansehens ist in der Unsterblichkeitsvorstellung der Tradition begründet, die die Fortexistenz des Individuums nach dem Tod als ein Weiterleben im kollektiven Gedächtnis auffasst.492 489 Der Zusammenhang zwischen der Identitätsauffassung der Tradition und der Annahme der Hinfälligkeit und Instabilität des menschlichen Selbst ist von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik anhand der traditionellen Glückskonzeption reflektiert worden (vgl. eth. Nic. 1100a10–1101b). 490 Die Ungeprüftheit der höchsten Wertvorstellungen ist nicht zuletzt im anthropomorphen Götterverständnis begründet. Als Projektion der menschlichen Wert- und Zielvorstellungen vermögen die Götter kaum zur Infragestellung und Prüfung der Wertüberzeugungen herauszufordern. 491 Vgl. O. 5, 23f.; O. 7, 10; P. 1, 99f.; N. 9, 46f. Ähnlich Bakchyl. epin. 1, 160ff. Maehler. Vgl. die Reflexion der traditionellen Güterordnung bei Plat. leg. 661a/b, 870a/b; Gorg. 451e. 492 Die davon unterschiedene Vorstellung einer Fortexistenz und Reinkarnation der individuellen Seelen entsprang nicht der olympischen Religion, sondern ist durch die religiösen

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An der Betonung von bestimmten Lebensgütern als Lohn für besondere Tüchtigkeit493 wird deutlich, dass die von Pindar präferierte Leistungsethik in Wertkategorien begründet ist, die sich zwar nicht ausschließlich, aber doch zu einem wesentlichen Teil an äußeren Glücksfaktoren orientieren. Die Tüchtigkeit (!qet¶) als Aktualisierung der vorhandenen Naturanlagen (vu²) dient dem Erwerb der für glücksrelevant gehaltenen Güter und nimmt insofern instrumentelle Züge an. In ähnlicher Weise ist auch die Maßethik an das Güterstreben gebunden. In der Analyse der pindarischen Siegeslieder wurde deutlich, dass Selbsterkenntnis und Mäßigung als erfolgsstabilisierende Faktoren fungieren. Die Maßethik verhindert in Glückssituationen die ins Verderben führende Hybris und trägt auf diese Weise zur Sicherung und Beständigkeit des Erreichten sowie zum zukünftigen Erfolg bei. Da die Sophrosyne in dieser Konzeption untrennbar mit einer Haltung der Rechtlichkeit und der religiösen Ehrfurcht verknüpft ist, lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass auch die Tugenden der Gerechtigkeit und Frömmigkeit auf die oben genannten Güter bezogen sind. Die bei Pindar zur Darstellung kommende Tugendkonzeption im Ganzen kann man insofern als eine auf die Lebensgüter ausgerichtete Glücksethik umschreiben.494 Ähnliches lässt sich in den herodoteischen Historien beobachten. Bei Herodot wird der Begriff eines vollkommenenen Glücks als ein dem Menschen nicht erreichbares Ideal entworfen, das analog zu Pindars Konzeption durch die Lebensgüter bestimmt ist. Die Solon-Rede (1, 32, 8–9) verweist auf ein absolutes, unbeschränktes Glück, das im dauerhaften Besitz aller äußeren Güter und seelisch-geistigen Vorzüge besteht. Dieses Glück bleibt freilich den Göttern vorbehalten. Da im sterblichen Dasein die Glücksgüter495 niemals vollständig, sondern stets in partikulärer Form auftreten und der Sterbliche grundsätzlich in der Bedürfnisstruktur, d. h. im Zustand des mit Leiden verbundenen Mangels verhaftet bleibt, ist dem Menschen nur ein relatives und unvollkommenes Glück

Weisheitssekten – Orphik und Pythagoreismus – sowie durch den Mysterienkult in die religiöse Vorstellungswelt eingedrungen. Vgl. dazu Vegetti (1993) und Bremmer (2002a). 493 Vgl. I. 7, 26; I. 6, 10–13; I. 1, 50f.; P. 2, 63f. 494 Die Differenz zwischen der von individuellem Erfolgsstreben und Tapferkeit dominierten aristokratisch-heroischen Tugend, die bei Pindar anklingt, und der von Rechtlichkeit, Gesetzlichkeit, Sophrosyne und Vernunftüberlegung bestimmten Bürgertugend, die bei Sophokles und Herodot ins Zentrum rückt, ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, da sowohl aristokratische als auch bürgerliche Tugend auf die genannten Glücksgüter ausgerichtet sind, wenn auch die Gewichtung differiert. Zur aristokratischen und bürgerlichen Arete vgl. Adkins (1960), Hölkeskamp (1989 u. 2000), Bryant (1996), Stahl (1987, 88 u. 2003 I/II). 495 Die in der herodoteischen Solon-Rede (1, 32) enthaltene Gütertafel stimmt mit Pindar weitgehend überein. Als glücksgenerierende Güter werden Gesundheit, körperliche Wohlgestalt, gesunde und tüchtige Nachkommen, materieller Wohlstand und Ruhm benannt.

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möglich.496 Innerhalb dieser allgemeinen Beschränktheit gibt es, so die Darstellung in den Historien, erhebliche individuelle Unterschiede bezüglich des Glücksanteils, die durch differente Anlagen und Umstände bedingt sind. Die Individuen unterscheiden sich durch ein Mehr oder Weniger an Daseinserfüllung. Der Glücksgrad des Einzelnen bestimmt sich dabei nach der Menge und dem Umfang der Güter relativ zum Besitz der anderen sozialen Akteure. Diese Auffassung wird in der folgenden, den Kulminationspunkt der Solon-Rede darstellenden Definition prägnant formuliert: Am glücklichsten von allen Menschen ist derjenige, der von den Gütern »während seines ganzen Lebens am meisten hat und sein Leben glücklich beendet« (1, 32, 9; Übers.Ley-Hutton; Hervorhebung B.F.). Wie der Kroisos-Logos deutlich macht, stehen Selbsterkenntnis und Mäßigung auch bei Herodot im Dienst dieses güterorientierten Glücks: Das Ideal eines vollkommenen Daseins bleibt zwar unerreichbar ; eine gewisse Annäherung an diesen Zustand, d. h. eine relativ stabile und dauerhafte Partizipation an den wichtigsten Gütern ist jedoch möglich, wenn der Mensch durch Naturanlagen, Herkunft und Schicksal begünstigt ist und er zudem vernünftig und maßvoll agiert. Selbsterkenntnis und Maßethik werden hier als unabdingbare Voraussetzungen eines gelingenden Güterstrebens bestimmt. Es ist folgendes Resümee zu ziehen: Im Zusammenhang mit dem Selbsterkenntnis-Motiv werden in den dichterisch-historiographischen Zeugnissen Glücksvorstellungen und daran gebundene Wertüberzeugungen artikuliert, die keine Begründung oder kritische Reflexion erfahren und insofern den Status von unhinterfragten Prämissen haben. Die vorphilosophische Konzeption der Selbsterkenntnis basiert auf einem der Alltagsintuition entsprechenden Wertwissen, das als Grundlage von Handlungsentscheidungen und als Maßstab der Beurteilung von Lebensvollzügen fungiert, aber selbst nicht noch einmal einer prüfenden Betrachtung unterzogen wird. Man kann insofern davon sprechen, dass die als Selbsterkenntnis vorgestellte Einsicht in die menschliche Begrenztheit ihrerseits beschränkt ist. Sie beruht auf einer bestimmten Wissensgewissheit, die nicht in Frage gestellt wird. Anders formuliert: Die den Menschen auf seine zeitlichen und potenziellen Grenzen verweisende apollinische Selbsterkenntnis geht mit einer Meinungssicherheit bezüglich der übergeordneten Strebensziele und Glücksvorstellungen einher, die unangetastet bleibt. Wie in der Untersuchung aufgezeigt, schließt die apollinische Einsicht den Wissensaspekt zwar mit ein und verweist den Sterblichen auf seine be496 Die Differenzierung zwischen einem vollkommenen, den Göttern vorbehaltenen Glück und einem menschenmöglichen, unvollkommenen Glück ist ein in der Dichtung der archaischklassischen Zeit häufig wiederkehrender Topos. Vgl. z. B. Pind. N. 7, 54–56; Bakchyl. epin. 5, 50–55 Maehler ; Thgn. 1162.

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schränkten epistemischen Fähigkeiten. Die eingesehenen Wissensdefizite bewegen sich jedoch auf der Ebene des situativen Handlungswissens und berühren nicht die allgemeinen Handlungsprinzipien. Diese Beschränktheit der apollinischen Einsicht zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wenn man einen Blick auf die zugrunde liegende Wissenskonzeption wirft. Als Maßstab der Bestimmung der epistemischen Grenzen des Menschen fungiert hier ein den Göttern zugesprochenes Wissensideal. Zeus und Apollon – die beiden Götter, denen das Attribut der Weisheit in besonderem Maße eignet – zeichnen sich nach traditioneller Vorstellung durch Allwissenheit in den Angelegenheiten der Sterblichen aus.497 Da die Weisheitsgötter alle relevanten Faktoren kennen – die Absichten, Ziele, Pläne, getroffenen Entscheidungen, charakterlichen Dispositionen, Kräfte und Kontingente aller beteiligten Akteure sowie die Kraftkonstellationen und Relationen zwischen den Handlungssubjekten – und sich weder von Göttern noch Menschen täuschen lassen, vermögen sie die Geschehensabläufe, den Ausgang von Handlungen und das Ende von Handlungsketten zu überblicken. Apollon kennt »in allem das gültige Ende (t´kor) und alle Wege dahin« (P. 9, 44f.), er sieht genau voraus, »was sein wird und woher es kommen wird« (ebd., 48f.; Übers. E. Dönt), heißt es im neunten pindarischen Gedicht.498 Dem Menschen sind demgegenüber deutliche Grenzen bezüglich des Zukunftswissens gesetzt.499 Die Befangenheit in Selbsttäuschungen und Fremdtäuschungen, das Nicht-Durchschauen von betrügerischen Absichten und Listen der Gegner, die Hingabe an Wunschträume und Illusionen, die Unkenntnis der Pläne und Beschlüsse der Götter sowie des verhängten Geschicks und die Informationsdefizite machen eine realistische Einschätzung der Handlungssituation und eine sichere Voraussicht des Ausgangs und der Folgen von Handlungen in den meisten Fällen unmöglich.500 Das der apollinischen Einsicht zugrunde liegende Wissensideal ist folglich an 497 Vgl. z. B. Soph. Oid. T. 497ff. 498 Vgl. auch Pind. P. 3, 27ff. und O. 6, 66f. sowie Sol. fr. 1, 53f. Snell. Da der Gott kein Vergessen kennt, bezieht sich seine Allwissenheit auch auf die Vergangenheit. Das Vergangenheitswissen spielt bei der kathartischen Funktion des Apollon eine herausragende Rolle. 499 Vgl. Semonides von Amorgos fr. 1, 1–5 Snell; Sol. fr. 1, 65f. Snell; Thgn. 141f.; Pind. O. 7, 24ff.; O. 12, 5ff.; N. 6, 6ff.; N. 11, 43ff.; P. 10, 63; Soph. Ai. 1419f.; fr. 593 Radt. Das Motiv der Zukunftsblindheit durchzieht die gesamte archaisch-klassische Lyrik. Vgl. dazu Theunissen (2002a, 234). Zur Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Wissen vgl. Diller (1963) u. Dodds (1970, 18 u. 94). 500 Die Analyse des Kroisos-Logos hat gezeigt, dass die apollinische Einsicht in die menschliche Erkenntnisschwäche – so wie die apollinische Selbsterkenntnis im Ganzen – nicht resignativ ist, sondern einen positiven Impuls in sich trägt. Aus dem Wissen um die Erkenntnisdefizite und Irrtumsanfälligkeit erwächst eine Haltung der Suche (f¶tgla), die sich insbesondere im Umgang mit den Orakeln positiv auswirkt. Selbsterkenntnis und Mäßigung befördern die Fähigkeit der Voraussicht (pqºmoia; pqolgh¸a) und tragen zur Überwindung der Zukunftsblindheit bei, die freilich nie gänzlich aufzuheben ist.

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ein Wissensverständnis geknüpft, das an der Praxis orientiert ist und die Fähigkeit zur Antizipation von künftigen Ereignissen, Geschehensabläufen, Handlungsresultaten als entscheidende Kompetenz betrachtet. Das im Rahmen der apollinischen Selbstbesinnung eingesehene Wissensdefizit bezieht sich auf das situative Handlungswissen, auf das Nützliche und Richtige im konkreten Fall sowie auf relevante Informationen, Geschehensabläufe und Handlungsresultate und -folgen, nicht aber auf die Handlungszwecke bzw. auf das die konkreten Handlungsziele bestimmende Prinzipien- oder Wertwissen. Die von der Selbsterkenntnis ausgelöste Suche ist auf die Überlegung beschränkt, ob eine geplante Handlung ausgeführt oder besser vermieden werden sollte, wie ein bestimmtes Handlungsziel erreicht werden kann, ob es durch ein geplantes oder begonnenes Unternehmen tatsächlich erreicht wird etc.501 Die Grundlagen des Handelns und die axiologischen Fundamente des individuellen und gemeinschaftlichen Daseins werden hingegen von der Suche nicht berührt. Die apollinische Selbsterkenntnis basiert auf der unausgesprochenen Prämisse, dass die Menschen den Göttern bezüglich des Wertwissens in nichts nachstehen. Versucht man, die Begrenztheit der vorphilosophischen Selbsterkenntnis in einer knappen Formel zusammenzufassen, so lässt sich diese als fehlende Frage nach dem Selbst und dem Guten bestimmen. Die Grenzen der apollinischen Ethik bestehen im Wesentlichen darin, dass sie bestimmte Vorstellungen von personaler Identität und den identitätsstiftenden Werten voraussetzt, die nicht weiter aufgeklärt, begründet oder kritisch reflektiert werden. Es wird sich zeigen, dass die Frage nach dem Selbst und dem Guten die entscheidende Differenz zwischen der sokratisch-platonischen Selbsterkenntnis und der traditionellen Selbstbesinnung bezeichnet. Die von Sokrates und Platon präferierte Selbsterforschung macht sowohl das Selbst- als auch das Werteverständnis zum Gegenstand der Betrachtung. Im elenktisch-dialektischen Verfahren werden die herkömmlichen Identifikationsmuster, Wertkategorien und Glücksvorstellungen reflektiert, geprüft und überschritten. Aus dem kritischen Umgang mit den tradierten, den Alltagsintuitionen entsprechenden Auffassungen von Identität, Tugend und Eudaimonia erwächst eine Selbsterkenntnis, die, so die These der Untersuchung, eine ganz neue Auslegung des cm_hi sautºm darstellt.

501 Vgl. die oben (Kap. A I 3a) angeführten Fragetypen der Orakelkonsultationen. Die Fragen vom Typus: ›Ist es besser und vorteilhafter, dies oder jenes zu tun? Ist es gut und ratsam, dies zu tun? Was muss ich tun, um dies zu erreichen/glücklich zu vollenden/abzuwenden? Wie soll ich mich in dieser Situation verhalten?‹ beziehen sich stets auf geeignete Verfahrensweisen, Optionen und Mittel, nicht aber auf die Zwecke. Ähnlich verhält es sich bei den ethischen Fragen im engeren Sinn. Fragen wie: ›Ist jemand besser/glücklicher/weiser als ich? Wer ist der Glücklichste/Frömmste/Weiseste?‹ zielen nicht auf Verständnis und Bedeutungsgehalt der ethischen Werte, sondern auf soziale Hierarchien und Rangordnungen.

Teil B: Platonische Selbsterkenntnis

Hinführung

Der zweite Hauptteil dieser Untersuchung widmet sich der Konzeption der Selbsterkenntnis bei Sokrates und Platon. Es wird zum einen aufzuzeigen sein, dass die klassische Philosophie viele Elemente und Motive der apollinisch inspirierten Ethik aufgreift und entfaltet. Zum anderen aber werden Transformationsprozesse sichtbar, die die gesamte nachplatonische Reflexion, insbesondere das hellenistische und spätantike Denken maßgeblich beeinflusst haben.1 Die Betrachtung wird sich zunächst dem historischen Sokrates zuwenden (B/ I), der explizit an die apollinisch-delphische Tradition anknüpft. Im Anschluss an diese Darstellung erfolgt eine gründliche Untersuchung der epistemischen Selbstbeziehung in der platonischen Philosophie (B/II). Wie die Häufigkeit der Thematisierung eindrucksvoll belegt, hat Platon dem Problem große Bedeutung beigemessen. Im Frühwerk ist die Selbsterkenntnis beinahe in jedem Dialog thematisch präsent. Reflexionen und Bezugnahmen auf den Gegenstand lassen sich jedoch auch in den mittleren Dialogen2 und selbst noch im Spätwerk beobachten3, sodass hier von einer Kontinuität der Motivbehandlung gesprochen werden kann. Wie in der Einleitung bereits bemerkt, ist eine Untersuchung der platoni1 Zur Verbindung von sokratisch-platonischer Selbsterkenntnis und hellenistischen und kaiserzeitlichen Philosophenschulen vgl. Göbel (2002). 2 Vgl. Alk. I 116e–118b, 127e–133c; Phaidr. 229e–230a, 237c; Phaid. 90d/e; symp. 204a/b; rep. 519c/d, 611bff. 3 Vgl. Phil. 48c–49a; Tht. 150c, 157c/d, 161b, 210c; soph. 229c–230e; Tim. 72a und 90a–d; leg. 732a/b, 863c/d, 923a. Annas (1985, 135f.) ist der Auffassung, dass Platon in den mittleren Dialogen das Interesse an der Selbsterkenntnis verloren habe. In der jüngeren und jüngsten Literatur ist jedoch richtig gesehen worden, dass die Selbsterkenntnis auch in den mittleren und späten Dialogen für Platon eine große Bedeutung hat. Vgl. Horn (1998, 226–231), Erler (2002) (2006), v. Ackeren (2003), Tsouna (2004), McCabe (2007), Karl (2010), Hardy (2011), Ortiz de Landazuri (2015), Moore (2015). Ähnlich bereits Ballard (1965), Griswold (1986), Burnyeat (1992). Nach Ortiz de Landazuri (2015, 138) ist die Selbsterkenntnis »an implicit central topic in Plato’s philosophy«.

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Hinführung

schen Konzeption der Selbsterkenntnis mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Ein Problem besteht darin, dass Platon die Selbsterkenntnis auf verschiedenen Darstellungsebenen und Reflexionsniveaus thematisiert. In einigen Dialogen wird sie im Rahmen von begrifflich-argumentativen Reflexionen erörtert; in anderen Texten werden bildliche Darstellungsformen gewählt wie Gleichnisse, Metaphern. Zudem versucht Platon – insbesondere im Frühwerk – die Selbsterkenntnis im exemplarischen Vollzug vorzuführen und in der dramatischen Gesprächshandlung zu veranschaulichen. Die Intention dieser Gestaltungsform besteht offenbar darin, den Leser in einer direkten, unmittelbaren Weise mit der Sache zu konfrontieren und ihn zur eigenen Selbsterkenntnis herauszufordern. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass sich bei Platon verschiedene Arten der epistemischen Selbstbeziehung finden, die sich bezüglich der Wissensform, der Methode und des Gegenstandes teilweise stark voneinander unterscheiden. Ein Zusammenhang der verschiedenen Formen wird in einigen Dialogen allenfalls angedeutet, aber nirgendwo expliziert. In der inzwischen recht umfangreichen Literatur zur Selbsterkenntnis bei Platon4 ist schon häufig beobachtet worden, dass in jenen Dialogen, die das Motiv eingehender erörtern – Apologie, Alkibiades I und Charmides – differente Konzepte zur Darstellung gelangen, die zunächst inkompatibel zu sein scheinen und sich kaum zu einer homogenen, kohärenten Theorie zusammenfügen lassen. Eine Spannung besteht nach Meinung vieler Interpreten zum einen zwischen der Apologie, die die Begrenztheit, Endlichkeit und Schwäche des menschlichen Erkenntnisvermögens thematisiere5, und dem im Alkibiades I 4 Unter den Forschungsarbeiten zur Selbsterkenntnis bei Platon finden sich zum einen historisch-philologische und philosophie- bzw. religionshistorische Untersuchungen (Wilkins 1917 u. 1929; Wilamowitz-Möllendorff 1926; North 1966; Martens 1973; Courcelle 1974–75; Betz 1990a u. 1990b; Tränkle 1985; Annas 1985; McKim 1985; Griswold 1986a; Beierwaltes 1991; Reiser 1992; Burnyeat 1992; Hager 1995; Rappe 1995; Brunschwig 1996; Schmid 1983 u. 1998; Carone 1998; Johnson 1999; Brickhouse/Smith 1994 u. 2000; Tsouna 2004; Benson 2003; Sue 2006; Moser 2006; McCabe 2007 u. 2011; Gill 2006 u. 2007; Tschemplik 2008; Pietsch 2008 u. 2017; Carrera 2009; Rider 2011; Renaud 2011; Napolitano 2011; Belfiore 2012; Remes 2013; Ortiz de Landazuri 2015). Etliche dieser Arbeiten behandeln das Motiv im Rahmen einer Rekonstruktion von Ursprung und Deutungsgeschichte der delphischen Maxime cm_hi seautºm (Wilkins 1917 u. 1929; v. Wilamowitz-Möllendorff 1926; Courcelle 1974–75; Tränkle 1985; Reiser 1992). Zum anderen gibt es eine Reihe von historisch-systematischen Studien, die aus unterschiedlichen Perspektiven die platonische Selbsterkenntnis betrachten und für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar zu machen versuchen (Zantop 1958; Ballard 1965; Rosen 1974 u. 1972/73; Gloy 1986; Fetz 1998; Stern 1999; Göbel 2002; Foucault 2004; Warneck 2005; Sorabji 2006; Karl 2010; Hardy 2011; Moore 2015). Bei der Rekonstruktion der sokratisch-platonischen Selbsterkenntnis stützen sich die Interpreten zumeist auf die Dialoge Apologie, Alkibiades Maior, Charmides und Phaidros. 5 So z. B. Wilkins (1917 u. 1929), Courcelle (1974), Tränkle (1985), Reiser (1992), Hager (1995), Göbel (2002).

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explizierten Selbsterkenntnis-Begriff, der zumeist im Sinn einer Einsicht in die Leistungsfähigkeit, Größe und Göttlichkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gedeutet wird.6 Zum anderen beobachten etliche Interpreten eine Unvereinbarkeit zwischen der Apologie und dem Alkibiades I auf der einen Seite, in denen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis vorausgesetzt werde, und dem Charmides auf der anderen Seite, in dem Platon die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis behaupte7 bzw. deren epistemischen Status in Frage stelle.8 Das Problem der Spannung zwischen den Konzeptionen versuchen die Autoren zum einen dadurch zu lösen, dass sie die Unterscheidung zwischen sokratischen und platonischen Auffassungen treffen (so z. B. Hager 1995; Göbel 2002). Zum anderen aber wird die Differenz der Konzepte mit Hilfe des entwicklungsgeschichtlichen Interpretationsmodells erklärt (so z. B. Annas 1985; Beierwaltes 1991). Beide Lösungsversuche sind jedoch mit Schwierigkeiten verbunden. Hinsichtlich der ersten Erklärungsvariante besteht das Problem darin, dass die Beurteilung von bestimmten, in den Dialogen dargestellten Auffassungen als rein sokratisch bzw. rein platonisch nicht argumentativ gestützt und plausibilisiert wird. Abgesehen von diesem Versäumnis bleibt solch eine Unterscheidung aufgrund der schwierigen Quellenlage immer problematisch und gelangt über den Status von ungesicherten Hypothesen und Spekulationen kaum hinaus. Der zweite Lösungsversuch ist durch das Defizit charakterisiert, dass sich einige der relevanten Dialoge nur schwer in die rekonstruierten Entwicklungsschemata einfügen lassen. Zudem wird die entwicklungsgeschichtliche Deutung des platonischen Werks, die die Forschung lange Zeit bestimmt hat, aufgrund der fragwürdigen Prämissen heute zunehmend als problematisch betrachtet.9 Man wird daher nach anderen Lösungsansätzen suchen müssen. Möglicherweise lassen sich einige der genannten Spannungen dadurch auflösen, dass bestimmte Deutungsmuster hinterfragt und neue Perspektiven auf die relevanten Passagen gewonnen werden. Gegen den Versuch, einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den einzelnen Konzepten herzustellen, lässt sich freilich der grundsätzliche Einwand erheben, dass die Interpretation hier eine Kohärenz unterstellt, die nicht vorhanden ist und vom Autor möglicherweise auch gar nicht intendiert ist. Angesichts der differenten Konzepte liegt zunächst die 6 So z. B. Wilkins (1917 u. 1929), Betz (1990b), Tränkle (1985), Beierwaltes (1991), Reiser (1992), Hager (1995), Fetz (1998), Johnson (1999), Göbel (2002), Sorabji (2006). 7 So z. B. Hager (1995), Benson (2003), Sorabji (2006). Benson versucht die Spannung durch den Nachweis zu mildern, dass im Charmides nur ein Teil der Selbsterkenntnis – das Wissen des Wissens – als problematisch aufgezeigt wird. Das Wissen des Nichtwissens bleibe hingegen bestehen. 8 So z. B. Rosen (1972/73), Annas (1985). 9 Vgl. Erler (2007a, 3 und 22) und Söder (2009, 28).

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Vermutung nahe, dass Platon verschiedene Aspekte und Ansätze diskutiert hat, aber zu keiner einheitlichen, konsistenten Konzeption gelangt ist. Gegen die Inkohärenz-These lässt sich jedoch einwenden10, dass Platon die verschiedenen Konzepte nicht nur getrennt voneinander in verschiedenen Dialogen erörtert, sondern diese zuweilen auch in ein und demselben Dialog innerhalb eines homogenen Argumentationszusammenhangs zur Darstellung bringt (vgl. z. B. Alkibiades I). Das kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Platon eine Verbindung zwischen den Konzepten angenommen hat, die es vom Interpreten zu erschließen gilt. In der jüngeren Forschung (vgl. Tsouna 2004 und Carrera 2009) sind sehr ernst zu nehmende Versuche eines systematischen Zusammenhangs unternommen worden11, an die die folgende Untersuchung anschließen wird. Gleichwohl sollen hier ganz neue Wege beschritten werden. Der zu entwickelnde Lösungsansatz wird sich an zwei Momenten orientieren: 1) Prozessualität der Selbsterkenntnis: Im Frühwerk und im Alkibiades I wird die Selbsterkenntnis in engem Zusammenhang mit dem Motiv der Selbstsorge (1pil´keia t/r xuw/r, 1pil´keia 2autoO) und der Seelentherapie (heqape¸a t/r xuw/r) thematisiert. Diese thematische Verknüpfung weist darauf hin, dass Platon die Selbsterkenntnis in ein Projekt der Selbstformung einbindet und sie – im Anschluss an die Tradition – als persönlichkeitsbildendes Prinzip begreift.12 Da der Bil-

10 Zur Argumentation gegen die Inkohärenz-These vgl. auch Tsouna (2004) und Carrera (2009). 11 Tsouna (2004) argumentiert dafür, dass sich die Selbsterkenntnis-Konzepte bei Platon in einen sinnvollen Zusammenhang bringen lassen. In der Apologie werde die Selbsterkenntnis als Einsicht in die Unzulänglichkeit des Wertwissens aufgezeigt und auf die Notwendigkeit einer Erkenntnissuche verwiesen. Im Charmides führe Platon die Aporien einer als selbstbezügliches Wissen verstandenen Selbsterkenntnis vor und weise auf den notwendigen Sachbezug hin. Dieser Sachbezug werde im Alkibiades I und in der Politeia expliziert und als Erkenntnis eines überindividuellen Seins ausgedeutet: Der Alkibiades thematisiere den Nous als erkennende Instanz; das Höhlengleichnis verweise auf das Agathon als Gegenstand der Erkenntnis. Ähnlich Carrera (2009). Gegen Tsounas Deutung wäre einzuwenden, dass die Erkenntnis des Nichtwissens in ihrer praktischen und epistemischen Bedeutung etwas unterbelichtet bleibt. Zudem wird der Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und der Erkenntnis des Guten mehr angedeutet als expliziert. Vor allem aber finden der für Platon so zentrale Bildungsgedanke und das prozessuale, dynamische Moment zu wenig Beachtung. Einen anderen Ansatz hat Moore (2015) vorgeschlagen. Moore ist der Auffassung, dass in den relevanten Dialogen verschiedene Aspekte der sokratischen Selbsterkenntnis thematisiert werden. Die sokratische Selbsterkenntnis wird dabei als kritische Reflexion der eigenen Präferenzen und Überzeugungen gedeutet (41f.). Im Charmides werde auf die personale Dimension der Selbsterkenntnis hingewiesen, der Alkibiades I betone das dialogische Prinzip und die Bedeutung des Intellekts und im Phaidros werde der Prozess der Selbstformung thematisiert. Unterbelichtet bleiben hier die Apologie und die Politeia. 12 Die Verbindung von Selbsterkenntnis und Selbstkonstitution ist jüngst von Moore (2015) hervorgehoben worden.

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dungsgedanke mit dem Aspekt der Prozessualität13 verbunden ist, liegt die Annahme nahe, dass Platon die Selbsterkenntnis dynamisch denkt und möglicherweise eine mehrstufige Erkenntnisbewegung vor Augen hat, die verschiedene Reflexionsebenen und Wissensformen umgreift. Auf der Basis dieser Überlegungen ließen sich die einzelnen Konzepte im Sinn einer prozessualen, dynamischen Einheit deuten, die durch eine progressive Entwicklung des Selbstverständnisses charakterisiert ist. 2) Ansatz bei der Erkenntnis des Nichtwissens: Um einen Zugang zum Themenkomplex der Selbsterkenntnis und Selbstsorge zu gewinnen, wird die Untersuchung bei der Erkenntnis des Nichtwissens ansetzen, die Platon insbesondere im platonischen Frühwerk diskutiert. In der Forschung wird diese Einsicht häufig marginalisiert oder nicht sorgfältig genug interpretiert. Meist wird sie als sokratische Version der apollinischen Einsicht in die Begrenztheit des Menschen gedeutet, die Platon in den späteren Dialogen zurückgelassen und auf höhere Formen hin überschritten habe. Dass diese Einsicht jedoch für Platon eine zentrale Bedeutung besitzt, wird daran deutlich, dass sie auch im mittleren und späten Werk kontinuierlich thematisiert wird.14 Da aufgrund der auffallenden thematischen Präsenz zu vermuten ist, dass der Erkenntnis des Nichtwissens eine Schlüsselfunktion zukommt und sich von dorther ganz neue Perspektiven auf die in den mittleren Dialogen thematisierten Formen der Selbsterkenntnis eröffnen, soll sie einer gründlichen Analyse unterzogen werden. Dabei werden nicht nur der Bedeutungsgehalt und bestimmte kognitive und lebenspraktische Effekte, sondern auch der Zusammenhang mit dem Wahrheitseros und der Erkenntnissuche genauer zu erörtern sein. Wie in der Einleitung bereits angedeutet, wird sich die Betrachtung im Ganzen auf drei Formen der epistemischen Selbstbeziehung konzentrieren, und zwar auf jene Formen, die besonders häufig thematisiert und/oder einen besonderen Stellenwert besitzen. Das erste Kapitel (B II/1) ist – wie soeben erläutert – der Erkenntnis des Nichtwissens gewidmet. Das zweite Kapitel (B II/2) beschäftigt sich mit der Selbsterkenntnis als Reflexion auf die seelische Instanz und deren Steuerungszentrum – die Vernunftseele. Diese Art der epistemischen Selbstbeziehung wird insbesondere im Alkibiades I erörtert. Das dritte Kapitel (B II/3) untersucht die Verschränkung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, die in Alk. I 133c8–1615 thematisiert wird. In einer textvergleichenden 13 Auf den prozessualen Aspekt der platonischen Selbsterkenntnis hat Ortiz de Landazuri (2015) besonders nachdrücklich hingewiesen: »Self-knowledge is a intellectual and practical process of self-clarification towards what is really valuable in life« (138). 14 Vgl. Alk. I 116e–118b; Phaid. 90d/e; Phaidr. 237c; symp. 204a/b; Tht. 150c, 157c/d, 161b, 210c; soph. 229c–230e; Phil. 48c–49a und leg. 732a/b, 863c/d. 15 Die Authentizität dieser Passage ist noch immer umstritten. Zur Diskussion vgl. Döring (2016, 136f.).

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Betrachtung soll der als vollendete Selbsterkenntnis ausgezeichnete ›Blick auf Gott‹ mit den Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge in Beziehung gesetzt werden. Die Hypothese ist, dass der Prozess der Selbsterkenntnis bei Platon zuletzt in die Erkenntnis des Guten mündet. Wie jede Platoninterpretation, so sieht sich auch diese Untersuchung mit der besonderen Schwierigkeit der von Platon gewählten dialogischen Darstellungsform konfrontiert. Ein besonderes Problem ist die Frage der Unterscheidung zwischen sokratischen und platonischen Elementen in der Erörterung der Selbsterkenntnis bei Platon. Folgt man dem von Döring (1998, 156) vorgeschlagenen Kriterium, nach dem diejenigen Aussagen der in den frühen und mittleren Dialogen auftretenden Sokrates-Figur als authentisch gelten können16, die mit der Apologie vereinbar sind, so wäre nicht nur die Erkenntnis des Nichtwissens, sondern auch die im Alkibiades I erörterte Erkenntnis der Seele als eine Selbsterkenntnis zu werten, die zumindest in Grundzügen sokratisch ist. Die Identifizierung von Selbst und Seele, die im Alkibiades I explizit vorgenommen wird, bezeichnet eine Annahme, die bereits der Apologie zugrunde liegt und dort eine zentrale Rolle spielt.17 Gewiss entspringt vieles in den Dialogen der platonischen Gestaltungskunst und philosophischen Originalität. Es ist davon auszugehen, dass Platon das Denken seines Lehrers nicht schlicht übernommen oder wortgetreu wiedergegeben, sondern auf der Basis eines verstehenden Aneignungsprozesses in der dichterischen Nachgestaltung stilisiert und perfektioniert sowie in der Reflexion expliziert, argumentativ entfaltet und metaphorisch gestaltet hat. Über diesen Differenzen darf jedoch die geistige Einheit zwischen Lehrer und Schüler nicht übersehen werden. Eine scharfe Trennlinie zwischen sokratischen und platonischen Auffassungen oder eine Aufteilung der in den Dialogen dargestellten Formen der Selbsterkenntnis in spezifisch sokratische und rein platonische 16 Dieses Kriterium ist gewiss anfechtbar. Im Folgenden wird die abgeschwächte Variante zugrunde gelegt, nach der die Kompatibilität mit der Apologie lediglich darauf verweist, dass hier Aussagen vorliegen, die in Grundzügen oder in präformierter Gestalt vermutlich bereits in der sokratischen Philosophie vorhanden waren. 17 Auf die Identifizierung von Selbst und Seele weist die synonyme Verwendung von ›Sorge um die Seele‹ (1pil´keia t/r xuw/r) und ›Selbstsorge‹ (1pil´keia 2autoO) hin (apol. 29e1–2; 36c6). Die Gleichsetzung von Selbst und Seele spricht auch Döring (2001, 678) dem historischen Sokrates zu: »Seele und Selbst sind für ihn [sc. Sokrates] also ein und dasselbe; anders ausgedrückt: die Seele ist das eigentliche Selbst des Menschen. Dabei ist mit Seele diejenige ›Instanz‹ im Menschen gemeint, in deren Kompetenz sein sittliches Handeln fällt«. Zur Identifizierung von Selbst und Seele als eine auf den historischen Sokrates zurückgehende Vorstellung vgl. auch Wildberg (2007, 236). Darüber hinaus lassen sich Indizien dafür finden, dass auch die Bestimmung der Erkenntnis des Guten als Selbsterkenntnis (Alk. I 133c) auf den historischen Sokrates zurückgeht. Das im sokratischen Dialog gesuchte Gute (vgl. Döring 1998, 16) ist über das Motiv der sokratischen Selbstsorge (1pil´keia 2autoO) eng mit der Thematik des Selbst und der Selbsterkenntnis verknüpft.

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dürfte sich kaum realisieren lassen. Da nicht sicher zu entscheiden ist, was bei der in den frühen und mittleren Dialogen dargestellten Sokrates-Figur historischer Kern und was platonische Ausgestaltung ist18, wird im Folgenden zuweilen der etwas umständliche Ausdruck ›sokratisch-platonische Selbsterkenntnis‹ verwendet. Ein weiteres vieldiskutiertes Problem der Platonforschung betrifft die Frage der Gesamtdeutung des Werks. Die Debatte bewegt sich zwischen einem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz, der die Chronologie der Schriften mit der intellektuellen Biographie des Autors verbindet, und einer stärker unitarischen bzw. systemperspektivisch-kontextuellen Betrachtungsweise. Nachdem die lange Zeit vorherrschende entwicklungsgeschichtliche Deutung in den 90er Jahren kritisch reflektiert und in ihren problematischen Prämissen aufgezeigt worden ist19, wird in der jüngeren Forschung das Einheitsmoment des platonischen Werks zunehmend stärker beachtet. Überblickt man die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte, so deutet vieles auf eine Ablösung des entwicklungsgeschichtlichen Paradigmas durch eine die Einheit des platonischen Denkens stärker betonende Deutung hin.20 Das ist insbesondere in der jüngsten englischsprachigen Forschung zu beobachten, die lange Zeit von dem von Vlastos vertretenen ›developmentalism‹ bestimmt worden ist. Die folgende Untersuchung wird an diese Entwicklungen anknüpfen und die Kontinuitäten hinsichtlich bestimmter Grundmotive, Themen und Auffassungen betonen. In Bezug auf das Motiv der Selbsterkenntnis lässt sich aufzeigen, dass viele Konzepte und Annahmen eine gewisse Konstanz aufweisen und in allen Werkphasen präsent sind. Dazu gehören insbesondere die Konzeption der Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens, die Analyse der Doxosophia, die Identifizierung von Selbst und Seele und die Einheit von Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsbildung. Die einzelnen Werkphasen sind weniger durch Brüche und Neuansätze als durch eine Verschiebung des thematischen Schwerpunkts charakterisiert. Während im Frühwerk der Fokus auf der Erkenntnis des Nichtwissens liegt und die Identität von Selbst und Seele zwar als Annahme zugrunde gelegt wird, aber keine theoretische Ausformung erfährt, verlagert sich der Interessenschwerpunkt im mittleren Werk auf die Erkenntnis der Seele und die 18 Zur Quellenlage vgl. Döring (1998, 143ff.). Zur Verflechtung von historischer Wirklichkeit und platonischer Ausgestaltung vgl. Erler (2006, 50): »Die Frage, ob und an welcher Stelle man bei Platons Sokratesfigur den Schnittpunkt zwischen Idealität und Realität anzusetzen hat, ist kaum lösbar«. 19 Vgl. Nails (1993 u. 1995) und Kahn (1996). 20 Zur Forschungslage vgl. Erler (2007a, 3 und 22) und Söder (2009, 28). Erler (2007a, 22) gelangt zu der Einschätzung, dass man »heute kaum Forscher finden [wird], welche von einer Verbindung der Chronologie der Schriften mit der philosophischen Entwicklung Platons ausgehen«.

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Einsicht in das Vernunftselbst. Gleichwohl bleibt die Einsicht in die epistemischen Defizite bis ins Spätwerk hinein thematisch präsent. Im Kontext der angedeuteten Ablösung des entwicklungsgeschichtlichen Paradigmas durch eine die Einheit des platonischen Denkens stärker betonende Deutung wird gegenwärtig das sokratische Moment im platonischen Werk wieder mehr beachtet.21 Auch diese Entwicklung ist in besonderem Maß in der jüngsten englischsprachigen Forschung zu beobachten.22 In Anknüpfung an diese Tendenzen soll in der Untersuchung die Präsenz von sokratischen Elementen in den mittleren Dialogen in besonderer Weise berücksichtigt werden. Angesichts der Thematisierung der Elenktik, des Frage-Antwort-Verfahrens, der dialogischen Methode auch im mittleren Werk, insbesondere in der Politeia, und der anschaulichen Schilderung der Sokrates-Figur im Phaidros und im Symposion dürfte die rigide Unterscheidung zwischen einer frühen sokratischen Phase und einer post-sokratischen Phase, in der Platon sich von Sokrates emanzipiert habe23, kaum aufrechtzuerhalten sein. Man wird hier wohl eher von einer stärkeren Einheit und wechselseitigen Durchdringung ausgehen müssen.

21 Zur Betonung des Sokratischen bei Platon vgl. Wieland (1982), Stemmer (1992), Gonzalez (1998), Hardy (2011). Zur kritischen Auseinandersetzung mit der ›sokratischen‹ Lesart des platonischen Werks vgl. Halfwassen (1994) u. Szlez#k (2011). 22 So hat Rowe (2007, VIII) gegen die »›developmental‹ thesis: that Plato started as a Socratic, but broke away in mid-career to become a Platonist« eingewendet, »that Plato stayed a Socratic till the end«. Peterson (2011) hat in einer Studie nachzuweisen versucht, dass die prüfende, durch Rede und Gegenrede charakterisierte sokratische Dialektik im mittleren Werk keineswegs durch dogmatische Lehren abgelöst wird, sondern weiterhin präsent bleibt. Der Sokrates der Apologie, so ihre These, ist identisch mit dem Sokrates der späteren Dialoge. Vgl. auch Moore (2015). 23 Vgl. die älteren entwicklungsgeschichtlichen Deutungsansätze (Hermann, Zeller, Bonitz) und die Arbeiten von Vlastos.

I

Sokrates und Delphi

1.

Zum Problem der Historizität

Nach allem, was wir aus den Quellen wissen, hatte der historische Sokrates eine für seine Biographie bedeutsame Begegnung mit dem delphischen Orakel und war mit der apollinischen Tradition einer vom Einzelnen zu leistenden Selbsterkenntnis in besonderer Weise verbunden. Da die Anknüpfung an die delphisch-apollinische Tradition für das Thema dieser Untersuchung von Interesse ist, sollen jene Spuren hier etwas eingehender verfolgt werden. Das Problem der schwierigen Quellenlage zum historischen Sokrates ist hinreichend bekannt1 und soll an dieser Stelle nicht erneut diskutiert werden. Es versteht sich von selbst, dass es in diesem Kapitel nur um den Versuch einer Annäherung gehen kann, die vieles enthält, was mangels sicherer Belege Vermutung und Spekulation bleiben muss. Die Betrachtung basiert auf jenen Texten, die Aufschluss über Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Orakel und seine Anknüpfung an die delphische Tradition geben. Als Hauptquelle wird die platonische Apologie2 herangezogen, die gewiss nicht als historisches Dokument zu werten ist, aber im Anschluss an Döring (1987) (1998, 155f.) (2001, 677)3 als wichtigstes Zeugnis für das Leben und Denken des historischen Sokrates angesehen werden kann. Döring (1998, 156) hat in seinen Sokrates-Studien für die Annahme argumentiert, »dass Platon in der ›Apologie‹ tatsächlich ein in den Grundlinien authentisches Bild des historischen Sokrates hat zeichnen wollen«. Als Begründung dieser These führt er die auffälligen Übereinstimmungen mit jenem Sokrates-Bild an, das sich aus den Schriften der anderen Schüler, insbesondere des Aischines aus Sphettos, Antisthenes und Aristipp, herauskristallisieren lasse. Die von Döring vorgeschlagene Methode zur Rekonstruktion des 1 Vgl. dazu Patzer, A. (1987) und Döring (1998) (2001). 2 Zu den von anderen Autoren verfassten Apologien des Sokrates vgl. Heitsch (2002, 189ff.). 3 Zur Authentizität der platonischen Apologie vgl. auch de Strycker (1994, 1–8), Patzer, A. (2000), Heitsch (2002, 189–197) (2004, 166–168), Erler (2007a, 101f.), Peterson (2011, 17f.).

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Sokrates und Delphi

historischen Sokrates besteht in einer vergleichenden Betrachtung der Schriften der namhaften Sokratesschüler, die hier als individuelle Reflexe der Wirksamkeit des gemeinsamen Lehrers aufgefasst werden, und dem Rückschluss aus der Summe dieser Reflexe auf die philosophischen Anschauungen und Wesensmerkmale des Lehrers. Dieses Verfahren hat gewiss seine Grenzen und kann keine letzte Sicherheit bei der Beurteilung der Historizität von einzelnen Aussagen und Verhaltensweisen der in der Apologie dargestellten Sokrates-Figur geben. Es vermag jedoch überzeugende Gründe dafür zu liefern, dass die Sokrates-Darstellung in der platonischen Apologie zumindest in Grundzügen als authentisch anzusehen ist. Die jüngere Forschung zum historischen Sokrates stimmt hinsichtlich einer als authentisch zu betrachtenden Substanz der Apologie weitgehend überein. Erler (2007a, 102) vermutet in der Apologie einen »historischen Kern«. Auch Patzer (2000, 66), der in Bezug auf die Historizität der platonischen SokratesFigur eher skeptisch ist, nimmt historische Elemente an: »Wenn irgendwo, so erfahren wir hier, wie Sokrates in Wirklichkeit dachte und wie aus dem Sokratischen Denken die Platonische Philosophie entstehen konnte«. Heitsch (2002, 194f.)4 versucht in seinem Apologie-Kommentar sowohl dem historischen als auch dem fiktiven Moment Rechnung zu tragen, indem er bestimmte Themenfelder wie die verbreiteten Vorurteile gegen Sokrates, das ChairephonOrakel, das Daimonion, die Frage des Lehrens gegen Honorar etc. sowie bestimmte philosophische Überzeugungen und Haltungen als historisch annimmt, dabei aber zugleich die platonische Gestaltung hervorhebt. Zur Zeit der Abfassung des Dialogs5 sei es Platon nicht um eine wörtliche Wiedergabe der im Prozess gehaltenen Reden gegangen, sondern darum, »die Faszination deutlich und verständlich zu machen, die von diesem Mann auf den Kreis seiner Freunde ausgegangen war« (195). Zu diesem Zweck habe Platon Aussagen und Reden gestaltet, die das Charakteristische, Wesenhafte zum Ausdruck bringen. Heitsch bezieht sich in diesem Kontext auf Thukydides, der in der Schilderung des Peleponnesischen Krieges sein methodisches Verfahren wie folgt beschreibt: »Was nun die Reden beider Parteien noch während der Vorbereitung des Krieges oder auch im Kriege selbst vorgebracht haben, so war es schwierig sowohl für mich, was ich selber gehört hatte, als auch für die, die mir von anderen Orten berichteten, den genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten. Wie aber meiner Meinung nach jeder einzelne in der gegebenen Situation am ehesten sprechen mußte, so sind meine Reden verfaßt, indem ich mich möglichst eng an den 4 Vgl. auch Heitsch (2004, 166–168). 5 Heitsch (2002, 177ff.) nimmt in Anknüpfung an de Strycker (1994, 19, 282f.) als Abfassungszeit die Jahre um 385 v. Chr. an. So auch Erler (2007a, 100). Zur Diskussion der Datierung vgl. Erler (2007a, 99f.).

Zum Problem der Historizität

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Gesamtsinn des wirklich Gesagten halte (1wol´myi fti 1cc¼tata t/r nulp²sgr cm¾lgr6 t_m !kgh_r kewh´mtym)« (I 22, 1). Nach Heitsch hat Platon dieses Verfahren in seiner Darstellung der sokratischen Verteidigungsrede angewendet: »genau diese Technik hat sich auch Platon für seine ›Apologie‹ zu eigen gemacht« (195).7 In Anknüpfung an diese Überlegungen wird hier ein Ansatz verfolgt, der auf folgenden Annahmen basiert: In Bezug auf die einzelnen Aussagen und Sätze, die in der Apologie zur Darstellung gelangen, ist eine Historizität kaum anzunehmen, zumindest ist hier alle Vorsicht geboten. Hinsichtlich der dargestellten charakterlichen und epistemischen Dispositionen und bestimmter Themenfelder ist jedoch eine Authentizität sehr wahrscheinlich, wenn auch die Anordnung der verschiedenen Themen und Elemente als vermutlich platonische Komposition anzusehen ist.8 Neben der platonischen Apologie werden relevante Stellen aus anderen platonischen Dialogen, insbesondere des Frühwerks berücksichtigt. Hier finden sich etliche Bezugnahmen auf das delphische cm_hi sautºm, die Platon der Sokrates-Figur in den Mund legt und die auf eine intensive Beschäftigung des historischen Sokrates mit dieser Maxime schließen lassen. In die Untersuchung einbezogen werden außerdem die Memorabilien und die Apologie von Xenophon, die aristotelischen Berichte über Sokrates’ Delphi-Besuch (Peq· vikosov¸ar) und der Alkibiades-Dialog von Aischines aus Sphettos. Der Alkibiades von Aischines ist als Quelle besonders ernst zu nehmen, da sich die Sokrates-Darstellung des Aischines nach Auffassung von antiken Autoren durch ein besonderes Maß an Authentizität auszeichnet.9 Auf der Grundlage der genannten Quellen10 wird zum einen die enge Verbindung zwischen Sokrates und der delphischen Tradition aufgezeigt und zum anderen die sokratische Reinterpretation des delphischen cm_hi sautºm herausgearbeitet.

6 de Strycker (1994, 2) spricht hier von »general trend« oder auch von »main idea«. 7 Auf Thukydides haben in diesem Zusammenhang bereits Guthrie (1975, 79) und de Strycker (1994, 2) verwiesen. 8 Vgl. de Strycker (1994, 6). 9 Vgl. dazu Döring (1998, 206). Nach Döring gibt es kaum Gründe, das Urteil der antiken Autoren anzuzweifeln. 10 Moore (2015, xiif.) beobachtet hinsichtlich der Darstellung der sokratischen Selbsterkenntnis eine gewisse Konsistenz und Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Quellen.

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2.

Sokrates und Delphi

Die sokratischen Bezugnahmen auf das delphische cm_hi sautºm

In den platonischen Dialogen finden sich auffallend viele Bezugnahmen auf den delphischen Spruch.11 In den meisten Fällen ist es die Figur des Sokrates, der die Äußerungen zum delphischen cm_hi sautºm in den Mund gelegt werden.12 Die Häufigkeit, mit der Platon die Sokrates-Figur auf die Maxime Bezug nehmen lässt, kann als Indiz dafür angesehen werden, dass das cm_hi sautºm für den historischen Sokrates eine besondere Bedeutung und Verbindlichkeit besaß.13 Eine Betrachtung der entsprechenden Stellen zeigt, dass die von dem Imperativ geforderte epistemische Selbstbeziehung unter ganz verschiedenen Aspekten thematisiert wird. In ersten Umrissen lässt sich hier bereits eine bestimmte Konzeption der Selbsterkenntnis erkennen, die in Grundzügen die Auffassung des historischen Sokrates widerspiegeln dürfte. Im Folgenden werden die verschiedenen Bezugnahmen, die sich verstreut im frühen, mittleren und späten Werk finden, unter systematischen Gesichtspunkten dargestellt. 1) Imperativischer Charakter : In den relevanten Passagen finden sich viele Aussagen, die das Moment des Sollens betonen. Indem Sokrates darauf verweist, dass der Spruch etwas befiehlt (jeke¼eim), etwas vorschreibt (1pit²tteim), uns zu etwas auffordert, spricht er der Maxime den Status eines Imperativs zu.14 Das cm_hi sautºm sei kein bloßer Rat15, den man erwägen oder vernachlässigen könne, sondern ein Gebot, dem unbedingt Folge zu leisten sei. Im Dialog Alkibiades I weist Sokrates den hochbegabten, aber seine Kräfte und Vermögen völlig überschätzenden jungen Aristokraten darauf hin, dass er dem Spruch in Delphi gehorchen (pe¸heshai) und sich selbst erkennen soll. Mit dem geforderten ›Gehorsam‹ ist hier eine auf eigener Einsicht basierende Selbstverpflichtung gemeint, die wesentlich darin besteht, dass man die Maxime intellektuell und existenziell ernst nimmt und sich von ihr im Denken und Handeln bestimmen lässt. Wie stark sich der bei Platon agierende Sokrates diesem Spruch verbunden weiß, zeigt sich daran, dass er seine eigenen paränetisch-protreptischen Intentionen mit der delphischen Aufforderung zusammenführt: Alkibiades solle ihm und dem Spruch in Delphi Folge leisten (peihºlemor 1lo¸ te ja· t` 1m Dekvo?r cq²llati, Cm_hi sautºm Alk. I 124b). Sokrates hat demnach die delphische Maxime nicht nur als Leitprinzip des eigenen Lebens anerkannt, 11 Vgl. Alk. I 124b, 129a, 130e, 132c/d; Charm. 164d–165a; Prot. 343a/b; Phaidr. 229e; Phil. 48c; Tim. 72a; leg. 923a; pseudo-platon: Amat. 138a; Hipparch. 228e. 12 Mit Ausnahme von Charm. 164d–165a; Tim. 72a und leg. 923a. 13 So auch Moore (2015). Moore verweist auf antike Zeugnisse, die das Interesse des historischen Sokrates am cm_hi sautºm belegen (6–14). 14 Vgl. insbes. Alk. I 130e6 und pseudo-platon. Amat. 138a9–10. 15 Vgl. Charm. 165a.

Die sokratischen Bezugnahmen auf das delphische cm_hi sautºm

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sondern ist darüber hinaus zum Mahner geworden, der andere zur Selbsterkenntnis auffordert.16 2) Wahrheitsgehalt: Die vermutlich sokratische Überzeugung, dass der delphischen Maxime Folge zu leisten ist, impliziert die Annahme von deren Richtigkeit und Notwendigkeit. Diese Art von Wertschätzung lässt Platon Sokrates ausdrücklich im Alkibiades I bekunden.17 Der Satz, dass man sich selbst erkennen solle, sei etwas, was der »delphische Spruch sehr gut sagt (7u k´comtor)« (Alk. I 132c).18 Es handle sich hier um einen richtigen Logos, um eine gute Rede, die jedoch ausgelegt und verstanden werden müsse (Alk. I 132c). 3) Notwendigkeit der Interpretation: Im Gespräch mit Alkibiades weist Sokrates durch seine protreptisch motivierten Fragen, was der Spruch meine (132d) und auf welche Weise man das Selbst finden könne (129b; 132c), darauf hin, dass die delphische Aufforderung deutungsbedürftig ist.19 Sie bezeichnet keine eindeutige Handlungsanweisung, der man lediglich nachzukommen bräuchte, sondern hat analog zu vielen delphischen Orakelsprüchen den Charakter des Rätselhaften, Mehrdeutigen, Unverborgen-Verborgenen.20 Der Spruch fordert die intellektuelle Selbsttätigkeit und Aktivität der individuellen Person heraus, die in der fragenden Nachforschung den nicht gegebenen Sinn erst zu erschließen hat. Wie Sokrates in Alk. I 132c9–10 betont, besteht im Fall einer nicht konsequent genug betriebenen Suche die Gefahr, dass der Bedeutungsgehalt verfehlt oder der Spruch zu vordergründig ausgelegt wird. Das Gelingen der geforderten Selbsterkenntnis hängt in einem wesentlichen Maß von der Intensität und Gründlichkeit der exegetischen Nachforschung ab. 4) Gegenstandsbereich: An anderen Stellen des Alkibiades I sowie im Philebos, einem Dialog aus dem Spätwerk, der das delphische Motiv noch einmal aufgreift, klingt an, in welche Richtung sich diese Nachforschung und Suche zu bewegen hat. Zu fragen ist zum einen nach Weg und Methode der gemeinten Selbsterkenntnis (Alk. I 129b; 132c) und zum anderen nach deren Objekt (Alk. I 130e; Phil. 48c–49a). Im Philebos (48c–49a) werden verschiedene Identitätssphären als Gegenstand der vom delphischen Spruch geforderten Selbstbetrachtung erörtert. Selbstverkennung und Selbsterkenntnis sind in dreierlei Hinsicht möglich: 1) in Bezug auf die äußeren Besitzverhältnisse, 2) in Bezug auf die leibliche Beschaffenheit, also physische Kraft und Gestalt, und 3) auf den Zustand der Seele, auf die Verfasstheit der seelisch-geistigen Kräfte. Da die Selbstverkennung 16 Hier gibt es eine Parallele zur Kroisos-Erzählung bei Herodot. Siehe oben Kap. A II 4g. 17 Vgl. auch Prot. 343a/b. 18 Alle platonischen Schriften werden hier, soweit nicht anders angegeben, nach folgender Ausgabe zitiert: Platon, Werke in acht Bänden, gr.-dt., hrsg. v. G. Eigler, bearbeitet v. H. Hofmann, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 2001. 19 Der Aspekt klingt auch in Charm. 164d/e und in pseudo-platon. Amat. 138a an. 20 Die Verbindung zur Mantik wird ausdrücklich in Charm. 164e6–7 hergestellt.

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Sokrates und Delphi

insbesondere im dritten Bereich anzutreffen ist und die meisten Menschen das richtige Selbsturteil bezüglich des Besitzes von ethischer Bestheit und intellektuellen Tugenden verfehlen (»Bei weitem die meisten aber, glaube ich, verfehlen es [sc. das ›Kenne dich selbst‹] in Hinsicht der dritten Form, nämlich derjenigen, welche in der Seele ist, indem sie sich selbst für besser halten in der Tugend, ohne es zu sein« Phil. 48e8–10), bezieht sich die Aufforderung zur Selbsterkenntnis vor allem auf diese Sphäre.21 Im Alkibiades I wird die seelische Instanz als Objekt der vom delphischen cm_hi sautºm gemeinten Einsicht betont. Nach einer längeren Ausführung über die Vorrangstellung der Seele gegenüber dem Leib und den äußeren Besitzverhältnissen bestimmt Sokrates diese explizit als Gegenstand der vom delphischen Spruch geforderten Erkenntnis: »Die Seele also befiehlt uns kennenzulernen, wer das vorschreibt, sich selbst zu erkennen« (xuwµm %qa Bl÷r jeke¼ei cmyq¸sai b 1pit²ttym cm_mai 2autºm Alk. I 130e6–7).22 5) Schwierigkeit: Im Alkibiades I wird Sokrates das Urteil in den Mund gelegt, dass die Erfüllung des delphischen Imperativs zu den schwierigsten Aufgaben gehöre.23 Das vom Spruch geforderte Sich-Selbst-Erkennen sei »schwer und nicht jedermanns Sache« (jakepºm ti ja· oqw· pamtºr Alk. I 129a). Dennoch könne man von dieser Einsicht nicht absehen, bezeichne sie doch eine äußerst wichtige Erkenntnis (Alk. I 129a7–9). 6) Priorität: In der wohl bekanntesten sokratischen Bezugnahme auf den delphischen Spruch, die sich am Beginn des Dialogs Phaidros findet (229e/230a), antwortet Sokrates auf die Frage des jungen Phaidros, ob er die traditionellen Erzählungen über Götter und göttliche Wesen für wahr halte, dass er keine Zeit habe, sich damit zu befassen, weil er noch immer nicht imstande sei, sich selbst zu erkennen gemäß dem delphischen Spruch. Solange er hierin noch unwissend sei, könne er andere Dinge nicht ins Auge fassen (t± !kkºtqia sjope?m 230a). Die Selbsterkenntnis hat demnach Vorrang vor anderen Erkenntnissen und Wissenschaften. Sie ist nicht allein der rationalen Beschäftigung mit den Mythen, 21 Diese Schlussfolgerung wird von Sokrates an dieser Stelle zwar nicht ausdrücklich gezogen, sie ist jedoch in der These, dass die Selbstverkennung am häufigsten den Bereich der Seele betrifft, impliziert. 22 Zur Vorrangstellung der Seele gegenüber dem Leib und dem äußeren Besitz vgl. Alk. I 128a– 132b; rep. 588cff., 438e–441c; Phaidr. 246a–249d; Phaid. 64a–69e; Tim. 41dff., 69bff.; leg. 726a–728c, 894e–898c. Zur Identifizierung von Seele und Selbst vgl. Alk. I. 130c–e. Da bereits in der Apologie die Seele dem Leib und den Besitztümern übergeordnet wird (29d/e; 30b) und die Ausdrücke ›Sorge um die Seele‹ (1pil´keia t/r xuw/r) und ›Selbstsorge‹ (1pil´keia 2autoO) synonym verwendet werden (29e1–2; 36c6), kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Vorrangstellung der Seele und die Identifizierung von Selbst und Seele auf den historischen Sokrates zurückgehen. So auch Döring (2001, 678). Vgl. auch Wildberg (2007, 236). 23 Dieses Urteil durchzieht die ganze antike Literatur. Vgl. die Belege bei Tuckey ([1951] 1968, 9) und HWPh 9 (1995, 406–413).

Die sokratischen Bezugnahmen auf das delphische cm_hi sautºm

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sondern offenbar auch anderen Erkenntnisgegenständen und Forschungen voranzustellen. Das angedeutete Primat der Selbsterkenntnis wird an dieser Stelle nicht weiter begründet. Wie noch zu zeigen sein wird, findet sich bei Platon sowohl eine praktische als auch eine theoretische Begründung. 7) Unabschließbarkeit: Die Phaidros-Stelle beinhaltet noch einen anderen Aspekt, der für das Verständnis der philosophischen Konzeption der Selbsterkenntnis ebenfalls von Bedeutung ist. Die Aussage des Sokrates, dass er sich noch immer nicht selbst zu erkennen vermag, obwohl, so ist hier hinzuzufügen, er schon lange danach sucht24, verweist auf die Auffassung der Selbsterkenntnis als Prozess.25 Sie wird nicht als zeitlich begrenztes Projekt oder als eine singuläre Erkenntnisleistung betrachtet, sondern als eine Lebensaufgabe verstanden, die prinzipiell unabschließbar ist. Auch wenn nicht sicher ist, inwieweit die Kommentare zum delphischen Spruch, die Platon Sokrates in den Mund legt, tatsächlich auf den historischen Sokrates zurückgehen, kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass sich dieser intensiv mit der Maxime befasst hat.26 Über die Frage, ob es einen Kausalzusammenhang zwischen der Beschäftigung mit dem Spruch und der Aufnahme der sokratischen Selbsterforschung, so wie sie uns in der platonischen Apologie berichtet wird, gibt, kann hier nur spekuliert werden. Es ist denkbar, dass Sokrates erst nach dem Beginn seiner spezifischen Prüfungstätigkeit den Spruch mit verstärktem Interesse wahrgenommen hat. In dem Fall muss vermutet werden, dass er die Maxime im Sinn der eigenen Philosophie gedeutet und in den dialektischen Gesprächen als unterstützende Autorität angeführt hat. Möglich ist jedoch auch, dass Sokrates den entscheidenden Anstoß zur Aufnahme der prüfenden Selbsterforschung erst durch das delphische cm_hi sautºm erhalten hat. In diesem Fall wäre zu fragen, wie er auf die Maxime aufmerksam geworden ist. Zweifellos war der Spruch damals jedem Athener und wohl auch jedem Griechen, wenn man an die panhellenische Bedeutung des delphischen Heiligtums denkt, vertraut. Der Spruch war »in aller Munde« (cq²xamter taOta $ dµ p²mter rlmoOsim), wie es im Protagoras (343b) heißt.27 Für eine intensivere Befassung mit der Maxime bedurfte es jedoch eines bestimmten intellektuellen 24 Eine Parallelstelle findet sich in Lach. 186c. Sokrates sagt dort, dass er noch immer nicht die Kunst der Seelenbehandlung (heqape¸a t/r xuw/r) gefunden habe, obwohl er seit seiner Jugend nach der Sache trachte. Auf die enge Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Seelentherapie bei Sokrates/Platon wird später noch einzugehen sein. 25 So auch Moore (2015, 50, 136–184). Moore weist darauf hin, dass die Auffassung der Selbsterkenntnis als Lebensprojekt nicht in der komplizierten oder dynamischen Natur der Seele begründet ist, sondern im Prozess der Selbstformung. 26 Vgl. Xen. mem. IV, 2, 24 und das Fragment des Alkibiades-Dialogs von Aischines aus Sphettos (SSR VI A 41–54). Weitere Belege bei Moore (2015, 6–14). 27 Zeller (2006, 107) spricht mit Hinsicht auf die Verbreitung und Popularität der am Tempel angebrachten Sprüche von einer »volkstümlichen Ethik«.

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Kontextes oder eines Ereignisses, das das Interesse darauf lenkte und in besonderer Weise darauf aufmerksam machte. Man könnte hier die spekulative Überlegung anstellen, dass Sokrates möglicherweise durch den dichterisch-religiösen Diskurs, in dem das Motiv der Selbstbesinnung stets präsent war, auf den Spruch gestoßen ist oder sich durch sophistische Diskussionen, die ebenfalls mit dem Thema der Selbsterkenntnis befasst waren28, zum Nachdenken über die Maxime anregen ließ. Möglich ist natürlich auch, dass er selbst in Delphi war und dort in unmittelbarer Weise mit dem am Tempel angebrachten Spruch konfrontiert worden ist.

3.

Sokrates’ Delphi-Besuch

Von einem Besuch des Sokrates in Delphi wissen wir von Aristoteles.29 In den platonischen Texten ist davon nicht explizit die Rede. Als Indiz für die Wahrheit des Berichts könnte man allenfalls die vom platonischen Sokrates im Rahmen seiner Thematisierung des delphischen Spruchs häufig angeführte Ortsbeschreibung ansehen.30 Die konkrete Ortsangabe legt nahe, dass Sokrates das Heiligtum kannte und den Spruch am Tempel des Apollon wahrgenommen hat.31 Bei dem Bekanntheitsgrad der Maxime ist jedoch andererseits davon auszugehen, dass das Wissen über den genauen Ort der Inschrift Allgemeingut war. Ein wirklicher Hinweis auf die Wahrheit der Geschichte ist also bei Platon nicht zu entdecken. Nichtsdestotrotz könnte der aristotelische Bericht wahr sein. Bei Aristoteles32 findet sich die darüber hinausgehende Aussage, dass der Besuch in Delphi und die Wahrnehmung der Tempelinschrift den Anstoß (!qw¶) für die sokratische Aporie (!poq¸a) und Suche (f¶tgsir), d. h. für die dialektische Selbstprüfung und Wahrheitsforschung gegeben hat.33 Dieser Bericht ge28 Zur Selbsterkenntnis im sophistischen Kontext vgl. die Charmides-Interpretation in Kap. B II 2e. 29 Vgl. Aristot. Peq· vikosov¸ar, fr. 1 und 2 Rose3 (= Plut. adv. colot. 20, 1118c; Diog. Laert. II, 23). 30 Vgl. Alk I. 129a; Prot. 343a/b; Charm. 164d–165a (hier ist es der Gesprächspartner Kritias, der die Ortsangabe macht); pseudo-platon. Amat. 138a. 31 Auf eine Kenntnis des delphischen Heiligtums verweist zudem Gorg. 472b1f. 32 Aristot. Peq· vikosov¸ar, fr. 1 und 2 Rose3 (=fr. 709 und 861 Gigon=p. 73 Ross). Vgl. insbes. fr. 1: ja· t_m 1m Dekvo?r cqall²tym heiºtatom 1dºjei t¹ cm_hi sautºm, d dµ ja· Syjq²tei [t/r] !poq¸ar ja· fgt¶seyr ta¼tgr !qwµm 1m´dyjem […]. 33 Vgl. dazu Jaeger (1923, 132f.) und Betz ([1973] 1990a, 125). Zu diesem Aristoteles-Bericht hat Döring (2007, 260) angemerkt, dass »dies offenkundig eine Umformung der Geschichte von der Befragung des delphischen Orakels durch Sokrates’ Freund Chairephon in Platons Apologie (21a) [sei]. Hier ist es bekanntlich die Antwort der Pythia, dass keiner weiser als Sokrates sei, die diesem zum Anstoß für sein Suchen nach der Wahrheit wird«. Die Umformungs-These setzt voraus, dass das Chairephon-Orakel in der Apologie als Auslöser der

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winnt an Anschaulichkeit, wenn man Xenophon mit heranzieht. In den xenophontischen Memorabilien findet sich ein Gespräch des Sokrates mit einem hochbegabten jungen Mann namens Euthydemos, das in der Thematisierung der Selbsterkenntnis mündet.34 Nachdem Sokrates dem ehrgeizigen Knaben, der sich auf seine Bildung und sein Wissen viel zu gute hält, dessen Unzulänglichkeit vor Augen geführt hat, führt er folgenden Dialog mit ihm: S.: Sage mir, hast du schon einmal den Weg nach Delphi zurückgelegt? Eu.: Ja, sogar schon zweimal. S.: Hast du die Tempelinschrift ›Erkenne dich selbst‹ bemerkt? Eu.: Ja gewiß. S.: Hast du dich nicht weiter um sie gekümmert, oder hast du sie recht in dich aufgenommen und dich einer Selbstprüfung unterzogen (C pqos´swer te ja· 1pewe¸qgsar saut¹m 1pisjope?m fstir eUgr)? Eu.: Das habe ich nicht getan, ich glaubte ja durchaus, mich selbst zu kennen. Ich dachte, ich könnte kaum etwas anderes wissen, wenn ich mich nicht einmal selbst kennen würde. (Xen. mem. IV, 2, 24; Übers. R. Preiswerk)

Der Dialog lässt sich als eine versteckte autobiographische Erzählung der hier gestalteten Sokrates-Figur lesen. Die an Euthydemos gerichteten Fragen deuten auf eine eigene Erfahrung des Weges und des Ortes hin. Die Frageweise suggeriert, dass Sokrates selbst schon einmal den Weg nach Delphi gegangen ist, den Spruch am Tempel aufmerksam betrachtet, ihn ernst genommen und sich einer eingehenden Selbsterforschung (saut¹m 1pisjope?m) unterzogen hat. Der xenophontische Text will zudem vermitteln, dass Sokrates im Gegensatz zu Euthydemos und vielen anderen die Selbsterkenntnis nicht für ein gegebenes un-

sokratischen Dialektik dargestellt wird. Das ist jedoch fragwürdig. Siehe unten Kap. B I 4c–e. Gigon (1974, 33 u. 1994, 101) hat in umgekehrter Weise argumentiert. Er führt den Aristoteles-Bericht als Argument gegen die Historizität der Orakelerzählung und der mit ihr verbundenen Berufungsgeschichte an: Die Aristoteles-Aussage »impliziert eine Geschichte, die sich motivisch mit derjenigen, die die platonische Apologie vorträgt, schlecht zusammenreimt« (1974, 33). Dagegen ist einzuwenden, dass beide Berichte vereinbar sind und in einem sinnvollen biographischen Zusammenhang stehen. Siehe unten Kap. B I 4e. Moore (2015, 8f.) hält den Aristoteles-Bericht für rein literarisch. Der Bericht sei eine Projektion von Aristoteles’ eigenem Interesse an Tempelinschriften und Weisheitssprüchen. Bei Platon finde sich kein solcher Hinweis auf einen Delphi-Besuch. 34 Für die Gestaltung des Dialogs mit Euthydemos entnahm Xenophon vermutlich Motive aus dem Alkibiades des Aischines von Spetthos, einem Sokratesschüler aus dem engeren Kreis, dessen Dialoge als »besonders ansprechende, treue Darstellung des Sokrates« galten und »sich in der Antike am längsten neben Platon und Xenophon behaupteten« (Burkert 2008, 72; vgl. dazu auch Döring 1998, 206). Nach Effe (1971) sind die Übereinstimmungen zwischen dem xenophontischen Text und dem Aischines-Fragment als Beweis dafür anzusehen, dass Xenophon den Alkibades von Aischines als Vorlage benutzt hat. Vorsichtiger Burkert (2008, 72), der meint, dass dies »allerdings Vermutung bleiben [muß]«.

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mittelbares Wissen von sich selbst gehalten hat35, sondern in der Maxime eine erst zu realisierende anspruchsvolle Aufgabe formuliert sah. Welche inhaltliche Ausfüllung des delphischen Wortes Xenophon mit Sokrates assoziiert, wird in der Darstellung des weiteren Gesprächs deutlich (IV, 2, 25). Um dem jungen Mann, der die angemahnte Selbsterkenntnis ganz offensichtlich unterschätzt, einsichtig zu machen, worum es geht, führt Sokrates das Beispiel eines Pferdekäufers an, der vor dem Kauf des Tieres dieses eingehend mustert. Um das Pferd kennenzulernen, prüft er, ob es über die Eigenschaften verfügt, die für den Gebrauch und die Verwendung (wqe¸a) des Pferdes wünschenswert sind. Er untersucht, ob es folgsam oder störrisch, kräftig oder schwächlich, schnell oder langsam ist. In ähnlicher Weise gelte es auch bei den Menschen zu prüfen, ob sie die Qualitäten und Fähigkeiten besitzen, die zur Erfüllung der spezifisch menschlichen Aufgaben erforderlich sind (bpo?ºr 1sti pq¹r tµm !mhqyp¸mgm wqe¸am). Sich selbst zu erkennen heißt also, so das Fazit der Argumentation, die Beschaffenheit und Verfasstheit der eigenen Vermögen (d¼malir) zu erforschen.36 Die bei Xenophon dargestellte sokratische Auslegung der delphischen Mahnung lässt sich präzisieren, wenn man das erste Buch von Platons Politeia mitheranzieht. Es ist schon häufig festgestellt worden, dass es in der Darstellung der sokratischen Deutung des delphischen Spruchs starke Ähnlichkeiten zwischen Platon und Xenophon gibt. Nach Gigon (1994, 101f.) stimmt die bei Xen. mem. IV, 2 angeführte sokratische Auslegung des delphischen Wortes mit dem platonischen Bericht über die sokratische Menschenprüfung in den Grundzügen überein. So jüngst auch Moore (2015).37 Besonders auffallend sind die Parallelen zwischen der xenophontischen Passage und rep. 352d–353b. Im Rahmen der Untersuchung, ob das ungerechte oder das gerechte Leben vorzuziehen sei38, werden hier Aussagen über die spezifischen Aufgaben der menschlichen Seele und die dazu erforderlichen Qualitäten gemacht. Ähnlich wie im xenophonti35 Eine ähnliche Unterschätzung der Aufgabe der Selbsterkenntnis schildert Xenophon in der Kyropädie. Auf die Frage des Kroisos an das delphische Orakel, was er tun solle, um den Rest seines Lebens glücklich zu verbringen, gab die Pythia die Antwort, er solle sich selbst erkennen (7, II, 20). Die Reaktion des Lyderkönigs stellt Xenophon wie folgt dar : »Als ich den Orakelspruch vernahm, freute ich mich. Denn ich glaubte, er habe mir eine äußerst leichte Aufgabe gestellt, um mir das Glück zu schenken. Denn andere Menschen zu erkennen, sei manchmal möglich, manchmal aber auch nicht. Doch wer man selbst sei, so meinte ich, wisse jedermann« (7, II, 21; Übers. R. Nickel). 36 »Wer um seine Fähigkeiten nicht weiß, der kennt auch sich selbst nicht« (b lµ eQd½r tµm artoO d¼malim !cmoe?m 2autºm) Xen. mem. IV, 2, 25 (Übers. P. Jaerisch). 37 Freilich ist Platon in der Ausgestaltung der sokratischen Selbstprüfung weitaus philosophischer und systematischer als Xenophon, bei dem sich lediglich Andeutungen dieser prüfenden Gespräche finden. 38 Zur Rekonstruktion des gesamten Beweises und zur Beweiskraft der sokratischen Argumentation vgl. Blößner (1991).

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schen Text artikuliert die Sokrates-Figur im platonischen Dialog zunächst den Gedanken, dass jedes Ding oder Lebewesen eine besondere Funktion besitzt. So hat das Pferd ein bestimmtes Werk oder Geschäft (5qcom) zu verrichten, alle Gebrauchsgegenstände dienen einem besonderen Zweck und auch die menschlichen Sinnesorgane sind durch ihre Funktionalität bestimmt (rep. 352d–353b). In der daran anknüpfenden zweiten Aussage wird die Überlegung formuliert, dass jedes Ding oder Lebewesen seine spezifische Funktion nur dann in angemessener Weise erfüllen kann, wenn es über die jeweilige Bestheit und Tüchtigkeit (!qet¶) verfügt. So vermag das optische Sinnesorgan die Funktion der visuellen Wahrnehmung nur unter der Bedingung optimal zu erfüllen, wenn es über die entsprechende Tugend der Scharfsichtigkeit verfügt (rep. 353b–d). Analog dazu ist auch die bestmögliche Erfüllung der Aufgaben der menschlichen Seele an die Bedingung des Tugendbesitzes geknüpft. Die spezifischen Funktionen der Seele, so die in 353d vorgenommene inhaltliche Explikation dieses Gedankens, sind dem Bereich der Koordination, Organisation, Leitung zugeordnet. Also etwa: Sorge um die eigenen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten (t¹ 1pileke?shai), Regierung und Herrschaft über die eigenen leiblichseelischen Kräfte und das politische Gemeinwesen (t¹ %qweim), Beratung mit sich und anderen (t¹ bouke¼eshai), Bestimmung der Lebensweise und des Lebensvollzugs (t¸ d( aw t¹ f/m).39 Als Tugend, die für die Erfüllung dieser Aufgaben in besonderer Weise erforderlich ist, wird in 353e die Gerechtigkeit (dijaios¼mg) bestimmt.40 Führt man diese Aussagen mit dem oben angeführten xenophontischen Text zusammen, so ergibt sich folgende Deutung des delphischen Spruchs: Die Selbsterkenntnis besteht in einer die seelische Verfasstheit fokussierenden Selbstprüfung, die von der Frage geleitet wird, ob man die für die Gestaltung, Führung und Bestimmung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens erforderliche Bestheit verfügt. Damit werden zwei wesentliche Aspekte der vermutlich sokratischen Auslegung des delphischen cm_hi sautºm sichtbar. 1) Die Selbsterkenntnis ist keine theorieorientierte Reflexion auf Strukturmerkmale und Funktionsweisen der physisch-geistigen Vermögen, sondern eine auf die Lebenspraxis zielende Prüfung des Besitzes von bestimmten Qualitäten. 2) Die Selbstprüfung bezieht sich nicht auf die äußeren Besitzverhältnisse oder auf die Physis, sondern auf die Verfassung der seelischen Kräfte. Prüfungsgegenstand ist die spezifisch menschliche Tüchtigkeit. 39 Vgl. auch rep. 352d6–7: oq c±q peq· toO 1pituwºmtor b kºcor, !kk± peq· toO fmtima tqºpom wqµ f/m. 40 Vgl. auch Men. 73c/d und Gorg. 468eff. In der Politeia 439d werden die Funktionen der Überlegung und Beratung einem bestimmten Teil der Seele, dem kocistijºm zugeordnet. Die spezifische Tugend dieses Seelenteils ist die Weisheit (sov¸a), die als Erkenntnis dessen, was den einzelnen Seelenkräften und dem Ganzen zuträglich ist, bestimmt wird (442c).

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In dem von Xenophon dargestellten Gespräch mit Euthydemos wird noch ein dritter Aspekt deutlich. Nachdem Sokates den jungen Mann über den Gegenstand der Selbsterkenntnis sowie über deren Nutzen (IV, 2, 26–29) aufgeklärt hat, stellt dieser die Frage, auf welche Art und Weise man sich selbst prüfen solle (IV, 2, 30). Sokrates beantwortet die Frage nicht in Form eines belehrenden Wissens, sondern durch die unmittelbare Vorführung der Sache. Er führt mit Euthydemos einen Dialog, in dem dessen Vorstellungen vom Guten (t± !cah±) und Üblen (t± jaj±) einer eingehenden Prüfung unterzogen werden und der schließlich in der Einsicht in das Nichtwissen mündet (jimdume¼y c±q "pk_r oqd³m eQd´mai »denn ich fürchte, daß ich schlicht nichts weiß« IV, 2, 39). Die Untersuchung, ob man über Bestheit verfügt oder nicht, erfolgt demnach durch die Prüfung der handlungsorientierenden Vorstellungen von der Tugend und dem Guten.41 Unter Zugrundelegung der Annahme, dass diese Elemente einer philosophischen Auslegung des cm_hi sautºm in Grundzügen dem historischen Sokrates zuzuschreiben sind, lässt sich an dieser Stelle bereits eine erste Bestimmung des Verhältnisses zwischen sokratischer und traditioneller Selbsterkenntnis vornehmen. Obwohl die bisherigen Ausführungen allenfalls erste Umrisse haben sichtbar werden lassen, kann man jetzt schon festhalten, dass sich die sokratische Selbsterkenntnis in erheblichem Maß von der dichterischreligiösen Selbstbesinnung unterscheidet. Bei aller Anknüpfung an die Tradition wird hier ein prinzipieller Neuansatz versucht, der über das vorphilosophische Verständnis der Sache weit hinausgeht. Zunächst ist zu beobachten, dass Sokrates das zu erkennende Selbst im Unterschied zur Tradition primär mit der seelischen Instanz identifiziert, die jetzt als zentrale Sphäre der personalen Identität betrachtet wird.42 Eine weitere entscheidende Differenz zur Tradition besteht im veränderten Maßstab und Orientierungspunkt der Selbsterkenntnis. Die richtige Selbsteinschätzung wird nicht durch den vergleichenden Blick auf die vollkommenen Götter gewonnen, sondern durch die an Kohärenz und Widerspruchsfreiheit orientierte Prüfung der Lebensweise und des Selbstverständnisses. Präziser formuliert: Die eigene Unzulänglichkeit wird nicht auf der Grundlage einer anthropomorphen, die menschlichen Kräfte potenzierenden Gottesvorstellung eingesehen, sondern an der sich in der Prüfung offenbarenden Unstimmigkeit des Denkens und Handelns. Die mythische Fundierung der Selbsterkenntnis

41 Dieses Verfahren wird im platonischen Charmides in pädagogischer Absicht expliziert (vgl. 158e–159a). 42 Die Identifizierung von Selbst und Seele spricht auch Döring (2001, 678) dem historischen Sokrates zu: »Seele und Selbst sind für ihn [sc. Sokrates] also ein und dasselbe; anders ausgedrückt: die Seele ist das eigentliche Selbst des Menschen.« Döring sieht darin eine Grundprämisse des sokratischen Philosophierens.

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wird damit durch eine rationale Grundlegung ersetzt, die die Gesetze der Vernunft zum Maßstab erhebt. Und schließlich unterscheidet sich die sokratische Konzeption durch die starke Konzentration auf die Thematisierung und Infragestellung der Wertkategorien. Wie oben ausgeführt, liegen der apollinischen Einsicht in die Grenzen des Menschen bestimmte Wertvorstellungen zugrunde, die unthematisch bleiben. In Frage gestellt wird lediglich die vom Hybristes unterstellte Überzeugung, über gottgleiche Kräfte zu verfügen und einen dauerhaften und unbeschränkten Besitz aller Lebensgüter erlangen zu können. Mit der sokratischen Frage nach den Wertüberzeugungen wird zweifellos eine ganz neue Richtung im Selbsterkenntnis-Diskurs eingeschlagen. Von einer bloßen Modifizierung, Ergänzung oder Erweiterung der vorphilosophischen Selbsterkenntnis kann insofern keine Rede sein.43 Auf welche Weise Sokrates zu seiner Selbsterkenntnis-Konzeption gelangt ist, ob der Besuch in Delphi der Auslöser, die !qw¶ war, wie Aristoteles berichtet, oder ob es einen anderen ausschlaggebenden Faktor gab, können wir nicht mit Sicherheit wissen. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass der aristotelische Bericht wahr sein könnte.44 Dass Sokrates durch die unmittelbare Wahrnehmung der Tempelinschrift cm_hi sautºm oder durch die entsprechenden Diskurse zum Nachdenken über die Bedeutung des Spruchs und zur Selbsterforschung angeregt wurde, ist jedenfalls nicht so unwahrscheinlich, wie es im ersten Moment erscheinen mag. Aus den Zeugnissen ist uns bekannt, dass Sokrates die unterschiedlichsten Einflüsse und geistigen Strömungen in sich aufgenommen hat.45 In seiner Jugend studierte er offenbar mit großem Eifer die Naturphilosophen46 und ließ sich von den Theorien des Empedokles, Anaximenes, Diogenes von Apollonia, Heraklit, Alkmaion von Kroton, Archelaos47 zu Forschungen über die 43 Vgl. etwa das Urteil von Göbel (2002, 24ff.). 44 So auch Tortzen (2002, 305). Ähnlich Heitsch (2002, 198), der zwar nicht die Möglichkeit einer Anregung der sokratischen Prüfungstätigkeit durch das delphische Heiligtum in Erwägung zieht, es aber »für mehr als wahrscheinlich« hält, dass Sokrates schon vor dem Chairephon-Orakel überzeugt gewesen ist, im Sinn des delphischen Spruchs zu handeln. 45 Zu dem Versuch, die verschiedenen Einflüsse und geistigen Perioden zu einer geschlossenen intellektuellen Biographie des Sokrates zu verknüpfen vgl. Zehnpfennig (2001, 144–158) (2007, 195–197), Kaufmann, E.-M. (2000, 54–84). Ansätze dazu finden sich auch bei Wieland (1982, 88–94) und Figal (1995, 84–89). 46 Vgl. dazu Figal (1995, 84–86), Döring (1998, 153f.), Kniest (2003, 32–34). 47 Die Theorien dieser Naturphilosophen werden in der im platonischen Phaidon dargestellten autobiographischen Schilderung des Sokrates erwähnt. Vgl. Phaid. 96b. Zur umstrittenen Frage der Authentizität dieser sokratischen Autobiographie vgl. Hackforth (1955, 127–132), Rosetti (1987, 425), Döring (1998, 154), Kniest (2003, 33). Rossetti (1987, 425) führt das Argument an, dass bei Annahme der Nicht-Authentizität »der Passus des Phaidon und im besonderen die Seite 96B vollkommen unverständlich werden – wann hätte sich Platon je das Gehirn zermartert, um festzustellen, ob die Lebewesen durch einen Prozeß der Fermentie-

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Sokrates und Delphi

Ursachen des Entstehens und Vergehens der sinnlichen Phänomene48 anregen. Mit größtem Interesse hat Sokrates den Quellen zufolge in jener Zeit Anaxagoras von Klazomenai rezipiert, dessen Nous-Lehre ihm einen Ausweg aus den Widersprüchen der empirischen Forschung zu bieten schien.49 Die Zeugnisse weisen zudem darauf hin, dass sich Sokrates auch der Sophistik zugewandt hat und dort nach weiterführenden Einsichten suchte.50 Offenbar hat er die sophistischen Debatten, die die intellektuelle Atmosphäre in Athen ab 450 v. Chr. zunehmend bestimmten, aufmerksam verfolgt und bestimmte Frage- und Problemstellungen sowie Methoden und Praktiken aufgegriffen. Bei Platon findet sich außerdem der Hinweis, dass Sokrates auch in der Religion nach Antworten auf die ihn bewegenden Lebensfragen suchte und sich von der Weisheit der Mysterienreligion anregen ließ.51 Warum also soll es nicht so gewesen sein, dass auch die geistig und ethisch einflussreiche Apollonreligion auf Sokrates gewirkt hat? Angesichts der von den Quellen berichteten frühen wissenschaftlichen Forschungen des Sokrates ist es allerdigs mehr als unwahrscheinlich, dass dieser durch Delphi den Weg zur Philosophie überhaupt gefunden hat. Delphi war allenfalls der Wegbereiter der spezifisch sokratischen Prüfung und Selbsterkenntnis, nicht aber der Auslöser der forschenden, suchenden Tätigkeit, die ja den Zeugnissen zufolge bereits in jungen Jahren mit der naturwissenschaftlichen Betrachtung ihre erste Ausprägung gefunden hatte.

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rung aus anorganischen Substanzen hervorgehen können?«. Für die Authentizität haben auch Guthrie (1971, 101–105) und Lacey (1971, 43–44) argumentiert. Vgl. Phaid. 96a: »In meiner Jugend […] hatte ich ein wunderbares Bestreben nach jener Weisheit, welche man die Naturkunde nennt; denn es dünkte mich ja etwas Herrliches, die Ursachen von allem zu wissen (eQd´mai t±r aQt¸ar 2j²stou), wodurch jegliches entsteht und wodurch es vergeht und wodurch es besteht«. Vgl. Phaid. 97b–98b. Das sokratische Interesse an der Lehre des Anaxagoras wird von anderen Zeugnissen gestützt, die davon berichten, dass Sokrates Kontakt zu Archelaos, einem Schüler des Anaxagoras, hatte. Vgl. Ion von Chios (SSR I D 1, 60f.= Diog. Laert. II, 23) und Aristoxenos (SSR I B 42= Diog. Laert. II, 19). Vgl. auch Diog. Laert. II, 16= SSR I C 12 und Diog. Laert. II, 45. Zu Sokrates’ Beziehung zu Archealos vgl. Woodbury (1971), Rosetti (1987, 428f.), Döring (1998, 153f.), Patzer, A. (2002). Bei Platon findet sich zudem der Hinweis, dass Sokrates als junger Mann auch zu eleatischen Philosophen Kontakt hatte und mit deren Dialektik vertraut war (vgl. Parm. 127aff.). Vgl. Plat. Lach. 186c, 197d; Prot. 340a–d, 341a–d; Charm. 163d; Men. 75e, 96d; Euthyd. 277e; Krat. 384b/c; Mx. 235e–236c; symp. 201e; Xen. mem. II, 6, 36; II, 1, 21–34; Aristoph. Nub. 359ff.; Diog. Laert. II, 19. Vgl. dazu Gomperz (1965, 126), Rosetti (1987, 429), Pleger (1998, 48f.), Kniest (2003, 30f.). Vgl. symp. 201d–212c.

Das Chairephon-Orakel

4.

Das Chairephon-Orakel

a)

Authentizität und Datierung

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Für das Verhältnis des historischen Sokrates zur delphischen Tradition und für die spezifisch sokratische Selbsterkenntnis ist das berühmte Chairephon-Orakel besonders aufschlussreich. Das von Chairephon, einem Freund des Sokrates, in Delphi eingeholte Orakel ist in verschiedenen Fassungen überliefert. In der platonischen Version, die dem authentischen Wortlaut am nahesten kommen dürfte, lautet es wie folgt: Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren […]. Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich (Eqeto c±q dµ eU tir 1loO eUg sov¾teqor). Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre (!me?kem owm B Puh¸a lgd´ma sov¾teqom eWmai). Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. (apol. 21a)52

Es ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass die negative Formulierung der Weisheitszuerkennung die Exklusivität der affirmierten Weisheit aufhebt und die prinzipielle Offenheit des Zugangs zu ihr andeutet. Die Aussage der Pythia, dass keiner weiser ist als Sokrates, impliziert die Möglichkeit, dass es Menschen gibt oder geben wird, die ebenso weise sind und ähnliche Einsichten erlangt haben oder erlangen werden.53 Negiert wird hier lediglich eine über die sokratische Kompetenz hinausgehende Weisheit, nicht aber deren Erreichbarkeit für andere Vernunftwesen. Damit scheint bereits der allgemeine, exemplarische Sinn des Spruchs auf, den Sokrates in der Verteidigungsrede an späterer 52 Bei Xenophon wird das Orakel folgendermaßen überliefert: Waiqev_mtor c²q pote 1peqyt_mtor 1m Dekvo?r peq· 1loO pokk_m paqºmtym !me?kem b (Apºkkym lgd´ma 7imai !mhqypym 1loO l¶te 1keuheqi¾teqom l¶te dijaiºteqom l¶te syvqom´steqom (apol. 14). Die Modifikation gegenüber Platon besteht in der Erweiterung des delphischen Spruchs durch die Prädikate der Unabhängigkeit bzw. Freiheit und der Gerechtigkeit. Die bei Xenophon dargestellte erweiterte Fassung des Orakels ist als nicht-authentisch anzusehen. Darauf verweisen die von den delphischen Legenden überlieferten, dem Chairephon-Orakel thematisch nahestehenden ethischen Anfragen und Orakelsprüche, die stets nur ein Wertprädikat zum Gegenstand haben. Die Erweiterung ist vermutlich der xenophontischen Intention einer umfassenden Rechtfertigung des Sokrates gegenüber der zeitgenössischen Kritik zuzuschreiben. Während der Orakelspruch bei Platon und Xenophon in negativer Form wiedergegeben wird (PW II, Nr. 134), finden sich in der späteren Literatur positive Versionen (›Von allen Menschen ist Sokrates der Weiseste‹ [Diog. Laert. II, 37]; ›Weise ist Sophokles, weiser ist Euripides, aber von allen Menschen ist Sokrates der Weiseste‹ [Schol. Ar. nub. 144] PW II, Nr. 420). Diese späteren Varianten gelten als nicht-authentisch. Zum literarischen Charakter der späteren Versionen vgl. Parke/Wormell (1956, I, 403f.) und Herzog (1922, 168 Fußn. 1). 53 Vgl. Heitsch (2002, 76).

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Sokrates und Delphi

Stelle expliziert (apol. 23a/b). Der Orakelspruch weist Sokrates als Beispiel für ein Selbst- und Weltverhältnis aus, das für die Erfüllung der individuellen und gemeinschaftlichen Aufgaben sowie für das Gelingen des Lebens im Ganzen maßgeblich ist. In der Forschung wird inzwischen mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass der Orakelspruch, so wie er uns von Platon (apol. 21a) überliefert ist, als authentisch anzusehen ist.54 Für die Annahme der Authentizität hat bereits Herzog (1922) in seinem vielbeachteten und immer noch lesenswerten Aufsatz Das delphische Orakel als ethischer Preisrichter ein plausibles Argument angeführt. Herzog verweist auf die offenkundige Anknüpfung des ChairephonOrakels an die Tradition der ethisch-agonalen Orakelanfragen, die in den oben behandelten delphischen Geschichten ihren Niederschlag findet. Er führt aus, dass Delphi auch noch in klassischer Zeit ein Ort war, an dem der ehrgeizige Wettstreit um den ersten Preis, um das !qiste?om in Tugend und Weisheit ausgetragen wurde (164f.). Viele Athleten, Krieger, Dichter, Musiker, Techniten und Wissenschaftler bzw. die auf die Leistungen dieser Menschen stolzen Poleis ließen in Delphi Statuen aufstellen mit Epigrammen, die die Dargestellten als die Besten in ihrer Kunst auszeichneten. So habe zum Beispiel auch der Sophist Gorgias ein goldenes Standbild auf einer Säule als Weihgeschenk in Delphi aufstellen lassen und mit dem darauf gesetzten Epigramm seinen Anspruch bekundet, der Beste in seiner t´wmg zu sein.55 Vor dem Hintergrund dieser agonalen Stimmung, die auch das intellektuelle Leben beherrschte und sich im Wetteifer der Sophisten um den Rang des Weisesten niederschlug56, erscheint das Chairephon-Orakel, so Herzog, als authentisch und historisch glaubwürdig (167; vgl. auch 149). Nach wie vor umstritten ist hingegen die Frage der Datierung. Nach Heitsch (2002, 75) bieten sich aufgrund des Peloponnesischen Krieges, in dem zeitweise der Weg von Athen nach Delphi gesperrt war, nur die zweite Hälfte der dreißiger Jahre oder die Zeit 421–414/13 an.57 Heitsch plädiert eher für die spätere Datierung, führt dafür jedoch keine Gründe an. Nach Parke/Wormell (1956 I, 401f.) hingegen »it is much more likely that the oracle was given before 431, and so influenced Socrates about the age of thirty-five«.58 Reeve (1989, 21) hat sich in seinem Apologie-Kommentar ebenfalls für eine frühe Datierung ausgesprochen 54 Zur Begründung der Historizitäts-Annahme vgl. Parke/Wormell (1956, I, 402), de Strycker (1975, 40), Heitsch (2002, 73f.), Brickhouse/Smith (2004, 187 Anm. 37). 55 Vgl. Plat. Gorg. 449a. Gorgias rühmt sich dort gegenüber Sokrates, ein vollkommener Meister in seiner Kunst – der Rhetorik (Ngtoqij¶) – zu sein. Von der Statue des Gorgias in Delphi berichtet Pausanias X, 18, 7. 56 Vgl. Plat. Prot. 309d. 57 So bereits Parke/Wormell (1956, I, 401f.). 58 So auch Guthrie (1971, 85f.).

Das Chairephon-Orakel

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mit dem Argument, dass Sokrates seine elenktische Mission erst nach dem Orakel begonnen habe und eine Aussage im Laches (187d6–188a3) auf einen Beginn der dialektischen Prüfungstätigkeit in relativ jungen Jahren hindeute59 : »This would date the oracle in the 430s, or some thirty years prior to Socrates’ trial in 399«. Dem wäre hinzuzufügen, dass sich eine frühe Datierung des Orakels in Übereinstimmung mit der von Platon angeführten Spielzeit der Gespräche befindet. Die nach der fiktiven Chronologie frühesten Dialoge sind der Protagoras (433/432 v. Chr.), der Alkibiades Maior (um 430 v. Chr.) und der Charmides (Frühj. 430 v. Chr.). Platon lässt also Sokrates seine ersten prüfenden Gespräche mit Sophisten und politisch ambitionierten ehrgeizigen Aristokraten in relativ jungen Jahren, im Alter zwischen 35 und 40 Jahren60 führen.61 Die von Reeve und vielen anderen Forschern vermutete Aufnahme der elenktischen Mission nach dem Orakel bedeutet jedoch nicht, dass das Chairephon-Orakel als Auslöser der sokratischen Selbsterkenntnis anzusehen ist. Die platonische Apologie legt vielmehr nahe, dass Sokrates schon vorher zu seiner spezifischen Einsicht und prüfenden Dialektik gelangt ist. Folgende drei Indizien weisen auf den Erwerb der Selbsterkenntnis vor dem Orakel hin: 1) Die Anfrage des Chairephon, 2) Die delphische Zuerkennung von Weisheit, 3) Die sokratische Reaktion auf das Orakel. Bevor sich die Untersuchung diesen drei Punkten zuwendet, soll ein Strukturvergleich des Chairephon-Orakels mit den delphischen Legenden durchgeführt werden, der Herzogs Authentizitäts-Argument unterstützt und aufzeigt, dass dieses Orakel in einer bestimmten Tradition steht.

59 Vgl. auch Brickhouse/Smith (1989, 94 Fußn. 76), die ebenfalls für eine frühe Datierung plädieren, allerdings viel vorsichtiger im Urteil sind. In ihrem Apologie-Kommentar argumentieren sie dafür, dass »the oracle must have been delivered at some point well before 423 B. C. E.« (2004, 98f.) Für einen frühen Beginn der sokratischen Prüfungstätigkeit (Ende der 430er Jahre) hat schon Snell (1948) (1967) argumentiert. Zur Auseinandersetzung mit Snells Beweisführung vgl. Heitsch (2002, 75 Fußn. 95). 60 Die von Platon angeführten Zeitangaben zum Werdegang des Sokrates spiegeln sich im Ausbildungsgang der zukünftigen Philosophenherrscher in der Politeia wider. Die zukünftigen Regenten sollen mit ca. 30 Jahren in die Dialektik eingeführt (537d) und mit 35 Jahren genötigt werden, in die ›Höhle‹ zurückzukehren und politische Ämter zu übernehmen, d. h.in der Öffentlichkeit zu wirken (539e). 61 Nach Döring (1998, 155) ist es völlig unangemessen, aus den platonischen Dialogen historische Daten herzuleiten, da die Szenerien, also auch die Spielzeit der von Platon gestalteten sokratischen Dialoge »durchweg rein fiktional sind« (vgl. auch 180). Dem wäre entgegenzuhalten, dass Platon bei aller dichterischen Gestaltung als Quelle dennoch ernst zu nehmen ist und eine Übereinstimmung der dort enthaltenen Angaben mit anderen Zeugnissen und Daten zumindest als Indiz für die historische Wahrheit angesehen werden kann.

250 b)

Sokrates und Delphi

Vergleich mit den delphischen Legenden

Vergleicht man das Chairephon-Orakel mit den in novellistischer Form überlieferten ethischen Orakelsprüchen aus archaischer Zeit, so lassen sich etliche Parallelen, aber auch Differenzen feststellen. Wie oben ausgeführt, sind die delphischen Geschichten, die vermutlich auf das 6. Jh. v. Chr. zurückgehen, durch das Motiv der Warnung vor Hybris und der Ermahnung zur Selbsterkenntnis bestimmt. In unterschiedlichen Varianten und Ausformungen wird die Geschichte von reichen, mächtigen, berühmten Männern erzählt, die vom Wunsch nach Selbstbestätigung getrieben an die Pythia die Frage nach dem Frömmsten, Glücklichsten, Weisesten stellen und die überraschende Antwort erhalten, dass nicht ihnen oder einem anderen Mächtigen der erste Rang zukommt, sondern einem armen, völlig unbekannten Bauern. So wird bei Porphyrios (de abst. II, 15–17) von einem reichen Magnesier berichtet, der den Göttern jedes Jahr aufwendige und üppige Opfergaben leistete, und an das Orakel die Frage stellte, wer die Götter am schönsten und besten ehre. Zu seiner großen Überraschung benannte die Pythia Klearchos aus Arkadien als den Frömmsten – einen in einfachsten Verhältnissen lebenden Bauern, der regelmäßig und gewissenhaft die kultischen Verpflichtungen erfüllte und den Göttern zu den vorgeschriebenen Zeiten bescheidene Opfergaben leistete. Bei Diogenes Laertius (1, 106) findet sich eine Erzählung, die das Weisheitsmotiv aufnimmt. Anacharsis, ein Skythe aus fürstlichem Geschlecht, der aufgrund seiner vielen Reisen ein umfangreiches Wissen besaß, habe das Orakel gefragt, ob einer weiser sei als er selbst. Die Pythia habe die Frage bejaht und Myson aus Chenai als den Weisesten benannt, einen unbekannten Bauern aus einem kleinen abgelegenen Dorf, der nie über die Grenzen seines Ortes hinausgekommen ist und nicht im Entferntesten über das Bildungswissen des weitgereisten Skythen verfügte, dafür jedoch die Kompetenz besaß, in allem den richtigen Zeitpunkt (jaiqºr) zu erkennen und sein Leben danach auszurichten. Zahlreiche Varianten gibt es schließlich auch bezüglich des Glücksmotivs. Die vermutlich älteste Version findet sich bei Valerius Maximus (VII 1, 2) und Plinius (nat. VII 151). Der Lyderkönig Gyges, der – so die Überlieferung – sich aufgrund seiner Machtfülle und seines Reichtums für den glücklichsten aller Menschen hielt, wendete sich mit der Frage an das delphische Orakel, ob es irgendeinen Menschen gebe, der glücklicher sei als er. Die Pythia bejahte die Frage und führte Aglaos aus Psophis – einen armen arkadischen Bauern an, der auf einem kleinen Landflecken lebte, den er nie verlassen hatte, und der zufrieden damit war, sein kleines Äckerchen zu bewirtschaften. In diesen Legendenkreis gehört auch die herodoteische Solon-Kroisos-Erzählung (Hdt. 1, 30– 34), die oben ausführlich erörtert worden ist. All diese Geschichten weisen einen gemeinsamen Kern und eine ähnliche

Das Chairephon-Orakel

251

Intention auf. Das Handlungssubjekt wird jeweils als eine zu Hybris neigende Person dargestellt, deren Orakelanfrage vom Wunsch nach Auszeichnung der individuellen Existenz und Bestätigung des eigenen Überlegenheitsanspruchs motiviert wird. In allen Erzählungen fungiert das Orakel als ethisches Korrektiv und Ermahner zur Selbsterkenntnis. Indem die Pythia einen anderen als Glücklichsten, Frömmsten, Weisesten benennt, weist sie die Überhebung und Selbstgewissheit des Fragestellers in die Schranken. Und indem sie der einfachen und schlichten Lebensweise der arkadischen Bauern den Vorrang gibt, erinnert sie an die Unbeständigkeit der güterbasierten Eudaimonia und Tugend. Der pythische Verweis auf die arkadischen Bauern ist eine Aufforderung an die Konsultanten, sich selbst zu erkennen und die hypertrophe Selbsteinschätzung durch die Einsicht in die Wechselhaftigkeit des Lebens und die Fragilität der menschlichen Existenz zu korrigieren. Das Chairephon-Orakel steht ganz eindeutig in der Tradition dieser Orakelanfragen.62 Wie Herzog (1922, 163ff.) zutreffend bemerkt hat, spiegeln diese Art von Fragen, die stets auf den Besten (!qiste¼r) zielen und eine Bestimmung der Rangfolge sowie die Auszeichnung einer Person provozieren, in besonderer Weise das agonale Moment der Griechen, deren Lust am Wettstreit wider, die freilich immer Gefahr lief, in Hybris umzuschlagen. Vergleicht man das Chairephon-Orakel mit den älteren Orakeln, so ist zunächst zu beobachten, dass die Frage des Chairephon, so wie sie uns von Platon überliefert ist (»er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich« Eqeto c±q dµ eU tir 1loO eUg sov¾teqor apol. 21a), bezüglich der Form völlig identisch ist mit der Frage des Anacharsis (»ob einer weiser sei als er selbst« eU tir aqtoO sov¾teqor eUg Diog. Laert. I, 106) und des Gyges (»ob es irgendeinen Menschen gebe, der glücklicher sei als er« sciscitatum venisset an aliquis mortalium se esset felicior Val. Max. VII 1, 2). Hier wie dort weist die Frage eine komparativische Form auf, die ein vergleichendes Moment impliziert. Intendiert ist jeweils die göttliche Bestätigung der Vorrangstellung einer bestimmten Person in Hinsicht auf eine bestimmte Qualität. Der Fragende ist stets von der Überzeugung getragen, dass es keinen Weiseren, Glücklicheren etc. gibt, und hegt die Erwartung, dass der delphische Gott dieses Urteil für richtig erklärt. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch beim Chairephon-Orakel darin, dass das Werturteil, das der Frage zugrunde liegt, nicht auf den Fragenden selbst bezogen ist, sondern auf eine andere Person. Anders formuliert: Es ist nicht Sokrates selbst, der davon überzeugt ist, dass keiner weiser ist als er, sondern sein Freund Chairephon. Die freund62 So auch Herzog (1922, 163ff.), Gigon ([1947] 1994, 97ff.), Reeve (1989, 31), Heitsch (2002, 76). Gigon misst freilich den delphischen Geschichten keinerlei historischen Wert bei und betrachtet auch die Geschichte vom Chairephon-Orakel als reine Fiktion, die Motive der älteren delphischen Legenden aufgreift. Zur Frage der Historizität der delphischen Geschichten siehe oben Kap. A I 3b.

252

Sokrates und Delphi

schaftliche Verbindung zwischen Chairephon und Sokrates (vgl. apol. 21a1)63 darf keineswegs als Hinweis darauf verstanden werden, dass Sokrates die Meinung seines Freundes teilte und die Anfrage in seinem Sinn war oder gar von ihm initiiert wurde. In der platonischen Apologie distanziert sich Sokrates ausdrücklich von dieser Anfrage, indem er sie als Kühnheit (tºkla) bezeichnet und diese mit dem heftigen und ungestümen Wesen seines Freundes entschuldigt (apol. 21a). Es gibt jedoch noch eine weitere entscheidende Differenz. Im Gegensatz zu den in den delphischen Legenden überlieferten Orakeln erfährt die Frage hier keine Affirmation, sondern eine Negation, d. h. die Meinung des Fragenden wird bestätigt. Damit kommt es zu der paradoxen Situation, dass diejenigen, die Weisheit, Glück, Tugend für sich beanspruchen und im herkömmlichen Sinn dafür gelten, von der Pythia zurückgewiesen werden, während derjenige, der keinen Anspruch auf Weisheit (sov¸a) erhebt und nach dem vorherrschenden Weisheitsverständnis im Sinn der technischen Kompetenz, der theoretischen Betrachtung, der Polymathie oder der Spruchweisheit auch nicht weise zu nennen ist, vom Orakel ausgezeichnet wird. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass der Orakelspruch Sokrates in die Linie von Klearchos, Aglaos und Myson stellt.64 Analog zu den einfachen Bauern aus Arkadien wird mit Sokrates eine Person ausgezeichnet, die weder zur Führungs- und Wohlstandselite der Gesellschaft noch zu jenem Kreis von Wissenschaftlern und Gelehrten gehörte, die sich durch kosmologische, ontologische oder ethisch-politische Theorien bzw. durch technische Erfindungen einen Namen gemacht hatten. Ähnlich wie die arkadischen Bauern zählte Sokrates eher zu den Unbekannten im Land65, stammte aus einfachen Verhältnissen und ist über die Grenzen der Stadt kaum hinausgekommen. Allerdings ist zu fragen, wie weit diese Parallelisierung reicht, ob sie auch den Gehalt der zugesprochenen Qualität und die pythische Begründung des Werturteils umfasst.66 Präziser formuliert: Was ist es eigentlich, was das Orakel an Sokrates auszeichnet, was ihn aus delphischer Sicht zum 63 Vgl. auch Plat. Gorg. 447a7–449a; Charm. 153b; Aristoph. Nub.; Xen. mem. 1, 2, 48. 64 Vgl. Herzog (1922, 170), Gigon ([1947] 1994, 98), Reeve (1989, 31). 65 Zum Zeitpunkt der Orakelanfrage war dies sicherlich der Fall. Zur stadtbekannten Figur ist Sokrates vermutlich erst nach der Ausweitung seiner Prüfungstätigkeit auf die öffentlichpolitische Sphäre geworden. Siehe unten Kap. B I 4e. 66 Reeve (1989, 31) geht in seiner Parallelisierung zu weit, wenn er bemerkt, dass Sokrates vom delphischen Orakel analog zu Myson als »an example of someone who was wise because he made no hubristic claims to wisdom« gebraucht wird. Der Bauer aus Chenai wird nicht deswegen als weise bezeichnet, weil er keinen Wahrheitsanspruch erhebt, sondern weil er über die Kompetenz der Erkenntnis des rechten Zeitpunktes verfügt. Zutreffender Gigon (1994, 98–103), der in der Unscheinbarkeit, Einfachheit der Herkunft und der Diskrepanz zwischen der delphischen Wertschätzung und der negativen Beurteilung nach herkömmlichen Maßstäben die Gemeinsamkeiten sieht.

Das Chairephon-Orakel

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Weisesten macht? Doch dazu später. Zunächst soll noch eine letzte Gemeinsamkeit betrachtet werden. Analog zu den ethischen Orakelsprüchen der älteren Zeit ist auch das Chairephon-Orakel durch seine Rätselhaftigkeit und Deutungsbedürftigkeit gekennzeichnet. Hier wie dort nennt die Pythia lediglich einen Namen oder verweist auf eine bestimmte Person, ohne eine Erklärung zu geben, inwiefern der Genannte glücklicher, tugendhafter, weiser als andere Menschen ist, welche Art von Weisheit oder Glück dieser Person eignet. Wie oben bereits erörtert, ist die Rätselhaftigkeit der Sprüche nicht zuletzt in der Funktion begründet, die Menschen zur Suche nach deren Bedeutung, zur intellektuellen Selbsttätigkeit herauszufordern. Im Gegensatz zum reichen Magnesier, zu Gyges und zu Anacharsis führte Sokrates – so wie in der platonischen Apologie geschildert – diese Suche in beispielhafter Weise durch.

c)

Chairephons Orakelkonsultation

Die Frage des Chairephon an das delphische Orakel setzt voraus, dass sich Sokrates bereits zu diesem Zeitpunkt durch eine besondere Einsicht, Denkweise oder Kompetenz ausgezeichnet hat. Der komparativischen Frage liegt die Einschätzung zugrunde, dass Sokrates weiser als andere ist, dass er nicht nur die breite Masse, sondern auch die Intellektuellen sowie die durch Bildungs- und Erfahrungswissen charakterisierten Politiker seiner Zeit an Weisheit übertrifft. Chairephon muss der Auffassung gewesen sein, dass sein Freund eine besondere Sophia besitzt, die über das vorhandene Wissen hinausgeht und ihm innerhalb der geistigen Elite Athens einen besonderen Stellenwert verschaffte. Diese verblüffende Einschätzung wirft die Frage auf, was Chairephon zu seinem Urteil und seiner Frage veranlasst hat, was für eine Sophia er in Sokrates zu erkennen glaubte. In der Forschung wird zuweilen die These vertreten, dass die dem Orakel vorausgehende sokratische Weisheit in einer naturwissenschaftlichen oder kosmologischen Theorie bestand.67 Dies ist jedoch wenig plausibel, da Sokrates den Zeugnissen zufolge68 jene Forschungen in seiner Jugendzeit betrieben und aufgrund der nicht aufzulösenden Aporien relativ schnell wieder aufgegeben hat. Zudem grenzt sich Sokrates in der platonischen Apologie explizit von der Naturforschung ab (apol. 19b–d). Ebenso ausgeschlossen ist es, dass sich Sokrates durch Theorien der Staatskunst und der politisch-bürgerlichen Arete oder durch herausragende rhetorische Fähigkeiten hervorgetan hat. Diese von den Sophisten beanspruchten Kompetenzen69 werden ebenfalls in der 67 Vgl. Burnet (1924, 74f. u. 90f.), Taylor ([1933] 1952, 37–88), Figal (1995, 84). 68 Vgl. Plat. Phaid. 96a–100a; Diog. Laert. II, 21 u. 23. 69 Vgl. Plat. Prot. 318e–319a; Gorg.; Men. 70a–71d.

254

Sokrates und Delphi

Apologie mit Nachdruck zurückgewiesen (apol. 17b; 19e–20c; 33b). Angesichts der fehlenden Anhaltspunkte für eine andere Form von Wissen bleibt nur die Möglichkeit übrig, dass Chairephon von den prüfenden Gesprächen des Sokrates beeindruckt war und diese ihn zu seinem Urteil und seiner Orakelkonsultation veranlasst haben.70 Es liegt zudem aus zwei weiteren Gründen nahe, die elenktischen Gespräche als Basis von Chairephons Werturteil anzunehmen. Der von Sokrates geführte Dialog, der die ethische Bestheit einer Person auf den Prüfstand hob, bezeichnete eine völlig neue Art und Weise der Tugenduntersuchung. Die Innovation bestand weniger in der Thematisierung der menschlichen Bestheit – im religiösdichterischen Kontext sowie im sophistischen Diskurs war von der Tugend stets die Rede – als vielmehr in der besonderen Form der ethischen Auseinandersetzung. Die sokratische Tugenduntersuchung, so wie sie im platonischen Frühwerk dargestellt wird, zeichnet sich durch eine besondere Fragerichtung sowie durch eine Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit aus, die sie sowohl von den sophistischen Tugenddebatten als auch von den religiös fundierten dichterischen Appellen unterscheidet. Hinzu kommt die ungeheure Faszination und Ausstrahlungskraft, die von den sokratischen Gesprächen offenbar ausging. Die für diese Untersuchungen empfänglichen Naturen, die sich später als Anhänger um Sokrates scharten, waren begeistert, hingerissen, ergriffen und erschüttert. In den platonischen Dialogen finden sich zahlreiche Darstellungen solcher Reaktionen71, am anschaulichsten dürfte die Alkibiades-Rede aus dem Symposion (215a–222b) sein. Es ist von daher sehr gut vorstellbar, dass im Freundeskreis die Überzeugung vorhanden war, dass Sokrates eine besondere Weisheit besaß, die ihn gegenüber den sophistischen Intellektuellen auszeichnete und in den Rang einer geistig und ethisch überlegenen Persönlichkeit rückte.72

d)

Das delphische Urteil

So wie die Anfrage des Chairephon setzt auch die Antwort der Pythia voraus, dass Sokrates zu diesem Zeitpunkt bereits über eine besondere Sophia verfügte. Und auch hier stellt sich die Frage, worauf das Urteil basierte, welche Art von Weisheit das delphische Heiligtum in Sokrates verwirklicht sah. Vor dem Hintergrund der 70 So auch Riddell (1974, 47), Reeve (1989, 32), Wolf (1996, 38), Heitsch (2002, 75f.). 71 Vgl. Plat. Phaid. 58e–59b, 88e/89a, 117c/d; symp. 173b–e. 72 Freilich ist hier zu fragen, ob die Freunde – auch Chairephon – über das existenzielle Ergriffensein hinaus die sokratische Dialektik wirklich verstanden und nachvollzogen haben. Reeve (1989, 32) vermutet, dass Chairephon Sokrates, so wie viele spätere Gesprächspartner auch (vgl. apol. 23a1–5), im Sinn eines Wissenden, der das Tugendwissen besitzt, missverstanden habe. Vgl. zu dieser Frage auch Heitsch (2002, 76).

Das Chairephon-Orakel

255

oben dargestellten apollinischen Ethik, die mit aller Vorsicht wohl auch als Auffassung der delphischen Theologie angesehen werden kann, liegt die Vermutung nahe, dass Delphi die sokratische Selbsterkenntnis ausgezeichnet hat.73 Für Delphi dürfte an der sokratischen Selbstprüfung vor allem die Einsicht in das Nichtwissen von Interesse und Bedeutung gewesen sein. Entsprach doch diese Einsicht scheinbar ganz der von der apollinischen Tradition geforderten Selbstbesinnung und Sophrosyne.74 Wie oben ausgeführt, umfasste die traditionelle Selbsterkenntnis auch die Einsicht in die Grenzen des menschlichen Wissens. Im Gegensatz zu den Göttern, so die in Dichtung und Historiographie vielfach reflektierte Auffassung, besitzt der Mensch deutliche Defizite bezüglich des Wissens von vergangenen Geschehnissen und künftigen Ereignissen, von Handlungsresultaten und -folgen. Die Auswirkungen dieser epistemischen Begrenztheit werden in Dichtung und Geschichtsschreibung in Form von mythischen Erzählungen, dramatischen Handlungen und historischen Logoi vielfältig thematisiert. Dabei wird insbesondere die Fehlbarkeit der praktischen Vernunft herausgestellt. Die Unsicherheit bezüglich des Zukunftswissens hat zur Folge, dass die Einschätzung des Besten in der konkreten Situation und die jeweiligen Handlungsentscheidungen in hohem Maße irrtumsanfällig sind. Bei aller konditionsbedingten prinzipiellen Fallibilität der Urteile besitzt der Mensch jedoch die Möglichkeit, die Richtigkeit von Entscheidungen und das Gelingen der Handlungen zu beeinflussen. Die apollinisch geprägte Ethik sieht im Selbstverhältnis des Menschen eine entscheidende Voraussetzung für den Handlungserfolg: Während der Hybristes, der in maßloser Selbstüberschätzung die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen setzt und ohne Voraussicht (pqºmoia; pqolgh¸a), vernünftige Überlegung (vqºmgsir) und Beratung (eqbouk¸a) handelt, zum Scheitern verurteilt ist, gelangt der Sophron, der im Bewusstsein der menschlichen Wissensdefizite in der konkreten Situation jeweils nach der besten Lösung sucht, zu größeren Handlungserfolgen. Falls der herodoteische Kroisos-Logos tatsächlich auf delphischen Quellen beruht, wie in der Forschung angenommen wird, so ist diese Erzählung als Indiz dafür anzusehen, dass das delphische Orakel solch eine suchende Haltung 73 So auch Reeve (1989, 31f.) Die Frage, woher Delphi von der sokratischen Einsicht wusste, wenn Sokrates doch zum Zeitpunkt der Orakelanfrage noch weitgehend unbekannt war, lässt sich damit beantworten, dass die delphischen Priester entsprechende Informationen entweder von Chairephon selbst (so vermutet Heitsch 2002, 76f.; zur Informationsbeschaffung über die Klienten vgl. DNP 3 1997, 711 und Oesterheld 2008, 546) oder von anderen eingeholt haben. Zur allgemeinen Informiertheit der delphischen Priester vgl. Maaß (1993, 78), Giebel (2001, 31, 41, 54). 74 So auch Reeve (1989, 30f.) u. Heitsch (2002, 77): »sein [sc. Sokrates] Eingeständnis, in wichtigen Fragen nichts zu wissen, und die Fähigkeit, Wissensansprüche anderer als unbegründet zu entlarven, lagen ganz auf der traditionellen Linie Delphis« (vgl. auch 198). Vgl. auch Vlastos (1985, 28f.).

256

Sokrates und Delphi

(f¶tgla) angemahnt hat. Herodot berichtet im Kroisos-Logos (1, 90, 4), dass die Pythia auf den Vorwurf des Lyderkönigs, dass ihn der Gott durch seine Orakelsprüche zu einem Feldzug gegen die Perser ermuntert habe, entgegnete, dass die Sprüche Warnungen gewesen seien, die Kroisos jedoch nicht verstanden habe. Wenn Kroisos »einen guten Beschluss hätte fassen wollen« (ew l´kkomta bouke¼eshai), so die Pythia, hätte er »fragen müssen, ob er sein eigenes Reich meine oder das des Kyros« (1, 91, 4; Übers. Ley-Hutton). Wie bereits bemerkt, gilt dieser Orakelspruch in der Forschung als eine zu apologetischen Zwecken in Umlauf gesetzte Erzählung der delphischen Priesterschaft.75 Mit aller Vorsicht ist hier also von einer Quelle für delphische Auffassungen auszugehen. Auf der Basis dieser Erzählung lässt sich die Vermutung anstellen, dass das Orakel eine auf Selbstverkennung und Hybris basierende Wissensgewissheit und Urteilssicherheit als Fehlhaltung betrachtete, die vom Einzelnen im Bewusstsein der Verantwortung für das eigene Handeln zu korrigieren ist. Darüber hinaus wird hier eine Auffassung sichtbar, die das Bewusstsein des Nichtwissens, das sich in Beratung und Überlegung, insbesondere in der fragenden Haltung gegenüber den Göttern und der Suche nach der richtigen Auslegung der Orakelsprüche manifestiert, als die dem Menschen angemessene Einstellung betrachtet. Selbsterkenntnis als Einsicht in die menschlichen Wissensdefizite ist in der mythisch-religiösen Sichtweise vor allem ein Akt der Frömmigkeit, der mit dem Bewusstsein der menschlichen Angewiesenheit auf die göttlichen Mächte und der Ehrfurcht vor der göttlichen Allwissenheit verbunden ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich rekonstruieren, wie das delphische Orakel die sokratische Selbstprüfung und Einsicht verstanden hat und warum es Sokrates mit dem Prädikat der Weisheit auszeichnete. Die delphischen Priester haben die sokratische Selbsterkenntnis vermutlich als eine Einsicht in das Nichtwissen aufgefasst, die auf die menschliche Begrenztheit verweist und eine Haltung der Phronesis und Sophrosyne sowie der Frömmigkeit befördert. Aus theologischer Perspektive ließ sich die sokratische Erkenntnis als eine Weisheit deuten, die die Harmonie zwischen Gott und Mensch begründet und damit religiösen Zielen dient.76 In den Augen der delphischen Priesterschaft war Sokrates offenbar ein Beispiel für die von Apollon geforderte, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch regulierende Selbsterkenntnis und Mäßigung.77 75 Siehe oben Kap. A II 4f. 76 Offenbar ist das sokratische Gespräch nicht nur von der religiösen Autorität in dieser Weise verstanden worden, sondern auch von etlichen Gesprächspartnern. Vgl. Plat. Lach. 188a/b und 199a. 77 Es wird noch zu fragen sein, ob die sokratische Selbsterkenntnis tatsächlich in diesem Sinn zu verstehen ist. Möglicherweise haben die delphischen Priester eine Einsicht ausgezeichnet, die sie von den eigenen konservativ-religiösen Wertkategorien her gedeutet haben. Diese Vermutung lässt sich durch die Resultate der bisherigen Untersuchung stützen, die ja in

Das Chairephon-Orakel

257

Nestle (1910) hat vor vielen Jahren die These vertreten, dass die delphische Wertschätzung des Sokrates vor dem Hintergrund der griechischen Aufklärung und der damit verbundenen Kritik an Mantik und apollinischer Religion zu sehen ist.78 Das delphische Orakel habe Sokrates deswegen ausgezeichnet und protegiert, weil »er der einzige unter den damaligen Philosophen und Sophisten war, in dem die apollinische Religion eine Stütze finden konnte gegenüber der schweren Erschütterung, die der Glaube an die Mantik in weiten Volkskreisen erlitten hatte« (88). Da sich Sokrates durch eine besondere Apollon-Verehrung und Affinität zum delphischen Orakel ausgezeichnet habe (87f.), sei er für die Priesterschaft ein geeignetes Instrument zum Zweck der Autoritätssicherung des Heiligtums gewesen, das in seinem Ansehen stark beschädigt war : »Die Antwort [sc. der Pythia] erwies weniger dem Sokrates einen Dienst als dem Apollo und seinem delphischen Heiligtum« (88). Die von Nestle exponierten Gründe werden gewiss eine wichtige Rolle bei der positiven Beurteilung des Sokrates durch die delphischen Priester gespielt haben. Es wäre jedoch eine zu einseitige, vereinfachende Sichtweise, das Motiv der Reputationssicherung als einzigen und maßgeblichen Grund der Auszeichnung anzunehmen.79 Auf der Grundlage der religionshistorischen Forschung zum delphischen Orakel ist davon auszugehen, dass das Bemühen um Autoritätssicherung und Stärkung der eigenen Reputation mit einer theologisch-ideellen Intention verbunden war, die das politische Ziel erst mit Substanz und Inhalt füllte.80 Nestles Verweis auf die Bewegung der griechischen Aufklärung, die zum Zeitpunkt des Orakels, also etwa Mitte der 430er Jahre, bereits etabliert war und einen beträchtlichen Einfluss auf das geistige und ethisch-politische Leben ausübte, deutet auf einen Aspekt hin, der das Verständnis des Orakelspruchs weiter vertieft. Die Verbreitung des aufklärerischen Gedankengutes ging mit einer zunehmenden Spannung zwischen Religion und rational begründeter Wissenschaft und Ethik einher, die sich in wechselseitiger Kritik entlud.81 In Anbetracht dieser Situation liegt die Vermutung nahe, dass die delphische Auszeichnung der sokratischen Haltung des Nichtwissens zugleich eine Kritik an der aufklärerischen Wissensgewissheit war. Der aus dem Anspruch auf Autonomie und Selbstständigkeit erwachsende geistige Selbstbehauptungswille

78 79 80 81

ersten Umrissen gezeigt hat, dass Sokrates zwar in vielen Dingen an die traditionelle Ethik anschließt, sie aber letztlich transzendiert und ganz neu begründet. Zur Religionskritik der griechischen Aufklärung vgl. Nilsson (GGR I, 767–771), Burkert (GR, 452–468), Schmidt (1989). Herzog (1922, 169) sieht in dem Chairephon-Orakel eine Förderung der apollinischen Ethik: »Der Bescheid [sc. der Pythia] war […] ein Bekenntnis zur delphischen Ethik«. Vgl. Nilsson (GGR I, 629), der in der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Harmonie zwischen Gott und Mensch die grundlegende theologische Intention des delphischen Orakels sieht. Vgl. den Dialog zwischen dem Seher Teiresias und Ödipus in Soph. Oid. T. 300–403.

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Sokrates und Delphi

und Wissensoptimismus der Aufklärung war mit einer zunehmenden Entfremdung von der traditionellen Frömmigkeit verbunden und wurde von daher von den Theologen mit Argwohn betrachtet. Das unbegrenzte Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit, der Glaube an die Möglichkeit einer rationalen Erfassung der Welt und an eine allein auf menschlichem Erfindungsgeist basierende technische Machbarkeit der Dinge musste aus der Perspektive der Religion als maßlose Überschätzung der menschlichen Vernunft, als eine epistemische Hybris und Selbstverkennung erscheinen. Mit der Auszeichnung der sokratischen Einsicht in das Nichtwissen sollte vermutlich ein Zeichen gesetzt und darauf verwiesen werden, dass das menschliche Wissen begrenzt ist, dass nur die Götter im Besitz der vollkommenen Weisheit sind und der Sterbliche trotz seiner Vernunftfähigkeit82 letztlich auf göttliche Eingebung und Hilfe angewiesen bleibt.83

e)

Sokrates’ Reaktion auf das Orakel

Neben der Anfrage des Chairephon und der delphischen Zuerkennung von Weisheit spricht schließlich auch Sokrates’ Reaktion auf das Orakel für eine Selbsterkenntnis und Selbstprüfung vor dem pythischen Spruch. Wie in der Apologie geschildert wird, reagierte Sokrates auf die delphische Auszeichnung keineswegs mit Stolz und Freude, sondern mit Verwunderung, Erstaunen und Nichtverstehen. »Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten?« (t¸ pote k´cei b he¹r ja· t¸ pote aQm¸ttetai apol. 21b3–4), so fragt er sich, nachdem er von Chairephon den Spruch erfahren hatte. Dieses Verhalten deutet auf eine bestimmte geistige Einstellung hin, die als Identitätsmerkmal des Sokrates betrachtet werden kann. Die geistige Disposition, die in der Frage nach Sinn und Bedeutung des Orakels aufscheint, lässt sich als Haltung der Suche umschreiben. Im Unterschied zu dem im Alltag stets präsenten und vom Hy82 Das Motiv des ›Funkens der Vernunft‹, durch den der Sterbliche ›Anteil am Göttlichen‹ hat, durchzieht die ganze griechische Literatur und findet sich auch in der apollinisch geprägten Dichtung. Vgl. Pind. N. 6, 4f. u. Soph. Ant. 683. 83 Es ist schon häufiger darauf hingewiesen worden, dass Sophokles’ Drama König Ödipus in diesem Sinn zu verstehen ist, nämlich als Kritik an der aufklärerischen Wissensanmaßung und als Verweis auf die Beschränktheit der menschlichen Erkenntniskräfte. Vgl. Schmidt (1989) u. Race (2000). Diese Deutung des Ödipus kann als Bestätigung der These angesehen werden, dass mit dem Chairephon-Orakel eine Kritik an der Sophistik verbunden war. Race (2000, 102) versucht, die Figur des Ödipus mit Sokrates zu parallelisieren und gelangt zu folgendem Ergebnis: »Not only are there striking similarities in their experiences, but the main issue ist the same: the limitations of human knowledge in the face of the divine sov¸a possessed by Apollo«. Hier wird Sokrates aus delphischer Perspektive gedeutet, es ist jedoch fraglich, ob die sokratische Einsicht tatsächlich in diesem Sinn zu verstehen ist.

Das Chairephon-Orakel

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bristes ins Extrem gesteigerten Wissensanspruch, der die Phänomene und Ereignisse in vermeintlicher Urteilskompetenz deutet und bewertet, wird hier eine Einstellung des Nichtwissens sichtbar, die sich in der Frage nach dem richtigen Verständnis der Dinge, Ereignisse und Sachverhalte manifestiert. Da solch eine Haltung zwar charakterlich prädisponiert sein kann, aber von der Person durch eine prüfende Selbstbeziehung im Verlauf des Lebens erst auszubilden ist, liegt die Vermutung nahe, dass die Reaktion auf den Orakelspruch bereits Ausdruck einer verbindlichen und nachhaltigen Selbsterkenntnis ist. Auf ein vorhandenes epistemisches Selbstbewusstsein deutet zudem die ausdrückliche Bestreitung einer besonderen Sophia hin. Sokrates begründet seine Irritation und sein Nichtverstehen mit dem Satz: »Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin« (1c½ c±q dµ oute l´ca oute slijq¹m s¼moida 1laut` sov¹r ¥m apol. 21b4–5).84 Diese Aussage lässt sich nur vor dem Hintergrund des Sprachgebrauchs von Sophia angemessen verstehen.85 Das griechische Wort sov¸a bedeutet ganz allgemein eine Expertise in einem bestimmten Fachgebiet oder Sachbereich, die mit sozialer Reputation verknüpft ist. Gemeint ist »die überlegene Fertigkeit und Sachkunde, welche den Fachmann und Künstler vor den Vielen auszeichnet und ihm Ansehen verschafft« (DNP 12/2, 2002, 436). Das Bedeutungsspektrum reicht dabei von einer technisch-künstlerischen Meisterschaft, in der Wissen und Können untrennbar verbunden sind, über eine praktisch-politische Kompetenz bis hin zum theoretischen Wissen. Mit dem Ausdruck sov¸a wurden zunächst die einfachen Handwerkskünste bezeichnet sowie die musischen Fertigkeiten der Dichter, Sänger und Bildhauer, aber auch die höheren Technes, wie z. B. die Arztkunst. In späterer Zeit wurde das Bedeutungsfeld auf die politische Sphäre ausgedehnt. Mit sov¸a meinte man jetzt auch die durch Bildungsreisen und Erfüllung von staatlichen Aufgaben gewonnene praktische Erfahrung und Lebensklugheit, die sich in politischer Kompetenz und Urteilskraft sowie in der Formulierung von Lebensregeln, in sogenannten Weisheitssprüchen manifestierte. Als sovºr galten z. B. Pittakos von Mitylene, Bias von Priene, Kleobulos von Lindos, Chilon von Sparta, Solon von Athen, die später unter die Gruppe der ›Sieben Weisen‹ gezählt wurden. Ab Mitte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts wurde das Wort im Kontext der sich etablierenden naturwissenschaftlich-kosmologischen Forschung zunehmend zur Bezeichnung des auf rationaler Begründung basierenden theoretischen Wissens verwendet. 84 Die Wendung oute l´ca oute slijq¹m, die Platon in der Apologie häufig benutzt, bedeutet die vollkommene Bestreitung einer Sache, hier der Sophia. Vgl. dazu Heitsch (2002, 65 Fußn. 61 u. 77). Vgl. auch apol. 22c/d: »Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß« 1laut` c±q sum-dg oqd³m 1pistal´m\. 85 Zur Bedeutung und Begriffsgeschichte des Wortes sov¸a vgl. Leisegang (1927 [RE 3 A,1], 1019–1039), Nestle (1942, 14–17), DNP Bd. 12/2 (2002, 436–444), Pietsch (2007a, 316–319).

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Wenn Sokrates also an besagter Stelle bestreitet, sovºr zu sein, meint er, dass er sich durch keine Expertise auszeichnet, dass er weder über eine besondere Meisterschaft in einer Handwerkskunst, noch über eine herausragende künstlerische Fähigkeit, eine besondere politische Kompetenz oder eine fundierte Theorie der Natur, Gesellschaft und menschlich-bürgerlichen Tüchtigkeit verfügt.86 Da für diese Art von epistemischem Selbsturteil eine prüfende Selbstbeziehung notwendig ist, kann von einer Praxis der Selbsterforschung vor dem Orakel ausgegangen werden. Viel deutlicher als diese Leugnung weist jedoch der nachfolgende Bericht über die Gespräche mit Politikern, Dichtern, Handwerkern auf eine vorausgegangene Selbstprüfung hin. Wie Platon in der Apologie schildert, suchte Sokrates nach dem Orakel Persönlichkeiten auf, die als sovºr galten, um durch das Gespräch mit diesen den verborgenen Sinn des Orakelspruchs aufzuklären. Das erste Gespräch wird folgendermaßen beschrieben: Nachdem Sokrates den Eindruck gewonnen hatte, dass der Wissensanspruch seines als politisch kompetent geltenden Gesprächspartners unbegründet ist, zeigte er diesem die Widersprüchlichkeit seines Denkens auf und überführte ihn des Nichtwissens (21c6–9), wofür er den Hass des Politikers erntete (21d1). Die in dieser Darstellung aufscheinende Souveränität in der Kunst der Untersuchung und Widerlegung eines beanspruchten Wissens weist darauf hin, dass Sokrates zu diesem Zeitpunkt bereits über die dialektische Fähigkeit verfügte. Wenn der historische Sokrates auch nur annähernd jene prüfende Dialektik verwirklicht hat, die Platon im Frühwerk vorführt, so ist das eine höchst anspruchsvolle intellektuelle Leistung und Kompetenz, die einer jahrelangen Einübung bedarf, die man jedenfalls nicht aus dem Stand heraus realisieren kann. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl die Anfrage des Chairephon als auch die Antwort der Pythia und die sokratische Reaktion darauf verweisen, dass Sokrates bereits vor dem Orakelspruch seine spezifische Selbsterkenntnis gewonnen hat.87 Es kann insofern keine Rede davon sein, dass das Orakel einen »turning-point« (Guthrie 1971, 85f.)88 im Leben des Sokrates darstellte. Viel86 Anders Reeve (1989, 32), der als Bedingung der sokratischen Bestreitung der Sophia in apol. 21b4–5 die Selbstprüfung annimmt und dabei den Sprachgebrauch von sov¸a unbeachtet lässt. Richtiger Figal (1995, 37): »Wenn Sokrates so fest davon überzeugt ist, nicht weise zu sein, hat er sich insgeheim an der Erscheinung der Weisheit orientiert«. So auch Karl (2010, 126). 87 So auch Gigon ([1947] 1994, 104), de Strycker (1975, 44ff.), Kraut (1984, 271 Fußn. 43), Vlastos (1985, 27–29), Reeve (1989, 28ff.), Brickhouse/Smith (1989, 94f.) (2004, 98), Wolf (1996, 38), Heitsch (2002, 78 u. 198ff.). Besonders deutlich Heitsch (2002, 78): »Die für Sokrates typische Tätigkeit gründet nicht im Chairephon-Orakel; seine Diskussionsfreude und die Fertigkeit, Gesprächspartner durch seine Frage-und Antwort-Methode argumentativ zu überwinden, waren längst vorher am Werk gewesen«. 88 Ähnlich West (1979, 89ff. u. 128ff.), Figal (1995, 33 u. 84), Karl (2010, 128).

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mehr ist zu vermuten, dass Sokrates schon etliche Jahre vor dem Spruch den Bios der Selbsterforschung realisiert hat und prüfende Gespräche mit sich selbst und anderen führte. Legt man diese Annahme zugrunde, so stellt sich freilich die Frage, welcher Stellenwert dem Orakel in der sokratischen Biographie zukommt, was für eine Bedeutung der pythische Spruch für Sokrates besaß. Hat Sokrates in der Suche nach dem Sinn des Orakels eine weiterführende Selbsterkenntnis gewonnen? Welche Art von Einsicht hat das Orakel provoziert? Es fragt sich zudem, warum Sokrates den Spruch nicht gleich im Sinn der erworbenen Selbsterkenntnis verstanden hat, sondern erst nach einiger Überlegung die Bedeutung zu erschließen vermochte. Zunächst zum letzten Punkt. Die Frage nach der Begründung des sokratischen Nichtverstehens lässt sich relativ einfach vor dem Hintergrund des oben angeführten Sprachgebrauchs von Sophia klären. Die Irritation des Sokrates hängt vermutlich damit zusammen, dass er den Spruch zunächst im Sinn der in Alltag und Wissenschaft vorherrschenden Bedeutung des Wortes verstanden hat. Das Urteil der Pythia erschien vor diesem Bedeutungshorizont als Zuerkennung einer besonderen Expertise, eines praktisch-politischen oder theoretischen Wissens, das etwa die ›Sieben Weisen‹, die Naturphilosophen und Sophisten auszeichnete. Sokrates war sich jedoch bewusst, dass er über keine solche Sophia verfügte. Damit kam es zu einer Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung, die es aufzulösen galt. Die Lösung des Problems bestand in einer Transformation des Sophia-Begriffs, den bereits das delphische Orakel, wenn auch in etwas anderer Weise, vorgenommen hatte. Das delphische Urteil, das keiner weiser als Sokrates ist, basiert auf einem Weisheitsbegriff, der weder in der praktischen Urteilskraft noch im theoretischen Wissen aufgeht. Weisheit meint hier eine theologischanthropologisch begründete Haltung der Selbstbeschränkung, die den Menschen in seinem Denken und Handeln determiniert und in den verschiedenen Lebenssituationen Orientierung gibt. Diese Weisheitsbestimmung befindet sich in kritischer Distanz zum Sophia-Begriff der sophistischen Aufklärung89, der aus der Sicht der Religion eine Selbstüberschätzung der menschlichen Vernunft darstellte, nicht nur in Hinsicht auf den möglichen Umfang des Wissens, sondern vor allem auch in Hinsicht auf die Bedeutung dieses Wissens für die menschliche Eudaimonia.90 In seiner Auslegung des Orakelspruchs gelangt Sokrates zu einem ganz eigenen Begriffsverständnis. Die sov¸a besteht nach der in der platonischen

89 Siehe oben Kap. B I 4d. 90 Solch eine Kritik an der aufklärerischen Sophia spiegeln die Verse 395–401 aus Euripides’ Bakchen wider. Vgl. insbes. Verse 395f.: t¹ sov¹m d( oq sov¸a/ tº te lµ hmgt± vqome?m (»Klügelei und ein Streben hinaus über irdische Ziele sind Weisheit nicht« Übers. D. Ebener). Vgl. auch Soph. Oid. T. 300–403.

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Apologie fassbaren sokratischen Sichtweise91 in einer die Wissenseinbildung aufhebenden Selbsterkenntnis, die das vikosove?m begründet, die philosophische Wahrheitssuche, und mit einer Selbstformung (2pil´keia 2autoO) verknüpft ist. Die Subsumtion der sokratischen Einsicht unter den Begriff der Sophia ist offenbar erst ein Resultat des Nachdenkens über den Sinn des Orakels.92 Zuvor hat Sokrates allem Anschein nach seine Selbsterkenntnis noch nicht als Sophia aufgefasst. Das würde jedenfalls die Irritation und das anfängliche Nichtverstehen des delphischen Orakelspruchs erklären. Diese Überlegungen sind bereits Teil der Antwort auf die Frage nach der vom delphischen Werturteil provozierten Einsicht und nach dem Stellenwert des Orakels im sokratischen Bios. Wie die von Platon gestaltete Verteidigungsrede des Sokrates (insbes. apol. 21b–23c) erkennen lässt, war die im Rahmen der Suche nach dem Verständnis des Orakelspruchs aufgenommene Gesprächstätigkeit für den Prozess der Selbstbewusstwerdung konstitutiv. Nach der platonischen Darstellung, die hier als primäre Quelle zugrunde gelegt wird, gelangte Sokrates im Gespräch mit den als sovºr geltenden Persönlichkeiten zu dem Bewusstsein, dass er über eine überlegene Einsicht verfügt und der Orakelspruch insofern tatsächlich als wahr anzusehen ist.93 In der autobiographisch gestalteten Orakelerzählung (apol. 21b–23c) werden Modus und Gehalt dieses sozial vermittelten Selbstwissens angedeutet. Die in apol. 21d, 22c, 22e dargestellten selbstreflexiven Überlegungen haben die Form einer vergleichenden Betrachtung, die im Anschluss an die Gespräche realisiert wurde. In apol. 21d2f. beschreibt Platon die Reflexion folgendermaßen: »Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser«.94 Das vergleichende Moment, das zunächst etwas befremdlich wirkt, ist ganz eindeutig dem Orakelspruch geschuldet, der Sokrates in eine herausgehobene Stellung gerückt und einen Vergleich mit anderen provoziert hat. Der Inhalt dieser Selbstreflexion wird in apol. 21d wie folgt formuliert: Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.95 91 Vgl. apol. 20c–23c, 28a–31c, 36c–e, 38a. 92 Vgl. den in der Apologie (20d7) gebrauchten Ausdruck ›menschliche Weisheit‹ (!mhqyp¸mg sov¸a), mit dem sich Sokrates von den anderen Arten der Sophia abgrenzt. 93 Vgl. apol. 23a5f.: »Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein (t` emti b he¹r sov¹r eWmai) […] )«. Diese Affirmation der göttlichen Weisheit ist auf den in apol. 21b geschilderten anfänglichen Zweifel an der Wahrheit des Orakelspruchs zu beziehen (»Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? […] Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet«). 94 Vgl. auch 22c6f. und 22e1f. 95 Wie aus dem Kontext deutlich wird, beziehen sich Wissen und Nichtwissen hier jeweils auf

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jimdume¼ei l³m c±q Bl_m oqd´teqor oqd³m jak¹m j!cah¹m eQd´mai7 !kk( oxtor l³m oUeta¸ ti eQd´mai oqj eQd¾r7 1c½ d´, ¦speq owm oqj oWda, oqd³ oUolai. 7Eoija coOm to¼tou ce slijq` timi, aqt` to¼t\ sov¾teqor eWmai, fti $ lµ oWda oqd³ oUolai eQd´mai. (apol. 21d3– 7)

Diese vielzitierten Sätze lassen sich etwas erhellen, wenn die Darstellung der geistigen Verfassung der geprüften Personen in die Betrachtung einbezogen wird. In dem Bericht über Verlauf und Resultate der Gespräche mit Politikern, Intellektuellen, Techniten werden zum einen epistemische Defizite – wie Verhaftetsein in falschen oder unbegründeten Meinungen, Inkohärenz und Widersprüchlichkeit des Denkens (21c8f., 22b7–c3) – angedeutet. Zum anderen aber wird in dieser Erzählung immer wieder auf das problematische Selbstverhältnis der geprüften Personen verwiesen und die vorhandene Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und faktischem Wissenszustand beschrieben (21c6–9, 21d4f., 22c5f., 22d6–8). Die Gesprächspartner werden als Personen dargestellt, die bezüglich der l´cista Wissensansprüche erheben und in der öffentlichen Meinung als kompetent und weise gelten, die jedoch in der kritischen Prüfung ihre Sophia nicht zu rechtfertigen vermögen und sich als Doxosophen (apol. 21c7), als vermeintlich Wissende, offenbaren. So findet sich in apol. 21c die Schilderung, dass einer der Gesprächspartner, ein bekannter Politiker, »zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise (sovºr) vorzukommen [schien], es zu sein aber gar nicht«. Die als Charakteristikum der Gesprächspartner angeführten Merkmale – Unstimmigkeit der Vorstellungen und Spannung zwischen Selbsturteil und Faktizität – verweisen auf einen geistigen Zustand der Disharmonie und des inneren Zwiespalts. Über die Auswirkungen dieser Verfasstheit auf die Handlungspraxis und die sozialen Beziehungen wird an dieser Stelle keine Aussage getroffen. Da Platon jedoch an anderen Stellen stets den engen Zusammenhang zwischen Denken und Handeln hervorhebt, ist davon auszugehen, dass die Unstimmigkeiten im praktischen Handeln und die soziale Zwietracht als Manifestationen der geistigen Dissonanzen mitgemeint sind. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen entpuppt sich das zunächst so harmlos und bescheiden klingende sokratische Wissen des Nichtwissens (21d7) als Bewusstsein der besonderen Qualität der eigenen geistig-seelischen Verfassung. Die platonische Darstellung suggeriert, dass Sokrates in der Konfrontation mit den unbegründeten Wissensansprüchen der anderen zur Einsicht gelangt ist, dass er selbst nicht in diesem Zustand des Unverstandes (!lah¸a) verhaftet die wichtigsten Fragen des Lebens (t± l´cista apol. 22d7), nämlich auf die ethisch relevanten Gegenstände – das Gerechte, Gute, Schöne –, die für die individuelle Lebensführung und die Gestaltung des sozial-politischen Lebens essenziell sind. Ein sorgfältiger, textnaher Nachweis, dass mit t± l´cista die höchsten ethischen Gegenstände gemeint sind, findet sich in der Studie von Meyer (1962, 89ff.). Vgl. auch Heitsch (2002, 86 Fußn. 117).

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ist, dass er sich in der Selbsterforschung von falscher Wissensgewissheit befreit und eine Haltung der Suche erworben hat, die in Bezug auf das Denken und die praktische Lebensgestaltung einheitsstiftend und konsistenzfördernd wirkt. Die oben zitierte Aussage, dass Sokrates um sein Nichtwissen weiß und er »um dieses wenige« weiser als andere sei (21d), rückt damit in ein ganz anderes Licht. Hinter dieser selbstverkleinernden Formulierung verbirgt sich das Wissen um die Überlegenheit der erworbenen geistigen Haltung und Lebensweise. Im Bewusstsein der eigenen Sophia ist die Einsicht eingefasst, dass er sich im Vergleich mit den geprüften Personen durch ein viel höheres Maß an Übereinstimmung, Einheit und Freundschaft mit sich selbst und anderen auszeichnet. Die vom Orakel ausgelöste Erkenntnis lässt sich auf der Grundlage dieser Beobachtungen als eine Selbsterkenntnis zweiter Stufe deuten. Die Mehrstufigkeit der Selbsterkenntnis, die sich hier abzeichnet, kann am Beispiel der Relation zwischen Erfahrung und verarbeitender Reflexion verdeutlicht werden. Erfahrungen sind unmittelbare Wahrnehmungen von Ereignissen, Situationen, inneren Zuständen, die zwar mit selbstreflexiven Momenten einhergehen können, die jedoch in der Regel erst in einer zeitlich nachgeordneten Reflexion verarbeitet und begrifflich fixiert werden. In ähnlicher Weise lässt sich die sokratische Selbsterkenntnis auf der ersten Stufe als eine in der Prüfung gewonnene unmittelbare Erfahrung des eigenen Nichtwissens fassen, die in der Folge unter verschiedenen Gesichtspunkten reflektiert und zu einem bewussten Selbstwissen verarbeitet wurde. Glaubt man der platonischen Darstellung, so umfasste dieses Selbstwissen nicht nur die Einsicht in Gehalt und Art der gewonnenen Sophia, sondern auch die Erkenntnis von deren Wert und Bedeutung. Darauf verweist die schon erwähnte Stelle apol. 22e, wo Sokrates seinen epistemischen Zustand als den besseren beurteilt und damit indirekt eine Wertaussage über die erlangte Einsicht trifft: »Da antwortete ich denn mir selbst und dem Orakel, es wäre mir besser (kusitek¶r), so zu sein, wie ich war« (22e5f.). Noch viel deutlicher wird dieses Werturteil in apol. 30a6 und 38a2 artikuliert. Platon lässt Sokrates hier die bemerkenswerte Aussage treffen, dass seine Art der Selbsterforschung von größter Bedeutung für das Gelingen der individuellen Lebensführung und des gemeinschaftlichen Lebens ist. Das prüfende Gespräch über die Tugend sei das ›größte Gut‹ (l´cistom !cah¹m) für den Menschen (38a2) und führe zur wahren Eudaimonia (36d9f.).96 Wenn die platonische Darstellung in diesem Punkt authentisch ist und der historische Sokrates tatsächlich diese Art von Selbstwissen erlangt hat, dann ist davon auszugehen, dass sich Sokrates über seine Bedeutung und seinen intellektuellen Rang im Klaren war. Solch ein Selbstverständnis ermöglicht nicht nur eine bewusste und begründete Ausübung der eigenen Tätigkeit, sondern auch 96 Vgl. auch Gorg. 458a/b.

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eine adäquate Bewertung der eigenen Leistung und eine richtige Positionierung innerhalb der geistigen Elite. Der in diesen Überlegungen angedeutete Zusammenhang zwischen Selbstwissen, Selbstbestimmung und Lebensführung wird noch deutlicher, wenn man die Reflexionen auf das sokratische Pragma mitheranzieht, die sich am Ende der Orakelerzählung finden (apol. 23a/b). Platon lässt Sokrates dort ein Resümee ziehen, das auf die enge Verbindung zwischen dem gewonnenen Selbstverständnis und der Bestimmung der individuellen Lebensaufgabe verweist. Das sokratische Pragma der ›Menschenprüfung‹ wird hier als Konsequenz der erlangten Einsicht aufgezeigt. Nach der platonischen Darstellung in apol. 23a/b fasste Sokrates die von ihm erworbene Selbsterkenntnis als Paradigma (paq²deicla) einer Weisheit auf, die der epistemischen Situation des Menschen entspricht und von den Mitbürgern um der personalen und sozialen Einheit willen zu erwerben war97: Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur mich zum Beispiel (paq²deicla) erwählend sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt. (apol. 23a5-b4)

Diese berühmte Passage wird häufig als Einsicht in die epistemischen Grenzen des Menschen und die unüberwindbare Kluft zwischen menschlichem und göttlichem Wissen gedeutet und damit im Sinn der apollinischen Selbsterkenntnis ausgelegt. Aus dem Kontext wird jedoch ersichtlich, dass hier weder eine Überlegung über die göttliche Weisheit im Allgemeinen noch eine vergleichende Betrachtung der göttlichen und menschlichen epistemischen Fähigkeiten angestellt wird. Die in apol. 23a5f. getroffene Aussage »es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein (t` emti b he¹r sov¹r eWmai)« ist eine Bestätigung der Wahrheit des Orakelspruchs, die von Sokrates in 21b angezweifet worden war : »Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? […] Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht ver97 Ähnlich Gerhardt (1997a, 17): »Das Wissen, das Sokrates individuell auszeichnet (nämlich eigentlich nichts zu wissen), ist ein Wissen, das eigentlich jeder haben sollte. So vollzieht sich schon die bewußte Individualisierung des einzelnen Menschen als ein exemplarischer Vorgang«. Vgl. auch Karl (2010, 141). Zur platonischen Darstellung der Sokrates-Gestalt als Paradigma des sovºr vgl. Meyer (1962, 167–175). In der Apologie werde Sokrates sowohl in seiner persönlichen Stellung zum Wissen als auch zur Aret8 und zum Tod als Paradigma dargestellt, »das bedeutet: Vorbild und Exempel zugleich. Er exemplifiziert in seiner Person das ethisch gewandte Wissen des Nichtwissens, zugleich aber ist er erzieherisches Vorbild – was er nur sein kann, wenn er nicht nur Paradeigma, Typus, sondern zugleich auch Person ist, einmaliger, lebendiger Mensch« (174).

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stattet«. Hier wird ein Zweifel artikuliert, der durch den Verweis auf die Weisheitsfunktion des Apollon und das darin eingefasste Lügenverbot sofort wieder ausgeräumt wird. Der Verweis rekurriert auf den Mythos von Apollon als Wahrheitsgott, der von Zeus Allwissenheit empfangen hat und diese den Menschen mitteilt, ohne zu täuschen.98 In apol. 23a5f. bestätigt (t` emti) Sokrates diese traditionelle Auffassung, indem er nach vollzogener Prüfung die Wahrheit des apollinischen Spruchs bekräftigt und das Orakel im Sinn einer besonderen Sophia, nämlich der Einsicht in die Widersprüchlichkeit und Unbegründetheit des faktischen Wertwissens auslegt (»daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts«). Damit wird keine Aussage über die prinzipiellen epistemischen Grenzen des Menschen getroffen, sondern lediglich auf die Ungesichertheit und den fragwürdigen epistemischen Status des geprüften Meinungswissens verwiesen. Dass die Möglichkeit einer Transzendierung des Meinungswissens offen gehalten wird, zeigen die an späterer Stelle der Apologie dargestellten Appelle zur Suche nach Einsicht und Weisheit an.99 Im Kontext der oben aufgeworfenen Frage nach dem vom Orakel ausgelösten sokratischen Selbstbewusstsein ist von besonderem Interesse, dass in der Passage der Zusammenhang zwischen dem Selbstwissen und der Bestimmung der spezifischen Lebensaufgabe aufscheint. Aus dem Wissen um die paradigmatische Bedeutung der verwirklichten Erkenntnis hat Sokrates offenbar die Aufgabe abgeleitet, das eigene Leben in den Dienst der aktiven Mitteilung und Förderung dieser Einsicht zu stellen. Da die Selbsterkenntnis als eine vom Einzelnen zu vollziehende Leistung nicht in Form eines Aussagewissens monologisch mitgeteilt, sondern nur im Dialog erworben werden kann, stellt das prüfende Gespräch die spezifische Weise der Mitteilung dar. Am Ende der Orakelerzählung lässt Platon Sokrates sein Pragma wie folgt formulieren: Dieses nun gehe ich auch jetzt noch umher nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige ihm, daß er nicht weise ist. (apol. 23b)

In den sakralen Kategorien der göttlichen Mission und des Gottesdienstes bestimmt Sokrates hier die Untersuchung von Weisheitsansprüchen und die 98 Vgl. Hom. hym. del. Apoll. 131f. und Hom. hym. Herm. 530–540. Im Homerischen Hymnus an Hermes (530–545) erklärt Apollon gegenüber Hermes, dass er im Gegensatz zu den anderen Göttern mit der Weisheit des Zeus vertraut ist und sie den Menschen in Orakeln mitteilt, ohne diese zu täuschen (oqd ( !pat¶sy 545). Die Verpflichtung zur Wahrheit hängt demnach mit der von Zeus empfangenen Allwissenheit und der Vermittlungsfunktion (»Und ich künde den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß« Hom. hym. del. Apoll. 132; Übers. T. v. Scheffer) zusammen. Vgl. auch Pind. P. 3, 29. 99 Vgl. apol. 29d–30b, 36c-e.

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Hinführung zur Erkenntnis des Nichtwissens als seine spezifische Lebensaufgabe. Glaubt man der platonischen Darstellung, so war die sokratische Entscheidung für diese Aufgabe keine singuläre Wahlhandlung, sondern ein längerer Prozess, in dem eine zunehmende Sicherheit und Festigkeit gewonnen wurde. Am Anfang dieses Entscheidungsprozesses stand offenbar die durch das Chairephon-Orakel, aber auch durch Träume und andere Zeichen vermittelte (vgl. apol. 33c) Aufforderung zur ›Menschenprüfung‹.100 In apol. 21e wird angedeutet, dass die Realisierung dieser ›Menschenprüfung‹ anfänglich von Zweifeln begleitet war. So wie es Platon darstellt, war Sokrates aufgrund der negativen emotionalen Reaktionen und der massiven Abwehr, die sein prüfendes Gespräch hervorrief, offenbar zunächst verunsichert und sah sich genötigt, die Entscheidung für diese Aufgabe vor sich selbst noch einmal neu zu begründen und zu rechtfertigen. Zu Beginn der Verteidigungsrede wird eine religiöse Begründung (apol. 21e5; 28e–29d) angeführt. Entscheidend dürften jedoch die rationalen Gründe gewesen sein, die in apol. 29d–30b dargestellt werden.101 Sokrates erklärt dort, dass er seine prüfende Tätigkeit trotz Hass der Menge und übler Nachrede beharrlich fortgeführt habe, weil er darin eine Verwirklichung von Gerechtigkeit (apol. 28b8)102 sah. Indem er die Mitbürger von Irrtum und Wissenseinbildung befreite, beförderte er deren Bestheit (apol. 29e, 30b, 36c) und Eudaimonia (apol. 36d9f.) und handelte insofern gerecht (d¸jaior apol. 28b8) und gut (!cahºr).103 Vor dem Hintergrund der sokratischen Ak100 Nach platonischer Darstellung erhielt Sokrates vielfältige Signale, das Geschäft der ›Menschenprüfung‹ zu übernehmen. »Mir aber ist dieses, wie ich behaupte, von dem Gotte auferlegt zu tun durch Orakel (1j lamte¸ym) und Träume (1n 1mupm¸ym), und auf jede Weise, wie nur je göttliche Schickung (he¸a lo?qa) einem Menschen etwas auferlegt hat zu tun« (apol. 33c4–7). 101 Reeve (1989, 71) bezieht sich bei der Angabe der Vernunftgründe auf apol. 28d6–10: »he has a prudential reason to live the examined life: it is the best life for a human being, and a person must do what the thinks best, even at the risk of death«. Er kommt aber zu einer ähnlichen Einschätzung bezüglich der Priorität der rationalen Begründung: »But au fond his reasons for obeying the oracle are elenchus-based ethical reasons. […] He [sc. Socrates] is a man of philosophy not of faith« (73). Anders Brickhouse/Smith (1989, 107): Sokrates beziehe seine Sicherheit, dass die prüfende Tätigkeit moralisch gut und also fortzusetzen sei, nicht aus Vernunftgründen, sondern aus dem Faktum des göttlichen Auftrags. Die Begründung durch Vernunft sei Sokrates nicht möglich gewesen, da sich sein erkanntes Nichtwissen ja gerade auf das moralisch gute Handeln bezogen habe: »Thus, even though Socrates is certain that his philosophical activities are morally good, he cannot provide the account (kºcor) by which their goodness could be explained«. 102 Vgl. auch Gorg. 522c1. 103 Im Gorgias wird dieses Argument mit der Arzt-Analogie verknüpft. In Analogie zur Arztkunst, die dem Patienten um der Gesundheit willen bittere Medizin verordnet und schmerzhafte Operationen vornimmt, bestimmt Sokrates dort den Elenchos als Heilmittel gegen die Krankheiten der Seele (vgl. Gorg. 521d–522c).

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zentuierung der Gerechtigkeit als Maßstab des eigenen Handelns und Garant des guten Lebens (apol. 28b8–9, 32a, 32d) ist zu vermuten, dass diese Begründung die maßgebliche gewesen ist. Das Beharren auf der gewählten Lebensaufgabe trotz massiver Todesgefahr lässt sich als Schlusspunkt des Entscheidungsprozesses betrachten. Wie die Apologie eindrucksvoll belegt, bewährte Sokrates am Lebensende die getroffene Wahl in dem gegen ihn geführten Prozess. Die Gewissheit der Richtigkeit der gewählten Aufgabe nimmt hier existenzielle Form an und manifestiert sich in der Furchtlosigkeit vor dem Tod. Diese Rekonstruktion von Sokrates’ Entscheidungsprozess enthält bereits die Antwort auf die Frage nach dem Stellenwert des Orakels im sokratischen Bios. Das Chairephon-Orakel hat offenbar den entscheidenden Anstoß gegeben, das prüfende Gespräch aus der Privatsphäre in den öffentlichen Raum hineinzutragen und eine Wirksamkeit als Ermahner zur Selbstsorge und Selbsterkenntnis zu entfalten. Heitsch (2002, 78 u. 198) wird der Bedeutung des Orakelspruchs nicht ganz gerecht, wenn er die Veränderung im sokratischen Bios lediglich darin sieht, dass Sokrates seine Tätigkeit nun als göttlichen Auftrag und Dienst für Apollon verstehen konnte. Auf der Grundlage der oben angeführten Überlegungen ist viel eher zu vermuten, dass das Orakel nicht nur eine perspektivische Änderung, also eine veränderte Sichtweise auf die eigene Tätigkeit zur Folge hatte, sondern auch eine existenzielle Veränderung. Es stellt tatsächlich einen Wendepunkt in der sokratischen Biographie dar (vgl. Guthrie 1971, 85f.), aber keine Wendung vom vorphilosophischen zum philosophischen Leben, sondern eine Hinwendung zum öffentlichen Leben. Während Sokrates sein prüfendes Gespräch vor dem Orakel offenbar vorrangig mit sich selbst und im Freundeskreis geführt hat, weitete er es nach dem Orakel auf die öffentliche Sphäre aus und suchte offensiv und gezielt die Auseinandersetzung mit der politischen und intellektuellen Elite Athens.104 Das ist ein Schritt von existenzieller Tragweite, da sich Sokrates damit dem negativen Urteil der Menge und den entsprechenden Emotionen bis hin zu Verfolgung und Tod ausgesetzt hat.105 Das Orakel besaß somit zweifellos eine herausragende Bedeutung für den sokratischen Bios. 104 Diese Unterscheidung zwischen dem Dialog im Freundeskreis vor dem Orakel und dem öffentlich geführten Dialog nach dem Orakel findet sich andeutungsweise auch bei Gigon (1994, 104). Vgl. auch Reve (1989, 32). 105 Vgl. Sokrates’ Aussage in Euthyphr. 3c/d: »Und weiter, wie mich dünkt, kümmern sich die Athener nicht sonderlich um einen, wenn sie ihn auch für noch so gewaltig halten, der nur nicht lehrlustig ist mit seiner Weisheit. Von wem sie aber glauben, er wolle auch andere zu solchen machen, dem zürnen sie, sei es nun aus Haß, wie du meinst, oder aus was sonst«. Dass Sokrates die Verurteilung und seinen Tod vorausgesehen hat, wird in Gorg. 521d–522c angedeutet.

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

269

5.

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

a)

Deutungsmöglichkeiten des sokratischen Apollon: Der traditionelle, der reformierte, der impersonale Gott

Abschließend soll ein Aspekt thematisiert werden, der in der bisherigen Erörterung nur beiläufig erwähnt wurde, für das Verständnis der sokratischen Anknüpfung an die delphische Tradition jedoch von größter Relevanz ist: Die Frage nach Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott. Der Gott Apollon wird in den platonischen Schriften auffallend häufig erwähnt106, in keinem Dialog ist er jedoch so präsent wie in der Apologie.107 In der von Platon gestalteten Verteidigungsrede signalisiert Sokrates eine enge, geradezu intime Verbindung zum delphischen Gott.108 Er gibt sich als Diener und Beauftragter des Gottes aus109 und versteht seine Tätigkeit als einen Akt der Apollon-Frömmigkeit. Dieses religiöse Selbstverständnis wird zunächst im Kontext der Orakelerzählung entfaltet. In dem schon erwähnten Resümee interpretiert Sokrates den Orakelspruch als Auftrag des Gottes, die erkannte Wahrheit zu vermitteln und andere Menschen zur Selbsterkenntnis hinzuführen (apol. 23b5–7; vgl. auch 28e4–6, 30a5, 33c4–5). Die Ausführung dieses Auftrags wird als Gottesdienst (katqe¸a toO heoO apol. 23c1; vgl. auch 30a6–7), als eine dem Gott geleistete Hilfe (t` he` bogh_m apol. 23b6–7) bezeichnet.110 Was an dieser Stelle mit Gottesdienst gemeint ist, lässt sich im Hinblick auf den Dialog Euthyphron erschließen. Sokrates bestimmt dort die Dienstleistung an die Götter (B d³ heo?r rpgqetijµ) als Hilfe bei dem von ihnen hervorgebrachten Werk (5qcom) (Euthyphr. 13e). Die in der Apologie angeführte katqe¸a toO heoO 106 Vgl. dazu Schefer (1996), die die Präsenz des Gottes Apollon im platonischen Werk in einer gründlichen, alle relevanten Stellen berücksichtigenden Untersuchung aufgezeigt hat. 107 Vergleichbar ist allenfalls der Phaidon, in dem die Apollon-Thematik den ganzen Dialog durchzieht. Vgl. insbes. Phaid. 58b/c, 60d–61b, 84e–85b, 118a. Zur Apollon-Präsenz im Phaidon vgl. Schefer (1996, 125–182) und Ebert (2004, 106f.). 108 Dazu Bömer (1963, 279f.): »Diesem [sc. Apollon] fühlt sich Sokrates in menschlicher Nähe sozusagen persönlich verbunden. Er ist der Gott, der ihm individuell einen Auftrag erteilt hat, dem er seinerseits bis in den Tod hinein treu bleibt, an dem er nicht zweifelt […] Apollon ist die Gottheit, die um sein, des Sokrates, Schicksal weiss, bei der sein persönliches Wohl und Wehe in guter Hut ist und auf den er unbedingt vertraut, im Leben wie im Tode«. Ähnlich Schefer (1996, 98). 109 Hier gibt es eine Parallele zu Pindar. Auch Pindar versteht sich als Diener (heq²pym) des Apollon (vgl. fr. 52e, 45 Snell). Freilich ist dabei insbesondere der Musendienst gemeint, d. h. Pindar versteht sich als Diener des Apollon lousac´tgr. Zu Pindars Selbstverständnis als Diener Apollons vgl. Farnell (1961, 462). 110 Vgl. auch Phaid. 85b4–6. Zum Gebrauch der Wendungen katqe¸a toO heoO und t` he` boghe?m in der griechischen Literatur vgl. de Strycker (1994, 290), Schefer (1996, 76), Heitsch (2002, 91f.).

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Sokrates und Delphi

kann man insofern als Mitwirken am Ergon des Apollon verstehen. Wie oben dargestellt, gehörte die Paränese zur Selbsterkenntnis und Sophrosyne zu den Funktionen und Aufgaben des delphischen Gottes. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass der in der Apologie thematisierte Gottesdienst auf die Hilfe bei der Hervorbringung der von Apollon intendierten Selbsterkenntnis und Tugend bezogen ist.111 Die religiöse Ausdrucksweise wird über die Orakelerzählung hinaus in der ganzen Verteidigungsrede beibehalten. Im Kontext der Beantwortung der Frage, warum er auf dem prüfenden Dialog trotz Hass der Menge und Lebensgefahr beharrt hat, führt Sokrates seine Bindung an die göttliche Weisung an. Das Festhalten an dem Pragma der Menschenprüfung sei Folgsamkeit (peih¾) gegenüber dem delphischen Gott, der ihm diese Aufgabe zuerteilt habe (apol. 28e/ 29a, 29d, 37e). Die signalisierte Verbundenheit und Nähe zu Apollon erfährt am Ende der Verteidigungsrede eine letzte Steigerung. Der von Platon dargestellte Sokrates bezeichnet sich dort als Geschenk des Gottes an die Stadt (tµm toO heoO dºsim rl?m 30d8), als eine Gabe, die Apollon den Athenern zu ihrem Wohl und Nutzen geschickt habe (apol. 30e–31b). Damit wird nicht nur die sokratische Tätigkeit religiös begründet und legitimiert, sondern die ganze Existenz in einen religiösen Kontext gestellt. Dem entspricht der Verweis auf Sokrates’ Lebensweise, die »nicht wie etwas Menschliches« erscheine (apol. 31b), sei sie doch durch Vernachlässigung der privaten Angelegenheiten sowie durch stetige, unentgeltliche Sorge um das Wohl der Mitbürger charakterisiert. Diese stark religiös gefärbte Darstellung der sokratischen Tätigkeit und Existenz, die gewiss nicht nur platonische Fiktion ist, sondern im Kern authentisch sein dürfte112, wirft mehrere Fragen auf: Wie versteht Sokrates den Gott Apollon, dem er sich verpflichtet und verbunden weiß? Welches Verhältnis hatte Sokrates zu den Göttern bzw. zum Göttlichen? Welches ist der eigentliche Gegenstand der sokratischen Frömmigkeit? Die Apologie vermag auf diese Fragen keine letzte Antwort zu geben. Unter Berücksichtigung der von den Quellen berichteten sokratischen Auseinandersetzung mit den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker lässt sich jedoch einiges erschließen. 111 So auch de Strycker (1994, 290) (»since the God of Delphi cannot mingle with people every day to make them acknowledge their ignorance and conceit, he has to rely on Socrates to perform this task«) und Heitsch (2002, 92) (2004, 160f.). 112 So auch Döring (1998). Döring verweist in diesem Zusammenhang auf die Schriften der anderen Sokratiker : »Dass er sich als ein Medium versteht, dessen sich der Gott bedient, um die Menschen dazu zu bringen, sich ernsthaft um die Erkenntnis ihrer selbst und um ihr Besser-Werden zu kümmern, bringt Sokrates in der sokratischen Literatur auch sonst des öfteren zum Ausdruck. […] Es kann kein Zweifel bestehen, dass viel von dem, was die Verfasser der betreffenden Schriften Sokrates in diesem Zusammenhang sagen lassen, als literarische Ausschmückung anzusehen ist; dass der historische Sokrates sich bei seinem Tun als eine Art Beauftragter Gottes verstand, darf aber wohl als sicher gelten« (161).

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

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Zunächst scheint es so, als ob Sokrates ganz in der traditionellen Gottesvorstellung verhaftet gewesen wäre.113 In der von Platon gestalteten sokratischen Verteidigung ist von einem Gott die Rede, der der herkömmlichen Auffassung von individuellen, in das Menschengeschehen eingreifenden Göttergestalten adäquat ist. Apollon wird als personales Wesen dargestellt, das in Verbindung mit den Menschen steht, durch Orakel, Träume und Zeichen Kontakt mit den Sterblichen aufnimmt (apol. 33c) und das individuelle Lebensgeschick durch Anweisungen, Aufträge, Aufforderungen beeinflusst.114 Er erscheint als übergeordnete Macht, die letztlich über das Schicksal des Menschen entscheidet (apol. 35d8–9; vgl. auch Gorg. 512e). Zu beobachten ist zudem, dass auch die Identitätsmerkmale und Funktionen des traditionellen Gottesbildes aufgegriffen werden. In apol. 30e–31b knüpft Sokrates erkennbar an das herkömmliche Verständnis von Apollon als Schutzgott an, der die Übel abwehrt und Hilfe leistet. Die sokratische Darstellung des Gottes als eine um das Wohl der Menschen besorgte Instanz, die den Athener Bürgern einen Retter schickt, der sie von den Übeln der geistigen Trägheit, des Unverstandes und der Wissenseinbildung befreit, entspricht ganz der in den Beinamen 1pijo¼qior, Helfer, und !potqºpaior, Übelabwehrer, zum Ausdruck kommenden Grundfunktion, die oben als Identitätsmerkmal dieses Gottes angedeutet worden ist. An mehreren Stellen der Apologie scheint die Funktion des über Allwissenheit verfügenden Wahrheitsgottes auf, die schon in der homerischen Dichtung bezeugt wird.115 Apollon täuscht nicht, sondern spricht die Wahrheit (21b6), er ist weise (sovºr apol. 23a5), er vermag zu beurteilen, was für einen Menschen in einer bestimmten Situation das Bessere und Vorteilhafte ist (apol. 42a). Das Merkmal der Weisheit wird – wiederum in Anschluss an die Tradition – zumeist im Zusammenhang mit der mantischen Funktion thematisiert. Apollon ist in der sokratischen Darstellung der Orakelgott, der l²mtir116, der seine Weisheit über die Pythia mitteilt und durch die Orakelsprüche die Menschen zur Selbsterkenntnis und Sophrosyne anregen will (apol. 23b2–4).117

113 So die Deutung von Pleger (1998, 60–65) und Trawny (2003) (2007, 80ff.). Bömer (1963) spricht zwar von einer Wandlung des Apollonbildes im 5. Jh., die sich auch im sokratischen Gottesbild widerspiegele, kommt aber letztlich zu dem Schluss: »wie sein [sc. Sokrates] Verhältnis zu Kult und Mantik, so sind auch seine Vorstellungen von den Göttern zu einem sehr wesentlichen Teil ohne alle Spekulation im Traditionellen verhaftet geblieben« (298). 114 Zur Personalität der sokratischen Apollon-Vorstellung vgl. Bömer (1963, 279ff.), O’ Connell (1985, 45f.), Vlastos (1991, 158), Schefer (1996, 98). 115 Vgl. Hom. hym. del. Apoll. 131f. und Hom. hym. Herm. 530–540. 116 Vgl. auch Phaid. 85b6; Phaidr. 244a/b; rep. 427c; leg. 738c. Im Phaidon wird zudem die musische Funktion des Gottes, Apollon lousac´tgr, angedeutet (vgl. 60e–61a). 117 Die Vorstellung von Apollon als Gott der Selbsterkenntnis hat in der sokratischen Got-

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Sokrates und Delphi

Und schließlich taucht auch der Aspekt der Katharsis in der sokratischen Apollonvorstellung auf. Analog zur traditionellen Auffassung, die das cm_hi sautºm eng mit der kathartischen Funktion verknüpft hat und das göttliche Wirken im Sinn einer Reinigung und Heilung von den Krankheiten der Seele (mºsoi t/r xuw/r; mºsor vqem_m) verstand, erscheint Apollon auch bei Sokrates als jahaqt¶r, der die menschliche Seele durch das Heilmittel der Selbsterkenntnis von Unverstand und epistemischer Anmaßung zu befreien sucht. Die kathartische Funktion wird zwar in der Apologie nicht explizit angeführt, steht jedoch zweifellos im Hintergrund, wie aus den Apollon-Bezügen im Phaidon zu erschließen ist.118 Angesichts dieser traditionell geprägten Apollon-Darstellung liegt die Annahme nahe, dass Sokrates die herkömmliche Gottesvorstellung teilte. Gegen diese Deutung ist jedoch schon häufig eingewendet worden, dass der sokratische Apollon ein geläutertes, moralisch vollkommenes Wesen darstelle und sich damit erheblich von der traditionellen Götterauffassung unterscheide.119 Die sokratische Gottesvorstellung ist, wie insbesondere Vlastos (1991) und McPherran (1996) betont haben, durch eine Verknüpfung von Weisheit und Tugend charakterisiert.120 Der Apollon des Sokrates sei nicht nur weise, sondern auch vollkommen gut und gerecht. Nach Auffassung von Vlastos (1991) wird in der Apologie ein Gott dargestellt, der im Gegensatz zu den olympischen Göttern, die aus Rache und Neid den Menschen häufig Übel sendeten und sie oftmals in ihrer ganzen Existenz vernichteten, ausschließlich Gutes tut und niemals Schaden zufügt: »Socrates’ god is invariantly good, incapable of causing any evil to anyone in any way at any time« (173).121 Zur ethischen Vollkommenheit des sokratischen Gottes gehöre auch, dass dieser niemals lügt: »Socrates’ god cannot be lying« (173).122 Neben der Differenz bezüglich der ethischen Qualitäten wird von vielen Interpreten zudem ein Unterschied in den Kriterien für göttliche

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tesauffassung ein besonderes Gewicht. Bei Sokrates bestimmt sich der Gott wesentlich und maßgeblich durch dieses Moment. Im Phaidon führt der platonische Sokrates ähnlich wie in der Apologie Apollon als Leitgott (85b5f.) und die philosophische Wahrheitssuche als Gottesdienst (85b4) an. In Phaid. 69c wird die philosophische Wahrheitssuche mit dem kathartischen Moment verknüpft und damit indirekt Apollon als jahaqt¶r kenntlich gemacht. Als Katharsis begreift Sokrates in diesem Zusammenhang die Reinigung von Unverstand und den Schattenbildern der Tugend. Die in Phaid. 66b–67b referierte Vorstellung von Katharsis als leibfeindlicher Askese, die der Vorbereitung der Seele auf das Leben nach dem Tod dient, ist eine orphischpythagoreische Auslegung der apollinischen Kathartik, von der sich Sokrates in 68c–69c absetzt. So auch Zehnpfennig (1991, XXII ff., 180 u. 183). Vgl. Guardini (1964, 52 und 63f.), O’ Connell (1985, 45 u. 49), Reeve (1989, 62ff.), Vlastos (1991, 157–178), Schefer (1996, 98f.), McPherran (1996, 108–116), Burnyeat (1997), Bordt (2006, 72–78). Vgl. insbes. Reeve (1989, 65), Vlastos (1991, 164), McPherran (1996, 110). Vgl. auch Reeve (1989, 65) und McPherran (1996, 110). So auch O’ Connell (1985, 44), Reeve (1989, 65), McPherran (1996, 110 Fußn. 75).

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

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Zuwendung beobachtet. Anders als die traditionellen Götter, die ihre Gunst insbesondere jenen erwiesen, die sie mit Geschenken, Opfern und Ehrungen bedachten, erfreue sich Sokrates’ Apollon an der menschlichen Tugend. Das göttliche Wohlwollen und die entsprechende Fürsorge richte sich auf jene Menschen, die sich in besonderer Weise durch Einsicht, Gerechtigkeit und Besonnenheit auszeichneten.123 Die These von einer geläuterten Gottesauffassung klingt zunächst plausibel, ist jedoch vor dem Hintergrund der charakteristischen Merkmale des delphischen Apollon kaum zu halten. Bei dem Vergleich zwischen der sokratischen und der traditionellen Gottesvorstellung beziehen sich die Interpreten zumeist auf die homerischen Götter. Damit wird eine Homogenität der Gottesauffassung unterstellt, die der historischen Wirklichkeit kaum entsprechen dürfte. In der oben vorgenommenen Betrachtung zum griechischen Apollonbild konnte andeutungsweise gezeigt werden, dass hier Transformationen stattgefunden haben. Vieles deutet darauf hin, dass sich in nachhomerischer Zeit im Kontext einer Entwicklung des religiös-ethischen Bewusstseins ein grundlegender Wandel des Apollonbildes vollzogen hat, der auf die griechische Religion reformatorisch gewirkt hat.124 Der Gott des delphischen Apollonkultes ist durch eine auf alle menschlichen Lebensbereiche bezogene Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion charakterisiert, die bei dem Gott des homerischen Epos noch kaum zu erkennen ist. Im Gegensatz zum homerischen Apollon, der primär mit seiner eigenen Ehre (til¶) beschäftigt ist und alle ihm zugefügten Kränkungen und Beleidigungen mit der Sendung von Tod und Seuche rächt, war das Wirken des delphischen Apollon durch die Ausrichtung auf Maß, Ordnung und Harmonie bestimmt. Die Orakelsprüche zu kultisch-kathartischen Angelegenheiten sowie zu politischen, ethischen und privaten Fragen zielten, so ist jedenfalls aus den überlieferten Sammlungen zu entnehmen125, auf die Mäßigung von Leidenschaften, auf innerstaatliche Ordnung und sozialen Frieden, auf zwischenstaatliche Einigung und Verständigung sowie auf die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Harmonie zwischen Göttern und Menschen. Man kann insofern davon sprechen, dass bereits der delphische Gott ein ›guter‹ Gott war,

123 So vor allem Reeve (1989, 67f.) und Schefer (1996, 98). 124 Vgl. Wilamowitz (GdH II, 33f.) und Dirlmeier (1970, 38ff.). Zu den in nachhomerischer Zeit unternommenen Bemühungen um eine Reinigung und Versittlichung der Mythen und der Gottesvorstellung vgl. Nestle (1942, 157–180), Solmsen (1942, 68) und Bordt (2006, 98–120). Bordts Untersuchung ist von dem gegen Solmsen geführten Nachweis bestimmt, dass Platon als erster das Gutsein Gottes explizit behauptet habe. Die vorplatonischen Läuterungsbemühungen bleiben dabei etwas unterbelichtet. 125 Vgl. Parke/Wormell (1956 I/II), Fontenrose (1978).

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der den Menschen keineswegs Schaden zufügte, sondern ihnen Nützliches mitteilte.126 Ähnlich verhält es sich bei den anderen als sokratisch aufgefassten Transformationen des Gottesbildes. Die Freiheit von Lüge und Täuschung, die viele Interpreten als eine auf Sokrates zurückgehende Läuterung des traditionellen Gottesverständnisses betrachten127, galt bereits in archaischer Zeit als Merkmal des Gottes, stellt also keineswegs eine Innovation dar. Die von Sokrates getroffene Aussage, dass Apollon nicht lügt (»denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet« oq c±q d¶pou xe¼deta¸ ce7 oq c±q h´lir aqt` apol. 21b6) findet sich fast wortgleich bei Pindar.128 In der neunten Pythie stellt der Dichter eine Begegnung zwischen Chiron und Apollon dar, in der der Kentaur zu Apollon, der seine Verliebtheit in Kyrene durch Verstellung zu verbergen suchte, sagt: »So hat denn dich, der an Lüge nicht rühren darf (t¹m oq helit¹m xe¼dei hice?m), eine zärtliche Regung getrieben, daneben zu sprechen dieses Wort« (P. 9, 42f.; Übers. D. Bremer). Es handelt sich also um eine ältere Vorstellung, die vermutlich mit der Weisheitsfunktion des Gottes zusammenhängt.129 Vlastos (1991, 173) verweist zu Recht darauf, dass die olympischen Götter in der Regel wenig Skrupel bezüglich Täuschung und Lüge besaßen. Er übersieht jedoch die Differenz zwischen der individuellen Persönlichkeit des Apollon, zu dessen spezifischer Charakteristik die Freiheit von Lüge gehörte, und den übrigen Göttern, die aufgrund von anderen Funktionen und Aufgabenbereichen nicht in dieser Weise gebunden waren. Auch das Motiv der göttlichen Liebe gegenüber den einsichtigen und besonnenen Menschen bezeichnet keine sokratische Läuterung des Gottes, sondern geht auf traditionelles religiöses Gedankengut zurück. In dem von apollinischen Auffassungen inspirierten Drama Aias lässt Sophokles die Göttin Athene zu Odysseus sagen: »Den Besonnenen aber lieben die Götter und verabscheuen den Schlechten« (to»r d³ s¾vqomar heo· vikoOsi ja· stucoOsi to»r 126 Vgl. Plat. Phaidr. 244a/b. Die Prophetin zu Delphi, so erklärt Sokrates dort, habe für Hellas viel Gutes (pokk± jak±) bewirkt. In der Politeia (427b/c) zeichnet Platon den delphischen Gott mit dem Titel eines vaterländischen Ratgebers (p²tqior 1ngcgtµr) aus. 127 Vgl. insbes. Vlastos (1991, 173) und Roeske (2004, 64f.). 128 Darauf hat bereits Schefer (1996, 63f.) hingewiesen. Schefer hält es für sehr wahrscheinlich, dass Sokrates/Platon hier auf Pindar anspielt. 129 Im Homerischen Hymnus an Hermes (530–545) erklärt Apollon gegenüber Hermes, dass er im Gegensatz zu den anderen Göttern mit der Weisheit des Zeus vertraut ist und sie den Menschen in Orakeln mitteilt, ohne diese zu täuschen (oqd ( !pat¶sy 545). Die Verpflichtung zur Wahrheit hängt also mit der von Zeus empfangenen Allwissenheit und der Vermittlungsfunktion (»Und ich künde den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß« Hom. hym. del. Apoll. 132; Übers. T. v. Scheffer) zusammen. Diese Vorstellung scheint auch in Pindars dritter Pythie auf. Die Abwesenheit von Lüge und das Durchschauen von göttlichen und menschlichen Absichten wird dort auf die Allwissenheit des Gottes zurückgeführt (P. 3, 29).

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

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jajo¼r Ai. 132f.). Da diese Aussage im Kontext einer Ermahnung zur Selbsterkenntnis getroffen wird, liegt zum einen die Verbindung zum Gott Apollon nahe, zum anderen aber ist die gemeinte göttliche Liebe als Wohlwollen gegenüber jenen Menschen zu verstehen, die – so wie Odysseus – Selbsterkenntnis erlangt haben und sich durch Besonnenheit und Gerechtigkeit auszeichnen. Es kann also keine Rede davon sein, dass erst Sokrates Apollon zum guten und gerechten Gott transformiert hat, vielmehr ist bereits der delphische Apollon ein in diesem Sinn geläutertes Wesen. Mit anderen Worten: Die als sokratisch aufgefasste religiöse Reformierung (McPherran 1996, 108) ist in Wahrheit eine delphische Reform, die lange vor Sokrates stattgefunden hat. Dieser Befund wirft eine Reihe von Fragen auf: War der historische Sokrates zwar nicht in der homerischen Gottesvorstellung, wohl aber in der delphischen Auffassung verhaftet? Hat er die Sichtweise der delphischen Theologie und der apollinisch inspirierten Dichtung geteilt? Diese Annahme erscheint vor dem Hintergrund der von den Quellen berichteten sokratischen Beschäftigung mit den kosmotheologischen Theorien der frühgriechischen Philosophie als wenig plausibel. Wie die Reiseerinnerungen des Ion von Chios, die Äußerungen des Aristoxenos sowie die von Platon gestaltete sokratische Autobiographie im Phaidon andeuten130, hat sich Sokrates als junger Mann insbesondere mit der Nous-Lehre des Anaxagoras131 und der anaxagoreischen Tradition beschäftigt. Falls die platonische Darstellung (Phaid. 97b–99c) der Auseinandersetzung mit der anaxagoreischen Lehre in Grundzügen authentisch sein sollte, so ist davon auszugehen, dass Sokrates die Theorie des Anaxagoras in ganz eigener Weise aufgefasst hat.132 Nach der platonischen Version griff Sokrates ein bestimmtes, funktionales Merkmal des Nous auf, das ordnende, gestaltende Moment133, und interpretierte es im Sinn des Zweckmä-

130 Vgl. Diog. Laert. II, 23 = SSR I D 1, 60f.; Diog. Laert. II, 19 = SSR I B 42; Plat. Phaid. 97b– 99c. Vgl. auch Diog. Laert. II, 16 = SSR I C 12 und Diog. Laert. II, 45. Nach Döring (1998, 154) darf man es angesichts der Zeugnisse als sicher ansehen, dass sich Sokrates in jungen Jahren mit der frühgriechischen Philosophie und insbesondere mit der Lehre des Anaxagoras beschäftigt hat. Die Authentizität der autobiographischen Schilderung im Ganzen ist umstritten. Die meisten Interpreten nehmen eine Kombination von Elementen der sokratischen und platonischen Biographie an und betrachten dabei die Darstellung der Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie und Anaxagoras (96a–99c) als sokratischen Teil. Als Argument für die Authentizität wird meist angeführt, dass hier Motive und Fragestellungen entwickelt werden, die bereits den Frühdialogen zugrunde liegen – wie die Vorstellung einer an die Bestimmung des Besten gebundenen Vernunftherrschaft. Vgl. dazu Kniest (2003, 33ff.). 131 Zur Nous-Vorstellung des Anaxagoras vgl. v. Fritz (1971, 576–593) u. Menn (1995, 25–33). 132 Vgl. dazu Jäger (1967, 110ff.), Menn (1995, 1–3), Bordt (2006, 242f.). 133 Vgl. Anaxagoras DK 59 B12: »Und wie es sein würde und wie es war und was jetzt ist und wie es sein wird, das alles ordnet der Geist an« (ja· bpo?a 5lekkem 5seshai ja· bpo?a Gm, ja· fsa

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ßigen und Guten.134 Die Vernunft erscheint in der von Platon gestalteten sokratischen Nous-Theorie nicht nur als Kausalprinzip des Werdens und Entstehens, sondern als Ursache der Bestheit des Werdenden und Bestehenden. Das von der Vernunft erkannte und zugleich erwirkte Gute135 wird in dieser Theorie als eigentlicher Grund des Werdens angesehen. Der Nous erkennt die gute Ordnung des Ganzen sowie die ihr entsprechende Struktur der Einzeldinge und teilt den Dingen in seinem denkenden Erwirken Zweckmäßigkeit, Geeignetheit, Angemessenheit, Sinnhaftigkeit mit. Der Nous wird hier als Prinzip gedacht, das sowohl die funktionsadäquate Beschaffenheit der Dinge136, die in diesem Kontext mit der Kategorie des Besten (t¹ b´ktistom, t¹ %qistom Phaid. 97d3, 98b2, 98b5f.) bezeichnet wird, als auch die beste Verfassung des Ganzen bewirkt (Phaid. 98b2–3). Aufgrund dieser ordnenden Kraft (d¼malir Phaid. 99c1) ist alles miteinander verbunden, stehen alle Dinge in einem Funktions- und Sinnzusammenhang (Phaid. 99c5–6). Wie in Phaid. 99c2–3 deutlich wird, hat Sokrates den Nous offenbar mit dem Göttlichen identifiziert.137 Gott oder das Göttliche wird in diesem Zusammenhang als kosmisches Prinzip verstanden, das Einheit, Ordnung, Sinn und Zweck stiftet. Mit dieser Theorie stand Sokrates in der Tradition der philosophischen Theologie138, die im 6. Jh. v. Chr. einsetzte und der Polisreligion zunehmend

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mOm 5sti ja· bpo?a 5stai, p²mta diejºslgse moOr; Übers. J. Mansfeld). Vgl. auch DK 59 A 42 und A 55. Die sokratische Auslegung der anaxagoreischen These, »daß die Vernunft es ist, die alles ordnet und die Ursache aller Dinge sei« (¢r %qa moOr 1stim b diajosl_m te ja· p²mtym aUtior Phaid. 97c1–2; Übers. B. Zehnpfennig), wird im autobiographischen Bericht im Phaidon wie folgt geschildert: »da freute ich mich über diese Ursache und es schien mir in gewisser Weise richtig zu sein, daß die Vernunft die Ursache aller Dinge sei; und ich glaubte, daß, wenn sich das so verhält, dann gewiß die ordnende Vernunft alles ordnet und jedes so stellt, wie es am besten ist« (ja· 6jastom tih´mai ta¼t, fp, #m b´ktista 5w,) (Phaid. 97c; Übers. B. Zehnpfennig). Zu dem auf Xenophanes zurückgehenden Gedanken einer Gleichzeitigkeit von göttlichem Denken und Wirken vgl. Burkert (GR, 456): »die Frage, wie denn das Göttliche alles lenken könne, wird damit beantwortet, indem ein menschliches ›Kaum gedacht-schon getan‹ zu einer göttlichen Identität von Denken und Wirken gesteigert wird«. Der hier angedeutete funktionale Aspekt der Bestheit findet sich auch in der späteren Philosophie des Sokrates, nämlich im Tugenddialog (vgl. Plat. rep. 352d–353e). Den folgenden Satz aus der Autobiographie des Phaidon kann man demnach als programmatische Aussage lesen: »Nach dieser Rede käme es folglich dem Menschen sowohl in bezug auf sich selbst als auch auf alles andere zu, nach nichts anderem Ausschau zu halten als nach dem Zweckmäßigsten und Besten« (Phaid. 97d; Übers. B. Zehnpfennig). Vgl. auch Phil. 27b. Von Anaxagoras selbst ist kein direktes Zeugnis überliefert, das darauf hinweisen würde, dass er den Nous als Gott oder das Göttliche bezeichnet hat. Solch eine Identifizierung ist nur durch die antiken Berichte über Anaxagoras bezeugt (vgl. DK 59 A 48). Es ist jedoch bekannt, dass Denker, die Anaxagoras nahe standen und seine Lehre weiterentwickelt haben, wie Diogenes von Apollonia, den Nous als Gott bestimmt haben. Vgl. dazu Burkert (GR, 470). Die Bezeichnung der vorsokratischen Naturphilosophie als philosophische Theologie geht

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kritisch und distanziert gegenübertrat. Zwar gab es grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen Naturphilosophie und Religion: Hier wie dort ging es darum, die Wirklichkeit in ihrem verborgenen Grund zu erfassen und die lenkenden, ordnenden Mächte des Weltgeschehens zu bestimmen, d. h. das Göttliche zu deuten.139 Bei aller Ähnlichkeit des Anspruchs gab es jedoch erhebliche Differenzen bezüglich der Zugangsweise und der inhaltlichen Ausdeutung. Während sich die herkömmliche Theologie im Medium der mythischen Erzählung bewegte, versuchte die philosophische Theologie die Wirklichkeit forschend zu durchdringen und deren Grund in der theoretischen Betrachtung auf rationale Weise zu fassen.140 Die entscheidende Differenz in der inhaltlichen Ausdeutung dürfte darin bestehen, dass die Naturphilosophen im Gegensatz zur olympischen Religion das Göttliche als unpersönliche Macht dachten, die das Ganze der Wirklichkeit ordnet und durchzieht.141 »Im Unterschied zu dem Wissen des Mythos von den Göttern«, so Weischedel (1998, 41), »faßt der philosophische Begriff des he?om die Gottheit nicht als einzelne erscheinende Gestalt, sondern als ein in allem Wirklichen waltendes und alles Wirklichen mächtiges Göttliches. […] Was der Wirklichkeit die Tiefe gibt, ist nicht mehr der Gott in seinem jeweiligen Erscheinen, sondern dasjenige, was, in allem Seienden anwesend, dieses mächtig und herrscherlich durchwaltet und ihm Hervorkommen, Dasein und Untergang schafft.« Der Übergang von den mythischen heo¸ zum philosophischen he?om142 ist nach Weischedel wesentlich durch das »Überschreiten des Gestalthaften« (41) charakterisiert.143

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auf Werner Jaeger (1953) zurück. Der Ausdruck wurde insbesondere von Weischedel (1998) aufgegriffen. Vgl. Gadamer (1991, 93), der die Theologie der epischen Dichtung und die philosophische Theoriebildung als »Deutungsweisen des Göttlichen« bezeichnet. »Im Grunde gilt für beide, für die Dichtung wie für die Philosophie, das gleiche. Sie suchen die Erfahrung des Übergroßen zu bewältigen und sagbar zu machen, ob sie nun dazu in die Welt der Götterund Heldensagen schweiften oder in die Weite der Sternenwelt und des Naturgeschehens hinausschauten […].« Auf die Verwandtschaft zwischen Mythos und Naturphilosophie hat vor einigen Jahren auch Löhr (1998, 13–15) hingewiesen. Zu den verschiedenen Zugangsweisen vgl. Gadamer (1991, 97). Die naturphilosophische !qw¶ ist als Prinzip, »woraus die Dinge entstehen und wohinein sie untergehen […] wodurch und worin sie, solange sie sind, ihren Bestand haben« (Weischedel 1998, 40) zugleich das Mächtige, Herrschende, Steuernde. »In dem Wort !qw¶ schwingt die Grundbedeutung der Herrschaft mit; sie ›steuert‹ alles« (40). Zum Begriff des he?om vgl. Gadamer (1991, 85ff.). Zur philosophischen Identifizierung von !qw¶ und he?om vgl. Weischedel (1998, 40). Das wird besonders deutlich bei Xenophanes und Empedokles, die sich in ihrer eigenen Konzeption des Göttlichen explizit von der personhaften Göttervorstellung der herkömmlichen Religion absetzen. Vgl. Xenophanes DK 21 B 23: »Ein einziger Gott ist unter Göttern und Menschen der Größte, /weder dem Körper (d´lar) noch der Einsicht (mºgla) nach den sterblichen Menschen gleich« (Übers. J. Mansfeld). Dieser Satz liest sich wie eine Replik auf die bei Pindar artikulierte traditionelle Auffassung: »Aber dennoch kommen in etwas wir, / an großem Sinn (l´car mºor) oder Natur (v¼sir), den Unsterblichen nahe«

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Sokrates und Delphi

Auf der Basis dieser neuen Konzeption des Göttlichen wurde dann in zunehmendem Maß Kritik an der herkömmlichen Göttervorstellung geübt. Im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung standen der Anthropomorphismus, also die Vorstellung von Göttern als Personen, die den Menschen hinsichtlich der physischen Gestalt144, des Charakters und der Handlungsweisen145 ähnlich sind, sowie bestimmte Kultpraktiken.146 In der Sophistik erreichte diese Kritik schließlich ihren Höhepunkt. Die religionskritischen Aufklärer entlarvten die traditionellen Göttergestalten als menschliche Erfindungen und Fiktionen, die der Regulierung des praktischen Handelns und der Stabilisierung des Gemeinwesens dienten.147 Angesichts der mit der philosophischen Theologie verbundenen Kritik an der herkömmlichen Götterauffassung ist die Annahme einer Entsprechung von sokratischer Gottesvorstellung und delphischer Theologie, die ja bei allen Läuterungsbemühungen auch in klassischer Zeit noch an individuellen Götterpersönlichkeiten festhielt148, wenig plausibel.149 Es ist eher davon auszugehen, dass Sokrates bereits in jungen Jahren, in seiner naturphilosophischen Phase, die gestalthafte Gottesvorstellung der Tradition überschritten und später zu einer philosophischen Frömmigkeit gefunden hat, die wenig Ähnlichkeit mit der Polisreligion besaß.150 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen liegt es nahe, den sokratischen

144 145 146 147 148 149

150

(Pind. Nem. 6, 4f.; Übers. U. Hölscher). Vgl. auch Empedokles DK 31 B 134: »Denn nicht zeigt er [sc. b he¹r] sich in auffälliger Weise an seinen Gliedern mit einem menschlichen Haupte versehen, nicht entspringen seinem Rücken zwei Äste; keine Füße, keine schnellen Knie, keine behaarten Schamglieder – nein, es war einzig und allein ein heiliger, unbeschreiblicher Sinn, der das ganze schöne Gebilde mit schnellen Gedanken durchsprang« (Übers. J. Mansfeld). Vgl. Xenophanes DK 21 B 14, 15, 16, A 12. Besonderen Anstoß erregte die Zuschreibung von sittlich verwerflichen Handlungen wie Diebstahl, Ehebruch und Betrug (vgl. Xenophanes DK 21 B 11 u. 12). Vgl. Heraklit DK 22 B 5 u. 15. Vgl. insbesondere das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25), das in der jüngeren Forschung allerdings Euripides zugesprochen wird (vgl. Meister 2010, 222–224). Vgl. Burkert (GR, 282ff.). O’ Connell (1985, 49) hat versucht, die Vernunftursache des Phaidon mit dem Gott der Apologie in Einklang zu bringen, indem er die den Nous charakterisierende Anordnung des Besten im Sinn eines »moral cosmos« deutete, »where no true harm can come to a good man«. Vgl. auch McPherran (1996, 107). Dagegen ist einzuwenden, dass die Differenz zwischen dem impersonalen Göttlichen und dem personhaften delphischen Gott bestehen bleibt und durch den Gedanken eines moralischen Kosmos keineswegs getilgt wird. Die Tatsache, dass sich Sokrates der kultischen Praxis nicht entzogen, sondern die vorgeschriebenen Kulthandlungen sehr gewissenhaft ausgeführt hat, ist kein Indiz für ein Verhaftetsein in der Polisreligion, wie häufig angenommen wird; vielmehr war die Beibehaltung des kultischen Religionsvollzuges unter den Gebildeten der damaligen Zeit üblich. Dazu Burkert (GR, 473) (unter Verweis auf Babut 1974): »Die praktische Ausübung der Frömmigkeit […] gilt als vereinbar mit der ›reineren‹ Frömmigkeit, ja als Pflicht«.

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

279

Apollon der Apologie im Sinn eines impersonalen he?om zu deuten. In der Forschung sind auch Auslegungen in dieser Richtung unternommen worden. So meint z. B. Enders (1999, 141), »daß Sokrates im Unterschied zu seinen Anklägern gleichsam an das wahrhaft Göttliche der Götter als an etwas individuellen Göttergestalten übergeordnetes Vollkommenes glaubt«. In ähnlicher Weise hat bereits Meyer (1962, 86) davon gesprochen, dass der sokratische Apollon nicht der Gott der Volksreligion sei, »sondern ein unendlich Gutes, Reines, Weises«. Gemeint sei das Absolute, schlechthin Vollkommene.151 Gegen diese Deutung ist jedoch einzuwenden, dass in der Apologie nicht vom he?om die Rede ist, sondern von einem personalen Wesen, das in Verbindung mit den Menschen steht, durch Orakel und Träume Kontakt zu den Sterblichen aufnimmt und Sokrates einen persönlichen Auftrag erteilt hat. Die Tatsache, dass Sokrates häufig von ›dem Gott‹ im Singular spricht und den Ausdruck ›delphischer Gott‹ wählt, statt Apollon mit seinem Namen zu benennen, ist keineswegs ein Indiz für ein eigentlich gemeintes impersonales Göttliches, wie Enders (1999, 140) meint152, sondern entspricht lediglich der üblichen Redeweise. In der religionshistorischen Forschung ist schon häufiger darauf hingewiesen worden, dass Apollon aufgrund seiner Bedeutung und Größe oftmals einfach nur b heºr genannt wurde.153 Die sokratische Rede von ›dem Gott‹ lässt sich insofern als besondere Akzentuierung der Bedeutung und Mächtigkeit dieses Gottes deuten.154 Aus diesen Überlegungen resultiert folgendes Dilemma: Sokrates stellt in seiner Verteidigungsrede Apollon als personales Wesen vor, das bezüglich der Wesensmerkmale, Funktionen und ethischen Qualitäten der traditionellen Gottesvorstellung entspricht. Zugleich aber kann er, wie die Zeugnisse über die intellektuelle Biographie des Sokrates nahelegen, unmöglich in dieser dichterisch-religiösen Vorstellungsweise verhaftet gewesen sein.

151 Grube ([1935] 1980, 150ff.) hat die Meinung vertreten, dass der Ausdruck heºr ursprünglich eine impersonale Bedeutung besaß, die man in Sokrates’ Zeit wiederaufgenommen und verstärkt habe. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Grube vgl. O’ Connell (1985). 152 Zum Gebrauch von b heºr in der Apologie vgl. auch Schefer (1996, 95ff.) und Burnyeat (1997, 4). Bordt (2006, 74–78) sieht in dem sokratischen Gebrauch des Ausdrucks ein Indiz für eine monotheistische Gottesvorstellung. Vgl. auch Bordt (2009a, 202). 153 Vgl. Wilamowitz (GdH I, 320) und Rosenberger (2012, 30). Rosenberger hat darauf verwiesen, dass mit der nicht-spezifischen Formulierung ho theos, ›der Gott‹, sowohl Zeus als auch Apollon gemeint sein können. »Im Zusammenhang mit Orakelsprüchen ist mit ›dem Gott‹ Apollon gemeint, in anderen Kontexten dürfte es sich zumeist um Zeus handeln« (30). 154 Vgl. insbes. apol. 23a5, 30a5, 30e6, 31a6, 33c5, 42a4.

280 b)

Sokrates und Delphi

Sokratischer Vernunftglaube

Eine Lösung des Problems zeigt sich, wenn man eine Passage aus dem Gorgias (521d–522c) heranzieht, in der Platon Sokrates eine Prophezeiung des Prozesses und des Todesurteils aussprechen lässt. Im Gespräch mit Kallikles erklärt Sokrates, dass er mit einer Anklage gegen ihn und einer Verurteilung rechnet (521d). Als Begründung dieser Erwartung führt er die hedonistischen Wertmaßstäbe der Menge an: Da er mit seinen prüfenden Gesprächen den Menschen Schmerzen und Unlust bereite und die Menge alle Dinge nach dem Maßstab der Lust und des Angenehmen bewerte, wird er über kurz oder lang als Verderber verleumdet und vor Gericht gezogen werden. Sokrates vergleicht sich in diesem Kontext mit einem Arzt, den ein Koch verklagt, weil er die Kinder – statt sie mit Süßigkeiten zu bewirten – mit bitteren Getränken, Schneiden, Brennen, Abmagern und Schwitzen konfrontiere. Dieser Arzt nun wäre in folgender Ratlosigkeit befangen: Was glaubst du, wird ein Arzt, wenn er in solcher Not drin steckt, wohl sagen können? Oder wenn er etwa die Wahrheit sagte: Ihr Kinder155, das alles tat ich zu eurer Gesundheit, was meinst du wohl würden solche Richter für ein Geschrei erheben?156 Nicht ein großes? [….] Glaubst du also nicht, daß er in der größten Verlegenheit (!poq¸ô) sein wird, was er wohl sagen soll? (Gorg. 522a/b)

Die Schwierigkeit, die Platon Sokrates hier voraussehen lässt, besteht in einer adäquaten Vermittlung des eigenen Pragmas. In der Situation einer Verteidigung vor Gericht kann die Wahrheit schwerlich mitgeteilt werden, weil diese von den Richtern nicht verstanden und geglaubt würde. Um sie zu überzeugen, müsste Sokrates mit ihnen den Dialog führen. Dies ist nun freilich in der kurzen Zeit einer Verteidigungsrede nicht möglich.157 Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, wie man den in hedonistischen Wertüberzeugungen befangenen Richtern plausibel machen kann, dass die Wissensprüfung den Bürgern nicht schadet, sondern wahrhaft nutzt.158 155 Der Vergleich der Richter mit Kindern weist noch einmal auf das Selbstverständnis des Sokrates hin. In der Gorgias-Passage wird ein Bewusstsein der intellektuellen Überlegenheit und Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns artikuliert, die der Selbstdarstellung in der Apologie entspricht. Die im Gorgias enthaltene Aussage, dass Sokrates die wahre Staatskunst (pokitij¶ t´wmg) realisiere (521d), ist von ähnlichem Selbstbewusstsein getragen wie Sokrates’ Erklärung, dass er als Wohltäter der Polis keine Strafe, sondern eine Ehrung verdiene (apol. 36c–e). 156 Vgl. apol. 38a. Sokrates erklärt dort, dass die Richter ihm die Wahrheit, nämlich dass die Selbstprüfung das größte Gut (l´cistom !cah¹m) für den Menschen ist, nicht glauben. 157 Dieser Punkt wird von Sokrates in apol. 37a/b thematisiert. 158 Die Problematik und Schwierigkeit der Verteidigung deutet Sokrates auch in der Apologie an (apol. 19a). Das ist ein Hinweis darauf, dass der Gorgias zur Interpretation der Apologie herangezogen werden kann.

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

281

Liest man die Apologie vor dem Hintergrund dieser Fragestellung, so zeichnet sich eine Erklärung der mit traditionellen Vorstellungsmustern durchzogenen Verteidigungsrede ab. Die mythische Ausdrucksweise ist offenbar ein Versuch, das Kommunikationsproblem zu lösen und den Richtern eine Wahrheit begreiflich zu machen, die sie auf anderem Weg nicht zu fassen vermögen. Sokrates greift auf jene sakralen Kategorien und mythischen Vorstellungen zurück, die der Menge vertraut und ihrem Verständnishorizont adäquat sind. Um den Richtern den Wert der prüfenden Gespräche aufzuzeigen, beruft er sich auf die delphische Autorität und stellt seine Prüfungstätigkeit als Auftrag des Gottes dar. Der delphische Gott galt ja in breiten Schichten der Bevölkerung als mächtige, den Athenern wohlgesonnene Instanz159, die keinen Schaden zufügt, sondern mittels der Orakelsprüche Orientierungshilfe leistet. Die stark religiös gefärbte Verteidigungsrede des Sokrates ist somit als eine auf das Bildungsniveau und die Vorstellungsmuster der Hörer ausgerichtete adressatenbezogene160 Rede zu verstehen, wie bereits Szlez#k (1985) bemerkt hat. »Je geringer die Kompetenz der Hörer im Umgang mit Logoi«, so Szlez#k, »desto höhere Autorität muß der Dialektiker zur Stützung seiner Sache anrufen: vor der zur Philosophie unfähigen Menge der fünfhundert Richter beruft er sich für sein Tun auf einen göttlichen Auftrag; die Autorität, die hinter ihm steht, ist der Gott von Delphi« (250). Sokrates kleidet sein prüfendes Geschäft gleichsam in ein mythisches Gewand, um die Richter – und zwar primär um ihretwillen (apol. 19a3, 30c4, 30d7)161 – von der Rechtmäßigkeit und Nützlichkeit der Sache zu überzeugen. Bei allen äußerlichen Ähnlichkeiten und Anknüpfungen an das delphische Gottesbild wird hier freilich zuletzt ein ganz anderer Apollon entworfen. Die Differenz besteht jedoch nicht in der Läuterung zum guten und gerechten Gott wie Vlastos (1991), McPherran (1996) und andere meinen, sondern im Verständnis der von Apollon geforderten Selbsterkenntnis. Wie oben bereits angedeutet, gibt Sokrates dem apollinischen cm_hi sautºm einen ganz neuen Bedeutungsgehalt. Die sokratische Selbsterkenntnis zeichnet sich durch eine Vertiefung des Selbstbegriffs sowie durch eine Infragestellung der herkömmlichen identitätstiftenden Werte aus. Damit geht Sokrates weit über die von Delphi gemeinte Einsicht in die Grenzen der menschlichen Vermögen hinaus, die weder die Vorstellungen von personaler Identität noch die Wertkategorien einer Prü159 Das war offenbar auch Ende des 5. Jh. noch so, trotz der Irritationen aufgrund des Verhaltens des delphischen Orakels im Perserkrieg (vgl. dazu Giebel 2001, 52ff.) und der fortgeschrittenen Aufklärung. 160 Zur Adressatenbezogenheit der in den platonischen Dialogen vorgetragenen Argumente und Vorstellungsmuster vgl. Heitsch (1997, 168ff.). 161 Die sokratische Verteidungsrede ist »damit ein Stück Erziehung«, wie Friedländer (1964, II, 145) bemerkt hat.

282

Sokrates und Delphi

fung unterzieht. Das neue Verständnis der Selbsterkenntnis ist die eigentliche sokratische Reform des Apollinischen162, wenn man den Ausdruck in diesem Kontext gebrauchen will, nicht aber die bloße Zuschreibung einer auf das Gute gerichteten göttlichen Intention. Versucht man, die von Platon gestaltete sokratische Verteidigungsrede ihres mythischen Gewandes zu entkleiden und den rationalen Kern der Aussagen freizulegen, so wird eine philosophische Frömmigkeit sichtbar, die von der volkstümlichen weit entfernt ist. Die anschauliche, gestalthafte Apollon-Figur steht hier für einen geistigen Sachverhalt, nämlich für die Sache der Selbsterkenntnis, die von Sokrates als höchste Weisheit und eigentliche Wirklichkeit der Vernunft betrachtet wird.163 Der sogenannte ›Gottesdienst‹ lässt sich in entmythologisierter Ausdrucksweise als Vernunftausrichtung fassen. Sokrates stellt sein Leben in den Dienst der Vernunft und der Selbsterkenntnis, die er mit seinem prüfenden Dialog anregen und befördern will. Die Vernunft erfüllt hier jene Funktionen, die die mythische Betrachtungsweise den Göttern zuschreibt. Sie ist die steuernde, ordnende, herrschende Macht, die ›Anweisungen‹ gibt und den Lebensvollzug bestimmt und gestaltet, die als Ursache des richtigen Handelns fungiert. Die Vernunft (moOr) ist der Gott (heºr) des Sokrates, so wird im Philebos (28b1) ausdrücklich erklärt. Damit ist freilich noch nicht das letzte Wort zu Sokrates’ Verständnis des Gottes oder des Göttlichen gesagt. Es fragt sich, in welchem Verhältnis die gemeinte Vernunft zu jenem Nous steht, den Sokrates – vorausgesetzt die PhaidonBiographie ist in Grundzügen authentisch – zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn in Anknüpfung an die anaxagoreische Theorie konzipiert hat. Ist die sokratische Nous-Vorstellung im Wesentlichen unverändert geblieben oder hat sie im Verlauf des intellektuellen Werdegangs eine Transformation erfahren? Da die sokratische Theologie im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingehender behandelt werden kann, muss diese Frage hier letztlich offen bleiben. Es soll an dieser Stelle lediglich eine spekulative These angedeutet werden, deren Plausibilität noch genauer zu untersuchen wäre. Angesichts des mit Ernsthaftigkeit vorgetragenen Glaubensbekenntnisses in der Apologie (35d, 42a) und der Aussagen im Philebos, der zwar zu den Spätdialogen gehört, aber in diese Betrachtung dennoch einbezogen werden kann, weil er sokratische Themen aufgreift und Sokrates noch einmal als Gesprächsführer agieren lässt, liegt die Vermutung nahe, dass Sokrates bis zuletzt an einem 162 Das klingt bei Burnyeat (1997) an: »Socrates’ divinity lays it down that the accepted values of the Athenian community are to be put in question« (5). »Socrates’ god demands a radical questioning of the community’s values and its religion« (7f.) 163 In eine ähnliche Richtung geht Kniest (2003, 168): »Apollon, der Gott, auf den sich Sokrates in der Apologie Platons beruft, bildet das Paradigma eines Philosophierens, in dessen Praktiken der Selbstsorge sich ein ›gottähnliches‹ Vernunftsubjekt konstituieren soll«.

Sokrates’ Verhältnis zum delphischen Gott

283

göttlichen Nous als Gegenstand eines rationalen Glaubens festgehalten hat.164 Die im Philebos angedeutete Nähe der sokratischen Nous-Theorie zur anaxagoreischen Tradition165 verweist auf eine Kontinuität zwischen der frühen und der späteren sokratischen Theologie. Allerdings lassen sich auch entscheidende Differenzen beobachten. Sokrates hat offenbar in späteren Jahren auf der Grundlage seiner Selbsterkenntnis ein ganz anderes Verhältnis zu kosmotheologischen Forschungen und Theorien gewonnen. Darauf deuten sowohl die Apologie als auch der Philebos hin. Bei aller Nähe zur anaxagoreischen Tradition wird im Philebos eine gewisse Distanz gegenüber den kosmologischen Theorien spürbar.166 Diese Vorbehalte lassen sich möglicherweise mit den Argumenten aus der Apologie verknüpfen. In der platonischen Apologie weist Sokrates mit allem Nachdruck die Annahme zurück, dass er sich mit naturwissenschaftlichen Forschungen beschäftige und in diesen Dingen sovºr sei (19c/d, 20d/e, 26d/e). Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung, dass er selbst über eine sogenannte ›menschliche Weisheit‹ (!mhqyp¸mg sov¸a) verfüge, während die Naturphilosophen167, zu denen hier auch Anaxagoras gezählt wird (26d), möglicherweise in einer nicht-menschlichen Sophia weise seien (le¸fy tim± C jat( %mhqypom sov¸am sovo· eWem 20e1). Damit wird keineswegs die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen oder kosmotheologischen Fragen abgewertet oder prinzipiell in Frage gestellt. Es werden lediglich Wissensansprüche zurückgewiesen. Ein fundiertes und sicheres Wissen in diesen Dingen geht über das Menschenmaß hinaus, es wäre ein größeres Wissen, als es Menschen zukommt – ein übermenschliches Wissen. Dieser Distanzierung von Erkenntnisansprüchen entspricht die Vorsicht, mit der Platon Sokrates im Philebos bestimmte Ausagen über die göttliche Vernunft machen lässt. In Phil. 22c erwidert er auf den Einwand des Protarchos, dass die Vernunft nicht das Gute sei: »Vielleicht, o Philebos, die meinige wohl, die wahrhafte und göttliche Vernunft aber glaube (oWlai) ich wohl nicht, sondern mit der wird es sich wohl ganz anders verhalten«. Die Annahmen über die vollkommene Bestheit des göttlichen Nous und dessen Identität mit dem Guten werden hier nicht in Form von theoretischen Wissenssätzen präsentiert, sondern auf der Ebene des Für-wahr-Haltens, der Vermutung, des Glaubens angesiedelt. 164 Als Beleg für diese Deutung lässt sich auch Xenophon, mem. 1, 4, 8f.; 1, 4, 17; 4, 3, 13 heranziehen. Der in der Apologie artikulierte Glaube an einen vollkommen guten (35d8f.) und weisen Gott (42a4) lässt sich mit der im Philebos (28c–30e) formulierten Vorstellung von einer alles zum Besten ordnenden und über das Ganze herrschenden Vernunftursache (moOr) verbinden und als Glaube an einen göttlichen Nous deuten. 165 Vgl. Phil. 28c6–8, 28d, 28e7f., 30d6–8. 166 Besonders deutlich in Phil. 28c6f. 167 Eingeschlossen sind hier auch die Sophisten, die die Techne der Tugenderziehung für sich beanspruchen (19e–20c).

284

Sokrates und Delphi

Es wäre zu einfach, aus diesen Beobachtungen den Schluss zu ziehen, dass Sokrates mit einem kosmologischen Erkenntnisoptimismus seine Forschungen begonnen hat und über die Selbsterkenntnis zur Einsicht in die theoretische Nichtwissbarkeit der kosmischen Vernunftursache und zum Glauben gelangt ist. Gegen solch eine Deutung spricht zum einen der in der Apologie hergestellte Zusammenhang zwischen der Selbsterkenntnis und der Förderung des Besten (t¹ b´ktistom)168 im individuellen und gemeinschaftlichen Leben, also jener Fähigkeit, die in der Nous-Theorie des Phaidon in kosmischen Dimensionen gedacht und der göttlichen Vernunft zugesprochen wird (Phaid. 97d3, 98b2, 98b5f.). Zum anderen aber steht solch einer Auslegung die Blendungsmetapher und die Rede von der ›zweiten Fahrt‹ (Phaid. 99c–e) entgegen169, die Platon im Phaidon verwendet, um die sokratische Reaktion auf die Problematik der NousTheorie darzustellen. Mit den Metaphern der ›Blendung‹ und der ›zweiten Fahrt‹ wird auf die Einsicht in die Unmöglichkeit einer unmittelbaren und direkten Ursachenerkenntnis sowie auf den Versuch verwiesen, sich der Vernunftursache auf anderem Weg anzunähern, nämlich durch Betrachtung und Prüfung der Logoi (99ef.). Nimmt man diese Stelle ernst und betrachtet sie als im Kern authentisch, so ist der Schluss zu ziehen, dass Sokrates zwar die Erkenntnisansprüche der Naturphilosophie in Zweifel gezogen, aber keineswegs eine Annäherung an die Vernunftursache ausgeschlossen hat. Auf der Grundlage des Phaidon-Berichts lässt sich die spekulative These aufstellen, dass Sokrates nach dem Scheitern seiner kosmologischen Theorien den Weg der prüfenden Betrachtung der Denkvoraussetzungen und Annahmen (rpoh´seir) beschritten hat (Phaid. 100a, 101d, 107b) und in der Prüfung der Logoi, die hier als ein Zurückschreiten zu immer tieferen Voraussetzungen geschildert wird (Phaid. 101d5ff., 107b5f.), zu einer Vernunfterfahrung gelangt ist, die als Grundlage der späteren Theologie fungierte. Die sokratische Selbstprüfung wäre dann weit mehr als eine bloße Zurückweisung von unberechtigten Wissensansprüchen. Sie müsste darüber hinaus als Versuch einer ganz anderen Art der Ursachenforschung gedeutet werden, der aus der Problematik der naturwissenschaftlichen und kosmologischen Forschungen erwachsen ist.

168 Vgl. apol. 29e2, 30b2, 36c–e. Vgl. auch Gorg. 521d9, 522c1f. 169 Diese Stelle wird häufig als Übergang zum ›platonischen‹ Teil der autobiographischen Darstellung gedeutet. Diese Annahme ist jedoch wenig plausibel, da die ›zweite Fahrt‹ als Konsequenz aus der ›ersten Fahrt‹ geschildert wird und man Platon insofern eine frühe naturwissenschaftliche Phase unterstellen müsste, die nirgends belegt ist. Ähnlich bereits Rosetti (1987, 425). Zur Deutung der ›Blendung‹ und der ›zweiten Fahrt‹ als Bestandteile der intellektuellen Biographie des historischen Sokrates vgl. Figal (1995, 84ff.).

Zusammenfassung

6.

285

Zusammenfassung

In der Untersuchung konnte anhand des Quellenmaterials aufgezeigt werden, dass das Denken und Wirken des historischen Sokrates eng mit dem delphischen Orakel verbunden war. Die Maxime cm_hi sautºm ist von Sokrates offenbar in besonderer Weise beachtet und ernst genommen worden. Die aristotelischen Berichte und xenophontischen Darstellungen lassen darüber hinaus vermuten, dass der delphische Imperativ das auslösende Moment der sokratischen Selbstprüfung darstellte. Während diese Annahme Spekulation bleiben muss, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Chairephon-Orakel eine herausragende Bedeutung für Sokrates’ Biographie besaß. Neben der offenkundigen Relevanz des Orakels für die Ausbildung eines vertieften Selbstverständnisses spricht vieles für die Annahme, dass Delphi durch die Auszeichnung von Sokrates dessen Entscheidung für eine öffentliche Wirksamkeit maßgeblich befördert hat. In der Untersuchung konnten zudem einige zentrale Momente der sokratischen Reinterpretation des cm_hi sautºm herausgearbeitet werden. Wie in den bei Platon dargestellten Bezugnahmen auf die delphische Maxime angedeutet wird, war Sokrates nicht nur von der Richtigkeit dieser Aufforderung überzeugt, sondern auch von der Notwendigkeit, den Bedeutungsgehalt der Maxime neu zu erforschen und philosophisch zu begründen. Die sokratische Selbstprüfung kann als Versuch verstanden werden, die Grenzen der traditionellen, theologisch fundierten Selbsterkenntnis und Ethik zu überwinden und das Anliegen einer auf Selbstbesinnung basierenden ethischen Formung auf neue Grundlagen zu stellen. Die auf der Basis der relevanten Quellen rekonstruierte sokratische Selbsterkenntnis soll im Folgenden in ihren wesentlichen Momenten noch einmal rekapituliert werden. Dabei ist freilich nochmals zu betonen, dass es sich hier um eine von den antiken Quellen, insbesondere von Platon vermittelte Auffassung handelt, deren Authentizität nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden kann. 1) Gegenstand der sokratischen Selbsterkenntnis ist die Seele (xuw¶). Im Unterschied zur traditionellen Auffassung, die einen sehr weit gefassten Selbstbegriff zugrunde legt, der sowohl die äußeren Besitzverhältnisse als auch die physischen Kräfte und volitional-kognitiven Potenzen umfasst, ist bei Sokrates eine Konzentration auf den Innenbereich der Person zu beobachten. Das zu erkennende Selbst wird hier mit den seelischen Kräften identifiziert, die als Zentrum der Personalität betrachtet werden. Die sokratische Begründung der Vorrangstellung der Seele gegenüber den physischen Vermögen und den äußeren Besitzverhältnissen ist durch funktionale Argumente bestimmt: Die Seele fungiert als Organ der Koordination, Organisation und Leitung und besitzt

286

Sokrates und Delphi

aufgrund dieser Funktionen einen besonderen Stellenwert. Als beratende, regierende, überlegende Kraft ist sie die zentrale Instanz, die den Lebensvollzug steuert und das Ganze des Daseins ordnet und gestaltet. 2) Es hat sich zudem gezeigt, dass die sokratische Selbsterkenntnis keine primär theorieorientierte anthropologische oder psychologische Reflexion ist, sondern eine auf die Gestaltung der Lebenspraxis zielende Einsicht. Wie die platonischen und xenophontischen Zeugnisse erkennen lassen, geht es hier primär um die Prüfung, ob und in welchem Maß die für die Erfüllung der spezifisch menschlichen Aufgaben erforderliche Bestheit (!qet¶) der seelischen Verfassung vorhanden ist. Selbsterkenntnis im sokratischen Sinn ist demnach wesentlich Selbstprüfung. 3) Neben Gegenstand und praktischer Ausrichtung der Selbsterkenntnis sind auch methodische Aspekte sichtbar geworden. Die sokratische Prüfung der seelischen Verfasstheit wird in den Quellen als eine kritische Untersuchung der die Lebenspraxis bestimmenden handlungsorientierenden Auffassungen von der Tugend und vom Guten dargestellt. Die von Sokrates intendierte Prüfung der Bestheit erscheint als eine an Kohärenzkriterien und Begründungsverfahren orientierte Untersuchung der Wertüberzeugungen. 4) Die platonische Apologie verweist darauf, dass die Erkenntnis des Nichtwissens als Resultat der Wissensprüfung nicht nur auf die epistemischen Defizite bezogen ist, sondern zugleich eine Einsicht in den unvollkommenen ethischen Zustand der Person darstellt. Die aus dieser Selbsterkenntnis erwachsende geistige Haltung, die als persönlichkeitsbestimmende Disposition des Sokrates sichtbar wurde, zeichnet sich durch eine konsequent verfolgte Wahrheitssuche aus. Die sokratische Einsicht begründet die philosophische Nachforschung.

II

Selbsterkenntnis bei Platon

In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, die Formen der Selbsterkenntnis bei Platon zu untersuchen. Wie in der Einleitung bereits bemerkt, finden sich in den platonischen Dialogen verschiedene Arten der epistemischen Selbstbeziehung, die sich bezüglich der Wissensform, der Methode und des Gegenstandes teilweise stark voneinander unterscheiden. Die Untersuchung wird sich auf drei Arten der Selbsterkenntnis konzentrieren, die in den platonischen Dialogen häufig thematisiert und/oder in ihrer besonderen Bedeutung kenntlich gemacht werden. Das erste Kapitel widmet sich der in der Apologie und den Frühdialogen dargestellten Erkenntnis des Nichtwissens. Diese Einsicht, die bereits in Teil B/I thematisiert worden ist, wird hier unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet: 1) Bedeutungsgehalt, 2) Schwierigkeitsgrad, 3) Zusammenhang mit der Eros-Thematik, 4) Funktion hinsichtlich der philosophischen Wahrheitssuche. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Reflexion auf die Seele und das steuernde, koordinierende Vernunftselbst. Die Untersuchung wird sich insbesondere auf den Dialog Alkibiades I stützen, der im Kontext der Identitätsproblematik von besonderer Bedeutung ist. Einbezogen werden außerdem die bereits in Teil B/I erwähnte Phaidros-Passage (229d–230a) und der Dialog Charmides, in dem das delphische cm_hi sautºm mit der Konzeption eines selbstbezüglichen Wissens verknüpft wird. Die im Charmides entwickelte Selbsterkenntnis scheint zunächst große Ähnlichkeiten mit dem Alkibiades I zu besitzen. In der Untersuchung wird jedoch zu zeigen sein, dass hier eine sophistische Auffassung der epistemischen Selbstbeziehung zur Darstellung gelangt, die sich von der sokratisch-platonischen erheblich unterscheidet. Im dritten Kapitel wird der Versuch unternommen, die in den Gleichnissen der Politeia thematisierte Erkenntnis des Guten als Selbsterkenntnis aufzuzeigen. Zwar findet sich bei Platon keine explizite Identifizierung der beiden Erkenntnisse. Durch eine Zusammenführung der Passage Alk. I 133c8–16 mit den Gleichnissen sowie durch einen Funktionsvergleich zwischen dem Selbst und dem Guten lässt sich jedoch zeigen, dass Platon die Erkenntnis des Guten als eine bestimmte Form der epistemischen Selbstbeziehung versteht.

288

1.

Selbsterkenntnis bei Platon

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens

Da die Erkenntnis des Nichtwissens nicht nur in der Apologie dargestellt wird, sondern bis ins Spätwerk hinein thematisch präsent bleibt, scheint es gerechtfertigt zu sein, dieser Form der Selbsterkenntnis eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In den frühen und späteren Dialogen finden sich viele direkte und indirekte Thematisierungen der Einsicht in das Nichtwissen. Aus der Analyse und zusammenschauenden Betrachtung der relevanten Stellen lässt sich eine komplexe, vielschichtige Konzeption gewinnen, die nicht nur das platonische Interesse an dieser Einsicht bezeugt, sondern auch die Gründe für die besondere Aufmerksamkeit offenlegt. Schaut man sich die entsprechenden Reflexionen auf Leistung und Wert dieser Erkenntnis an, so gewinnt man den Eindruck, dass hier eine äußerst bedeutsame Sophia beschrieben wird, die persönlichkeitsbildende und lebensgestaltende Kraft besitzt. Die Untersuchung wird sich zunächst auf die Erschließung des Sinngehalts der in der Apologie thematisierten und in den sokratischen Dialogen des Frühwerks exemplarisch vorgeführten Erkenntnis des Nichtwissens konzentrieren und im Anschluss daran die Schwierigkeiten erörtern, die beim Erwerb dieser Einsicht zu überwinden sind. Ein letzter Schwerpunkt dieser Untersuchung wird der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Wahrheitssuche bilden. Die Aufhebung der Wissensgewissheit erscheint bei Platon 1) als auslösendes Moment des Wahrheitseros, 2) als Ursache der Konstruktivität der elenktischen Wissensprüfung und 3) als Prozess, der von der destruktiven Selbstprüfung zur konstruktiven Wahrheitssuche führt.

a)

Bedeutungsaspekte der Erkenntnis des Nichtwissens

aa)

Intention und Resultate der sokratischen Wissensprüfung (Laches, Charmides, Politeia I, Euthyphron)

In der Orakelerzählung der Apologie wird die Erkenntnis des Nichtwissens zwar zum Gegenstand gemacht; mehr als erste Umrisse sind hier jedoch nicht zu erkennen. Wir erfahren lediglich, dass Sokrates in seiner Selbstprüfung die Einsicht gewonnen hat, in den wichtigsten Dingen (t± l´cista apol. 22d7) nicht weise zu sein. Aus dem Kontext wird ersichtlich, dass mit den ›wichtigsten Dingen‹ die für die individuelle Lebensführung und die Gestaltung des sozialpolitischen Lebens relevanten Gegenstände gemeint sind – das Gerechte, Gute, Schöne. In dieser Bestimmung erschöpft sich im Wesentlichen die Darstellung des Bedeutungsgehaltes. Um zu einem besseren Verständnis zu gelangen, ist es sinnvoll, die sokratischen Dialoge des platonischen Frühwerks in den Blick zu

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nehmen, die als anschauliche Darstellung der in der Apologie reflektierten Prüfungstätigkeit betrachtet werden können. Die Untersuchung der Tugenddialoge ist allerdings mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Zwar kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es in den Dialogen des Frühwerks tatsächlich um die Erkenntnis des Nichtwissens geht. Darauf verweisen die in die Sacherörterungen eingeschobenen Reflexionen über Methode, Ziel und Gegenstand des prüfenden Gesprächs. Platon lässt Sokrates an verschiedenen Stellen die Aussage treffen, dass die geführte Unterredung auf die Einsicht in Irrtümer und Fehlmeinungen und die Aufhebung von falscher Wissensgewissheit zielt.1 Im Gorgias2 (458a/b) – ein Dialog, in dem im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik die prüfende Dialektik besonders häufig zum Thema gemacht wird – erklärt Sokrates dezidiert, dass der Nutzen des philosophischen Gesprächs in der Befreiung von Scheinweisheit (dºwa xeudµr) besteht, die er in diesem Zusammenhang als größtes Übel (458a7) bezeichnet. An späterer Stelle wird das prüfende Gespräch mit therapeutischen, kathartischen Intentionen verbunden und unter Rückgriff auf die Arzt-Analogie als Heilung von der Krankheit der Doxosophia beschrieben (Gorg. 521eff.). Im Charmides bezieht Sokrates die intendierte Befreiung von der Wissenseinbildung ausdrücklich auf die eigene Person. Um Kritias’ Unwillen zu besänftigen und ihn zur Fortsetzung des Gesprächs zu bewegen, erklärt er, dass er aus Sorge um sich selbst auf seinen prüfenden Fragen beharrt, »nämlich, daß ich unvermerkt mir einbilden möchte, etwas zu wissen, was ich doch nicht weiß« (Charm. 166d). Eine ausführliche Thematisierung der Erkenntnis des Nichtwissens findet sich im Alkibiades I3 (116e–118b, 124a–c) und im Menon (80a–86c). In beiden Dialogen wird diese Sophia als Folge einer konsequent durchgeführten Selbstprüfung kenntlich ge1 Vgl. neben den oben angeführten Stellen Prot. 348a und Gorg. 505eff. sowie die entsprechenden Reflexionen in den späten Dialogen (soph. 230b und Tht. 150b/c, 210c). 2 Der Dialog Gorgias und der Menon, der im Folgenden verstärkt in die Untersuchung einbezogen wird, zählen zu den späten Texten in der Gruppe der frühen Dialoge. Die genaue Datierung ist umstritten. Nach Erler (2007a, 133) scheinen beim Gorgias »mehr Argumente für eine Abfassungszeit noch vor der ersten Sizilienreise, also die Jahre zwischen 390 und 388, zu sprechen«. Heitsch (2004, 14) bleibt in dieser Frage offen: »Der Gorgias ist entweder kurz vor oder nach der ersten sizilischen Reise Platons (um 388/87) verfaßt worden – für beide Datierungen gibt es Gründe […]«. Bezüglich des Menon hält Erler eine Abfassung nach der ersten Sizilienreise um die Mitte der 380er Jahre für wahrscheinlich: »Man wird deshalb an der communis opinio festhalten und die Jahre um 385 annehmen« (2007a, 166). Nach der statistischen Computeranalyse von Ledger (1989) sind die beiden Dialoge der zweiten Gruppe der platonischen Schriften zuzuordnen, die als Übergang zwischen dem Frühwerk und der mittleren Schaffensperiode angesetzt wird. 3 Zur Echtheit und Datierung siehe unten Kap. B II 2a. Vieles spricht dafür, dass der Alkibiades I, vorausgesetzt, dass Platon der Verfasser ist, eher zu den späteren Dialogen des Frühwerks zu rechnen ist.

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macht und in ihrem Nutzen und Wert bestimmt. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang Alk. I 124a. Sokrates verbindet dort die Einsicht in die epistemischen Defizite mit dem delphischen Spruch und versteht sich als Mahner zur Selbsterkenntnis: »Also, Bester, gehorche nur mir und dem Spruche in Delphi, und ›Erkenne dich selbst‹« (( Akk(, § laj²qie, peihºlemor 1lo¸ te ja· t` 1m Dekvo?r cq²llati, Cm_hi sautºm 124a7–b2). Angesichts dieser Belege kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Tugenddialoge mit der in der Apologie thematisierten Selbsterkenntnis in Verbindung zu bringen sind. Das Problem ist jedoch, dass Platon in den gestalteten Gesprächshandlungen kaum eine erfolgreich erworbene Selbsterkenntnis zeigt. Die Gesprächspartner gestehen zwar häufig ihre Verwirrung, Ratlosigkeit sowie die Unstimmigkeit der getroffenen Aussagen ein, aber meist widerwillig und mehr oder weniger unverbindlich. Platon scheint es in den Dialogen weniger darum zu gehen, eine konsequente und verbindliche Realisierung der Einsicht vorzuführen, als vielmehr darum, die Verfehlung der Selbsterkenntnis darzustellen und hier die ganze Bandbreite der Möglichkeiten aufzuzeigen – von der physischen Flucht bis zur aggressiven Drohung. Es ist zu vermuten, dass damit auf die besondere Schwierigkeit dieser Einsicht verwiesen werden soll. Für die Untersuchung des Sinngehalts der Erkenntnis des Nichtwissens hat dies bestimmte methodische Konsequenzen. Um den Bedeutungsgehalt der eigentlich intendierten Einsicht zu erfassen, reicht es nicht aus, das Ende der Gespräche zu betrachten und die den eigenen Zustand reflektierenden Aussagen der Dialogakteure zu analysieren. Es ist vielmehr erforderlich, den gesamten Argumentationsverlauf der Gespräche in den Blick zu nehmen. Aus den elenktischen Argumenten und den Prüfungsresultaten lässt sich erschließen, worin der epistemische Mangel der als Partner des Sokrates auftretenden Dialogfiguren besteht. Wie so oft bei Platon, so wird auch hier die Sache indirekt dargestellt und damit die intellektuelle Selbsttätigkeit der Leser herausgefordert. Durch die Gestaltung des elenktischen Gesprächs bietet Platon den Lesern die Möglichkeit, das von den Partnern Versäumte zu erkennen und es damit in vorläufiger Weise selbst einzubringen.4 Die Untersuchung wird sich insbesondere den Dialogen Laches, Charmides, Thrasymachos (Politeia I) und Euthyphron zuwenden, in denen Sokrates die Tugendansprüche der Gesprächspartner untersucht. Es wird im Folgenden 4 Zur didaktischen Intention der platonischen Dialoge vgl. z. B. Heitsch (2004, 11) und Blößner (1997, 287f.) (2007a, 269). Besonders deutlich Blößner (2007a, 269): »Ebenso wie Platons Sokrates geriert sich auch Platons Text nicht als Autorität oder Verkünder. Beider Ziel ist nicht die Weitergabe fertiger ›Erkenntnisse‹ als bloße Lehrmeinung, die andere zur Kenntnis zu nehmen hätten, sondern die Anregung, Einübung und methodische Lenkung eigenen Erkenntnisbemühens. Es hat den Anschein, als habe Platon mit seinen Dialogen eine Literaturform schaffen wollen, die sokratische Hebammenkunst in Schriftform gießt«.

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weniger darum gehen, eine genaue Analyse der einzelnen Argumente vorzunehmen. In der synoptisch angelegten Betrachtung sollen vielmehr Grundzüge der Argumentation herausgearbeitet werden. Unter Absehung von den spezifischen Merkmalen und Differenzen zwischen den verschiedenen Tugendgesprächen werden die strukturellen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten herausgehoben. Diese etwas vergröbernde Darstellung wird zwar der Komplexität und Vielschichtigkeit der Tugenddialoge nicht ganz gerecht; sie ist jedoch für den Zweck dieser Untersuchung hinreichend. Das Ziel der Betrachtung besteht nicht darin, den philosophischen Gehalt der Gespräche umfassend und eingehend zu analysieren, sondern eine Bestimmung des sich bei den Partnern zeigenden epistemischen Mangels vorzunehmen. Die genannten Dialoge zeichnen sich dadurch aus, dass zunächst ein Gespräch über die unmittelbaren Lebensprobleme des Alltags geführt wird, in dem die Gesprächspartner implizit oder explizit behaupten, im Besitz der Bestheit (!qet¶) zu sein. Für Sokrates ist dies Anlass, die Frage nach der Tugend zu stellen und die Partner in ein prüfendes Gespräch zu verwickeln. Diese Vorgehensweise entspricht der Darstellung in der Apologie. In der von Platon gestalteten Verteidigungsrede führt Sokrates aus, dass er seine Mitbürger zunächst ermahnt habe, nach Einsicht und der besten Verfassung der Seele zu streben, und sich erst durch deren Behauptung, diese Form der Selbstsorge (1pil´keia t/r xuw/r, 1pil´keia 2autoO) bereits realisiert zu haben, zur Prüfung veranlasst sah: »Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen« (apol. 29e). Bei ihren Versuchen, den eigenen Tugendanspruch auszuweisen, orientieren sich die Partner zunächst an äußeren Handlungsmustern und natürlichen Tugenden, die den jeweils vorhandenen charakterlichen Anlagen entsprechen. So bestimmt der Militär Laches im gleichnamigen Dialog zu Beginn der Unterredung das seinem Erfahrungsbereich entlehnte ›Standhalten in der Schlachtreihe‹ als Tapferkeit (!mdqe¸a) (Lach. 190e) und greift im weiteren Gespräch (Lach. 192b–193d) auf charakterliche Qualitäten – wie Wagemut (tºkla), Risikobereitschaft und Beharrlichkeit (jaqteq¸a) – zurück, die ihn als bewährten Soldaten und Strategen in besonderer Weise auszeichnen. Im Dialog Charmides bestimmt der junge Charmides zunächst (Charm. 159b) ruhig ausgeführte Handlungsweisen als Sophrosyne (syvqos¼mg) und identifiziert die gesuchte Tugend schließlich (Charm. 160e) mit der Haltung der Scham, Scheu, Zurückhaltung (aQd¾r), die seiner zu Beginn des Dialogs dargestellten charakterlichen Veranlagung entspricht. Wie Sokrates in der prüfenden Untersuchung dieser Antworten aufzeigt, besteht das Problem der mit der Bestheit identifizierten Handlungsmuster und Charakterhaltungen in deren Indifferenz und Situationsbedingtheit. Das

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Standhalten kann unter bestimmten Umständen auch feige sein und umgekehrt kann das Fliehen in einer bestimmten Situation mit der Realisierung von Tapferkeit in Verbindung stehen (Lach. 191a–c). Um dies zu veranschaulichen, führt Sokrates das Beispiel des Reiterheeres der Lakedaimonier an, das in der Schlacht bei Plataiai eine Flucht vorgetäuscht und damit den Kampf gegen die Perser gewonnen habe: »denn von diesem [sc. dem Reiterheer der Lakedaimonier] wird erzählt, als es bei Plataiai auf die Schildträger gestoßen, habe es nicht standhaltend fechten gewollt, sondern sei geflohen, nachdem aber die Reihen der Perser sich getrennt, habe es umkehrend wie Reiter gefochten und dadurch in jener Schlacht gesiegt« (191c). Das Beispiel soll deutlich machen, dass die Handlungsmuster als solche wertneutral sind und einer Instanz bedürfen, die den richtigen Einsatz und Gebrauch in der jeweiligen Situation garantiert. Sowenig wie die angeführten Handlungsweisen sind die charakterlichen Qualitäten intrinsisch gut. Im Laches führt Sokrates das Argument an, dass Wagemut und Beharrlichkeit schädlich und gefährlich sein können, wenn sie von Unverstand und Leichtsinn begleitet werden: »Wie aber die [sc. Beharrlichkeit] mit Unverstand (!vqos¼mg)? Ist diese nicht […] schädlich (bkabeqºr) und verderblich (jajoOqcor)?« (Lach. 192d1f.). An späterer Stelle wird das Beispiel einer Person angeführt, die in den Brunnen springt ohne im Tauchen geübt und kunstfertig zu sein (193c). Diese Handlung scheint zunächst die Tapferkeit in besonderer Weise zu verkörpern, da hier ein hohes Maß an Wagemut und Risikobereitschaft realisiert wird. Wie jedoch im Verlauf der Argumentation deutlich wird, ist diese Form von Wagemut – wenn sie nicht in vernünftigen Zwecken begründet ist – kaum als Tugend zu bezeichnen, sondern stellt eher eine dem Laster verwandte Tollkühnheit und Unbesonnenheit dar. Im Charmides wird aufgezeigt, dass Zurückhaltung und Scham im Lebensvollzug oftmals angemessen sein mögen, dass es jedoch auch Handlungsbereiche und Situationen gibt, in denen Schamhaftigkeit verwerflich und schlecht ist und eine zu große Zurückhaltung das Tun des Erforderlichen behindert (Charm. 161a). Sokrates argumentiert an dieser Stelle mit einem Homer-Zitat (»Nicht gut ist Scham dem darbenden Mann«)5, das auf eine deplatzierte Scham in Notlagen wie Armut, Elend, Krankheit verweist. Der am Hungertuch nagende Arme, so die Aussage in der zitierten Odyssee-Stelle, solle sich nicht schämen, zu den Reichen zu gehen und um Brot zu bitten. Das Problem der Zwiespältigkeit der Verhaltensmuster und natürlichen Tugenden versuchen die Partner im Dialog in der Regel dadurch zu lösen, dass sie ein allgemeines Prinzip als Grund der Tugend geltend machen oder eine Erkenntnis anführen, die das situativ Beste erkennt und darüber bestimmt, welches Handlungsmuster und welche Haltung in der konkreten Handlungssitua5 Vgl. Hom. Od. 17, 347.

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tion angemessen sind. So bestimmt Nikias im Dialog Laches eine bestimmte Sophia als die gesuchte Tugend: die Erkenntnis des Gefährlichen und Unbedenklichen in den verschiedenen Situationen und Handlungskontexten (1pist¶lg t_m deim_m ja· t_m lµ deim_m 194e11f.) Im Charmides wird zunächst ein allgemeines Prinzip – das Tun des Seinen (t¹ t± 2autoO pq²tteim 161b5) – als Sophrosyne bestimmt und später die Selbsterkenntnis (t¹ cicm¾sjeim 2autºm 165b4) hinzugefügt, die von Kritias als selbstbezügliche Erkenntnis (1pist¶lg 2aut/r jai t_m %kkym 1pistgl_m 166c) ausgelegt wird. In der Politeia I und im Euthyphron findet das Erkenntnismoment erst relativ spät Eingang in die Untersuchung. In der Politeia I scheint die Vernunfteinsicht zunächst bei der Erörterung der Unterscheidung zwischen Freund und Feind auf. Der nach Polemarchos’ Definition Gerechte muss zwischen Guten und Schlechten unterscheiden können, damit er den wahrhaften Freunden nützt und den wahrhaften Feinden schadet, und bedarf dazu einer entsprechenden Urteilskraft und Einsicht (rep. 334c–335a). Eine auf das Gute und Nützliche bezogene Erkenntnis wird jedoch ausdrücklich erst im Thrasymachos-Gespräch geltend gemacht. Als Grundlage der Gerechtigkeit setzt Thrasymachos das vollkommene Wissen des für einen selbst Zuträglichen und Vorteilhaften an: »Aber meinst du denn, ich nenne den Stärkeren den, der sich irrt, eben wenn er sich irrt? […] Denn nur, wenn die Wissenschaft ihn im Stich läßt, fehlt der Fehlende (1pikeipo¼sgr c±q 1pist¶lgr b "laqt²mym "laqt²mei), insofern als er kein Meister ist. […] Das ganz Genaue aber ist jenes, daß der Regent, insofern er Regent ist, nicht fehlt, und wenn er nicht fehlt, das für ihn selbst Beste (t¹ art` b´ktistom) festsetzt« (rep. 340c–341a). Im Euthyphron zeigt sich die gesuchte Frömmigkeit zuletzt als eine Weisheit des richtigen Betens und Opferns, die in präzisierter Form als Erkenntnis von Geschenk und Bitte an die Götter gefasst wird (1pist¶lg %qa aQt¶seyr ja· dºseyr heo?r bsiºtgr #m eUg 1j to¼tou toO kºcou 14d). Im Verlauf der Gespräche wird meist deutlich, dass mit der angeführten Einsicht eine praktische Vernunft gemeint ist, die primär an den Lebensgütern orientiert ist. Als handlungsregulierendes Prinzip machen die Gesprächsakteure eine Ausstattung von Individuum und Gemeinschaft mit den notwendigen und wünschbaren Lebensgütern oder eine auf die Erhaltung des Erreichten bedachte Besitzstandswahrung geltend. So bestimmt der Sophistenschüler Menon im gleichnamigen Dialog die Tugend als das Vermögen, Güter herbeizuschaffen (d¼malir toO poq¸feshai t!cah² Men. 78c1). Wie im Gespräch schnell deutlich wird, hat Menon dabei vorrangig leibliche und äußere Güter im Sinn, also etwa Gesundheit, Schönheit, Reichtum, Ansehen, Ehre und Einfluss im Staat (Men. 78c8–12). In der Politeia I bringt der als Partner des Sokrates agierende Polemarchos die Tugend der Gerechtigkeit mit den Zielen der Verteidigung von staatlichem Territorium und politischer Freiheit sowie der Verwaltung und Sicherung des Geldvermögens der Bürger in Verbindung (rep. 332e–333c). Die

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Gerechtigkeit erscheint hier als Instrument der Überlebenssicherung und der Besitzstandswahrung. Im Charmides wird die Vernunft, die die Tugend der Besonnenheit konstituieren und begründen soll, im Sinn einer Erkenntnis der den individuellen Fähigkeiten und Wissensresourcen entsprechenden Aufgabe des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft bestimmt, die, wenn sie politisch wirksam wird, einen Zuwachs an Kompetenz in den wissensabhängigen Lebensbereichen bewirkt und infolgedessen die bestmögliche Versorgung der Bürger mit den wichtigen Lebensgütern gewährleistet (Charm. 173a-c): Wenn nämlich die Besonnenheit, sofern sie dasjenige ist, was wir jetzt festgestellt haben, auch noch so sehr über uns herrscht, würde dann nicht überall nach dem Wissen (1pist¶lg) verfahren werden […]? Würde uns aber hieraus, wenn es sich so verhielte, wohl etwas anderes entstehen, als daß wir eben gesünder sein werden am Leibe als jetzt und besser aus Gefahren zur See und im Kriege errettet werden, und daß unser Hausgerät, Kleidung, Beschuhung und was sonst hierher gehört, fachmännisch wird gearbeitet sein, weil wir uns überall wahrer Meister bedienten?6 (Charm. 173a-c)

Auch die Tugend der Frömmigkeit wird in den sokratischen Dialogen von den Partnern den genannten Zielen unterstellt. Der Seher Euthyphron bestimmt im gleichnamigen Dialog die Frömmigkeit als einen Dienst an den Göttern, der sowohl das mit Gesundheit, materiellem Wohlstand und tüchtigen Nachkommen verknüpfte Wohlergehen der einzelnen Bürger als auch das Gemeinwohl sichert: »So viel sage ich dir indes kurz und gut, daß, wenn jemand versteht, betend und opfernd den Göttern Angenehmes zu reden und zu tun, das ist fromm, und das errettet die Häuser der Einzelnen und das gemeine Wohl der Staaten« (Euthyphr. 14b). Neben dem die bürgerliche Existenz bestimmenden Prinzip der Besitzstandswahrung und Überlebenssicherung findet sich in den Dialogen auch die antibürgerliche Ideologie des maßlosen, mit Gewalt und Rechtsbruch verbundenen Güterstrebens, das als Recht des Stärkeren propagiert wird. Die wahre Tüchtigkeit besteht nach Thrasymachos (rep. I 343a–344c) und Kallikles (Gorg. 482c–484c) in der rücksichtslosen und hemmungslosen Durchsetzung der eigenen Besitz- und Machtansprüche, des sogenannten Mehrhabenwollens (pkeomen¸a), das unter Berufung auf das Naturrecht mit den bürgerlichen Konventionen bricht: »Daher wird nun gesetzlich dieses unrecht und häßlich genannt, das mehr zu haben Streben als die meisten (t¹ pk´om fgte?m 5weim t_m pokk_m), und sie nennen es Unrechttun. Die Natur (v¼sir) selbst aber, denke ich, beweist 6 Der Nutzen der als Selbsterkenntnis bestimmten Sophrosyne wird an dieser Stelle zwar von Sokrates entwickelt. Da der Gesprächspartner Kritias jedoch im Rahmen seiner vorherigen Argumentation den technischen Bereich selbst eingeführt hat (162e–163c), ist davon auszugehen, dass Sokrates hier auf der Grundlage von Kritias’ Prämissen dessen Definition hinsichtlich des lebenspraktischen Aspekts entfaltet.

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dagegen, daß es gerecht ist, daß der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtigere (fti d¸jaiºm 1stim t¹m !le¸my toO we¸qomor pk´om 5weim ja· t¹m dumat¾teqom toO !dumatyt´qou)« (Gorg. 483c/d). In der sokratischen Untersuchung des von den Partnern als Handlungsprinzip geltend gemachten Güterstrebens zeigt sich, dass dieses ein ähnliches Problem aufweist wie die an äußeren Handlungsmustern und Charakterhaltungen orientierten Bestimmungsversuche der Tugend: Die als intrinsische Werte gesetzten Güter zeichnen sich durch das Merkmal der axiologischen Indifferenz aus. So wird in der Politeia I deutlich, dass der Besitz von Geldvermögen nicht als solcher schon nützlich und gut ist, sondern erst durch den Gebrauch Nutzen und Wert erhält (rep. 333b–e). In ähnlicher Weise führt Sokrates im Charmides aus, dass eine Gemeinschaft, die für materiellen Wohlstand der Bürger, für physisches Wohlergehen und Sicherheit von Leben und Vermögen sorgt, noch kein gutes und glückliches Leben führt (Charm. 173d). Der militärische und rechtliche Schutz von Leben und Privateigentum sowie die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern bedürfen der Leitung durch ein übergeordnetes Wertprinzip, das alles zum Besten anordnet und der Selbsterhaltung wie der Vermögenssicherung eine Begründung verleiht (Charm. 174c/ d).7 7 Die axiologische Indifferenz der Güter wird hier indirekt durch die Andeutung der Grenzen des technischen und einzelwissenschaftlichen Fachwissens aufgezeigt. In Charm. 171d–172a hatte Sokrates zunächst die These vertreten, dass die richtige Beurteilung des Kenntnisstandes von Personen, wenn sie gestaltende, politische Kraft gewönne, zu einem fehlerfreien (!mal²qtgtor) Handeln in allen Tätigkeitsbereichen der Polis führen würde, da überall die Sachkenntnis obwaltete. In 172a wird das sachverständige, technisch versierte Agieren als gutes und schönes Handeln bezeichnet (jak_r ja· ew pq²tteim) und mit der Eudaimonia verbunden, die damit als höchster Nutzen der Selbsterkenntnis aufscheint. In 173aff. revidiert Sokrates diese These jedoch mit dem Argument, dass ein sachgerechtes und kompetentes Handeln in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern – im ökonomischen, militärischen, medizinischen Bereich – zwar zu einer besseren Versorgung mit allen lebensnotwendigen Gütern und zu einer stärkeren Sicherung der physischen und materiellen Existenz führt, aber noch kein gutes Handeln und glückliches Leben begründet (173d2–4). Das glücksgenerierende Prinzip sei nicht das Wissen bzw. das kenntnisreiche Handeln als solches, sondern eine spezifische Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis des Guten: »Denn Kritias, wenn du nun diese Erkenntnis wegnimmst von den übrigen Erkenntnissen, wird dann die Heilkunst uns weniger heilen, die Kunst des Schuhmachers uns weniger beschuhen, die des Webers uns weniger bekleiden und die des Steuermanns uns weniger bewahren, daß wir nicht zur See, so wie die des Heerführers, daß wir nicht im Kriege umkommen? […] Aber, lieber Kritias, daß alles dieses gut geschehe und zu unserem Nutzen, das werden wir eingebüßt haben, wenn jene Erkenntnis weggenommen ist (t¹ ew ce to¼tym 6jasta c¸cmeshai ja· ¡vek¸lyr !pokekoip¹r Bl÷r 5stai ta¼tgr !po¼sgr)« (174c3–d2). In dieser Begründung der fundierenden Leistung der Erkenntnis des Guten ist die Annahme der axiologischen Indifferenz der Güter impliziert. Die von den angeführten Technais hervorgebrachten Güter sind nicht intrinsisch gut und nützlich. Die Künste bedürfen einer orientierenden Erkenntnis, die den Gebrauch der Güter und die Anwendung des technischen Sachwissens reguliert.

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Im Gorgias zeigt Sokrates die Ambivalenz der Lust (Bdom¶) auf, die von der Menge als Maßstab und Ziel des Handelns, als das Gute schlechthin betrachtet wird.8 Die Argumentation basiert hier – analog zur Prüfung der mit der Bestheit identifizierten Handlungsmuster und Charakterhaltungen – auf dem Nachweis von Fällen, die nicht unter das angeführte Prinzip subsumiert werden können: Die aus der Bedürfnisbefriedigung erwachsende Lust ist nicht mit dem Guten identisch, da es auch schlechte Lust gibt, wie z. B. die Knabenschändung (Gorg. 494e; 499c). Das Argument findet sich in ähnlicher Form in rep. 505c: »Die das Gute als die Lust erklären, sind die etwa weniger irrig als die anderen, oder werden sie nicht auch genötigt zu gestehen, es gebe schlechte Lust (C oq ja· oxtoi !macj²fomtai blokoce?m Bdom±r eWmai jaj²r)?«. Im Gorgias zeigt Sokrates auf, dass es umgekehrt auch heilsame und nützliche Unlust gibt, sodass diese keineswegs mit dem Übel zu identifizieren ist (Gorg. 499e). Beide Affekte können sowohl nützlich und gut als auch schlecht und schädlich sein: »Es ist also, wie es scheint und du jetzt sagst so, daß einige Lust gut (!cahºr) ist, andere schlecht (jajºr). […] Ist es nun auch mit der Unlust ebenso, daß einige heilsam (wqgstºr) ist, andere verderblich (pomgqºr)« (Gorg. 499c–e).9 In demselben Dialog (Gorg. 466b–468e) sowie im Gespräch mit Thrasymachos (rep. I 339b–339e) zeigt Sokrates auf, dass auch Macht und Einfluss im Staat keinen intrinsischen Wert besitzen. Die Argumentation verläuft ähnlich wie bei der Lusterörterung, nur dass hier die wertvermittelnde Funktion der Vernunfteinsicht viel stärker betont wird. Die Macht, verstanden als Vermögen, im politischen Kontext Maßnahmen, Gesetze, Direktiven anzuordnen und durchzusetzen, d. h. die Befehls- und Durchsetzungsgewalt ist nur dann ein Gut – so die sokratische Argumentation –, wenn sie von Einsicht und Vernunft geleitet wird. Macht ohne Einsicht ist ein Übel, da der Mächtige in seinem Unverstand Dinge anordnet und durchsetzt, die ihm lediglich gut zu sein scheinen, die jedoch nicht wirklich gut und nützlich sind, und damit sich selbst und der Gemeinschaft Schaden zufügt. Der vom Unverstand geleiteten Durchsetzungskraft wird in der konsequenten Fortsetzung der Argumentation der Machtstatus letztlich abgesprochen. Die vernunftlose Befehlsgewalt könne streng genommen nicht als Macht bezeichnet werden, sondern müsse eher als Machtlosigkeit oder Ohnmacht aufgefasst werden. Als begründendes Argument führt Sokrates die Diskrepanz zwischen dem Willensziel des Guten und den realen Handlungsausführungen an. Der Gewaltinhaber ohne Vernunfteinsicht sei bezüglich des Vorteilhaften und Nützlichen im Irrtum befangen und damit unvermögend, das zu tun, was er eigentlich will, nämlich das Gute: »Ich behaupte nämlich […], Macht haben Redner sowohl als Tyrannen eigentlich am wenigsten im Staat, weil 8 Vgl. rep. 505b. 9 Vgl. auch Prot. 353c–354c.

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sie nämlich nichts tun, was sie wollen […]; jedoch tun sie freilich, was ihnen dünkt, das Beste zu sein« (Gorg. 466d/e).10 Die Argumentation beruht zum einen auf der Beobachtung, dass im Handeln Ziele verfolgt werden, die mit den Kategorien des Nutzens, des Vorteilhaften, des Guten oder Besten gefasst werden und dass insofern davon gesprochen werden kann, dass jeder das Gute intendiert, zuerst für sich selbst (Gorg. 468b).11 Zum anderen aber werden hier die Differenz zwischen Schein und Sein und die Möglichkeit eines Irrtums über das Willensziel des Guten und das für einen wahrhaft Nützliche als Prämissen zugrunde gelegt. Auch dies ist als eine Annahme zu deuten, die nicht extern eingeführt wird, sondern aus der Analyse der Handlungspraxis stammt und von den Partnern stets, wenn auch meist unreflektiert, vorausgesetzt wird.12 Die Indifferenz der Güter wird in den frühen Dialogen zudem am Beispiel der Ambivalenz der physischen Grundlage des Güterwerbs aufgezeigt. Letztlich besitzen nicht nur die Lebensgüter – wie Schönheit, Reichtum, Macht und Ansehen – keinen intrinsischen Wert; auch das Leben selbst muss in dieser Weise als indifferent betrachtet werden. Im Gorgias (vgl. Gorg. 505a, 511d–513a)13 stellt Sokrates die aus moderner Perspektive zunächst problematisch erscheinende These auf, dass die Erhaltung des Daseins nicht in jedem Fall wünschenswert ist. Der Satz wird zunächst mit dem Verweis auf physisches Leid begründet: Wenn der Körper zerrüttet ist und an schweren chronischen bzw. unheilbaren Krankheiten leidet, verliert das Leben an Wert (Gorg. 505a, 512a). Das entscheidende Argument besteht jedoch in der Annahme einer Entwertung des Lebens durch seelische Schlechtigkeit: Der Wert des Daseins wird höchst fragwürdig, wenn jemand große seelische Übel aufweist und von Maßlosigkeit und Zügellosigkeit vollkommen durchsetzt ist. In diesem Fall dient das Leben dem Laster und wird damit selbst zum Übel (Gorg. 512a/b). Die Problematik einer Identifizierung von Gütern und intrinsischem Gut, die Sokrates in den Tugenddialogen dialektisch aufzeigt, wird im Euthydemos14

10 Vgl. auch rep. 577d/e. In rep. 350d–352b wird zudem gezeigt, dass Macht und Durchsetzungsstärke ohne Gerechtigkeit in Ohnmacht und Schwäche umschlagen, da der Ungerechte voller Selbsthass, innerem Streit und Zwiespalt ist und aufgrund dieser fehlenden personalen Einheit zunehmend handlungsunfähig wird. 11 Vgl. auch rep. 505e und Men. 77b–78b. 12 Vgl. z. B. rep. 340c. 13 Vgl. auch Krit. 47e und rep. 445a. 14 Die Datierung des Euthydemos ist umstritten. Aufgrund der engen Verbindungen zum Menon wird von den meisten Forschern eine Abfassungszeit kurz vor oder nach 385 angenommen. Die computergestützte statistische Analyse von Ledger (1989) gelangt zu einer relativ späten Datierung. Der Dialog wird hier den ersten Schriften der dritten Gruppe, also der mittleren Schaffensperiode zugeordnet. In der jüngeren Forschung ist eine Tendenz zur früheren Datierung zwischen 390 und 385 zu beobachten. Vgl. Erler (2007a, 122): »Das Abfassungsdatum wird jetzt zunehmend in die Zeit nach der ersten Sizilienreise (388/87)

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monologisch reflektiert. Nachdem Sokrates in einer längeren Rede den Wert der Lebensgüter thematisiert hat, gelangt er zu folgendem Resümee: Im allgemeinen also […] scheint es […], daß von allem insgesamt, was wir zuerst Güter (!cah±) nannten, nicht in der Art könne die Rede sein, als ob es an und für sich von Natur gut wäre. Sondern, wie es scheint, verhält es sich so: Wenn Torheit (!lah¸a) darüber gebietet, sind diese Dinge um so größere Übel (jaj±) als ihr Gegenteil, je mehr sie imstande sind, dem Gebietenden, welches ja ein Übel ist, Dienst zu leisten; wenn aber Einsicht (vqºmgsir) und Weisheit (sov¸a), dann sind sie größere Güter ; an und für sich aber sind weder die einen noch die anderen irgend etwas wert (aqt± d³ jah( art± oqd´teqa aqt_m oqdem¹r %nia eWmai). (Euthyd. 281d)15

Der bloße Besitz von besonderen Gütern ist als solcher noch ohne Wert (%nia) und Nutzen. Reichtum, Macht, leibliche und seelische Qualitäten müssen im individuellen und politischen Lebenskontext eingesetzt, angewendet und gebraucht werden, um Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu erfahren. Entscheidend ist freilich die Art und Weise des Gebrauchs. Werden die Güter aus Unvernunft und mangelndem Verstand in schlechter Weise und zu zweifelhaften Zwecken eingesetzt, werden sie selbst zu Übeln.16 Der vernunftgeleitete Gebrauch hingegen begründet deren Wert und Nützlichkeit. Maßgeblich für das tugendhafte Handeln und das Gelingen des Lebens ist demnach die Vernunfteinsicht, deren Besitz von den Gesprächspartnern im Dialog zwar stets beansprucht wird, die jedoch in der Regel nicht ausgewiesen werden kann. Die von den Dialogfiguren angeführte Vernunft bezeichnet eine Phronesis, die dem natürlichen Bedürfnis nach sinnlichem Genuss, materiellem Wohlstand, gesellschaftlicher Anerkennung und Selbsterhaltung entspringt, die jedoch noch keine Tugend im engeren Sinn begründet.17 Überblickt man den Argumentationsverlauf der sokratischen Tugenddialoge, so lässt sich eine Problemkontinuität beobachten. Auf die von Sokrates aufgeworfene Frage nach der menschlichen Bestheit werden von den Dialogpartnern gelegt, aber auch die Zeit kurz vorher wird erwogen«. Der Dialog wird damit eher der späten Gruppe der frühen Dialoge zugerechnet. 15 Das Motiv der Ambivalenz der von der traditionellen Ethik als Werte und Handlungsziele vorausgesetzten Lebensgüter durchzieht das ganze platonische Werk.Vgl. auch Men. 88d/e; rep. 505a/b; leg. 661a–d. 16 In den Nomoi wird der Gedanke formuliert, dass die Ausstattung mit wichtigen Lebensgütern – wie stabile Gesundheit, physische Stärke, Einfluss und Vermögen – für die Unverständigen und Zügellosen ein Übel ist, da sie unter diesen Umständen ihre Schlechtigkeit noch hemmungsloser ausleben und mehr Schaden anrichten können als ohne diese Güter. Armut, Schwäche, politische Bedeutungslosigkeit und ein kurzes Leben sind für den Schlechten das Bessere. Diese Überlegung mündet in folgenden paradoxen Satz: »Ich behaupte ganz offen, daß die sogenannten Übel Güter für die Ungerechten sind, für die Gerechten aber Übel; die Güter dagegen sind für die Guten wirklich Güter, für die Schlechten aber Übel« (leg. 661d; Übers. K. Schöpsdau). 17 Vgl. die Analyse dieser Phronesis in Phaid. 68d–69a.

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zunächst bestimmte Handlungsmuster und Charakterhaltungen angeführt, die lediglich Möglichkeiten zur Tugend bezeichnen, aber noch nicht die gesuchte Sache selbst. Die von den Partnern in der Folge als begründende, wertvermittelnde Instanz bestimmte praktische Vernunft stellt eine güterorientierte Phronesis dar, die aufgrund der Indifferenz der Güter jene Begründungsleistung nicht zu erbringen vermag, die sie erbringen soll. Am Ende der Untersuchungen wird stets offenbar, dass in Bezug auf die Begründung der Tugend erhebliche Defizite bestehen. Bei aller Differenz der spezifischen Problematik der einzelnen Antworten lässt sich ein gemeinsames Merkmal herausheben: Die angeführten Verhaltensweisen, Dispositionen und Handlungsmaßstäbe zeichnen sich durch axiologische Indifferenz18 aus und werden damit der im Gespräch von allen Teilnehmern vorausgesetzten Prämisse nicht gerecht, dass die Tugend einen intrinsischen Wert besitzt.19 bb)

Einsicht in die fehlende Erkenntnis des Guten

Betrachtet man die Tugenddialoge unter der Perspektive der sich darin zeigenden Defizite der Gesprächsakteure, so wird sichtbar, dass die sokratische Elenktik bei aller Verschiedenheit der Ausgangsproblematik und der Vielfalt der erörterten Wertkategorien stets ein und dasselbe Manko offenbart. Was sich auf jeder Stufe des Dialogs als das Fehlende erweist und am Ende der Gespräche in geradezu dramatischer Weise als Mangel sichtbar wird, ist das Gute (!cahºm) bzw. die Vernunfteinsicht (moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir, sov¸a)20, die die Tugend18 Alle Güter, die in den verschiedenen menschlichen Identitätsbereichen anzutreffen sind 1) äußere Güter – Reichtum, Herkunft, Macht, 2) leibliche Güter – Schönheit, Gesundheit, körperliche Stärke und 3) seelische Güter – Wagemut, Risikobereitschaft, Zurückhaltung, Sanftmut, Gedächtnis, Intelligenz bezeichnen keine intrinsischen Werte. Sie sind als solche weder gut noch schlecht, weder nützlich noch schädlich. Vgl. zu dieser Gütertafel Men. 87d– 89a (vgl. auch Phil. 48e). Die Dreiteilung der Güter wird auch in Gorg. 477b und leg. 697b angeführt. In leg. 697b werden die Güter in eine hierarchische Ordnung gebracht (vgl. auch Gorg. 477c/d). Die seelischen Qualitäten werden den leiblichen Vorzügen übergeordnet und diese den äußeren Besitztümern. Diese Güterhierarchie entspricht der Ordnung der Identitätsbereiche, die in Alk. I 130eff. u. 133e dargestellt wird. 19 Vgl. z. B. Lach. 192c. Den intrinsischen Wert der Tugend setzen selbst Thrasymachos und Kallikles voraus, indem sie nur der bürgerlichen Tugend den Wert absprechen. Das dagegen gesetzte Recht des Stärkeren hingegen (d. h. die als wahre Tugend bestimmte Durchsetzungsstärke) wird als das Gute, Vorteilhafte, Nützliche verstanden. Vgl. rep. I 343a–344c u. Gorg. 482c–484c. 20 Im platonischen Frühwerk findet sich keine feste Terminologie für Vernunft bzw. vernünftige Einsicht. Die Ausdrücke 1pist¶lg, vqºmgsir, sov¸a, moOr werden hier weitgehend synonym gebraucht. Vgl. dazu Jäger (1967, 162–172) und HWPh 11 (2001, 750–752). Zur synonymen Verwendung von 1pist¶lg und moOr in der Politeia vgl. Stemmer (1992, 217f.) Die Vernunfteinsicht wird im Frühwerk zuweilen mit dem Guten (!cahºm) und Nützlichen (¡v´kilom) identifiziert. Vgl. Men. 88e7–89a3. Die Identitätsthese begründet Platon an

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haftigkeit der Handlungen und charakterlichen Dispositionen sowie den richtigen Gebrauch (aqhµ wq/sir) der Güter21 begründet.22 Diese in der elenktischen Prüfung aufscheinenden Defizite lassen einen Rückschluss auf den Gehalt der zu erwerbenden Selbsterkenntnis zu. Die notwendige, aber meist verfehlte Selbsterkenntnis besteht demnach in der Einsicht in den Mangel an Vernunfteinsicht (1pist¶lg, vqºmgsir, sov¸a, moOr), die nach den bisherigen Betrachtungen mit der Erkenntnis des Guten (1pist¶lg toO !cahoO) identifiziert werden kann. Betrachtet man die in den Frühdialogen23 enthaltenen paränetisch-protreptischen Aussagen über das Gute und die Vernunfteinsicht, so könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, dass Platon hier eine spekulative Prämisse einführt, die der empirischen Lebenspraxis relativ unvermittelt gegenübersteht und realitätsferne Züge trägt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Annahme eines handlungsbestimmenden und lebensgestaltenden Wertprinzips keine aus theoretischer Spekulation gewonnene Prämisse bezeichnet, sondern auf der Analyse der im Lebenskontext realisierten Handlungsvollzüge basiert. Das wird besonders deutlich in den Dialogen Menon, Gorgias und Symposion und klingt auch noch in rep. 505e an. Bereits in den Tugenddialogen (Laches, Charmides, Euthyphron, Politeia I) zeigt sich, dass die Hypothese des Guten bei Platon mit der realen Lebenspraxis verbunden und als Grundlage der faktischen Handlungsvollzüge und der empirischen praktischen Vernunft dargestellt wird. In den dialektischen Erörterungen über die Einzeltugenden lässt Platon nicht etwa Sokrates, sondern die Dialogpartner das Gute explizit ins Gespräch einbringen, oder aber es wird als Voraussetzung von deren Bestimmungen kenntlich gemacht. Im Charmides benennt Kritias am Ende der Untersuchung das Gute als Gegenstand einer das glückliche Leben begründenden praktischen Vernunft (Charm. 174b6). Im Laches wird deutlich gemacht, dass die von Nikias angeführte Bestimmung der Tapferkeit als situative Erkenntnis des Gefährlichen und Unbedenklichen auf der Prämisse einer situationsübergreifenden Einsicht in das allgemeine Gute und dieser Stelle mit der axiologischen Leistung der Vernunfteinsicht: 1. Satz: Alle materiellen, physischen und seelischen Güter sind an sich weder gut noch schlecht. 2. Satz: Die Vernunfteinsicht macht alle Güter brauchbar und gut. Konklusion: Also ist die Vernunfteinsicht das Nützliche bzw. Gute. Die Ausdrücke !cahºm und ¡v´kilom werden im Frühwerk häufig synonym gebraucht. Die synonyme Verwendung ist auch noch in der Politeia zu beobachten (vgl. rep. 505a). 21 In Men. 78d und leg. 870b/c ist vom gerechten Gebrauch der Güter die Rede. 22 Vgl. Euthyd. 281b: »Ist also wohl […] irgendein anderer Besitz etwas nutz ohne Einsicht (vqºmgsir) und Weisheit (sov¸a)? Würde wohl ein Mensch Vorteil haben, wenn er auch noch so viel besäße und täte, der keine Vernunft (moOr) hat?« Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in der Politeia: »Oder meinst du, es helfe uns etwas, alle Habe zu haben, nur die gute nicht? Oder alles zu verstehen ohne das Gute (!cahºm), aber nichts Schönes und Gutes zu verstehen?« (rep. 505a/b). 23 Vgl. insbes. Euthyd. 278e–282d.

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Üble basiert, die als Orientierung in der konkreten Situation fungiert (Lach. 198d–199d). In der Politeia I bestimmt Thrasymachos die Tugend als Fähigkeit, sich in den Besitz des Zuträglichen (t¹ nulv´qom) zu bringen (338cff.), das in diesem Zusammenhang im Sinn des für einen selbst Nützlichen, Vorteilhaften, Förderlichen, Guten verstanden wird (vgl. insbes. 336d). Im Dialog über die Frömmigkeit lässt Platon das Gute von dem als Gesprächspartner agierenden Seher in Form des den Göttern zu leistenden Angenehmen, Wohlgefälligen (jewaqisl´ma) und der entsprechenden göttlichen Gegenleistung ins Gespräch einbringen (14b). Die in den Tugenddialogen im Rahmen von dramatischen Gesprächshandlungen dargestellte lebenspraktische Annahme des Guten macht Platon in den Handlungsanalysen des Menon und Gorgias zum Gegenstand der theoretischen Reflexion. Im Gorgias (467c–468b) lässt er Sokrates den argumentativen Nachweis führen, dass jedes Handeln auf das Gute zielt, selbst wenn es Verrichtungen intendiert, die als schmerzvoll, unlusterregend, gefährlich oder gar lebensbedrohlich bewertet werden. Die Argumentation basiert auf der Unterscheidung zwischen Handlungszwecken und Handlungsvollzügen, die instrumentelle Funktionen erfüllen. Am Beispiel der Medizin und anderer Künste zeigt Sokrates zunächst auf, dass das eigentlich Erstrebte nicht die Handlungsausführung ist, sondern das Werk, um dessentwillen die Handlung verrichtet wird. Die Handlungsintention des kranken Patienten, der seine Medikamente einnimmt, zielt nicht darauf, die bittere Medizin zu schlucken und Schmerzen zu erleiden, sondern von der Krankheit zu genesen. Dieses zweckgebundene Wollen wird als Merkmal von allen zweckgerichteten Handlungen bestimmt: »Ist es nun nicht ebenso mit allem, wenn jemand etwas um eines anderen willen tut, so will er nicht das, was er tut, sondern das, um deswillen er es tut« (Gorg. 467d7–9). Im zweiten Argumentationsschritt werden die Handlungszwecke mit dem Guten zusammengeführt und dieses als eigentliches Handlungsziel aufgezeigt. Alle Dinge, so die zunächst aufgestellte Prämisse, gehören entweder in die Kategorie des Guten, des Üblen oder des Indifferenten – des weder Guten noch Üblen (üq owm 5stim ti t_m emtym, d oqw· Etoi !cahºm c( 1st·m C jaj¹m C letan» to¼tym oute !cah¹m oute jajºm Gorg. 467e1–3). Auf der Grundlage der zuvor angeführten Handlungsverrichtungen und Zwecke aus dem technischen Bereich führt Sokrates im Anschluss daran aus, dass das Gute oder Üble nicht um des Indifferenten willen oder das Indifferente um des Üblen willen, sondern das weder Gute noch Üble um des Guten willen getan wird, sodass das Gute als das eigentlich Erstrebte zu bezeichnen ist (Gorg. 468b1–3). Die Argumentation im Gorgias zielt zum einen auf den Nachweis, dass das Gute im Lebenszusammenhang als übergeordnetes Handlungsziel betrachtet wird, um dessentwillen alles getan wird. Zum anderen aber wird aufgezeigt, dass das Gute als das schlechthin Werthafte vorausgesetzt wird, das bei der Beur-

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teilung der eingesetzten Mittel und der vollzogenen Handlungen als Maßstab und Rechtfertigung fungiert. Die These vom Guten als Ziel allen Handelns, die die zunächst fragwürdig erscheinende Implikation in sich birgt, dass auch der Schwerverbrecher das Gute will, wird erst wirklich nachvollziehbar und plausibel durch die Thematisierung des aus der Bedürfnisstruktur des menschlichen Daseins resultierenden Begehrensmoments und des damit verbundenen Glücksfaktors. Diese Aspekte werden im Gorgias im Anschluss an die dargestellten Überlegungen erörtert (468b–d). Noch prägnanter sind jedoch die entsprechenden Ausführungen im Menon und im Symposion. Im Menon (77c–78b) zeigt Sokrates auf, dass keiner das Üble, sondern alle Menschen das Gute begehren: »Und scheinen dir […] nicht alle das Gute zu begehren?« (Oq p²mter dojoOs¸ soi t_m !cah_m 1pihule?m; 77c1f.). Diese These wird im Folgenden auf den Satz gestützt, dass sich alle Menschen wohl befinden (ew pq²tteim) und glücklich sein (eqdailome?m) wollen (78a6f.)24 und zu diesem Zweck dasjenige anstreben, was dem gewollten Zustand förderlich zu sein scheint. Das in diesem Sinn Nützliche (¡v´kilom) aber wird gemeinhin als das Gute (!cahºm) bezeichnet, sodass also alle Menschen nach dem Guten verlangen.25 In dieser Argumentation sind mehrere Punkte von Bedeutung. Entscheidend für die Plausibilität der Ausgangsthese (›Alle begehren das Gute‹) ist der Verweis auf die im faktischen Verlangen nach dem Guten eingefasste Selbstbeziehung und das Glücksstreben. Begehrt wird das Gute, das in einer Beziehung zum eigenen Leben steht und für einen selbst Bedeutung hat. Der Einzelne will das

24 Vgl. auch Euthyd. 278e3. 25 Die Aussagen im Menon und Gorgias scheinen zunächst zu differieren. Während im Gorgias die These entwickelt wird, dass alle Handlungsakteure das Gute wollen, scheint der Menon den Aspekt des Scheins hervorzuheben und den Satz aufzustellen, dass alle handelnden Personen das für gut Gehaltene wollen. Dafür spricht die Aussage in Men. 77e1f.: Die Personen, die das Üble nicht erkennen, begehren das scheinbar Gute. In Men. 77e3 wird jedoch diese objektive Betrachtungsweise wieder aufgehoben und aus der Perspektive der handelnden Personen argumentiert, die stets das für sie selbst Nützliche und Förderliche wollen. Das Begehren des Guten ist hier im Sinn dessen, was gut ist, gemeint. Letztlich werden in beiden Dialogen ganz ähnliche Aussagen getroffen: 1) Alle begehren das Gute im Sinn des für einen selbst Nützlichen, Vorteilhaften (Gorg. 468b1f., 468c6; Men. 77e3f., 78b6); 2) Ist die Person bezüglich der inhaltlichen Bestimmung des Guten im Irrtum befangen, so strebt sie dasjenige an, was sie subjektiv für gut hält, was aber objektiv schädlich für sie ist (Gorg. 468d1–5; Men. 77d10–e2), und verfehlt auf diese Weise das eigentliche Wollensziel (Gorg. 468d7f.). Das Verfehlen des Guten wird im Menon nicht ausdrücklich thematisiert; der Aspekt ist jedoch in der in Men. 77e vorgenommenen Erörterung der Irrtumsmöglichkeit (oR !cmooOmter aqt², !kk± 1je¸mym $ ¥omto !cah± eWmai Men. 77e1) und der damit verbundenen Schein-Sein-Differenzierung (ja· oQºlemoi !cah± eWmai Men. 77e3) impliziert. Die Differenz zwischen den beiden Dialogpassagen besteht weniger in den inhaltlichen Aussagen als vielmehr in den Ausgangsproblemen, dem Argumentationsverlauf und den Argumentationszielen.

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Gute für sich selbst und er will es um des Gelingens des eigenen Lebens willen.26 Das Verlangen richtet sich auf etwas, das die Person für erstrebens- und wünschenswert hält und mit Erfüllung und Glück verbindet. Die inhaltlichen Auffassungen dieses Guten können individuell verschieden sein.27 Das gemeinsame Strukturmerkmal besteht jedoch in der zugrunde gelegten eudaimonistischen und personenbezogenen Funktion. Als gut wird im Lebenskontext dasjenige verstanden, was der eigenen Person zuträglich ist, was nützt, Vorteil bringt, die Lebensqualität fördert und zur Erfüllung des Lebensganzen beiträgt. In den von Platon vorgenommenen Analysen der faktischen Handlungsvollzüge zeichnet sich somit ein Begriff des Guten ab, der beim Individuum und seinen Glücksansprüchen ansetzt. Wie in den entsprechenden Passagen deutlich wird, orientiert sich diese Auffassung des Guten primär an den auf Wachstum, Ausdehnung, Selbststeigerung und Wirksamkeit zielenden Antrieben des Menschen und ist in besonderer Weise an das Glücksverlangen gebunden. Das Begehrensmoment und das Glücksziel werden insbesondere im Symposion im Rahmen der Eros-Thematik erörtert. In der dort vorgenommenen anthropologischen Analyse wird ausgeführt, dass der Mensch aus einer konditionsbedingten, nie vollständig zu überwindenden Bedürftigkeit heraus nach dem erfüllenden Guten strebt und dies um der Eudaimonia willen tut. Das bereits im Menon als letztes Ziel des Wollens angedeutete Glück (Men. 78a6f.) wird hier noch einmal aufgegriffen und im Zusammenhang mit dem Guten explizit erörtert. Im Diotima-Gespräch findet sich eine Analyse des Verlangens nach dem Guten, die das Begehren hinsichtlich des intendierten Zustandes untersucht (symp. 204e–205a): »wer das Gute begehrt, was begehrt der?« (1qø b 1q_m t_m !cah_m7 t¸ 1qø; 204e3). Das eigentlich Begehrte, so die Antwort, ist der Besitz des Guten. Der Mensch will am Guten teilhaben, es in seiner Wirklichkeit erfahren und erleben. Die Anwesenheit und Präsenz des Guten in der eigenen Erfahrungsund Erlebniswelt ist jedoch noch nicht hinreichend, um das Ziel des Begehrens deutlich zu machen. Das Verlangen bezieht sich nicht nur auf den Besitz, sondern zuletzt auf den erfüllenden Zustand, der mit der Teilhabe am Guten ver26 Der Selbstbezug wird sowohl im Gorgias als auch im Menon deutlich. Vgl. Gorg. 468d3f.: »in der Meinung, es sei für ihn selbst besser (oQºlemor %leimom eWmai aqt`), es ist aber in der Tat schlimmer für ihn« (vgl. auch Gorg. 468b6f.) und Men. 77c12: »Und was meinst du, begehre er? Daß es ihm werde? (O cem´shai aqt`;)« (vgl. auch Men. 77e6–8). 27 In den relevanten Passagen des Menon und Gorgias werden meist die herkömmlichen Glücksgüter genannt. Vgl. Men 78c8–10: »Nennst du aber nicht Gutes so etwas wie Gesundheit und Reichtum? […] Ich meine Gold und Silber besitzen und Ansehen und Ämter im Staate (til±r 1m pºkei ja· !qw²r)« (vgl. auch Gorg. 467e5–7). Mit diesem Verständnis des Guten im Sinn der glücksgenerierenden Güter wird die gängige Aufassung artikuliert. Platon führt hier eine Analyse der empirischen Lebenspraxis durch. Die Relation zwischen dem eigenen und dem gemeinschaftlichen Guten und die möglichen Konflikte zwischen dem Guten für den Einzelnen und dem Guten für die Polis werden an dieser Stelle nicht diskutiert.

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bunden ist – auf die Eudaimonia: »Denn durch den Besitz des Guten […] sind die Glückseligen glückselig« (jt¶sei c²q, 5vg, !cah_m oR eqda¸lomer eqda¸lomer symp. 205a1f.).28 Die Eudaimonia wird an dieser Stelle als letzte Antwort auf die Frage nach dem Ziel des menschlichen Begehrens betrachtet, die selbst nicht noch einmal begründet werden muss: »Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein« (symp. 205a2–4). Dieses Ende der Begründungskette gewinnt vor dem Hintergrund der vorherigen Überlegungen an Überzeugungskraft. Aufgrund seiner Bedürfnisstruktur ist der Mensch auf die stetige Überwindung des Mangels und die damit verbundene Erfüllung hin angelegt und findet darin sein – freilich immer nur momenthaft zu erreichendes – Ziel. In der Menon-Analyse wird neben der Selbstbezüglichkeit und dem Glücksmoment noch ein weiterer wichtiger Punkt thematisiert. Die These vom Guten als Ziel allen menschlichen Handelns wird hier durch den epistemischen Aspekt und die Differenzierung zwischen Sein und Schein ergänzt. Durch die Aussage, dass jeder dasjenige begehrt, was er für gut, nützlich, vorteilhaft hält (Men. 77e), wird die Wahrheits- und Erkenntnisfrage angesprochen und auf die stets gegenwärtige Möglichkeit des Irrtums verwiesen: »Offenbar also begehren jene, welche es [sc. das Gute] nicht erkennen, […] das vielmehr, was sie für gut halten (!kk± 1je¸mym $ ¥omto !cah±), es ist aber eben übel« (Men. 77d10–e4). Nicht ganz unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich Platon auch hier auf der Ebene der Analyse der Empirie bewegt. Die häufig vorliegende Irrtumsverhaftetheit der mit dem Guten verbundenen Zielvorstellungen und Wünsche bezeichnet eine Alltagserfahrung, die an dieser Stelle lediglich aufgegriffen und herausgestellt wird. Die Argumentation stützt sich wohl nicht zuletzt auf die empirische Beobachtung, dass viele Menschen ein bestimmtes Ziel verfolgen in der Meinung, dieses sei die Realisierung aller Träume, und nach dem Erreichen des Begehrten die bittere Erfahrung machen müssen, dass sie einer Illusion erlegen sind und das vermeintliche Gute statt der ersehnten Erfüllung nur schale Leere oder gar Schaden bewirkt. Durch die Thematisierung des Meinungsstatus der Vorstellungen vom Guten wird deutlich, dass die zunächst verblüffende These: ›Alle Menschen wollen das Gute‹ keine Aussage über das faktische Anstreben und Erzielen eines objektiv Besten bezeichnet. Die These verweist lediglich auf das anthropologische Faktum, dass jeder nach Erfüllung und Glück verlangt und das mit diesen Zuständen verbundene Gute für einen selbst will. Da der Mensch jedoch häufig Illusionen, trügerischen Hoffnungen, Irrtümern und Fehlmeinungen erliegt, strebt er in seinen Handlungen oftmals das Schädliche, Schlechte an und steht 28 Vgl. auch Euthyd. 280b5f.

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damit in Widerspruch zu sich selbst, da er das Gegenteil von dem erreicht, was er doch eigentlich will: das Gute. Diese Spannung zwischen dem Wollen des Seins und dem Erreichen des Scheins wird in besonders prägnanter Form in der Politeia formuliert: »Und ist nicht auch das klar, daß von Gerechtem und Schönem viele nur, was so scheint, wenn es auch nicht ist, tun und haben wollen und dafür angesehen sein. Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares (t± dojoOmta) zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist (!kk± t± emta fgtoOsim), und den Schein verachtet hierbei schon jeder« (rep. 505d7–11). Die faktische Verfehlung dieses Seins thematisiert Platon in rep. 505e. Das Gute wird hier als dasjenige bezeichnet, was »jede Seele anstrebt und um dessentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend29, wie auch bei anderen Dingen, daher aber auch anderes mit verfehlt, was irgend nutz wäre« (505e). Im Gegensatz zur Tugend der Gerechtigkeit, die in der Regel als fremdes Gut verstanden wird (vgl. rep. I 343c3), ist die individuelle Person bezüglich des daseinserfüllenden Guten nicht auf den bloßen Anschein bedacht; es geht hier nicht nur um das entsprechende Ansehen in der sozialen Gemeinschaft, sondern um den tatsächlichen Besitz des Guten. Da dieses Wollen jedoch in den meisten Fällen einer epistemischen Grundlage entbehrt, also nicht erkenntnisfundiert ist, wird das Willensziel immer wieder verfehlt. Auf der Grundlage des Menon, des Gorgias und des Symposion wurde versucht aufzeigen, dass Platon die Annahme eines handlungsorientierenden Guten aus der Analyse des menschlichen Wollens und der faktischen Handlungsvollzüge gewinnt. In den genannten Dialogen werden bestimmte Strukturmerkmale des im praktischen Lebensvollzug zugrunde gelegten Begriffs des Guten herausgehoben, die hier noch einmal im Zusammenhang dargestellt werden sollen: 1) Das Gute wird im Lebenskontext als übergeordneter Handlungszweck betrachtet, um dessentwillen alle Verrichtungen und Handlungen vollzogen werden. 2) Das Gute fungiert als Orientierungspunkt und Bewertungsgrundlage bei der Wahl und Beurteilung der Mittel. 3) Das Gute steht in Relation zu den faktischen Bedürfnissen und Glücksansprüchen und wird als dasjenige verstanden, was der eigenen Person nützlich, förderlich, zuträglich ist und die Eudaimonia bewirkt. 4) Das Gute wird willentlich angestrebt und fungiert als primäres Objekt des Begehrens. Mit diesen Merkmalen ist noch nichts spezifisch Platonisches über das Gute ausgesagt. Es handelt sich vielmehr um Prämissen

29 Der Zustand des Schwankens und der Unbeständigkeit der Meinungen wird im Alkibiades I als Merkmal der Doxosophia kenntlich gemacht (vgl. Alk. I 117a–118b). Das Schwanken und Nicht-treffen-Können ist also nicht Ausdruck der Suche, sondern basiert auf falscher Wissensgewissheit.

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der empirischen praktischen Vernunft, die Platon heraushebt und aufgreift, um dort mit der philosophischen Frage und Nachforschung anzusetzen. Vor dem Hintergrund der platonischen Analyse des faktischen Wollens wird deutlich, dass Platon mit der Ermahnung zur Selbsterkenntnis und der damit verbundenen Aufforderung zur Wahrheitssuche keine den vorhandenen Grundantrieben und Bedürfnissen zuwiderlaufende Forderung erhebt, sondern einen Weg zur Erfüllung des alle Handlungsvollzüge durchziehenden Verlangens nach dem Guten eröffnet. Der Mensch begehrt das Gute, aber er verfehlt es zumeist, weil er im Irrtum darüber befangen ist, was wirklich gut, nützlich, vorteilhaft für ihn selbst ist, und er zudem häufig nicht um seine Irrtumsverhaftetheit weiß, sondern sich in trügerischer Sicherheit über seine Handlungsziele wähnt, also zu wissen glaubt.30 Mit der Erkenntnis des Nichtwissens wird eine Art befreiender Desillusionierung erreicht und die Möglichkeit der Erkenntnissuche eröffnet, die zu dem eigentlich Gewollten hinführt. In diesem Sinn ist Sokrates vielversprechende Bemerkung zu Beginn des Alkibiades I zu verstehen: Er könne Alkibiades zu dem verhelfen, was dieser wolle, nämlich zur Macht: »so hoffe auch ich bei dir alles auszurichten, wenn ich dir gezeigt habe, daß ich dir alles wert bin und daß weder Vormund noch Verwandter noch sonst jemand imstande ist, dir die Macht (d¼malir) zu verschaffen, nach der du strebst, außer ich, mit Gott freilich« (Alk. I 105e). Wirkliche Macht hat eine Person nur dann, so das Argument aus der schon erwähnten Gorgias-Passage, wenn sie sich von falschen Meinungen über das Gute befreit und Vernunfteinsicht gewinnt, denn nur unter dieser Voraussetzung ist sie vermögend, das zu tun, was sie eigentlich will: das Gute (Gorg. 466b–468e). Die von Sokrates intendierte Selbsterkenntnis stellt insofern einen Weg zur Erfüllung des Machtstrebens dar. Freilich ist die auf diesem Weg erzielte Macht eine ganz andere als die von Alkibiades vorgestellte. Das im Alkibiades I exemplarisch vorgeführte Ansetzen bei den vorhandenen Antrieben und Strebenszielen, das zunächst etwas befremdlich erscheint und 30 Das Nichtwissen des Nichtwissens, das meist mit der Doxosophia (donosov¸a), der Wissensillusion, verknüpft oder auch identifiziert wird, bezeichnet nach Platon einen defizitären Zustand der Vernunftseele, der aufgrund der Wissenseinbildung weitaus schädlicher ist als das einfache Nichtwissen eines Sachverhalts. Im Alkibiades I wird diese Art von potenziertem Nichtwissen als äußerste, höchste Unwissenheit (!lah¸ô c±q sumoije?r […], t0 1sw²t, 118b6) und als Ursache aller Übel (t_m jaj_m aQt¸a 118a4) bezeichnet. Ähnliche Beurteilungen finden sich im Spätwerk. Im Sophistes bestimmt der Fremde jene Selbstverkennung als große und schlimme Art des Unverstandes: »Ich glaube eine sehr große und bedeutende Art des Unverstandes abgesondert zu sehen […]. Wenn, was man nicht weiß, man glaubt zu wissen« (( Acmo¸ar coOm l´ca t¸ loi doj_ ja· wakep¹m !vyqisl´mom bq÷m eWdor […] T¹ lµ jateidºta ti doje?m eQd´mai soph. 229c1–5). Im Philebos wird sie als eine Art der Schlechtigkeit (pomgq¸a 48c7) und als Übel (jajºm 49a5) benannt und in den Nomoi als Ursache der größten Verfehlungen ("l²qtgla) (leg. 863c7f.) kenntlich gemacht.

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von der modernen Moralphilosophie immer wieder als unmoralische, egoistische Glücksethik beargwöhnt wurde, hat den unersetzlichen Vorteil, dass das Problem der Handlungsmotivation gelöst ist und eine Dichotomie zwischen normativer Forderung und subjektiver Neigung vermieden wird. Die ethische Paränese kann hier an die vorhandenen Grundantriebe, Hoffnungen und Selbstansprüche appellieren und bedarf nicht der Einführung eines zusätzlichen Antriebsmoments, das die Kluft zwischen Wollen und Sollen überbrückt. Nach dem hier skizzierten ethischen Ansatz gibt es nur die Differenz zwischen einem erfüllten und einem unerfüllten, das Ziel verfehlenden Wollen. Freilich hat der Appell an die eigenen Antriebe und Bedürfnisse seine Grenzen. Wie jeder sokratische Dialog deutlich macht, ist die menschliche Neigung zur Persistenz in den Illusionen häufig stark ausgeprägt und nur schwer zu überwinden. In der Regel sind die Gesprächspartner nicht wirklich interessiert an einer intensiveren Erforschung des eigentlich Gewollten und empfinden entsprechende Anstöße als Zumutung oder Aufdringlichkeit. Daraus resultiert das Paradox, dass die meisten Menschen das nicht wollen, worauf doch ihr Wille gerichtet ist: das Gute. Es scheint so, als ob es noch einer hinzukommenden, in der Verantwortung des Einzelnen stehenden Entscheidung für das immer schon Gewollte bedarf, damit das Wollensziel erreicht wird. Diese Überlegungen verweisen auf die maßgebliche Rolle der Selbstverantwortung für das Gelingen der Selbsterkenntnis und der Lebensführung im Ganzen, auf die Platon immer wieder mit besonderem Nachdruck hinweist.31 Über die ganze Thematik der Verfehlung, Irrtumsverhaftetheit und Wissenseinbildung lässt sich noch ein zweites Moment des Bedeutungsgehaltes der Erkenntnis des Nichtwissens erschließen. Da die elenktischen Prüfungen nicht nur sachliches Unverständnis offenbaren, sondern immer auch auf das problematische Selbstverhältnis verweisen und die Spannung zwischen Wissensglaube (donosov¸a)32 und Faktizität zum Vorschein bringen, ist die zu erwerbende Selbsterkenntnis niemals nur eine Einsicht in die Erkenntnisdefizite, sondern immer zugleich ein Bewusstsein der Selbstwidersprüchlichkeit des Denkens und Handelns. Die Erfahrung, dass man die eigenen Wertvorstellungen im prüfenden Gespräch nicht als richtig auszuweisen vermag, ist mit der bitteren Erkenntnis verbunden, dass man nicht nur im Irrtum über die Sache, sondern auch in der Selbsttäuschung verhaftet ist: Die eigene Wissensgewissheit steht in Widerspruch zur faktischen Ungesichertheit der Werturteile und -vorstellungen 31 Mit besonderer Deutlichkeit in rep. 617e4f. 32 Vgl. apol. 29a7; symp. 204a5; Phaidr. 275b2; Phil. 49a2; soph. 231b7; leg. 732a6, 863c5. Mit dem Ausdruck donosov¸a ist ein bestimmtes, dem faktischen Wissensstand zuwiderlaufendes Selbstverhältnis gemeint: Die Meinung, über ein fundiertes oder wahres Wissen zu verfügen. Man kann hier auch von Wissensillusion, Wissenseinbildung oder Weisheitsanspruch und falscher Wissensgewissheit sprechen.

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und die subjektive Beurteilung der konkreten Handlungsziele befindet sich in einer Spannung zum tatsächlichen Wert des Erstrebten und Erreichten. Wie Platon an verschiedenen Stellen deutlich macht, geht die Einsicht in das Nichtwissen jedoch keineswegs im negativen Bewusstsein der eigenen Zwiespältigkeit auf, sondern birgt ein einheitsstiftendes positives Moment in sich. Die der Selbsterkenntnis innewohnende Dialektik besteht darin, dass durch die Erfahrung des Nichtwissens der Selbstwiderspruch aufgelöst und eine Einheit und Selbstübereinstimmung zunächst im Denken und zunehmend auch im praktischen Handeln gewonnen wird. Die erreichte Einheit reflektiert Platon an verschiedenen Stellen als Übereinstimmung von Selbstmeinung und faktischem Zustand. Im Theaitetos bestimmt Sokrates als Resultat der realisierten Selbstprüfung, dass der junge Theaitetos nun nicht mehr glaubt zu wissen, was er nicht weiß (oqj oQºlemor eQd´mai $ lµ oWda Tht. 210c3f.). In der Orakelerzählung der Apologie wird die Kongruenz von Selbsteinschätzung und faktischem Wissenszustand der Zwiespältigkeit des Doxosophen gegenübergestellt (»allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht« apol. 21d4–6) und in ihrem höheren Wert bestimmt (apol. 21d6f., 22e5). In ähnlicher Weise werden im Menon die beiden Zustände verglichen und bewertet (Men. 84a/b). Wie im Alkibiades I angedeutet wird, sind mit der Aufhebung der Wissensgewissheit weitere positive Effekte verbunden: eine Beständigkeit, Stabilität, Festigkeit und Widerspruchsfreiheit im Denken. Eine Person, die um ihre epistemischen Defizite weiß, schwankt nicht, so die Aussage in Alk. I 117d4f. Sie gerät nicht in den Zustand des Umherirrens, in das Hin und Her von Behauptung und Gegenbehauptung und das stetige Wechseln der Ansichten hinein. Eine ähnliche Aussage findet sich im Sophistes. Als ein Resultat der Selbstprüfung wird dort zunächst die Entledigung von falschen Meinungen über sich (soph. 230b10f.) angeführt. Diese Aufhebung der falschen Selbstvorstellungen hat sowohl auf die Zuhörer des Prüfungsgesprächs als auch auf den Geprüften positive Wirkungen: Die Befreiung von der Wissensillusion versetzt die Zuhörer in eine anteilnehmende Freude über diesen geistigen Befreiungsakt; diejenigen aber, die die Selbsterkenntnis realisieren, gelangen durch sie in einen festen, sicheren, beständigen Zustand (ja· t` p²swomti bebaiºtata cicmol´mgm soph. 230c2f.). Dieser geistige Zustand ist das positive Korrelat zu der in soph. 230b beschriebenen Unstetigkeit, Unsicherheit, Widersprüchlichkeit der noch in der Doxosophia verhafteten Person. Durch die im Verlauf der Prüfung erlangte Selbsterkenntnis, so der hier angedeutete Gedanke, wird jenes Umherrirren überwunden und eine bestimmte Art von Stabilität erreicht. Im Alkibiades I führt Platon als Erklärungsgrund für die Beständigkeit und Widerspruchsfreiheit des wissend Nichtwissenden die Zurückhaltung im Aufstellen von Behauptungen an. Die um ihre Defizite wissende Person äußert in

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den entsprechenden theoretischen und praktischen Kontexten kein eigenes Sachurteil, sie enthält sich der Meinungsartikulation und gerät deswegen nicht in den Zustand der Atopie und Aporie (Alk. I 117b–d). Wie an der Sokrates-Figur der frühen Dialoge zu beobachten ist, besteht der entscheidende Stabilitätsfaktor jedoch nicht in der Meinungsenthaltung als solcher, sondern primär darin, dass für die artikulierten Logoi kein dezidierter Wahrheitsanspruch erhoben und deren Wahrheitswert zunächst in der Schwebe gelassen wird. Die wahrheitsindifferente, offene, suchende Einstellung gegenüber einem angeführten Meinungswissen ist die eigentliche Ursache der Stabilität, die das von Alkibiades als Zustand der Atopie (!tºpyr 5womti Alk. I 116e2– 4) beschriebene Gegeneinander von Behauptung und Gegenbehauptung, das Sich-Widersprechen und abrupte Wechseln der Ansichten verhindert. Damit deutet sich neben dem negativen Moment der Enthaltung ein positiver Grund an, der auch in der Alkibiades-Passage indirekt thematisiert wird: die Suche nach der jeweils in Frage stehenden Sache oder Sachkompetenz. cc)

Einsicht in die Grenzen des Meinungswissens (Menon)

Der Sinngehalt der Erkenntnis des Nichtwissens lässt sich noch weiter erhellen, wenn man die platonische Analyse des Meinungswissens in den Blick nimmt. Zu diesem Zweck soll die bereits erwähnte Passage aus dem Menon (87d–89a) herangezogen werden. Die Stelle lässt sich als Kommentar zu den dialektischen Tugenduntersuchungen lesen. Auf der Ebene der begrifflichen Erörterung werden hier jene Erkenntnisse in verdichteter Form dargestellt, die in der elenktischen Prüfung aufscheinen, aber nicht in direkter Weise ausgesagt werden. Im Rahmen der Untersuchung, ob die Tugend Erkenntnis (1pist¶lg) ist, greift Sokrates zunächst auf die im Lebenskontext stets unterstellte Prämisse zurück, dass die Tugend gut (!cahºr) und damit auch nützlich (¡v´kilor) ist (Men. 87e4). Im Anschluss daran werden verschiedene Identitätssphären des Menschen – Besitzverhältnisse, Physis, Seele – und die dort anzutreffenden Güter – Reichtum, Gesundheit, Stärke, Schönheit, charakterliche Qualitäten und intellektuelle Fähigkeiten – auf ihren Wert hin untersucht mit dem Resultat, dass diese Güter häufig von Nutzen sind, aber bisweilen auch schaden können und einer lenkenden, regierenden Instanz bedürfen. Die materiellen und physischen Güter sind vom richtigen Gebrauch (aqhµ wq/sir) abhängig (Men. 88a) und die seelischen Qualitäten bedürfen der Ausrichtung und Lenkung durch die Vernunfteinsicht (vqºmgsir, moOr Men. 88c). Am Ende der Argumentation werden äußerer Besitz, Seele und Vernunft in Relation zueinander gesetzt und wie folgt bestimmt: Die Vernunfteinsicht steuert und koordiniert die seelischen Kräfte und Dispositionen und verleiht ihnen dadurch Werthaftigkeit und Sinn. Die durch Vernunft bestimmte und gelenkte Seele wiederum regiert über die äu-

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Selbsterkenntnis bei Platon

ßeren Güter und bewirkt durch richtigen Gebrauch deren Nutzen (Men. 88d– 89a). Die Führung der Seele durch die Vernunft, so das Argument, ist die entscheidene Bedingung dafür, dass die Aktualisierung der seelischen Fähigkeiten mit Handlungserfolgen und Nutzen (¡vek¸a) verbunden ist und zum Besten der handelnden Person geschieht. Übt die Vernunft ihre Steuerungsfunktion in optimaler Weise aus, so münden die seelischen Tätigkeiten in die Eudaimonia: »Also auch überhaupt, alles, was die Seele unternimmt und aushält, endet, wenn Einsicht dabei regiert, in Glückseligkeit, wenn aber Torheit, in das Gegenteil?« (p²mta t± t/r xuw/r 1piweiq¶lata ja· jaqteq¶lata Bcoul´mgr l³m vqom¶seyr eQr eqdailom¸am tekeutø Men. 88c3–5). Aus der sinn- und wertstiftenden Funktion der Vernunfteinsicht wird schließlich gefolgert, dass die Vernunft das Nützliche oder Gute ist und als solche mit der Tugend identifiziert werden kann (Men. 89a). Im Menon wird an späterer Stelle die Möglichkeit einer Steuerung durch richtige Meinung (aqhµ dºna, !kghµr dºna) diskutiert (Men. 96d–100a). Während in Men. 87d–89a die These aufgestellt wurde, dass nur die Vernunfteinsicht ein richtiges Handeln bewirken kann, wird diese Leistung jetzt auch der richtigen Vorstellung zugestanden: »Wahre Vorstellung also ist zur Richtigkeit des Handelns keine schlechtere Führerin als wahre Einsicht« (Dºna %qa !kghµr pq¹r aqhºtgta pq²neyr oqd³m we¸qym Bcel½m vqom¶seyr 97b9f.).33 Liegen dem Handeln wahre Meinungen über das Gute und Gerechte zugrunde und fungieren diese als orientierende Prinzipien und Leitideen bei der Gestaltung des indiduellen und gemeinschaftlichen Lebens, so werden richtige Entscheidungen getroffen, die dem Wohl des Einzelnen und des Ganzen dienen (Men. 98b7–9, 98c8–10, 99a4f., 99c7f.). Gleichwohl kann in diesem Fall nicht von Tugend im eigentlichen Sinn gesprochen werden und zwar aus folgendem Grund: Die richtige Meinung ist mit Begründungsdefiziten verbunden, die Auswirkungen auf deren Effizienz und Konstanz haben. Die Person, die auf der Grundlage von wahren Überzeugungen agiert, vermag zwar richtig zu entscheiden und zu handeln; sie ist jedoch nicht in der Lage, die Richtigkeit des Handelns vor sich selbst und anderen hinreichend auszuweisen und zu rechtfertigen, da die als Handlungsprinzip fungierende Meinung den Status einer unbegründeten Annahme hat. Die Doxa charakterisiert Platon in diesem Zusammenhang als ein 33 Die Unterscheidung zwischen bloßer Meinung und Erkenntnis ist analog zur Annahme des Guten keine spezifisch platonische Prämisse. Darauf verweist Men. 97d, wo die allgemeine Höherbewertung der Erkenntnis gegenüber der Meinung thematisiert und damit die Unterscheidung zwischen den beiden epistemischen Zuständen als gängige Vorstellung eingeführt wird. Vgl. auch Tht. 201a–c. Wie das Richter-Beispiel aus dem Theaitetos und das Beispiel vom Weg nach Larissa (Men. 97a/b) andeuten, wird im Alltag die eigene Erfahrung der Sache als Unterscheidungskriterium zugrunde gelegt. Der spezifisch platonische Erkenntnisbegriff wird unten (Kap. B II 1d.bb) noch genauer zu erörtern sein.

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Wissen, das nicht auf begründender, nachforschender Untersuchung (aQt¸ar kocislºr 98a4)34 und der damit verbundenen Einsicht (1pist¶lg, vqºmgsir) basiert und insofern ein vorläufiges, unverstandenes Wissen ist. In Anknüpfung an die Aussage in der Apologie, dass die Dichter, Propheten und Orakelsänger »viel Schönes« sagen, aber »nichts von dem [wissen], was sie sagen« (apol. 22c) lässt Platon Sokrates in Men. 99c/d erklären, dass die über richtige Meinungen verfügenden Politiker »viel Wahres« äußern, »ohne etwas eigentlich zu wissen von dem, worüber sie reden« (lgd³m eQdºter ¨m k´cousim 99d4). Der Besitz von Meinungswissen erlaubt es der politisch agierenden Person zwar, in den verschiedenen Entscheidungssituationen und Handlungskontexten richtige Aussagen über die staatliche Gemeinschaft und die bürgerliche Tugend zu treffen. Da die Basismeinungen jedoch Hypothesencharakter haben und nicht hinterfragt und in den Prämissen durchdacht und untersucht worden sind, bewegt sich das Reden und Handeln gleichsam auf unsicherem Boden. Mit diesem Begründungsdefizit ist eine Unbeständigkeit verbunden, die in Men. 97d in mythisch-anschaulicher Form beschrieben wird. Die unbegründeten Meinungen unterliegen stets der Gefahr, ihre handlungsleitende Kraft zu verlieren und wie die Bildwerke des Daidalos davonzufliegen: »weil auch diese [sc. die Werke des Daidalos], wenn sie nicht gebunden sind, davongehen und fliehen […]. Denn auch die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen« (Men. 97d9–98a3). Die unbegründeten Meinungen sind in der Seele nicht wirklich verankert, nicht ›festgebunden‹. Die Person bleibt daher in hohem Maße anfällig für fragwürdige Antriebe und Neigungen, die schnell handlungsbestimmende Kraft gewinnen können. Aufgrund der Leistungsdefizite der richtigen Meinung wird die mit ihr verbundene Tugend am Ende des Dialogs in ihrem Seinsgrad eingeschränkt und als Schatten (sji² Men. 100a6f)35 der Bestheit bezeichnet. Gäbe es einen Staats34 Bei der Auslegung des begründenden Denkens (aQt¸ar kocislºr) kann man sich zum einen an Men. 85c/d orientieren, wo der Erkenntnisgewinn an den Prozess des philosophischen Gesprächs gebunden wird. Zum anderen aber ist die im Dialog vorgeführte prüfende Dialektik zu beachten, die in Men. 86c als positives Verfahren kenntlich gemacht wird: »Da wir nun einig darüber sind, daß gesucht werden muß, was jemand noch nicht weiß, willst du, daß wir miteinander unternehmen zu suchen, was wohl die Tugend ist?« Das ist als Aufforderung zur Fortführung des zu Beginn geführten (71e–79b) prüfenden Gesprächs über die Tugend zu verstehen, die freilich von Menon abgewehrt wird (86c9–87c). 35 Vgl. auch Phaid. 69b6f. Dort ist vom Schattenbild (sjiacqav¸a) der Tugend die Rede. Mit dem Ausdruck sjiacqav¸a ist hier der Aspekt der Illusion, des Truges, der Täuschung angesprochen. Die Unterscheidung zwischen den Schatten der Tugend und der wahren Tugend findet sich auch im Höhlengleichnis der Politeia. Vgl. insbes. rep. 517d/e. Der im Menon formulierte Gedanke, dass sich die in richtiger Meinung (aqhµ dºna, !kghµr dºna)

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Selbsterkenntnis bei Platon

mann, der aus Vernunfteinsicht handelte, so verhielte sich seine Tugend gegenüber der meinungsbasierten Tugend wie ein wirkliches Ding zu dessen Schatten (Men. 100a). Aus den im Menon enthaltenen Erörterungen lassen sich einige Rückschlüsse auf die Erkenntnis des Nichtwissens ziehen. Die platonischen Überlegungen an dieser Stelle36 verweisen darauf, dass die Einsicht in das Nichtwissen das Bewusstsein der Grenzen des Meinungswissens einschließt. Worauf die Selbsterkenntnis zielt, ist offenbar nicht die simple Einsicht, über kein oder ein quantitativ unzureichendes Wissen über die Tugend und das Gute zu verfügen. Vielmehr soll die Erfahrung gewonnen werden, dass das vorhandene Meinungswissen nicht expliziert und argumentativ verteidigt werden kann und Defizite hinsichtlich des Verständnisses des richtig Gewussten bestehen. Greift man die Formulierungen aus der Apologie (23a) und dem Menon (98a) auf, so besteht die Selbsterkenntnis in der Einsicht, dass die als Basis der Handlungsvollzüge fungierenden Meinungen entweder gar keinen Wert (!n¸a) besitzen, weil sie nämlich falsch sind, oder einen nur geringen Wert haben, weil sie zwar richtig, aber unbegründet sind. In diesem Sinn lässt Platon in der Apologie Sokrates den Orakelspruch deuten: »Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts (fti B !mhqyp¸mg sov¸a ak¸cou tim¹r !n¸a 1st·m ja· oqdemºr)« (23a5–7; Hervorhebung B.F.). Gemeint ist hier der Wert der im Dialog geprüften Tugendüberzeugungen. Von erheblicher Bedeutung für das Verständnis der Selbsterkenntnis ist jedoch noch ein anderer Aspekt. Aus der im Menon angestellten Überlegung, dass Vernunftdefizite unmittelbare Auswirkungen auf die Verfasstheit der seelischen Kräfte und den Seinsgrad der Tugend haben, ist der Schluss zu ziehen, dass die von Platon gemeinte Selbsterkenntnis nicht nur eine Einsicht in epistemische Unzulänglichkeiten, sondern immer zugleich eine Erkenntnis der eigenen Tugenddefizite darstellt. Bleibt man in der Metaphorik des Menon, die in späteren Dialogen wiederholt aufgegriffen wird, so lässt sich die Selbsterkenntnis als Einsicht in die Schattenhaftigkeit der in den verschiedenen Lebensbereichen verwirklichten ethischen Qualitäten umschreiben. Mit der in der Selbstprüfung gewonnenen Erfahrung der unzureichenden Fähigkeit zur Rechenschaftgabe (kºcom didºmai) ist das Bewusstsein verbunden, dass nicht nur das geprüfte Meinungswissen, sondern auch die darauf basierenden Tugenden die Merkmale

gründende Tugend gegenüber der vernunftgeleiteten Tugend wie ein Schatten gegenüber einem wirklichen Ding verhält (100a6–7), wird an dieser Stelle wieder aufgegriffen. 36 Vgl. auch apol. 22b/c. Dort wird im Rahmen der Darstellung von Sokrates’ Prüfung der Dichter die Unterscheidung zwischen unbegründeten richtigen Aussagen über das Schöne und der mit der Fähigkeit zur Rechenschaftgabe verbundenen Weisheit (sov¸a) getroffen.

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der Ungesichertheit, Unbeständigkeit, Vorläufigkeit aufweisen und damit den Status von ›Schattentugenden‹ haben. dd)

Vergleich mit der apollinischen Selbstbesinnung

Da die Untersuchung das Ziel verfolgt, die Selbsterkenntnis bei Platon vor dem Hintergrund der in Dichtung und Historiographie greifbaren vorphilosophischen Konzeption der Selbstbesinnung zu deuten, sollen abschließend einige Bezüge zur apollinischen Selbsterkenntnis hergestellt werden. Die von Platon im Menon und anderen Dialogen verwendete Schatten-Metapher erinnert an die Darstellung der Identitätsproblematik in der griechischen Dichtung und deutet zunächst auf eine gewisse Kontinuität hin. Wie oben aufgezeigt, hat die archaisch-klassische Dichtung im Kontext der Thematisierung der menschlichen Selbstbesinnung verstärkt mit Traum- und Schatten-Metaphern gearbeitet. In Anknüpfung an die homerische Metaphorik, insbesondere an Od. 11, 207 und 222, wurde die Flüchtigkeit und Wechselhaftigkeit der menschlichen Existenz mit den Ausdrücken eUdykom und sji² bezeichnet. Besonders einprägsam und ausdrucksstark sind in diesem Zusammenhang die sophokleischen Verse: »Seh ich doch, wie wir alle, die wir leben, /Nichts anderes sind als Scheinbilder und leichter Schatten (bq_ c±q Bl÷r oqd³m emtar %kko pkµm/ eUdyk( fsoipeq f_lem C jo¼vgm sji²m)« (Soph. Ai. 125f.; Übers. W. Schadewaldt). In Pindars achter Pythie heißt es ähnlich: »Eintagswesen! Was ist einer, was ist einer nicht?37/ Eines Schattens Traum ist der Mensch (1p²leqoi7 t¸ d´ tir; t¸ d( ou tir; sji÷r emaq / %mhqypor)« (Pind. P. 8, 95f.; Übers. E. Dönt). Greift man diese metaphorische Sprache auf, so lässt sich die apollinische Selbsterkenntnis als Einsicht in die Schattenhaftigkeit des menschlichen Seins umschreiben. Platon knüpft erkennbar an diese Tradition an. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er sich ebenfalls auf Homer bezieht: Gäbe es einen Staatsmann mit Vernunfteinsicht, so führt Sokrates im Menon aus, »den möchte man fast als einen solchen unter den Lebenden beschreiben wie Homeros sagt, daß Teiresias unter den Toten sei, daß er allein wahrnimmt, denn andere sind flatternde Schatten (fti oWor p´pmutai t_m 1m G Aidou, to· d³ sjia· !ýssousi)« (Men. 100a3– 6; Hervorhebung im Original). Platon zitiert an dieser Stelle Od. 10, 494f.: »Ihm [sc. Teireisias] nur verlieh, noch im Tode, Persephoneia Bewußtsein/ wie auch Vernunft; die anderen Toten schweben als Schatten« (Übers. D. Ebener). Bezieht man die Menon-Stelle auf die im Tugenddialog intendierte Selbsterkenntnis, so könnte man diese ganz ähnlich umschreiben wie die apollinische Selbstbesinnung, nämlich als Einsicht in die Schattenhaftigkeit des menschlichen Seins. Die 37 Zu den verschiedenen Übersetzungsvarianten dieses Verses siehe oben Kap. A II 2b.

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gemeinte Erkenntnis scheint in ähnlicher Weise auf ein Seinsdefizit zu verweisen und den individuellen Lebensvollzug als Schattenbild einer als Ideal angesetzten vollkommenen Existenz bewusst machen zu wollen. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch bei aller erkennbaren Anknüpfung an traditionelle Denkmuster erhebliche Differenzen. Zunächst lassen sich Unterschiede im Anwendungsbereich der SchattenMetapher beobachten. Die Ausdrücke ›Schatten‹ und ›Schattenbild‹ werden bei Platon nicht undifferenziert auf alle Identitätsbereiche oder auf das Ganze der menschlichen Existenz bezogen, sondern primär auf die seelische Verfasstheit und die damit verbundenen Handlungsvollzüge. Eine zweite Differenz besteht in der Bedeutungserweiterung der Schatten-Metapher. Mit dem Ausdruck sji² ist bei Platon nicht nur der Vergänglichkeitsaspekt gemeint, also die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit der Tugend38, sondern auch ein qualitatives Moment. Eine Tugend, die auf ungeprüften, unbegründeten Wertüberzeugungen basiert, bezeichnet noch nicht die Bestform der seelischen Kräfte und ist allenfalls als vorläufige Ausprägung oder als Präformation der Tugend anzusehen.39 Das ist eine entscheidende Transformation der vorphilosophischen Reflexion, die sich bei der These von der Nichtigkeit der menschlichen Exzellenz ausschließlich auf den Instabilitätsaspekt bezogen und die Bestheit der in den verschiedenen Lebensbereichen realisierten Tüchtigkeit unhinterfragt zugrunde gelegt hat. Das wird im sophokleischen Aias besonders deutlich. Die vom Schicksal des Aias ausgelöste Selbsterkenntnis des Odysseus (Ai. 121–126) beinhaltet keinen Zweifel an der Qualität der von Aias im Krieg verwirklichten Tugend. Im Gegenteil – diese wird noch einmal ausdrücklich bestätigt. »Ich wüßte keinen« (1c½ l³m oqd´m( oWd( Ai. 121), antwortet Odysseus auf Athenas Frage, ob er jemanden nennen könne, der Aias an Tüchtigkeit übertroffen habe. Odysseus’ Einsicht besteht ausschließlich darin, dass die menschliche Exzellenz kein unzerstörbares, dauerhaftes Sein bezeichnet und durch Eingriffe der Götter, Unglücksfälle, Krankheiten und letztlich durch den Tod verloren gehen kann. Mit der skizzierten Bedeutungserweiterung eng verbunden ist eine dritte Differenz: die Modifikation hinsichtlich der Begründungsfragen und des kausalen Aspekts. Die Flüchtigkeit und Instabilität der Tugend ist nach Platon zwar auch konditionsbedingt, wie die Thematisierung der Vergänglichkeit alles Sterblichen im Symposion (207c–208b) erkennen lässt. Im Rahmen der Tugenderörterung wird jedoch stets der Faktor der Selbstverantwortung der individuellen Person betont. Platon führt das ›Schattenhafte‹ der Tugend primär auf die in eigener Verantwortung stehenden Vernunftdefizite zurück, die in einem langwierigen und mühevollen Bildungs- und Aufstiegsprozess nach 38 Vgl. Men. 97dff. und rep. 430b. 39 Vgl. Men. 88b/c u. 100a; rep. 517d/e; Phaid. 69b; polit. 306a–309e; leg. 653a/b.

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Möglichkeit zu überwinden sind. Durch den Verweis auf die zu erwerbende Vernunfteinsicht wird ein Weg zur Transformation des Schattendaseins und die Möglichkeit einer graduellen Seinssteigerung eröffnet. Eine letzte Differenz zur traditionellen Selbstbesinnung besteht schließlich in der bereits angesprochenen Modifikation des Maßstabes und Orientierungspunktes. Die Schattenhaftigkeit der Tugend wird bei Platon nicht im Hinblick auf die Vollkommenheit der Götter oder auf der Grundlage eines vorausgesetzten Ideals menschlicher Vollkommenheit erkannt, sondern in der dialektischen Prüfung der Wertvorstellungen. Das Seinsdefizit zeigt sich an der Widersprüchlichkeit und Inkohärenz der Vorstellungen sowie am Unvermögen, die Wahrheit einer ethischen Aussage auszuweisen und zu rechtfertigen.

b)

Flucht und Selbsttäuschung – die Schwierigkeit der Selbsterkenntnis

Jeder sokratische Dialog zeigt, dass die Selbsterkenntnis notwendig und im Sinn der Erfüllung der eigenen Glücksansprüche auch wünschenswert ist. Zugleich wird jedoch deutlich, dass ein Erwerb dieser Einsicht erhebliche Schwierigkeiten in sich birgt, die weniger intellektuell als vielmehr charakterlich begründet sind. Platon führt in den Dialogen mit den Mitteln der dramatischen Gestaltung anschaulich vor, welche Fluchtwege beschritten werden, um dem Eingeständnis der eigenen Defizite und den entsprechenden Konsequenzen zu entkommen, und mit welcher Kreativität und Beharrlichkeit dabei vorgegangen wird. Es werden Typen der Flucht dargestellt, die sich bezüglich des Modus und des Grades der Abwehr voneinander unterscheiden, hinsichtlich der Intention jedoch Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Spannbreite der von Platon aufgezeigten Möglichkeiten reicht vom physischen Sich-Entfernen und einer von Selbsttäuschung bestimmten vordergründigen Auslegung des Mangels über Ablenkungsstrategien bis hin zu einer mit verbalen Angriffen und Bedrohungen verbundenen Beschuldigung des prüfenden Sokrates. Diese unterschiedlichen Abwehrvarianten sollen im Folgenden auf der Grundlage der Tugenddialoge exemplarisch dargestellt werden. aa)

Physisches Sich-Entfernen (Politeia I, Euthyphron)

Die vielleicht harmloseste Variante einer Flucht vor der Selbsterkenntnis besteht darin, die Gesprächssituation zu beenden und einfach fortzugehen. Diese Form des Ausweichens wird von Platon am Beispiel der Figur des alten Kephalos (Politeia I) und des Sehers Euthyphron im gleichnamigen Dialog vorgeführt. Beide lassen sich nach einer anfänglichen Unterhaltung über die sie bewegenden Lebensfragen auf das prüfende Gespräch ein – im Fall des Euthyphron findet

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Selbsterkenntnis bei Platon

sogar ein längeres Gespräch über die Frömmigkeit statt. Dieses stille, unausgesprochene Einverständnis mit der dialektischen Unterredung wird jedoch im Verlauf des Gesprächs wieder zurückgenommen. Sowohl Kephalos als auch Euthyphron entziehen sich einer weiteren Prüfung durch ein schnelles und entschiedenes Fortgehen. Kephalos ergreift die erste, sich bietende Gelegenheit, um sich aus dem Prüfungsgespräch zurückzuziehen: Nachdem die Problematik seines an äußeren Handlungsmustern orientiertem Gerechtigkeitsverständnisses von Sokrates aufgezeigt worden ist und sich Polemarchos in apologetischer Absicht ins Gespräch eingemischt hat, entfernt er sich mit dem Verweis auf dringend zu erledigende Opferhandlungen: »jedoch übergebe ich euch nun die Rede, denn ich muß jetzt für die heiligen Dinge Sorge tragen« (rep. I 331d). Das Fortgehen des Euthyphron gestaltet Platon in ähnlicher Weise. Allerdings erfolgt es hier sehr viel abrupter. Das Sich-Entfernen des Sehers gleicht einem Konventionsbruch und grenzt an schiere Unhöflichkeit. Nachdem etliche Definitionen gescheitert sind, setzt Sokrates zu einem Neubeginn des Gesprächs an: »Von Anfang an (1n !qw/r) also müssen wir noch einmal erwägen, was denn das Fromme ist (t¸ 1sti t¹ fsiom). Denn ich werde, ehe ich es erfahre, nicht gutwillig abziehen. Aber behandle mich nicht so geringschätzig, sondern nimm deinen Verstand recht zusammen und sage mir endlich die Wahrheit« (Euthyphr. 15c11–d2). Diese auffallend energische und dezidierte Aufforderung wird mit dem Verweis auf den zu Beginn des Gesprächs erhobenen Weisheitsanspruch des Euthyphron begründet: »Denn wissen mußt du es […]. Denn kenntest du nicht ganz bestimmt das Fromme und das Ruchlose (tº fsiom ja· t¹ !mºsiom), so hättest du auf keine Weise unternommen, um eines Tagelöhners willen einen betagten Vater des Totschlags zu verklagen« (15d9). Euthyphron hatte am Anfang der Unterredung von einer beabsichtigten, aber in seiner Familie umstrittenen Klage gegen den eigenen Vater berichtet und in diesem Zusammenhang zum Zweck der Selbstrechtfertigung gegenüber den verständnislosen Angehörigen ein überlegenes theologisches Wissen vom Göttlichen und dem von den Göttern gebotenen frommen Verhalten in Anspruch genommen (vgl. Euthyph. 4e–5a). In der zitierten Passage konfrontiert Sokrates den Seher mit dessen anfänglich artikuliertem Selbstverständnis und versucht ihn auf diese Weise an das Gespräch zu binden. Auf den Vorschlag, in der Untersuchung noch einmal neu anzusetzen, sowie auf die direkte Aufforderung: »Sage daher, bester Euthyphron, und verbirg nicht, was du dafür [sc. das Fromme] hältst« (15e), reagiert dieser allerdings mit einer jähen und überstürzten Beendigung des Gesprächs: »Ein anderes Mal denn, o Sokrates; denn jetzt eile ich wohin, und es ist Zeit, daß ich gehe« (15e). Dass dies keine schlichte Ausrede ist, wird durch die anfängliche Schilderung der Gesprächssituation nahegelegt: Euthyphron war, als er auf Sokrates traf, auf dem Weg zum Gericht, um dort die Klage gegen

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den Vater einzureichen (Euthyphr. 2a). Dennoch lässt sich der Eindruck einer Flucht kaum vermeiden. Die Schilderung der Art und Weise dieses Gesprächsendes suggeriert, dass hier keine souveräne Vertagung der Unterredung stattfindet, sondern eher ein eiliges Davonlaufen erfolgt, das freilich von einem unversöhnlichen Auseinandergehen im Streit weit entfernt ist. Analog zum Kephalos-Gespräch gestaltet Platon hier keinen affektiven Gesprächsabbruch, also kein Fortgehen, das von starken negativen Emotionen wie Groll, Empörung, Hass begleitet wird. Es ist eher ein Sich-Entfernen aus einem leisen, aber doch deutlichen Unbehagen heraus, das unausgesprochen bleibt und die grundsätzlich wohlwollende Einstellung gegenüber Sokrates nicht eigentlich tangiert. Vergleicht man die charakterliche und intellektuelle Zeichnung der beiden Figuren, so lassen sich viele Ähnlichkeiten entdecken, die auf einen bestimmten Typus als Grundmuster der Darstellung verweisen. Die Figuren des Kephalos und des Euthyphron exemplifizieren den Typus des wertorientierten Traditionalisten, der sich im Handeln an den Prinzipien des Maßes, des Rechts und der Frömmigkeit orientiert (rep. I 329a–331b; Euthyphr. 4b–e).40 Die als Grundeinstellung fungierende Mäßigkeit ist mit einer ausgeprägten Gemeinschaftsorientierung verbunden und wird zuletzt in einen Horizont des Göttlichen gestellt (rep. I 330d–331b; Euthyphr. 4c und e). 40 Kephalos wird bei Platon als reicher Metöke dargestellt, der das Erwerbsleben und den materiellen Wohlstand schätzt, aber für eine Haltung der Mäßigkeit plädiert (rep. I 329d). Der maßvolle Charakter wird dabei mit einer Frömmigkeit verbunden, die sich an der herkömmlichen Göttervorstellung (rep. I 330d–331b) und an den üblichen Kultpraktiken (rep. I 331b2f., 331d7) orientiert und in einer Jenseitshoffnung kulminiert (rep. I 331a). Um diese Traditionalität zu untermauern lässt Platon in die Selbstdarstellung des Kephalos affirmative Bezüge zu dichterischen Autoritäten einfließen. In rep. I 329b/c und 331a werden Sophokles und Pindar zitiert, die, wie oben ausgeführt, eine Ethik des Maßes vertreten und an der herkömmlichen Religion orientiert sind. Zu Kephalos bei Platon vgl. Annas (1991, 18– 24) und Nails (2002, 84f.). Hinsichtlich der Figur des Euthyphron scheint die Einordnung in diese Linie nicht ganz so eindeutig zu sein. In der Forschung ist umstritten, ob diese Figur als Traditionalist oder als Neuerer in religiösen Dingen (vgl. z. B. Klonoski 1984, 132f. und Dorion 1997, 179–185) anzusehen ist. Erler (2007a, 129) beobachtet eine Tendenz zur ersteren Annahme, »wonach Euthyphron traditionell orthodoxe Positionen verkörpert«. Für diese These spricht die Passage Euthyphr. 5e–6c. Der Seher beruft sich dort auf den überlieferten Zeus-Mythos (5ef.), den er ausdrücklich für wahr hält (6b5f.), und bekennt sich zu der bei Homer und Hesiod dargestellten Götterauffassung (6c5). Die Aussage, dass er noch erstaunlichere Dinge von den Göttern erzählen könne (6b5, 6c5–7), ist weniger als Hinweis auf religiöse Innovationen zu deuten, sondern eher als Anspruch auf ein weiteres Wissen, das mit der epischen Götterdarstellung kompatibel ist und diese ergänzt. Die Figur des Euthyphron repräsentiert eine religiöse Position, die nicht mit der zeitgenössischen Popularreligion zu identifizieren ist (so auch Erler 2007a, 129). Die Spannung zur populären Religion mag den Satz aus der Eingangspassage, dass der Seher mit seinen Reden und Prophetien bei der Menge nur Spott erntet (3c), erklären. Man kann diese Aussage darüber hinaus mit der durch die Aufklärungsbewegung des 5. Jh. v. Chr. vorangetriebenen religiösen Skepsis in Zusammenhang bringen (Spielzeit des Dialogs ist 399 v. Chr.).

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Selbsterkenntnis bei Platon

Das von Platon gestaltete Gesprächsverhalten dieses Typus spiegelt ein bestimmtes Selbstverhältnis wider, das Aufschluss über das Verständnis und den Umgang mit der Selbsterkenntnis gibt. Sowohl Kephalos als auch Euthyphron werden als Figuren geschildert, die das Gespräch mit Sokrates suchen und begrüßen und dabei von der Annahme einer gemeinsamen Wertbasis ausgehen, also in Sokrates die Verkörperung jener traditionellen Werte sehen, die sie dem eigenen Handeln zugrunde legen. Platon lässt Kephalos die Gesprächsbereitschaft explizit aussprechen. Nachdem Sokrates und Glaukon, der Einladung des Polemarchos folgend, im Haus des Kephalos eingetroffen sind, wird Sokrates von diesem mit folgenden Worten begrüßt: O Sokrates, du kommst auch gar nicht fleißig zu uns herunter in den Peiraieus. Du solltest aber doch. Denn wenn ich noch genug bei Kräften wäre, um leicht nach der Stadt zu gehen, so hättest du nicht nötig, hierher zu kommen, sondern wir kämen zu dir. Nun aber solltest du häufiger hierherkommen. Denn wisse nur, je mehr die anderen Vergnügungen, die vom Leibe herrühren, für mich welk werden, um desto mehr wachsen mir Freude und Lust an Reden (peq· to»r kºcour). (rep. I 328c7–d7)

Im Euthyphron wird zwar die Gesprächsbereitschaft nicht in derselben direkten Weise signalisiert. Das Gesprächsinteresse des Sehers wird jedoch dadurch angedeutet, dass dieser die Unterredung eröffnet und durch seine eingehenden Nachfragen bezüglich der Staatsklage gegen Sokrates die Unterhaltung über einen kurzen Wortwechsel hinaus ausweitet. Sowohl das Kephalos-Gespräch als auch die Eingangspassage des Euthyphron lassen jedoch erkennen, dass hier eine bestimmte Art der Unterredung gesucht wird. Das von den beiden Personen erwünschte und intendierte Gespräch ist nicht die prüfende, wahrheitsorientierte Kommunikation, die Sokrates im Blick hat, sondern ein Austausch über die konkreten Lebensfragen auf der Basis eines gemeinsamen Wertesystems. Es geht hier eher um eine Selbstreflexion, die sich der Richtigkeit des eigenen Lebensvollzugs und der aktuellen Handlungsentscheidungen zu vergewissern sucht. Sokrates’ anfängliche Frage nach dem Problem des Alterns (rep. I 328e) ist für Kephalos Anlass, umfassend auf sein Leben zu reflektieren. In kritischer Absetzung von seinen Altersgenossen artikuliert er seine Lebensweise der Mäßigkeit (rep. I 329d) und bewertet diese mit Hinweis auf die stabile, ruhige Seelenverfassung und die Jenseitshoffnung als richtig (rep. I 330d–331b). In ähnlicher Weise begreift Euthyphron das Gespräch mit Sokrates als Forum der Selbstvergewisserung, die – herausgefordert durch äußere Widerstände und konträre Meinungen – das eigene Tun als richtig zu erweisen sucht. In vermeintlicher Nähe zu Sokrates rechtfertigt Euthyphron zu Beginn der Unterredung sein theologisches Wissen von den göttlichen Dingen gegen den Spott der Menge mit dem Verweis auf das Eintreffen der von ihm bekundeten Prophezeiungen (Euthyphr. 3b/c). Darüber hinaus versucht er sich

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der Richtigkeit der beabsichtigten Klage gegen den Vater dadurch zu vergewissern, dass er die Kritik der Angehörigen mit deren Unwissenheit in göttlichen Dingen erklärt und als Grund seiner Entscheidung ein überlegenes Wissen vom Numinosen und dem von den Göttern gebotenen Verhalten geltend macht (Euthyphr. 4e–5a). Diese Art von Selbstreflexion spiegelt eine in der Tradition ruhende, religiös fundierte Selbstgewissheit wider, die zwar durch andere Lebensmodelle zur Rechtfertigung herausgefordert wird, aber kaum einen ernsthaften Selbstzweifel oder eine verstörende, beunruhigende Begründungsfrage aufkommen lässt. Es ist ein Denken, das sich im festen Glauben an die alten Werte gleichsam eingerichtet hat und dadurch zwar eine relative Stabilität besitzt, aber zugleich auch durch eine gewisse Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit charakterisiert ist.41 Beide Figuren zeichnet eine geistige Trägheit aus, die ein Infragestellen und kritisches Durchdenken der Wertvorstellungen verhindert. Selbsterkenntnis bedeutet in der Perspektive dieses Denkens eine Reflexion der eigenen Lebensweise, die auf eine Versicherung der Richtigkeit des eigenen Urteilens und Handelns zielt. Diese Form der Selbstreflexion verweist zwar auf die Intention einer bewussten, reflektierten Lebensführung und transzendiert als solche eine vom bloßen Objektbewusstsein bestimmte Lebensweise. Von der im Tugenddialog intendierten Selbsterkenntnis ist sie jedoch weit entfernt. bb)

Äußere Verortung der Defizite (Laches)

Eine zweite Variante der Flucht vor der Selbsterkenntnis besteht in der Beschränkung der Einsicht auf bestimmte Unzulänglichkeiten, die auf äußeren Ebenen der Personalität angesiedelt sind oder besondere Techniken und Fertigkeiten betreffen, die für die Bewältigung der Lebensaufgaben durchaus wichtig sind, aber nicht den eigentlichen Gegenstand der Prüfung bezeichnen. Im Gegensatz zur vorherigen Variante erreicht hier die Person zwar eine gewisse Form der Einsicht in das Nichtwissen; durch die Verortung des Mangels auf äußeren Identitätsebenen wird jedoch eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigentlichen Defiziten vermieden und der Innenbereich der Persönlichkeit sowie das darauf bezogene Selbstverständnis vor einer Infragestellung geschützt. Im Eingeständnis des Nichtwissens findet hier eine Abwehr der Selbsterkenntnis statt. Als Exemplifizierungen dieses Fluchttypus können die im Dialog über die Tapferkeit auftretenden Figuren Laches und Nikias angesehen werden. Die beiden Gesprächsakteure werden von Platon als intellektuell interessierte, teilweise sophistisch geschulte Praktiker dargestellt, die hochrangige Ämter im 41 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ross-Metapher in apol. 30e.

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Selbsterkenntnis bei Platon

militärischen Bereich bekleiden und die Werte der bürgerlichen Gesellschaft vertreten. Auch hier arbeitet Platon in seiner Gestaltung die positive Einstellung gegenüber Sokrates heraus. Beide Personen wähnen sich in ihrem Denken und Handeln in Übereinstimmung mit Sokrates und artikulieren auf der Basis dieser Überzeugung wiederholt ihre Anerkennung und ihre Wertschätzung (Lach. 180c–181b, 187e–189b). An der Reaktion auf die Prüfungsresultate wird freilich deutlich, dass bei allen Gemeinsamkeiten doch erhebliche Unterschiede zwischen dem philosophischen, begründungsorientierten Denken des Sokrates und der auf Annahmen basierenden Phronesis der beiden Militärs bestehen. Laches, der zunächst als Gesprächspartner agiert, reagiert auf die Prüfung mit einer Metareflexion, die den Gehalt und die Grenzen seiner Selbsterkenntnis erkennen lässt. Nachdem sämtliche von ihm eingebrachten Tapferkeitsdefinitionen gescheitert sind und die Problematik der als Tugend gesetzten natürlichen Kühnheit sowie die Verständnisdefizite bezüglich der handlungsleitenden Vernunft offenbar geworden sind, versucht Laches in einer Selbstreflexion das negative Prüfungsresultat analytisch zu verarbeiten und mit seinem Selbstbild in Einklang zu bringen. Auf Sokrates’ Aufforderung, in der Suche nach der Tapferkeit zu beharren und das Gespräch fortzusetzen, gibt er folgende Antwort: Ich wenigstens bin bereit, o Sokrates, nicht eher abzulassen, obschon ich ungewohnt bin solcher Reden. Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte, und ich bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe, so gar nicht imstande bin zu sagen (eQ ortys· $ mo_ lµ oWºr t( eQl· eQpe?m). Denn in Gedanken glaube ich es doch zu haben, was die Tapferkeit ist (moe?m l³m c±q 5loice doj_ peq· !mdqe¸ar f ti 5stim); ich weiß aber nicht, wie sie mir jetzt entgangen ist, daß ich sie nicht ergreifen konnte in der Rede und heraussagen, was sie ist (¦ste lµ nukkabe?m t` kºc\ aqtµm ja· eQpe?m f ti 5stim). (Lach. 194a6–b4)

Diese in der jüngeren Platonforschung stark beachtete Passage ist weniger im Sinn einer platonischen Reflexion auf die Unsagbarkeit und Nichtmitteilbarkeit der gesuchten Sache zu deuten42, sondern eher als Darstellung einer begrenzten Selbsterkenntnis anzusehen. Hier wird eine Ursachenanalyse vorgeführt, die nach Gründen für das Scheitern sucht, aber nicht zum eigentlichen Problem vordringt. Laches erkennt zwar an, dass das Scheitern seiner Bestimmungen in der eigenen Unzulänglichkeit begründet ist und nicht dem prüfenden Sokrates angelastet werden kann. Er übernimmt insofern die Verantwortung für das Untersuchungsresultat. Indem er jedoch den in der Prüfung offenbar gewordenen Mangel ausschließlich auf der Ebene des Logos verortet, unterbindet er die Auseinandersetzung mit Defiziten auf der Verstehens- und Seinsebene und versucht, sein Selbstverständnis als Fachmann und bewährter Praktiker der Tapferkeit zu bewahren. In seiner Metareflexion trifft Laches die Aussage, dass er 42 So z. B. Wieland (1996).

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zwar die Tapferkeit geistig vor sich sieht, dass er die Sache in Gedanken hat und versteht (moe?m), aber nicht sagen, mitteilen, aussprechen (eQpe?m) kann, was sie ist. Laches gesteht hier Unvollkommenheiten des logisch-begrifflichen Vermögens ein, die er auf mangelnde Übung zurückführt (»obschon ich ungewohnt bin solcher Reden« ja¸toi !¶hgr c( eQl· t_m toio¼tym kºcym Lach. 194a7). Wie den Aussagen zu Beginn des Gesprächs (188c–189b) zu entnehmen ist, betrachtet der Militär die Fähigkeit zur begrifflichen Reflexion als Verstandesleistung, die zwar für die Entfaltung des eigenen Selbstwissens und die soziale Verständigung wertvoll ist, aber gegenüber der praktischen Kompetenz einen nachgeordneten Stellenwert besitzt. Entscheidend ist für Laches, dass die Tugend in der Praxis bewährt und ausgewiesen wird und in Form eines unmittelbaren Verstehens im Bewusstsein präsent ist. Die Transformation dieses Basiswissens in ein reflektiertes, begriffliches Aussagewissen betrachtet er demgegenüber als sekundäre Fähigkeit. Vor diesem Hintergrund erscheint seine am Ende der Untersuchung erlangte Selbsterkenntnis als Eingeständnis eines zweitrangigen Defizits, das mit einer Behauptung der eigentlichen Sachkompetenz einhergeht: Über den Logos verfügt er zwar nicht, aber den Nous (Lach. 194b1), auf den es doch eigentlich ankommt, besitzt er durchaus. Durch indirekte Mitteilung gibt Platon dem Leser zu verstehen, dass Laches einer Selbsttäuschung erliegt. Die elenktische Argumentation des Sokrates offenbart, dass sich Selbsteinschätzung und Faktizität konträr zueinander verhalten: Laches besitzt zwar den Logos, am Nous hingegen leidet er Mangel. Der Militär scheitert nicht aus dem Grund, weil ihm das Wissen fehlt, sondern weil der ins Gespräch eingebrachte richtige Logos nicht in einem ausweisbaren Sachverständnis gründet und von daher nicht expliziert und verteidigt werden kann. Wie sich in der Untersuchung zeigt, vermag Laches die Bestimmung der Tapferkeit als eine mit Phronesis verbundene Beharrlichkeit (Lach. 192d11) deswegen nicht zu halten, weil sich die zunächst thematisierte technische Kompetenz und instrumentelle Vernunft, die ihm aus den Handlungskontexten und der Erfahrung vertraut sind, in axiologischer und tugendbegründender Hinsicht als unzureichend erweisen (192e–193c) und er darüber hinaus keine andere Form von Phronesis noetisch präsent hat. Im Nikias-Gespräch führt Platon eine Wiederholung dieser Art von selbstverkennender Selbsterkenntnis vor, auch wenn sie aus dem Mund des argumentativ und sophistisch geschulteren Nikias weniger naiv klingt. Nachdem Nikias in der Untersuchung gescheitert ist, rechtfertigt er sich gegenüber dem stichelnden Laches mit folgenden Worten: Für mich aber meine ich, worüber wir sprachen, jetzt angemessen gesprochen zu haben (1pieij_r eQq/shai), und sollte etwas nicht hinreichend gesagt sein, dann es später zu berichtigen mit Damon […] und auch mit anderen. Und sobald ich es fest-

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Selbsterkenntnis bei Platon

gemacht habe (ja· 1peid±m bebai¾sylai aqt²), werde ich es auch dich lehren und es dir nicht vorenthalten […]. (Lach. 200b3–7; Übers. R. Schrastetter)

Der Reflexion auf das Nichtwissen wird hier zunächst eine positive Bilanzierung der eigenen argumentativen Leistungen und des Wissensstandes vorangestellt, die das nachfolgende Eingeständnis von epistemischen Defiziten von vornherein abmildert. Die Unzulänglichkeit, die er nach diesem positiven Selbsturteil eingesteht, ist auf der Ebene der logisch-begrifflichen Präsentation der Sache angesiedelt. Die von Nikias eingestandenen Defizite bestehen zum einen in einem Mangel an begrifflicher Präzision und Differenzierung – darauf deutet der Verweis auf Damon hin – und zum anderen in der ungenügenden argumentativen Begründung der von ihm gemeinten vernunftbestimmten Tapferkeit – darauf verweist die Bemerkung über die noch fehlende Befestigung und Absicherung des Gesagten (Lach. 200b7). Hier werden also durchaus Begründungsdefizite erkannt, allerdings beschränken sich diese auf die Ebene der argumentativen Rechtfertigung und berühren nicht die Vorstellung selbst, die doch im Gespräch in ihrer inneren Problematik aufgezeigt worden war (Lach. 198a–199e). Die Diskrepanz zwischen erkannter Unzulänglichkeit und faktischem Defizit bleibt auch hier unthematisch und wird dem Leser nur indirekt mitgeteilt. Durch die Darstellung der auf das Verständnis der Vernunft zielenden sokratischen Argumentation (194c–197d) macht Platon deutlich, dass es nicht so sehr darum geht, die auf das Wissen konzentrierte Tapferkeitsvorstellung des Nikias mit noch besseren Argumenten abzusichern oder noch präziser zu beschreiben, sondern den vorausgesetzten Vernunftbegriff zu hinterfragen. In der Untersuchung sind zwar die begrenzte Leistung des güterproduzierenden technischen Verstandes und die Notwendigkeit einer übergeordneten Vernunfterkenntnis deutlich geworden (Lach. 195a–196b). Es wird jedoch an keiner Stelle angezeigt, dass Nikias dem Problem gewachsen ist und eine Vernunft geistig präsent hat, die über eine als Tugendbegründung fragwürdig bleibende güterorientierte Besitzstandswahrung und -maximierung hinausreicht.43 Indem Nikias am Ende die Bemühung um eine präzisere Beschreibung der gemeinten Tapferkeit ankündigt, offenbart er, dass er noch kein eigentliches Problembewusstsein erlangt hat. Im Grunde genommen wird hier noch einmal die selbstreflexive Aussage des Laches – über den Logos zwar noch nicht hinreichend zu verfügen, den Nous jedoch zu besitzen – wiederholt, wenn auch auf höherem Reflexionsniveau. Die von Platon im Laches vorgeführten Selbstreflexionen müssen freilich nicht in jedem Fall eine Flucht vor der Konfrontation mit dem eigenen Selbst 43 Die mit der Nikias-Figur verknüpfte praktische Vernunft dürfte jener auf Lustmaximierung und Unlustminimierung ausgerichteten Abwägung von Gütern und Übeln entsprechen, die in Prot. 353b–357e analysiert wird. Vgl. auch Phaid. 68d–69a.

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bedeuten, sondern können auch vorläufige Stufen der Einsicht in das Nichtwissen bezeichnen, die sukzessive überschritten werden. Im Fall der NikiasFigur ist solch eine Entwicklung allerdings fraglich. Vor dem eigentlichen Beginn des Sachgesprächs lässt Platon Nikias die Aussage machen, dass er mit den sokratischen Gesprächen vertraut sei und schon oft diese Unterredungen mit Sokrates geführt habe (Lach. 188a). Wie den Aussagen zu entnehmen ist, haben diese Begegnungen jedoch keinen nachhaltigen Prozess der Selbsterforschung bei ihm ausgelöst, sondern lediglich Anlass gegeben, sich einer sophistischen Schulung zu unterziehen und die argumentativen Fähigkeiten sowie das Reflexionswissen zu erweitern (Lach. 188a7–b2). Hier soll offenbar eine Figur dargestellt werden, die sich scheinbar in größter Nähe zum sokratischen Denken befindet, die jedoch in der Wissensillusion verhaftet bleibt und damit von Sokrates letztlich sehr weit entfernt ist. cc)

Ablenkungsstrategien (Menon)

Im Dialog Menon wird ein Fluchttypus dargestellt, der durch eine besondere Raffinesse und geistige Wendigkeit charakterisiert ist. Mit der Figur des Gorgias-Schülers Menon gestaltet Platon einen Gesprächsakteur aus dem sophistischen Milieu, der im Umgang mit namhaften Sophisten und im intellektuellen Disput seine Verstandesfähigkeiten ausgebildet hat und über argumentative Techniken und Redegewandtheit verfügt. Im Gespräch mit Sokrates werden diese Kompetenzen allerdings zum Zweck einer entschiedenen Abwehr der Selbsterkenntnis eingesetzt. Die realisierten Abwehrmanöver bestehen zum einen in Ablenkungsstrategien, die das sokratische Prüfungsgespräch in ein sophistisches Wissensgespräch überführen sollen, und zum anderen in der Bestreitung der Möglichkeit der philosophischen Suche. Die Unterredung beginnt mit einer Frage, die Menon an Sokrates richtet und die ihn vornehmlich zu interessieren scheint: die Frage nach dem Modus der Tugendvermittlung: »Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht gelehrt, sondern geübt? Oder ob weder angeübt noch angelernt, sondern von Natur sie den Menschen einwohnt, oder auf irgendeine andere Art?« (Men. 70a). Die fehlende Anbindung dieser Frage an ein konkretes Lebensproblem und die Benennung von verschiedenen Antwortmöglichkeiten zeigen an, dass Menon die Frage aus der aktuellen theoretischen Debatte aufgegriffen hat und die vorherrschenden Positionen gut kennt. Das intendierte Gespräch mit Sokrates ist ganz offensichtlich von der Motivation getragen, die argumentative Sicherheit in diesem Themenfeld zu demonstrieren oder zu schärfen und sich damit für künftige glanzvolle Auftritte zu üben. Sokrates lässt sich freilich auf diese Art des sophistischen Trainings nicht ein. Er führt Menons Frage umgehend auf die primäre Frage nach der Tugend selbst

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Selbsterkenntnis bei Platon

zurück und verwickelt den jungen Sophisten in ein prüfendes Gespräch. Nach dem Scheitern der ersten beiden Antworten, die das Einheitsmoment der Tugend verfehlten, versucht Sokrates die gemeinte Frage nach der Sache exemplarisch zu erläutern. An den Beispielen der Farbe und der Gestalt wird zunächst die Differenz zwischen Phänomenvielfalt und Identitätsmerkmal, Besonderem und Allgemeinem erklärt und im Anschluss daran mittels einer Definition der Gestalt anschaulich vorgeführt, welche logische Form eine Wesensbestimmung aufzuweisen hat (Men. 74b–76a). Menon lässt sich von der Definition keineswegs dazu anregen, das am Beispiel Vorgeführte auf das Tugendproblem zu übertragen und zu einem neuen Versuch anzusetzen. Er benutzt vielmehr den didaktischen Exkurs, um der Prüfung auszuweichen. Im Anschluss an die vorgetragene Gestaltdefinition stellt er unter Rekurs auf das zweite Beispiel die Frage nach der Bestimmung der Farbe (Men. 76a8). Diese Frage ist erkennbar von der Intention getragen, von der Tugendfrage abzulenken und das prüfende Gespräch in eine wissenschaftliche Belehrung (didaw¶) umzubiegen. Sokrates durchschaut das Manöver sofort (Men. 76a9–b1), nachdem er bereits zuvor Fluchttendenzen wahrgenommen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen hatte (Men. 75b). Das wiederaufgenommene prüfende Gepräch mündet nach etlichen Bestimmungsversuchen schließlich in Menons Eingeständnis des Nichtwissens, das zunächst gewisse Ähnlichkeiten mit der Selbsterkenntnis des Laches und Nikias aufweist, sich aber bei genauerer Betrachtung doch erheblich davon unterscheidet. Menon reflektiert seine Verwirrung und vergleicht sich in diesem Zusammenhang mit einer Person, die einem Zitterrochen zu nahe gekommen ist und nun Merkmale der Erstarrung aufweist: Denn in der Tat, an Seele und Leib bin ich erstarrt und weiß dir nichts zu antworten, wiewohl ich schon tausendmal über die Tugend gar vielerlei Reden (peq· !qet/r palpºkkour kºcour) gehalten habe und vor vielen und sehr gut, wie mich dünkt. Jetzt aber weiß ich überhaupt nicht einmal, was sie ist, zu sagen (mOm d³ oqd( f t¸ 1stim t¹ paq²pam 5wy eQpe?m). (Men. 80a8–b)

Analog zur Laches-Reflexion wird hier ein Versagen auf der logisch-begrifflichen Ebene eingeräumt: Menon kann nicht sagen (eQpe?m), was die Tugend ist, er kann sie nicht in einer begrifflichen Bestimmung fixieren. Dieses eingeräumte Versagen wird jedoch ausschließlich auf die aktuelle Gesprächssituation bezogen und nicht – wie im Fall des Laches – als mangelnde Ausbildung der argumentativen und begrifflich-logischen Kompetenz kenntlich gemacht. Menon verweist im Eingeständnis des Nichtwissens sofort auf seine zahlreichen Tugendvorträge und seine vielfältig bewiesene rednerische Fähigkeit und will damit andeuten, dass er ungeachtet der jetzigen Verwirrung sehr wohl in der Lage ist, die Tugendproblematik in der Form eines theoretischen Wissens

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überzeugend darzustellen. Die von Laches und Nikias ergriffene Möglichkeit, das negative Prüfungsresultat mit Unzulänglichkeiten auf der Ebene der logischen Kompetenzen und des Reflexionswissens zu erklären, ist dem Sophisten Menon aufgrund seines Selbstanspruchs versperrt. Im Gegensatz zu Nikias und Laches, die ihre eigentlichen Fähigkeiten im praktischen Bereich sehen, basiert der Selbstbegriff des Menon primär auf seinen argumentativen und rhetorischen Fähigkeiten. Das im Gespräch mit Sokrates erlebte völlige Einbrechen und ratlose Verstummen trifft ihn also in seinem Selbstverständnis als geübter Rhetor und sophistisch geschultes Talent. Der einzige Fluchtweg, der Menon in dieser Situation zu verbleiben scheint, ist die Beschuldigung des Sokrates. Für seine Aporie und Sprachlosigkeit macht der junge Sophist in seiner Not Sokrates verantwortlich, der wie ein Zauberer mit seinen Tricks alle in Verwirrung bringe oder einem Zitterrochen gleiche, der andere in Erstarrung versetze (80a/b). Das ganze weitere Gespräch lässt sich als eine Fortsetzung der Flucht deuten. Dabei bedient sich Menon unterschiedlicher Strategien. Auf Sokrates’ Aufforderung, gemeinsam nach der Tugend zu suchen (Men. 80c/d), reagiert er mit der Bestreitung der Möglichkeit der Wahrheitssuche: Und auf welche Weise willst du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überall gar nicht weißt, was es ist? Denn als welches besondere von allem, was du nicht weißt, willst du es dir denn vorlegen und so suchen? Oder wenn du es auch noch so gut träfest, wie willst du denn erkennen, daß es dieses ist, was du nicht wußtest? (Men. 80d)

Diese skeptische Leugung der Möglichkeit der Suche erweist sich bei genauerer Betrachtung als Bestreitung des Nichtwissens und als sophistische Wissensbehauptung. Die Argumentation impliziert die Aussage, dass jede Erforschung eines Gegenstandes die Kenntnis der Sache voraussetzt. Um den Gegenstand der Suche von anderen Objekten abgrenzen und den Wahrheitsstatus der Forschungsresultate identifizieren zu können, muss man, so das Argument, mit der Sache bereits vertraut sein und ein Wissen von ihr besitzen. Mit diesem Argument will Menon keineswegs auf die Differenz zwischen einem Vorwissen und einem begründeten Wissen aufmerksam machen und das Nichtwissen spezifizieren oder einschränken. Dem jungen Sophisten geht es vielmehr darum, das von Sokrates bekundete und Menon als Resultat der Prüfung zugesprochene Nichtwissen (Men. 80d) zu negieren und die Selbsterkenntnis ad absurdum zu führen. Mit dem Argument soll die Annahme bewiesen werden, dass jeder über das Wissen von der Tugend immer schon verfügt und auf der Basis dieses Wissens Aussagen über sie zu treffen vermag, sei es in den praktischen Handlungskontexten oder auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion. Die skeptische Argumentation lässt sich insofern als dogmatische Abwehr der Selbsterkenntnis deuten. Nachdem Sokrates unter Rückgriff auf die Vorstellungsmuster der dichte-

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risch-religiösen Tradition (Men. 81a–d) die Möglichkeit der Wahrheitssuche aufgezeigt und in diesem Kontext auch die Relation zwischen einem Vorwissen und dem gemeinten Nichtwissen sowie die Notwendigkeit einer Wahrheitssuche deutlich zu machen versucht hat (Men. 82b–86b), fordert er Menon nochmals dazu auf, die Suche nach der Tugend gemeinsam fortzusetzen: »Da wir nun einig darüber sind, daß gesucht werden muß, was jemand noch nicht weiß, willst du, daß wir miteinander unternehmen zu suchen, was wohl die Tugend ist?« (Men. 86c). Menons Antwort bezeugt eine neuerliche Flucht. Er versucht jetzt dem prüfenden Gespräch dadurch auszuweichen, dass er zur anfänglichen Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zurückkehrt: »Gar gern. Jedoch, Sokrates, möchte ich am liebsten jenes, wonach ich zuerst fragte, untersuchen und hören, ob man ihr als etwas Lehrbarem nachstreben muß oder so, als wenn von Natur oder auf sonst irgendeine Weise die Tugend den Menschen einwohnte« (Men. 86c9–d3). Damit wird die philosophische Sachuntersuchung, die stets bei den eigenen Vorstellungen ansetzt und insofern immer eine verbindliche Selbstprüfung ist, abgewehrt und Zuflucht in einem Lehrgespräch gesucht (didaw¶ vgl. Men. 81e/82a). Die von Menon erwünschte Unterredung ist dadurch charakterisiert, dass Auffassungen über die Sache argumentativ entwickelt und Lehrmeinungen vorgetragen werden, die als unverbindliches Wissen aufgenommen und im intellektuellen Disput strategisch eingesetzt werden können. Am Ende wird somit offenbar, was sich bereits am Anfang angedeutet hatte: Menon sucht nicht die philosophische Selbsterkenntnis, sondern ein sophistisches Wissen, das instrumentellen Charakter hat. dd)

Angriffsmanöver (Menon, Politeia I, Gorgias)

In der Betrachtung des Menon ist bereits in ersten Umrissen ein Fluchttypus sichtbar geworden, der sich dadurch auszeichnet, dass er die Verantwortung für die Aporie leugnet und den prüfenden Sokrates für die negativen Untersuchungsresultate verantwortlich macht. In diesem Zusammenhang wird häufig der Vorwurf der argumentativen Unfähigkeit und unsoliden Vorgehensweise erhoben: Sokrates führe falsche Beweise, arbeite mit den Mitteln der Überlistung und bediene sich logischer Tricks und Trugschlüsse aus fragwürdigen Antrieben. Diese Beschuldigung ist in ihrer aggressiven Variante mit Beschimpfungen, Beleidigungen und verbalen Ausfällen verbunden, die den Angriffscharakter noch unterstreichen. Bei dieser offensiven Fluchtvariante lassen sich freilich unterschiedliche Grade der Intensität beobachten. Am harmlosesten dürften die Bemerkungen des Euthyphron sein, die noch jede Aggressivität und Feindseligkeit vermissen lassen und den Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit und offenherzigen Naivität vermitteln. Nachdem etliche Definitionen gescheitert sind, gesteht Euthyphron

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seine Ratlosigkeit ein und reflektiert in diesem Zusammenhang die Unbeständigkeit der im Gespräch artikulierten Logoi: »Aber ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich denke. Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben« (Euthyphr. 11b6–8). In seiner Antwort auf diese Bemerkung bedient sich Sokrates – so wie in Menon 97d/e – des Vergleichs mit dem legendären Bildhauer Daidalos und dessen davonfliegenden Statuen, um die Flüchtigkeit der Doxa zu veranschaulichen. Dabei macht er zum einen deutlich, dass es nicht seine eigenen Logoi sind, die sich verflüchtigen, sondern die Annahmen (rpoh´seir) des Euthyphron. Zum anderen erklärt er, dass die Annahmen deswegen nicht stehen bleiben, weil Euthyphron sie nicht zu halten vermag. Die von Sokrates so dezidiert geltend gemachte Verantwortung des Sehers für die Unbeständigkeit seiner Frömmigkeitsbestimmungen versucht dieser sogleich abzuweisen: »Denn dies Herumgehen und nicht an Ort und Stelle Bleiben habe ich nicht in sie hineingelegt, sondern du, denke ich, der Daidalos. Denn meinetwegen wären sie immer so geblieben« (Euthyphr. 11c8–d2). Mit anderen Worten: Sokrates zerstört mit seiner dialektischen Kunst die Stabilität und Sicherheit der Meinungen und ist Urheber der Aporie. Bei aller Deutlichkeit und Unmissverständlichkeit dieser Worte bleibt der Ton hier jedoch im Ganzen moderat und verhalten. Die Beschuldigung des Sokrates, die sich im Menon findet, ist demgegenüber schon weitaus aggressiver. In der bereits besprochenen Passage 80a/b wird Sokrates als Zauberer (cºgr) bezeichnet, der anderen Gifte einflößt, sie betäubt und ihnen mit Besprechungen den Verstand raubt: »Auch jetzt kommt mir vor, daß du mich bezauberst und mir etwas antust und mich offenbar besprichst, daß ich voll Verwirrung geworden bin« (Men. 80a2–4). Die zweite von Menon angeführte Metapher ist genauso wenig schmeichelhaft: Sokrates gleiche einem Zitterrochen, der alle, die mit ihm in Berührung kämen, zum Erstarren bringe (Men. 80a/b). Die hier benannte Art des Rochens verfügt über ein Organ, mit dessen Hilfe sie Beutefische durch elektrische Entladungen lähmen und betäuben kann. Die sokratische Dialektik wird demnach von Menon mit einem Elektroschock verglichen, der den anderen völlig außer Gefecht setzt und unter Umständen sogar zur Bewusstlosigkeit führen kann. Mit dem Zitterrochen-Vergleich und der Zauberer-Metapher versucht Menon, die betäubende, lähmende Wirkung des sokratischen Elenchos herauszustellen und sich als Opfer einer Fremdeinwirkung auszugeben. Das Prüfungsgeschehen deutet er in Verkennung der eigentlichen Ursache seines argumentativen Einbrechens als Lähmung und Beraubung der vorhandenen geistigen Fähigkeiten durch eine äußere Macht, der man im Moment der Einwirkung wehrlos ausgeliefert ist. Sokrates wird hier eine massive Manipulation unterstellt, die mit geistigen Betäubungsmitteln arbeitet und damit die Entfaltung und Präsentation des vorhandenen Wissens unterbindet.

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Im Thrasymachos-Gespräch (rep. I. 336b–354c) und im Kallikles-Gespräch des Dialogs Gorgias (Gorg. 481b–522e) wird eine offene Aggressivität gegen Sokrates vorgeführt, die mit Beschimpfungen und Beleidigungen verbunden ist. Platon legt diese verbalen Attacken Figuren in den Mund, die als Sophisten oder sophistisch denkende Politiker dargestellt werden und eine antibürgerliche Ideologie des Rechts des Stärkeren vertreten. Mit den entsprechenden Machtkonzeptionen und dem Plädoyer für eine hemmungslose Durchsetzung der eigenen Besitz- und Herrschaftsansprüche, die im Naturrecht begründet wird, ist ein massiver Antiintellektualismus verbunden, der sich in einer unverhohlenen Aversion gegen die philosophische Suche und jede Art von Vernunftherrschaft und vernunftbegründeter Lebensweise zeigt. In der Politeia I wird dieses Aufbäumen gegen die Intellektualität in anschaulicher Weise dargestellt. Nachdem Polemarchos mit seinen Bestimmungen der Gerechtigkeit gescheitert ist, mischt sich Thrasymachos gewaltsam ins Gespräch ein: Nun wir aber innehielten, […] konnte er [sc. Thrasymachos] nicht länger Ruhe halten, sondern raffte sich auf und kam auf uns los, recht wie ein wildes Tier, um uns zu zerreißen, so daß ich und Polemarchos ganz außer uns waren vor Schreck. Er aber rief mitten hinein und sagte: In was für leerem Geschwätz seid ihr doch schon lange befangen, o Sokrates? Und was für Albernheiten treibt ihr miteinander, indem ihr euch immer nur schmiegt und biegt einer vor dem anderen? (rep. I 336b–c2)

Das untersuchende, prüfende Gespräch wird hier als unützes Geschwätz (vkuaq¸a) und als eine Art Einfalt, Torheit, Albernheit (eq¶heia) beschimpft und damit als eine Sache bewertet, die zum einen völlig nichtig ist, also keinerlei Relevanz für die Lebenspraxis besitzt, und zum anderen Unverstand und fehlende Lebensklugheit bezeugt. Nachdem Thrasymachos seine eigene Gerechtigkeitstheorie präsentiert hat und sich seine Bestimmung im Verlauf des prüfenden Gesprächs ins Gegenteil verkehrt hat, greift er Sokrates direkt an. In einer alle Regeln des konventionellen Umgangs durchbrechenden, auf Beleidigung zielenden Weise wirft er ihm Dummheit (rep. I 343a) und Einfältigkeit (rep. I 343d1) vor. Im Kallikles-Gespräch des Gorgias wird Sokrates in ähnlicher Weise beschimpft. Zu Beginn der Unterredung schiebt Kallikles Sokrates zunächst die Verantwortung für das vorherige Scheitern des Polos zu und wirft ihm vor, sich der fragwürdigen Methoden eines Volksredners (dglgcºqor Gorg. 482c4) und dialektischer Kniffe zu bedienen, um andere zum Schweigen zu bringen (Gorg. 482e1–3). Im Anschluss daran holt er zu einer großen Rede über das im Naturrecht begründete Macht- und Besitzstreben des Stärkeren aus, die er mit verbalen, antiintellektualistisch durchsetzten Ausfällen gegen das von Sokrates geführte philosophische Gespräch beendet (Gorg. 484c–486d). Beschäftige sich

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jemand über das Jugendalter hinaus mit philosophischen Untersuchungen, so sei dies »lächerlich und unmännlich und verdient Schläge« (jatac´kastom va¸metai ja· %mamdqom ja· pkgc_m %niom Gorg. 485c2). Es behindere die Entfaltung und Steigerung der Durchsetzungskraft im politisch-öffentlichen Leben und sei nichts anderes als ein ›Possenspiel‹ (kgq¶lata) und ›leeres Geschwätz‹ (vkuaq¸a) (Gorg. 486c7f.). Die im Thrasymachos und im Gorgias dargestellten ideologisch begründeten Angriffe gegen das philosophische Gespräch lassen sich als Bekämpfung eines Denkens und Handelns deuten, das ein dem eigenen Ego übergeordnetes Vernunftprinzip anerkennt und sich in der Lebensgestaltung an rationalen Gründen ausrichtet. Die bindende Wirkung von Gründen, allgemeinen Regeln, Gesetzen wird hier als ›knechtische Einzwängung‹ (Gorg. 484a1) der starken Natur gedeutet, von der es sich zu befreien gilt (Gorg. 484a). Diese Art von Selbstbefreiung, die jede Form einer verpflichtenden Gesetzlichkeit aufzuheben bestrebt ist und sich der Mäßigung der Ansprüche zu entziehen sucht, ist immer zugleich eine Abwehr der Selbsterkenntnis. Die sokratische Einsicht in das Nichtwissen bezeichnet gleichsam den Gegenpol zur Ideologie der Stärke, die die Vollkommenheit, Weisheit und Bestheit der eigenen Person zu behaupten sucht und die eigene Willkür zum Maßstab der Wahrheit erhebt. ee)

Drohungen (Menon)

Abschließend soll eine Form des Angriffs betrachtet werden, die als letzte Konsequenz der in den Dialogen dargestellten Beschimpfungen und Beschuldigungen aufgefasst werden kann. Der Versuch, eine bewusste Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses dadurch abzuwehren, dass die sokratische Dialektik für die Aporie verantwortlich gemacht wird, mündet zuletzt in eine Verfolgung und Anklage des Sokrates. Diese Konsequenz wird im Menon besonders nahegelegt. Versteht man Sokrates in mystifizierender Weise als eine Art Magier, der intransparente manipulative Techniken anwendet, die schädliche und verderbliche Wirkungen haben, so liegt der Gedanke auf der Hand, dass man sich dieser Einwirkung nur dadurch entziehen kann, dass man den Urheber durch eine Gefängnisstrafe oder ein Todesurteil unschädlich macht. Menon spricht diese praktische Schlussfolgerung auch unverhohlen aus, freilich unter dem Deckmantel einer wohlwollenden Warnung. Nachdem er seine Aporie reflektiert hat, schließt er mit der Bemerkung: »Daher dünkt es mich weislich gehandelt, daß du von hier nicht fortreist, weder zu See noch sonst. Denn wenn du anderwärts dergleichen als Fremder tätest, so würde man dich vielleicht als einen Zauberer abführen« (Men. 80b). Noch deutlicher wird die Drohung in Men. 94e ausgesprochen. Platon stellt an dieser Stelle den Bezug zur Apologie her, indem er Anytos, einen der An-

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kläger, zu Sokrates sagen lässt: »Ich nun möchte dir wohl raten, wenn du mir folgen willst, dich vorzusehen. Denn auch anderwärts mag es leichter sein, jemandem Böses anzutun als Gutes, hier in dieser Stadt ist es gar vorzüglich leicht. Und ich denke, daß du das auch selbst weißt« (Men. 94e4–95a1). Das ist eine unmissverständliche Anspielung auf eine mögliche Klage und einen Prozess, der Sokrates drohe, falls dieser seine Gesprächspraxis nicht einstelle. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass diese unverhohlene Drohung nicht von einer Figur aus dem sophistischen Milieu ausgesprochen wird, sondern von einem situierten Bürger mit konservativer, staatstragender Gesinnung und ehrbarer Lebensweise. In Men. 90a/b beschreibt Platon Anytos als Sprössling aus einer wohlhabenden Familie und als Bürger, der eine gute Erziehung und Bildung genossen hat und höchste Ämter in der Stadt bekleidet. Man wird in mancher Hinsicht an die Figuren des Kephalos und des Euthyphron erinnert, findet hier jedoch nicht dieselbe Grundhaltung der Versöhnlichkeit und des wohlmeinenden Ausgleichs vor. In der Figur des Anytos wird vielmehr eine sich vom Aufklärungsdenken in ihren religiösen und sittlichen Grundlagen und ihrem Zusammenhalt bedroht fühlende Bürgerlichkeit dargestellt, die sich gegen die Gefahr zur Wehr setzt und in offene Feindseligkeit entbrennt. Diese Feindschaft richtet sich zunächst gegen die Sophisten, in denen die Ursache des moralischen Verfalls und der gesellschaftlichen Instabilität gesehen wird: »Denn diese [sc. die Sophisten] sind doch das offenbare Verderben und Unglück derer, die mit ihnen umgehen« (Men. 91c5f.). Dann aber auch gegen Sokrates, dessen prüfende Untersuchung als Zersetzungswerk und Verunglimpfung der bürgerlichen Rechtschaffenheit (94e)44 angesehen und in tragischer Verkennung der eigentlichen Intention zuletzt mit den Techniken der Sophisten identifiziert wird (vgl. apol. 19b/c). ff)

Die Schwierigkeit der Selbsterkenntnis – Versuch einer Klärung

Nach der Betrachtung der verschiedenen Formen der Flucht vor der Selbsterkenntnis sollen abschließend einige resümierende Überlegungen zum Grund der Schwierigkeit dieser Einsicht angestellt werden. Wie in der Analyse des Bedeutungsgehaltes der Erkenntnis des Nichtwissens deutlich geworden ist, stellt die von Platon gemeinte Einsicht nicht nur das Wissen in Frage, sondern tangiert auch den Modus des Umgangs mit den eigenen seelischen Kräften sowie mit Gütern, Ereignissen und den in den Handlungskontexten beteiligten sozialen Akteuren. Die im Tugenddialog intendierte Selbsterkenntnis bezieht sich sowohl auf den epistemischen und seelischen Zustand als auch auf die äußere Lebensgestaltung, die den Erwerb und Gebrauch der Güter sowie den Sozial44 Vgl. Gorg. 522b.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens

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bezug einschließt. Man kann insofern von einer alle Identitätssphären umgreifenden Einsicht sprechen. Dieser ausgedehnte Bedeutungshorizont ist durch das besondere Verständnis der Selbstprüfung bedingt, die – wie im Frühwerk anschaulich vorgeführt wird – auf die Lebensführung der Person zielt, also die Person in ihren Handlungsvollzügen, sozialen Verhaltensweisen und Vorstellungsmustern in den Blick nimmt und dabei die Begründungsfrage intensiv verfolgt. Das Gelingen des Lebensvollzugs, so zeigt sich im prüfenden Gespräch, ist von seelischen Kräften und Dispositionen abhängig, die wiederum auf das Vernunftvermögen und dessen spezifische Leistungen der Koordination, Leitung, Überlegung angewiesen sind. Zeigen sich im Bereich der Vernunft Defizite, so hat dies unmittelbare Auswirkungen auf alle anderen Identitätssphären. Das betrifft sämtliche Vernunftleistungen, insbesondere aber die allgemeinen Wertvorstellungen, die für die Ausrichtung der Kräfte und die Handlungsüberlegung von maßgeblicher Bedeutung sind. Die Einsicht in die Problematik der Basisüberzeugungen berührt insofern die Lebensgestaltung im Ganzen und ist mit einer allgemeinen Destabilisierung und einem Verlust an Sicherheit und Orientierung verbunden.45 Der Lebensvollzug gerät gleichsam ins Wanken. Entscheidungen, Urteile und Handlungsziele werden plötzlich fragwürdig und problematisch. Die Flucht vor der Selbsterkenntnis lässt sich insofern als Abwehr einer drohenden Unsicherheit und Desorientierung deuten. Die tieferen Dimensionen des in den Tugenddialogen vielfach dargestellten Vermeidungsverhaltens lassen sich jedoch erst erahnen, wenn man auf die Ebene des Selbstverhältnisses zurückgeht. Die von Platon gemeinte Einsicht ist mit einer Infragestellung und Korrektur des Selbstbildes verbunden46, die gegen die narzisstische Selbstliebe verstößt und Identitätsprobleme nach sich zieht. Die Konsequenzen für die personale Identität werden deutlicher, wenn man sich den Zusammenhang von Selbstgefühl und Selbsteinschätzung vergegenwärtigt. Das Gefühl der personalen Würde und die Selbstachtung beruhen zu einem wesentlichen Teil auf einer positiven Selbsteinschätzung, die – meist vermittelt über eine entsprechende soziale Beurteilung – auf einer bewussten Selbstzuschreibung von charakterlichen Qualitäten, Talenten, Fähigkeiten und Leistungen basiert und von der inneren Gewissheit getragen wird, bei allen besonderen Handlungsfehlern im Allgemeinen richtig zu denken und zu urteilen und das Richtige zu tun. Diese Selbstgewissheit äußert sich in der sozialen Interaktion häufig in Form von Kompetenzansprüchen, die Platon in den Rahmengesprächen der Tugenddialoge vielfältig darstellt. In der bisherigen Betrachtung 45 Eine Thematisierung dieser Desorientierung und der damit verbundenen Gefahren findet sich in rep. 538d–539a. 46 Dieser Aspekt wird besonders deutlich im Sophistes ausgesprochen: Die vom Elenchos geprüften Personen werden »ihrer hohen und hartnäckigen Vorstellungen von sich selbst (t_m peq· arto»r lec²kym ja· sjkgq_m don_m) entledigt« (soph. 230b10f.).

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Selbsterkenntnis bei Platon

sind etliche Beispiele angeführt worden. Erinnert sei hier an die Figur des Sehers Euthyphron, der Platon eine Reflexion auf das eigene Wissen von den göttlichen Dingen in den Mund legt (Euthyph. 4ef.), oder an Laches und Nikias, die im sozialen Urteil als kompetent in militärischen Dingen und der Tugend der Tapferkeit gelten und dieses Urteil durch die Übernahme der ihnen von Lysimachos und Melesias angetragenen Beraterfunktion indirekt bestätigen (Lach. 180a–184c). Wird die positive Selbsteinschätzung durch eine kritische Prüfung nicht nur punktuell, sondern in umfassender Weise tangiert, so hat dies Auswirkungen auf die Selbstachtung und das Selbstverhältnis bis hin zum drohenden Verlust an personaler Einheit. Es entsteht ein Identitätsproblem, das eine nachhaltige Lösung verlangt. Aufgrund dieser wenigen Überlegungen lässt sich bereits erahnen, worin die Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis bestehen und warum dieser Einsicht so massive Widerstände entgegengebracht werden. Die Einsicht in das Nichtwissen fordert zu einer Infragestellung des Selbstbildes und zu einer Selbstformung heraus, die mit Schmerzen, Mühe und Anstrengung verbunden sind. Wie Platon durch die häufig verwendete Arzt-Analogie47 deutlich macht, führt der Weg zur ›seelischen Gesundheit‹ über äußerst schmerzhafte und bittere Erfahrungen.48 Die Bildung der Seele erfordert eine Auseinandersetzung mit sich selbst, eine unmittelbare Begegnung mit den eigenen Illusionen, Selbsttäuschungen und Irrtümern, die in der Regel als leidvoll erlebt wird.49 Nimmt man die Aussage in den Nomoi ernst, so scheint das Phänomen der narzisstischen Selbstliebe (t¹ svºdqa vike?m artºm 731e4), die bei Platon von einer positiven, förderlichen Selbstliebe unterschieden wird50, das größte Hindernis auf dem Weg zur Selbsterkenntnis zu sein. In der relevanten Passage des fünften Buches (731d–732b) wird das übermäßige Sich-selbst-Lieben (t¹ svºdqa vike?m artºm) als Ursache der Doxosophia und der daraus resultierenden Verfehlungen im Urteilen und Handeln angedeutet. Die ›übermäßige Selbstliebe‹ schätzt das Ego höher als das Wahre und neigt in ihrer Blindheit für die eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten zu einem verklärten, idealisierten 47 Vgl. z. B. Gorg. 521d–522c. 48 Vgl. auch die Hinweise auf den mit dem Bildungsprozess verbundenen Schmerz (%kcor) im Höhlengleichnis der Politeia (rep. 515c9, 515e2, 515e8f.). 49 Die Verbindung von Leiderfahrungen und Persönlichkeitsbildung wird bereits im aischyleischen ›Durch Leid lernen‹ (p²hei l²hor Ag. 177) thematisiert. Freilich sind hier mit den Schmerzerfahrungen vornehmlich Schicksalsschläge gemeint. Die Sentenz verweist auf die einsichtsfördernde, mäßigende Wirkung von Verlusterfahrungen im Bereich des materiellen Besitzes, der sozialen Stellung und der Familie. 50 Darauf deuten zumindest der im Alkibiades I entfaltete Selbstbegriff und das Motiv der Selbstsorge (2pil´keia 2autoO, 2pil´keia t/r xuw/r) hin. Eine explizite Unterscheidung zwischer negativer und positiver Selbstliebe (vikaut¸a) findet sich erst bei Aristoteles (eth. Nic. 9, Kap. 8).

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens

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Selbstbild. In leg. 731d7 wird diese Form der Selbstliebe, die wir im modernen Sprachgebrauch als Selbstsucht oder narzisstische Selbstliebe bezeichnen, als größtes Übel (p²mtym d³ l´cistom jaj_m) bestimmt.

c)

Selbsterkenntnis und Wahrheitseros

aa)

Selbsterkenntnis als Ursache des Wahrheitseros (Menon, Lysis, Symposion)

Die Selbsterkenntnis ist nach Platon die entscheidende Voraussetzung für die philosophische Wahrheitssuche. Dieser Zusammenhang wird in argumentativer Form vor allem im Menon und in den Liebesdialogen Lysis und Symposion entwickelt. Im Menon trifft Sokrates die Aussage, dass der Wert der Selbsterkenntnis in der Auslösung einer suchenden, fragenden Haltung besteht. In dem berühmten Sklavenbeispiel, das im Dialogkontext die Funktion besitzt, die skeptischen Einwände des Menon zu widerlegen und diesen von der vorteilhaften Wirkung der elenktischen Prüfung zu überzeugen, versucht Sokrates aufzuzeigen, dass die Selbsterkenntnis zu einer Besserung des epistemischen Zustands führt. Nachdem er den Sklaven bezüglich des vorgelegten mathematischen Problems zum Eingeständnis seines Nichtwissens gebracht hat, fügt er eine protreptisch motivierte Reflexion ein, die zunächst den Fortschritt des Knaben herausstellt: Denn zuerst wußte er zwar auch keineswegs, welches die Seite des achtfüßigen Vierecks ist, wie er es auch jetzt noch nicht weiß, allein er glaubte damals, es zu wissen, und antwortete dreist fort als ein Wissender und glaubte nicht in Verlegenheit zu kommen. Nun aber glaubt er schon in Verlegenheit zu sein (!poqe?m), und wie er es nicht weiß, so glaubt er es auch nicht zu wissen. […] Steht es also nun nicht besser (b´ktiom) mit ihm in bezug auf die Sache (pq÷cla), die er nicht wußte? (Men. 84a4–b1)

Die Wissensprüfung hat den Knaben von der falschen Wissensgewissheit befreit und damit einen Fortschritt in der Sache (pq÷cla) bewirkt: Die intendierte Sache wird aufgrund des eingesehenen Wahrheitsdefizits nicht mehr der eigenen Meinung unterworfen und rückt damit in ihrem zu erschließenden Wahrheitsgehalt näher. Im Rahmen der platonischen Erkenntnistheorie ist dies eine entscheidende Prämisse. Der epistemische Zugang zum Gegenstand, so der hier angedeutete Gedanke, ist von einer gelingenden Selbsterkenntnis abhängig. In der zitierten Passage wird zudem indirekt die Aussage getroffen, dass die Selbstverkennung das eigentlich blockierende Moment darstellt. Der Zugang zur Wahrheitserkenntnis wird weniger durch das begrenzte Erkenntnisvermögen des erkennenden Subjekts oder durch allgemeine Schwächen der menschlichen Kondition behindert als vielmehr durch die Doxosophia, die Wissenseinbildung,

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Selbsterkenntnis bei Platon

die Platon stets in die Verantwortung des Einzelnen stellt. Das Motiv der Selbstverantwortung spielt bei Platon auch in epistemologischen Fragen eine zentrale Rolle. Im zweiten Teil der Menon-Passage wird der angedeutete epistemologische Nutzen der Selbsterkenntnis präzisiert. Nach der Bemerkung, dass der Knabe durch die Aporie keineswegs Schaden erlitten habe, führt Sokrates folgende Begründung für diesen Satz an: Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß (mOm l³m c±q ja· fgt¶seiem #m Bd´yr oqj eQd¾r); damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen oftmals gut zu reden über das zweifache Viereck, daß es auch eine zweifach so lange Seite haben müsse. […] Glaubst du nun, er würde sich vorher bemüht haben, das zu suchen oder zu lernen, was er nicht wissend glaubte zu wissen, ehe er überzeugt, er wisse nicht, in Verwirrung (!poq¸a) geriet und sich nach dem Wissen sehnte (ja· 1pºhgsem t¹ eQd´mai)? […] Nutzen hat ihm also das Erstarren gebracht? (−mgto %qa maqj¶sar;) (Men. 84b10–c10)

Sokrates spielt an dieser Stelle auf den Rechtfertigungsversuch des Menon (80b2f.) und dessen Zitterrochen-Vergleich (80a) an. Er bezieht sich in seiner Reflexion auf Menons Aussagen und Metaphern, um bestimmte Wiedererkennungseffekte zu erzeugen und den jungen Sophisten zur Einsicht zu bewegen. Analog zur Verteidigungsrede der Apologie und der bereits erwähnten GorgiasStelle (521d–522c) versucht Platon hier aufzuzeigen, dass die elenktische Untersuchung entgegen der Meinung der Geprüften kein Übel ist, sondern der Person Nutzen und Vorteil verschafft. Als Gewinn der Einsicht in die epistemischen Defizite führt er in diesem Kontext die Sehnsucht (pºhor) nach Erkenntnis an, die er als antreibendes und motivierendes Moment einer aktiven Wahrheitssuche kenntlich macht.51 Damit wird zum einen die erotische Komponente der Suche nach der Sache angedeutet, zum anderen aber wird der Kausalzusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Wahrheitseros angezeigt. Eine ausdrückliche Thematisierung des engen Zusammenhangs zwischen Selbsterkenntnis und Wahrheitsbegehren findet sich im Symposion (204a/b) und im Lysis (218a/b). Im Lysis wird im Rahmen der Untersuchung der Philia die Frage aufgeworfen, welches die Bedingungen der Weisheitsliebe (vikosov¸a) sind. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Liebe zur Weisheit entsteht und die entsprechende Tätigkeit des Suchens und Forschens ausgeübt wird? Wer ist ein Weisheitsfreund? Um das Problem zu klären, werden in der folgenden Argumentation verschiedene epistemische Zustände in den Blick genommen. Sokrates schließt zunächst zwei Verfassungen als Möglichkeitsbedingung der Weisheitsliebe aus: den Zustand der Weisheit (sov¸a) und eine bestimmte Art des Unverstandes (%cmoia). Der Weise vermag kein Weisheits51 Vgl. auch soph. 230a.

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freund zu sein, da er über die Sophia bereits verfügt und sie also nicht mehr begehrt. Und der Nichtwissende, der von seinem Unverstand so durchdrungen ist, dass er die Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Defizite verloren hat, vermag aus dieser Unbildung heraus kein Freund der Weisheit zu sein. Als Bedingung der Möglichkeit der Weisheitsliebe ist folglich diejenige Unwissenheit anzusehen, die mit einer entsprechenden Selbstwahrnehmung verbunden ist: Übrig also bleiben diejenigen, welche jenes Übel zwar haben, den Unverstand (%cmoia), noch nicht aber dadurch unverständig und ungelehrig (!lah¶r) geworden, sondern noch der Meinung sind, sie wüßten das nicht, was sie wirklich nicht wissen. Daher auch nur diejenigen philosophieren, welche noch weder gut noch schlecht sind (oR oute !caho· oute jajo¸), alle Schlechten (jajo¸) aber philosophieren nicht noch auch die Guten (!caho¸). Denn weder das Entgegengesetzte war dem Entgegengesetzten freund noch das Gleiche dem Gleichen, wie sich gezeigt hatte in unsren vorigen Reden. (Lys. 218a7–b5)

Das Bewusstsein der epistemischen Unzulänglichkeiten wird an dieser Stelle als die entscheidende Bedingung für das Philosophieren bestimmt, das hier eine sehr weite Bedeutung hat. Gemeint ist nicht nur die philosophische Forschung im engeren Sinn, sondern jede Suche nach der Erkenntnis des Richtigen, Wahren, Besten, ganz gleich, ob sie im praktischen Bereich, in der technischen Entwicklung oder in der theoretischen Reflexion vollzogen wird. Das wissende Nichtwissen klingt hier als eine Hexis an, die sich in den verschiedenen Lebensbereichen ausprägt und auch in der situativen Handlungsüberlegung und Entscheidungsfindung wirksam wird. Die zitierte Lysis-Stelle erweckt zunächst den Eindruck, als ob Platon hier nur den konditionalen Aspekt betont und die kausale Funktion des Bewusstseins des Nichtwissens unthematisch lässt. Eine Analyse des am Ende der Argumentation angeführten Begründungssatzes (Lys. 218b3f.) zeigt jedoch, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der richtigen epistemischen Selbsteinschätzung und dem vikosove?m hergestellt wird. In 218b3f. rekurriert Sokrates auf einen Satz, der in der vorherigen Untersuchung aufgestellt worden war : Freundschaft ist an die Einheit von Homogenität und Differenz gebunden und kann nicht zwischen völlig gleichgearteten oder völlig konträren Polen bestehen: »Weder also ist das Gleiche dem Gleichen freund noch das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten« (Oute %qa t¹ blo?om t` blo¸\ oute t¹ 1mamt¸om t` 1mamt¸\ v¸kom. Lys. 216b9f). Dieser Satz wird in Lys. 216c–218a zunächst auf die Relationen zwischen dem Guten, dem Schlechten und dem weder Guten noch Schlechten angewendet. Dem aufgestellten Satz zufolge können weder die Guten dem Guten freund sein noch die Schlechten dem Schlechten noch die Schlechten dem Guten noch die weder Guten und Schlechten dem weder Guten und Schlechten (216c–

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Selbsterkenntnis bei Platon

217a). Unter Auschließung der Möglichkeit, dass eine Freundschaftsbeziehung zum Schlechten besteht, also das Schlechte geliebt wird, bleibt demnach nur folgende Variante übrig: »Es folgt also, daß allein das weder Gute noch Schlechte dem Guten allein kann freund werden« (T` !cah` %qa t¹ l¶te !cah¹m l¶te jaj¹m lºm\ lºmom sulba¸mei c¸cmeshai v¸kom Lys. 216e7f.). In der folgenden Passage wird dieses Resultat entfaltet und hinsichtlich des kausalen Faktors präzisiert. Das weder Gut-noch-schlecht-Sein bestimmt Sokrates als einen Zustand, in dem das Schlechte zwar anwesend ist, aber noch keine essenzielle Dimension erreicht hat, also das Ding oder die Person nicht vollständig und wesenhaft bestimmt. Diese Begrenztheit der Ausweitung des Schlechten oder – positiv formuliert – die partielle Anwesenheit (paqous¸a) des Guten ist die Ursache dafür, dass ein Verlangen (1pihul¸a) nach dem Guten vorhanden ist und der faktische Mangelzustand von einem entsprechenden Streben nach Vervollkommnung begleitet wird: »Also wenn es noch nicht schlecht ist unerachtet des daran haftenden Schlechten, so erregt eben dieses Anhaften ihm ein Verlangen nach dem Guten (avtg l³m B paqous¸a !cahoO aqt¹ poie? 1pihule?m )« (Lys. 217e7f.). Als Wirkursache (poie?m) des Verlangens nach dem Guten wird hier nicht der Mangelzustand als solcher betrachtet, sondern eine Schlechtigkeit, die mit dem Zustand des Nicht-Schlechten oder des vorläufig Guten verknüpft ist. Die Annahme eines gleichzeitig bestehenden positiven Zustands ist logisch zwingend. Ein vollkommen von der Schlechtigkeit bestimmtes Wesen entbehrt einer Instanz, die den Mangel als Mangel wahrnehmen und ein entsprechendes Verlangen ausbilden könnte. Das Schlechte kann nur vom Nicht-Schlechten her identifiziert und überwunden werden. Oder anders ausgedrückt: Das Gute muss in gewisser Weise schon präsent sein, um begehrt und erreicht werden zu können. In der oben bereits angeführten Passage 218a/b wird die Überlegung zur Freundschaftsrelation am Phänomen der Weisheitsliebe exemplifiziert. Der auf einen Kausalzusammenhang hindeutende Ausdruck poie?m (vgl. Lys. 217e8) wird hier zwar nicht verwendet; da jedoch die Ausführungen zur Weisheitsliebe als Anwendung der vorher entwickelten Sätze kenntlich gemacht werden (Lys. 218a3), kann man davon ausgehen, dass an dieser Stelle eine Bestimmung der Wirkursache der vikosov¸a vorgenommen wird. Der Mangelzustand im epistemischen Bereich, so zeigt Sokrates in der Argumentation auf, besteht im Unverstand oder im Nichtwissen. Der erstrebenswerte Zustand ist hingegen die Weisheit, die die Bestheit oder das Gute des entsprechenden Vermögens bezeichnet. Vor dem Hintergrund der vorherigen Argumentation lässt sich die Kausalität des Weisheitsbegehrens wie folgt fassen: Das epistemische Defizit als solches bringt noch kein Verlangen nach der Weisheit hervor. Das Erkenntnisbegehren entsteht nur dann, wenn in der Person neben dem Unverstand die richtige Einschätzung des faktischen Wissensstandes präsent ist (Lys. 218a8f.).

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Als Wirkursache der Weisheitsliebe ist somit der mit der richtigen Selbsteinschätzung verbundene Unverstand anzusehen. Das eigentlich kausale Moment besteht in dem Defizitbewusstsein, das eine Art Bindeglied darstellt und zwischen den beiden Zuständen – Unwissenheit und Sophia – vermittelt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Wissen um die eigenen Inkompetenzen als Anwesenheit (paqous¸a) der Weisheit und des Guten angedeutet wird. Der in 218a beschriebene epistemische Zustand wird nicht nur als ein Weder-noch, sondern zudem als ein Sowohl-als-auch kenntlich gemacht. Die sich in diesem Zustand befindliche Person ist weder vollkommen unwissend noch vollkommen weise; sie wird von keinem der beiden Wissensstände vollständig und wesenhaft bestimmt. Das bedeutet umgekehrt, dass sie durch eine partielle Teilhabe an Nichtwissen und Wissen charakterisiert ist. Die Person zeichnet sich durch eine graduelle Präsenz der beiden Wissensverfassungen aus und ist in bestimmter Hinsicht und in einem gewissen Maß sowohl unwissend als auch wissend. Die partielle Anwesenheit wird in der Passage zwar primär in Bezug auf die Unwissenheit ausgeführt; durch die indirekte Verknüpfung der richtigen Selbsteinschätzung mit den Prädikaten des Wissens (»übrig bleiben also diejenigen, welche jenes Übel zwar haben, den Unverstand, noch nicht aber dadurch unverständig und ungelehrig geworden, sondern noch der Meinung sind, sie wüßten das nicht, was sie wirklich nicht wissen« l¶py d³ rp( aqtoO emter !cm¾lomer lgd³ !lahe?r, !kk( 5ti Bco¼lemoi lµ eQd´mai $ lµ Usasim 218a8f.) wird jedoch angezeigt, dass auch die Sophia in gewisser Weise präsent ist. Die oben angeführte Hypothese52, dass das Wissen um die eigenen Defizite bereits ein Zustand der Sophia ist und das Gute enthält53, findet damit eine weitere Bestätigung. Im Symposion werden ganz ähnliche Überlegungen zur Weisheitsliebe präsentiert. Der Begehrensaspekt, der bereits in der Philia-Konzeption des Lysis betont wurde, erfährt hier jedoch im Rahmen der Eros-Thematik eine weitaus größere Beachtung. In der sokratischen Auseinandersetzung mit der Liebesrede 52 Vgl. B II 1a.bb. 53 In der Apologie wird der Erkenntnis des Nichtwissens der Weisheitsstatus zuerkannt (apol. 20d7). Die Wertschätzung der Erkenntnis des Nichtwissens wird von Platon auch in den späteren Dialogen beibehalten. Im Gorgias bezeichnet Sokrates die Einsicht in die Falschheit von Meinungen als großes Gut: »Denn für ein größeres Gut (le?fom !cahºm) halte ich jenes um so viel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden als einen anderen davon zu befreien. Denn nichts, denke ich, ist ein so großes Übel für den Menschen als irrige Meinungen (dºna xeudµr) über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns« (Gorg. 458a6–b2). Im Sophistes wird die aus der Selbsterkenntnis erwachsende Haltung (6nir) des wissenden Nichtwissens als die beste und besonnenste Verfassung bestimmt (bekt¸stg coOm ja· syvqomest²tg t_m 6neym avtg soph. 230d5f.) und mit den Zuständen der Bildung (paide¸a 230e2) und der seelischen Schönheit (soph. 230e2f.) in Verbindung gebracht. In ähnlicher Weise bestimmt Platon im Theaitetos (Tht. 210c) die Haltung des wissenden Nichtwissens als Sophrosyne.

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des Agathon, die Platon der großen Diotima-Rede voranstellt, wird Eros (5qyr) als ein Verlangen (1pihul¸a) eines Menschen nach dem, »was er nicht hat und nicht selbst ist und wessen er bedürftig ist« (symp. 200e3f.) bestimmt. Das Bedürftigkeits- und Begehrensmotiv, mit dem die Agathon-Position gleichsam umgekehrt wird, bestimmt als eine Art Leitidee den gesamten folgenden Logos über den Eros (201d–212a). In engem Zusammenhang damit steht die Bestimmung des Eros als Zwischenwesen, die an den im Lysis beschriebenen Zustand des Weder-gut-noch-schlecht-Seins anknüpft. Eros ist kein Gott, so die zu Beginn der diotimischen Rede entwickelte These (202bff.), sondern ein Dämon (da¸lym). In mythologischer Ausdrucksweise wird damit auf den intermediären Status der erotischen Kraft verwiesen. Eros ist weder mit dem Objekt des Begehrens identisch, das hier als das Gute und Schöne im weitesten Sinn bezeichnet wird, noch geht er vollkommen im Zustand der Bedürftigkeit und des Mangels auf. Er bezeichnet etwas dazwischen (ti letan¼)54 : »Ebenso auch vom Eros, da du doch selbst eingestehst, er sei weder gut noch schön, glaube deshalb dennoch nicht, daß er häßlich und schlecht sein müsse, sondern etwas […] zwischen beiden« (symp. 202b2–4). Der Logos über den Eros, als dessen Urheberin Platon eine Mysterienpriesterin namens Diotima ausgibt und damit ausdrücklich an die den eleusinischen Mysterienkult bestimmenden Motive der Fruchtbarkeit, der Erneuerung und Wiederkehr des Lebens anknüpft, enthält eine Fülle an Aspekten und Überlegungen und kann im Rahmen dieser Untersuchung auch nicht ansatzweise ausgeschöpft werden. Im Folgenden sollen lediglich die Stellen ausgewertet werden, die für den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Wahrheitseros relevant sind. In der Passage 204a–c findet sich eine unmittelbare Anknüpfung an die Überlegungen aus dem Lysis. Im Rahmen der Ausführungen zum intermediären Status des Eros wird dort zunächst der Satz aufgestellt, dass Eros auch in Bezug auf Weisheit (sov¸a) und Unwissenheit (!lah¸a) eine mittlere Position hat. In der folgenden Explikation dieses Satzes werden analog zum Lysis die Wissensverfassungen der Weisheit und des Unverstandes hinsichtlich des Erkenntnisbegehrens untersucht. Weder die Weisen noch die Unverständigen zeichnen sich durch ein philosophisches Streben aus. Der Weise besitzt kein Verlangen nach der Sophia, weil er über dieses Gut bereits verfügt. Dieser schon im Lysis aufgestellte Satz wird im Symposion durch den Zusammenhang von Bedürftigkeit und Begehren begründet. Jedes erotische Verlangen, das in diesem Kontext als Streben nach einem erfüllenden Gut verstanden wird, ist an eine defizitäre Ausgangssituation gebunden – an Armut, Not, Missstand, Knappheit, Besitzlosigkeit. Das Begehren ist immer von der Motivation getragen, einen Zustand 54 Zum letan¼ vgl. auch Gorg. 467e; Charm. 161af.; Euthyd. 280e; symp. 202af.; rep. 477aff.

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des Mangels zu überwinden. Daraus folgt, dass der Nicht-Bedürftige nicht begehrt; er besitzt keinen Eros. Wie durch den Verweis auf die nicht-philosophierenden Götter in 204a1 angedeutet wird, ist dieser Zustand der Fülle freilich dem göttlichen Sein vorbehalten. Der Mensch bleibt in seiner Eigenschaft als sterbliches und vergängliches Wesen prinzipiell in der Bedürfnisstruktur verhaftet und vermag sie niemals vollständig und dauerhaft zu überwinden. Neben den Weisen besitzen auch die Unverständigen kein Verlangen nach der Weisheit. Zwar ist hier die Kondition der Bedürftigkeit erfüllt; die den Unverstand auszeichnende Wissensillusion blockiert jedoch das erotische Streben: Ebensowenig philosophieren auch die Unverständigen (oR !lahe?r) oder streben, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt (t¹ lµ emta jak¹m j!cah¹m lgd³ vqºmilom doje?m art` eWmai Rjamºm). Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. (symp. 204a2–7)

Als weisheitsliebend bleiben diejenigen übrig, die sich zwischen Unverstand und Weisheit befinden (»die zwischen beiden sind« oR letan» to¼tym !lvot´qym symp. 204b1). Eine Person, die sich in diesem ›Zwischen‹ bewegt, ist zwar nicht im Besitz der vollkommenen Weisheit, aber sie hat insofern den Unverstand bereits transzendiert, als sie um ihre Bedürftigkeit weiß und nicht der Selbsttäuschung erliegt. Die Illusion, schön (jakºr), gut (!cahºr) und vernünftig (vqºmilor) zu sein, ist in 204a als wesentliches Merkmal des Unverstandes herausgehoben worden. In 204b wird diese Zwischenstellung als Strukturmerkmal des Wahrheitseros bestimmt und damit ein ähnlicher Zusammenhang zwischen richtiger Selbsteinschätzung und Weisheitsliebe hergestellt wie im Lysis: Das Wahrheitsbegehren und die damit einhergehende Erkenntnissuche sind an das selbstreflexive Wissen vom eigenen defizitären Wissensstand gebunden, das motivierend und hervorbringend wirkt. Vergleicht man diese Überlegungen mit den Ausführungen im Menon, so sind einige Differenzen zu beobachten. Im Menon wird ein über die Selbsterkenntnis vermittelter Progress vom Nichtwissen über das vermeintliche Wissen zur erotischen Wahrheitsbindung dargestellt, der sich im Symposion und im Lysis nicht in dieser Form finden lässt. Im Sklavenbeispiel des Menon bestimmt Sokrates die Selbsterkenntnis als eine Art Transformationsfaktor, der den Zustand der Doxosophia – vermittelt durch die Auslösung des Wahrheitsverlangens – in eine philosophische Verfassung umwandelt, also den Doxosophen in einen Philosophen umformt. Im Lysis und im Symposion fehlt dieses genetische Moment; die beiden Wissensverfassungen werden hier separat untersucht und bleiben relativ unverbunden nebeneinander stehen. Eine zweite Differenz besteht hinsichtlich des Erwerbs und des Modus des Selbstwissens. Während im Menon eine im Rahmen der Selbstprüfung aktiv zu

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erwerbende Einsicht thematisiert wird, die nachhaltig wirksam ist, geht es im Lysis um eine richtige Selbsteinschätzung, die eher im guten Charakter oder in der Erziehung begründet ist und durch innere und äußere Einflüsse beeinträchtigt werden kann.55 Auf dieses Moment wird im Lysis durch das ›Nochnicht‹ hingewiesen: »Also wenn es noch nicht schlecht ist unerachtet des daran haftenden Schlechten […]« (Lys. 217e7f.; Hervorhebung B.F.). Ähnlich in Lys. 218a/b: »welche jenes Übel zwar haben, den Unverstand, noch nicht aber dadurch unverständig und ungelehrig geworden, sondern noch der Meinung sind, sie wüßten das nicht, was sie wirklich nicht wissen« (Hervorhebung B.F.). Die verschiedenen Darstellungen lassen sich jedoch in einen plausiblen Zusammenhang bringen, wenn man die Annahme unterstellt, dass Platon zwischen Graden des richtigen epistemischen Selbstverhältnisses unterscheidet. Das charakter- und erziehungsbedingte Wissen des Nichtwissens lässt sich auf der Grundlage dieser Prämisse als unspezifisches, eher vages Bewusstsein der eigenen Irrtumsanfälligkeit und Unzulänglichkeiten deuten, das zwar auch, zumindest graduell, positive Effekte bewirkt, aber noch keine intensive und energische philosophische Suche im engeren Sinn begründet. Die im Menon thematisierte und in den Tugenddialogen intendierte Selbsterkenntnis hingegen bezeichnet eine spezifizierte, deutliche Einsicht in epistemische Defizite, die eine ganz andere Wirkkraft besitzt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Platon im Symposion zwei Aspekte thematisiert, die bereits im Lysis implizit Gegenstand waren, im Rahmen der Eros-Thematik jedoch deutlicher herausgearbeitet werden. Der erste Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Mangel und Begehren und die kausale Funktion der Erkenntnis. Nach platonischer Auffassung gibt es keine unmittelbare Verbindung von Bedürftigkeit und dem entsprechenden Streben nach Vervollkommnung. Zwar ist der Mensch als endliches Wesen in allen Sphären der personalen Identität, in seiner Physis, den äußeren Besitzverhältnissen sowie der psychischen und geistigen Verfasstheit durch Unvollkommenheit und Unbeständigkeit gekennzeichnet (vgl. symp. 207d–208b). Die faktisch vorhandene Bedürftigkeit führt jedoch nicht zwangsläufig zum erotischen Streben nach Fülle und Vollkommenheit. Im Fall einer Täuschung, eines Nichtwahrhabenwollens, einer Fehleinschätzung, kurz – einer Selbstverkennung wird die erotische Kraft blockiert bzw. in eine falsche Richtung gelenkt. Auf diesen Sachverhalt weist Platon in symp. 204a expizit hin: »Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der 55 Auf solch eine natürliche richtige Selbsteinschätzung deutet auch apol. 22a hin: »Die Berühmtesten dünkten mich beinahe die Armseligsten zu sein, wenn ich es dem Gott zufolge untersuchte, andere minder Geachtete aber weit tüchtigere Männer zu sein, was ein vernünftiges (vqºmilor) Verhalten betrifft«. Die ›Vernunft‹ dieser Personen besteht darin, dass sie ein geringeres Maß an Wissenseinbildung besitzen und über das Bewusstsein der eigenen Defizite verfügen.

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begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt« (oujoum 1pihule? b lµ oQºlemor 1mdeµr eWmai ox #m lµ oUgtai 1pide?shai symp. 204a5–7). Das Erkenntnismoment wird an dieser Stelle als ausschlaggebender Faktor kenntlich gemacht, der die Bedürftigkeit und die Strebekräfte verbindet und zur Einheit eines erotischen Prozesses synthetisiert. Das Verlangen nach einem Gut gründet in der Anerkennung der Bedürftigkeit, die unterschiedliche Deutlichkeitsgrade besitzen kann. Die Spanne reicht hier vom vagen Gefühl oder einem undeutlichen Bewusstsein bis zur begründeten und sicheren Erkenntnis. Wie im Philebos (30b) deutlich wird, bezeichnet die Angewiesenheit auf Einsicht und Erkenntnis ein Strukturmoment des menschlichen Daseins überhaupt. Selbst in ihrer physischen Dimension basiert die menschliche Existenz nicht ausschließlich auf Triebsteuerung, sondern bedarf der Erkenntnis dessen, was der Leib zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit und zum Erhalt der Lebensfunktionen bedarf. Ein besonderer Stellenwert kommt der Erkenntnis freilich im geistig-seelischen Bereich zu, da hier, wie im Philebos (48e–49a) ausdrücklich erklärt wird, die Gefahr der Selbsttäuschung am größten ist. Die Unvollkommenheit des seelischen Zustands, insbesondere der epistemischen Verfasstheit (Phil. 49a1–3), wird weitaus häufiger und hartnäckiger verkannt als die Defizite im leiblichen Bereich oder in der Sphäre der äußeren Vermögensverhältnisse. Die zweite Annahme, die im Symposion zur Darstellung gelangt, bezieht sich auf die Anwesenheit der Sophia und des Guten in der Selbsterkenntnis und der erotischen Wahrheitsbindung. Diese schon anhand des Lysis herausgearbeitete Annahme lässt sich aus der Strukturanalyse des Eros erschließen, die in vielerlei Hinsicht an die Philia-Konzeption des Lysis anknüpft. Wie oben bereits erwähnt, wird Eros zu Beginn der Diotima-Rede als Zwischenwesen bezeichnet, als ein Dämon (da¸lym) (symp. 201e–202b). Er ist weder mit dem Objekt des Verlangens – dem Guten und Schönen – identisch noch mit dem Mangel – dem Hässlichen und Schlechten, sondern bezeichnet etwas dazwischen (ti letan¼) (symp. 202a8–202b4). Wie am Beispiel der richtigen Vorstellung (aqhµ dºna) ausgeführt wird (symp. 202a), zeichnet sich der intermediäre Status dadurch aus, dass beide Pole – Mangel und Vollkommenheit – in einem bestimmten Grad anwesend sind. Die richtige Vorstellung, so die diotimische Rede, hat sowohl an der Weisheit (sov¸a) Anteil, da sie durch Richtigkeit ausgezeichnet ist und das Wahre enthält, als auch an der Unwissenheit (!lah¸a), da ihr die Begründung fehlt. In 204b wird dieser Sachverhalt mythologisch begründet: »Und auch davon ist seine [sc. Eros] Herkunft Ursache; denn er ist von einem weisen (sovºr) und wohlbegabten (eupoqor) Vater, aber von einer unverständigen und dürftigen Mutter (lgtq¹r d³ oq sov/r ja· !pºqou)« (symp. 204b). Das ist eine Anspielung auf die mythische Erzählung von Poros und Penia als Erzeuger des Eros, die in

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203a–c zur Veranschaulichung der daimonischen, vermittelnden Natur des Eros eingefügt wird. Die Bezugnahme auf die mythische Herkunftsgeschichte unterstreicht an dieser Stelle die Annahme einer Präsenz der Sophia im Wahrheitsverlangen, die hier mit der Euporia – der Gewandtheit und Geschicktheit im Finden von Lösungen und Wegen – verbunden wird. Aus dieser Strukturanalyse des Eros lässt sich eine sehr starke, positive Bestimmung der philosophischen Existenz ableiten. Der Wahrheitseros ist nicht nur durch Bedürftigkeit charakterisiert, er ist nicht nur die Kraft, die das Gute aus dem Mangel heraus begehrt und im Erkenntnisstreben energisch verfolgt, sondern zugleich die Dynamis, die das Agathon von Anfang an in bestimmter Weise schon in sich trägt. Vom Guten getrennt ist demnach nur der sich selbst verkennende Unverstand, das Nichtwissen des Nichtwissens.56 bb)

Dynamik des Eros (Symposion)

Im Diotima-Logos des Symposions wird darüber hinaus deutlich, dass der Eros nicht nur von Anfang an am Begehrten teil hat, sondern in seiner strebenden Bewegung punktuell den Zielzustand und die damit verbundene Erfüllung erreicht. Dieser Aspekt wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Viele Interpreten vertreten unter Verweis auf das Strebemoment des Eros die These, dass der von Platon konzipierte Wahrheitseros in einer unendlichen Approximation begriffen ist, die das Ziel nie erreicht und insofern ewig im letan¼ verbleibt.57 Gegen diese Deutung hat jedoch Albert (1980) überzeugend eingewendet, dass Platon das erotische Streben als eine kontinuierliche Pendelbewegung darstellt, die durch ein wiederholtes kurzzeitiges Erreichen des Ziels und einen Abfall davon charakterisiert ist.58 Albert führt zunächst das Argument an, dass »das Zwischensein des Eros nicht als ein gewissermaßen statisches, als ein in der Mitte zwischen den beiden Bereichen des Wissens und der Unwissenheit ein für allemal Festgestelltes zu denken ist« (66), sondern als dynamisches Prinzip, als Bewegung von einem Pol zum anderen. Für die Annahme eines zeitweiligen Erreichens des epistemischen Ziels sprächen folgende drei Punkte: 1) die von 56 Aber auch hier besteht keine absolute Trennung, da durch die Wissensillusion eine – wenn auch pervertierte – Bindung an die Sache aufrechterhalten wird. 57 So z. B. Detel (2003) (vgl. auch 2006, 312f.), der das Symposion auf der Basis der Unterscheidung zwischen einem nicht erreichbaren perfekten Wissen und einem erreichbaren elenktischen Wissen (vgl. Vlastos 1983, 1985, 1994) deutet und die platonische Eros-Darstellung als Veranschaulichung der schwachen epistemischen Position des Menschen versteht. Das erotische Wissen bewege sich zwischen den Polen des Nichtwissens und des perfekten Wissens und erreiche nie das erstrebte Wissensziel. Der mögliche Progress sei hier im Sinn einer inifiniten Annäherung zu denken. So auch Rowe (1998 und 2007). 58 So auch Sheffield (2006, 40–46 u. 60), Erler (2007a, 350), Zehnpfennig (2007, 200), Manuwald (2009, 319), Szlez#k (1993, 156f.) (2010, 30).

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Platon verwendete Jagdmetapher, 2) die etymologischen Anspielungen und 3) die geltend gemachte Strukturverwandtschaft mit dem sinnlichen Eros. Zu 1): Die Bezeichnung des Eros als »gewaltige[r] Jäger«, der »tapfer, unerschrocken und unermüdlich« ist und dem »Guten und Schönen nachstellt« (symp. 203d) deute auf ein Erreichen des Begehrten hin, denn »ein Jäger ist ja nicht nur dadurch ausgezeichnet, daß er dem Wild nachstellt, sondern es gehört zu einem Jäger, wenigstens aber zu einem guten, daß er auch Beute macht, daß er das von ihm gejagte Wild auch erjagt« (67). Zu 2): Der in der mythischen Herkunftsgeschichte als Vater des Eros angeführte Poros (symp. 203b) verweise ebenfalls auf eine Erfüllung des Strebens, »denn pºqor hängt zusammen mit peq÷m: ›durchdringen‹ und bedeutet den Durchgang, die Furt […]. Als Sohn des Poros ist Eros also der, der den Weg, den Durchgang findet, der bis zum Ziel durchkommt« (67).59 Zu 3): Da die platonische Thematisierung des Eros bei der Sinnlichkeit ihren Ausgang nimmt und der geistige Eros nach dieser Darstellung vom sinnlichen Eros strukturell nicht völlig verschieden ist, sondern als eine höhere Ausdifferenzierung desselben Grundtriebes ähnliche Wesenseigenschaften und Strukturmerkmale aufweist, liegt die Annahme nahe, dass das geistige Begehren analog zum körperlichen Liebesverlangen zeitweilig zur Erfüllung gelangt (67). So wie es im Bereich des Sinnlichen »immer wieder wohl das Erreichen des Ziels, aber auch das ständige Abfallen von ihm und das neue Streben nach ihm gibt« (67), so vollzieht auch der geistige Eros eine strebende Bewegung zum Begehrten hin, gelangt punktuell zur Erfüllung und treibt dann wieder in Richtung des Ausgangszustandes zurück, der zu neuem Streben Anlass gibt: »der Philosophierende legt einen Weg zurück von der Unwissenheit zum Wissen, erreicht dieses Wissen und fällt dann, weil er es nicht ein für allemal festhalten kann, wieder vorübergehend in die Unwissenheit zurück« (67). Diese Art von Wellenbewegung wird im Diotima-Logos an verschiedenen Stellen angedeutet. Die These einer punktuellen Erfüllung des geistigen Begehrens lässt sich also textlich gut belegen. Im Rahmen der Thematisierung des intermediären Status des Eros lässt Platon die Priesterin erklären: »Was er [sc. Eros] sich aber schafft, geht ihm immer wieder fort« (t¹ d³ poqifºlemom !e· rpejqe? symp. 203e4). Eros findet einen Weg zum Ziel, er erreicht etwas, aber das Erreichte zerrinnt wieder und muss neu hervorgebracht werden. In ähnlicher Weise wird an späterer Stelle im Kontext der Behandlung der Unsterblichkeitsthematik davon gesprochen, dass eine gewonnene Erkenntnis wieder verloren gehen kann und durch Nachdenken und Beschäftigung mit der Sache neu zu erringen, zu ›zeugen‹ ist (symp. 208a). 59 Ähnlich Sheffield (2006, 62): »In virtue of his father, Eros can find the means to procure the knowledge he realizes he lacks. He has 1pibouk¸a, good deliberative skill, which makes him resourceful at getting the knowledge he lacks. […] Eros knows how to get wisdom.«

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Diese Dynamik des erotischen Strebens verweist auf zwei für die platonische Epistemologie äußerst bedeutsame Annahmen: die Vergänglichkeit der gewonnenen Erkenntnis und die Notwendigleit einer Wiederholung der Erkenntnisbewegung. Ohne einen allzu ausgedehnten Exkurs in die platonische Erkenntnistheorie zu unternehmen, sollen die beiden Aspekte im Folgenden unter Rückgriff auf die mittleren Dialoge, insbesondere Politeia und Phaidros näher betrachtet werden, weil sie auf die Hexis des Nichtwissens als angemessene Geisteshaltung verweisen und insofern die Thematik der Selbsterkenntnis berühren. cc)

Epistemologischer Exkurs I: Vergänglichkeit der Erkenntnis und Periodizität der Erkenntnisbewegung (Symposion, Phaidros)

In symp. 208a wird der Gedanke formuliert, dass die vom Menschen erworbenen Erkenntnisse dem ›Vergessen‹ (k¶hg) anheimfallen können und somit dem Vergehen unterworfen sind: Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen, teils vergehen und wir nie dieselben sind in bezug auf die Erkenntnisse, sondern daß auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis (k¶hg c±q 1pist¶lgr 5nodor). (symp. 207e5–208a5)60

Das heißt: Nicht nur die Meinung (dºna), sondern auch die viel stärkere und epistemologisch höherstufige Erkenntnis (1pist¶lg) ist endlich, vergänglich, zeitlich begrenzt. Im gesamten Bereich der intellektuellen Leistungen gibt es also keinen endgültigen, durch Dauer, Beständigkeit, unzerstörbaren Besitz charakterisierten Zustand. Alles im Erkenntnisprozess Erreichte ist prinzipiell vom Verlust bedroht (vgl. auch symp. 203e4). Borsche (1990, 71f.) hat im Hinblick auf diese Sätze von »starken Worte[n]« gesprochen, die »von Platonisten unter den Patonforschern gern als unplatonisch bezeichnet« werden.61 Schaut man sich jedoch an, was Platon in anderen Dialogen in metaphorischer, mythischer oder lehrhafter Form über den Erkenntnisprozess, die epistemische Situation des Menschen und das Erkenntnisziel sagt, so erscheinen diese Sätze als durch und durch platonisch. Entscheidend für das Verständnis der Vergänglichkeitsthese ist deren Begründung. Im Symposion wird der Satz durch den Verweis auf die Endlichkeit 60 Vgl. Phil. 52a/b. 61 Borsche (1990, 72) versucht, der Vergänglichkeitsthese die Schärfe zu nehmen, indem er sie auf das diskursiv-dianoetische Wissen einschränkt. Für solch eine Einschränkung lassen sich jedoch in den entsprechenden Argumentationen keine Belege finden. Auch die noetische Erkenntnis unterliegt als Gewordenes dem Prinzip des Vergehens.

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und Wandelbarkeit des sterblichen Seins in all seinen Ausformungen argumentativ belegt (symp. 207d–208b). So wie das leibliche Dasein im Ganzen dem Werden und Vergehen ausgesetzt ist, so sind auch die einzelnen Seinsbereiche, die Bestandteile des Leibes – Blut, Haare, Knochen, Fleisch –, die seelischen Kräfte – Begierden, Affekte, Gewohnheiten – und die Leistungen des Geistes – Meinungen und Erkenntnisse – während der individuellen Lebensdauer dem Entstehen und Vergehen unterworfen.62 Alles Entstandene, in der Zeit Gewordene – und dazu gehört auch die menschliche Erkenntnis – trägt als solches das Verfallsmoment in sich.63 Der Akzent liegt in dieser Darstellung freilich nicht auf dem Verfallsaspekt, sondern auf dem Erneuerungsgedanken64, da es ja in der diotimischen Rede um den Eros geht, dessen Ergon und Vollzugsweise als Zeugung (c´mmgsir) bestimmt wird. Die in allen Identitätsbereichen wirksame Erzeugung, die das Vergehende und Absterbende durch ein strukturell und qualitativ Ähnliches, Neues ersetzt, ist nach dem Diotima-Logos die Art und Weise, im Bereich des Sterblichen Dauerhaftigkeit und Beständigkeit zu erreichen. Sie ist das Erhaltungsprinzip, die sterbliche Art der Unsterblichkeit, die sowohl den leiblichen als auch den seelisch-geistigen Bereich bestimmt. Die von Platon vorgenommene Explikation der Vergänglichkeit der Erkenntnis erschöpft sich jedoch nicht in dem an die Tradition anknüpfenden Verweis auf das allgemeine Prinzip des Werdens und Vergehens, dem alles Irdische ausgesetzt ist. Hinzu kommt die Begründung in der komplexen und dynamischen Seelenstruktur des Menschen. Von Interesse sind hier insbesondere die Ausführungen in der Politeia.65 Wesentliche Merkmale der sterblichen Existenz sind, so Platon in rep. 611b, Vielheit und Mannigfaltigkeit sowie Differenz und Unähnlichkeit. Alles Sterbliche ist aus vielen, verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt und wird auf dieselbe Art, wie es zusammengesetzt wurde, auch wieder aufgelöst und zerteilt.66 So ist auch die Seele in ihrer irdischen, leibgebundenen Daseinsweise ein 62 Diese Annahme eines alles umgreifenden Wandels wirft das Problem der personalen Identität bzw. die Frage nach dem einheitsstiftenden, mit sich selbst identischen Selbst auf. Vgl. dazu Karl (2010, 113–120). 63 Vgl. rep. 546a, wo dieser Gedanke mit Hinblick auf den Verfall der besten Verfassung formuliert wird: »Schwer zwar ist es, daß ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate; aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht (!kk( 1pe· cemol´m\ pamt· vhoq² 1stim), so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen, sondern sich auflösen«. 64 Es ist schon häufig festgestellt worden, dass hier Motive und Termini aus der Mysterienreligion aufgegriffen werden. Der Gedanke einer Unsterblichkeit durch Erneuerung und Wiederkehr des Lebens ist in dem durch die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter bestimmten eleusinischen Mysterienkult ein zentrales Motiv. Vgl. Giebel (1990, 17–53). Zur platonischen Aufnahme von Motiven der Mysterienreligion vgl. Riedweg (1987). 65 Vgl. auch Phaidr. 246a–256e. 66 Vgl. Phaid. 78c.

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Kompositum.67 In Anknüpfung an die im vierten Buch dargestellte Seelenteilkonzeption (rep. 435aff.) bestimmt Platon die menschliche Seele in rep. 588c als ein aus vielen Gestalten und Kräften Zusammengewachsenes. Unter Rückgriff auf die mythischen Figuren der Chimaira, der Skylla und des Kerberos beschreibt er die Seele in bildhafter, anschaulicher Form als Wesen, das aus einem bunten, vielköpfigen Tier, einem Löwen und einem Menschen besteht (rep. 588c–e). Dieser Darstellung folgt eine Beschreibung des Zusammenspiels der einzelnen Kräfte. Wird der innere Mensch (b 1mt¹r %mhqypor)68, der der Vernunftseele entspricht, mit der ihm zukommenden Nahrung – der Vernunfteinsicht – versorgt69, so besitzt er die notwendige Stärke, gestaltend und ordnend in das seelische Kräftespiel einzugreifen und die verschiedenen Bestrebungen vernünftig zu lenken (rep. 589a/b). Wird diese Ernährung jedoch über längere Zeit ausgesetzt oder gar nicht erst geleistet, so verliert er zunehmend an Kraft und vermag immer weniger, den nach ihrer spezifischen Erfüllung strebenden Begierden, Neigungen und Wünschen Widerstand zu leisten und eine Mäßigung und Ordnung der Kräfte zu bewirken (rep. 588e/589a). Die zunehmend erstarkenden Begierden höhlen die durch ›Unterernährung‹ ohnehin schon geschwächte Vernunftinstanz noch weiter aus und bewirken, dass falsche Meinungen über das Gerechte und Gute die Oberhand gewinnen und handlungsleitende Kraft erhalten. Der Gedanke der von Affekten und Begierden bewirkten Aufweichung einer 67 Als solches ist sie auch sterblich, wie in rep. 611b ausgeführt wird: »Nicht leicht […] wird ewig sein, wie sich uns doch jetzt die Seele gezeigt hat, was aus vielem zusammengesetzt ist«. Damit wird nicht die Unsterblichkeit schlechthin geleugnet, sondern nur der endlose Fortbestand der irdischen Gestalt und Seinsweise der Seele. Vgl. zur sterblichen Gestalt der Seele die Glaukos-Metapher (rep. 611c–612a). Die These von der Vergänglichkeit der zusammengesetzten Seelengestalt widerspricht nicht den Ausführungen im Phaidros, wie häufig angenommen wird. Die vorgeburtliche Seele wird dort zwar in mythisch-bildhafter Form als eine »zusammengewachsene Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers« (246a6–7) beschrieben. Diese Bestimmung wird jedoch als gleichnishafte Vorstellung kenntlich gemacht, die von der leibgebundenen Seelengestalt her entworfen wurde und von dem Wesen der Seele, »wie es an sich beschaffen« ist (oWom l´m 1sti 246a4), zu unterscheiden sei. Vgl. die parallelen Formulierungen in rep. 611b/c. Dort wird zwischen der Seele, was sie »der Wahrheit nach ist« und der Seele, »wie wir sie jetzt nur sehen, durch die Gemeinschaft mit dem Leib« (611b10–c2) differenziert. Die wahre Natur der Seele sei eingestaltig (lomoeid¶r 612a4; vgl. auch Phaid. 80b1) und von der Vernunft, von der wahrheitsliebenden Kraft her zu erschließen. Zur Unsterblichkeit der Vernunftseele vgl. Tim. 41c, 69c/d, 90a/b. Vgl. dazu Szlez#k (2010, 24–28). 68 Zur Metapher des ›Inneren Menschen‹ bei Platon vgl. die eingehende Untersuchung von Heckel (1993, 11–25). 69 Die methaphorische Beschreibung der Vernunfteinsicht als ›Seelennahrung‹ (tqov¶) findet sich in den platonischen Dialogen häufig. Vgl. z. B. Prot. 313ef.; Phaid. 107d3, 84b; Phaidr. 246e, 247d, 248b/c; rep. 401e, 490b; Tim. 90c. In engem Zusammenhang damit steht die Analogie von körperlicher Gesundheit und bester Seelenverfassung (vgl. Krit. 47d–48a; Gorg. 504b–d, 511e–512b; rep. 444c–445b).

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Vernunft, die durch mangelnde Pflege und Sorgfalt schwach ausgebildet ist, findet sich auch in den Ausführungen über die Einzeltugenden im vierten Buch. Die durch schlechte Erziehung und mangelnde Bildung dürftig verankerten Vernunftvorstellungen werden hier mit einer nicht waschechten Farbe bzw. einer unzureichenden Einfärbung eines Stoffes verglichen, die durch solche Laugen wie starke Affekte, Emotionen, Begierden und körperliche Lüste ausgespült und ausgewaschen werden können (rep. 430a/b). Das anschauliche Seelenbild und die Laugenmetapher können im Zusammenhang mit der im Symposion aufgestellten Vergänglichkeitsthese gelesen werden. Ähnlich wie im Symposion wird hier darauf verwiesen, dass die menschliche Vorstellung und Erkenntnis – wie alles in der Zeit Entstandene – ein immanentes Verfallsmoment in sich bergen. Darüber hinaus führt Platon an dieser Stelle einen weiteren Verfallsfaktor an: die Untergrabung und Aufweichung der Vernunfterkenntnis durch Affekte und Begierden, die wie ein Katalysator wirken und den durch nachlassende Erkenntnisbemühungen einsetzenden Verfallsprozess beschleunigen. Als handlungsorientierende Einsicht ist die ethische Erkenntnis, um die es ja hier letztlich immer geht, eng verbunden mit dem Seelenganzen, das bei Platon als komplexes Gebilde von differenten Kräften und Antrieben, die in bestimmten, veränderlichen Kraftkonstellationen stehen, dargestellt wird. Da die meisten seelischen Kräfte durch Intentionalität charakterisiert sind und immanente Ziele verfolgen, die sich nicht selbst begrenzen und in ihrer Partikularität erkennen, sondern eine innewohnende Tendenz zur Ausdehnung besitzen, stehen diese stets in einer gewissen Spannung zur Vernunfterkenntnis, die in Bezug auf das Ganze zielbestimmend und richtunggebend wirkt. Die Vernunftordnung muss immer wieder neu hergestellt, das richtige Maß immer wieder neu austariert werden. Gelingt dies über einen längeren Zeitraum hinweg nicht, so gelangen die zur Maßlosigkeit und Pleonexie neigenden Kräfte zu Macht und Stärke. Dies führt in letzter Konsequenz zur Schwächung und Marginalisierung der Vernunft und zur Gefährdung des Ganzen. Das Schwinden der ethischen Erkenntnis, so wird an diesen Ausführungen deutlich, ist kein einfaches ›Vergessen‹ oder ›Verlernen‹ wie im Fall des technischen Wissens und Könnens, des Informations- und Faktenwissens. Es handelt sich hier vielmehr um ein mit der Schwächung der ordnenden Kraft der Vernunft verbundenes Verblassen der Einsicht, das zunächst durch nachlassende Erkenntnisbemühungen bedingt ist. Um der Vernunfterkenntnis Beständigkeit und Dauerhaftigkeit zu verleihen, ist nach Platon eine entsprechende Vernunftpflege, also ein ständiger Neuerwerb der Einsicht und eine fortwährende Einübung in die vernünftige Selbstregierung nötig. Der Erneuerungsgedanke wird, wie bereits angedeutet, in der Eroskonzeption des Symposions formuliert. Er ist jedoch auch in der den Wachstums-

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und Erhaltungsprozessen der Physis entlehnten Metapher der ›Seelennahrung‹ (tqov¶) impliziert. Die physische Nahrungsaufnahme ist kein singulärer Akt, sondern muss um der Erhaltung des Organismus willen in regelmäßigen Abständen realisiert werden. Da es Grundkonstanten einer gesunden, dem menschlichen Lebewesen angemessenen Ernährung gibt, sind es immer dieselben oder ähnliche Nahrungsmittel und Nährstoffe, die dem Organismus zugeführt werden. Analog dazu kann die Vernunft ihre ordnende, lenkende Kraft nur dann erhalten und die optimale Ausübung ihrer spezifischen Funktionen gewährleisten, wenn sie in periodischen Abständen ähnliche Erkenntnisbewegungen und Einsichten realisiert.70 Auf diese Art von Periodizität der Vernunfterkenntnis deutet Platon in den Dialogen wiederholt hin. Im Symposion wird der Aspekt nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern auch auf der Handlungebene demonstriert. Platon stellt die Rede der Diotima in Form einer Erzählung des Sokrates über die mit der Mysterienpriesterin geführten Lehrgespräche dar und verweist in eingefügten Reflexionen auf den Wiederholungscharakter dieser Unterredungen. In symp. 207a5–6 und 207c8 lässt er in den sokratischen Bericht Bemerkungen über den Verlauf der Lehrgespräche einfließen, aus denen hervorgeht, dass die Begegnung mit der mantineischen Priesterin nicht in einem einmaligen Gespräch bestand, sondern viele Gespräche umfasste, in denen immer wieder dieselben Themen und Gehalte erörtert worden sind.71 Ähnliche Bemerkungen zum Erkenntnisprozess finden sich im Menon. Nach Beendigung des mit dem Sklaven durchgeführten Exerzitiums erklärt Sokrates: »Und jetzt sind ihm nur noch eben wie im Traume diese Vorstellungen aufgeregt. Wenn ihn aber jemand oftmals um dies nämliche befragt und auf vielfache Art (eQ d³ aqtºm tir !meq¶setai pokk²jir t± aqt± taOta ja· pokkaw0), so wisse nur, daß er am Ende nicht minder genau als irgendein anderer um diese Dinge wissen wird« (Men. 85c/d). Um Einsicht zu gewinnen und diese zu festigen, also auf Dauer zu erhalten, muss die gesuchte Sache ständig aufs Neue zum Gegenstand des Fragens gemacht und aus unterschiedlichen Perspektiven sowie in differenten Kontexten betrachtet werden.72 70 Vgl. Tim. 90c/d. Hier wird die Physis-Analogie auf die Bewegung ausgedehnt. So wie der Körper der gesunden Ernährung und der Bewegung bedarf, braucht auch die Vernunft die angemessenen Nahrungsmittel und Bewegungen. 71 Darauf hat bereits Krüger ([1939] 1992) hingewiesen. Krüger greift in seiner immer noch lesenswerten Symposion-Studie den Aspekt der Erneuerung der Erkenntnis auf und deutet die in symp. 208a4 als Rettung gegen das ›Vergessen‹ angeführte lek´tg im Sinn einer intellektuellen Übung, die durch die »häufige Wiederholung des Gleichen« (172) charakterisiert ist. 72 Vgl. auch rep. 538d8f. und Tht. 150dff. Auch im epistemologischen Exkurs des Siebten Briefes wird eine Wiederholung von ähnlichen Denkbewegungen angedeutet. Der als dialektische Prüfung kenntlich gemachte ›Durchgang‹ (diacyc¶) durch die verschiedenen

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Eine besonders anschauliche Darstellung des Wiederholungsmotivs findet sich im Phaidros (246a–249d). In der mythischen Erzählung vom Auszug der göttlichen und menschlichen Seelen zum überhimmlischen Ort, die Vorstellungsmuster aus der olympischen Religion, den Mysterienkulten und den religiösen Weisheitssekten aufgreift, wird die Erkenntnisbewegung als ein sich periodisch vollziehender Seelenumlauf (peqivoq², peq¸odor) beschrieben. Unter Rückgriff auf die bereits erwähnte Analogie zu physischen Ernährungsprozessen stellt Platon hier eine geistige Bewegung dar, die durch regelmäßige Wiederkehr und Kreisförmigkeit charakterisiert ist. Die Vernunft (moOr), angetrieben vom Eros, der metaphorisch als ›Gefieder‹ (pt´qysir)73 der Seele, als das Beflügelnde, Emporhebende umschrieben wird, vollzieht unter Beteiligung und Mitnahme aller seelischen Kräfte einen Aufschwung zur Wahrheitserkenntnis74, erreicht unter großer Anstrengung punktuell das Ziel (Phaidr. 248a) und kehrt dann zum Ausgangspunkt zurück (Phaidr. 247d5f.). Aufgrund der nie endgültig zu überwindenden, immer wieder neu entstehenden Bedürftigkeit wird diese Kreisbewegung in bestimmten Abständen wiederholt. Auf diese Weise entsteht ein Seelenumlauf (peqivoq², peq¸odor 247c1, 247d5f.)75, der durch Regelmäßigkeit, relative Beständigkeit und durch eine Ähnlichkeit der Umlaufbahn gekennzeichnet ist.76 Im Kontext der Untersuchung der Selbsterkenntnis bei Platon ist das Faktum

73 74 75

76

Darstellungen der jeweils gesuchten Sache – Benennungen, Erklärungen, sinnliche Vorstellungen und Wahrnehmungen – ist nicht auf einen singulären Erkenntnisakt beschränkt. In epist. VII 344b6 ist von wiederholten Elenchoi die Rede, die zu realisieren sind, um Vernunfteinsicht zu erwerben und zu festigen. In Phaidr. 252b wird der Gott Eros als ›Flügler‹ (Pt´qyr) benannt, weil er das Gefieder heraustreibt und Flügel verleiht. Gemeint ist primär die Erkenntnis des Kalon, des Agathon, der Sophia und der Tugenden (vgl. Phaidr. 246e1 und 247d7f.). Die in Phaidr. 265d–e beschriebene Methode der Zusammenschau (sumacyc¶) und der Zergliederung (dia¸qesir), die häufig als platonische Dialektik angesehen wird, ist nicht das dialektische Verfahren, dass in dem gemeinten Seelenumlauf zur Anwendung kommt. Darauf verweist zum einen der von Platon angegebene Anwendungsbereich der synagogisch-dihairetischen Methode. Diese Dialektik wird bei der Gestaltung von Logoi gebraucht, die didaktischen (265d5, 271b3) und psychagogischen (271c10) Zwecken dienen, so wie die zweite Liebesrede des Sokrates (244a–257a), auf die sich die Ausführungen zur Dialektik explizit beziehen (265d–266b). Zum anderen aber wird im zweiten Teil des Phaidros wiederholt darauf verwiesen, dass diese Art von dialektisch-didaktischen Logoi Wahrheitserkenntnis voraussetzen (259e–262c, 272c–274b, 276a, 277b, 278c–e). Um das methodologische Prinzip des ›Zusammenziehens‹ und der ›Teilung‹ sachgemäß durchführen und eine Seele zur eigenen Erkenntnisbemühung durch geeignete Logoi hinführen zu können, muss man selbst die Sache, d. h. das Gerechte, Gute und Schöne (260c6, 272d5) erkannt haben. Die primäre Sacherkenntnis wird folglich durch eine andere Art von Dialektik gewonnen. Von den Umläufen der menschlichen Seele (t/r xuw/r peqiºdoir) ist auch im Timaios (47b– d) die Rede. Die Seelenumläufe werden dort zu den Umläufen der kosmischen Vernunft in Beziehung gesetzt. Vgl. auch Tim. 90c/d: Die Gedanken und Umläufe des Alls seien dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen.

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interessant, dass hier explizit auf die Defizite der menschlichen Erkenntnisbewegung verwiesen wird. In der mythischen Erzählung findet sich zunächst die Schilderung einer perfekten und vollkommenen Aufstiegsbewegung der göttlichen Seelen (Phaidr. 247a–e), die in diesem Zusammenhang den Zweck hat, ein von allen Defiziten freies Ideal zu entwerfen und im Hinblick darauf das Menschenmögliche zu bestimmen. Platon greift hier erkennbar Elemente aus der traditionellen olympischen Religion auf – wie die Gestaltung von anthropomorphen, individuellen Götterfiguren und deren innerkosmische Verortung sowie die Vorstellung von Göttern als ideale Wesen, die sich von den Sterblichen nur graduell unterscheiden und die vom Menschen angestrebten Zustände, Kräfte und Werte in perfekter Form präsentieren. Er gibt diesen Vorstellungen jedoch einen ganz neuen Inhalt. Das auf die Götterfiguren projizierte Ideal besteht hier in einem Erkenntnisaufstieg, der ohne Komplikationen, innere Kämpfe, Widerstände vollzogen wird, der stets gelingt und in vollkommener Weise zum Ziel führt, der durch persistente Wiederholung, durch Beständigkeit, Ewigkeit und Unzerstörbarkeit ausgezeichnet ist (Phaidr. 247a–e).77 Die vom Menschen erreichbare Erkenntnisbewegung78 bleibt demgegenüber stets defizitär. Wie mittels der Seelenwagenmetapher anschaulich dargestellt wird, hat die menschliche Seele mit inneren Widerständen zu kämpfen; die von ihr vollzogene geistige Bewegung ist immer mit Mühe (lºcir) und Anstrengung verbunden, erreicht häufig nur in unvollkommener Weise oder mitunter gar nicht das Ziel, unterliegt also der Gefahr des Scheiterns und ist von Ermüdungserscheinungen und Erlahmung bedroht, die den Seelenumlauf in seiner konstanten Wiederholung gefährden (247b, 248a–c). Diese Defizite bleiben trotz der Möglichkeit der Erfolgsoptimierung durch Erfahrung und Übung und der Bannung der Gefahren durch entsprechende Gegenbewegungen prinzipiell immer bestehen. Der Mensch kann eine Gottähnlichkeit erlangen79, aber nicht 77 Die Tatsache, dass auch die Götter der ›Seelennahrung‹ bedürfen, verweist auf deren Relativität. Auch in diesem Punkt greift Platon auf traditionelle Vorstellungsmuster zurück. Nach Auffassung der olympischen Religion sind die Götter zwar in Relation zu den Menschen die ›Stärkeren‹, ›Besseren‹; sie sind jedoch keine das Absolute verkörpernde Wesen. Vgl. dazu Burkert (GR 283), Vernant (1993, 12), Vegetti (1993, 308), Veyne (2008, 15f.). 78 Die mythische Verortung der Umläufe der menschlichen Seele in der ›himmlischen‹ Sphäre und die dargestellte Ähnlichkeit mit den Göttern sind keineswegs als Hinweis darauf zu deuten, dass die beschriebene Erkenntnisbewegung im leiblich-sinnlichen Dasein nicht möglich ist. Gegen solch eine Deutung spricht die ganze nachfolgende Darstellung (249d– 256e), die zu zeigen unternimmt, wie es im menschlichen Leben zu einer ›Befiederung‹ kommt. Die beschriebenen Philosophen entsprechen in ihrer Tätigkeit den in der mythischen Erzählung dargestellten Seelen: Sie sind »soviel wie möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindet« (249c6–7); sie enthalten sich der menschlichen Bestrebungen und gehen mit ›dem Göttlichen‹ um (249c9f.); durch die unablässigen Erkenntnisbemühungen und wiederholten Aufstiegsbewegungen werden sie befiedert und leicht (249c5 und 256b4). 79 Vgl. das Motiv der ›Verähnlichung mit Gott‹ (blo¸ysir he`) in Tht. 176b1; Phaidr. 253a/b;

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zum Gott werden.80 Dieses alte apollinisch-delphische Gedankengut wird von Platon beibehalten, auch wenn die Grenzen des Menschen ganz anders bestimmt werden. Angesichts der im Phaidros dargestellten zyklischen Erkenntnisbewegung stellt sich freilich die Frage, ob es in diesem Erkenntnisgeschehen irgendeine Art von Fortschritt gibt. Das Erneuerungsmotiv und der Wiederholungsgedanke scheinen zunächst nahezulegen, dass sich Platon eher am Sisyphos-Modell orientiert und ein Erkenntnissubjekt konzipiert, das trotz unendlicher Bewegung keinen Schritt vorwärts kommt und letztlich auf ein und demselben Stand verharrt. Betrachtet man jedoch die relevanten Passagen aus dem Menon und dem Theaitetos, so wird deutlich, dass das platonische Erkenntnismodell nicht nur zyklische, sondern auch progressive Momente enthält. Wie später noch genauer zu zeigen sein wird, weist Platon in der MaieutikPassage des Theaiteos (150c–151b) und dem Kommentar zum Sklavenbeispiel des Menon (85c/d, 86a) darauf hin, dass im fortschreitenden Erkenntnisprozess eine Vertiefung, Internalisierung und Festigung der Einsichten und gewonnenen Resultate erzielt werden. Die zunächst erreichte richtige Meinung (aqhµ dºna) wird bei fortgesetzter Wiederholung der dialektischen Untersuchung sukzessive auf die Erkenntnis (1pist¶lg) hin überschritten, die in der Folge eine weitere Vertiefung und Personalisierung, also eine Verschmelzung mit der Person des Wissenden erfährt. Vor dem Hintergrund dieser Andeutungen lässt sich die vorläufige These aufstellen, dass der von Platon gemeinte epistemische Progress offenbar weniger in einer Wissensakkumulation oder einer quantitativen Wissenserweiterung besteht, sondern eher in einer graduellen Steigerung der Erkenntnis, die auf der Verstehensebene angesiedelt und mit einem Zuwachs an Selbstformung und Persönlichkeitsbildung verbunden ist. Als Gewordenes bleibt die Vernunfteinsicht zwar grundsätzlich dem Prinzip der Vergänglichkeit unterworfen; aufgrund der fortgesetzten Erkenntnisbewegung erfährt sie jedoch eine sukzessive Verankerung in der Seele. Die Periodizität des Seelenumlaufs führt zu einem Zuwachs an Beständigkeit und Festigkeit und zur Ausbildung einer entsprechenden Hexis mit der Folge, dass die Einsicht zunehmend weniger leicht ›verloren‹ gehen kann. Diese knappen Ausführungen zu Aspekten der platonischen Epistemologie lassen erkennen, dass Platon ein dynamisches, äußerst komplexes Erkenntnismodell präferiert, das nicht in der simplen Alternative – Erkenntnisoptimismus vs. epistemische Skepsis – aufgeht. Die moderne Debatte über den platonischen rep. 500c/d, 613b1–2; Tim. 90d4; leg. 716c/dff. Zur Formel der Angleichung an Gott in den mittleren und späten Dialogen vgl. Bordt (2009b, 253–255). 80 Ähnlich Karl (2010, 316): »Dass es uns Menschen möglich ist, dem Göttlichen ähnlich zu werden, bedeutet auch bei Platon nicht, dass wir göttlich werden könnten«.

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Philosophiebegriff81 bewegt sich meist in den engen Grenzen dieser Alternative und diskutiert im Wesentlichen zwei Modelle: Ein durch die Annahmen der prinzipiellen Erreichbarkeit des Erkenntnisziels und der zeitlichen Begrenztheit des Erkenntnisprozesses bestimmtes philosophisches Paradigma auf der einen Seite und ein am romantischen Philosophiebegriff orientiertes Modell der unabschließbaren Suche und der unendlichen Approximation auf der anderen Seite. Die oben angeführten Texte und Passagen deuten jedoch eher auf ein drittes Modell hin, das die Aspekte der Endlichkeit und Unendlichkeit umgreift und zur Synthese vereint: Die Erkenntnissuche erreicht punktuell das Erkenntnisziel und ist insofern endlich. Durch die zyklische Wiederholung der Bewegung und die fortschreitende Vertiefung der Einsicht, die unendlich graduell gesteigert werden kann, ist der Erkenntnisprozess im Ganzen jedoch durch das Merkmal der Unendlichkeit und prinzipiellen Unabschließbarkeit charakterisiert. Die paradox anmutende Einheit von Erreichung des Erkenntnisziels und gleichzeitiger unendlicher Annäherung entspricht dem Doppelcharakter des menschlichen Seins und dem intermediären Status des Eros: Als Wesen, das am Göttlichen und am Sterblichen Anteil hat, vermag der Mensch zwar das Gute zu erkennen, aber nur unter den Bedingungen der Sterblichkeit, d. h. einer niemals endgültig zu überwindenden Bedürftigkeit und Unvollkommenheit. dd)

Folgerungen für die Hexis des Nichtwissens

Diese epistemologischen Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis stehen in einem engen Zusammenhang mit den Motiven der Selbsterkenntnis und des Nichtwissens. Die von Platon im Kontext der Eros-Thematik angesprochene Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen impliziert die Annahme, dass der Zustand des Nichtwissens niemals endgültig und abschließend in einen Zustand des Wissens überführt werden kann. Die in der Selbsterkenntnis gründende Hexis des Nichtwissens bezeichnet kein bloßes Zwischenstadium auf dem Weg zur Erkenntnis, sondern ist die dem Menschen angemessene, ihm zukommende Haltung. Diese bereits in der Apologie artikulierte Auffassung wird von Platon, so lassen zumindest die Dialoge Symposion und Phaidros erkennen, auch in den mittleren Dialogen vertreten.82 Die Ausführungen zur Vergänglichkeit der Erkenntnis und der in Analogie zu physischen Ernährungsprozessen konzipierte Erneuerungsgedanke können als Ex81 Vgl. zu dieser Diskussion Krämer (1996) und Manuwald (2009). 82 Angesichts der starken Präsenz des Erneuerungs- und Wiederholungsmotivs in den platonischen Dialogen, die sich bis ins Spätwerk hinein verfolgen lässt (vgl. z. B. Tim. 47b–d; 90c/ d), sind auch die Aufstiegsdarstellungen im Symposion (210a–212b) und in der Politeia (514a–518b), die für eine abschließbare, finite Erkenntnisbewegung zu sprechen scheinen, neu zu bewerten.

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plikation der in der Apologie dargestellten ›menschlichen Weisheit‹ (!mhqyp¸mg sov¸a) verstanden werden. Im Symposion und Phaidros wird gleichsam eine anthropologische Begründung dieser Weisheitsbestimmung und der damit verbundenen Negation von übermenschlichen Wissensansprüchen geliefert. Die Liebesdialoge machen jedoch auch deutlich, dass die in der Apologie beschriebene Hexis des Nichtwissens keineswegs im Sinn eines lähmenden Erkenntnispessimismus, einer Resignation oder intellektuellen Passivität zu verstehen ist. Durch die Verknüpfung des Selbsterkenntnis-Motivs mit der ErosThematik wird gezeigt, dass die Haltung des Nichtwissens eine aktivierende Disposition ist, die im Verbund mit dem Wahrheitsverlangen eine engagierte Erkenntnissuche hervorbringt. Selbsterkenntnis und Wahrheitseros werden im Symposion in Analogie zu physischen Fortpflanzungsprozessen gedeutet und mit den Momenten der Fruchtbarkeit, Zeugung, Steigerung in Zusammenhang gebracht. Der Hexis des Nichtwissens wird nichts Geringeres als die Funktion eines Lebensprinzips im epistemischen Bereich zugesprochen: Sie erzeugt und erhält geistiges Leben. Das negative Korrelat zu diesem geistigen Zeugungsprinzip ist die Wissensgewissheit oder Wissensillusion, die aus erotischer Perspektive als geistig unfruchtbare Haltung erscheint, die nichts hervorbringt und in Bewegungslosigkeit und Dogmatismus erstarrt.

d)

Wissensprüfung als Wahrheitssuche

Da das Selbsterkenntnis-Motiv bei Platon eng mit dem Themenkomplex einer individuell zu leistenden Erkenntnissuche verknüpft ist, sollen abschließend einige Ausführungen zur konstruktiven Wahrheitssuche gemacht werden. Eine eingehende Untersuchung der von Platon in den mittleren Dialogen konzipierten Erkenntnisbewegung, die dort primär in Form von Gleichnissen und mythischen Erzählungen dargestellt und mit einer Weg- und Lichtmetaphorik veranschaulicht wird, kann hier freilich nicht erfolgen. Die Betrachtung wird sich auf die philosophische Erkenntnissuche im Frühwerk beschränken. Dafür gibt es neben der Begrenzung des Umfangs der Untersuchung auch einen systematischen Grund: Da es in diesem Kapitel um die Einsicht in das Nichtwissen geht und diese Form der Selbsterkenntnis primär im Frühwerk thematisiert und exemplarisch vorgeführt wird, liegt es nahe, bei der Betrachtung der philosophischen Suche dort anzusetzen. Freilich ist auch hier eine Begrenzung der Untersuchung vorzunehmen. Die folgenden Ausführungen zielen nicht auf eine umfassende Analyse der ›sokratischen Dialoge‹ des Frühwerks.83 Im Zusammenhang mit der Selbsterkenntnis83 Die Methode der ›sokratischen Dialoge‹ ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt zum Ge-

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Thematik sollen lediglich einige Beobachtungen zu methodischen, epistemologischen und prozessualen Aspekten fixiert werden, die hypothetischen Charakter haben und im Rahmen einer separaten Studie genauer untersucht werden müssten. aa)

Verschränkung von Elenchos und Wahrheitssuche in den frühen Dialogen

Zunächst ist zu beobachten, dass Platon die Figur des Sokrates in den frühen und mittleren Dialogen als Erotiker par excellence gestaltet und sie damit in den Zusammenhang einer durch Selbsterkenntnis begründeten konstruktiven Wahrheitssuche stellt. Sokrates erscheint in der platonischen Darstellung als der Suchende, der unermüdlich nach Weisheit forscht – an allen Orten84, in unterschiedlichen Situationen, zu allen Zeiten85 – und beinahe jedes Gespräch, ganz gleich, welches der Ausgangspunkt ist, in die gemeinsame Wahrheitsforschung überführt.86 Er ist stets auf der Jagd nach den Schönen87, um im Schönen geistig zu zeugen. Als Philosoph, der vom Eros ganz und gar durchdrungen ist, hat er das Verlangen, andere zu ›erotisieren‹88, in die eigene Liebesbewegung mit hineinzuziehen und zur Wahrheitssuche gleichsam zu verführen. Diese Intention lässt Platon Sokrates im Alkibiades I unmittelbar aussprechen. Nachdem der junge Alkibiades am Ende der Unterredung seine Absicht bekundet hat, sich künftig um die Bestheit seiner Seele zu sorgen und das Gespräch mit Sokrates zu suchen, bemerkt dieser, dass seine Liebe offenbar eine junge Liebe erweckt habe: »Meine Liebe also, o Bester, wird wenig von einem Kranich unterschieden sein, wenn sie bei dir eine junge Liebe wird flügge gemacht haben, und dann selbst wieder von dieser gepflegt werden.« ((Y cemma?e, pekaqcoO %qa b 1l¹r 5qyr oqd³m dio¸sei, eQ paq± so· 1mmeotte¼sar 5qyta rpºpteqom rp¹ to¼tou p²kim heqape¼setai Alk. I 135e1–3). In besonderer Weise bringt Platon die Sokrates-Figur im Symposion und im Phaidros, also den beiden Dialogen, in denen die Liebe ausdrücklich zum Thema

84 85 86 87 88

genstand der Forschung gemacht worden. Zur aktuellen Forschungsdebatte vgl. Strobach (2009, 108f.). Vgl. z. B. symp. 220c/d und die Dialoge Phaidon und Kriton. Sokrates wird dort als Philosoph dargestellt, der selbst in der Kriegssituation und im Gefängnis die Wahrheitssuche realisiert und das Gespräch mit sich selbst und anderen führt. Vgl. z. B. symp. 223c/d. Vgl. die entsprechende Beschreibung der sokratischen Gesprächsführung in Lach. 187e/ 188a. Vgl. z. B. Prot. 309a; Charm. 153d–154c; Alk. I 103a–106a; symp. 213c/d, 222b; Phaidr. 257a. So Rehn (1996, 88): »Man erkennt die ›erotische‹ Dimension der Elenktik: Sie will Menschen zu Liebhabern der Erkenntnis und des Schönen machen, sie gleichsam ›erotisieren‹, indem sie ihnen ihren Mangel vor Augen führt und ihnen dazu verhilft, sich ihrer wahren Bedürfnisse bewußt zu werden.«

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gemacht wird, mit dem Aspekt der Erotik in Zusammenhang. Wie in der Forschung schon häufig bemerkt worden ist, findet sich in der Alkibiades-Rede des Gastmahls (symp. 215a–222a) eine Beschreibung des Sokrates, die diesen als ideale Verkörperung des Eros auszeichnet. In der den Reigen der Logoi über den Eros abschließenden Rede werden Sokrates alle Merkmale zugesprochen, die der Diotima-Logos als Eigenschaften des Eros bestimmt hat. Damit wird ein Motiv aufgegriffen und plastisch ausgestaltet, das Platon bereits an früherer Stelle im Dialog einführt: Sokrates’ Kompetenz in der Liebe. In symp. 177df. findet sich die vielzitierte Aussage, dass Sokrates nichts als Liebesdinge verstehe (t± 1qytij²). Im Phaidros schließlich wird Sokrates als Philosoph dargestellt, der in der besonderen Gunst des Eros steht. Platon lässt Sokrates dort nach der großen Rede über Nutzen und Wirkung der Liebe ein Schlussgebet an Eros richten, das eine Bitte um die Konstanz der ihm verliehenen ›Kunst der Liebe‹ enthält: »Und möchtest du, […] günstig und gnädig mir die Kunst der Liebe (1qytij¶ t´wmg), welche du mir verliehen, im Zorn weder nehmen noch schmälern« (Phaidr. 257a). Der nachfolgende Satz zeigt an, dass sich die Bitte zunächst auf die personale Liebe bezieht (Phaidr. 257a9f.). Da jedoch in der vorherigen Liebesrede expliziert worden war, dass Personenliebe und Wahrheitsliebe untrennbar verbunden sind (vgl. insbes. Phaidr. 256a/b), umgreift das Schlussgebet auch die geistige Dimension der Erotik. Die Darstellung der Sokrates-Figur als Erotiker, der Erkenntnis und seelische Bestheit begehrt und zeugt89, verweist darauf, dass das elenktische Verfahren, das dieser Figur als spezifische philosophische Methode zugeordnet wird, nicht rein destruktiv ist, sondern zugleich ein konstruktives Verfahren zur Wahrheitsfindung darstellt. Das ist im ersten Moment überraschend, da die Apologie und die Tugenddialoge zunächst den Eindruck vermitteln, dass der Elenchos90 ein rein kathartisches Verfahren bezeichnet, das vom Scheinwissen befreit, aber zu keinen positiven Einsichten in die Sache führt. An verschiedenen Stellen der Apologie und in den methodischen Reflexionen, die Platon in die Tugenddialoge des Frühwerks einfließen lässt, wird jedoch ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Wissensprüfung mit der Wahrheitssuche verknüpft ist, woraus zu schließen ist, dass der Elenchos eine konstruktive Dimension hat.91 89 Vgl. insbes. das Pan-Gebet am Ende des Phaidros (279b/c) und den Vergleich mit den geöffneten Silenen in symp. 222a. 90 Die formallogischen und methodischen Aspekte des sokratischen Elenchos sind in den letzten Jahrzehnten vielfach erforscht worden und sollen in dieser Untersuchung nicht analysiert werden. Unter den zahlreichen Arbeiten seien hier hervorgehoben: Robinson (1953), Detel (1973) (1974), Vlastos (1983) (1985) (1994), Stemmer (1992), Benson (2000), Scott (2002), Gill (2004), Erler (2007b). 91 So auch Szaif (1996, 228), der bemerkt, »daß Sokrates in den aporetischen Dialogen selbst

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Die Verschränkung von Prüfung und Wahrheitssuche92 ist in der Apologie vor allem im zweiten Teil der Verteidigungsrede und in der Stellungnahme zum Strafmaß thematisch präsent; sie wird jedoch bereits in der Orakelerzählung angedeutet. Das suchende Moment des sokratischen Verfahrens klingt insbesondere in dem Bericht über die Gespräche mit den Dichtern an: Von ihren Gedichten also diejenigen vornehmend, welche sie mir am vorzüglichsten schienen ausgearbeitet zu haben, fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen (digq¾tym #m aqto»r t¸ k´coiem, Vm( ûla ti ja· lamh²moili paq( aqt_m). (apol. 22b4–5)

Die Stelle macht deutlich, dass in die Prüfung eine auf das Verständnis der artikulierten Logoi zielende Nachforschung eingebunden ist, die von der Motivation getragen wird, etwas über die erörterte Sache zu ›lernen‹. Im Rückgriff auf die schon mehrfach erwähnte Menon-Passage 84c lässt sich erschließen, dass mit der signalisierten Lernbereitschaft der Aspekt der Erkenntnissuche angesprochen wird. Im Menon (84c5–8) verwendet Platon das Verbum ›lernen‹ (lamh²meim) synonym mit ›suchen‹ (fgte?m) und bezeichnet damit jene kognitive wiederholt Hinweise in das Gespräch einfließen läßt, die dem Elenchos noch eine andere Dimension geben, nämlich die der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit über die in Frage stehende Sache. Damit wird dann auch die Frage dringlich nach dem möglichen konstruktiven Beitrag des Elenchos zur Wahrheitsfindung über die Erkenntnis des Nichtwissens hinaus.« Noch deutlicher Döring (2001, 681): »Wesentlich weniger als über den destruktiven Teil der Gespräche des S. erfahren wir aus den erh. Zeugnissen über deren konstruktiven Teil […]. Das ändert nichts daran, daß das eigentliche Ziel ein konstruktives war: ein möglichst sicheres und verläßliches Wissen davon zu erlangen, was das Gute ist. Der Weg zu diesem Ziel ist gleichfalls der des prüfenden Gespräches: Zu dem erstrebten Wissen gelangt man, indem man seine Ansichten bezüglich des Guten im gemeinsamen Gespräch stets von neuem einer schonungslosen Prüfung unterzieht«. Der konstruktive Aspekt des Elenchos hat in der jüngeren Forschung verstärkt Beachtung gefunden. Dabei wird meist die Prämisse zugrunde gelegt, dass das mögliche Ergebnis der Untersuchung in einer wahren Meinung oder einem Definitionswissen besteht. Im Anschluss an die Arbeiten von Vlastos (1983) (1985) (1994) wird in diesem Kontext häufig zwischen einem starken und einem weichen Begriff des propositionalen Wissens unterschieden. Das im Dialog zwar stets erstrebte, aber letztlich nicht erreichbare Wissen sei ein infallibles, perfektes, absolut widerlegungsresistentes, unumstößliches Wissen, ein ›expert knowledge‹. Das durch die sokratische Dialektik erreichbare Wissen hingegen zeichne sich durch Fallibilität, Revidierbarkeit und eine nur relative Widerlegungsresistenz aus. Es handle sich hier um ein nicht-perfektes, elenktisches, menschliches Wissen, ein ›non-expert knowledge‹. Vgl. Reeve (1989), Woodruff (1992), Stemmer (1992), Döring (1998, 164) (2001, 681), Hardy (2004) (2011), Rowe (2003) (2007), Detel (2003) (2006). Hier bleibt jedoch zu fragen, ob es im sokratischen Dialog überhaupt um ein Aussagewissen im Sinn des Logos geht. Wie noch zu zeigen sein wird, deutet vieles darauf hin, dass die sokratische Fragebewegung auf den Nous des im Dialog eingebrachten Logos zielt und zuletzt ein noetisches Wissen gesucht wird. Zur Unterscheidung zwischen Logos und Nous im Frühwerk und zur noetischen Erkenntnis im Tugenddialog siehe unten Kap. B II 1d.cc. 92 Zu den philologischen Belegen für die sokratische Wahrheitssuche in der Apologie vgl. Heitsch (2002, 199f.) u. Weber (2007, 9).

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Tätigkeit, die aus der Einsicht in das Nichtwissen erwächst und vom Wahrheitsverlangen motiviert wird.93 Auf welche Gegenstände die hier angedeutete Erkenntnissuche gerichtet ist, wird in apol. 22c3 deutlich. So wie die Seher und Orakelsänger sagen auch die Dichter »viel Schönes« (pokk± jak²), heißt es dort. Aus dem Kontext ist zu erschließen, dass es in diesen Aussagen um die für die individuelle Lebensführung und das gemeinschaftliche Zusammenleben relevanten Dinge, die sogenannten l´cista geht.94 Das lässt sich mit Blick auf den Ion bestätigen. Analog zur Apologie führt Sokrates im Ion aus, dass die Seher, Orakelsänger und Dichter ›viel Schönes‹ sagen (Ion 534c1).95 Worüber die Dichter angemessen sprechen, also richtige Aussagen treffen, ist aus 531c zu entnehmen. Als Gegenstände der Dichtung werden dort folgende Dinge benannt: Kriegführung, zwischenmenschliches Verhalten, Umgang der Götter miteinander, göttlich-menschliches Verhältnis, Ereignisse im Olymp und in der Unterwelt, Geneaologie der Götter und Heroen. Die dichterische Gestaltung des menschlich-göttlichen Geschehens impliziert ethische Aussagen und Wertungen, die Sokrates offenbar vorzugsweise meint, wenn er von dem ›vielen Schönen‹ spricht. In ähnlicher Weise heißt es im Menon von den Politikern, dass diese über richtige und wahre Meinungen (aqhµ dºna, !kghµr dºna) bezüglich der Tugend und des Guten verfügen, die bei der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens als Leitideen fungieren (Men. 99aff.).96 In der zitierten Apologie-Passage wird somit zweierlei deutlich: Die aus der Selbsterkenntnis hervorgehende Erkenntnissuche richtet sich auf die l´cista; und sie vollzieht sich im Umgang mit den Meinungen über diese Dinge. In der Frage nach dem gemeinten Bedeutungsgehalt eines angeführten Logos (apol. 22b4f.), die sich als Frage nach der Begründung und inhaltlichen Explikation von artikulierten Wertaussagen und Wertkategorien verstehen lässt, ist die philosophische Suche wirksam. Im Hinblick auf Laches 194a/b und Charmides 161d könnte man hier auch von der Frage nach der mit einer sprachlichen 93 Vgl. auch soph. 230a. 94 Ein sorgfältiger, textnaher Nachweis, dass mit t± l´cista die höchsten ethischen Gegenstände gemeint sind, findet sich in der Studie von Meyer (1962, 89ff.) Vgl. auch Heitsch (2002, 86 Fußn. 117). 95 Zu dieser Parallele vgl. Heitsch (2002, 82f.). 96 Zur Parallelität von apol. 22b/c und Men. 99aff. vgl. de Strycker (1994, 19 u. 282–83) und Heitsch (2002, 83–86) (2004, 165f.). De Strycker und Heitsch haben darauf hingewiesen, dass die Aussage in apol. 22b9–c1 (»Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses, daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung […]« Hervorhebung B.F.) auf Menon 99c Bezug nimmt. In der Apologie sei schließlich nicht die Rede davon, dass die Politiker, auf die sich das ›auch‹ beziehe, durch Inspiration verursachte wahre Meinungen besäßen. Inwieweit aus dieser richtigen Beobachtung Rückschlüsse auf eine Datierung des Menon geschlossen werden können, bleibt freilich fraglich.

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Aussage verknüpften geistigen Vorstellung, nach dem Nous des Logos sprechen. Die Frage nach dem gemeinten Sinn der schriftlich oder mündlich dargestellten Logoi hat somit zwei Aspekte. Sie ist zum einen eine prüfende Frage, die untersuchen will, ob jemand einen aufgestellten Satz explizieren kann und das entsprechende Sachverständnis besitzt. Zum anderen aber ist es eine erotisch motivierte Frage, die aus dem Streben nach eigener Einsicht erwächst. In der Frage nach dem Sinngehalt, den ein Gesprächsakteur mit einem bestimmten Logos verbindet, ist die Suche nach der Sache bzw. dem richtigen Verständnis eines Wertprädikats präsent. Für diese Form der Erkenntnissuche lassen sich in den Tugenddialogen zahlreiche Beispiele finden. So ist die im Dialog Laches angeführte Bestimmung der Tapferkeit als Beharrlichkeit mit Einsicht (vqºmilor jaqteq¸a) ein ethischer Satz, der im Gegensatz zu den ersten beiden Antworten97 des Militärs zunächst bestehen bleibt, der jedoch aufgrund der Bedeutungsvielfalt des Ausdrucks vqºmilor einer weiterführenden Erklärung bedarf. Es gilt zu untersuchen, was für eine Einsicht bzw. welche Art von Vernunft es ist, die die Tugendhaftigkeit der Beharrlichkeit begründet. Diese Untersuchung nimmt Sokrates mit seiner Frage nach dem Gegenstand der Vernunft auf: »Laß uns zusehen: die in bezug worauf verständige [sc. Beharrlichkeit ist Tapferkeit]?« (Lach. 192e1). In ähnlicher Weise wird im Charmides nach dem Bedeutungsgehalt eines mit der gesuchten Sophrosyne in Verbindung gebrachten Prinzips gefragt. Die von Charmides nach zwei gescheiterten Bestimmungsversuchen angeführte Definition ›Besonnenheit ist das Tun des Seinen‹ (t¹ t± artoO pq²tteim) (Charm. 161b) wird von Sokrates als Rätsel (aUmicla) bezeichnet (161c8), »weil es nämlich schwer ist zu wissen, was das heißen soll, das Seinige tun« (Charm. 162b4–5). Um die Begründungsbedürftigkeit dieses Satzes aufzuzeigen, führt er zunächst eine vordergründige, ganz offensichtlich nicht gemeinte Bedeutung an, und stellt im Anschluss daran noch einmal die Frage nach dem Sinngehalt: »Was mag also das wohl heißen: das Seinige tun? Kannst du es sagen?« (T¸ owm #m eUg pot³ t¹ t± artoO pq²tteim; 5weir eQpe?m; Charm. 162b5–6). Die Verschränkung von prüfender Dialektik und Wahrheitssuche, die in der Orakelerzählung aufscheint und durch die Tugenddialoge veranschaulicht werden kann, wird auch in anderen Passagen der Apologie sowie in den methodischen Reflexionen, die sich in verschiedenen Frühdialogen finden, deutlich. In apol. 28a–31c – einer zentralen Stelle der Verteidigungsrede, da Sokrates hier sein Beharren auf der Menschenprüfung noch einmal umfassend begründet – wird die sokratische Tätigkeit als eine Synthese von Weisheitssuche (fgte?m, f¶tgsir, vikosove?m, diak´ceshai) und Prüfung der Wahrheits- und 97 ›Tapfer ist derjenige, der in der Schlachtreihe standhält und nicht flieht‹ (Lach. 190e); ›Tapferkeit ist eine Beharrlichkeit der Seele‹ (Lach. 192b/c).

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Tugendansprüche (1net²feim, 1n´tasir, 1k´cweim) kenntlich gemacht. In apol. 28e führt Sokrates aus, dass der Gott ihm einen bestimmten Platz innerhalb der Gemeinschaft zugewiesen habe, damit er »in Aufsuchung der Weisheit [sein] Leben hinbrächte und in Prüfung [seiner] selbst und anderer« (vikosovoOmt² le de?m f/m ja· 1net²fomta 1laut¹m ja· to»r %kkour). Eine ähnliche Formulierung findet sich in apol. 29d/e: Trotz Todesgefahr, so erklärt Sokrates dort, werde er nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen (vikosove?m)98 und diejenigen, die sich im Besitz der Tugend wähnen, auszufragen, zu prüfen und zu überführen (1qyt÷m, 1net²feim, 1k´cweim). Auch an späterer Stelle klingt die Verschränkung von Suche nach Wahrheitserkenntnis und kritischer Prüfung an. In seiner Rede zum Strafmaß betont Sokrates noch einmal, dass er auf seine Tätigkeit nicht verzichten könne und führt dafür folgende Begründung an: Und wenn ich wiederum sage, daß ja eben dies das größte Gut (l´cistom !cah¹m) für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden (diak´ceshai) und mich selbst und andere prüfen (1net²feim) hört, ein Leben ohne Selbsterforschung (!men´tastor b¸or) aber gar nicht verdient gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage. (apol. 38a)

Auf die axiologische Beurteilung der Selbstprüfung als ›größtes Gut‹ wird unten noch einzugehen sein. Wichtig ist in diesem Kontext die erneute Akzentuierung eines Ineinandergehens von suchendem und elenktischem Moment. Die von Sokrates paradigmatisch realisierte Tätigkeit wird hier als eine auf die Erforschung der Wahrheit ausgerichtete Unterredung (diak´ceshai) über die menschliche Bestheit dargestellt, die untrennbar mit einer Prüfung seiner selbst und der am Gespräch beteiligten Akteure verknüpft ist. Das an dieser Stelle verwendete diak´ceshai betont das dialogische Moment und zeigt an, dass das vikosove?m, von dem an früherer Stelle die Rede war, sich in Form von Rede und Gegenrede, Frage und Antwort vollzieht. Die in der Apologie angedeutete kritisch-konstruktive Dialektik wird von Platon in den frühen Dialogen wiederholt zum Gegenstand der Reflexion gemacht. Diese Reflexionen besitzen nicht den Status einer theoretischen Erörterung, sondern haben den Charakter von eingefügten methodologischen Zwischenbemerkungen. Die in den Tugenddialogen enthaltenen methodischen Aussagen, die meist dem Zweck dienen, den Partner zur Fortsetzung des Gesprächs zu bewegen und dessen Zweifel an Absicht und Verfahrensweise des Sokrates auszuräumen, betonen die wahrheitsorientierte, sachliche Ausrichtung der Gespräche und verweisen auf die Einheit von Prüfung und Erkenntnissuche, von Elenchos und Philosophie. Im Protagoras betont Sokrates, dass es in dem 98 Vgl. auch apol. 29c8–9, wo im Zusammenhang der Beschreibung der sokratischen Tätigkeit von f¶tgsir und vikosove?m die Rede ist.

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intendierten Gespräch primär darum gehe, »die Wahrheit und uns selbst zu erforschen« (t/r !kghe¸ar ja· Bl_m aqt_m pe?qam kalb²momtar Prot. 348a5–6). Gegenüber dem Sophisten Thrasymachos führt Sokrates aus, dass das bisherige Gespräch von der Suche (f¶tgsir) nach der Gerechtigkeit bestimmt war und das von Thrasymachos scharf kritisierte Gesprächsverfahren dem Ziel diene, die Sache (pq÷cla) zu erforschen (rep. I 336e). Im Gorgias merkt Sokrates an, dass es die von ihm verfolgte Intention der Unterredung sei, »das wirklich zu verstehen (eQd´mai), wovon die Rede ist« (Gorg. 453b1–2). An späterer Stelle (457d4–5) betont er noch einmal, dass es seine Absicht sei, den Gegenstand zu suchen (fgte?m).99 Er wolle Gorgias nicht aus eristischen Motiven widerlegen (1k´cweim) und ihm die Widersprüchlichkeit seiner Rede aufzeigen, sondern »im Eifer auf die Sache, daß sie uns offenbar werde (pq¹r t¹ pq÷cla vikomijoOmta […] toO jatavam³r cem´shai)« (Gorg. 457e/458a). Hier wird das Verhältnis zwischen Prüfung und Suche besonders präzise gefasst. Der Elenchos steht im Dienst der Wahrheitssuche. Die Erforschung der Sache vollzieht sich in Form einer kritischen Untersuchung der Wertüberzeugungen, die in einem immanenten Verfahren100 die Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft und in der Frage den Gegenstand als das Gesuchte aufrecht erhält. Die von Platon an verschiedenen Stellen akzentuierte ›erotisierende‹ Tendenz der sokratischen Gesprächsführung lässt erkennen, dass die Relation zwischen Prüfung und Suche nicht nur durch modale Momente bestimmt ist, sondern auch eine instrumentelle Dimension hat. Der Elenchos ist nicht nur der Modus, in dem die eigene Suche vollzogen wird, sondern stellt zugleich ein Instrument zur Auslösung des Wahrheitseros im anderen dar. Mit Hilfe des Elenchos will Sokrates gleichsam zu sich selbst hinführen, andere in die eigene Erkenntnisbewegung hineinziehen. Auf diesen Aspekt verweist Platon sowohl auf der primären Gesprächsebene101 als auch auf der Ebene der methodischen Reflexion. Zum Zweck der Hinlenkung zu der von ihm sebst realisierten Wahrheitssuche deutet Sokrates häufig auf die intersubjektive, allgemeine Bedeutung des angestrebten Erkenntnisziels hin. Im Gorgias bemerkt er gegenüber Kallikles, der 99 Ähnlich auch Gorg. 506a: »Denn nicht als wüßte ich es, sage ich, was ich sage, sondern ich suche es gemeinschaftlich mit euch« (oqd³ c²q toi 5cyce eQd½r k´cy $ k´cy, !kk± fgt_ joim0 leh( rl_m). 100 Gemeint ist das spezifisch sokratische Untersuchungsverfahren, das nicht externe Maßstäbe heranträgt, sondern die Bestimmungen an den von den Partnern zugrunde gelegten Prämissen misst. Vgl. dazu Zehnpfennig (2001, 60). Die Voraussetzungen, die Sokrates in der Prüfung macht, lassen sich nach Zehnpfennig auf folgende reduzieren: »im Formalen auf die Verwendung der logischen Grundsätze des Satzes vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grund, im Inhaltlichen auf die Prämisse, daß der gesuchte Gegenstand, die Tugend, etwas ist und nicht nichts und daß Tugend etwas Gutes ist« (60). 101 Vgl. z. B. Lach. 194a, 195a7, 196c, 197e.

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sich aus dem Gespräch zurückziehen will: »wir müssen […] aus allen Kräften uns bemühen zu erfahren (eQd´mai), was wahr ist an der Sache, wovon wir sprechen, und was falsch; denn es ist für alle insgemein gut, daß dies ans Licht komme (joim¹m c±q !cah¹m ûpasi vameq¹m cem´shai aqtº)« (Gorg. 505e). Ähnlich heißt es im Charmides, dass es »ein gemeinsames Gut fast aller Menschen ist, wenn jegliches Ding offenbar wird, wie es sich damit verhält« (C oq joim¹m oUei !cah¹m eWmai swedºm ti p÷sim !mhq¾poir, c¸cmeshai jatavam³r 6jastom t_m emtym fp, 5wei Charm. 166d4–6). Vieles deutet darauf hin, dass Platon dem elenktischen Verfahren auch im späteren Werk eine große Bedeutung beimisst und die prüfende, kritische Methode als ein konstruktives Verfahren zur Wahrheitsfindung auffasst. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang Politeia 539a–d. Im Kontext einer Thematisierung der Einführung von jungen Leuten in die Philosophie wird dort der Begriff der Dialektik mit dem Elenchos zusammengeführt und das dialektische Verfahren im Sinn einer kritisch-prüfenden Methode ausgelegt. Führe man unernste Naturen oder zu junge Leute an die Dialektik heran, so könne es leicht passieren, dass diese die sachliche, wahrheitsorientierte Intention der kritischen Prüfung verkennen und den Elenchos zum Zweck der Unterhaltung und des Spiels nachahmen mit der Konsequenz eines Ansehensverlustes der Philosophie (rep. 539b/c).102 Ein richtiger Umgang mit dem Elenchos ist nur von ernsthaften und schon etwas reiferen jungen Menschen zu erwarten, die an der Sache interessiert sind und nicht die äußere Technik der Widerlegung, sondern die im philosophischen Elenchos wirksame Wahrheitssuche realisieren (rep. 539c/d). Analog zur Apologie und den Frühdialogen werden hier die Tätigkeiten des vikosove?m (539c3), des diak´ceshai (539c7) und des 1k´cweim (rep. 539b5 u. 9, 539c1) zusammengeführt und der Elenchos als Methode und Instrument der Wahrheitssuche verstanden (rep. 539c6–9). In ähnlicher Weise wird auch im Siebten Brief103 das elenktische Verfahren mit der Wahrheitserkenntnis in Zusammenhang gebracht. Im erkenntnistheoretischen Exkurs (epist. VII 342a–344d) führt Platon aus, dass im philosophischen Gespräch die Nomina, die Wahrnehmungen (aQsh¶seir) und Abbilder (eQd¾ka) 102 Hier wird auf die sophistische bzw. eristische Widerlegungskunst angespielt. Der eristische Elenchos wird im Euthydemos anschaulich vorgeführt. 103 Zur Authentizitätsdiskussion vgl. Knab (2006, 1–6 u. 50) u. Erler (2007a, 309f. u. 314f.). Nach einer eingehenden Prüfung der gegen die Echtheit vorgetragenen Einwände kommt Knab zu dem Schluss, dass »man sich eigentlich nur F. Solmsens vernünftiger Sicht der Dinge anschließen kann: »the easier and more obvious explanation of all that strikes us as unique or calls forth our admiration is to recognize the Letter as a genuin work of Plato« (50). Erler plädiert ebenfalls dafür, den Siebten Brief bis zum Beweis des Gegenteils für echt gelten zu lassen, da vieles für die Echtheit spreche und bisher kein Argument vorgetragen worden sei, das die Authentizität unmöglich mache. Zur Diskussion vgl. auch Söder (2009, 20f.).

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und die Definitionen und Erklärungen (kºcoi) des gesuchten Gegenstandes geprüft (1k´cweim)104 werden und in diesem Elenchos, sofern er in der richtigen Haltung durchgeführt wird, also von Menschen, die ohne Missgunst und sachorientiert fragen und antworten105, Einsicht (vqºmgsir) und Verständnis (moOr) der Sache (pq÷cla) gewonnen werden (1m eqlem´sim 1k´cwoir 1kecwºlema ja· %meu vhºmym 1qyt¶sesim ja· !pojq¸sesim wqyl´mym, 1n´kalxe vqºmgsir peq· 6jastom ja· moOr 344b5–8).106 Die schwierige und umstrittene Frage, welche Art von Elenktik jeweils gemeint ist und welchen Stellenwert die Elenktik in der platonischen Dialektik des mittleren und späten Werks besitzt, ob Platon sie als ein mögliches oder auch als primäres Verfahren der Wahrheitsfindung aufgefasst hat107, oder ob er in ihr, wie in der Forschung häufig angenommen, nur ein Element des dialektischen Verfahrens gesehen hat, das entweder rein kathartische, protreptische Funktionen

104 Die Ausdrücke 5kecwor und 1k´cweim werden im erkenntnistheoretischen Exkurs mehrfach gebraucht. Vgl. epist. VII 343c3, 343d1–2, 343d7–8, 344b6. 105 Vgl. Gorg. 457d. 106 Daraus erwächst die Schwierigkeit, dass der beschriebene Erkenntnisprozess »seems much too negative to lead to so positive a result as philosophical knowledge« (Gonzalez 1998b, 266). Gonzalez merkt an, dass viele Interpreten diese Schwierigkeit durch andere, positivere Übersetzungen von 344b6 zu eliminieren versuchen. Wie er jedoch anhand des Gebrauchs von 5kecwor an anderen Stellen (343c3, 343d1–2, 343d7–8) richtig aufgezeigt hat, ist der Ausdruck hier tatsächlich im Sinn der Widerlegung gemeint: »The process described here must be the same as that for which the same word is used in other passages: names, propositions, and images are being refuted« (1998b, 266). Auch Knab (2006, 108) übersetzt in diesem Sinn: »Benennungen und Definitionen, Anblicke und Sinneswahrnehmungen werden unter Mühen aneinander gerieben, sie werden unter wohlwollenden Widerlegungen widerlegt«. In der Forschung ist schon häufig ein Zusammenhang zwischen den epistemologischen Ausführungen des 7. Briefes und der im Frühwerk vorgeführten sokratischen Elenktik beobachtet worden. Vgl. Goldschmidt (1947, 8), Schaerer (1969, 86), Sayre (1988b, 102), Hadot (1991, 28), Gonzalez (1995, 186f.) (1998a) (1998b), Schildknecht (1996, 239), Schmitt (1999), Fryer (2009). Am weitesten geht hier Gonzalez (1998a) (1998b), der die These vertritt, dass sich sowohl die Ausführungen über die Dialektik in rep. 532a– 535a als auch die epistemologischen Überlegungen im 7. Brief auf die im Frühwerk vorgeführte sokratische Dialektik beziehen. 107 So z. B. Stemmer (1992) in Hinsicht auf die Dialektik der mittleren Dialoge. Unter Bezug auf rep. 539a–d argumentiert Stemmer für die These, dass die in der Politeia gemeinte Dialektik mit dem sokratischen Elenchos identisch ist. Auch die Gleichnisse werden von Stemmer in dieser Weise gedeutet: Der von Platon bildlich dargestellte Aufstieg zur Idee des Guten »vollzieht sich in der Form des elenktischen Fragens und Antwortens« (212). In seiner Untersuchung der Dialektik-Konzeption der Politeia gelangt Stemmer zu folgendem Resultat: »Die Dialektik ist nicht, wie häufig gesagt wird, eine neue, die Elenktik der frühen Dialoge ablösende Methode; sie ist vielmehr die alte, aus den früheren Dialogen bekannte Kunst, ein Problem nach den Regeln des Elenchos im Hin und Her von Frage und Antwort zu untersuchen« (212f. vgl. auch 191). So auch Gonzalez (1998a, 281) u. Hardy (2004, 236f.) (2011, 36 Fußn. 36). Etwas vorsichtiger, aber ähnlich Picht (1969, 100f.), Mann (1992, 254), Mittelstrass (1997, 244f.) und Ferber (2005, 166f.).

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erfüllt108 oder der nachträglichen Überprüfung von gewonnenen Wissensresultaten dient109, kann hier nicht erörtert werden. In Anbetracht der angeführten Stellen aus der Apologie und den Tugenddialogen ist jedenfalls mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass im Frühwerk die philosophische Erkenntnissuche mit dem Elenchos zusammengeführt und das prüfende Verfahren als Modus der Wahrheitssuche aufgefasst wird. Aus dieser Annahme ergeben sich eine Vielzahl von Deutungsproblemen, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht diskutiert, geschweige denn gelöst werden können. Da der Aspekt jedoch für die späteren Ausführungen zur Selbsterkenntnis im Alkibiades I und in der Politeia relevant ist, sollen hier zumindest ansatzweise die Schwierigkeiten aufgezeigt und die Prämissen einiger Forschungspositionen diskutiert werden. Ein häufig artikuliertes Problem besteht darin, dass der platonische Sokrates keine Wissensansprüche erhebt und stets sein Nichtwissen bezüglich der thematisierten Sachverhalte bekundet. Um die Spannung zwischen dem konstant behaupteten Nichtwissen und der Annahme eines konstruktiven Elenchos aufzulösen, braucht man jedoch keineswegs auf die umstrittene und in vieler Hinsicht problematische Ironie-These zurückzugreifen. Die von Platon gestaltete sokratische Bekundung des Nichtwissens lässt sich mit den vorherigen Ausführungen zur Hexis des Nichtwissens als eine nach platonischer Auffassung prinzipiell nicht zu transzendierende, dem Menschen einzig angemessene Haltung gut begründen. Das weitaus größere Problem besteht wohl darin, dass die Elenktik ein reines Auschlussverfahren zu sein scheint, dass nur die Falschheit oder Unzulänglichkeit einer Meinung aufzeigen kann, aber nicht den positiven Nachweis der Richtigkeit einer Vorstellung zu erbringen vermag. Das ist in eingehender Weise von Stemmer (1992) aufgezeigt worden: »Der Elenchos, der eine definitorische These prüft […], ist nicht in der Lage, positiv die Wahrheit einer These zu erweisen« (143).110 Daraus zieht Stemmer den skeptischen Schluss, dass der 108 So z. B. v. Kutschera (2002, Bd. 3, 175), Erler (2006, 93) (2007a, 508). 109 So z. B. Frede, D. (2004, 149), Szlez#k (2004, 37), Szaif (2009, 125) (unter Berufung auf rep. 534c), die den Elenchos im mittleren Werk im Sinn einer Überprüfung und Bestätigung der systematischen Wesensbestimmungen des Guten deuten. Strobach (2009, 109) subsumiert die Debatte unter folgende Alternativfrage: »Ist er [sc. der Elenchos] ein Element der platonischen Dialektik und damit gegenüber der konstruktiven Dihairetik ihr destruktiver Teil? Oder ist er ihr entstehungsgeschichtlich früheres und systematisch negatives Gegenstück?«. 110 Ähnlich Szaif (1996, 230): »man [wird] jedenfalls darauf hinweisen müssen, daß der peirastische Elenchos ein definitives Resultat eben doch nur in negativer Hinsicht liefern kann, nämlich als Widerlegung eines unfundierten Wissensanspruches, und daß die Widerlegungsresistenz der eigenen Position, die man sich durch die elenktische Praxis mit der Zeit erwerben mag, doch immer unter dem Vorbehalt steht, daß nicht doch noch bislang ver-

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sokratische Elenchos »seiner Negativität nicht entkommen [kann]« (150) und letztlich zu keiner wirklichen Erkenntnis führt, allenfalls zu »relativ widerlegungsresistent[en]«111 (143) Meinungen, deren Wahrheit nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden kann. Bei dieser Argumentation gilt es jedoch die Prämissen zu prüfen. Der skeptische Schluss basiert auf der epistemologischen Annahme, dass Erkenntnis in einer durch wissenschaftliche Verifikationsverfahren gesicherten Aussage oder Meinung besteht. Legt man diesen Wissensbegriff zugrunde, so erscheint der sokratische Dialog in der Tat negativ. Das Urteil über den Erkenntnisgehalt der Dialoge wird unter diesen Voraussetzungen ausschließlich auf die dort enthaltenen Propositionen bezogen, die – gemessen an dem herangetragenen Wissensideal – hinsichtlich ihres epistemischen Status als defizitär und vorläufig erscheinen. Es ist jedoch fraglich, ob der platonische Erkenntnisbegriff in dieser epistemischen Konzeption, die unserem neuzeitlichen, an den Naturwissenschaften orientiertem Wissensverständnis entspricht, aufgeht. In der Forschung ist schon häufiger darauf hingewiesen worden, dass die Besonderheiten des antiken, insbesondere des platonischen Wissensideals auf der Grundlage der modernen Epistemologie kaum angemessen erfasst zu werden vermögen und zum Zweck der Vermeidung von Anachronismen eine gewisse Distanzierung vom eigenen Wissenschaftsverständnis erforderlich ist.112 Um die epistemologische Frage genauer zu erörtern und einen Zugang zum platonischen Erkenntnisbegriff zu gewinnen, bedürfte es einer eingehenden, die zentralen Dialoge zu erkenntnistheoretischen Problemen auswertenden Untersuchung, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Zum Zweck borgen gebliebene Unsicherheiten und Inkonsistenzen in dem eigenen Begriffsgefüge zutage treten«. Vgl. auch v. Kutschera (2002, Bd. 3, 199) und Erler (2007a, 363) (2007b, 107): »In der Tat kann der Elenchos nicht die allgemeingültige Richtigkeit einer These beweisen«. 111 Nach Stemmer (1992, 148) ist eine These, die alle versuchten Widerlegungen überstanden hat, nicht als »schlechthin widerlegungsresistent« und wahr zu betrachten. »Es läßt sich durchaus denken, daß jemand mit einer bisher nicht probierten Widerlegung noch Erfolg haben kann« und sich die These als falsch erweist. 112 Vgl. Moline (1981, Xf.) u. Moravcsik (1979, 53), der in Bezug auf die platonische Epistemologie bemerkt: »we must remove layers of misunderstanding; accumulated over the centuries mostly because of the assumption that classical Greek epistemology must have shared the concerns and problems of the post-Cartesian theories of knowledge, theories that centered on the notions of propositional knowledge and evidence«. Ähnlich Wieland (1982, 304): Die Platon unterstellte epistemologische Prämisse, »gemäß der auch das Wissen selbst propositionale Strukturen aufweist« und die unsichere Meinung sich durch wissenschaftliche Begründungsverfahren »zu sicherem Wissen qualifizieren läßt« sei in Frage zu stellen. »Das entspricht der heute vorherrschenden Auffassung vom Wissen, insofern sie vor allem an der Praxis der positiven Wissenschaften orientiert ist«. In diesem Sinn auch Gonzalez (1998a, 283): »Since the view that philosophical knowledge is propositional is widely accepted today, especially among analaytical interpreters, there is a natural tendency to read such a view into Plato’s dialogues« (vgl. auch 237).

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eines besseren Verständnisses der von der Selbsterkenntnis begründeten Wahrheitssuche sollen an dieser Stelle lediglich einige hypothetische Reflexionen eingefügt werden, die nicht mehr als eine Richtung anzeigen und keinen Anspruch auf eine fundierte, ausgearbeitete Deutung der platonischen Epistemologie erheben.

bb)

Epistemologischer Exkurs II: Logos und Nous

Der kleine epistemologische Exkurs wird sich zunächst auf die späteren Schriften konzentrieren, die jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, Rückschlüsse auf den im Frühwerk zugrunde gelegten Erkenntnisbegriff zulassen. Die von Platon im Phaidros (274bff.) und im erkenntnistheoretischen Exkurs des Siebten Briefs dargestellte Logos-Kritik (342a–344d)113 sowie die epistemologischen Überlegungen in den Gleichnissen der Politeia und im Siebten Brief weisen auf einen Erkenntnisbegriff hin, der primär noetisch bestimmt ist. Erkenntnis besteht demnach weniger in den durch wissenschaftliche Verifikationsverfahren qualifizierten Aussagen (kºcoi), sondern vielmehr in Vernunfteinsichten (moOr, mºgsir), die eine andere Struktur aufweisen und eine differente Wissensform darstellen. Wie Platon insbesondere im Phaidros und im Siebten Brief ausführt, besitzt das Aussage- und Definitionswissen (kºcor)114 aufgrund der sprachlichen Gestalt konstitutive Schwächen115, die durch kein argumentatives Rechtfertigungs- oder Beweisverfahren behoben werden können.116 Es bedarf einer ganz anderen epistemischen Zugangsweise, der Vernunfteinsicht 113 Zur platonischen Logos-Kritik vgl. z. B. Krämer (1959, 27 Fußn. 27, 465–67, 544f.), Gaiser (1998 [1963], 4f.), Oehler (1985), Wieland (1982, 13–38), Gonzalez (1998a) (1998b), Sayre (1988b), Schildknecht (1990, 43–53), Schefer (1996, 184) (2001, 21–29), Blößner (2007b). Gegen die esoterische Platondeutung ist hier einzuwenden, dass sich die Logos-Kritik im Phaidros und im Siebten Brief sowohl auf mündliche als auch auf schriftliche Aussagen bezieht. Vgl. dazu Wieland (1982, 24–27), Sayre (1988b, 95–98) (1995, 180f.), Schildknecht (1990, 47) (1996, 239), Gonzalez (1998a, 243), Blößner (2007b, 249–251), Filippi (2009, 173), Fryer (2009). 114 Im Phaidros sind mit dem Ausdruck kºcor mündlich oder schriftlich artikulierte sprachliche Gebilde, also Reden gemeint. Im Siebten Brief wird der Logos als sprachlich verfasste definitorische Erklärung bestimmt (342b6–9). 115 Das Grundproblem ist die im Medium des Logos nicht aufzuhebende Differenz zwischen der Sache und deren sprachlichem Ausdruck. Das sprachliche Zeichen enthält als solches weder die Sache noch das Sachverständnis; es ist stets mehrdeutig, ungenau, missverständlich und unterliegt dem Wandel und der Konvention. Vgl. epist. VII 343a9–b8. 116 Darauf verweist der Zirkel am Ende der im Theaitetos vorgenommenen Untersuchung der Erkennnis als eine mit Erklärung (kºcor) verbundene wahre Meinung (209d–210b). Ähnlich Wieland (1982, 306): »Ein dritter Durchgang will das Wissen als mit Begründung versehene richtige Meinung verstehen. Sokrates zeigt indessen, daß auch diese Deutung unhaltbar ist. Durch Qualifikation oder Spezifikation der Meinung gelangt man offenbar niemals zum gesuchten Wissen.« Vgl. auch Sayre (1988b, 105f.) u. Schildknecht (1990, 27).

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(moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir)117, die eine begründende Funktion erfüllt und von Platon als übergeordnetes Erkenntnismedium ausgezeichnet wird. Von den verschiedenen Erkenntnisweisen – Bezeichnung, Abbild, Wahrnehmung, Erklärung (kºcor) – komme die Vernunfteinsicht (moOr) infolge der Verwandtschaft und Ähnlichkeit (succeme¸ô ja· bloiºtgti) der Sache selbst (t¹ pq÷cla aqt¹) am nächsten, »das andere bleibt weiter von ihm entfernt«, so die Aussage im Siebten Brief (epist. VII 342d1–2).118 Die Deutung des platonischen Nous bzw. der Noesis (mºgsir rep. 511e1) ist eines der umstrittensten und schwierigsten Themenfelder in der Platonforschung. In der älteren Diskussion ist die noetische Einsicht zumeist im Sinn einer das dialogische Verfahren und den argumentativ-dialektischen Prozess transzendierenden intellektuellen Schau oder mystischen Erfahrung119 aufgefasst worden, die den Abschluss und höchsten Punkt des platonischen Erkenntnisaufstiegs bildet. Diese visionäre und mystische Deutung der platonischen Noesis ist in jüngerer Zeit wiederholt kritisiert und mit überzeugenden Argumenten zurückgewiesen worden.120 Stemmer (1992) hat zu Recht darauf 117 Die Ausdrücke moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir werden im Siebten Brief (vgl. epist. VII 343e2 u. 344b7–8) analog zum Frühwerk (vgl. Men. 87d–89a und Euthyd. 281b) bedeutungsnah verwendet. Vgl. Knab (2006, 273). Zu den Gemeinsamkeiten und Bedeutungsdifferenzen von moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir bei Platon vgl. Jäger (1967, 169–172). In der Phaidros-Passage zur Logos-Kritik wird primär der Ausdruck 1pist¶lg verwendet (vgl. 276a5, 276e7). Auf die Vernunfteinsicht deutet jedoch auch der Ausdruck tili¾teqa (278d8) hin, mit dem hier das gegenüber den sprachlich verfassten Logoi ›Wertvollere‹, ›Bessere‹ bezeichnet wird. Auf die Verbindung der tili¾teqa zu dem im Siebten Brief gemeinten Nous hat Blößner (2007b, 250f.) hingewiesen. 118 Knab (2006, 272) verweist auf die Parallele zu Phil. 65d2–3. Die im Siebten Brief explizit vorgenommene Unterscheidung zwischen Nous und Logos klingt auch in leg. 966b an. An der Stelle führt Platon aus, dass die Wächter die Tugenden, das Schöne und das Gute nicht nur noetisch erfassen sollen, sondern zudem die Fähigkeit besitzen müssen, das Erkannte begrifflich darzustellen und zu explizieren (»Und weiter: sollen sie das bloß denkend erfassen, ohne jedoch imstande zu sein, es mit Worten darzulegen und zu beweisen?« T¸ d(, 1mmoe?m l´m, tµm d³ 5mdeinim t` kºc\ !dumate?m 1mde¸jmushai; leg. 966b1–2). In diesem Sinn ist auch rep. 534b zu deuten. Die Stelle rep. 534b3–6 wird häufig als Beleg dafür angeführt, dass die von Platon gemeinte Erkenntnis in einem definitorischen Wissen besteht. Dagegen ist zu Recht eingewendet worden, dass hier lediglich gesagt wird, dass der Dialektiker fähig sein muss, eine Erklärung der Sache zu geben. Die Behauptung, dass die Erkenntnis des Dialektikers mit der Erklärung (kºcor) identisch ist, werde von Platon nicht aufgestellt. Vgl. Sayre (1988a, 245) (1995, 188, 196–97), Gonzalez (1998a, 280). 119 So in jüngerer Zeit wieder Schefer (2001), Albert (2002, 34–37), Rhodes (2003). Die höchste philosophische Erkenntnis, so Schefer (2001, 65), ist für Platon »eine Art Mysterienerfahrung«, die Epiphanie des Gottes Apollons (177). Zur Kritik an dieser Deutung vgl. Westermann (2003). 120 Vgl. insbes. Stemmer (1992, 75–79 u. 215–220) und Szaif (1996, 168–182) (2009, 125f.). Vgl. auch Rehn (1996, 93f.), Gonzalez (1998a, 237 u. 253), Frede, D. (2002, 84f.), Westermann (2003), Gerson (2005, 215). Gonzalez (1998a, 253) meint unter Bezugnahme auf epist. VII 344b: »the view that nonpropositional knowledge must be some form of mystical rapture

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hingewiesen, dass die von Platon im Kontext epistemologischer Ausführungen häufig verwendeten visuellen Metaphern und die damit eng verknüpfte Lichtmetaphorik nicht wörtlich zu nehmen sind. Platon knüpfe mit dem Gebrauch von Wörtern wie Sehen, Einsehen, Erblicken, Aufleuchten, Einblick, Schauen an den gewöhnlichen Sprachgebrauch an: »Die metaphorische Verwendung visueller Wörter für intellektuelle Handlungen und Vermögen ist elementarer Bestandteil der griechischen wie auch der modernen europäischen Sprachen« (76). Wie Stemmer richtig gesehen hat, bedient sich Platon dieser Sprachgewohnheit, um komplizierte geistige Sachverhalte verständlich zu machen: »Und er nutzt die spezifische Leistung metaphorischen Sprechens, einfach und eingängig über Dinge sprechen zu können, über die man anders nur schwer und nur auf sehr viel kompliziertere Weise sprechen kann, weil sie nicht anschaulich sind. Die metaphorische Sprache erlaubt es, die epistemischen Vorgänge ohne und unabhängig von einer epistemologischen Theorie zur Sprache zu bringen und sich über sie zu verständigen« (76f.). Man könnte hier ergänzend hinzufügen, dass die verwendete Metaphorik nicht nur Verständigungszwecken dient, sondern auch didaktische Funktionen erfüllt.121 Die metaphorische Ausdrucksweise ist mit der platonischen Absicht in Zusammenhang zu bringen, den Adressaten der Schriften eine orientierende Vorstellung von den gemeinten geistigen Sachverhalten zu vermitteln, die zur Erkenntnissuche herausfordern soll. Im Umgang mit der platonischen Sehens- und Lichtmetaphorik ist also größte Vorsicht geboten. Alles deutet darauf hin, dass die visuelle oder illuminative Metapher von Platon nicht als adäquate Darstellung von Erkenntnisprozessen aufgefasst wird. Nimmt man die Metaphern wörtlich und deutet die damit umschriebene Noesis als eine an sinnliche Wahrnehmungsprozesse angelehnte intellektuelle Schau von intelligiblen Gegenständen, die in einer jenseitigen Sphäre ›verortet‹ sind, so wird die platonische Intention in gewisser Weise konterkariert. Indem das Nichtsinnliche räumlich-gegenständlich gedacht wird und die gemeinten geistigen Prozesse und Sachverhalte im Medium der sinnlichen Vorstellungsweise aufgefasst werden, verfehlt man das eigentlich Intendierte – nämlich die Überwindung der ›Abbildhaftigkeit‹ des Denkens (vgl. rep. 532a). that completely dispenses with discursive reasoning and provides a total revelation of the truth is a caricature«. 121 Zur didaktischen Intention der platonischen Dialoge vgl. z. B. Heitsch (2004, 11), Blößner (1997, 287f.) (2007a, 269). Besonders deutlich Blößner (2007a, 269): »Ebenso wie Platons Sokrates geriert sich auch Platons Text nicht als Autorität oder Verkünder. Beider Ziel ist nicht die Weitergabe fertiger ›Erkenntnisse‹ als bloße Lehrmeinung, die andere zur Kenntnis zu nehmen hätten, sondern die Anregung, Einübung und methodische Lenkung eigenen Erkenntnisbemühens. Es hat den Anschein, als habe Platon mit seinen Dialogen eine Literaturform schaffen wollen, die sokratische Hebammenkunst in Schriftform gießt«.

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Neben der visionären und mystischen Auslegung finden sich in der Forschung auch intuitionistische Deutungsmodelle der platonischen Noesis. Für die Auffassung der von Platon gemeinten Erkenntnisform im Sinn einer Intuition scheinen vor allem jene Stellen zu sprechen, die das Plötzliche, Blitzartige, Jähe, Augenblickliche der Einsicht hervorheben. In besonderer Weise wird dieses temporale Moment in der berühmten Funkenmetapher des Siebten Briefs hervorgehoben: »denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lehrgegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und nährt sich dann schon aus sich heraus weiter« (epist. VII 341c6–d2). Das ›Plötzliche‹ der Einsicht wird hier mit dem Ausdruck 1na¸vmgr (341c7) bezeichnet, der auch im Höhlengleichnis der Politeia zur Beschreibung von Erkenntnisvorgängen gebraucht wird.122 Trotz dieser Beschreibungen ist es jedoch aus verschiedenen Gründen unangemessen und vielleicht sogar irreführend, den platonischen Nous im Sinn eines intuitionistischen Erkenntnismodells aufzufassen.123 Die Intuition wird in der modernen Epistemologie meist als eine passive oder rezeptive Erkenntnisart verstanden, die den bewusst intendierten, rationalen Ableitungen, Schlüssen, Analysen nachfolgt oder vorangeht, d. h. entweder prä- oder postdiskursiv ist. Die von Platon gemeinte Vernunfteinsicht, so deuten jedenfalls die Darstellungen im Höhlengleichnis und im Siebten Brief an, bezeichnet jedoch kein passives Aufnehmen, sondern einen mit größter Aktivität und höchster geistiger Anstrengung unmittelbar verbundenen geistigen Vorgang.124 Ebensowenig ist hier eine prä- oder postdiskursive Erkenntnisform zu beobachten. Die platonische Noesis ist, wie gleich noch zu zeigen sein wird, untrennbar mit dem rationalen, argumentativen Verfahren verknüpft und wird innerhalb des dialektischen Prozesses erworben. Möglicherweise kommt man der von Platon mit den Ausdrücken moOr, moe?m, mºgsir bezeichneten epistemischen Form etwas näher, wenn man in diesem Zusammenhang die Kategorie des Verstehens gebraucht, die im Gegensatz zur Intuition das aktive, intentionale Moment enthält.125 Mit Hilfe dieser Kategorie 122 Vgl. rep. 515c7f. und 516a4. 123 Gegen eine intuitionistische Deutung der platonischen Noesis hat auch Szaif (1996, 168– 182) argumentiert. Vgl. auch Schmitt (2012, 65). 124 Schmitt (1990, 281 Anm. 402) hat darauf hingewiesen, dass die Ausdrücke moOr und moe?m nicht mit modernen Kategorien einer rezeptiv-irrationalen Erfahrung oder Intuition zu fassen seien. Diese Kategorien basierten auf neuzeitlichen Erkenntniskonzeptionen, die die Differenziertheit des antiken Erkenntnisvermögens nicht mehr kenne. Im antiken Verständnis sei die Noesis eine aktive, vernünftige Erkenntnistätigkeit. 125 Den Begriff des Verstehens hat bereits Kurt v. Fritz (1968, 260, 262, 274) zur Erklärung des in den homerischen Epen mit moe?m bezeichneten Erkenntnisvorgangs verwendet.

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könnte man das platonische moe?m, wie in der Forschung auch schon häufiger versucht126, als ein verstehendes Erfassen von geistigen Sachverhalten deuten. Diese Art des geistigen Verstehens, des denkenden ›Innewerdens‹ einer thematisch intendierten und gesuchten Sache (pq÷cla) ist bei Platon untrennbar mit argumentativ-dialektischen Verfahrensweisen und dem Umgang mit Logoi verbunden. Darauf deuten zumindest die epistemologischen Ausführungen in der Politeia und im Siebten Brief hin. In den in der Politeia enthaltenen methodologischen Überlegungen zur dialektischen Kunst wird die Dialektik explizit als das Verfahren bezeichnet, durch das Vernunfteinsicht (moOr, mºgsir) erworben wird (rep. 532a/b). Durch die Tätigkeit des diak´ceshai, das ohne Wahrnehmung, nur mittels des Wortes und Arguments (di± toO kºcou) verfährt, wird Einsicht (mºgsir) in das, was jedes ist (d 5stim 6jastom), zuletzt aber in das, was das Gute ist (d 5stim !cah¹m), erlangt (rep. 532a/b). Eine ähnliche Synthese von argumentativ-begrifflichem Verfahren und Nous klingt im Siebten Brief an (343d–344c). Die Vernunfteinsicht wird dort an das prüfende Verfahren (5kecwor, 1k´cweim) gebunden und mit einer Logos-Reflexion verschränkt. Das beschriebene methodische Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass verschiedene Darstellungsweisen der thematisch intendierten Sache kritisch untersucht und in Relation zueinander gesetzt werden, ›aneinander gerieben‹ werden, wie es an der Stelle heißt (epist. VII 344b4f.). In der kritischen Betrachtung der Benennungen, sinnlichen Abbilder, Wahrnehmungen und definitorischen Erklärungen wird zunehmend Einsicht (moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir) in die gesuchte Sache gewonnen: »der gründliche Durchgang (diacyc¶) durch sie alle, bei dem ein jedes auf und ab beschritten wird, läßt […] unter Mühen den Keim der Erkenntnis (1pist¶lg) wachsen« (343e1f.); »wenn jedes von ihnen am anderen gerieben wird – Benennungen, Erklärungen, Ansichten und Wahrnehmungen – und wenn es in wohlwollenden Prüfungen geprüft wird, und von Menschen, die ohne Mißgunst fragen und antworten, leuchten Einsicht (vqºmgsir) und Verständnis (moOr) über jeden Gegenstand auf« (epist. VII 344b4–8). Man sollte sich an dieser Stelle nicht von der Beschreibung des Erkenntnisprozesses als ein ›Hindurchgehen‹ durch die verschiedenen Darstellungsweisen sowie von dem in 341c7 verwendeten Ausdruck 1na¸vmgr, der die Vernunfteinsicht als momenthaftes, finales Ereignis anzudeuten scheint, irritieren lassen. Der Durchgang (diacyc¶) meint nicht eine zeitliche Abfolge von differenten Erkenntnisweisen, die in der höchsten Erkenntnisform mündet, sondern einen 126 In der Platonforschung sind die Ausdrücke moOr und moe?m sowie 1pist¶lg schon häufig als ›Verstehen‹ oder ›Verständnis‹ (understanding) der Erkenntnisobjekte ausgelegt worden. Vgl. Moravcsik (1979), Moline (1981), Sayre (1988b), Schmitt (1999), Benson (2000, 212– 215), Gerson (2005), Blößner (2007b) (2013).

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bestimmten Umgang mit den Darstellungsformen, nämlich das prüfende Durchdenken, das offenbar von Anfang an mit Vernunfteinsicht verbunden ist. Wie die Formulierung in 343e2 anzeigt (lºcir 1pist¶lgm 1m´tejem), ist die von Platon gemeinte Einsicht nicht nur durch das Merkmal des Plötzlichen, Augenblicklichen charakterisiert, sondern weist auch eine in Analogie zu organischen Wachstumsprozessen vorgestellte graduelle Dimension auf. Darauf deutet auch das Höhlengleichnis der Politeia127 hin. Um die Erkenntnis des Guten zu erlangen, bedarf es der Gewöhnung an das ›Licht‹, des ständigen Umgangs mit der Sache, des Sich-Einlebens (sum¶heia), heißt es dort (rep. 516a4). Die Fähigkeit zur Vernunfteinsicht ist nicht gegeben, sondern muss erworben werden. So wie das Sehorgan erst dann seine Funktion erfüllen kann, wenn der optische Sinn entwickelt wurde, so kann das Vernunftvermögen erst dann etwas erkennen, wenn es eine Bildung erfahren hat. Die im Gleichnis enthaltene Beschreibung der Bewegungsvorgänge lässt erkennen, dass die Bildung des Vermögens und der Erwerb von Vernunfteinsicht nicht als zeitlich nachgeordnete Vorgänge aufzufassen sind, sondern als zwei Aspekte ein und desselben Geschehens. Je mehr sich der Aufsteigende ›an das Licht gewöhnt‹, desto besser kann er ›sehen‹ und das Gesuchte erkennen. Damit wird das Moment des Sukzessiven in die Erkenntnisbewegung eingeführt. Vernunftfähigkeit und Vernunfteinsicht werden im dialektischen Prozess schrittweise, allmählich erworben. Das bedeutet, dass die Einsicht nicht erst am Ende des Prozesses erreicht wird, nicht nur dessen Kulminationspunkt und Resultat bezeichnet, sondern in einem gewissen Grad bereits auf der ersten Stufe präsent ist. Die Erkenntnis der ›Schatten‹ (rep. 516a5) außerhalb der Höhle ist bereits Noesis. Die von Platon gemeinte Vernunfteinsicht ist, so lässt sich vorläufig festhalten, nicht nur durch das Moment des plötzlichen Innewerdens (1na¸vmgr), sondern auch durch Stetigkeit und Allmählichkeit128 charakterisiert.129 127 Die Verbindung zwischen der Darstellung des im Siebten Briefes geschilderten Erkenntnisprozesses und der Aufstiegsschilderung im Höhlengleichnis wird auch von Knab (2006, 283) hergestellt. 128 Dieses sukzessive Moment der Noesis und die damit verbundene unmittelbare Einheit von dialektischem Geschehen und Nous übersieht Oehler (1985, 114), wenn er zwar richtig bemerkt, dass die noetische Einsicht nur »in Verbindung mit dem diskursiven Denken zustande kommt«, aber diese Verbindung im Sinn eines Ineinanderübergehens von zwei verschiedenen, einander ergänzenden Erkenntnisweisen deutet. Nach Oehler bereitet das diskursive Denken durch Definitionen und zunehmende Abstraktion von sinnlichen Vorstellungsweisen die Vernunfteinsicht (mºgsir) vor, die sich plötzlich (1na¸vmgr) einstellt und »synoptisch-intuitiv erfaßt«, was das diskursive Denken »begrifflich-definitorisch expliziert beziehungsweise analysiert« (113). In ähnlicher Weise deuten auch Krämer (1959, 27 Fußn. 27, 465–67, 544f.) (1972, 442, 445–48) und Gaiser (1998 [1963], 5) den platonischen Nous und das Zusammenwirken von Noesis und Dialektik. Die logisch-dialektischen Erörterungen gipfelten bei Platon in einer intuitiven, unmittelbaren Synopsis der sukzessiv gewonnenen und systematisch-begrifflich zusammengefassten Erkenntnisse, in einer sich

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Die angeführten epistemologischen Passagen aus der Politeia und dem Siebten Brief deuten auf eine unmittelbare Einheit von dialektisch-argumentativem Verfahren und noetischer Einsicht hin. Die von Platon als höchstes Erkenntnismedium ausgezeichnete und präferierte Noesis wird demnach nicht getrennt, jenseits oder im Anschluss an den dialektischen Prozess gewonnen, sondern innerhalb dessen erlangt.130 Die Ausführungen im Siebten Brief und die Passage rep. 539b–d weisen zudem darauf hin, dass das noetische Erkennen in der kommunikativen Interaktion, also im Dialog realisiert wird und an die kritische, elenktische Untersuchung von Meinungs- und Definitionswissen gebunden ist. Im dialektisch-elenktischen Verfahren, das mit Argumenten, Beweisformen, logischen Schlüssen operiert, wird in der Untersuchung der Logoi eine zunehmende, sich schrittweise vertiefende noetische Einsicht in die gesuchte Sache gewonnen. Der platonische Nous ist folglich weder eine irrationale visionäre oder mystische Schau noch eine prä- oder postdiskursive Intuition, sondern ein Sachverständnis, das argumentativ vermittelt ist. Man kann insofern von einer dialektischen Noesis sprechen. Mit diesen Überlegungen sind zwar einige Anhaltspunkte bezüglich des dialogischen und rationalen Verfahrens und der argumentativen Vermittlung gewonnen; ungeklärt ist jedoch nach wie vor, was ›denkendes Erfassen‹ oder ›geistiges Verstehen‹ in diesem Zusammenhang heißt. Der Begriff des Verstehens ist uns aus der modernen hermeneutischen Tradition und der gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Debatte durchaus vertraut. Ein Blick auf die Erkenntnistheorie der letzten 20 Jahre zeigt, dass die epistemische Form des Verstehens in der Diskussion zunehmend Beachtung findet und neben begründeten Überzeugungen und propositionalem Wissen als eines der maßplötzlich ereignenden Zusammenschau aller Seinsbereiche und Seinsstrukturen. Krämer (1959, 461) spricht von einer »Seinsvision« als Höhepunkt des ganzen Erkenntnisweges, die das Eine in allem erblicke. 129 So auch Knab (2006, 273), der darauf verweist, dass der Gebrauch des Perfekts in 342d2 (pepkgs¸ajem) zum Ausdruck bringt, »daß auch der moOr der fünften Stufe erst nahe kommt, wenn er einen Vorgang der Annäherung hinter sich gebracht, d. h. die ersten drei Stufen durchlaufen hat«. Das sukzessive Moment der Vernunfteinsicht entspricht dem oben skizzierten zyklischen Erkenntnismodell, das die epistemischen Vorgänge in Analogie zu physischen Ernährungs- und Wachstumsprozessen denkt. 130 So auch Stemmer (1992, 218f.): »moOr und diak´ceshai sind nicht zwei komplementäre Erkenntnisweisen, das diak´ceshai ist eine Praxis, der moOr ein geistiger Zustand, und zwar der geistige Zustand, in den man durch die Praxis des diak´ceshai gelangt«. Ähnlich Szaif (1996, 176): »Nur im Medium des argumentativen Diskurses, wenn überhaupt, ›sehen‹ wir die Gegenstände unseres Forschens. Wissen, Einsicht (moOr) und kºcor (im Sinne eines argumentativen Diskurses) bilden im menschlichen Erkennen eine zusammengehörende Einheit«. Schmitt (2012, 65) hat darauf hingewiesen, dass man aus der »Tatsache, dass die noetische Erkenntnis an diskursive Voraussetzungen gebunden ist«, nicht schließen dürfe, dass sie »selbst eine Form diskursiven Denkens« sei.

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geblichen Erkenntnisziele betrachtet wird.131 Mitunter entsteht sogar der Eindruck, dass die modernen Thesen über den Wahrheitswert des Verstehens und über das Verhältnis zwischen Wissen und Verstehen gar nicht so weit von der platonischen Erkenntnis-Konzeption entfernt sind. In der modernen Theorie wird der Begriff des Verstehens häufig als Erfolgs- und Leistungskategorie betrachtet: »Ohne besonderen Zusatz heißt ›verstehen‹ stets soviel wie ›richtig verstehen können‹ bzw. ›richtig verstanden haben‹« (Scholz 1999, 1699f.). Thematisiert wird zudem die Abhängigkeit des Wissens vom Verstehen. Verstehensvorgänge seien Voraussetzungen von Wissen; ohne Verstehen gebe es kein Wissen (vgl. insbes. Ammon 2009). Diese Thesen lassen sich durchaus mit den platonischen Annahmen über die dem Nous zugesprochene Funktion einer Begründung des Aussage- und Meinungswissens (kºcor) verbinden. Dennoch wäre es ein unzulässiger Anachronismus, wollte man von der modernen Verstehenstheorie her die platonische Nous-Konzeption begreifen. Um einem Verständnis der von Platon gemeinten Vernunfteinsicht etwas näherzukommen, soll hier ein ganz anderer Weg eingeschlagen werden. Es ist schon häufig festgestellt worden, dass Platon mit dem Nous-Begriff an die epische und naturphilosophische Tradition anknüpft und es bei allen Differenzen und Modifikationen eine Kontinuität zwischen der homerischen, der vorsokratischen und der platonischen Verwendung des Wortes gibt.132 In seiner eindrucksvollen Studie über die Begriffsgeschichte von moOr und moe?m hat Kurt von Fritz (1968, 246–276) aufgezeigt, dass in den homerischen Gedichten das Verbum moe?m die Bedeutung ›eine Situation erkennen oder begreifen‹ hat.133 Das mit 131 Vgl. Goodman/Elgin (1988), Cooper (1995), Franklin (1995), Elgin (1996), Mason, R. (2003), Ammon (2009), Detel (2011). 132 Vgl. z. B. v. Fritz (1968), Jäger (1967, 172–174), Moline (1981, 16–19), Menn (1995), Horn/ Rapp (2008, 297–301). 133 So auch Horn/Rapp (2008, 297). Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Interpretation vgl. Plamböck (1959), Luther (1966), Krischer (1984), Schmitt (1990). Plamböcks und Krischers Deutungsalternativen sind wenig überzeugend, da hier das mit dem Ausdruck moe?m eindeutig verknüpfte kognitive Moment in den Hintergrund tritt. Plamböck (1959, 22ff.) deutet den mit moe?m bezeichneten Vorgang als eine durch Objektwahrnehmung bewirkte seelische Bewegung oder Zustandsänderung und hebt damit den psychologischen Aspekt hervor. Krischer (1984) hingegen versteht das homerische moe?m als Gewinn einer Handlungsdisposition und betont damit einseitig den handlungsdeterminierenden Aspekt. Sowohl die seelische Bewegung als auch die Handlungsabsicht können bei Homer mit dem moe?m verbunden sein, müssen jedoch nicht Teil des noetischen Vorgangs sein (so Horn/Rapp 2008, 298). Zur Auseinandersetzung mit Luthers Kritik vgl. v. Fritz (1968, 359–363). Schmitt (1990, 138ff.) verhält sich zu der v. Fritz vorgeschlagenen Deutung zunächst kritisch-distanziert; in seiner eigenen Interpretation führt er jedoch genau das an, was v. Fritz mit einer ›Situation begreifen‹ meint: »das Besondere des moe?m […] [ist] eine Art unmittelbarer Zusammenschau disparater Erscheinungen einer Situation auf einen einheitlichen – im Äußeren in dieser Einheit gar nicht sichtbaren – Sachverhalt hin, also etwa, wenn jemand aus bestimmten Gesten, Verhaltensweisen und dergleichen eines an-

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moe?m bezeichnete Erkennen einer aktuellen Situation meint sowohl das plötzliche Verstehen von komplexen Zusammenhängen, das nicht-diskursive Erfassen von gegebenen Handlungsmöglichkeiten, verborgenen Plänen und Absichten der am Geschehen beteiligten Akteure als auch das plötzliche Begreifen des wahren Wesens einer als Gesprächspartner agierenden Person oder das identifizierende Erkennen eines handlungsrelevanten Objekts.134 Immer ist ein geistiger Akt gemeint, der an die Sinneswahrnehmung gebunden ist, der aber über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht, indem anhand von bestimmten verbalen oder nonverbalen Äußerungen die mit dem bloßen Sinnesorgan nicht zu fassenden psychisch-geistigen Zustände der anderen Person erkannt werden.135 Kurt v. Fritz beschreibt diesen Akt als ein Hindurchsehen durch die Erscheinung auf die nicht-sinnliche Wirklichkeit hin, d. h. auf die in einer Person wirkenden seelischen Kräfte, Bestrebungen, Absichten, Affekte, geistigen Vorstellungen. Im Fall eines Entdeckens von wahren Absichten und Identitäten spricht er von einer Erkenntnis, »die sozusagen durch die sichtbare Oberfläche hindurchdringt zum eigentlichen Wesen des betrachteten Gegenstandes« (267). So erkennt (1mºgse) z. B. Helena plötzlich im Gespräch mit einer hochbetagten Greisin, die ihr zuredet, zu Paris zu gehen, dass sich hinter der Gestalt der Alten die Göttin Aphrodite verbirgt (Il 3, 396f.). Telemachos versteht nach einem längeren Gespräch mit seinem Gastfreund Mentes, dessen Rede ihm Mut und Zuversicht eingeflößt hat und die Erinnerung an den Vater aufleben ließ, dass der vermeintliche Gastfreund in Wahrheit ein Gott gewesen ist: b d³ vqes·m Hsi mo¶sar h²lbgsem jat± hulºm: a¸sato c±q he¹m eWmai (Od. 1, 322f.) In der Ilias wird eine Verfehlung des moe?m geschildert: Zeus erkennt nicht die List der Hera und schwört den von ihr geforderten Eid, in der Meinung, er gelte dem von ihm zuvor gerühmten Herakles, nicht dem Eurystheus (Il. 19, 112). Nach Kurt v. Fritz ist der in den homerischen Epen mit moe?m bezeichnete Erkenntnisvorgang sowohl von der sinnlichen Wahrnehmung als auch von der Verstandestätigkeit abzugrenzen. Das noetische Erkennen dringe tiefer in die Natur der wahrgenommenen Gegenstände ein als die sinnliche Wahrnehmung (269) und sei zudem häufig mit einer Zukunftsperspektive verbunden: »Jede volle Erkenntnis einer Situation schließt eine geistige Schau ein, die nicht nur tiefer dringt, sondern auch ›weiter sieht‹, sowohl räumlich wie zeitlich, als unsere deren unmittelbar innewird, daß er einen Tapferen, einen Feigen, einen Feind usw. vor sich hat« (1990, 139f.). Vgl. v. Fritz (1968, 268). 134 Vgl. z. B. Il. 3, 21; 30; 396; Il. 19, 112; Od. 1, 322; Od. 4, 116; 653; Od. 19, 552. Zu weiteren Stellen vgl. v. Fritz (1968, 257–260). 135 In der modernen Theorie des Geistes wird dieser Erkenntnisvorgang als ›Geist-Lesen‹ bezeichnet: »die expressiven Zeichen [sind] das Tor zum Verstehen des Geistes anderer Menschen. Das Verstehen ist, allgemein formuliert, ein Lesen des Geistes anhand seiner expressiven Zeichen« (Detel 2011, 42).

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Augen« (272). Man könne hier im übertragenen Sinn von einer »Art geistige[n] Wahrnehmung« (269) sprechen, die »Dinge sieht oder bewußt hält, die nicht in solcher Weise gegenwärtig sind, daß wir sie mit unseren körperlichen Augen sehen können« (271).136 Und im Gegensatz zur Verstandestätigkeit erfasse das noetische Erkennen seinen Gegenstand nicht durch sukzessives induktives oder deduktives Schließen bzw. durch praktische Handlungsüberlegungen, sondern durch ein plötzliches, nicht-diskursives Verstehen.137 Kurt v. Fritz betont allerdings, dass diesem plötzlichen Verstehen häufig ein geistiger Prozess vorangeht, »der ein gewisses Maß von schlußfolgerndem Denken und gewissermaßen logischer Ableitung enthält. Da ist etwas in den Gesten und im Verhalten eines Mannes, ein Ton in seiner Stimme, ein Ausdruck in seinem Gesicht usw., das zuerst unseren Argwohn weckt und uns schließlich zusammen mit anderen Beobachtungen zu dem Schluß führt, daß sich hinter diesem freundlichen Äußeren schlechte Absichten verbergen. Der Prozeß, der uns zu diesem Ergebnis kommen läßt, mag beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen, aber die Erkenntnis selbst, daß das ein Feind ist, kommt meistens wie ein Blitz. Wir ›sehen‹ oder ›fühlen‹ plötzlich […], was er vorhat« (268). Auf der Grundlage der Annahme von bestehenden Kontinuitäten und relativ beständigen Bedeutungsfeldern lassen sich aus dem frühen Wortgebrauch von moOr und moe?m bestimmte Merkmale des platonischen Nous erschließen.138 1) Setzt man bei der im homerischen Wortgebrauch aufscheinenden Differenzierung von anderen Erkenntnisarten an, so lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die Noesis bei Platon eine Erkenntnisform bezeichnet, die weder in der sinnlichen Anschauung (aUshgsir) noch in der diskursiven Verstandestätigkeit (diamoe?shai, di²moia), die durch logische Schließverfahren zu Aussagen und Urteilen gelangt, aufgeht.139 Die besondere Auszeichnung dieser Erkenntnis in den oben angeführten Dialogen deutet darauf hin, das Platon dem moe?m im System der epistemischen Leistungen einen herausragenden Stellenwert einräumt und als eine der Sinnlichkeit und dem Verstand übergeordnete, mit handlungsleitenden und wissensfundierenden Funktionen verbundene Erkenntnisform versteht. Greift man die Formulierungen auf, die die philologische 136 So auch Schmitt (1990): Das, »was der Njos einsieht, [ist etwas], was das Auge gar nicht sehen kann« (131). Das wahrnehmbare Äußere ist »Zeichen eines […] Inneren, das in ihm lediglich zum Ausdruck kommt. Und den Akt, der dieses Inneren gewahr wird, nennt Homer moe?m« (133). Schmitt führt überzeugend aus, dass bei Homer zwischen sinnlicher Wahrnehmung und geistiger Erkenntnisleistung differenziert wird und das moe?m das »Begreifen der Bedeutung des Wahrgenommenen« (130) meint. 137 Schmitt (1990, 135) spricht von einem »geistigen Innewerden«. 138 Zu den Gemeinsamkeiten des homerischen und des platonischen Gebrauchs von moe?m vgl. Schmitt (1990, 134) und Jäger (1967, 13–45, 172). 139 Vgl. Jäger (1967, 33f.). Die Abgrenzung von sinnlicher Wahrnehmung und dianoeitischem Denken findet sich insbesondere im Liniengleichnis der Politeia (509d–511e).

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Forschung zur Umschreibung des homerischen moe?m verwendet, so kann man von einem ›Innewerden‹, ›inneren Gewahrwerden‹, ›geistigen Verstehen‹ sprechen, das zwar bei Platon, wie oben angedeutet, argumentativ-dialektisch vermittelt, aber selbst nicht sprachlich verfasst ist. 2) Im homerischen Gebrauch von Nous klingt eine Verbindung von Prozessualität und Plötzlichkeit der Einsicht an, die sich auch in der platonischen Nous-Konzeption wiederfindet. Wie oben ausgeführt, steht bei Platon die mit dem Ausdruck 1na¸vmgr bezeichnete blitzartige, augenblickliche Einsicht im Zusammenhang mit dem Prozess eines schrittweisen Verstehens, der sukzessiven Annäherung an die Sache oder des Sich-Einlebens (sum¶heia), wie es in rep. 516a4 heißt. Um ein plötzliches Verstehen der Sache realisieren zu können, muss ein Prozess der allmählichen, schrittweisen Einsicht vorangegangen sein. 3) Darüber hinaus ist zu vermuten, dass man sich auch bezüglich der Zielrichtung des moe?m von Homer her der platonischen Konzeption annähern kann. Bei Homer ist, wie eben ausgeführt, mit dem moe?m ein geistiger Akt gemeint, der an den sichtbaren, sinnlich präsenten Zeichen etwas Nicht-Sinnliches einsieht: eine psychisch-geistige Disposition, Absicht, Eigenschaft etc. Bei diesem Akt werden die vielen wahrgenommenen verbalen und nonverbalen Äußerungen zur Einheit synthetisiert. Der homerische Held ›sieht‹ gleichsam die sich in den verschiedenen Wahrnehmungsdaten und Erscheinungen zeigende Einheit einer bestimmten geistigen Haltung, Absicht etc. seines Gegenübers. Diese beiden Bewegungsmomente – über das Sinnliche zum Geistigen und vom Vielen zum Einen – lassen sich in der platonischen Erkenntniskonzeption in modifizierter Form wiederfinden. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die von Platon konzipierte philosophische Betrachtungsweise140 dadurch gekennzeichnet, dass sie die Wahrnehmungswirklichkeit auf die zugrunde liegenden nicht-sinnlichen Form- und Gestaltprinzipien, Strukturgesetze, Identitätsaspekte durchdenkt und den Einheitsgrund der Phänomenvielfalt zu erfassen sucht. Der Philosoph setzt beim Vielen an und zielt auf das Eine. Bei allen erkennbaren Parallelen zu Homer liegt hier freilich eine andere Nous-Konzeption vor. Bei Platon geht es weniger um das Personverstehen in einer konkreten Handlungssituation zum Zweck der Entscheidungsoptimierung, als vielmehr um das Verstehen von geistigen Sachverhalten141, das zwar auf das Handeln zurückwirkt, aber als solches situationsübergreifend ist. 140 Vgl. dazu Phaidr. 249b/c; Phaid. 78d–79d; rep. 474b–480a; Tht. 173c–176a; leg. 965c. 141 Zu dem bei Platon zu beobachtenden Übergang vom Personverstehen zum Verstehen einer Sache bzw. eines Sachverhalts, das hier jeweils mit dem Ausdruck moe?m bezeichnet wird, vgl. Jäger (1967, 27f.). Der moderne geist-theoretische Verstehensbegriff, der ein Erfassen der semantischen Gehalte von mentalen Zuständen wie Äußerungen, Gedanken, Meinungen, Absichten, Wünsche, Affekte beinhaltet (vgl. Detel 2011, 30–50), bzw. alle Verstehenskonzeptionen, die ein Personverstehen thematisieren, sind also in Bezug auf den platonischen Nous nur bedingt anzuwenden.

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Noetisches Erkennen im Tugenddialog

Vieles deutet darauf hin, dass die noetische Erkenntniskonzeption bereits dem Frühwerk zugrunde liegt und Platon hier nicht mit einer ganz anderen Wissenskonzeption arbeitet. Als Argument für diese Annahme lässt sich zunächst anführen, dass die Unterscheidung zwischen Logos und Nous, die in den späteren Dialogen reflektiert und theoretisch ausgearbeitet wird, bereits in den Frühdialogen zu beobachten ist.142 Wie insbesondere im Laches (194b) und im Charmides (161d) deutlich wird143, differenziert Platon im Frühwerk zwischen dem kºcor – der sprachlichen Aussage, Worterklärung, begrifflichen Formulierung – und dem moOr – der geistigen Präsenz von Bedeutungsgehalten. Die Ausdrücke moOr und moe?m werden auf den gemeinten Sinngehalt einer im Dialog angeführten Aussage bezogen, auf das, was jemand ›vor Augen hat‹, wenn er sich sprachlich über eine Sache äußert. Es geht hier um das Verständnis oder die geistige Vorstellung, die mit einem Logos verbunden wird. Nous meint jedoch im Frühwerk auch das epistemische Ziel der philosophischen Tätigkeit. Es ist oben anhand von entsprechenden Textbeispielen bereits ausgeführt worden, dass der Nous-Bezug des Sokrates einen prüfenden und einen erotischen Aspekt hat. Die Frage nach dem Gemeinten (f ti 1mºei Charm. 162b8) ist zum einen eine prüfende Betrachtung, ob jemand Sachverständnis besitzt und der artikulierte Logos in einer Vernunfteinsicht gründet. Zum anderen aber ist sie Ausdruck der Suche nach eigener Einsicht, nach einem geistigen Verstehen und denkenden Erfassen der thematisch intendierten Sache bzw. des Bedeutungsgehalts eines in Frage stehenden Wertprädikats oder allgemeinen Prinzips.144 Auf den Nous (moOr) als Erkenntnisziel wird an verschiedenen Stellen des Frühwerks explizit verwiesen.145 Im Kontext der Thematisierung der handlungsfundierenden und vom Einzelnen zu gewinnenden Vernunfteinsicht gebraucht Platon häufig den Ausdruck moOr, der hier analog zu den erkenntnistheoretischen Ausführungen im Siebten Brief (343e2 u. 344b7–8) synonym mit

142 Vgl. dazu die philologische Untersuchung von Jäger (1967, insbes. 22–26). 143 Vgl. auch Euthyphr. 11b7 und Krat. 399d11. 144 Ähnlich Jäger (1967, 25): Im Charmides (161dff.) zeige Sokrates auf, dass ein »Satz keineswegs selbstverständlich als sicherer Besitz genommen werden soll, sondern daß es darum geht, seinen Sinn zu erfassen, bevor man ihn sich zu eigen machen darf. Dieses Erfassen des Sinnes erst ist eine echte Einsicht im Sinne des moe?m«. Auf den Nous als Ziel und Resultat der sokratischen Erkenntnissuche verweist auch die im Symposion angeführte Metapher vom geöffneten Silenen: »Wenn sie [sc. die sokratischen Reden] aber einer geöffnet sieht und inwendig hineintritt, so wird er zuerst finden, daß diese Reden (kºcoi) allein inwendig Vernunft (moOr) haben, und dann, daß sie ganz göttlich sind und die schönsten Götterbilder von Tugend in sich enthalten« (222a). Vgl. auch Phaid. 69b–d und 118a15, wo Sokrates als vqomil¾tator bezeichnet wird. 145 Vgl. insbes. Gorg. 467a; Men. 88b/c, 99e–100a; Euthyd. 281a/b; Ion 534b–d.

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1pist¶lg und vqºmgsir verwendet wird.146 Gerhard Jäger (1967) hat in seiner sorgfältigen Untersuchung zum Nous in Platons Dialogen aufgezeigt, dass es Kontinuitäten im Wortgebrauch gibt und die spätere Verwendung des Wortes »immer mit der frühen verbunden bleibt und teilweise auf bewußtem Herausarbeiten des früher […] immer schon Mitgemeinten beruht« (22). Dabei sei nicht nur eine Beständigkeit in der mit dem Ausdruck bezeichneten Erkenntnisform, sondern auch in der Bestimmung des Gegenstandsbereichs zu beobachten. Mit moOr sei bereits in den frühen Dialogen eine auf das !cahºm bzw. die !qet¶ bezogene Vernunfteinsicht gemeint (17). Man wird von daher mit guten Gründen von einer bereits dem Frühwerk zugrunde liegenden noetischen Erkenntniskonzeption sprechen können, selbst wenn diese hier noch keine theoretische Reflexion und Ausarbeitung findet.147 Um zu einem angemessenen Urteil über den Erkenntnisgehalt der Tugenddialoge zu gelangen, ist es folglich nicht hinreichend, sich an den darin enthaltenen Propositionen zu orientieren und diese hinsichtlich ihres epistemischen Status zu betrachten. Unter Voraussetzung der Annahme, dass die NousKonzeption bereits dem Frühwerk zugrunde liegt, sind die Dialoge darauf hin zu untersuchen, inwiefern dort noetische Einsichten in die Sache gewonnen werden. Gegen eine noetische Erkenntnis im Frühwerk scheint freilich die Tatsache zu sprechen, dass Sokrates zu Beginn der Dialoge eine sprachliche Erklärung und Wesensdefinition einfordert und diese als Intention der Tugendfrage kenntlich macht.148 Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lässt sich jedoch die eingeforderte Erklärung als vorläufiges Erkenntnisziel verstehen. Die Artikulation eines Logos ist gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass die Frage nach dem Verständnis des thematisierten Sachverhalts gestellt und die Suche nach dem Nous vollzogen werden kann. Das Aussage- und Definitionswissen besitzt im Dialog eine instrumentelle Funktion; es ist nicht Zweck der Bemühungen, sondern nur ein Mittel zur Vernunfteinsicht, die die eigentlich intendierte Erkenntnis bezeichnet. Als Zwischenergebnis der Überlegungen zur konstruktiven Dimension der Wissensprüfung ist Folgendes festzuhalten: Auf der Grundlage der Ausführungen zu Methodologie und Wissensform des Nous bei Platon lässt sich die These aufstellen, dass die Dialektik der Tugenddialoge eine Einheit von argu146 Vgl. insbes. Men. 87d–89a und Euthyd. 281b. Zum Gebrauch von moOr, 1pist¶lg, vqºmgsir in den frühen Dialogen vgl. Jäger (1967, 13–30). 147 Die kritische Dialektik des Frühwerks erschöpft sich somit keineswegs im Gewinn einer relativ sicheren Meinung über das Gute, auf der man »in Ermangelung eines festen und sicheren Gefährtes wie auf einem Floß die Fahrt durchs Leben wag[t]«, wie Stemmer (1992, 150) und andere Autoren annehmen. 148 Vgl. z. B. Charm. 159a/b und Lach. 190d/e, 191e.

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mentativen, mit logischen Schlüssen und Beweisformen arbeitenden Verfahrensweisen und noetischer Sacheinsicht darstellt. Der Gehalt der gewonnenen Einsichten wird dabei offenbar nicht in Form von Sätzen mental präsentiert, er ist kein innerer aussagenförmiger Gedankenstrom, der parallel zu der sprachlich dargestellten Argumentation läuft, vielmehr handelt es sich um ein nichtsprachliches geistiges Verstehen, das während der Entwicklung des Arguments realisiert wird. Die eigentliche Schwierigkeit beim Begreifen dieses epistemischen Verfahrens besteht wahrscheinlich darin, das kritische Argumentieren mit einer positiven Einsicht in Zusammenhang zu bringen. Wir haben in der Regel kein Problem beim Nachvollzug eines Erkenntniskonzepts, das ein Verknüpfen von Urteilen zu begründeten Aussagen mit nicht-diskursiven Momenten des Verstehens verbindet. Szaif (1996) hat überzeugend aufgezeigt, dass jedes Erarbeiten und Aneignen eines propositionalen Wissens über einen Sachverhalt »mehr als nur das Aufnehmen und Einprägen bestimmter Satzfolgen […] beinhaltet, eben das Moment des Verstehens und des Sich-Klar-Werdens über die relevanten Zusammenhänge, das nicht durch eine quasi-mechanische Form der Vermittlung übertragen werden kann« (172).149 »Im Falle etwa eines mathematischen Beweises ›sieht‹ man auf einmal, warum es sich so und so verhält, z. B. warum das Quadrat der Hypotenuse notwendigerweise gleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten ist, und dabei erlebt man so etwas wie ›Einsicht‹ und ›Klarwerden‹« (171).150 Szaif spricht in diesem Zusammenhang von intuitiven Aspekten eines diskursiv-argumentativen Wissens. Bei dem im Frühwerk vorgeführten elenktischen Verfahren handelt es sich jedoch nicht um eine diskursive Erschließung und Erarbeitung eines propositionalen Sachwissens, sondern um eine kritische Prüfung von Meinungen. Die elenktische Dialektik scheint, wie bereits bemerkt, ein reines Ausschlussverfahren zu sein und lediglich anzuzeigen, was eine Sache nicht ist. Es fällt deswegen zunächst schwer, sie mit einem positiven Sach-Verstehen in Verbindung zu bringen. Den Schlüssel für einen Zugang zu diesem so schwer fassbaren, scheinbar paradoxen Erkenntniskonzept gewinnt man möglicherweise dadurch, dass man die elenktische Dialektik nicht primär als Widerlegung, sondern als Ausdruck der Wahrheitssuche begreift. Eine eristische Argumentation, die vorrangig auf die Widerlegung zielt, bleibt in der Tat rein negativ und leer. Die Wissensbehauptungen und Wahrheitsansprüche werden hier destruiert, ohne dass ein Gewinn in der Sache erzielt wird. Das lässt sich anhand des Dialogs Laches gut beobachten. Platon führt dort die Vernunftlosigkeit einer eristischen 149 Vgl. auch Benson (2000, 212–215). 150 Ähnlich Schmitt (2012, 64). Stemmer (1992, 220 Fußn. 116) spricht solche Momente der Einsicht und des »plötzliche[n] Gewahrwerden[s]« lediglich den Partnern zu, wenn diese die Widersprüchlichkeit ihrer Antworten bemerken, bei Sokrates hingegen vermag er nur die Erarbeitung eines relativ beständigen Meinungswissens zu entdecken.

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Dialektik vor, indem er Laches in dessen Disput mit Nikias dieselben Argumente verwenden lässt, die Sokrates zuvor in der Auseinandersetzung mit der Tapferkeitsbestimmung des Militärs angeführt hat, und zugleich deutlich macht, dass Laches keinerlei Erkenntnisfortschritt erzielt, sondern lediglich sein naturalistisches Vorurteil gegen Nikias’ intellektualistisches Tapferkeitsverständnis zu behaupten sucht.151 Die von Platon inszenierte Gegenüberstellung von philosophischer und eristischer Argumentation weist darauf hin, dass nicht das Argument oder die Beweisform ausschlaggebend für den konstruktiven Gehalt der Dialektik sind, sondern die Intention der Beweisführung und der davon bestimmte Modus des Gebrauchs der Argumente und logischen Formen. Wird ein bestimmtes Argument eristisch verwendet, verliert es seine sacherschließende Kraft und wird zur bloßen Waffe im Kampf um soziale Überlegenheit, Sieg und Selbstbehauptung. Die fehlende Sachintention verhindert die Vernunfteinsicht und lässt die kritische Dialektik zum Instrument der Selbstdurchsetzung verfallen. Die prüfende Argumentation ist offenbar nur dann noetisch und sachhaltig, wenn sie von der Wahrheitssuche getragen wird und in der Selbsterkenntnis gründet. Die mit der Hexis des Nichtwissens verbundene Sachbindung und Sachausrichtung bezeichnet die Bedingung der Möglichkeit, im prüfenden Durchdenken der Logoi vorläufige Vorstellungsmuster zu transzendieren und in der Aufdeckung der Unzulänglichkeit eines präsentierten Meinungswissens das fehlende Begründende einzusehen. Solch eine Sacheinsicht in den Tugenddialogen nachzuweisen oder aufzuzeigen bleibt freilich immer mit Schwierigkeiten verbunden, weil die in der Wissensprüfung unmittelbar gewonnenen Einsichten im Dialog nicht in Form eines Logos expliziert und reflektiert werden und insofern in gewisser Weise ›unsichtbar‹ bleiben. Möglicherweise kann man jedoch dadurch einen Zugang gewinnen, dass man die der Sokrates-Figur in den Mund gelegten kritischprüfenden Argumente unter diesem Aspekt genauer betrachtet und sich gleichsam in die Argumentation ›hineindenkt‹. Das soll im Folgenden anhand des Laches andeutungsweise versucht werden. In der sokratischen Untersuchung von Laches’ erster Tapferkeitsbestimmung (Lach. 190e–191c) ist eine Begründung der Nichtidentität des angeführten Verhaltensmusters mit der gesuchten Tapferkeit enthalten, die positiv auf die Sache verweist und sie in anfänglicher Weise ›sichtbar‹ werden lässt. Laches’ Bestimmung der Tapferkeit als Standhalten in der Schlachtreihe ist eine Identitätsbehauptung, die die Aussage enthält, dass das äußere Nicht-Weichen Tapferkeit ist, also intrinsischen Wert besitzt und den Status der Ausschließlichkeit hat. Das von Sokrates gegen diese Identitätsbehauptung vorgebrachte 151 Vgl. Lach. 195a–196b, 197a–c.

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Argument besagt, dass das Standhalten deswegen nicht die gesuchte Tugend zu sein vermag, weil auch das entgegengesetzte Verhalten tapfer und umgekehrt das Standhalten auch schädlich und schlecht sein kann. Versteht man die Tapferkeit in der von Laches angeführten Weise, würde sie ihrer Identität, Einheit und intrinsischen Werthaftigkeit verlustig gehen, d. h. sich in ihrem Bestimmt-Sein auflösen. Sie wäre sowohl mit sich selbst identisch als auch nicht identisch, sowohl Tugend als auch das Gegenteil – Laster –, sowohl gut als auch schlecht. Diese Begründung ist keineswegs eine bloße Negation, vielmehr lässt sich hier eine positive, weiterführende Einsicht eruieren. In der Aufhebung der Gleichsetzung des sinnlich wahrnehmbarenVerhaltens mit der Tapferkeit wird – metaphorisch gesprochen – der Blick auf die Sache frei, ›zeigt‹ sich die gesuchte Tugend als eine nicht-wahrnehmbare Wirklichkeit, die der Vielheit der Erscheinungsweisen Einheit verleiht und den in sich ambivalenten Verhaltensmustern Werthaftigkeit mitteilt. Die Tapferkeit wird als das begründende und einheitsstiftende Moment der heterogenen, mehrdeutigen Phänomene sichtbar, ohne das die Sinnlichkeit kein Sein und keine Verstehbarkeit hätte. Oder anders formuliert: Die Tapferkeit zeigt sich als das Eine, das sich in differenten Situationen und Verhaltensmustern ausprägen kann, das in höchst unterschiedlicher Weise in Erscheinung zu treten vermag, selbst jedoch keine Erscheinung ist, also nicht aufgeht im Bereich der äußerlich wahrnehmbaren Phänomene.152 Dass diese Einsicht keineswegs banal oder trivial ist, wird an deren Wirkung deutlich: Der Macht der Bilder kann derjenige nicht mehr erliegen, der die grundsätzliche Zwiespältigkeit und Ambivalenz dieser Seinsebene erkannt hat. Mit der scheinbar so unbedeutenden Einsicht in die Verschiedenheit von Erscheinung und Sache und der darin implizierten Einsicht in die Differenz zwischen bloßem Schein und Erscheinung ist die ausschließliche Orientierung an äußeren Phänomenen, an sichtbaren Verhaltensweisen und Handlungsmustern, an Auftreten, rhetorischer Präsentation und optischen Merkmalen der in den Handlungszusammenhängen agierenden Subjekte – kurz an der Außenseite einer Person, überwunden.153 Wie stark der Mensch in seinem Urteilen und Handeln vom äußeren Erscheinungsbild der Dinge bestimmt wird, welchen Illusionen und Irrtümern er dabei erliegt und wie schwierig es häufig ist, sich 152 Vgl. Schrastetter (1966, 22ff.) (1989, 251–254) u. Zehnpfennig (2001, 56–62 und 128): Sokrates gewinne im Gespräch mit Kephalos (Politeia I), der das Verhaltensmuster des Wiedergebens als Gerechtigkeit bestimmt hat, Einsicht in die Sache, indem er »die sinnliche Erscheinung des ›Wiedergebens des Empfangenen‹ auf das sich in ihr äußernde Nichtsinnliche hin durchdenkt« (128). Vgl. auch Kuhn (1959, 58), der das sokratische Wissen des Nichtwissens als »das kritische Bewußtsein des sachgebundenen, d. i. die Sache erst zum Vorschein bringenden Logos« auslegt, und Schmitt (1999, 45). 153 Hier geschieht also weitaus mehr als die bloße »Widerlegung eines Definitionsvorschlags durch ein simples Gegenbeispiel« (Strobach 2009, 109).

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von der Fixierung auf die Bilderwelt zu lösen, wird von Platon immer wieder thematisiert.154 Der im Höhlengleichnis dargestellte Bildungsweg kann als Versuch gedeutet werden, diese Sichtweise zu überwinden155 und eine andere Perspektive auf sich selbst, auf die anderen und das Ganze zu gewinnen. Betrachtet man die sokratische Elenktik unter diesen konstruktiven Gesichtspunkten, so wird deutlich, dass die Aufhebung des Meinungswissens und die Transzendierung von vorläufigen Vorstellungsmustern Begleitphänomene der Vernunfteinsicht sind und von dieser erst ermöglicht werden. Es ist der Fortschritt in der Sache, der von falschen Vorstellungen, irrtümlichen Identifikationen und Wissensillusionen nachhaltig befreit und festgefügte Denkmuster auflöst.156 Diese Synthese von Katharsis und Progressus ist jedoch nur dann möglich, wenn der Elenchos in der Selbsterkenntnis gründet und von der Wahrheitssuche und der darin wirksamen Sachbindung getragen wird. Liegt die Haltung der Doxosophia zugrunde und wird diese unverändert beibehalten, so vermag die Wissensprüfung nur zu negativen Resultaten zu führen: zu einer bloßen Destruktion des Scheinwissens, die mit keiner konstruktiven Sacheinsicht verknüpft ist und deswegen auch keine wirkliche Befreiung von Irrtum und Wissensillusion darstellt. Wie oben bereits aufgezeigt, bleiben die als Partner des Sokrates dargestellten Gesprächsakteure in der Regel in ihren Meinungen befangen, auch dann noch, wenn sich diese im Gespräch als unzulänglich oder widersprüchlich erwiesen haben. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich zum einen eine bestimmte Einordnung der Reflexionen der Gesprächspartner auf das Dialoggeschehen vornehmen und zum anderen das aporetische Gesprächsende erklären, das ja zunächst gegen die Annahme einer konstruktiven Elenktik zu sprechen scheint. Offenbar sind hier zwei Perspektiven zu unterscheiden – die Sichtweise des wissend Nichtwissenden und die Wahrnehmung des vermeintlich Wissenden. Aus der Perspektive der Gesprächspartner, die Platon stets als Wissende im Sinn der Doxosophia darstellt, erscheint die elenktische Dialektik als reine Widerlegung, ganz gleich, ob dabei wohlwollende oder bösartige Absichten unterstellt werden. Diese Einschätzung der Dialektik als reine Katharsis oder bloße Destruktion ist erkennbar durch die Einstellung gegenüber dem artikulierten Meinungswissen bedingt. Da für die angeführten Logoi implizit oder explizit der Wahrheitsstatus geltend gemacht wird und das weitere Gesprächsverhalten unter dieser Voraussetzung den Charakter einer Apologetik und Rechtfertigung des erhobenen Wahrheitsanspruchs annimmt, kann die kritische Argumenta154 Vgl. z. B. rep. 475dff., 514aff., 518b–d. 155 Ähnlich Schmitt (1999, 41), der die Intention des sokratisches Dialogs in der Überwindung der empirischen Sichtweise sieht, die den Unterschied zwischen Phänomenen und Sache selbst ignoriere. 156 Vgl. Phaid. 69b8–c3.

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tion des Sokrates nicht in ihrer sacherschließenden Wirkung erfahren werden, sondern muss als bloße Negation und Falsifizierung der geäußerten Meinung erscheinen. In ähnlicher Weise ist auch die Aporie am Ende der Dialoge als perspektivengebunden zu betrachten und auf die Gesprächspartner zu beziehen. Das Hineingeraten in Widersprüchlichkeit und Ausweglosigkeit ist nach platonischer Auffassung ein Charakteristikum des Sich-selbst-Verkennenden, der in falscher Wissensgewissheit befangen ist.157 Die Aporie verweist somit lediglich auf das Scheitern des Wissensanspruchs158 und ist keineswegs als Misslingen der von Sokrates realisierten Erkenntnissuche aufzufassen. Es sind die Gesprächspartner, die am Ende verwirrt, ratlos, ausweglos sind, die sich ihrer Sache zunächst sicher waren und im Verlauf der Unterredungen erkennen mussten, dass sie keine ihrer Bestimmungen zu halten vermochten. Die Tatsache, dass sich Sokrates in die Ausweglosigkeit zumeist einbezieht und vom eigenen Versagen spricht159, ist kaum als Indiz dafür anzusehen, dass für ihn die Untersuchung ebenso negativ geblieben ist wie für die Partner und er mit diesen bezüglich der Sacheinsicht auf einer Stufe steht. Platon will mit dieser Darstellung wohl eher die protreptisch-didaktische Kompetenz der Sokrates-Figur herausarbeiten. Sokrates wird in diesen Passagen als wahrer Erzieher dargestellt, der die defizitäre geistige Verfassung der anderen spiegelt, sie mit ihrem Versagen konfrontiert und damit zur Selbsterkenntnis und Erkenntnissuche herausfordert. Das in diesen Dialogpassagen häufig anzutreffende sokratische Bekenntnis zum eigenen Nichtwissen ist allerdings nicht nur pädagogisch begründet, sondern steht auch, wie bereits bemerkt, mit der platonischen Auffassung der Hexis des Nichtwissens als einer bleibenden geistigen Verfassung in engem Zusammenhang. Der Weise im Sinn des wissenden Nichtwissens zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er sich der Nichtverfügbarkeit der Sache stets bewusst bleibt und nicht der Illusion eines unveränderlichen, abgeschlossenen Erkenntnisbesitzes erliegt. Er bleibt bei allen Erkenntnisfortschritten stets ein Suchender und realisiert die Suche als Lebenshaltung, in der Gewissheit, dass er nur auf diese Weise an der Wahrheit teilhaben kann.

157 Vgl. Alk. I 116e–117d; Phaidr. 237b/c; Men. 86e; soph. 229c. 158 In der Forschung wird die Aporie häufig durch den Verweis auf die Unsagbarkeit und Nichtmitteilbarkeit des Tugendwissens zu erklären versucht (vgl. Friedländer 1964, I, 162; Wieland 1982, 245 u. 1996, 17ff.; Gonzalez 1998a u. 1998b). Das greift jedoch zu kurz, weil die Aporie nicht nur den unzulänglichen Logos anzeigt, sondern darüber hinaus auf Defizite im Sachverständnis und in der Tugendpraxis hinweist. 159 Vgl. Charm. 175b; Lach. 200e; rep. I 354b/c.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens

dd)

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Von der destruktiven zur konstruktiven Wissensprüfung

Im vorigen Kapitel ist deutlich geworden, dass der Elenchos sowohl destruktiv als auch konstruktiv verlaufen kann und die Selbsterkenntnis von Platon als entscheidende Bedingung dafür angesehen wird, dass die kritische Prüfung zu einem Erkenntnisfortschritt in der Sache führt. In den folgenden Ausführungen soll die Relation dieser beiden Arten von Elenchoi unter prozessualen Gesichtspunkten untersucht werden. Da die Selbsterkenntnis und die Hexis des Nichtwissens von Platon als epistemische Zustände kenntlich gemacht werden, die zwar charakterlich präformiert sein können, die jedoch in einem bewussten, aktiven Erkenntnisprozess erst zu erwerben sind, liegt die Annahme nahe, dass die Selbstprüfung erst nach und nach in eine konstruktive Wissensprüfung übergeht. Diese Bewegung vom destruktiven zum konstruktiven Elenchos wird im Tugenddialog zwar nicht vorgeführt. Im Menon, in der Politeia und in der Maieutik-Passage des Theaitetos lassen sich jedoch Verweise darauf finden. In der Maieutik-Passage des Theaitetos (150c–151b) lässt Platon Sokrates die Erkenntnisfortschritte jener Personen beschreiben, die den Umgang mit ihm suchen und am Dialog über eine längere Zeit hinweg teilnehmen. Interessant ist in diesem Kontext, dass Platon hier zwischen verschiedenen Phasen differenziert: Nach einer destruktiv bleibenden Anfangsphase gewinnen die Dialoge für die Teilnehmer eine zunehmend konstruktive Dimension. Das erste Stadium der wiederholt geführten gemeinsamen Gespräche ist durch die Zerstörung des Scheinwissens und die Aufdeckung des ungebildeten (!lah¶r) Zustands der Teilnehmer, die hier als Personen im jugendlichen Alter beschrieben werden, bestimmt (Tht. 150d4). Alle Vorstellungen, von denen Sokrates die jungen Leute mit Hilfe seiner geistigen Hebammenkunst ›entbindet‹, erweisen sich in der Prüfung als bloße Schattenbilder (eUdyka) der Tugend, als Unwahres, Scheinhaftes, Falsches (xeOdor). Im fortgeschrittenen Stadium der Gespräche würden die Knaben jedoch Erkenntnisfortschritte machen und viel Schönes (pokk± jak±) und Wahres ›gebären‹ (Tht. 150d4–8). Wie aus dem Kontext deutlich wird, ist an dieser Stelle noch nicht die eigentliche Vernunfteinsicht gemeint, vielmehr ist hier von wahren Vorstellungen die Rede160, die offenbar als erstes Resultat einer aufgenommenen Wahrheitssuche gewonnen und festgehalten werden. Der sich langsam ›umwendende Blick‹161 orientiert sich zunächst an dem, was im dialektischen Gespräch durch die maieutische Fragetechnik hervorgeholt wurde und in der Prüfung unwiderlegt bleibt. Das lässt sich anhand des Laches gut veranschaulichen, auch wenn die Ge160 Das wird besonders deutlich in Tht. 151b. Vgl. auch Tht. 157c/d und 161b. 161 Zur Metapher der ›Umwendung‹ oder ›Umkehr‹ (peqiacyc¶, peqistqov¶, letastqov¶) im platonischen Werk vgl. rep. 515c7, 518c8, d4, d5, e4, 519b2, 521c5, c6, 525a1, c5, 526e3, 532b7.

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Selbsterkenntnis bei Platon

sprächspartner dort nicht über das erste Stadium hinausgelangen. In der Untersuchung von Laches’ zweiter Tapferkeitsbestimmung (Lach. 192c/d) zeigt sich, dass die seelische Haltung der Beharrlichkeit nur dann als Tugend zu bezeichnen ist, wenn das epistemische Moment hinzutritt und sie von Vernunft und Einsicht geleitet wird. Erst die vernunftorientierte Beharrlichkeit (vqºmilor jaqteq¸a) erfüllt das Merkmal des jakºm und des !cahºm und kann folglich als Tugend aufgefasst werden. Wie oben bereits ausgeführt, scheitert Laches an der Explikation des Vernunftprinzips und fällt auf die als Naturanlage verstandene Beharrlichkeit zurück. Auf der Grundlage des im Theaitetos dargestellten Progressus lässt sich eine mögliche positive Gesprächsphase konstruieren, die wie folgt aussehen könnte: Bei einer Fortsetzung des Gesprächs und einer wiederholten Prüfung durch Sokrates würde ein Teilnehmer, der ähnliche Vorstellungsmuster wie Laches hätte, aber im Gegensatz zu dieser Figur zur Selbstinfragestellung bereit wäre, sein naturalistisches Vorurteil vermutlich allmählich aufgeben und im Vertrauen auf die sich im Dialog zeigende Wahrheit162 das epistemische Moment der Tapferkeit anerkennen und eine entsprechende Tugendvorstellung ausbilden. Damit wäre noch nicht mehr als eine richtige Meinung gewonnen. Die wahre Vorstellung erfüllt jedoch eine wichtige Funktion auf dem Weg zur Vernunfteinsicht: Nach der Aufgabe der falschen, widersprüchlichen Vorstellungen vermag sie eine vorläufige Orientierung zu bieten. Dass dies tatsächlich nur ein erster Schritt ist und noch nicht das erstrebte Resultat der dialektischen Gespräche, wird in der Maieutik-Passage an Sokrates’ Bemerkungen über die Unbeständigkeit der richtigen Meinung deutlich, die thematisch an die Ausführungen im Menon (97d–98b, 100a) anknüpfen. Die gewonnene wahre Vorstellung kann auch wieder verloren gehen, wenn die Knaben das Gespräch zu früh beenden und den Umgang mit Sokrates zu zeitig abbrechen: »Viele schon haben […] sich früher als recht war, von mir getrennt, und nach dieser Trennung dann, teils infolge schlechter Gesellschaft, nur Fehlgeburten getan, teils auch das, wovon sie durch mich entbunden worden, durch Verwahrlosung wieder verloren (ja· t± rp( 1loO laieuh´mta jaj_r tq´vomter !p¾kesam )« (Tht. 150e). An der Stelle wird zwar nicht weiter ausgeführt, welche zusätzliche Leistung eine Fortsetzung des Gesprächs über die gewonnene Vorstellung hinaus zu erbringen vermag. Angesichts der im Menon dargestellten Überlegungen (Men. 97d–98b) ist jedoch zu vermuten, dass hier ein Vertiefungs- und Aneignungsprozess gemeint ist. Damit die richtigen Meinungen Beständigkeit, Dauer, Festigkeit gewinnen, müssen sie durch das fortgesetzte philosophische Gespräch innerlich angeeignet und auf einer tieferen

162 Vgl. Tht. 200e7–201a2, wo Sokrates an das Vertrauen auf die dialektische Untersuchung appelliert.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens

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Ebene verstanden werden.163 Nach der oben dargestellten noetischen Erkenntniskonzeption bei Platon kann dieser Vertiefungsprozess als sukzessive Begründung der Meinung durch Vernunfteinsicht gedeutet werden. Diese Begründungsbewegung ist zugleich eine Transzendierung des Meinungswissens. Je sicherer und stärker die suchende Kraft wird, je mehr die Person in der Suche und Vernunfteinsicht gründet und ihren Halt findet, desto verzichtbarer werden die richtigen Meinungen als Orientierungsmomente. Auf der Grundlage der platonischen Nous-Konzeption lässt sich die These aufstellen, dass im fortgeschrittenen Stadium des Dialoggeschehens auch die wahren Vorstellungen und damit das Vorstellungsdenken überhaupt überschritten werden. Die richtige Meinung hat, so wird an den entsprechenden Ausführungen in den platonischen Dialogen deutlich, lediglich den Status einer Übergangslösung, sie ist eine Art Provisorium, das zunehmend durch etwas Wertvolleres (tili¾teqa Phaidr. 278d8)164 ersetzt wird.165 Die Bewegung von der destruktiven Wissensprüfung zur positiven Wahrheitssuche wird in ähnlicher Form im Menon geschildert. In den oben dargestellten Überlegungen zum Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Wahrheitseros ist dies schon ansatzweise aufgezeigt worden. Anhand des Sklavenbeispiels (Men. 82b–85d) macht Platon deutlich, dass der Erkenntnisprozess mit einer Bewusstmachung und kritischen Prüfung der eigenen Vorstellungen anhebt und im Verlauf der Untersuchung eine Selbsterkenntnis gewonnen wird, die die doxosophische Einstellung aufhebt und die Wahrheitssuche allererst ermöglicht (Men. 84a–c). Durch die Einsicht in die Erkenntnisdefizite ist das Hindernis beseitigt, das einer aktiven Wahrheitssuche im Weg stand, und zugleich wird durch diese Einsicht jene Kraft geweckt, die den Prozess der Suche energisch vorantreibt und beflügelt – der Wahrheitseros (Men. 84c7f.). Die Bedeutung der Selbsterkenntnis als das die Suche ermöglichende und motivierende Moment wird hier in besonderer Weise hervorgehoben, da es in diesem Kontext darum geht, den skeptischen Sophistenschüler Menon vom Nutzen der Selbsterkenntnis und von der Möglichkeit der Wahrheitssuche zu überzeugen. 163 In der vielzitierten 1pist¶lg-dºna-Passage des Menon (97c–98b) ist davon die Rede, dass die richtigen Vorstellungen durch Begründung (d¶s, aQt¸ar kocisl`, 98a4) festgebunden werden müssen. Die unbeständigen wahren Meinungen werden durch begründendes Denken auf die noetische Erkenntnis hin überschritten und gewinnen dadurch Beständigkeit. Enskat (1998, 123) hat in Bezug auf diese Stelle richtig die Personengebundenheit der Erkenntnis betont. 164 Zur Deutung des tili¾teqa vgl. Blößner (2007b, 251): »›Helfen‹ kann seiner missdeuteten Schrift nur ein Autor, der Wertvolleres (timiotera) besitzt als jene bloßen Formulierungen, die sein Text immer nur stereotyp wiederholt: das Verständnis der Sache nämlich und die Fähigkeit, das Gemeinte je nach Adressat und Situation in unterschiedlicher Weise vermitteln zu können«. 165 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist Sokrates’ Aussage zu verstehen, dass der Gott ihm das Erzeugen von eigenen Kenntnissen verwehrt habe (Tht. 150c). Hier ist nur das Meinungswissen gemeint, nicht aber die noetische Einsicht.

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Selbsterkenntnis bei Platon

Der Akt der Erkenntnissuche selbst wird in dieser Passage viel deutlicher als im Theaitetos als epistemisches Verfahren beschrieben, das durch einen schrittweisen Vertiefungsprozess charakterisiert ist. Am Beispiel der Lösung einer mathematischen Aufgabe macht Platon deutlich, dass im Dialog zunächst richtige Meinungen (!kghe?r dºnai) gewonnen werden, die im Verlauf der fortgesetzten dialektischen Bewegung auf die Erkenntnis (1pist¶lg) hin zu überschreiten sind (Men. 85c/d, 86a). Auf diesen Prozess verweist insbesondere die Passage 85c9–d1: Wird die gesuchte Sache ständig aufs Neue zum Gegenstand des Fragens gemacht und aus unterschiedlichen Perspektiven bzw. in differenten Kontexten betrachtet, erwachsen Einsicht und Verständnis: »Und jetzt sind ihm nur noch eben wie im Traume diese Vorstellungen (dºnai) aufgeregt. Wenn ihn aber jemand oftmals um dies nämliche befragt und auf vielfache Art, so wisse nur, daß er am Ende nicht minder genau als irgendein anderer um diese Dinge wissen (!jqib_r 1pist¶setai) wird« (Men. 85c9–d1).166 Das Ineinandergreifen von negativer Prüfung und positiver Suche wird schließlich auch in der Politeia angedeutet. Im Rahmen einer Darstellung der Unterweisung der zukünftigen Philosophenherrscher in die Kunst der Dialektik erörtert Sokrates zunächst die destruktive Wirkung der prüfenden Dialektik (rep. 538d/e) und thematisiert im Anschluss daran deren konstruktive Dimension. Ist der vom erfahrenen Dialektiker Geprüfte von ernsthafter Natur und am Auffinden der Sache wirklich interessiert, wird er sich zunehmend in die suchende Bewegung hineinziehen lassen und den Dialektiker, der die Wahrheit ans Licht bringen will, nachahmen (rep. 539c6–d2). Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, wird hier das prüfende Verfahren der Wahrheitssuche in besonderer Weise betont.167 Das kann als Hinweis darauf aufgefasst werden, dass Platon tatsächlich einen prozessualen Zusammenhang von destruktiver und konstruktiver Wissensprüfung annimmt.168 Angesichts dieser Darstellungen drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit der Selbstprüfungs-Prozess von der Präsenz und Hilfestellung einer anderen Person abhängig ist. In den angeführten Passagen des Menon, Theaitetos und 166 Ähnlich Morris (2011, 7). 167 Die Ausdrücke 5kecwor und 1k´cweim werden hier sowohl zur Beschreibung des destruktiven als auch des konstruktiven Verfahrens verwendet (vgl. rep. 538e1, 539b5 u. 9, 539c1, 539c9). 168 Das mathematische Beispiel im Menon scheint hingegen nahezulegen, dass die Wahrheitssuche in einem didaktischen Lehrgespräch besteht, das sich zwar auch einer Fragetechnik bedient, aber nicht elenktisch verfährt (84d–85b). Man kann hier jedoch darauf verweisen, dass Sokrates bei seinen an Menon gerichteten Aufforderungen zur Tugendsuche stets die elenktische Wissensprüfung im Blick hat (vgl. Men. 80d und 86c). Dass im Sklavenbeispiel ein didaktisches Lehrgespräch als Verfahren angeführt wird, ist vermutlich dem sophistisch orientierten Gesprächspartner geschuldet, der nur das Lehrgespräch (didaw¶) kennt (vgl. Men. 76a8, 81e/82a, 86c/d). Sokrates lässt sich hier auf den Verständnishorizont des Menon ein.

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der Politeia wird die Wissensprüfung als ein Geschehen dargestellt, das durch einen erfahrenen Dialektiker angeregt, gelenkt und vorangetrieben wird. Zwar betont Platon in diesem Zusammenhang stets, dass für ein Gelingen der Prüfung die charakterliche und motivationale Verfasstheit der Person169 entscheidend ist und der Dialektiker nur dann etwas ausrichten kann, wenn beim Anderen der eigene Antrieb zur Suche, die Bereitschaft zur Einsicht und Bildung sowie die für die Durchführung des langwierigen Selbsterkenntnis-Prozesses notwendige Willensstärke, Ausdauer und Beharrlichkeit vorhanden sind.170 Dennoch bleibt das ganze Geschehen in den Darstellungen immer an die Figur eines erfahrenen Dialektikers gebunden, der durch seine Infragestellung von Überzeugungen und Wissensansprüchen die Selbsterkenntnis provoziert und durch seine eigene Denktätigkeit ein Beispiel für die aus der Aporie herausführende Wahrheitssuche gibt. Diese Darstellungen legen den Schluss nahe, dass die Selbsterkenntnis nach platonischer Auffassung ohne äußere Hilfe gar nicht möglich ist.171 Gegen diese Schlussfolgerung spricht jedoch die Tatsache, dass der bei Platon auftretende Sokrates, der hier als Paradigma der Selbsterkenntnis erscheint, zwar Anregungen durch die Tradition des cm_hi sautºm und die sophistische Tugenddiskussion172 erfahren hat, aber für seine spezifische Form der Selbstprüfung und Wahrheitssuche keinen Lehrer besaß, sie also ohne fremde Hilfe realisiert hat.173 Die im platonischen Frühwerk vorgeführte Form der Selbstprüfung muss demzufolge grundsätzlich auch ohne Anleitung und Führung durch eine andere Person möglich sein.174

169 Platon betont in diesem Zusammenhang die selbstbestimmte Entscheidung der Person. Vgl. rep. 617d–620d; vgl. insbes. 617e4f.: AQt¸a 2kol´mou7 he¹r !ma¸tior. Dazu Karl (2010, 331ff.). 170 Vgl. Phaidr. 250e/251a, 252c–253c; rep. 485a–497a, 614bff.; epist. VII 340b–341a. 171 So Erler (2002, 398f.) u. Rehn (2009, 333). Daraus kann man die skeptische Schlussfolgerung ziehen, dass die Selbsterkenntnis unter Realbedingungen nicht erreichbar ist, da ein erfahrener Dialektiker, der auf sokratische Art und Weise Wissensansprüche untersucht, in der Regel nicht zur Stelle ist. 172 Zum sopistischen Tugenddiskurs vgl. Döring (1998, 11–19, 98–101) u. Taureck (1995, 43– 80). Zur sophistischen Dialektik vgl. Döring (1998, 21–23). 173 Vgl. die in der Apologie (20c–23c) enthaltene Bestimmung der Selbsterkenntnis als eine Sophia, die Sokrates von allen anderen unterscheidet, sowie die Darstellung der philosophisch-elenktischen Prüfung als spezifische Leistung des Sokrates. 174 Bei aller Skepsis bezüglich einer Selbsterkenntnis aus eigenem Impuls gesteht auch Erler (2002, 404) zu, dass Platon eine Wahrheitssuche ohne Anregung von außen für möglich hält, da in den Dialogen wiederholt auf die Widersprüchlichkeit der Vorstellungen als Anstoß zum Philosophieren verwiesen werde.

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2.

Selbsterkenntnis bei Platon

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

Nach der Untersuchung der Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Nichtwissens wird sich die Betrachtung jetzt einer ganz anderen Form der epistemischen Selbstbeziehung zuwenden, die insbesondere im Alkibiades I zur Darstellung gelangt. In diesem Dialog thematisiert Platon eine Selbstreflexion, die auf die seelische Instanz175 und deren Steuerungsleistungen sowie auf das den Leib und die seelischen Kräfte regierende Vernunftselbst bezogen ist. In der Untersuchung wird unter anderem zu erörtern sein, ob es einen Zusammenhang zwischen der Einsicht in das Nichtwissen und der Erkenntnis der Seele gibt. In die Analyse einbezogen werden die schon erwähnte Phaidros-Passage 229ef., die eine inhaltliche Nähe zum Alkibiades I aufweist, sowie der Dialog Charmides, in dem eine Selbsterkenntnis diskutiert wird, die mit der Einsicht in das Vernunftselbst aus dem Alkibiades I zunächst identisch zu scheint, sich jedoch bei genauerer Betrachtung als different erweist. Die Untersuchung wird auf eine Thematisierung der allgemeinen platonischen Psychologie, wie sie etwa im Phaidros, in der Politeia und im Timaios entwickelt wird, verzichten. Diese Beschränkung ist nicht zuletzt dem Thema der Arbeit geschuldet. Die vorliegende Studie beschäftigt sich primär mit der von Platon im Rahmen des Projekts einer rationalen Selbstformung konzipierten, individuell zu leistenden Selbsterkenntnis. Die platonische Theorie der Seele ist zwar mit diesem Thema eng verbunden, stellt jedoch einen ganz eigenen Untersuchungsgegenstand dar.

a)

Authentizität und Datierung des Alkibiades Maior

Die Authentizität des Alkibiades I ist in der Forschung nach wie vor umstritten.176 Die Debatte über die Echtheit des Dialogs ist im Kontext der neuzeitlichen 175 Der Begriff der Instanz bezeichnet im herkömmlichen Sprachgebrauch die Zuständigkeit einer Einrichtung oder eines Organs innerhalb des Verwaltungsbereichs und des öffentlichen Rechts. In dieser Bedeutung ist er zur Bezeichnung der Seele bei Platon geeignet, da diese im Alkibiades I primär funktional bestimmt wird: Die Seele ist zuständig für die Lenkung und Steuerung von Handlungsvollzügen, körperlichen Bewegungen und Besitzverhältnissen. 176 Zur aktuellen Diskussion vgl. Erler (2007a, 290f.), Söder (2009, 20), Döring (2016, 164–172). Erler (2007a, 291) beobachtet in der jüngeren Literatur eine Tendenz zur Annahme der Echtheit: »Ein Überblick über die Urteile zeigt ein eher ausgeglichenes Bild zwischen Befürwortern und Gegnern der Echtheit […], wobei sich in jüngerer Zeit Stimmen mehren, die mit Friedländer [….] wieder von einer Echtheit ausgehen«. So auch die Einschätzung von Söder. Nach Döring (2016, 166) halten sich »die Lager der Verfechter der Echtheit und der Verfechter der Unechtheit in etwa die Waage«.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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editorischen und philologischen Beschäftigung mit Platon ausgelöst worden. In der Antike und den nachfolgenden Jahrhunderten hat man Platon unangefochten als Verfasser des Textes angesehen. Der Dialog galt bekanntlich in der Spätantike als Einführungslektüre in das Studium der platonischen Schriften und wurde von den Neuplatonikern besonders geschätzt. Die Zweifel an der Echtheit sind erstmals von Schleiermacher (1809) vorgetragen worden, der im Rahmen seines für die moderne Platonforschung bedeutsamen Editionsprojekts kurze Einleitungen zu den platonischen Dialogen verfasst hat, in denen auch Echtheitsfragen diskutiert werden. Das Urteil über den Alkibiades I fällt einigermaßen vernichtend aus: »dieses kleine Werk [erscheint] uns ziemlich geringfügig und schlecht [ ], und zwar auf eine solche Weise daß wir es dem Platon nicht zuschreiben können« ([1809] 1996, 320). Schleiermachers Einwände gegen eine platonische Verfasserschaft beziehen sich zum einen auf dialoginterne Aspekte – auf stilistische Mängel und Kohärenzdefizite – und zum anderen auf den Mangel an Parallelstellen in den als echt geltenden Dialogen. Nachdem bereits Friedländer (1964 II, 214–226, 331–335; insbes. 332 Anm. 1) Schleiermachers Athetese angefochten und die Einwände zu entkräften versucht hat, sind in der jüngeren und jüngsten Forschung zahlreiche Argumente zugunsten der Echtheit vorgetragen worden.177 Die Frage ist jedoch nach wie vor offen. Zur Klärung seien hier noch einmal die wesentlichen Einwände und einige Gegenargumente angeführt.178 Die auf Schleiermacher zurückgehenden kritischen Einwände beziehen sich im Wesentlichen auf folgende Punkte. 1) Stilistische und sprachliche Bedenken: Dem Dialog wird ein schlechter, ausdrucksloser Stil bescheinigt, der als untypisch für Platon gilt. Zudem werden sprachliche Eigentümlichkeiten wie singuläre Wortverwendungen angeführt. So sei z. B. das Wort jq¶cuor in keiner anderen Schrift Platons nachweisbar. 2) Fehlende Parallelstellen: Die Kritiker der Echtheit wenden ein, dass sich hinsichtlich der zentralen Aussagen und Konzepte keine Parallelstellen in anderen platonischen Dialogen finden lassen. Noch stärker ist der in eine ähnliche Richtung gehende Einwand, dass die im Alkibiades I enthaltenen Sätze mit den in den kanonischen Dialogen entwickelten Ideen und theoretischen Ansätzen nur schwer oder gar nicht kompatibel sind. 3) Strukturelle Mängel: Kritisiert wird häufig auch die Dialogkomposition. Einige Forscher vermissen im Dialog einen systematischen Zusammenhang und sehen im Alkibiades I eine willkürliche Aneinanderreihung von einzelnen Ge177 Vgl. Allen (1962), Annas (1985) (2006, 41–44), Gloy (1986), Forde (1987), Pangle (1987), Ledger (1989), Goldin (1993), Giannantoni (1997, 363–73), Pradeau (1999), Johnson (1999), Scott (2000, 205–7), Denyer (2001), Gordon (2003), De Brasi (2008), Pietsch (2008), Jirsa (2009), Renaud (2011), Benitez (2012), Belfiore (2012), Döring (2016, 164–172). 178 Eine ausführliche Darstellung der Argumente für und gegen die Echtheit findet sich bei Denyer (2001, 14–26) und Johnson (1996, 64–83 u. 286–331). Vgl. auch Jirsa (2009).

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sprächsteilen. Diese Mängel werden im Hinblick auf die bei Platon ansonsten zu beobachtende Gestaltungskraft als Indiz für die Unechtheit angesehen. In der jüngeren Literatur sind als Argumente gegen die Echtheit einige weitere Unzulänglichkeiten hinzugefügt worden. Man hat auf den dogmatischen Charakter des Dialogs und die lineare Gesprächsführung verwiesen, desweiteren auf das für die frühen Dialoge eher untypische Lehrgespräch, auf die abstrakten Inhalte und auf die Spannung zwischen der Ähnlichkeit mit den Frühdialogen und dem im Vergleich zu diesen Dialogen ungewöhnlichen Gesprächsende des Alkibiades I.179 Gegen die letztgenannten Einwände hat Erler (2007a, 291) zu Recht angemerkt, dass »die Argumente bisweilen für sich genommen einen eher subjektiven Eindruck« erwecken und »sich hin und wieder auch anders bewerten« oder »für die entgegengesetzte Position anführen« lassen.180 In Bezug auf die erstgenannten Einwände lässt sich zunächst einmal das Argument anführen, dass nach dem ästhetisch-stilistischen Kriterium auch die Authentizität von anderen, dem anerkannten Kanon zugehörigen platonischen Dialogen bezweifelt werden müsste (so Annas 1985, 114).181 Ernster zu nehmen ist das Argument der fehlenden Parallelstellen in den als echt anerkannten Dialogen Platons.182 Würde es tatsächlich zutreffen, dass sich keine Parallelstellen in anderen platonischen Schriften auffinden lassen und die Aussagen im Alkibiades I sogar in Spannung zu den in den kanonischen Dialogen enthaltenen Auffassungen stehen, wäre dies ein gewichtiges Argument gegen die Echtheit des Dialogs. Angesichts der auffallenden Kongruenzen zwischen dem Alkibiades I und anderen Dialogen des frühen und mittleren Werks, insbesondere der Politeia183, die hinsichtlich der verwendeten metaphorischen Sprache und den inhaltlichen Aussagen eine große Nähe aufweist, sind jedoch erhebliche Zweifel an diesem Einwand angebracht. Die Kompatibilität mit anderen platonischen Dialogen wird in der folgenden Untersuchung im Detail aufzuzeigen sein. Vorab seien hier einige wichtige Übereinstimmungen und Verbindungslinien skizziert. 1) Das im Alkibiades I zentrale Motiv der Selbstsorge (2pil´keia 2autoO), das den gesamten zweiten Teil des Dialogs bestimmt, wird in der Apologie (29d– 30b, 36c) eingehend thematisiert und lässt sich von den frühen Dialogen bis ins Spätwerk hinein verfolgen (Lach. 201b; Gorg. 501bff.; symp. 216a; Phaid. 64d/e, 179 Zu den Einwänden, die sich auf die für Platon untypische Darstellung des sokratischen Daimonions und der Alkibiades-Figur im Alkibiades I beziehen, vgl. Döring (2016, 167– 169). 180 Erler (2007a, 291) bleibt jedoch zuletzt eher skeptisch: »Doch bleiben vor allem sprachliche Bedenken, weshalb der Alkibiades I auch hier unter die Dubia aufgenommen ist«. 181 Zur Auseinandersetzung mit den sprachlich-stilistischen Einwänden vgl. Döring (2016, 169–171). 182 Dieses Argument ist zuletzt von Smith (2004) gegen die Echtheit angeführt worden. Vgl. die Einwände gegen Smith von Jirsa (2009). 183 So auch Pietsch (2008, 343 u. 355) und Benitez (2012).

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82d, 107c/d; polit. 274d; leg. 726a–728d, 807c/d).184 2) Die in der identitätstheoretischen Untersuchung des Alkibiades I vorgenommene Identifizierung von Selbst (t¹ aqt¹) und Seele (xuw¶) bezeichnet eine Annahme, die bereits der Apologie zugrunde liegt185 und durch die Verwendung des Begriffs der Selbstsorge im Sinn einer Bemühung um die beste Verfassung der Seele auch in anderen Dialogen indirekt thematisiert wird (Lach. 201b4f.; symp. 216a5f.). Die Identität von Selbst und Seele wird zudem durch die Reinterpretation des delphischen cm_hi sautºm als Erkenntnis der Natur der Seele bzw. der Verfassung der Seele in Phaidr. 229dff. und Phil. 48cff. nahegelegt. 3) Die im Augengleichnis (Alk. 133b/c) angedeutete Bestimmung der Vernunftseele als Selbst im engeren Sinn findet sich in ähnlicher Weise in rep. 589a8f. Im Rahmen der dort vorgenommenen bildlichen Umschreibung der Seele als ein aus verschiedenen Kräften zusammengewachsenes Wesen wird die Vernunftseele als ›innerer Mensch‹ (b 1mt¹r %mhqypor)186 des Menschen bezeichnet. 4) Die individuell zu leistende Reflexion auf das Vernunftselbst, die im Augengleichnis thematisiert wird, lässt sich zum einen mit der Selbsterkenntnis in Phaidr. 229dff. und zum anderen mit der Glaukos-Metapher in rep. 611bff. parallelisieren. Im Rahmen einer Thematisierung der Erkenntnis der Natur der Seele wird dort vom ›Blick auf den weisheitsliebenden, denkenden Teil‹ (eQr tµm vikosov¸am aqt/r) der Seele gesprochen (611d7–e3), der inhaltlich mit dem ›Blick auf den edelsten und göttlichsten Teil‹ der Seele in Alk. 133b/c kongruiert. 5) Durch die Erläuterung der Möglichkeit der Selbsterkenntnis am Beispiel der visuellen Selbstwahrnehmung im Auge des Anderen wird im Alkibiades I zudem eine Sehensmetaphorik entwickelt, die in der Politeia zur Beschreibung von epistemischen Akten und Bildungsprozessen vielfach aufgegriffen und verwendet wird. Die in der Politeia gebrauchte Metapher vom ›Auge der Seele‹ (ella t/r xuw/r rep. 533d2) ist in der im Augengleichnis entwickelten Analogie von sinnlicher Pupille und Erkenntnisorgan (Alk. I 133b) gleichsam präformiert. 6) Die ganze Passage Alk. I 132d1–133c16 (incl. das dem Augengleichnis nachfolgende Spiegelgleichnis187) weist hinsichtlich der gebrauchten Metaphorik und der Argumentationsstruk184 In den späteren Dialogen wird unter Voraussetzung der Identität von Selbst (t¹ aqt¹) und Seele (xuw¶) vorrangig der Begriff der Sorge um die Seele (2pil´keia t/r xuw/r) verwendet. 185 Auf die Identifizierung von Selbst und Seele weist die synonyme Verwendung von ›Sorge um die Seele‹ (1pil´keia t/r xuw/r) und ›Selbstsorge‹ (1pil´keia 2autoO) hin (apol. 29e1–2; 36c6). Die Gleichsetzung von Selbst und Seele spricht Döring (2001, 678) dem historischen Sokrates zu. Zur Identifizierung von Selbst und Seele als eine auf den historischen Sokrates zurückgehende Vorstellung vgl. auch Wildberg (2007, 236). 186 Die Ausdrücke %mhqypor und aqtº werden im Alkibiades I synonym verwendet. Vgl. Alk. 129c3 u. 130e6f. Beide Ausdrücke werden im Dialog zur Bezeichnung der Person gebraucht, die Handlungen steuert und koordiniert. 187 Zur Echtheit der vielfach als neuplatonische oder christliche Interpolation betrachteten Passage 133c8–16 vgl. unten Kap. Teil B II 3a.

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Selbsterkenntnis bei Platon

tur große Übereinstimmungen mit der Aufstiegsdarstellung in der Gleichnisserie der Politeia auf. Auf den engen sachlichen Zusammenhang und die inhaltliche Nähe zwischen der Alkibiades-Passage und den Aufstiegsdarstellungen in rep. 517a8–c5 und Phaidr. 247c3 hat vor einigen Jahren bereits Pietsch (2008, 355) hingewiesen. Angesichts der angedeuteten sachlichen und sprachlichen Kongruenzen zwischen dem Alkibiades I und der Politeia spricht viel für die bisherigen Resultate der stylometrischen Untersuchungen188, nach denen der Alkibiades I eher zu den mittleren Dialogen zu zählen ist.189 Zu ähnlichen Ergebnissen ist jüngst Benitez (2012, 130) gelangt, der große Übereinstimmungen zwischen der Tugendkonzeption des Alkibiades I und der Politeia nachgewiesen hat und den Dialog zwischen den sokratischen Dialogen des Frühwerks und den mittleren Dialogen ansiedelt. Bezüglich des dritten, oben genannten Einwandes gegen die Echtheit des Dialogs, der kompositorische Mängel und strukturelle Defizite geltend macht, ist anzumerken, dass es inzwischen sehr ernst zu nehmende Versuche gibt, die verschiedenen Dialogteile über ein Leitthema miteinander zu verknüpfen und die systematische Einheit des Dialogs aufzuzeigen (vgl. z. B. Annas 1985, 111– 138; Pietsch 2008; Karl 2010, 88–104, 143–164).190 Es ist schon häufig festgestellt worden, dass der Alkibiades I aus einem methodisch an die frühen Dialoge anknüpfenden elenktischen Teil und einem protreptisch-paränetischen Teil besteht, der den Charakter eines Lehrgesprächs besitzt.191 In der folgenden Untersuchung wird für die These argumentiert, dass die beiden Teile durch das Motiv der Selbstsorge verbunden sind. Der Elenchos mündet in Alkibiades’ Eingeständnis der eigenen Defizite und in Sokrates’ Aufforderung zur Selbstsorge (127d/e), die – vermittelt über die Frage nach dem richtigen Um-sichSorgen (127e8–128a3) – das protreptische Gespräch einleitet, das wesentlich durch die Erörterung des Gegenstandes der Sorge bestimmt wird. Der Dialog endet mit dem Verweis auf die Wissensprüfung als Modus der Selbstsorge (135c/ d) und nimmt damit das elenktische Motiv des Anfangs wieder auf. Bezüglich einer Entscheidung über die Echtheit des Dialogs wird man abwarten müssen, zu welchen weiteren Resultaten die stylometrischen und sprachstatistischen Untersuchungen gelangen. Hinsichtlich der inhaltlichen und kompositorischen Kriterien gibt es jedoch meines Erachtens keinen triftigen Grund, dem Dialog die Echtheit abzusprechen.192 188 189 190 191

Vgl. Ledger (1989, 144) und Nails (1994, 62–67). Zur Diskussion der Datierung vgl. De Brasi (2008). Vgl. bereits Friedländer (1964, II, 214–226). Viele Autoren sehen hier eine Mischung aus Themen und Gesprächsformen der frühen und der mittleren Dialoge. Renaud (2011, 208) spricht vom »›hybrid‹ character of this dialogue«. 192 Vgl. Belfiore (2012, 31): »that there are no sound reasons, internal or external for suspecting

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b)

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des seelischen Selbst (Alk. I 127e–132b)

aa)

Identifizierung von Selbst und Seele

Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sind die identitätstheoretischen Passagen im zweiten Dialogteil (127e–133c) des Alkibiades I von besonderem Interesse. In einem längeren Argumentationsgang wird dort zunächst die Verbindung von personalem Selbst und seelischer Instanz erörtert (129b–131c) und im Anschluss daran eine Selbsterkenntnis konzipiert, die in der sozialen Interaktion zu gewinnen ist und auf die Einsicht in die Vernunft als steuernde, lenkende Kraft der Seele zielt. Da sich diese Untersuchung in ihrer Bedeutung und Intention nur dann angemessen verstehen lässt, wenn der Kontext beachtet wird, sei zunächst der Gedankengang des Dialogs kurz skizziert. Der junge Alkibiades, der in der Unterredung als Gesprächspartner fungiert, wird zu Beginn des Dialogs (104a–105e) als ambitionierter, ehrgeiziger Aristokrat beschrieben, der aufgrund seiner Herkunft, seiner Begabungen und seiner Physis von hohem Selbstgefühl getragen ist. Als Persönlichkeitsmerkmal stellt Platon in dieser Charakterisierung insbesondere den starken, machtorientierten Eros heraus. Alkibiades besitzt den brennenden Wunsch, eine Führungsposition in der Polis zu erlangen und langfristig überstaatliche Macht zu gewinnen. In einem prüfenden Gespräch zeigt Sokrates dem jungen Mann auf, dass ihm die wichtigste Voraussetzung für eine politische Karriere mangelt: Ihm fehlt die Erkenntnis und Ausbildung jener Tugend, die die notwendige Grundlage einer politischen Tätigkeit bildet und einen exzellenten Staatsmann auszeichnet – die Gerechtigkeit. Nach Alkibiades’ Bestreitung der Notwendigkeit eines Erwerbs von entsprechenden Kenntnissen (119b/c) und einer erneuten dialektischen Prüfung (124eff.) gesteht der junge Mann schließlich seinen defizitären Zustand ein und bekundet seine Bereitschaft zur Bildung (127d). Sokrates nimmt dieses Eingeständnis zum Anlass, Alkibiades nachdrücklich zur Selbstsorge aufzufordern: »Du mußt nur guten Mutes sein. Denn hättest du, daß es so mit dir steht, im fünfzigsten Jahre gemerkt, so wäre es dir wohl schwer geworden, noch Sorgfalt auf dich zu wenden (wakep¹m #m Gm soi 1pilekgh/mai sautoO); so aber ist dein Alter eben das rechte, worin man es innewerden muß« (127d9–e2). Diese Aufforderung leitet zu einem protreptisch-paränetischen Lehrgespräch über, das den ganzen zweiten Teil des Dialogs bestimmt und von der Intention getragen ist, Alkibiades zur intellektuellen Aktivität anzuregen und der gewonnenen Einsicht auf diese Weise Verbindlichkeit zu verleihen. this dialogue«. Döring (2016, 172) gelangt zu folgendem Urteil: »Die Beweislast liegt nicht auf der Seite derer, die den Dialog für echt halten, sondern auf der Seite derer, die ihn für unecht halten. Solange sie den Beweis nicht in einer allgemein anerkannten Form erbracht haben, muss der Dialog als echt gelten.«

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Selbsterkenntnis bei Platon

Das dem dialektischen Prüfungsteil folgende paränetische Gespräch wird im Wesentlichen von der Frage geleitet, was zu leisten ist, um die erkannten Defizite zu beheben. Worin besteht die notwendige Selbstsorge, was ist das Sorgen um sich selbst (t¸ 1stim t¹ 2autoO 1pileke?shai 127e8)? Zur Klärung dieser Frage wird zunächst erörtert, auf welchen Objektbereich sich die 1pil´keia 2autoO bezieht, was das Selbst (t¹ aqtº) ist (»was für eine Kunst einen selbst besser macht, könnten wir das wohl einsehen, wenn wir nicht wüßten, was wir selbst sind [üq( %m pote cmo?lem !cmooOmter t¸ pot( 1sl³m aqto¸]?« 128e10–11). Die nun folgende Bestimmung des Selbst erfolgt auf dem Weg einer Differenzierung von verschiedenen Identitätsbereichen. In Alk. I 129b–131c trifft Sokrates die Unterscheidung zwischen den äußeren Besitztümern – wie Produktionsmittel, Werkzeuge, Kapital und alle Arten von verfügbaren Gütern – als das des Seinen (t± t_m 2autoO), dem eigenen Leib als dem Seinigen (t± artoO) und der Seele (xuw¶)193 als dem Selbst (t¹ aqtº).194 Das zentrale Argument an dieser Stelle bezieht sich auf die Differenz zwischen einem aktiv Gebrauchenden und einem instrumentell verstandenen Gebrauchten.195 Der Argumentationsgang verläuft in folgenden Schritten. Zunächst wird mit Hilfe von Beispielen die Verschiedenheit der agierenden Person von den in besonderen Tätigkeitsfeldern zum Einsatz kommenden Instrumenten, Medien, Werkzeugen thematisiert. Sokrates bedient sich zu diesem Zweck der aktuell realisierten Sprechhandlung und verweist auf den Gebrauch der Sprache durch die sprechende Person: Mit wem redest du jetzt? Nicht wahr, doch mit mir? […] Sokrates also ist der Redende (b diakecºlemor)? Und Alkibiades der Hörende? Und nicht wahr, mit der Sprache redet Sokrates? […] Und reden (t¹ diak´ceshai) und die Sprache gebrauchen (t¹ kºc\ wq/shai) nennst du doch einerlei? […] Der Gebrauchende aber und was er gebraucht, sind die nicht verschieden? (j d³ wq¾lemor ja· è wq/tai oqj %kko;) ( Alk. I 129b/c)196

Die Argumentation an dieser Stelle lässt sich zu folgender Aussage verdichten: Sprechakte verweisen auf eine Person, die diese Handlungen vollzieht, die sich in verbaler Form gegenüber einer anderen Person äußert und die Sprache interaktiv zur Verständigung über Sachverhalte gebraucht. Das Gebrauchsargument impliziert, dass Personen durch eine aktive, tätige Dynamis ausgezeichnet sind und über Kompetenzen der Zwecksetzung und Sinngebung verfügen, die keine 193 Zum Begriff der xuw¶ bei Platon vgl. Steiner (1992), Schmitt (1990) (2000), Brinker (2007, 253–258) (2008), Erler (2007a, 375–390), Annas (2003, 65–76) (2009, 20–27), Szlez#k (2010), Migliori (2011). 194 Die Unterscheidung der drei Identitätssphären findet sich sowohl in den frühen als auch in den späteren Dialogen. Vgl. z. B. Men. 87d–89a; Gorg. 477b–d; Phil. 48e; leg. 697b. 195 Zur Differenzierung zwischen einem aktiven und einem passiven Prinzip vgl. Euthyphr. 10a u. Gorg. 476bff. 196 Vgl. auch Alk. I 130e u. 131c.

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intrinsischen Elemente der Sprache bezeichnen. Zwischen Sprache und sprechender Person besteht somit kein Identitätsverhältnis. Die Differenz zwischen gebrauchender Person und Gebrauchtem wird im Folgenden an Beispielen aus dem technischen Bereich nochmals erläutert: Der Schuster arbeitet bei der Anfertigung und Reparatur der Schuhe mit seinen Werkzeugen und ist als gebrauchender Handwerker vom verwendeten Schneidemesser zu unterscheiden: »Nun ist doch wohl der Schneidende und Gebrauchende etwas anderes (%kko) und etwas anderes das, was der Schneidende gebraucht« (129c10f.). In ähnlicher Weise ist auch die Kithara spielende Person, der Kitharist (aqt¹r b jihaqistµr 129c14), zwar mit dem Instrument in besonderer Weise vertraut und verbunden, aber nicht identisch mit ihm. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass in der Argumentation in unzulässiger Weise verschiedene Modi des Gebrauchs identifiziert werden und sich der Gebrauch der Sprache vom Einsatz eines Schneidemessers oder Spielen eines Musikinstrumentes doch erheblich unterscheidet.197 Das ist gewiss richtig. Es geht Platon hier jedoch nicht darum, eine differenzierte Theorie des Umgangs mit Technik und Medien zu entwickeln, sondern an verschiedenen Beispielen die mit Zwecksetzung, Planung und Intentionalität verbundene personale Dimension des Handelns herauszuheben. In 129d1f. wird die am kommunikativen und technisch-künstlerischen Bereich anschaulich gemachte Differenzthese in generalisierter Form festgehalten: »Dies nun fragte ich eben, ob der Gebrauchende und das, was er gebraucht, wohl immer scheinen verschieden zu sein?« (eQ b wq¾lemor ja· è wq/tai !e· doje? 6teqom eWmai). Diese Aussage scheint zunächst auf eine strikte Grenzziehung hinzudeuten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hier keineswegs die Relevanz der Gebrauchsgüter für den Selbstbegriff und die Identitätsbildung bestritten wird. Es ist das ›des Seinigen‹ (t± t_m 2autoO), das zur Lebenserhaltung und Daseinsgestaltung Notwendige, so heißt es in Alk. I 131a–c und 133e1, bildet also einen bestimmten Bereich der Identität. Aber – das ist der entscheidende Gedanke, die Person selbst ist nicht identisch mit den ihr zur Verfügung stehenden Werkzeugen, Instrumenten, Techniken, Naturgegenständen und Besitztümern aller Art. Sie geht nicht differenzlos auf in dem, was sie besitzt und in verschiedenen Tätigkeitsfeldern gebraucht. In der folgenden Erörterung wird das Gebrauchsargument auf die leiblichen Organe – Gliedmaßen und Sinnesorgane – ausgedehnt und schließlich auf den Leib im Ganzen bezogen. Der Schuster gebraucht bei der Verrichtung seiner Tätigkeit nicht nur seine Werkzeuge, sondern auch seine Hände und Augen (129d). Unter Anwendung des zuvor entwickelten Arguments, dass der Gebrauchende und das Gebrauchte verschieden sind, wird in 129d13f. die Folge197 Vgl. die Einwände von v. Kutschera (2002, Bd. 3, 259).

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Selbsterkenntnis bei Platon

rung gezogen, dass sich die technisch agierende Person von den im Tätigkeitsprozess gebrauchten Gliedmaßen und Organen unterscheidet. Da der Mensch nicht nur einzelne Organe und Gliedmaßen, sondern seinen ganzen Leib gebraucht, wenn er sich in Bewegung setzt oder eine mit Bewegung verbundene Tätigkeit verrichtet, kann die Differenzthese auch auf die Relation zwischen personaler Instanz und Körperlichkeit im Ganzen bezogen werden: »Verschieden also ist auch der Mensch von seinem eigenen Leibe?« (GEteqom %qa ûmhqypºr 1sti toO s¾lator toO 2autoO; 129e7f.). Analog zur technischen Sphäre ist auch hier anzumerken, dass mit dieser Konklusion keine Ausgrenzung der Physis verbunden ist. Die Physis bildet nach der im Alkibiades I entwickelten Theorie einen ganz eigenen Identitätsbereich und gehört in einem viel engeren Sinn zur Person als der äußere Gegenstandsbereich. Dieses intimere Verhältnis wird durch die den Selbstbezug andeutende Umschreibung der Physis als ›das Seinige‹ (t± 2autoO) (Alk. I 131a2f., 131b10) angezeigt. Aber – und das ist auch hier wieder der zentrale Gedanke – die Person geht nicht in der physischen Dimension des Daseins auf. Sie kann in bestimmter Weise mit dem Leib umgehen, sich von körperlichen Phänomenen in einem gewissen Grad distanzieren und den Körper durch Zielbestimmungen, Handlungszwecke und Absichten in Bewegung setzen. Man könnte hier den Einwand erheben, dass in der Argumentation die bewusste Personalität thematisch bevorzugt und eine Eindimensionalität der LeibPerson-Beziehung unterstellt wird, die der Komplexität und Korrelation zwischen körperlicher Sphäre und bewusstem Selbst nicht gerecht wird. Dagegen ist jedoch zu sagen, dass an dieser Stelle keine umfassende Theorie des Leib-Person-Verhältnisses intendiert ist. Hier geht es im Kontext der Suche nach dem primären Gegenstand der Selbstsorge um den Verweis auf eine planende, überlegende, richtunggebende Instanz im Menschen, die mit dem Körper in bestimmter Weise umzugehen vermag und insofern als etwas durch eigene Gesetzlichkeiten Bestimmtes begriffen werden kann. Nach dieser Gedankenentwicklung setzt Sokrates mit der Frage »Was ist also der Mensch?« (T¸ pot( owm b %mhqypor; 129e10) zum letzten Argumentationsschritt an. Der zuvor entwickelte Gedanke, dass der Mensch das den Leib Gebrauchende ist, wird noch einmal rekapituliert und im Anschluss daran spezifiziert: »Gebraucht den [sc. den Leib] nun wohl etwas anderes als die Seele?« (8 G owm %kko ti wq/tai aqt` C xuw¶; 130a1). Der Begriff der Seele (xuw¶) wird hier relativ unvermittelt eingeführt und als geläufig unterstellt. Das ist als Hinweis darauf anzusehen, dass mit dem Ausdruck xuw¶ an dieser Stelle in Anknüpfung an die herkömmliche Vorstellung198 zunächst nicht mehr als die Gesamtheit von bewusster kognitiver Aktivität und volitiven sowie affektiven Kräften gemeint 198 Zur Seelenvorstellung vor Platon vgl. Claus (1981) und Bremmer (1983 und 2010).

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ist. Durch die nachfolgende Erläuterung der Bedeutung von ›Gebrauch‹ (wqe¸a, t¹ wq/shai) wird der Seelenbegriff jedoch in bestimmter Hinsicht präzisiert. In Alk. 130a3 formuliert Sokrates den Gedanken, dass die Seele den Leib gebraucht, indem sie ihn regiert (OqjoOm %qwousa; 130a3). Die Seele ist also das den Leib Regierende (t¹ toO s¾lator %qwom 130a11f.). Damit wird die Seele in ihrer Funktion als regierende, steuernde Instanz bestimmt. Dieser funktionale Seelenbegriff leitet die ganze nachfolgende Argumentation und ist für das Verständnis der an späterer Stelle entwickelten Konzeption der Selbsterkenntnis von entscheidender Bedeutung. Aus der Annahme, dass der Mensch das den Leib Gebrauchende ist, und der Bestimmung der Seele als das den Leib Regierende wird in Alk. I 130c3 der Schluss gezogen, dass der Mensch mit der Seele identisch ist (»so kann nichts anderes der Mensch sein als die Seele« lgd³m %kko t¹m %mhqypom sulba¸meim C xuw¶m 130c3). Der Ausdruck %mhqypor wird an dieser Stelle im Sinn des personalen Selbst gebraucht. Darauf weisen die Identifizierung von xuw¶ und aqtº in der nachfolgenden Passage hin (130d3–7, 130e6f.) und die in Anknüpfung an 129b vorgenommene Veranschaulichung des Untersuchungsresultats an dem aktuell realisierten Sprechakt: »Es wird also ganz recht sein, so festzustellen, daß wir, ich und du, zueinander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele. […] Und dies war es also, was wir kurz vorher sagten, daß Sokrates mit dem Alkibiades redend der Sprache sich bedient, nicht an dein Gesicht seine Reden richtend, wie es scheint, sondern an den Alkibiades; dieser ist aber die Seele« (130d9–e4). Im Folgenden sollen einige Aspekte herausgehoben werden, die für das Verständnis der platonischen Konzeption des personalen Selbst von Bedeutung sind. Die Argumentation an dieser Stelle lässt zum einen erkennen, dass sich die platonische Identitätsauffassung an Organisationsstrukturen und hierarchischen Ordnungsmomenten orientiert. Die ganze Untersuchung basiert auf der Annahme, dass es Identitätsbereiche gibt – wie die leibliche Sphäre mit den Wahrnehmungsorganen, Gliedmaßen und dem Leib im Ganzen sowie den Bereich der Artefakte, Werkzeuge, Naturgegenstände, Lebensgüter –, die eine instrumentelle, dienende Funktion besitzen und der Nutzung bedürfen, und dass es auf der anderen Seite eine Instanz gibt, die über die Fähigkeit des Gebrauchens und Anwendens verfügt und damit eine herrschende Funktion ausübt. Zum anderen aber wird deutlich, dass die platonische Konzeption des personalen Selbst an Tätigkeitsmomenten und Funktionsmerkmalen199 orientiert ist. Personalität, Selbst-Sein bestimmt sich der hier entwickelten Auffassung zufolge wesentlich durch Aktivität, Tätigkeit, Bewegt-Sein und In-BewegungSetzen. Damit eng verbunden ist das funktionale Moment der Regierung, 199 Vgl. Remes (2013, 273 und 282ff.).

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Selbsterkenntnis bei Platon

Steuerung, Lenkung200, das die Kompetenz der vernünftigen Zwecksetzung und Sinngebung impliziert. Als Steuerungszentrum und koordinierende Instanz ist die Seele in einem viel essenzielleren Sinn mit dem Personsein verbunden als die anderen Persönlichkeitssphären. Zwar verfügt der Leib über eigene Organisationssysteme zur Aufrechterhaltung seiner Funktionen – wie z. B. das Verdauungs- oder das Kreislaufsystem –, er kann sich jedoch weder selbst in Bewegung setzen201 noch sich selbst einen Sinn geben. Der Leib vermag keine Regierung über sich auszuüben, wie Sokrates in 130b2 deutlich macht, sondern bedarf der Seele, die in Selbsttätigkeit Zwecke setzt und verfolgt und dem Leib zudem die notwendige Pflege, Bewegung, Nahrung, Kleidung zuteil werden lässt. Die in Alk. I 129d–130b thematisierte Herrschaft der Seele über den Leib ist keineswegs im Sinn einer leibfeindlichen Repression und Unterwerfung zu verstehen, wie in der Forschung zuweilen angenommen wird.202 Hier ist von einer regierenden Instanz die Rede – t¹ %qwom (130a11). Das %qweim aber ist bei Platon, wie man an der Darstellung der Vernunftregierung in rep. 443d/e, 589a/b und Phaidr. 253c–256a sehr gut sehen kann, mit Philia, Kooperation, Verständigung und Dialog verknüpft. Die gemeinte Regierung der Seele über den Leib ist ein freundschaftlicher, verantwortungsvoller Umgang mit der Physis, der die Körperlichkeit zu ihrer spezifischen Bestimmung führt. Durch den Gebrauch der physischen Organe und des Leibes im Ganzen zu vernünftigen Zwecken erhält die Physis einen Sinn und gelangt damit zur Erfüllung ihrer besonderen instrumentellen Funktion. Die von Platon vorgenommene Differenzierung zwischen einer gebrauchenden Instanz und dem Gebrauchten (129c5) impliziert ein Freiheitsmoment, das hier kurz angedeutet werden soll, ohne es an dieser Stelle ausloten zu können. Durch die Bestimmung des Menschen als Wesen, das Technik, Natur und leibliche Organe in Gebrauch zu nehmen versteht (b wq¾lemor), wird die Freiheits- und Verantwortungsdimension des menschlichen Daseins angesprochen. Der Mensch besitzt die Möglichkeit und die Fähigkeit, sich aus der Unmittelbarkeit und Undifferenziertheit des Lebenszusammenhangs zu lösen und sich zu den Dingen zu verhalten. Er kann sich sowohl von der Physis als auch von äußeren Gegenständen und Situationslagen geistig distanzieren und im 200 Hier zeigt sich wiederum die enge Verbindung zur Politeia, wo die Seele ebenfalls über die Lenkungs- und Steuerungsfunktion bestimmt wird. So bereits in rep. I 353d: »Hat auch die Seele ihr Geschäft, was du mit gar keinem anderen Dinge verrichten könntest? Wie eben dergleichen: besorgen, beherrschen, beraten (t¹ 1pileke?shai ja· %qweim ja· ßouke¼eshai) und alles dieser Art, könnten wir dies mit Recht irgend etwas anderem zuschreiben als der Seele und behaupten, daß es jenem eigentümlich (Udior) sei?« Das im Alkibiades I betonte %qweim wird somit auch hier als spezifische Funktion der Seele bestimmt. Vgl. auch rep. 441e4, 443d5. Zu den Funktionen der Seele vgl. auch leg. 897a1. 201 Vgl. Phaid. 98c–99b. 202 Vgl. z. B. Böhme (1994, 165–168).

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Bewusstsein seiner Gestaltungsfreiheit seinen Leib sowie die Naturgegenstände und Artefakte einsetzen, um etwas zu produzieren, hervorzubringen und selbstgewählte Zwecke zu erreichen. Im Umgang mit den Dingen und im Gebrauch der Dinge konstituiert sich erst ein eigenständiges Selbst, wird aus dem Lebewesen, das durch physische Triebkräfte und Affekte bestimmt ist, eine Person. Das in dem Gebrauchsargument enthaltene Freiheitsmotiv ist die entscheidende Voraussetzung für die Realisierung von Persönlichkeitsbildung und Selbstsorge. Ohne die Möglichkeit, zu den eigenen Kräften – nicht nur den physischen, sondern auch den seelischen Vermögen – in ein Verhältnis zu treten und zwischen verschiedenen Modi des Umgangs zu wählen203, könnte der Mensch nicht gestaltend und ordnend in das seelische Kräftespiel eingreifen. Führt man sich diese Implikationen der Argumentation vor Augen, so wird deutlich, dass die Bewusstmachung der seelischen Instanz als das Selbst des Menschen nicht nur eine Vergegenwärtigung des primären Gegenstands der Sorge ist, sondern zugleich die Einsicht in deren Möglichkeit.

bb)

Folgerungen für die Sorge um sich selbst

Mit der Identifizierung von Selbst und Seele ist eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage (127e8) gegeben. Wenn die Seele als das Selbst des Menschen anzusehen ist, so bezieht sich die notwendige Selbstsorge primär auf den seelischen Bereich.204 Die Bemühung um die Bildung und Ordnung der psychischen Kräfte, um die beste Verfassung der Seele hat Vorrang gegenüber der Sorge um den Leib, um den Besitzstand und die mit dem sozialen Status einer Person verbundenen Güter – Reputation, Image, Anerkennung, Einfluss etc. Diese Auffassung wird in ähnlicher Weise in der Apologie formuliert. Platon lässt Sokrates dort die Aussage treffen, dass er sich darum bemüht habe, jeden Polisbürger dazu zu bewegen, »daß er weder für irgend etwas von dem Seinigen eher sorge, bis er für sich selbst gesorgt habe, wie er immer besser und vernünftiger womöglich werde« (1piweiq_m 6jastom rl_m pe¸heim lµ pqºteqom l¶te t_m 2autoO lgdem¹r 1pileke?shai pq·m 2autoO 1pilekghe¸g fpyr ¢r b´ktistor ja· vqomil¾tator 5soito apol. 36c5–7).205 In apol. 29e1f. wird diese Sorge um den 203 Vgl. rep. 428d. Dort wird die Weisheit (sov¸a) als Erkenntnis dessen bestimmt, auf welche Weise man am besten mit sich selbst und mit anderen umgeht. 204 Sorge um sich selbst (2pil´keia 2autoO) ist also Sorge um die Seele (2pil´keia t/r xuw/r). Das Motiv der Selbstsorge bzw. Sorge für die Seele durchzieht das ganze platonische Werk. Vgl. apol. 29d–30b, 36c; Lach. 201b; Gorg. 501bff.; symp. 216a; Phaid. 64d/e, 82d, 107c/d; polit. 274d; leg. 726a–728d, 807c/d. Zum Begriff der Selbstsorge bei Platon vgl. Schmid (1995, 528f.). 205 Vgl. auch apol. 29d–30b u. symp. 216a.

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besten Zustand explizit als Sorge um die Seele bestimmt: »und für deine Seele, daß sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken« (ja· t/r xuw/r fpyr ¢r bekt¸stg 5stai oqj 1pilek0 oqd³ vqomt¸feir). Da das Besserwerden an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis thematisiert wird (vgl. apol. 29d/e), liegt die Annahme nahe, dass die gemeinte Selbstsorge bei der Reflexion und prüfenden Betrachtung des Zustands der seelischen Kräfte ansetzt. Die richtig verstandene Sorge um sich selbst, so die in der Apologie artikulierte Auffassung, besteht in der kritischen Selbsterforschung und der Bildung der Seele zur Trefflichkeit und Bestheit (vgl. apol. 29e1). Diese Konzeption von Selbstsorge, die allem Anschein nach auch dem Alkibiades I zugrunde liegt, gewinnt durch die Kontrastierung mit der herkömmlichen Auffassung, die Platon am Beispiel des jungen Aristokraten anschaulich darstellt, an Deutlichkeit und Kontur. Wie bereits erwähnt, wird Alkibiades zu Beginn des Dialogs als ehrgeiziger junger Mann charakterisiert, der nichts sehnlicher wünscht als politischen Einfluss zu gewinnen und eine entsprechende Karriere zu machen. Nach dem Selbstverständnis des jungen Aristokraten ist die Bemühung um die Übernahme von Ämtern und Staatsgeschäften eine realisierte Sorge um sich selbst. Dem von Sokrates entwickelten Selbstbegriff zufolge ist diese Art von politischer Ehrgeiz jedoch eine verfehlte Selbstsorge, weil sie auf falschen Identifikationsmustern beruht und das ›zu einem Gehörige‹ (t± t_m 2autoO), nämlich den guten Ruf, die gesellschaftliche Anerkennung, politische Macht etc. irrtümlicherweise für das Selbst (t¹ aqtº) hält. Auf diesen Irrtum spielt Sokrates im Verlauf des Gesprächs wiederholt an: Alkibiades glaubt zwar, für sich selbst zu sorgen, sorgt jedoch in Wahrheit für etwas anderes als für sich selbst (Alk. 128a1–3 u.132b7–9). Die möglichen falschen Formen der Selbstsorge werden indirekt auch in Alk. I 131b/132c thematisiert, wo praktische Folgerungen aus dem zuvor entwickelten Selbstbegriff gezogen werden und resümierend festgehalten wird: »wer den Leib (s_la) besorgt, der besorgt auch nur das Seinige (t± 2autoO) und nicht sich selbst (!kk( oqw art¹m heqape¼ei). […] Wer aber nur das Geld (t± wq¶lata), der besorgt weder sich selbst noch das Seinige, sondern Entfernteres noch als das Seinige«. Diese Aussagen erwecken zunächst den Eindruck eines von allen weltlichen Dingen enthobenen asketischen Lebensentwurfs. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hier keineswegs die Forderung erhoben wird, auf die Sorge um Leib und Besitz zu verzichten oder diese völlig zurückzustellen. Es wird lediglich die Aussage getroffen, dass diese Art von Sorge nur die äußeren Identitätsbereiche betrifft und noch keine Förderung und Entwicklung des Selbst im engeren Sinn darstellt. Darüber hinaus wird an der Stelle implizit ausgesagt, dass die ausschließliche Bemühung um körperliches Wohlergehen

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und Besitz, die mit einer Vernachlässigung der Seelenbildung einhergeht, eine Scheinidentität schafft, die stets fragil, problematisch und anfällig bleibt. Es wird jedoch an keiner Stelle angedeutet, dass für die Seelenbildung ein völliges Absehen vom Güterstreben erforderlich ist. Platon scheint es eher um eine richtige Gewichtung der verschiedenen Formen der Sorge zu gehen.206 Der Seele gebührt als lenkender, regierender Instanz die primäre Aufmerksamkeit und Zuwendung.207 Wird dies im Erkenntnisprozess eingesehen und im Lebensvollzug realisiert, so stellt sich eine Ordnung her, die allen anderen Bestrebungen den ihnen gebührenden Rang zuweist und ihnen damit zugleich ein Maß setzt. Die von Platon im Zusammenhang mit den Prozessen der Selbstbildung und Persönlichkeitsformung häufig betonte Mäßigung und Ordnung der Kräfte ist, so deutet sich hier an, mit der Hinwendung zur Sorge um die Seele in anfänglicher Weise bereits erreicht. Die im Alkibiades I angedeutete Differenzierung zwischen einer falschen und einer richtigen bzw. einer primären und einer nachgeordneten Selbstsorge findet sich in ähnlicher Form in der Apologie. Im Rahmen der Darstellung seiner philosophischen Tätigkeit berichtet Sokrates dort über die protreptischen Logoi, die er an seine Mitbürger gerichtet hat: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld (wq¶lata) zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm (dºna) und Ehre (til¶), für Einsicht (vqºmgsir) aber und Wahrheit (!k¶heia) und für deine Seele (xuw¶), daß sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken? […] Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber : so werde ich es ihm verweisen, daß er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher (fti t± pke¸stou %nia peq· 1kaw¸stou poie?tai, t± d³ vaukºteqa peq· pke¸omor). (apol. 29d–30a)

Die Stelle lässt noch deutlicher als der Alkibiades I erkennen, dass Platon im Rahmen seiner Konzeption der Selbstsorge keine weltflüchtigen, leibfeindlichen Tendenzen verfolgt, sondern lediglich für eine richtige Gewichtung und Ordnung der Strebungen plädiert. Das Wertvollste (t± pke¸stou %nia) – die Seele und deren Bestheit – ist am höchsten zu schätzen und am intensivsten zu beobachten. Alle anderen Bemühungen – insbesondere die Sorge um soziale Anerkennung, Geltung und materiellen Besitz – haben einen nachgeordneten Stellenwert. Werden diese Dinge zum primären Bezugspunkt des Strebens gemacht, so resultiert daraus eine Verkehrung der Ordnung mit negativen Folgen für Individuum und Gemeinschaft.208 206 Vgl. leg. 726a–729a. 207 Vgl. leg. 726af. 208 Die Ausführungen im zweiten Dialogteil des Alkibiades I lassen sich als Exempel der in der Verteidigungsrede reflektierten Paränese zur Suche nach Einsicht und Tugend deuten. Die

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Die in der Apologie und im Alkibiades I dargestellte Ermahnung zur Sorge um die Seele gewinnt freilich nur dann Überzeugungskraft, wenn eine nachvollziehbare und plausible Begründung geboten wird. In der im Alkibiades I vorgenommenen funktionalen Bestimmung der Seele als leitende, regierende Instanz ist eine Begründung zwar vorgezeichnet; sie wird jedoch an dieser Stelle nicht weiter entfaltet und expliziert. Um der Sache näherzukommen, kann man in diesem Zusammenhang auf die Schlusspassage der Politeia I zurückgreifen, die freilich nur einige Anhaltspunkte bietet und keine erschöpfende Antwort oder gar Platons letztes Wort zu dieser Frage enthält. Am Ende des Thrasymachos-Gesprächs finden sich Überlegungen zum gerechten Leben, in denen die Notwendigkeit der Sorge um die Seele mit lebenspraktischen und eudaimonistischen Argumenten begründet wird: Die Sorge um die seelische Instanz ist deswegen so entscheidend, weil von der Verfassung der Seele die Qualität der Ausübung ihrer Funktionen und in der Folge der Verlauf der einzelnen Handlungsvollzüge abhängig ist. Ist der Zustand der Seele durch Einheit, Ordnung und Tugendhaftigkeit bestimmt, so vermag sie ihre Koordinierungs-, Organisations- und Leitungsfunktionen sowie die Aufgabe der Bestimmung der Lebensweise (t¸ d( aw t¹ f/m) bestmöglich zu erfüllen und in der Folge gut und glücklich zu leben (ew f/m) (rep. 353d–354a). Die eudaimonistische Konsequenz wird an der Stelle zwar nicht noch einmal argumentativ begründet; der Zusammenhang lässt sich jedoch aus dem Kontext leicht erschließen: Die durch Tugend ermöglichte optimale Erfüllung der Steuerungsfunktionen der Seele führt zu vernunftorientierten Entscheidungen, Beschlüssen, Beratungen und zu einem gelingendem Handeln. Dies wiederum bewirkt eine Steigerung der Lebensqualität und die Erfülltheit des Daseins, das ew f/m und die Eudaimonia (»Und wer wohl lebt, ist der nicht preiswürdig und glückselig [(Akk± lµm f ce ew f_m laj²qiºr te ja· eqda¸lym], wer aber nicht, das Gegenteil?« rep. 354a).209 In den identitätstheoretischen Passagen des Alkibiades I wird diese Begründung der Selbstsorge zwar nicht argumentativ dargestellt.210 Wie oben bereits bemerkt, ist sie jedoch in den Ausführungen über die Steuerungsfunktion des Selbst (129b–130c) impliziert. Als regierendem (%qweim), lenkendem Organ Ähnlichkeiten sind so auffallend, dass man mit guten Gründen annehmen darf, dass Platon im Alkibiades I jene paränetischen Reden in ausgearbeiteter Form präsentiert, die er in der Apologie zum Thema der Reflexion macht. 209 In diesem Sinn ist auch apol. 30a/b zu verstehen: »Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, daß diese aufs Beste gedeihe, zeigend, wie nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle anderen menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche«. Vgl. auch leg. 631b/c. 210 Vgl. jedoch die Schlusspassage des Alkibiades I (133c–135c) mit den Überlegungen zu den lebenspraktischen Konsequenzen der Selbsterkenntnis.

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obliegen der Seele alle Handlungsentscheidungen, Zielbestimmungen und die entsprechende Wahl und Handhabung der Mittel. Sie trägt insofern Verantwortung für das Ganze des Daseins: zunächst für das Ganze des individuellen Lebensvollzugs und dann auch für das Ganze des gemeinschaftlichen Lebens – gemäß der selbstgewählten sozialen und politischen Aufgaben. Für die Bestheit des Ganzen ist somit die Bestheit der Seele eine notwendige Bedingung.

c)

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Vernunftseele (Alk. I 132b–133c)

aa)

Selbsterkenntnis im Anderen – das Augengleichnis

Mit der Bestimmung der Seele als Selbst des Menschen und der Begründung des Primats der Seele gegenüber anderen Objektbereichen der menschlichen Bemühung ist freilich nur eine erste, vorläufige Antwort auf die Ausgangsfrage des paränetischen Gesprächs (t¸ 1stim t¹ 2autoO 1pileke?shai; 127e8) gegeben. In Alk. I 132d–133c wird eine Form der Selbsterkenntnis konzipiert, die zu einer ›genaueren‹ (132c7f.) Einsicht in das Selbst führen und damit zugleich ein besseres Verständnis der Selbstsorge ermöglichen soll. Vor dieser Passage findet sich ein kurzer Dialog zwischen Sokrates und Alkibiades, der für die Einordnung des Folgenden relevant ist und daher hier Aufmerksamkeit erfahren soll. Nach der Identifizierung von Selbst und Seele spricht Sokrates eine Paränese aus, die auf die Intention der vorherigen Erörterung sowie auf die Verbindlichkeit des Gesprächs verweist. Alkibiades solle sich um seelische Schönheit bemühen (»So bestrebe dich denn, recht schön zu sein« PqohuloO to¸mum f ti j²kkistor eWmai 131d7) und sich vor der Aufnahme einer politischen Tätigkeit üben und lernen (c¼lmasai pq_tom […] ja· l²he 132b1). Alkibiades reagiert darauf mit dem Rekurs auf die Frage nach der Selbstsorge: »Du scheinst mir sehr gut zu reden, o Sokrates! – Aber versuche nun auch mir zu erklären, auf welche Weise wir denn nun für uns selbst sollen Sorge tragen« (132b4–5). Sokrates lässt sich auf die Frage ein und rekapituliert zunächst die Resultate der vorherigen Erörterung, um anschließend die Frage nach der Selbstsorge – wie schon zu Beginn der Untersuchung – auf die Frage nach dem Selbst zurückzuführen, das es genauer kennenzulernen gelte (»Wie können wir aber dies am genauesten [1maqc´stata] kennenlernen?« 132c7ff.). Vor dem Hintergrund dieses kurzen Dialogs wird erkennbar, dass das Folgende als präzisierte Antwort auf die Frage nach dem Selbst zu verstehen ist, die wiederum der näheren Bestimmung der Selbstsorge dient. Zur Untersuchung der Sache wählt Sokrates jetzt jedoch ein anderes Verfahren, das im Gegensatz

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zur vorherigen diskursiven Erörterung durch das Moment der Anschaulichkeit und unmittelbaren Erfahrung charakterisiert ist.211 Um Alkibiades die Möglichkeit einer deutlicheren Einsicht in das Selbst aufzuzeigen, bedient sich Sokrates wie so häufig, wenn es um die Darstellung von Erkenntnisprozessen geht212, einer Analogie aus dem Bereich der optischen Wahrnehmung. Wenn das Sehorgan wie ein Mensch sich selbst betrachten wollte, bräuchte es einen reflektierenden Spiegel. Da die Pupille des Auges das Vermögen der Reflexion besitzt, ist das Sehorgan selbst eine Art Spiegel. Um eine Selbstwahrnehmung zu erlangen, ist also der Blick in ein anderes Auge erforderlich: »Wenn also ein Auge sich selbst schauen will, muß es in ein Auge schauen, und zwar in den Teil desselben, welchem die Tugend des Auges eigentlich einwohnt. Und das ist doch die Pupille?« (133b2–5). Die an der sinnlichen Selbstwahrnehmung anschaulich vorgeführte Möglichkeit einer Selbsterkenntnis wird im Folgenden auf die geistige Selbstbeziehung übertragen: Muß nun etwa ebenso, lieber Alkibiades, auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen? Und am meisten in den Teil derselben, welchem die Tugend der Seele einwohnt, die Weisheit, und in irgend etwas anderes, dem dieses ähnlich ist? (/q( owm […] ja· xuwµ eQ l´kkei cm¾seshai art¶m, eQr xuwµm aqt0 bkept´om ja· l²kist( eQr toOtom aqt/r t¹m tºpom 1m è 1cc¸cmetai B xuw/r !qet¶, sov¸a, ja· eQr %kko è toOto tucw²mei blo?om em;) […] Haben wir nun wohl etwas anzuführen, was göttlicher wäre in der Seele als das, worin das Wissen und die Einsicht sich findet? (7 Ewolem owm eQpe?m f ti 1st· t/r xuw/r heiºteqom C toOto peq· d t¹ eQd´mai te ja· vqome?m 1stim;) […] Dem Göttlichen also gleicht dieses in ihr, und wer auf dieses schaute und alles Göttliche erkennte, Gott und die Vernunft, der würde so auch sich selbst am besten erkennen (T` he¸\ %qa toOt( 5oijem aqt/r ja¸ tir eQr toOto bk´pym ja· p÷m t¹ he?om cmo¼r, heºm te ja· vqºmgsim, ovty ja· 2aut¹m #m cmo¸g l²kista). (Alk. I 133b/c)213

Auf die beeindruckende und reiche Rezeption, die diese Passage in der abendländischen Philosophie- und Geistesgeschichte erfahren hat, kann hier nicht

211 Dabei wird erkennbar an die zuvor schon teilweise angewendete Methode angeknüpft und auf die performatorische Präsenz (vgl. Hardy 2011, 249) des erörterten Selbst verwiesen. Vgl. Alk. I 129b/c. Die Verschiedenheit von gebrauchender Instanz und Gebrauchtem veranschaulicht Sokrates durch den im aktuellen Sprechakt realisierten Gebrauch der Sprache: »Mit wem redest du jetzt? Nicht wahr, doch mit mir? […] Sokrates also ist der Redende? Und Alkibiades der Hörende? Und nicht wahr, mit der Sprache redet Sokrates? […] Und reden und die Sprache gebrauchen nennst du doch einerlei? […] Der Gebrauchende aber und was er gebraucht, sind die nicht verschieden?« Vgl. auch Alk. I 130e u. 131c. 212 Vgl. insbes. rep. 507cff. und die in rep. 533d2 verwendete Metapher vom ›Auge der Seele‹ (ella t/r xuw/r). 213 Vgl. die aristotelische Anknüpfung an die hier enthaltenen Aussagen über Göttlichkeit und Wert der Vernunftseele in eth. Nic. 10, 7, 1177b25ff. u. eth. Nic. 10, 9, 1179a20ff.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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eingegangen werden.214 In der jüngeren und jüngsten Platonforschung ist das Augengleichnis in sehr unterschiedlicher Weise gedeutet worden. Zwar herrscht eine weitgehende Einigkeit darüber, dass hier die vorherige Bestimmung des Selbst fortgesetzt wird und durch die Fokussierung des rationalen Teils der Seele eine Präzisierung erfährt. Zudem wird mehrheitlich angenommen, dass Platon die Selbsterkenntnis als eine Einsicht konzipiert, die sich durch die Vermittlung des Anderen vollzieht, dass also nicht der Reflexionsblick in das eigene Innere gemeint ist, sondern der Blick in die Seele des Anderen.215 In den Ausdeutungen der hier konzipierten Selbstreflexion werden jedoch ganz unterschiedliche Aspekte hervorgehoben. Annas (1985) betont die Allgemeinheit des als Objekt der Einsicht fungierenden Selbst. Das mit dem rationalen Vermögen identifizierte Selbst des Menschen werde von Platon als überindividuelle Instanz verstanden: »The ›rational soul‹ […] is the true self and is not individual to each person. My true self will not just be my soul […] but soul conceived of impersonally, a ›selfitself‹ or impersonal self which, like a Form, is the same in all of its instances. […] my real self, if you like, is just the self-itself, and is not my self in any intuitive sense at all, since it is just as much your real self as mine« (131). Das Anliegen der ganzen Passage sei es zu zeigen, dass sich die Selbsterkenntnis nicht auf die individuellen Identitätsmerkmale (personal self) beziehe, sondern auf das allgemeine, logische Selbst (nonpersonal self), das Platon als das wahre Selbst auffasse.216 Diese Deutung ist insofern problematisch, als sie die allgemeine Struktur des Vernunftselbst vom Individuellen zu trennen sucht und eine scharfe Abgrenzung des ›nonpersonal self‹ vom ›personal self‹ vornimmt. Wie noch zu zeigen sein wird, sind bei Platon Allgemeines und Individuelles auf allen Ebenen der 214 Vgl. dazu Leisegang (1949). Zur Wirkungsgeschichte der im Alk. I entwickelten Anthropologie und Selbsterkenntnis vgl. P8pin (1971, 71ff.). 215 Eine Ausnahme bildet Beierwaltes (1991, 83), der den Alkibiades aus neuplatonischer Perspektive liest und die Selbsterkenntnis als Blick in die eigene Seele versteht: »Die Seele sieht sich nämlich nicht in der Seele eines Anderen, sondern in sich selbst; Selbst-Erkennen der Seele vollzieht sich also nicht durch die Vermittlung des Anderen; die Seele wird sich in ihrem Selbstbezug vielmehr selbst zum Anderen, um im Akt des Sich-selbst-Sehens die Identität des ›Anderen‹ seiner selbst mit dem eigentlichen oder eigenen Selbst bewußt werden zu lassen.« Vgl. auch Beierwaltes (1995, 99–102). 216 Ähnlich Brunschwig (1996) und Johnson (1999). Anders Pietsch (2008, 349): »Allerdings darf diese kausale Instanz nicht als apersonal und unindividuell angesehen werden«. Vgl. auch Gill (2007) und Belfiore (2012, 56ff.). Gegen die Deutung des Selbst im Sinn einer apersonalen Instanz haben in jüngster Zeit insbesondere Rider (2011) und Moore (2015) argumentiert. Vermittelnde Positionen finden sich bei Tsouna (2004), Renaud (2011, 214) und Remes (2013, 295). Nach Renaud (2011, 214 Fußn. 33) bleibt die Individualität in dieser Konzeption partiell erhalten: »individuality is partially preserved in this conception of the true self; the dialectical process in particular, within which this discovery takes place, presupposes individual otherness«.

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menschlichen Existenz, also auch im epistemischen Bereich, vielfältig ineinander verschränkt. Das Vernunftselbst weist zwar hinsichtlich der Funktionsweise des Denkvermögens, der begrifflichen Instrumentarien und logischen Gesetze allgemeine Strukturen auf. Da jedoch im Prozess des Erkennens stets eigene Einsichten gewonnen werden, die bezüglich des Intensitätsgrades, des Problemhorizonts, der Einordnung in ein vorhandenes System von Überzeugungen, der Anwendungsbereiche etc. individuell verschieden sind und auf ein Individuum als Trägerinstanz verweisen217, ist das Allgemeine stets mit dem Individuellen verwoben.218 Andere Interpreten betonen die Rationalität des Selbst. So arbeitet z. B. Göbel (2002) unter Bezugnahme auf Alk. I 133b7–10 die Identifizierung von intellektuellem Vermögen und menschlichem Selbst als primären Gehalt des Augengleichnisses heraus. Die im Alkibiades konzipierte Selbsterkenntnis ziele auf die Einsicht, dass der Mensch wesentlich durch seine Rationalität bestimmt sei, dass der Wesenskern des menschlichen Seins im Intellekt bestehe, der als göttliches Organ unendliche Möglichkeiten in sich berge. »Hinsichtlich der Selbsterkenntnis läßt sich festhalten, daß diese als anthropologische Reflexion v. a. die Erkenntnis der Vernunftseele meint, d. h. die Erkenntnis der Erkenntnisfähigkeit des Menschen« (43).219 Andere Autoren220 orientieren sich bei ihrer Deutung vorzugsweise an den Zeilen 133c1–6 und akzentuieren die Göttlichkeit des Vernunftselbst. Die von Sokrates vorgenommene Übertragung der Struktur der sinnlichen Selbstwahrnehmung auf die geistige Selbstbeziehung kulminiere in der Aussage, dass der Intellekt das Göttlichste in der Seele und die Selbsterkenntnis eine Einsicht 217 Das gesteht auch Remes (2013, 295) zu bei aller Sympathie für die apersonale, universale Deutung des thematisierten Selbst: »This does not need to mean, however, that the rational nature is somehow subjectless, nor that we could understand its nature without understanding it to be an act of someone, of a user, or the seer«. 218 Die Individualität des gemeinten Selbst ist in besonderer Weise von Gerhardt (1997b) (2003) betont worden (vgl. auch Karl 2010, 88–104). Gerhardt orientiert sich bei seiner Deutung an der im Dialog angeführten Analogie zur sinnlichen Selbstwahrnehmung. So wie das Auge des Anderen unsere körperliche Gestalt widerspiegelt und wir in ihm ein Abbild (eUdykom) unserer physischen Erscheinung erblicken können, so spiegeln im sozialen Gespräch, vorzugsweise aber in der liebenden Kommunikation, die Reaktionen und zustimmenden oder kritischen Aussagen des Anderen die eigenen Erkenntnisleistungen, seelischen Qualitäten, Defizite etc. wider. »Man hat in das Auge des Anderen zu sehen, um sich selbst erkennen zu können. Wer ich selber bin und worin das Individuelle meiner ›Seele‹ liegt – das enthüllt nur der Blick in das Auge des Gegenübers« (2003, 141). 219 Ähnlich Remes (2013, 296): »The eye metaphor of self-knowledge underlines the intellectual capacity as the proper object of self-knowledge. This part is divine or godlike […] and will yield reasonableness and knowledge of the divine, that is, among other things the knowledge of the good and evil involved in one’s belongings.« 220 Vgl. Wilkins (1917) (1929), Betz (1981), Tränkle (1985), Beierwaltes (1991), Reiser (1992), Hager (1995), Brunschwig (1996), Fetz (1998), Johnson (1999), Sorabji (2006).

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in den göttlichen Grund der Seele sei. Die geistige Selbstbeziehung tangiere das Verhältnis zwischen Mensch und Gott und verweise auf die Gottnähe des Menschen.221 Von einigen Interpreten wird das dialogisch-dialektische Moment besonders betont und die Bindung der Selbsterkenntnis an die Kommunikation und soziale Interaktion thematisiert. Diese Deutung hat Brunschwig (1996, 72) als ›humanistische‹ Lesart bezeichnet und der theologischen Interpretation gegenübergestellt. In den letzten Jahren sind etliche Versuche unternommen worden, die dialogischen, interpersonalen Momente mit dem im Augengleichnis angesprochenen Aspekt des Göttlichen zu verknüpfen und damit eine Synthese von ›humanistischer‹ und ›theologischer‹ Lesart herzustellen. Gill (2007)222 spricht von einer Dreiecksbeziehung (›triangular‹ model), »in which both psyches are related to each other (as active capacities for knowing), and in which this (shared) active capacitiy is also god-like. That is, the psyches are related to each other at one ›axis‹, while their converging axis is directed to god« (109). Selbsterkenntnis findet demnach im Rahmen einer kommunikativen Interaktion statt, in dem zwei Seelen ihre göttliche intellektuelle Fähigkeit im Bezug aufeinander und im Bezug auf gemeinsame Erkenntnisgegenstände, und das ist in höchster Instanz Gott, realisieren.223 All diese Aspekte haben mit Blick auf die Aussagen im Text gewiss ihre Berechtigung und sind bei einer Auslegung des Augengleichnisses zu beachten. Entscheidend für das Verständnis dieser Passage scheint jedoch zu sein, dass es hier nach wie vor um die Bestimmung der Selbstsorge (vgl. Alk. I 132b6–c5) geht.224 Wie der Argumentationskontext erkennen lässt, hat das Augengleichnis eine bestimmte Funktion innerhalb des protreptisch-paränetischen Gesprächs. Nachdem Sokrates die Selbstsorge in Alk. I 131d7 als Bemühung um die Schönheit der Seele kenntlich gemacht und Alkibiades die Frage nach der Art und Weise dieser Sorge aufgeworfen hat (132b4–5), wird jetzt das Selbst näher bestimmt, um deutlich zu machen, wie die Bemühung um die Schönheit der Seele konkret auszusehen hat. Es geht hier weniger um eine theoretische Klärung der gattungsspezifischen intellektuellen Kräfte und Möglichkeiten oder um eine anthropologisch-theologische Reflexion, die eine Einordnung des Menschen in 221 Anders Döring (2016, 136f.), der die Kluft zwischen Gott und Mensch als Gehalt der gemeinten Selbsterkenntnis annimmt. 222 Vgl. auch Renaud (2011, 212–214) und Belfiore (2012, 56–65). 223 An Gill anknüpfend Moore (2015, 130). 224 Darauf hat Remes (2013, 272) hingewiesen: »In the context of the dialogue, ›self-knowledge‹ must be understood as having a particular meaning. It does not primarily involve the nature or the extent of our knowledge of our own mental states. It is not about, for instance, any first personal authority over one’s own states of the soul (thoughts, feelings or such like). What is sought is, rather, knowledge of the proper object of care for self, that is, the kind of thing we are […]«.

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Selbsterkenntnis bei Platon

einen übergeordneten Seinszusammenhang intendiert, sondern um eine weitergehende Selbstreflexion, die zur Realisierung der Selbstsorge hinführen soll. Die jetzt vorgenommene ›genauere‹ Bestimmung des Selbst knüpft erkennbar an die vorherige Erörterung an. Wie oben ausgeführt, wurde das Selbst in der vorherigen Untersuchung als regierende Instanz festgelegt. Die begonnene Suche nach dem Regierenden, nach der !qw¶225, wird jetzt im Grunde genommen fortgeführt. Was ist die eigentlich lenkende Kraft in der Seele? Die Antwort wird in Alk. I 133b/c formuliert: Es ist das Vermögen der Vernunft und die entsprechende Tugend – die Weisheit (sov¸a). Das Vernunftvermögen wird an der Stelle zwar nicht direkt benannt und begrifflich ausgezeichnet; die sokratische Beschreibung der Selbsterkenntnis lässt es jedoch als das Gemeinte aufscheinen. Im gemeinsamen Gespräch ist der Blick zunächst auf die Seele des Anderen in der ganzen Vielfalt ihrer verschiedenen Vermögen, Bestrebungen, Neigungen, Charakteranlagen, Affekte gerichtet. Die Aufmerksamkeit des Erkennenden soll sich jedoch sukzessive auf einen bestimmten Teil der Seele konzentrieren. Die Seele muss, »wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen […] und am meisten in den Teil derselben, welchem die Tugend der Seele einwohnt, die Weisheit (sov¸a) [….]«, bzw. in das Vermögen, »worin das Wissen (eQd´mai) und die Einsicht (vqºmgsir) sich findet« (133b/c; Hervorhebung B.F.). Aus der Aufzählung von ausschließlich kognitiven Leistungen und Tugenden ist zu schließen, dass der selbsterkennende Blick auf die Vernunftinstanz gerichtet ist. Die Weisheit (sov¸a), die hier vermutlich deswegen mit der Tugend der ganzen Seele (133b9) identifiziert wird, weil von ihr alle anderen Tugenden abhängig sind226, ist in der platonischen Tugendkonzeption bekanntlich die spezifische Bestheit des Vernunftvermögens (kocistijºm, moOr).227 Unter Rückgriff auf die Analogie der visuellen Wahrnehmung wird das Vernunftvermögen an dieser Stelle in seinem Wert und seiner Funktion bestimmt. So wie die Pupille das eigentliche Zentrum des Sehvermögens und damit das Beste (b´ktistom) des Auges darstellt (133a5f.), so ist die Vernunft das Beste in der Seele.228 Es ist das, womit die Seele ›sieht‹, das ›Auge der Seele‹ (ella t/r xuw/r), wie es in der Politeia (533d2) heißt. Die Vernunft, so die weitere Argumentation, ist insofern das Beste als es das Göttlichste (7Ewolem owm eQpe?m f ti

225 Zum Gebrauch von %qweim und t¹ %qwom vgl. Alk. I 130a3, a11, 130b2, b4, b8, b12. Vgl. auch Alk. I 130d6. 226 Vgl. Men. 88a–89a u. leg. 963a. 227 Vgl. insbes. rep. 441e u. 442c. Da im Alkibiades I die Seelenteilkonzeption vorausgesetzt wird (133b9, 133c1), ist davon auszugehen, dass auch die Tugendkonzeption in ihren Grundzügen hier schon zugrunde liegt. Zur Übereinstimmung der Tugendkonzeption der Politeia und des Alkibiades I vgl. Benitez (2012). 228 Vgl. Aristoteles eth. Nic. 10, 7, 1178a1ff. und eth. Nic. 10, 9, 1179a25.

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1st· t/r xuw/r heiºteqom […] 133c1; vgl. auch 133c4f.)229 in der Seele ist. Der ausgezeichnete Wert des Vernunftvermögens wird hier über die Erkenntnisfunktion hinaus mit der Göttlichkeit begründet. Das Prädikat der Göttlichkeit aber verweist in diesem Kontext auf die lenkende, steuernde Kraft des Vermögens.230 Dies lässt sich anhand des Phaidon und der Nomoi sehr gut belegen. In Phaid. 80a wird das Göttliche durch das Merkmal der Führungskompetenz und das Sterbliche durch die instrumentelle, an Vernunftzwecken mitwirkende Funktion bestimmt: »Oder dünkt dich nicht das Göttliche so geartet zu sein, daß es herrscht und regiert, das Sterbliche aber, daß es sich beherrschen läßt und dient?« (6G oq doje? soi t¹ l³m he?om oXom %qweim te ja· Bcelome¼eim pevuj´mai, t¹ d³ hmgt¹m %qwesha¸ te ja· douke¼eim; Phaid. 80a4–6). Auf der Grundlage dieser Bestimmung werden im Anschluss daran folgende Ähnlichkeitsverhältnisse aufgezeigt: Wesen und Natur (v¼sir) der Seele bestehen darin, zu regieren und zu führen – die Seele gleicht insofern dem Göttlichen. Die Bestimmung des Leibes hingegen ist es, zu dienen und regiert zu werden – er gleicht damit dem Sterblichen. Da im Phaidon vorzugsweise die Vernunftseele thematisiert wird, ist die hier vorgenommene Prädizierung der Seele als das Göttliche mit den Aussagen im Augengleichnis des Alkibiades I im Einklang. In den Nomoi (726a/727a) wird das Göttliche in ähnlicher Weise bestimmt und mit der seelischen Instanz verbunden. Die größte Wertschätzung und Ehrung, so die dort aufgestellte Prämisse, gebührt dem Herrschenden, da dieses das Höhere und Bessere ist (t± l³m owm jqe¸tty ja· !le¸my despºfomta). Das Dienende hingegen ist das Geringere und Schlechtere (t± d³ Ftty ja· we¸qy doOka). Die Fähigkeit zur Herrschaft kommt in besonderer Weise den Göttern zu (let± heo»r emtar despºtar). Sie zeichnet jedoch auch die menschliche Seele aus. Folglich ist die Seele nach den Göttern dasjenige, was am meisten zu ehren ist. Die in der Eingangsprämisse der Passage angedeutete Nähe der menschlichen Seele zu den Göttern (»denn von allen Besitztümern, die man hat, ist nach den Göttern die Seele das göttlichste« p²mtym c±q t_m artoO jtgl²tym let± heo»r xuwµ heiºtatom leg. 726a2–3)231 wird an dieser Stelle durch die Steuerungs- und Führungsfunktion begründet. Die Seele ist das den Göttern Verwandte und Nächste, weil sie im Bereich des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens die Verantwortung trägt232 und hier für das Beste zu sorgen hat. Die im Alkibiades I vorgenommene Auszeichnung der Vernunftseele als das Göttliche (t¹ he?om 133c5) bzw. das dem Göttlichen Ähnliche (133c4) kann vor 229 230 231 232

Vgl. Aristoteles eth. Nic. 10, 7, 1177b25ff. So auch Denyer (2001, 234). Vgl. Aristoteles eth. Nic. 10, 9, 1179a20ff. Vgl. auch pol. 272d–274e.

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Selbsterkenntnis bei Platon

diesem Hintergrund als Zuschreibung einer besonderen Disposition zur Führung des Lebens und zur Verantwortung für das Ganze des Lebensvollzugs verstanden werden. bb)

Identifizierung von Selbst und Vernunft

Betrachtet man das Augengleichnis im Zusammenhang mit der vorherigen Erörterung des Selbst, so ist leicht zu erkennen, dass an dieser Stelle ein vertiefter Selbstbegriff entwickelt wird. In der identitätstheoretischen Untersuchung in Alk. I 129b–131a wurde das Selbst als das Herrschende, Gebrauchende, Lenkende aufgezeigt. Das Augengleichnis aber verweist auf die Vernunft als die eigentlich regierende Kraft in der Seele. Daraus ist zu schließen, dass die Vernunft das Selbst oder der Mensch ist233, wie man in Anknüpfung an die synonyme Verwendung von aqtº und %mhqypor in Alk. I 129e–130e hinzufügen kann.234 Diese Konklusion wird im Alkibiades I nicht in sprachlicher Form dargestellt, in anderen Dialogen finden sich jedoch entsprechende Aussagen.235 In dem schon erwähnten Bild des ›Seelentiers‹ im neunten Buch der Politeia (588cff.) wird der begehrende Seelenteil (1pihulgtijºm) mit einem bunten und vielköpfigen Tier verglichen und das eifernde, mutartige Vermögen (hulijºm) mit einem Löwen. Die Vernunftseele (kocistijºm) hingegen bestimmt Platon als Mensch (588d3), noch präziser : als ›innerer Mensch‹ (b 1mt¹r %mhqypor) des 233 Ähnlich Denyer (2001, 234). Denyer meint allerdings, dass hier die Seele mit der Vernunft identifiziert wird. Dies ist jedoch unplausibel, da der ganze Argumentationsgang von der Frage nach dem Gegenstand der Selbstsorge, also von der Frage nach dem Selbst oder der Person geleitet wird. 234 Vgl. auch rep. 611b–612a; insbes. 611e1. Vgl. auch Aristoteles, eth. Nic. 9, 4, 1166a15 (»Und er wünscht folglich sich selbst das Gute […] und tut es […] und zwar um seiner selbst willen, nämlich dem denkenden Teil zuliebe, den man für dasjenige hält, was jeder Mensch seinem Wesen nach ist [ja· 2autoO 6meja (toO c±q diamogtijoO w²qim, fpeq 6jastor eWmai doje?) ]« Übers. U. Wolf). Da Aristoteles hier eine vorhandene Lehrmeinung referiert, liegt die Annahme nahe, dass er sich an dieser Stelle auch auf Platon bezieht. Vgl. auch eth. Nic. 9, 4, 1166a20 (»Und der Bestandteil, der denkt, dürfte das sein, was jeder seinem Wesen nach ist oder jedenfalls am meisten ist« dºneie d( #m t¹ mooOm 6jastor eWmai C l²kista Übers. U. Wolf) und eth. Nic. 10, 7, 1178a1 (»In der Tat könnte man denken, dass ein jeder Mensch gerade dies ist [sc. moOr], da es das Leitende und Beste unter seinen Bestandteilen ist« dºneie d( #m ja· eWmai 6jastor toOto, eUpeq t¹ j¼qiom ja· %leimom; Übers. U. Wolf). Hier wird noch einmal in affirmativer Weise auf eine bestehende Lehrmeinung Bezug genommen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Platon oder die platonische Schule zurückgeht. Auf einen Alkibiades-Bezug deutet die Verwendung des Wortes j¼qior hin, das in Alk. I 130d6 zur Bestimmung der Seele verwendet wird: »Wenigstens werden wir wohl niemals zugeben, daß irgend etwas an uns selbst führender sei als die Seele« (oq c²q pou juqi¾teqºm ce oqd³m #m Bl_m aqt_m v¶sailem C tµm xuw¶m Alk. I 130d6). 235 Denyer (2001, 234) verweist neben rep. 588b–e auf Phaidr. 253c–e, »in which the unintellectual parts of a human soul are represented by more or less noble beasts, and the intellect is represented by a human being«.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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Menschen (589a8f.), da ja der Mensch zuvor als das aus allen Kräften Zusammengewachsene bezeichnet worden war. In Anknüpfung an diese Formulierung könnte man in Bezug auf die Argumentation im Alkibiades I vom ›inneren Selbst‹ oder vom Selbst im engeren Sinn sprechen. Der Mensch oder das personale Selbst kann insofern mit der Vernunft identifiziert werden, als diese die wesentlichste236, für das Ganze der Lebensführung bedeutsamste Kraft im Menschen ist. Wie oben schon erwähnt, konzipiert Platon diese vertiefte Einsicht in das Wesen des Selbst als eine Selbstreflexion, die in der sozialen Interaktion zu gewinnen ist. Dabei wird erkennbar an das schon zuvor angewendete Verfahren angeknüpft. Um Alkibiades zur Einsicht in die Identität von Selbst und Seele zu führen und das Selbst als die gebrauchende Instanz aufzuzeigen, hat Sokrates diesen in 129b zur reflektierenden Wahrnehmung des aktuell realisierten Sprechaktes aufgefordert. Alkibiades solle seine Aufmerksamkeit auf Sokrates als den Sprechenden lenken, der »mittels der Sprache redet« (kºc\ diak´cetai), der also die Sprache gebraucht (129b14), und solle sich daran die Differenz zwischen gebrauchender Instanz und Gebrauchtem vor Augen führen (129c5). In ähnlicher Weise wird jetzt dazu aufgefordert, in der sozialen Kommunikation den Anderen in einer gezielten Reflexion wahrzunehmen, ihn als Denkenden zu reflektieren, der über geistige Kompetenzen wie Urteilskraft, Entscheidungsfähigkeit, Überlegung, logisch-diskursives Denken sowie über bestimmte Einsichten, Prinzipien und Kenntnisse verfügt237, die bei der Bewältigung des Alltags und den Handlungsentscheidungen orientierend und leitend wirken. Im Blick auf die Erkenntniskraft des Anderen soll die Einsicht in die Vernunft als Steuerungszentrum und inneres Selbst des Menschen gewonnen werden. Da es in dem ganzen Gespräch jedoch um das Problem der Bildung der eigenen Seele geht, liegt die eigentliche Pointe dieser allgemeinen Einsicht in dem Rückbezug auf das erkennende Individuum. Eben dies wird durch die Spiegelmetapher angezeigt. Im Anderen sollen wie in einem Spiegel jene geistigen Kräfte und Vermögen wahrgenommen werden, die auch in der eigenen Seele wirksam sind. Alkibiades soll sich vermittelt durch den anderen selbst als Vernunftwesen erkennen. Die ›Selbsterkenntnis im Anderen‹ lässt sich insofern als ein Innewerden der eigenen geistigen Anlagen und der Fähigkeit zur Gestaltung und Führung des Lebens deuten. Im Blick auf die Vernunft des Anderen vergewissert sich das erkennende Individuum der eigenen Vernunft und weiß

236 Vgl. Gill (2007). Im Alkibiades I werde der Begriff des ›Selbst‹ im Sinn »what we are essentially« (104) gebraucht. 237 Das Problem der Vielheit und Einheit der Vernunftseele wird im Augengleichnis durch die Unterscheidung zwischen Organ bzw. Vermögen (133b9, 133c2) und den vielen verschiedenen Einsichten und Kenntnissen (133c2) zwar angedeutet, aber nicht weiter expliziert.

412

Selbsterkenntnis bei Platon

sich zugleich mit dem Anderen aufgrund der Gemeinsamkeit der geistigen Disposition und der damit verbundenen Gestaltungsaufgabe verbunden. cc)

Folgerungen für die Sorge um sich selbst

Die Bestimmung der Vernunft als inneres Selbst des Menschen impliziert die Deutung der Selbstsorge als Bemühung um eine Entwicklung der epistemischen Fähigkeiten und Tugenden. Aus der Annahme, dass die Vernunft die eigentliche Steuerungsinstanz im Menschen darstellt, folgt, dass diesem Vermögen eine besondere Aufmerksamkeit und Pflege (heqape¸a) gebührt. Die Vernunft, so wird durch das Augengleichnis angedeutet, ist der zentrale Gegenstand der gesuchten 1pil´keia 2autoO. Sorge um sich selbst bedeutet primär Sorge um die Bildung der Vernunftanlage, also Bemühung um die spezifischen Tugenden – Einsicht (vqºmgsir) und Weisheit (sov¸a).238 Diese Schlussfolgerung wird zwar im Dialog an dieser Stelle nicht ausdrücklich formuliert, der Argumentationszusammenhang legt die Konklusion jedoch nahe. Die ganze Passage wird, wie oben bereits bemerkt, von der Frage geleitet: Auf welche Weise soll man Sorge für sich selbst tragen (132b4f.)? Wie soll die Bemühung um die Schönheit der Seele aussehen? Das von Sokrates im Kontext dieser Problemstellung angeführte Augengleichnis ist als Antwort auf diese Frage zu verstehen. Man sollte sich bei der Deutung der Passage nicht von den Zeilen 133b7–c2 irritieren lassen, in denen die gemeinte Selbsterkenntnis als eine Einsicht in das kognitive Vermögen und dessen Tugenden – Weisheit (sov¸a), Wissen (eQd´mai) und Einsicht (vqºmgsir) – aufgezeigt wird: »Muß nun etwa ebenso, lieber Alkibiades, auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen? Und am meisten in den Teil derselben, welchem die Tugend der Seele einwohnt, die Weisheit […]? […] Haben wir nun wohl etwas anzuführen, was göttlicher wäre in der Seele als das, worin das Wissen und die Einsicht sich findet?« (133b/c).239 Diese Sätze scheinen die epistemischen Tugenden als Besitz 238 Dieses Verständnis von Selbstsorge wird auch in Tim. 89dff. artikuliert. Der dort formulierte Gedanke, dass das zur Regierung über den Leib und zur Selbstregierung bestimmte Vernunftselbst so ausgebildet und gepflegt werden muss, »daß es auf das schönste und beste zu dieser Leitung sich eignet« (89d7f.) kann man unmittebar auf den Alkibiades I beziehen. 239 Im Hinblick auf diese Zeilen haben einige Interpreten die Selbsterkenntnis im Anderen im paradigmatischen, exemplarischen Sinn gedeutet. Der als Vermittlungsinstanz fungierende Andere wird mit Sokrates identifiziert, der den Sollzustand der individuellen Seele repräsentiere und im Text als Paradeigma des wahren Selbst dargestellt werde. Vgl. Friedländer (1964, II, 334 Anm. 14), Schmid (1983), Moser (2006), Pietsch (2008). Besonders prägnant Pietsch (2008, 350): »Der Blick in die andere Seele hat eine vermittelnde, helfende, sokratisch gesprochen ›maieutische‹ Funktion. Er zeigt der betrachtenden Seele, was sie selbst ihrem Wesen nach sein kann, aber noch nicht ist, und aktualisiert sie gleichsam zu sich selbst hin«. Diese Deutung ist problematisch, da hier die Prämisse zugrunde gelegt wird,

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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der Seele anzudeuten und damit in einer gewissen Spannung zur behaupteten Notwendigkeit der Selbstsorge zu stehen.240 Wie sich jedoch insbesondere an der Politeia gut beobachten lässt241, gebraucht Platon den Tugendbegriff in einem engeren und einem weiteren Sinn. Hinsichtlich der charakterlichen Qualitäten verwendet er den Ausdruch !qet¶ nicht nur zur Bezeichnung des gebildeten Zustands der Seele, sondern auch zur Benennung der natürlichen und der durch Gesellschaft und Erziehung erworbenen Qualitäten, die als vorläufige Formen der Tugend kenntlich gemacht werden.242 Die auf Erziehung und Gewöhnung basierende Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit werden in der Politeia als bürgerliche Tugend (pokitijµ !qet¶ rep. 430c)243 bestimmt, die durch den Erkenntnisaufstieg zu einer höheren Form der Bestheit zu qualifizieren ist (vgl. rep. 504a/b).244 Wie den Ausführungen in rep. 518dff. zu entnehmen ist, unterscheidet Platon auch im epistemischen Bereich zwischen einer vorläufigen Form der Tugend (vgl. rep. 518e2) und einer durch Selbstbildung gewonnenen Bestheit, d. h. einer entwickelten epistemischen Exzellenz. Dieser Differenzierung entspricht die Unterscheidung zwischen Meinungswissen und Vernunfteinsicht, die im Menon besonders eingehend thematisiert wird. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist zu vermuten, dass mit den Ausdrücken sov¸a, eQd´mai, vqºmgsir, die in Alk. 133b/c gebraucht werden, ein Wissen gemeint ist, dass weniger der Vernunfteinsicht im engeren Sinn als vielmehr der Vorstellung, Meinung, Überzeugung entspricht. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass der Wissensbegriff an dieser Stelle auch inhaltlich sehr weit gefasst wird und nicht nur das ethisch-politische Wissen gemeint ist, sondern alle epistemischen Leistungen angesprochen sind, die durch schulische und berufliche Ausbildung und gesellschaftliche Aufgaben erworben werden: Informations- und Faktenwissen, technische Kompetenzen, einzelwissenschaftliche Kenntnisse. Diese Formen des Wissens sind analog zum

240 241 242

243 244

dass die Selbsterkenntnis nur in der Interaktion mit einer Person möglich ist, die den SollZustand der Seele repräsentiert und die Tugend in paradigmatischer Weise ausgebildet hat. Im Text ist jedoch ganz unbestimmt von einer anderen Seele die Rede (133b8), in die der Selbst-Erkennende hineinsehen soll. Johnson (1999) und Belfiore (2012, 62f.) argumentieren dafür, dass mit der anderen Seele ein Freund oder Liebhaber gemeint ist. Man kann diese Sätze freilich auch in dem Sinn verstehen, dass hier die epistemische Tugend nicht als Faktizität, sondern als Möglichkeit angesprochen wird. Die Vernunft ist das Vermögen, in dem die epistemische Tugend, wenn sie realisiert wird, ihren Sitz hat. Vgl. auch Men. 88a/b, 99ef. Vgl. dazu Cürsgen (2007, 286). Diese differenten Bedeutungen des Tugendbegriffs übersieht Pietsch (2008, 350f.), wenn er die Selbsterkenntnis als Reflexion auf einen vollkommenen Intellekt deutet, als eine Entdeckung des wissenden Selbst, dass der Erkennende, »wenn auch noch nicht in aktualisierter Form, schon längst und eigentlich ist« (351). Vgl. auch rep. 518d/e u. 536a. Vgl. auch Phaid. 69a/b: Die Vernunfteinsicht (vqºmgsir) macht die natürlichen und bürgerlichen Tugenden erst zu wahren Tugenden (!kghµr !qet¶).

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Selbsterkenntnis bei Platon

ethischen Meinungswissen in bestimmter Hinsicht defizitär und verweisen in ähnlicher Weise auf regulierende, übergeordnete Vernunftleistungen. Das technische Wissen ist zwar ein wesentliches Element in der Bewältigung der Lebensaufgaben; es verbürgt jedoch, wie in vielen Tugenddialogen dialektisch aufzeigt wird245, nicht als solches schon das Gelingen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens, sondern bedarf einer darüber hinausgehenden Vernunfteinsicht, die den Gebrauch reguliert und begründend wirkt. Deutet man die in Alk. 133b/c angeführten Wissensbegriffe in dem vorgeschlagenen Sinn, so lässt sich die Spannung zwischen der faktischen Tugend des Vernunftvermögens und der angemahnten Selbstsorge auflösen. Unter Berücksichtigung der von Platon geltend gemachten Differenz zwischen verschiedenen Stufen und Gegenstandsbereichen des Wissens lässt sich die im Augengleichnis geschilderte Reflexion auf die intellektuellen Tugenden als Blick auf die verschiedenen Kenntnisse, Kompetenzen, Prinzipien, Wissenssätze deuten, die eine Person in unterschiedlichen Lebensphasen und Tätigkeitsbereichen erworben hat und in ihren praktischen Urteilen zu Hilfe nimmt. Für diese Deutung spricht die oben angeführte Funktion des Augengleichnisses. Bei dem ›Blick in die Seele des Anderen‹ geht es weniger darum, die Vollkommenheit des Wissens oder eine zu ihrer Bestform aufgerichtete Vernunft zu schauen, sondern die Vernunft als steuernde Kraft der Seele und als inneres Selbst des Menschen bewusst zu machen. In ähnlicher Weise bergen auch die Zeilen Alk. I 133c4–6 die Gefahr eines Missverständnisses oder einer Fehldeutung in sich. Sokrates umschreibt hier nach der Prädikation der Vernunft als das Göttlichste in der Seele die gemeinte Selbsterkenntnis wie folgt: »Dem Göttlichen also gleicht dieses in ihr, und wer auf dieses schaute und alles Göttliche erkennte, Gott und die Vernunft (ja· p÷m t¹ he?om cmo¼r, heºm te ja· vqºmgsim), der würde so auch sich selbst am besten erkennen«. Diese Formulierung hat viele Interpreten dazu verführt, hier eine durch Selbsterkenntnis vermittelte Gotteserkenntnis hineinzulesen und die ganze Passage in die Nähe des neuplatonischen oder christlich-spekulativen Denkens zu rücken. Nach Tränkle (1985, 26) wird im Alkibiades I eine Selbsterkenntnis konzipiert, die als Einsicht in »das gesamte Göttliche« mit der Gotteserkenntnis in Zusammenhang stehe. Eine »Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis« nimmt auch Reiser (1992, 87) an. Betz (1981, 158) wiederum glaubt hier »the equation of the self with the soul and the deity« zu erkennen und begreift den Blick auf die Vernunftseele als Einsicht in die Gottheit. Nach Beierwaltes (1991, 84) schließlich ist in Alk. I 133c4–6 der »auch für die christliche Theologie folgenreiche Gedanke grundgelegt, daß das Erkennen der Seele im Sinne einer Erkenntnis des eigenen Selbst des Menschen die not245 Vgl. z. B. Lach. 194e–196a u. Charm. 173a–174d.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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wendige Voraussetzung und zugleich die Vermittlung einer Erkenntnis des Gottes ist; dieser zeigt sich der Reflexion in der Seele als deren ›reiner‹ und ›lichter‹ Grund, ist aber offensichtlich zugleich als das die Seele Bestimmende über sie hinaus.« Der »Grundgedanke des ›Großen Alkibiades‹« bestehe darin, »daß eine Erkenntnis des Gottes in herausgehobenem Sinne durch den Selbstbezug des Denkens ermöglicht wird«.246 Gegen diese Art von Deutungen hat bereits Göbel (2002, 41) zu Recht bemerkt, dass »man sich davor hüten [sollte], späteres, besonders christlichspekulatives Denken hier hineinzulesen«.247 Platon betone »ganz einfach die ›Göttlichkeit‹ der Seele« und meine an dieser Stelle lediglich die Erkenntnis der »göttlich-menschlichen Vernunft«.248 Dem ist ergänzend hinzuzufügen, dass Platon mit der Bezeichnung des menschlichen Geistes als heºr ganz offensichtlich an die anaxagoreische Tradition anknüpft. Der von Anaxagoras als kosmisches Prinzip bestimmte Nous ist von dessen Schüler Diogenes von Apollonia als ›Gott‹ benannt und mit dem im Menschen wirkenden GeistPrinzip in Zusammenhang gebracht worden. »In jedem denkenden und empfindenden Menschen ist ein Stück dieser denkenden Luft enthalten, ein ›Teilchen vom Gott‹. Der menschliche Geist ein Teil des Kosmos-Gottes«, so Burkerts (GR, 470) Darstellung dieses folgenreichen Gedankens eines alles verbindenden, in jedem Vernunftwesen wirksamen Geistes. In dieser Tradition steht vermutlich auch das berühmte Euripides-Fragment: »Die Vernunft in jedem von uns ist Gott« (b moOr c±q Bl_m ³stim 1m 2j²st\ heºr Eur. fr. 1018 TrGF). Das Motiv der ›Vernunft als Gott in uns‹ wird im Alkibiades I aufgegriffen, aber anders gedeutet249 und in einen ganz anderen Kontext gestellt. Es geht hier nicht um eine die Anthropologie einbeziehende kosmologisch-theologische Betrachtung, sondern um das Projekt der ethischen Selbstformung, in dessen Rahmen die menschlichen Kräfte betrachtet und die Vernunft als beste, wertvollste, göttlichste Kraft bewusst gemacht wird. Der ›Blick auf alles Göttliche‹ in der Seele: auf ›Gott und die Einsicht‹ (heºm te ja· vqºmgsim) meint hier in Anknüpfung an die vorherige Differenzierung zwischen dem Vermögen selbst und der Tugend des Vermögens (Alk. I 133b7–c2) die Reflexion auf das (gött-

246 Vgl. auch Brunschwig (1996) und Johnson (1999, 11). 247 Die Einheit von Selbst- und Gottesbezug findet sich bereits bei Alexander von Aphrodisias. Vgl. den Kommentar zu Aristoteles’ De anima. 248 Vgl. auch die von Remes (2013, 289f.) vorgetragenen Einwände gegen die theologische, gottzentrierte Auslegung des Augengleichnisses. 249 Die Formel vom ›Nous als Gott in uns‹ wird bei Platon nicht im Sinn einer faktischen Wirklichkeit, sondern als Potenzialität verstanden. Vgl. dazu unten Kap. B II 3c.dd und ee. Zur kritischen Auseinandersetzung Platons mit der anaxagoreischen Tradition vgl. Menn (1995) (2010) und Mason, A. (2013).

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Selbsterkenntnis bei Platon

lich)-menschliche Erkenntnisorgan250 und die entsprechenden Leistungen: Einsichten, Kenntnisse, Wissen.

d)

Selbsterkenntnis und Selbstsorge

Die Verbindung von Selbstsorge und Selbsterkenntnis bei Platon bedürfte einer ganz eigenen Untersuchung und ist schwerlich in wenigen Sätzen zu klären. Das Themenfeld birgt für den Interpreten besondere Schwierigkeiten in sich, weil es bei Platon verschiedene Selbstbegriffe, methodisch höchst differente Arten von Selbsterkenntnis und verschiedene Stufen und Grade von Selbstsorge gibt. Im Grunde genommen kehrt hier das schon beim Tugendbegriff erörterte Problem wieder : Platon benennt verschiedene Qualitäten, Fähigkeiten, Erkenntnisakte mit demselben Begriff. Schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass hier stets zwischen Vorstufen oder ersten Ausprägungen einer Sache und entwickelteren, höheren Formen unterschieden wird. Der Entwicklungsaspekt spielt bei Platon eine maßgebliche Rolle, aber in anderer Weise als die genetische Platondeutung gemeint hat.251 Die verschiedenen Ausdeutungen der Selbsterkenntnis und Selbstsorge spiegeln weniger Platons eigenen geistigen Fortschritt wider. Vielmehr sind sie als Elemente eines vom Einzelnen zu realisierenden Selbstformungsprozesses anzusehen.252 Dieser Selbstwerdungsprozess soll im Folgenden nachgezeichnet werden. aa)

Seelenreflexion und Erkenntnis des Nichtwissens als Elemente im Prozess der Selbstformung

Bevor der Zusammenhang von Selbstsorge und Selbsterkenntnis näher bestimmt werden kann, sind die verschiedenen Formen von epistemischer Selbstbeziehung in ihrer Relation zueinander zu erörtern. Zunächst ist zu beobachten, dass im Alkibiades I verschiedene Konzeptionen 250 Zur Bezeichnung des Nous als Gott vgl. auch Phil. 28b1. Die Vernunft (moOr) wird dort als Gott (heºr) des Sokrates bezeichnet. An dieser Stelle findet sich auch eine Bezugnahme auf die anaxagoreische Tradition (28c). Vgl. auch leg. 897b. 251 Gemeint ist die auf Ast (1816) und Hermann (1839) zurückgehende entwicklungsgeschichtliche Deutung des platonischen Werks. Vgl. dazu Erler (2007a, 2–4). Zur aktuellen kritischen Diskussion des genetischen Ansatzes vgl. Söder (2009, 26–28). 252 Der dynamische Aspekt der von Platon thematisierten Persönlichkeitsbildung spiegelt sich in der häufig verwendeten Wegmetaphorik wider : Die Metaphern des Aufstiegs und Abstiegs, des Umlaufs der Seele, der Umkehr und Umwendung, des Auswegs und des Durchgangs durchziehen das ganze Werk. Platons Interesse an diesem Aspekt spiegelt sich auch in der Darstellung der Genese des besten Staates in der Politeia und der Kosmogonie im Timaios wider.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Seele

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der Selbsterkenntnis dargestellt werden. Die meisten Interpreten konzentrieren sich auf die identitätstheoretischen Erörterungen der zweiten Dialoghälfte und übersehen dabei, dass schon im ersten prüfenden Dialogteil ein bestimmtes Verständnis von Selbsterkenntnis entwickelt wird.253 Nach der sokratischen Prüfung gesteht Alkibiades in 116e ein, dass seine Meinungen über die Gerechtigkeit kaum Konsistenz aufweisen und durch Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit charakterisiert sind. In einer Analyse dieses Zustands führt Sokrates die Unbeständigkeit der Meinungen auf die fehlende Einsicht in die Erkenntnisdefizite – auf das Nichtwissen des Nichtwissens zurück: »Wenn du aber schwankst, ist es nicht aus dem vorigen klar, daß du nicht nur das Wichtigste nicht weißt, sondern auch nicht wissend es doch zu wissen glaubst?« (118a15– b2). Alkibiades sei in der Doxosophia befangen – die in diesem Zusammenhang als größter Unverstand bezeichnet wird (118b6) – und verwickle sich aus diesem Grund stets in neue Widersprüche. Die fehlende Erkenntnis des Nichtwissens wird in 124b mit dem delphischen Spruch verknüpft und damit explizit als Selbsterkenntnis ausgewiesen. Am Ende der Königsrede fordert Sokrates Alkibiades zu folgender Einsicht auf: »Also, Bester, gehorche nur mir und dem Spruch in Delphi, und ›Erkenne dich selbst‹« (( Akk(, § laj²qie, peihºlemor 1lo¸ te ja· t` 1m Dekvo?r cq²llati, Cm_hi sautºm 124a7–b2). Aus dem Kontext (vgl. insbes. 123d–124a) wird ersichtlich, dass hier die Einsicht in den Mangel an Erkenntnis und Tugend gemeint ist und die Aufforderung an 118a anknüpft. Wir finden folglich im Alkibiades I zwei verschiedene Konzeptionen der Selbsterkenntnis vor : Im prüfenden Teil des Gesprächs wird die im Elenchos zu erwerbende Erkenntnis des Nichtwissens als Selbsterkenntnis eingeführt. Im protreptisch-paränetischen Teil des Dialogs hingegen bestimmt Platon die Reflexion auf die Seele und das Vernunftvermögen als Selbsterkenntnis. Beide Konzepte werden mit dem delphischen Spruch cm_hi sautºm in Zusammenhang gebracht.254 Diese zweifache Auslegung der delphischen Maxime lässt sich auch in anderen Dialogen beobachten. In der berühmten Phaidros-Passage (229dff.) wird der delphische Imperativ analog zum Alkibiades I als eine Aufforderung zur Seelenreflexion interpretiert. Nachdem Sokrates in 229e5f. erklärt hat, dass er die delphische Forderung noch immer nicht erfüllen könne, führt er in einer nachfolgenden Erläuterung aus, dass er darüber nachdenke, ob er ein Ungeuer sei, »noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teiles von Natur erfreut« 253 Anders Moore (2015), der dezidiert auf die Selbsterkenntnis im ersten Dialogteil hinweist. 254 Zur Verbindung der Erkenntnis der Seele mit der delphischen Maxime vgl. Alk. I 129a, 130e, 132c.

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Selbsterkenntnis bei Platon

(Phaidr. 230a). Im Philebos (48cff.) hingegen deutet Sokrates die delphische Maxime als Erkenntnis der eigenen Defizite in den verschiedenen Identitätsbereichen, primär aber als Einsicht in den Mangel an Weisheit (sov¸a) und Tugend (!qet¶) (Phil. 48e8–49a3). Das delphische Wort wird hier in Anknüpfung an die Apologie mit der sokratischen Erkenntnis des Nichtwissens in Zusammenhang gebracht. Angesichts der differenten Auslegungen des cm_hi sautºm durch die verschiedenen Werkphasen hindurch ist zu fragen, in welchem systematischen Verhältnis die beiden Konzepte stehen. In der Forschung wird zumeist davon ausgegangen, dass die Erkenntnis des Nichtwissens eine erste geistig-philosophische Selbsterfahrung darstellt, die durch die Erkenntnis der Seele überschritten wird. So meint z. B. Beierwaltes (1991, 81), dass durch die Frage nach der Seele und dem Geist das sokratische Nichtwissen und die davon ausgelöste Frage nach der Tugend auf deren Möglichkeitsgrund zurückgeführt und in Richtung auf die eigentliche Selbsterkenntnis hin überstiegen werde. Die Erörterung der Seele sei als Erforschung jener Instanz zu verstehen, die den Denkakt der Wissensprüfung und Tugenduntersuchung sowie die entsprechenden Wissensresultate und Handlungskonsequenzen erst ermögliche: »die Seele als seiende, den Menschen wesentlich bestimmende Fähigkeit zu begreifendem Denken und zu bewußtem Verhalten und Handeln«.255 Diese Deutung erscheint als problematisch, wenn man sich die Prämissen der sokratischen Selbstprüfung vor Augen führt. Die im Frühwerk vorgeführte Wissensprüfung ist, wie oben dargestellt, eine Erforschung der Verfasstheit der Seele, die das Ziel einer personalen Bildung verfolgt. Untersucht wird, in welchem Zustand sich die seelischen Kräfte befinden, ob sie die für die Erfüllung der Sterungsfunktionen erforderliche Bestheit besitzen. Die Identifizierung dieser Art von Seelenprüfung mit der Selbsterkenntnis setzt die Annahme voraus, dass die Seele das eigentliche Selbst des Menschen ist. Die Erkenntnis der Seele, so wie sie im Alkibiades I konzipiert wird, wäre insofern eher im Sinn einer vorgän255 In etwas anderer Weise, aber von der Tendenz her ähnlich hat Carrera (2009, 329) das Verhältnis der beiden Konzeptionen bestimmt. Die Hinwendung zur seelischen Instanz sei als Rückgang zur Quelle des von der Erkenntnis des Nichtwissens aufgedeckten Irrtums zu verstehen: »Die Erkenntnis des eigenen Unwissens bedeutet zu begreifen, dass man sich bei der Suche nach dem Guten irren kann. Dies wiederum führt zur Untersuchung der Ursachen für diese Irrtümer, die in der psychologischen Konstitution der Menschen liegen«. Eine andere Variante findet sich bei Annas (1985). Annas deutet die in Alk. 124b entworfene Selbsterkenntnis als »knowledge of one’s proper place and role« (127) innerhalb der Gemeinschaft und die in 133c konzipierte geistige Selbstbeziehung als Einsicht in den überindividuellen, objektiven Logos, die auf einer tieferen Ebene angesiedelt sei: »He [Platon] takes self-knowledge to involve not just social facts, but, at the deepest level, facts about objective reality as a whole« (129). Die Selbsterkenntnis intendiere zunächst die Einbindung in die soziale Wirklichkeit, zuletzt aber die Einordnung in das Ganze.

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gigen Bewusstseinsleistung bzw. als Voraussetzung der Wissensprüfung zu deuten. Dass die Selbstprüfung im platonischen Verständnis eine höhere Form der Selbsterkenntnis bezeichnet, lässt sich auch im Hinblick auf das Ziel einer Persönlichkeitsbildung plausibel machen. Die Leistung der im Alkibiades I dargestellten Selbstreflexion besteht darin, die Vernunftseele als regierende, steuernde Instanz aufzuzeigen und sie damit in ihrem Wert und ihrer Funktion bewusst zu machen. In der sokratischen Wissensprüfung hingegen werden die inhaltlichen Prinzipien und Vorstellungen der Vernunftseele, die die konkreten Handlungsvollzüge bestimmen, reflektiert und dialektisch untersucht. Hier wird also eine materiale Erkenntnis der Vernunftseele gewonnen, die insofern höherrangig ist, als sie dem von Platon präferierten Ziel der Selbstformung viel näherkommt.256 Die These vom vorläufigen, propädeutischen Status der Seelenreflexion und dem Primat der Selbstprüfung lässt sich nicht zuletzt durch den Argumentationsgang und die Relation der beiden Dialogteile stützen. Die Ermahnung zur Selbstsorge in Alk. 127d/e und die Frage nach Modus und Gegenstand dieser Sorge (127e/128a) verweisen auf den protreptisch-paränetischen Charakter des zweiten Dialogteils. Worin das Ziel dieser Protreptik besteht, wird in der Schlusspassage angedeutet. Nachdem Sokrates Alkibiades am Ende des Gesprächs nochmals aufgefordert hat, sich um die Besserung seiner Seele zu bemühen, führt er abschließend folgenden Dialog mit ihm: Sokrates: Weißt du nun, wie du dem entfliehen sollst, was jetzt mit dir ist, damit wir es doch nicht nennen an einem trefflichen Manne? Alkibiades: Ich weiß wohl. Sokrates: Wie denn? Alkibiades: Wenn du willst, o Sokrates. Sokrates: Das sagst du nicht recht, o Alkibiades. Alkibiades: Wie muß ich denn sagen? Sokrates: Wenn Gott will. (Alk. I 135c12–d6)

Sokrates will sich an dieser Stelle vergewissern, ob Alkibiades, der im Dialog wiederholt die Frage nach der Art und Weise des Um-sich-Sorgens gestellt hat 256 Die Seelenreflexion lässt sich nur dann als tiefere Selbsterkenntnis deuten, wenn man die Annahme zugrunde legt, dass es Platon um einen Bewusstseinsprogress geht, der sukzessive die Möglichkeitsbedingungen des Handelns, Urteilens und Wissens aufdeckt. Diese Annahme ist jedoch problematisch. Platons Betonung der Paideia verweist darauf, dass es auch bei der Selbsterkenntnis wesentlich um Selbsttransformation und Selbstkonstitution geht (so auch Moore 2015). Das letzte Ziel ist nicht die Entdeckung des Selbst im Bewusstseinsakt, sondern die Selbstformung in der kritischen Prüfung der Wertüberzeugungen.

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(124b, 127e, 132b), nun verstanden hat, worin die notwendige Selbstsorge besteht. Alkibiades bejaht diese Frage und gibt zugleich zu erkennen, was er bezüglich dieser Sache aus dem ganzen Gespräch entnommen hat. Durch seine Frage nach der Bereitschaft des Sokrates, ihm bei der Bemühung um die Tugend Hilfe zu leisten (»Wenn du willst, o Sokrates« ( E±m bo¼k, s¼ 135d3), und die nachfolgende Bemerkung, dass er jetzt in verstärkter Weise die Gemeinschaft mit Sokrates suchen wolle (»denn es kann nicht fehlen, daß ich dich nicht überall begleiten sollte von diesem Tage an« 135d9), wird deutlich, dass Alkibiades die Selbstsorge mit dem sokratischen Dialog verbindet und der Meinung ist, durch das prüfende Tugendgespräch eine seelische Besserung zu erlangen.257 Sokrates’ Antwort »Wenn Gott will« (GOti 1±m he¹r 1h´k, 135d6)258 ist eine Bestätigung dieser Auffassung, die nur insofern korrigiert wird, als es nicht in der alleinigen Macht und Verfügung des Dialektikers steht, den seelischen Zustand einer anderen Person zu transformieren. Am Ende des Dialogs wird somit auf das prüfende Tugendgespräch als gemeinte Selbstsorge verwiesen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die identitätstheoretischen Erörterungen des zweiten Dialogteils von der Intention geleitet sind, zu jener dialektischen Tugenduntersuchung hinzuführen, die im ersten Dialogteil in anfänglicher Weise bereits realisiert worden ist. Man sollte sich hier nicht von der Dramaturgie des Dialoggeschehens irritieren lassen: Aus dem Faktum, dass die Wissensprüfung und Alkibiades’ Einsicht in die eigenen Defizite zu Beginn des Dialogs dargestellt werden und die identitätstheoretische, psychologische Reflexion erst im Verlauf des Gesprächs, nach dem Scheitern des Alkibiades Raum gewinnt, ist keineswegs der Schluss zu ziehen, dass die Erkenntnis des Nichtwissens im Prozess der Selbsterkenntnis eine erste Stufe bezeichnet. Bei der Deutung dieser Dialogdramaturgie ist zu beachten, dass in den platonischen Dialogen wiederholt auf die Schwierigkeit eines Erwerbs der Einsicht in das Nichtwissen sowie auf die Prozesshaftigkeit dieser Erkenntnis hingewiesen wird. Wie oben aufgezeigt, differenziert Platon im epistemischen Bereich zwischen Graden und Stufen der Einsicht. Das Erkennen beginnt mit der 257 Die am Ende aufscheinende Identifizierung von Selbstsorge und prüfender Selbsterforschung wird auch an anderen Stellen des Dialogs angedeutet. Nachdem Alkibiades in 127d seine Erkenntnisdefizite eingestanden und Sokrates ihn zur Sorgfalt auf sich selbst ermahnt hat, schließt sich folgender Dialog an: »Alkibiades: Was muß nun aber tun, wer es innegeworden ist, o Sokrates? Sokrates: Beantworten, was gefragt wird, o Alkibiades. Und wenn du das tust, werden wir uns, so Gott will, wenn ich anders auch meiner Weissagung etwas glauben darf, besser befinden, du und ich.« (Alk. I 127e3–6). Das prüfende Gespräch, so wird hier deutlich, ist die Realisierung der Sorge. So auch Karl (2010, 148). 258 Döring (1998, 161), hat darauf hingewiesen, dass die Berufung auf die göttliche Fügung (he¸a lo¸qa) nicht nur in den platonischen Dialogen (vgl. auch Tht. 150c/d, 151a), sondern auch im Alkibiades-Dialog des Aischines aus Sphettos im Kontext des Besserwerdens durch das sokratische Gespräch angeführt wird. Zur he¸a lo¸qa vgl. auch Meyer (1962, 79).

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äußeren Anerkennung der Logik eines Arguments oder Untersuchungsresultats und führt im Verlauf vieler Gespräche sukzessive zum Verständnis und zur innerlichen Aneignung des verstandesmäßig Erfassten. Dieses Moment des Sukzessiven, der allmählichen Aneignung zeichnet nicht nur die Sacheinsicht, sondern auch die Einsicht in das Nichtwissen aus. Die Transformation der Doxosophia in eine philosophische Einstellung ist nicht im Rahmen eines einzigen Tugendgesprächs zu erreichen, sondern bedarf der fortgesetzten Prüfung. Alkibiades hat mit der am Ende des Prüfungsteils erlangten Einsicht (127d) noch längst nicht die Erkenntnis des Nichtwissens in vollem Sinn erworben. Damit diese erste Erfahrung Erkenntnischarakter gewinnt und eine konstruktive Wirkung entfaltet, muss sie in weiteren prüfenden Gesprächen innerlich angeeignet und vertieft werden. Die im Dialog vollzogene Kreisbewegung von der Wissensprüfung über die Erörterung der Selbstsorge und des Selbst wieder zurück zur Wissensprüfung erhält von diesen Überlegungen her Sinn.

bb)

Seelenreflexion und Selbstformung im Phaidros (229ef.)

Gegen die These eines Primats der Wissensprüfung gegenüber der Erkenntnis der Seele, so wie sie im Alkibiades I entworfen wird, scheint der Dialog Phaidros zu sprechen. In der bereits angeführten Passage 229ef. deutet Sokrates die Reflexion auf Struktur und Wesen der Seele als langwieriges Projekt an, das prinzipiell unabschließbar ist: Ich kann noch immer nicht nach dem Delphischen Spruch mich selbst erkennen […], ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teiles von Natur erfreut. (oq d¼mala¸ py jat± t¹ Dekvij¹m cq²lla cm_mai 1lautºm7 […] eUte ti heq¸om tucw²my Tuv_mor pokupkoj¾teqom ja· l÷kkom 1pitehull´mom, eUte Bleq¾teqºm te ja· "pko¼steqom f`om, he¸ar tim¹r ja· !t¼vou lo¸qar v¼sei let´wom.) (Phaidr. 229e5ff.)

Die Reflexion auf die verschiedenen Kräfte der Seele und die Betrachtung der göttlichen Vernunftseele, die Parallelen zum Augengleichnis des Alkibiades I aufweist, scheinen hier als zentraler Inhalt und eigentliche Ausfüllung der delphischen Forderung verstanden zu werden. Bei der Interpretation dieser Passage ist jedoch alle Vorsicht geboten. Um einem Verständnis der Phaidros-Stelle näherzukommen, ist es hilfreich, Politeia 611b–612a heranzuziehen. In dem dort angeführten Vergleich der menschlichen Seelengestalt mit dem Meergott Glaukos wird zwischen verschiedenen Zuständen der Seele differenziert und die Erkenntnis der wahren Natur der Psyche von deren Bildung abhängig gemacht. Im ungebildeten, ungereinigten Zustand gleiche der Anblick unserer Seele einem Ungeheuer. So wie die Gestalt des am Meeresgrund liegenden Glaukos, dessen ursprüngliche Form kaum noch zu erkennen ist, weil seine Gliedmaßen

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zerschlagen und beschädigt und dem Körper Muscheln, Tang und Gestein angewachsen sind, sei auch die eigentümliche Gestalt der menschlichen Seele aufgrund von Verformungen kaum sichtbar. Um die wahre Natur der Psyche wenigstens zu erahnen, müsse man auf deren Vernunftvermögen blicken, auf die nach Erkenntnis suchende, überlegende, sich beratende Kraft: »Aber […] dorthin müssen wir unsere Blicke richten. […] Auf ihr weisheitsliebendes Wesen (eQr tµm vikosov¸am aqt/r) und müssen bemerken (1mmoe?m), wonach dieses trachtet und was für Unterhaltungen es sucht, als dem Göttlichen und Unsterblichen und immer Seienden verwandt« (rep. 611d/e).259 Je mehr dieses Wesen verwirklicht werde, desto deutlicher komme die Natur der Seele zum Vorschein, desto besser könne sie erkannt werden: Was sie [sc. die Seele] aber der Wahrheit nach ist (oWom d( 1st·m t0 !kghe¸ô), das muß man nicht an ihr sehen wollen, verunstaltet, wie wir sie jetzt nur sehen, durch die Gemeinschaft mit dem Leibe und durch andere Übel; sondern so, wie sie ist, wenn sie sich reinigt (!kk( oWom 1stim jahaq¹m cicmºlemom), so müssen wir sie mit dem Verstande aufmerksam in Augenschein nehmen, und viel schöner (pok» j²kkiom) wirst du sie dann finden […]. (rep. 611b10–c4)

Worin die Reinigung (j²haqsir) der Seele besteht260, lässt sich im Hinblick auf Phaidon 68c–69c erschließen. In Phaid. 68c–69c setzt Platon der pythagoreischorphischen Tradition einen philosophischen Begriff von Katharsis entgegen, der die Reinigung als Befreiung von den irrtümlichen Vorstellungen über das Gute und den damit verbundenen ›Schattentugenden‹ (69b6f.) versteht. Das spezifische Merkmal dieser Katharsis-Konzeption besteht in der Synthetisierung von Reinigungshandlungen und Vernunfttätigkeit (vqºmgsir).261 Die Vernunftver-

259 Hier ist die Parallele zum Augengleichnis des Alkibiades I besonders deutlich. Vgl. Alk. I 133b7–c6. 260 Die Katharsis der Seele bezieht sich auf die vorhandenen Vorstellungen vom Guten und die leibbezogenen Begierden und Strebungen, die durch die Muschel- und Tangmetapher dargestellt werden. In Bezug auf das Vernunftorgan selbst spricht Platon weniger von Katharsis als vielmehr von Bildung (paide¸a), die durch Umlenkung (peqiacyc¶) und Richtungsänderung geschieht (rep. 518c/d). 261 Ähnlich Zehnpfennig (1991, 183 Fußn. 59): »Das ist die sokratische Umdeutung des orphisch-pythagoreischen Reinigungsbegriffs: Reinigung vom Sinnlichen nicht durch Askese, sondern durch Orientierung an einem nicht-sinnlichen Maßstab für das Leben, der Vernunft.« Wildberg (2007, 233) deutet die Passage im Sinn einer Katharsis-Konzeption, die auf die Reinigung von Lust, Unlust, Furcht bezogen ist. Dagegen wäre einzuwenden, dass Platon an dieser Stelle die Befreiung von den ›Schattenbildern‹ der Tugend (69b6–9) und die Realisierung der ›wahren Tugend‹ (!kghµr !qet¶ let± vqom¶seyr) betont, die keineswegs asketisch als Freiheit von Lust und Furcht verstanden wird. Als entscheidend betrachtet Platon die Fundierung der Tugend in der Vernunft, »mögen nun Lust und Furcht und alles übrige der Art dazukommen oder nicht dazukommen« ja· pqoscicmol´mym ja· !pocicmol´mym ja· Bdom_m ja· vºbym ja· t_m %kkym p²mtym t_m toio¼tym Phaid. 69b4f.

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wirklichung und die damit einhergehende Bildung der seelischen Kräfte zur Bestheit sind nach dieser Auffassung mit dem Akt der Katharsis identisch262 : Das Wahre ist aber gerade Reinigung von dergleichen allem [sc. von den Schattenbildern der Tugend], und Besonnenheit und Gerechtigkeit und Tapferkeit und die Vernunfteinsicht selbst sind Reinigungen (t¹ d( !kgh³r t` emti × j²haqs¸r tir t_m toio¼tym p²mtym ja· B syvqos¼mg ja· B dijaios¼mg ja· !mdqe¸a, ja· aqtµ B vqºmgsir lµ jahaqlºr tir ×). (Phaid. 69b8–c2)

Hier wird also nicht zwischen kathartischen Handlungen und der dadurch erst ermöglichten Geisttätigkeit unterschieden, vielmehr wird die Vernunfteinsicht selbst als das entscheidende Reinigungsmittel, als jahaqlºr aufgefasst.263 Betrachtet man diese Aussagen im Zusammenhang mit der Glaukos-Metapher, so wird Folgendes deutlich: Als Voraussetzung einer gelingenden Betrachtung der Natur der Seele wird in der Glaukos-Passage die Reinigung und Bildung der seelischen Kräfte angeführt. Eine durch Klarheit und Deutlichkeit ausgezeichnete Erkenntnis der Seele ist erst dann möglich, wenn deren Natur durch die Ausübung der Vernunfttätigkeit an Gestalt gewonnen hat und eine Reinigung vollzogen worden ist. Die als Befreiung von den falschen Meinungen über das Gute sowie von den Schattenbildern (sjiacqav¸a) der Tugend verstandene Katharsis aber verweist auf die Wissensprüfung, die somit auch hier als zentrales Element innerhalb des Selbsterkenntnis-Projektes aufscheint.264 Im Glaukos-Gleichnis wird noch ein weiterer Aspekt der Relation zwischen Seelenreflexion und Wissensprüfung sichtbar. Die Passage deutet auf eine spiralförmige Bewegung hin, in der eine Steigerung der Einsicht erzielt wird.265 Die anfängliche Betrachtung der Seele vermag aufgrund des ungebildeten Zustands nur zu einer undeutlichen Erkenntnis von deren Natur zu führen. Wird nach der Realisierung von Wissensprüfung und Wahrheitssuche erneut eine Selbsterkenntnis im Sinn einer psychologischen Reflexion unternommen, so ist diese aufgrund der erreichten Bildung und Reinigung der Seele mit einem höheren Grad an Deutlichkeit verbunden. Da der Prozess der Selbstbildung, wie oben aufgezeigt, 262 Ähnlich jüngst Ortiz de Landazuri (2015, 134). 263 Das wird in der Forschung häufig übersehen. So nimmt z. B. Göbel (2002, 57f., 60f.) an, dass nach platonischer Sichtweise der Körper das eigentliche Hindernis der Wahrheitserkenntnis ist und die asketische Reinigung von körperlichen Begierden und körperbezogenen Vorstellungen die Voraussetzung des geistigen Erkenntnisaufstiegs ist. Dies sind jedoch pythagoreische Auffassungen, von denen sich der platonische Sokrates im Phaidon, auf den sich Göbel bei seiner These stützt, distanziert. In seiner Rede über die ›echten‹ Philosophen (66b–67b) referiert Sokrates die pythagoreischen Meinungen (die den Überzeugungen seiner Gesprächspartner Simmias und Kebes entsprechen), um sich sogleich von ihnen abzugrenzen (68cff.). 264 So auch Moore (2015). 265 Ähnlich Moore (2015, 40, 136–184), der einen Prozess annimmt, in dem sich Selbstkonstitution und Selbstreflexion wechselseitig steigern.

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aufgrund der unendlichen graduellen Vertiefung der Einsicht prinzipiell unabschließbar ist, zeichnet sich auch die Seelenreflexion durch den Charakter des infiniten Progressus aus. Eben dies wird in der Phaidros-Passage durch die Aussage des Sokrates, dass er noch immer nicht sich selbst erkennen könne, ob er ein Ungeheuer oder ein milderes, einfacheres Wesen sei (Phaidr. 229e), angedeutet. Die Phaidros-Passage, so das Resümee dieser kurzen Betrachtung, steht also keineswegs in Spannung zu der oben aufgestellten These vom Primat der Wissensprüfung, sondern kann als Bestätigung dieser These angesehen werden. Auch im Phaidros scheint die Seelenreflexion mit dem Projekt einer Persönlichkeitsbildung verbunden zu sein, die auf die Formung und Gestaltung der Vernunftseele und der Seele im Ganzen zielt.266

cc)

Der Zusammenhang von Selbstsorge und Selbsterkenntnis

Vor dem Hintergrund der Betrachtung der verschiedenen Formen der epistemischen Selbstbeziehung und deren Relation zueinander kann jetzt das Verhältnis von Selbstsorge und Selbsterkenntnis, so wie es im Alkibiades I aufscheint, genauer bestimmt werden. Aufgrund der verschiedenen Arten der Selbsterkenntnis und der verschiedenen Grade von Selbstsorge lässt sich der Zusammenhang nicht durch eine einfache Relation bestimmen. Wir finden hier vielmehr ein kompliziertes Geflecht von Konditionalverhältnissen und Identitätsbeziehungen vor : 1) Die als Selbsterkenntnis bestimmte Reflexion der Seele und des Vernunftvermögens ist eine Voraussetzung und Bedingung der Selbstsorge. 2) Die Selbstsorge ist identisch mit einer Form der Selbsterkenntnis – mit der Einsicht in das Nichtwissen und der dadurch begründeten Wahrheitssuche. 3) Die Seelenreflexion ist nicht nur Voraussetzung, sondern selbst schon eine erste Ausprägung und Gestalt der Selbstsorge. Zu 1): Das Bedingungsverhältnis zwischen der Betrachtung der Seele und der Selbstsorge ist oben bereits ausführlich thematisiert worden. Um die Selbstsorge realisieren zu können, muss zunächst eine vorläufige Klärung des Gegenstandsbereichs der Sorge erfolgen: »was heißt es doch, auf sich selbst Sorgfalt wenden, damit wir nicht etwa gar, ohne es zu wissen, nichts weniger als für uns selbst sorgen und es doch glauben« (Alk. I 127e8–128a2; vgl. auch Alk. I 129a, 132b7–9). Die richtige Sorge ist von der Einsicht abhängig, dass die Seele das Steuerungszentrum der Person bildet und besonderer Bemühungen bedarf. Ungeklärt bleibt hier freilich, ob diese Art von Selbstreflexion eine notwendige Bedingung bezeichnet. Ist die Person nur dann zur Selbstsorge fähig, wenn sie 266 Es wäre noch zu prüfen, welchen Stellenwert die psychologischen Reflexionen in Phaidr. 245cff. haben, ob diese auch in dem hier vorgeschlagenen Sinn zu deuten sind. Die oben aufgestellte These bezieht sich zunächst nur auf Phaidr. 229ef.

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klar zwischen den äußeren Besitzverhältnissen, der leiblichen Sphäre und den geistig-seelischen Kräften differenzieren kann und sich der Funktion und der Bedeutung der Seele für den Lebensvollzug im Ganzen bewusst geworden ist? Der Alkibiades I gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Vorstellbar wäre auch eine nachträgliche oder eingeschobene Selbstreflexion, so wie sie in Phaidros 229ff. anklingt. Mit Sicherheit wird man jedoch sagen können, dass bei Platon beide Momente miteinander verbunden sind. Die Person, die ernsthaft und fortschreitend um sich selbst sorgt, wird auch ein Selbstwissen, so wie es im Alkibiades I angedeutet ist, entwickeln. Zu 2) Die Identität von Selbstsorge und einer bestimmten Form der Selbsterkenntnis ist ebenfalls schon angedeutet worden. Aus der Annahme, dass das Selbst mit der Seele und im engeren Sinn mit der Vernunft identisch ist, wird im Alkibiades I die Schlussfolgerung gezogen (Alk. I 131d1f., 131d7, 132b1f., 132c1f.,), dass die Selbstsorge in der Bemühung um den besten Zustand der seelischen Kräfte und des steuernden Vernunftvermögens besteht. Der beste Zustand der Seele aber ist die tugendhafte Verfassung, sodass die Selbstsorge im Streben nach der Tugend aufgeht (Alk. I 135b/c). Da die intellektuellen Tugenden der Einsicht (vqºmgsir) und Weisheit (sov¸a) eine fundierende und konstituierende Funktion hinsichtlich der Charaktertugenden ausüben und insofern die zentrale Tugend der Seele darstellen (B xuw/r !qet¶ Alk. I 133b8), lässt sich die gemeinte Selbstsorge als Suche nach Erkenntnis und Vernunfteinsicht präzisieren (ja· l²he $ de? lahºmta Alk. I 132b1f.). In diesen Zusammenhang von Sorge und Suche ist auch die Erkenntnis des Nichtwissens einzuordnen. Wie oben ausgeführt, konzipiert Platon diese Einsicht als auslösendes und tragendes Moment der Wahrheitssuche und verbindet sie mit persönlichkeitsgestaltenden Effekten. Die Erkenntnis des Nichtwissens scheint vor diesem Hintergrund als wesentlicher Bestandteil der gemeinten Selbstsorge auf. Indem sie die Seele vom größten Unverstand – von der Doxosophia – befreit und die Zwiespältigkeit im Denken aufhebt (Alk. I 118a/b), führt sie bereits zu einer Besserung der Vernunftseele und stellt insofern eine Realisierung der Selbstsorge dar. Zu 3) Die Erkenntnis der Seele ist nicht nur Voraussetzung, sondern ebenfalls schon eine bestimmte Gestalt der Selbstsorge. Durch die Differenzierung der Identitätsbereiche und die Einsicht in die lenkende Funktion der Seele verlieren die herkömmlichen materialen, sozialen und leiblich-physischen Identifikationsmuster an fragloser Geltung. In anfänglicher Weise wird hier ein ganz neues Selbstverständnis gewonnen. Der Bestimmungsgrund der Identität verschiebt sich in den Innenbereich der Person. Das sich-selbst-erkennende Individuum bestimmt sich in zunehmender Weise durch die seelisch-geistigen Qualitäten. Mit diesem modifizierten Selbstverständnis ist ein neues praktisches Selbstverhältnis verbunden. Die Veränderung der Identifikationsmuster hat Rückwirkungen auf die Strebensziele. Die Sorge um die Sicherung und Vermehrung

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Selbsterkenntnis bei Platon

des Besitzes, um die Bedürfnisse des Leibes und die körperliche Erscheinungsform, um soziale Geltung und Prestige verliert an Exklusivität und erfährt eine gewisse Beschränkung. Die Hinwendung zum seelischen Selbst fungiert als eine Art regulatives Prinzip und hat eine mäßigende Wirkung in Bezug auf die Sorge um ›das Seinige‹ und ›das des Seinigen‹. Die Reflexion auf die Seele ist auch noch in einer anderen Hinsicht persönlichkeitsformend und damit eine Verwirklichung der Selbstsorge. In der Interpretation des Alkibiades I hat sich gezeigt, dass das von Platon angeführte Gebrauchsargument ein Freiheits- und Verantwortungsmotiv impliziert. Der Gedanke, dass der Mensch Werkzeuge, Technik und auch seine körperlichen Organe und seine Physis im Ganzen zu bestimmten, selbstgewählten Zwecken gebraucht, enthält die Einsicht in die spezifisch menschliche Möglichkeit, zu den Dingen und zur Körperlichkeit in ein Verhältnis zu treten und zwischen verschiedenen Modi des Umgangs zu wählen. Die Reflexion auf die gebrauchende seelische Instanz ist insofern mit der Einsicht in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Als bewusstes Wesen, das Handlungsvollzüge zu steuern und in die Lebensverhältnisse gestaltend einzugreifen vermag, ist der Mensch verantwortlich für einen gelingenden Lebensvollzug. Diese Einsicht ist nicht nur Voraussetzung einer Selbstformung, sondern besitzt selbst schon persönlichkeitsbildende Wirkung.

e)

Sophistische Selbsterkenntnis im Dialog Charmides

aa)

Selbsterkenntnis als selbstbezügliche Erkenntnis (Charm. 166b/c)

Bevor sich die Untersuchung der von Platon als höchste Form der Selbsterkenntnis bestimmten Erkenntnis des Guten zuwendet, soll ein Blick auf den Dialog Charmides geworfen werden, in dem die epistemische Selbstbeziehung ebenfalls thematisch präsent ist. In dem frühen Dialog wird eine Konzeption der Selbsterkenntnis präsentiert, die der im Alkibiades I dargestellten Erkenntnis der Vernunftseele ganz ähnlich zu sein scheint. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die beiden Konzepte erhebliche Unterschiede aufweisen. Vieles deutet darauf hin, dass Platon hier eine sophistische Konzeption der Selbsterkenntnis zur Darstellung bringt und in ihrer Problematik erörtert. Zunächst sei kurz der Argumentationszusammenhang skizziert. Das Motiv der Selbsterkenntnis wird im Charmides im Rahmen eines Gesprächs über die Tugend der Besonnenheit (syvqos¼mg) erörtert. Gesprächspartner ist zunächst der junge Charmides, der von seinem Vetter Kritias als besonders tugendhaft und begabt ausgezeichnet wurde (157d) und nun von Sokrates geprüft wird (158eff.), ob er über die ihm zugesprochene Sophrosyne

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tatsächlich verfügt. Nachdem die ersten beiden Anworten, die die gesuchte Tugend im Bereich der wahrnehmbaren Phänomene (159b) und auf der Ebene der charakterlichen Dispositionen (aQd¾r 160e) verortet haben, aufgrund ihrer Ambivalenz gescheitert sind, bestimmt Charmides im dritten Anlauf das ›Tun des Seinen‹ (t¹ t± 2autoO pq²tteim 161b) als Sophrosyne. Da der Bedeutungsgehalt des Begriffs des ›Seinen‹ nicht unmittelbar evident ist und dieses Prinzip in sehr unterschiedlicher Weise verstanden werden kann, wird in der folgenden Argumentation nach der inhaltlichen Ausfüllung des Abstraktums gefragt (162b). Kritias, der an dieser Stelle ins Gespräch einsteigt und der diskutierten Tugendbestimmung argumentativ beizustehen versucht, legt das Handlungsprinzip als ›Tun des Guten‹ (t_m !cah_m pq÷nim) aus (163e). Bei seiner Argumentation bezieht er sich in Anknüpfung an 161d–162a auf den Bereich der technischen Güterproduktion und verbindet diesen mit den Kategorien des Guten und Schönen: Das ›Tun des Seinen‹ sei eine Hervorbringung von schönen und nützlichen Werken (5qca) (163b/c). Diese Tugendbestimmung erweist sich jedoch in der Untersuchung als problematisch, da sie einseitig das Tätigkeitsmoment und die qualitativ wertvollen Handlungsresultate zum Kriterium der Tugend erhebt und das Wissenselement völlig unbeachtet lässt. Bestimmt man die Besonnenheit in dieser Weise, so erhält man eine reine Werktugend, die der begründenden Reflexion ermangelt. Auf dieses Problem weist Sokrates mit seinem Einwand hin, dass man nach dieser Bestimmung besonnen handeln kann, ohne zu wissen, dass man besonnen handelt (164a–c). Für Kritias ist der Einwand Anlass, die vorherige Bestimmung zu verwerfen und das Sich-selbst-Kennen (t¹ cicm¾sjeim 2autºm) als Sophrosyne zu bestimmen. Um diesen Neuansatz autoritativ zu stützen, beruft er sich auf das delphische Orakel und den Spruch Cm_hi sautºm. Die am Apollontempel angebrachte Maxime sei als Aufforderung zur Besonnenheit zu verstehen. Kritias’ Bezugnahme auf Delphi mündet in die Erklärung, dass die Selbsterkenntnis und die Tugend der Besonnenheit identisch sind: »Das ›Erkenne dich selbst‹ und ›Sei besonnen‹ ist also […] dasselbe, wie jener Spruch behauptet und ich« (t¹ c±q Cm_hi sautºm ja· t¹ Syvqºmei 5stim l³m taqtºm, ¢r t± cq²llat² vgsim ja· 1c¾ 164e7–165a2).267 Um Kritias zur Präzisierung und Explikation der angeführten Selbsterkenntnis zu bewegen, fragt Sokrates nach Werk und Gegenstand der gemeinten Einsicht (165cff.). Kritias’ Bestimmung des besonderen Gegenstandes der Selbsterkenntnis erfolgt durch eine Abgrenzung von verschiedenen Wissenschaftsbereichen und Wissensarten. Thematisiert und spezifiziert werden in diesem Zusammenhang die praktisch-hervorbringenden und die theoretischen 267 Die enge Verbindung von Selbsterkenntnis und Sophrosyne ist traditionelles Gedankengut. Siehe dazu oben Teil A II 3c.

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Wissenschaften. Die poietischen Kompetenzen – wie z. B. Heilkunst und Baukunst – sind dadurch charakterisiert, dass sie mit Hilfe von Sachwissen und technischem Können etwas herstellen (165c/d). Die theoretischen Wissenschaften wie Mathematik und Geometrie sind zwar auch durch die Bezogenheit auf einen bestimmten Sachgegenstand gekennzeichnet (166a/b); das Verhältnis zu diesem Gegenstand ist jedoch rein epistemischer Natur (165e/166a). In Abgrenzung zu diesen beiden Wissensformen bestimmt Kritias die Selbsterkenntnis als Wissen, das allen konkreten Wirkungsbereichen und Gegenstandsbezügen enthoben ist und als eine Art Metawissenschaft fungiert. Die Selbsterkenntnis sei von ganz anderer Art als die hervorbringenden Künste, da sie – analog zu den theoretischen Wissenschaften – kein konkretes Werk (5qcom) erzeuge (165ef.). Von den theoretischen Wissenschaften sei sie insofern unterschieden, als sie keinen Objektbereich außerhalb ihrer selbst besitze, sondern sich auf das Erkennen selbst beziehe. Die gemeinte Erkenntnis weise bezüglich des Referenzpunktes keine strukturelle Ähnlichkeit mit den anderen Wissenschaften und Fachkompetenzen auf, »sondern die übrigen alle sind Arten des Wissens von etwas anderem, aber nicht von sich selbst, sie allein aber ist sowohl das Wissen von den anderen Arten des Wissens als auch selbst ihrer selbst« (!kk( aR l³m %kkai p÷sai %kkou eQs·m 1pist/lai, 2aut_m d( ou, B d³ lºmg t_m te %kkym 1pistgl_m 1pist¶lg 1st· ja· aqtµ 2aut/r 166c1–3). Die hier formulierte Konzeption einer selbstbezüglichen Erkenntnis hat keineswegs die Funktion einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, sondern steht durch ihre Einbindung in die Tugendproblematik – im Dialog geht es ja um die Erörterung der Sophrosyne – in einem praktischen Kontext. Die angeführte 1pist¶lg 2aut/r bezeichnet das Selbstwissen als epistemisches Subjekt, das auf der Grundlage von Erkenntnis agiert und in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens am Wissen orientiert ist. Das gemeinte Selbstbewusstsein ist über den handlungstheoretischen Aspekt hinaus mit verschiedenen Annahmen verbunden, die im Folgenden expliziert werden sollen. 1) Durch die Bestimmung der Wissensreflexion als Selbsterkenntnis erfolgt eine indirekte Identifizierung von Erkenntnisfähigkeit und Selbst, die mit Annahmen über die Bedeutung des Wissens für das eigene Selbstverständnis und die Lebensgestaltung verknüpft ist. Die Erkenntniskraft mit ihren verschiedenen Ausformungen wird hier als zentrale Qualität zugrunde gelegt, über die sich die Person primär bestimmt und die das personale Handeln in den verschiedenen Lebensbereichen koordiniert, lenkt, leitet. 2) Eine zweite wichtige Prämisse von Kritias’ Konzeption besteht in der Leitfunktion der Selbsterkenntnis. Betrachtet man die vollständige Bestimmung der Sophrosyne (»sie allein aber ist sowohl das Wissen von den anderen Arten des Wissens als auch selbst ihrer selbst« B d³ lºmg t_m te %kkym 1pistgl_m

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1pist¶lg 1st· ja· aqtµ 2aut/r 166c1–3), so wird deutlich, dass hier eine umfassende Wissensreflexion gemeint ist. Epistemisches Selbstbewusstsein umfasst bei Kritias nicht nur das Wissen von der allgemeinen menschlichen Wissensfähigkeit, sondern ist mit dem Bewusstsein der besonderen Wissensformen – technische, praktische, theoretische Kompetenzen – und der besonderen Objektbereiche verbunden. Dieses umfassende, auf einer Metaebene angesiedelte Wissenschaftsbewusstsein begründet nach Kritias die Führungsfunktion der Selbsterkenntnis im Wissenschaftssystem. Die beanspruchte Leitfunktion zeichnet sich in der in 165c–166c vorgenommenen Gegenstandsbestimmung ab. Kritias nimmt an dieser Stelle nicht nur eine Differenzierung der Wissenschaften, sondern auch eine Hierarchisierung vor : Die theoretischen Wissenschaften sind den praktisch-hervorbringenden Künsten übergeordnet; die Selbsterkenntnis hingegen ist beiden Wissensarten vorgeordnet und steht über allen Kenntnissen an der Spitze der Wissenspyramide.268 An späterer Stelle des Dialogs wird die Leitfunktion der Selbsterkenntnis explizit formuliert und in einen politischen Kontext gerückt. Im Zusammenhang mit der Nutzen-Thematik betont Kritias die Herrschaftsfunktion der Selbsterkenntnis gegenüber den anderen Wissenschaften und verbindet diese Führungsrolle mit politischen Aufgaben. Die 1pist¶lg 2aut/r ist das Regierende (t¹ %qwom) über alle Künste und Wissenschaften (174e).269 3) Von besonderer Bedeutung sind die Wertannahmen, die in Kritias’ Konzeption impliziert sind. Durch die thematische Einbindung der Selbsterkenntnis in die Tugendproblematik werden hier bestimmte Annahmen über das Gute und die menschliche Bestheit zugrunde gelegt. Die Formulierung der Selbsterkenntnis als selbstbezügliches Wissen ist ja im Dialog eine Antwort auf die Frage nach der Sophrosyne (vgl. 164d–165b), die das Leitthema des gesamten Gesprächs darstellt. Das epistemische Selbstbewusstsein wird damit unter Wertbegriffe subsumiert und mit der Tugend identifiziert. Das implizierte Wertverständnis zeigt sich deutlicher, wenn man die funktionale Bedeutung der Selbsterkenntnis in den Blick nimmt. Die Einführung der Selbsterkenntnis hat im Dialog erkennbar die Funktion, das zuvor angeführte Handlungsprinzip ›Tun des Guten‹ (t_m !cah_m pq÷nim) zu begründen. Der Begründungszusammenhang erschließt sich über die handlungsleitende Bedeutung, die hier dem Wissen zugesprochen wird. Das Wissen ist das fundierende Moment, das die Richtigkeit und Bestheit des Handelns gewährleistet (vgl. 268 Die überlegene Stellung der Selbsterkenntnis wird an dieser Stelle nicht explizit begründet. Aus dem Kontext lässt sich jedoch erschließen, dass der exklusive Rang in dem Bewusstsein von Bedeutung und Wert der Wissensfähigkeit sowie der Kenntnis der zentralen Wissensbereiche (vgl. 174d7ff.) begründet wird und das epistemische Selbstbewusstsein insofern das höchste Wissen ist. 269 Vgl. auch Charm. 174e1.

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Charm. 172a2, 173d3).270 Es ist, wenn man es in Wertkategorien ausdrückt, das Gute an der Handlung. In der Selbsterkenntnis, so wie Kritias sie versteht, wird dieses Prinzip bewusst gemacht und damit ein am Wissen orientiertes Wertbewusstsein gewonnen. Die Wertannahme, die Kritias’ Konzept zugrunde liegt, besteht in einer Identifizierung des Wissens und der Wissensfähigkeit mit dem Guten.271 Der ganze folgende Dialog besteht in einer Prüfung dieser Besonnenheitsbestimmung. Nachdem Sokrates zunächst einige Implikationen der von Kritias angeführten Selbsterkenntnis aufgezeigt hat (166e8–167a8), untersucht er in 167c–169b die Möglichkeit einer selbstbezüglichen Erkenntnis und anschließend deren Nutzen mit dem Resultat, dass ein rein auf sich selbst bezogenes Erkennen problematisch ist und diese Einsicht, selbst wenn sie möglich sein sollte, im lebenspraktischen Kontext keinerlei Wert besitzt (174d–175a). In der Forschungsliteratur wird der Charmides höchst unterschiedlich gedeutet. Im Wesentlichen lassen sich hier zwei Deutungsrichtungen unterscheiden. Viele Interpreten verstehen den Dialog als konstruktiven Beitrag zur platonischen Theorie der Selbsterkenntnis. Dabei wird die im Gespräch entwickelte 1pist¶lg 2aut/r im Sinn einer anthropologischen, wissenschaftsfundierenden Einsicht in die menschliche Erkenntnisfähigkeit (Wilkins 1917 u. 1929; Gloy 1986; Göbel 2002), als Wissen von den formalen Bedingungen des Wissens (Carone 1998), als Kenntnis der individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten, die das ›Tun des Seinen‹ begründet (Rappe 1995) oder als »inner knowledge of good and evil« (Ortiz de Landazuri 2015, 139) verstanden. Andere Interpreten deuten den Charmides unter Bezugnahme auf die Einwände im zweiten Dialogteil eher im Sinn einer aporetisch-kritischen Reflexion auf die Möglichkeit und Leistungsfähigkeit der Selbsterkenntnis. Auch hier gibt es unterschiedliche Deutungsvarianten. Die von Sokrates angeführten kritischen Einwände gegen die 1pist¶lg 2aut/r (167b ff.) werden 1) als Infragestellung der Möglichkeit einer begrifflich-wissenschaftlichen Darstellung der Selbsterkenntnis (Zantop 1958), 2) als Zweifel am Wissenscharakter der Selbsterkenntnis (Rosen 1972/73; Annas 1985), 3) als Nachweis der Unmög270 Der Begründungszusammenhang wird in Charm. 173d deutlich. Nachdem Sokrates seinen Zweifel darüber bekundet hat, dass die Orientierung am Wissen nicht als solche schon ein gutes und glückliches Leben verbürgt, antwortet Kritias: »Aber […] du wirst doch nicht leicht ein anderes Ziel des Gutlebens finden, wenn das erkenntnismäßig dir zu schlecht ist« ()kk± l´mtoi, G d( fr, oq Nôd¸yr erq¶seir %kko ti t´kor toO ew pq²tteim, 1±m t¹ 1pistglºmyr !til²s,r Charm. 173d5f.). Das Wissen ist nach Kritias Garant des guten Handelns und Lebens und nimmt damit selbst den Stellenwert des höchsten Wertes ein. Diese These wird in der folgenden Passage in Frage gestellt und modifiziert: Nicht das Wissen überhaupt, sondern die Erkenntnis des Guten verbürgt das gute und glückliche Leben (Charm. 174b/c). 271 Darin lässt sich die Nähe zur Sophistik beobachten. Vgl. die in Platon rep. 505b diskutierte Auffassung des Guten, die wohl insbesondere der Sophistik zuzuschreiben ist.

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lichkeit eines Wissens des Wissens (Benson 2003), 4) als Zweifel an der Möglichkeit einer absoluten Selbsterkenntnis im Sinn eines rein formalen Wissens des Wissens und Nichtwissens (Hager 1995; Sorabji 2006) oder 5) als Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Selbsterkenntnis (McKim 1985) gedeutet. So unterschiedlich diese Deutungen im Einzelnen sind, so weisen sie jedoch bestimmte Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Prämissen auf. Sowohl die konstruktiven als auch die skeptisch-aporetischen Deutungen gehen davon aus, dass hier platonische Auffassungen über Bedeutungsgehalt, Möglichkeit und Leistungsfähigkeit der Selbsterkenntnis dargestellt werden.272 Mit dieser Prämisse in engem Zusammenhang steht die häufig getroffene Annahme, dass die 1pist¶lg 2aut/r Ähnlichkeiten mit dem Augengleichnis des Alkibiades I aufweist und zwischen beiden Konzeptionen der Selbsterkenntnis große Übereinstimmungen bestehen. So interpretiert z. B. Göbel (2002) die ›Erkenntnis der Erkenntnis‹ als erste Entfaltung jener anthropologisch-psychologischen Einsicht, die im Alkibiades I als Selbsterkenntnis konzipiert werde. »Denn Erkenntnis der Erkenntnis ist Erkenntnis der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und als solche Voraussetzung, Grund und Möglichkeitsbedingung aller übrigen Erkenntnis. Sie ist Erkenntnis des Intellekts als Wesenskern des menschlichen Seins« (40). Beide Annahmen – sowohl die Identifizierung der Ausführungen im Charmides mit platonischen Auffassungen als auch die Kongruenzthese – sind problematisch. Seit den Platon-Studien von Julius Stenzel ([1916] 1961a; [1928] 1961b), Werner Jaeger ([1937] 1960) und Paul Friedländer ([1928/30] 1964), die das in der Platonforschung des 19. Jahrhunderts vorherrschende Missverständnis des Dialogs als bloße künstlerische Einkleidung der platonischen Lehre korrigiert und die Dialogform wieder stärker beachtet haben, sind eine Fülle von Arbeiten zum Dialog als Strukturmoment des platonischen Philosophierens

272 Diese Annahme wird auch von jenen Interpreten zugrunde gelegt, die konstruktive und kritische Momente zu verknüpfen suchen. Die konstruktiv-kritischen Deutungen unterscheiden im Charmides in der Regel zwischen einer sophistischen Selbsterkenntnis (1pist¶lg 2aut/r ja· t_m %kkym 1pistgl_m Charm. 166c), die zurückgewiesen (Schmid 1998; Stern 1999) oder aber in bestimmten Aspekten positiv aufgegriffen werde (Sue 2006), und der sokratischen Selbsterkenntnis (t¹ eQd´mai û te oWdem ja· $ lµ oWdem Charm. 167a), die im Dialog zum einen sachlich exponiert (Stern 1999; Schmid 1998; Sue 2006) und ergänzt (Sue 2006), zum anderen aber hinsichtlich der praktischen Funktion eingeschränkt werde (Schmid 1998; Sue 2006). Dagegen hat Bachmann (2007) zu Recht eingewendet, dass in 167a nicht die sokratische Selbsterkenntnis exponiert wird, sondern die Implikationen der sophistischen 1pist¶lg 2aut/r aufgezeigt werden. Vgl. auch Carone (1998). Ähnlich, aber nicht ganz so eindeutig Moore (2015, 88–90), der in Charm. 167a eine sokratische Formulierung der Kritias-Definition sieht, die in ihrer personalen Dimension zwar der sokratischen Selbsterkenntnis entspricht, ansonsten aber eine im Alltag verbreitete Auffassung der Selbstreflexion bezeichnet.

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publiziert worden.273 In diesem Zusammenhang hat man wiederholt darauf hingewiesen, dass die im Frühwerk gestalteten philosophischen Gespräche in einen öffentlich-sozialen Raum eingebettet sind. Platon lässt als Gesprächspartner des ›Protophilosophen‹ Sokrates Figuren auftreten, die dem politischen, bürgerlichen und intellektuellen Milieu entstammen und häufig die Namen von historischen Personen tragen.274 Ein Charakteristikum der Frühdialoge besteht darin, dass hier mit literarischen Mitteln Dialogfiguren gestaltet werden, die sich durch individuelle Verhaltensweisen und Charaktere sowie durch besondere, den charakterlichen Dispositionen, Tätigkeitsfeldern und Milieus entsprechenden Überzeugungen auszeichnen.275 Da die Meinungen über die Tugend und das gute Leben, die den Figuren in den Mund gelegt werden, in vielen Fällen als zeitgenössische Auffassungen nachweisbar sind276, ist die These naheliegend, dass Platon in den Tugenddialogen in Anknüpfung an die in der Apologie dargestellte ›Menschenprüfung‹ eine philosophische Auseinandersetzung mit ethischen Auffassungen gestaltet, die den politischen, dichterisch-religiösen und sophistischen Diskurs seiner Zeit bestimmten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Platon im Dialog Charmides von dieser Gestaltungsform abgewichen ist und eine als Gesprächspartner des Sokrates eingeführte Figur als Sprachrohr der eigenen Auffassungen benutzt hat. Kritias wird im Charmides als intellektuell ambitionierter und sophistisch geschulter Aristokrat gestaltet, mit dessen Auffassung sich Sokrates auseinandersetzt.277 Charmides’ Andeutung, dass er die Bestimmung der Besonnenheit als ›Tun des Seinen‹ von Kritias gehört habe (162d), und Sokrates’ Bemerkung, dass sich dieser viel mit solchen Dingen beschäftige (162e), weisen Kritias als Intellektuellen aus, der mit den sophistischen Theorien und Debatten vertraut ist und sich eigener systematischer Versuche zu politisch-ethischen Themen befleißigt. Kritias’ argumentativer Ansatz, durch eine Wortunterscheidung die Bestim-

273 Unter den zahlreichen Arbeiten seien hier hervorgehoben: Gundert (1968, 295–379 u. 387– 449), Bubner (1980, 124–160), Mittelstrass (1982, 138–159), Griswold (1988), Schildknecht (1990, 22–53), Gill (2002), Pleger (2006, 15–26) (2009, 207–217). 274 Die Frage, inwieweit die als Partner des Sokrates auftretenden Dialogfiguren den historischen Personen, deren Namen sie tragen, entsprechen, ist aufgrund der Quellenlage ebenso schwierig zu beantworten wie die Frage nach der Authentizität der Sokrates-Figur. Zur fingierten Historizität der Dialoge vgl. Erler (2007a, 69f.). 275 Vgl. dazu Gill (1971) (2002), Blundell (1992), Geiger (2006). 276 So hat z. B. Pohlenz (1913, 30) darauf verwiesen, dass die im Dialog Laches der Figur des Nikias in den Mund gelegte Tapferkeitsvorstellung dem Zeitgeist entsprach und allgemeines Gedankengut war : »Aber wie nahe die ganze Auffassung Sokrates’ Zeit lag, zeigt Thukydides II, 40 jq²tistoi d( #m xuwµm dija¸yr jqihe?em oR t² te deim± ja· Bd´a sav´stata cicm¾sjomter ja· di± taOta lµ !potqepºlemoi 1j t_m jimd¼mym.« 277 So auch Martens (1990, 114f.). Vgl. auch Prot. 316a, wo Kritias dem sopistischen Milieu zugeordnet wird.

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mung zu retten (163a–c), verweist zudem auf eine Nähe zu den Sprachtheorien des Sophisten Prodikos.278 Aufgrund dieser Charakterisierung der Kritias-Figur liegt es nahe, den Dialog als eine Auseinandersetzung mit sophistischen Auffassungen der Tugend und der Selbsterkenntnis zu deuten.279 Der platonische Sokrates realisiert hier dasselbe maieutisch-elenktische Verfahren wie in den anderen Tugenddialogen auch. Dieses Verfahren aber ist bekanntlich dadurch charakterisiert, dass es von der Darstellung und Entwicklung eigener Theorien absieht und die Vorstellungen der Gesprächspartner expliziert und prüft (vgl. Tht. 148e–151d, 157c/d, 161b). Die sokratische Argumentation im Charmides folgt erkennbar dem im Theaitetos entwickelten Schema: In 165c–167a wird in einem maieutischen Akt der Bedeutungsgehalt der von Kritias gemeinten Selbsterkenntnis ›geboren‹. In 167b setzt die Prüfung dieser Vorstellung ein, die zunächst die Möglichkeit und schließlich den Nutzen der so verstandenen Sophrosyne untersucht und sie am Ende als Geburt von Scheinhaftem, Falschem ausweist.280 Der Dialog bietet weder Selbstreflexionen nach Art der Apologie noch findet sich darin die Form des im Alkibiades I gestalteten Lehrgesprächs, die es erlauben würden, hier eine Darstellung von sokratisch-platonischen Auffassungen anzunehmen. Gegen die These einer sophistischen Selbsterkenntnis im Charmides könnte freilich der Einwand erhoben werden, dass der historische Kritias nicht als Sophist einzustufen ist und die Aussagen der von Platon gestalteten Figur entsprechend skeptisch zu betrachten sind. Die jüngere Kritias-Forschung hält im Gegensatz zu älteren Positionen die Zuordnung des historischen Kritias zur Sophistik für problematisch.281 Im Wesentlichen werden hier zwei Argumente vorgetragen. 1) Während die ›typischen‹ Sophisten Wanderlehrer gewesen seien, die ihre Kenntnisse und rhetorischen Fertigkeiten gegen Bezahlung vermittelt hätten, habe Kritias keine bezahlte oder unbezahlte Lehrtätigkeit aus278 Darauf hat insbesondere Martens (1973, 33f.) (1990, 118f.) hingewiesen. 279 Das Problem der Selbsterkenntnis war mit Sicherheit nicht nur in Dichtung und Religion ein vielbeachtetes Thema, sondern wurde gewiss auch in sophistischen Kreisen diskutiert. Zur Identifizierung der Kritias-Bestimmung (166c) mit sophistischen Auffassungen vgl. Gonzalez (1998b), Schmid (1998), Stern (1999), Sue (2006), Bachmann (2007) (2013). Die Parallele zur Politeia liegt hier nahe: Der Charmides lässt sich als eine Auseinandersetzung mit jener Auffassung verstehen, die in der Politeia als eine gängige Meinung über das Gute bezeichnet wird: »Aber das weißt du ja doch wohl auch, daß der Menge die Lust das Gute zu sein scheint, denen aber, die sich mehr dünken, die Einsicht (vqºmgsir)« (505b6–8). Wie die Argumentation an dieser Stelle erkennen lässt, ist hier die sophistische Wertschätzung des Wissens als intrinsisches Gut gemeint. 280 Wie Moore (2015, 48) zu Recht betont, erweist sich die Selbsterkenntnis nur dann als unmöglich und praktisch irrelevant, wenn man sie so versteht wie die Kritias-Figur im Dialog. 281 Vgl. Patzer, H. (1974), Kerferd/Flashar (1998, 81), Pechstein (1998, 317f.), Meister (2010, 221).

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geübt. 2) Die von Kritias verfassten Schriften besäßen sowohl hinsichtlich der Gattung als auch des Inhalts keinen spezifisch sophistischen Charakter. Wie insbesondere Harald Patzer (1974, 4) hervorgehoben hat, verfasste Kritias Dichtungen – Hexameter, Elegien, Staatsverfassungen in Versform, möglicherweise auch dramatische Werke –, die für sophistisches Schrifttum eher untypisch waren.282 Der einzige Text, der von der jüngeren Forschung eindeutig der Sophistik zugeordnet wird, ist das Sisyphos-Fragment283, das vermutlich aus einem Satyrspiel gleichen Namens stammt. Die Autorschaft dieses Werkes war jedoch bereits in der Antike umstritten.284 In der jüngeren Forschung (Meister 2010) wird im Anschluss an die Argumente von Dihle (1977, 28–42) zunehmend Euripides als Verfasser des Satyrspiels vermutet.285 Auch wenn damit die Zuordnung des Kritias zu den Sophisten im engeren Sinn widerlegt zu sein scheint, sind die überlieferten Texte für eine Rekonstruktion sophistischer Überzeugungen keineswegs irrelevant. Unumstritten ist, dass in den Kritias-Fragmenten Spuren sophistischen Gedankengutes enthalten sind. Wie Patzer (1974) anhand des Textmaterials detailliert aufgezeigt hat, finden sich in den Fragmenten viele Lehren und Themenfelder, die erkennbar dem sophistischen Kontext entstammen. So wird z. B. die im sophistischen Denken so zentrale Wissens- und Bildungsthematik verstärkt angesprochen.286 Das Fragment B 28 DK enthält eine Thematisierung der Selbsterkenntnis, die mit einer indirekten Aussage über den Wert von Einsicht und Erkenntnis verknüpft ist: »Furchtbar aber ist es, wann immer einer ohne Verstand (lµ vqom_m) glaubt bei Verstand (vqome?m) zu sein«287 (Übers. Schirren/Zinsmaier). Das in diesem Satz artikulierte Werturteil über die falsche Einschätzung der eigenen epistemischen Verfasstheit enthält zum einen die Konzeption der individuellen Selbsterkenntnis im Sinn der richtigen Beurteilung der eigenen Kompetenzen und Defizite und zum anderen eine besondere Wertschätzung des Erkenntnisvermögens und der entsprechenden Qualitäten der Einsicht, Klugheit, Urteilskraft. In zwei weiteren Fragmenten wird deutlich, dass Kritias ein der Sophistik nahestehendes Bildungs- und Erziehungsideal vertreten hat, das der Ausbildung der Erkenntniskräfte durch Übung und Gewöhnung einen besonderen Stellen282 Zu den Dichtungen, dramatischen Werken und Prosaschriften des Kritias vgl. Kerferd/ Flashar (1998, 81ff). 283 Zum Sisyphos-Fragment vgl. Patzer, H. (1974), Kerferd/Flashar (1998, 82ff.), Roßner (2002), Meister (2010, 219–227). 284 Zur Diskussion der Verfasserfrage in Antike und Moderne vgl. Meister (2010, 220ff.). 285 Zu den Zeugnissen und Argumenten, die für Euripides als Verfasser sprechen, vgl. Meister (2010, 222–224). 286 Vgl. dazu Momigliano (1976, 465–477) und Roßner (2002, 136). 287 Deim¹m d( ftam tir lµ vqom_m doj0 vqome?m. B 28 Stobaeus III 23,1.

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wert einräumt: »Es erkennen (cicm¾sjousi) nur diejenigen Menschen, die daran gewöhnt (eQhisl´moi) sind, im Verstande (cm_l,) gesund zu sein«288 (B 39 DK; Übers. Schirren/Zinsmaier), so in einem von Galenus überlieferten Satz aus der Aphorismensammlung des Kritias. Eine ähnliche Aussage enthält Fragment B 40: »Wenn du dich aber selbst trainierst (!sj¶seiar), daß dein Verstand (cm¾l,) hinreichend ist, wirst du so am wenigsten von diesen ins Unrecht gesetzt«289 (Übers. Schirren/Zinsmaier). Die Aufforderung zur Ausbildung der Verstandeskräfte verbindet der Autor an dieser Stelle mit dem praktischen Nutzen der Vermeidung des Unrechtleidens, was den sophistischen Überzeugungen durchaus entspricht.290 In Fragment B 9 wird die in der Sophistik intensiv diskutierte Lehrbarkeit der Tugend thematisch aufgegriffen: »Aus Übung (lek´tgr) sind mehr tüchtig denn von Geburt (v¼seyr)«291 (Übers. Schirren/Zinsmaier). Kritias scheint hier für die in der sophistischen Bewegung verbreitete Lehrbarkeitsthese zu plädieren und gegen eine naturalistische oder genealogische Tugendkonzeption zu argumentieren. Auch wenn bei Kritias sophistisches Gedankengut erkennbar mit adlig-elitären Idealen verbunden292 und damit konservativ ›eingefärbt‹ ist, sind doch die Spuren sophistischen Denkens deutlich zu sehen. Man wird Kritias insofern eine gewisse Nähe zu dieser intellektuellen Bewegung bescheinigen können. Entscheidend für die Beurteilung der Kritias-Figur im Charmides ist jedoch, dass Platon diese Gestalt in die Nähe des sophistischen Gedankengutes rückt. Wie bereits angedeutet, erscheint Kritias bei Platon als ein vornehmlich von Prodikos beeinflusster Intellektueller. Die im Charmides (163a–e) und im pseudoplatonischen Eryxias (396aff.) auftretende Kritias-Figur ist mit den Theorien dieses Sophisten in besonderer Weise vertraut und argumentiert erkennbar auf der Basis von Prodikos’ synonymischen und sprachtheoretischen Überlegungen.293 Im Dialog Protagoras stellt Platon einen im Haus des Kallias veranstalteten ›Sophisten-Kongress‹ dar, an dem die intellektuelle und gesellschaftliche Elite Athens teilnimmt, unter anderem auch Kritias und Alkibiades, deren persönliche Bekanntschaft mit Prodikos, Protagoras und Hippias an späterer Stelle des Dialogs (Prot. 336b–337a) aufscheint. Diese Gestaltung weist

288 cicm¾sjousi oR %mhqypoi eQhisl´moi rcia¸meim t0 cm_l, B 39 Galenus, Comm. in Hippocrates de officina I 1. 289 EQ d( aqt¹r !sj¶seiar, fpyr cm¾l, 5s, Rjamºr, Fjista #m ovtyr rp( aqt_m #m !dijghe¸gr. B 40 Galenus, Comm. in Hippocratis de officina I 1. 290 Vgl. z. B. die Aussagen der Gorgias-Figur über den Nutzen der Rhetorik in Platons Gorgias 456bff., insbes. 456ef. 291 ( Ej lek´tgr pke¸our C v¼seyr !caho¸. B 9 Stobaeus III 29,11. 292 Vgl. Patzer, H. (1974) und Roßner (2002, 136). 293 So auch Martens (1973, 33f.) und (1990, 118f.).

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darauf hin, dass die Kritias-Figur294 vom Leser als eine intellektuelle Persönlichkeit wahrgenommen werden soll, die von der sophistischen Strömung stark beeinflusst ist.

bb)

Differenz zur Erkenntnis der Vernunftseele

Die im Charmides dargestellte Konzeption der Selbsterkenntnis wird vermutlich deswegen so häufig mit platonischen Auffassungen identifiziert, weil sie große Ähnlichkeiten mit der Erkenntnis der Vernunftseele aus dem Alkibiades I aufzuweisen scheint. Bei aller äußeren Ähnlichkeit unterscheiden sich jedoch die beiden Konzeptionen erheblich voneinander. Die Differenz wird sofort deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass im Charmides das epistemische Selbstbewusstsein mit der Tugend identifiziert wird. Die Bestimmung der Selbsterkenntnis als selbstbezügliches Wissen ist hier, wie schon mehrfach erwähnt, eine Antwort auf die Frage nach der menschlichen Bestheit. Da Kritias mit dieser Bestimmung auf die von Sokrates aufgezeigte Problematik einer unbegründeten Werktugend reagiert und die angeführte Einsicht das Wissensmoment der Tugend bezeichnen soll, wird der Selbsterkenntnis hier die Funktion und der Status der Weisheit (sov¸a) zugesprochen. Damit sind bestimmte Implikationen verbunden: Da die Weisheit im praktischen Zusammenhang die Funktion hat, die Bestheit und Richtigkeit des Handelns zu begründen, ist sie zuletzt immer Erkenntnis des Guten. Die Erkenntniskraft bzw. das Wissen, das von Kritias als Gegenstand der Erkenntnis benannt worden war, wird hier also implizit mit dem Guten identifiziert.295 Die Setzung der selbstbezüglichen Erkenntnis als Tugend und die Identifizierung des Wissens bzw. der Erkenntniskraft mit dem Guten sind das eigentliche Problem und die Quelle aller Schwierigkeiten, die im Folgenden aufgezeigt werden. Abgesehen davon, dass die Möglichkeit einer rein selbstbezüglichen Erkenntnis, also einer Einsicht, die sich auf ein gegenstandsloses Erkennen bezieht (Charm. 167c–169a), problematisch ist, hat solch ein epistemisches Selbstbewusstsein keinerlei Nutzen für die Gestaltung des Lebensvollzugs. Es ist weder in der Lage, eine Prüfung und richtige Einschätzung der individuellen Kompetenzen und Wissensstände vorzunehmen und auf dieser Grundlage die eigene Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft zu bestimmen. Dazu bedürfte es der besonderen Sachkenntnisse (170a–171c). Noch vermag es, eine regierende, steuernde Funktion in Bezug auf die verschiedenen Fachkompetenzen auszuüben und eine richtige und sinnvolle Anwendung der hervorbringenden Künste 294 Es ist umstritten, welche historische Person hinter der Kritias-Figur des Timaios und Kritias steht. Vgl. Lampert/Planeaux (1998, 87–125). 295 Diese Auffassung des Guten wird in rep. 505b diskutiert.

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und der einzelwissenschaftlichen Kenntnisse zu gewährleisten. Dazu bedürfte es einer Beurteilungskompetenz in Bezug auf das situativ Beste und Richtige – der Erkenntnis des Guten296 (174c/d). Das selbstbezügliche Wissen hat also, so das Resümee der Untersuchung, keinen erkennbaren Nutzen (¡vek¸a) für die Lebensgestaltung. Die Nützlichkeit ist jedoch ein Implikat des Tugendbegriffs. Eine dem ganzen Dialog zugrunde gelegte Prämisse, die auch am Ende nicht aufgegeben wird (vgl. 175e4–7), besteht darin, dass die Tugend eine Qualität bezeichnet, die das Gelingen der Handlungsvollzüge bewirkt und das Lebensganze befördert. Aus der mangelnden lebenspraktischen Relevanz der selbstbezüglichen Erkenntnis wird im Dialog der Schluss gezogen, dass diese nicht als Prinzip der Tugend fungieren kann (175a–176a). Mit dem epistemischen Selbstwissen ist die Möglichkeitsbedingung von Handlungsvollzügen und technischer sowie einzelwissenschaftlicher Kompetenz aufgedeckt, aber nicht die gesuchte Begründung der Bestheit des Handelns gefunden. Die Bewusstmachung der Wissensfähigkeit bezeichnet einen rein formalen Grund, der das nicht zu leisten vermag, was die Tugend und eine praxisrelevante Weisheit leisten sollen.297 Im Alkibiades I werden diese Probleme vermieden, weil hier die Erkenntnisreflexion nicht als Tugend gesetzt wird. Weder wird die Reflexion auf die Vernunftseele mit der Weisheit identifiziert noch werden die Erkenntniskraft und das Wissen als das Gute bestimmt. Die Thematisierung der menschlichen Erkenntniskraft steht hier in einem ganz anderen Kontext. Wie oben aufgezeigt, geht es im zweiten Teil des Dialogs um eine Erörterung und Hinführung zur Sorge um sich selbst (1pil´keia 2autoO). Die Reflexion der Vernunftseele hat in diesem Rahmen die Funktion einer präziseren Bestimmung des Gegenstands der Sorge und ist als Etappe auf dem Weg zur Tugend dieses Vermögens zu verstehen. Die Bestimmung der Vernunftseele als Gegenstand der Sorge impliziert die Annahme, dass das epistemische Selbst der Bildung bedarf, also keineswegs mit dem Guten zu identifizieren ist – sowenig wie das epistemische Selbstbewusstsein bereits als Weisheit, als die gesuchte Tugend des Vermögens gelten darf. Die Bildungsbedürftigkeit des Erkenntnisorgans und die Ambivalenz des Erkennens 296 Vgl. das Argument in Politeia 505b10–12: Die Erkenntniskraft bzw. das Wissen ist nicht das Gute selbst, sondern auf das Gute bezogen: »Aber das weißt du ja doch wohl auch, daß der Menge die Lust das Gute zu sein scheint, denen aber, die sich mehr dünken, die Einsicht. […] Und, Lieber, daß die dieses Meinenden nicht zu zeigen wissen, welche Einsicht, sondern am Ende genötigt werden zu sagen, die des Guten«. Diese Passage lässt sich als Kommentar zu Charm. 173d–174b verstehen, wo genau dies am Beispiel der Figur des Kritias aufgezeigt wird. 297 Offen bleibt hier, ob nicht eine andere Art der Selbsterkenntnis diese Leistungen zu erbringen und als Tugendprinzip zu fungieren vermag. Negiert wird an dieser Stelle lediglich die selbstbezügliche Erkenntnis als fundierendes Moment der Tugend.

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werden insbesondere in der Politeia aufgezeigt. Im Rahmen der dort thematisierten Umlenkung der Seele (peqiacyc¶) führt Platon aus, dass die Fähigkeit des Erkennens einem Göttlichen angehört, »welches seine Kraft niemals verliert, nur aber durch Lenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird« (d tµm l³m d¼malim oqd´pote !pºkkusim, rp¹ d³ t/r peqiacyc/r wq¶silºm te ja· ¡v´kilom ja· %wqgstom aw ja· bkabeq¹m c¸cmetai rep. 518e3– 519a1). Die Erkenntniskraft hat zwar einen herausgehobenen, übergeordneten Stellenwert innerhalb des Seelenganzen – sie ist das Göttlichste in der Seele, wie auch im Alkibiades I betont wird (133c). Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einen intrinsischen Wert besitzt.298 Um Bestheit zu erlangen und zum Nutzen der individuellen Person und der Gemeinschaft wirken zu können, bedarf dieses Organ (eqcamom rep. 518c5) einer bestimmten Lenkung, Bildung und Entwicklung. In der Politeia werden eindrucksvolle Bilder entworfen, um den defizitären Zustand der Vernunftseele zu beschreiben. So ist z. B. in rep. 533d von dem in »barbarischem Schlamm vergrabene[n] Auge der Seele« die Rede, das emporzuziehen ist. Solche und ähnliche Bilder, wie die bereits erwähnte Metapher vom Meeresgott Glaukos, der verunstaltet und mit zerbrochenen Gliedmaßen auf dem Meeresboden liegt und aus der Tiefe und Dunkelheit des Meeresgrundes hinaufzuziehen ist (rep. 611c–612a), sollen auf die Notwendigkeit einer Paideia (paide¸a) verweisen. Durch die Bildung des Vernunftorgans und den damit verbundenen Erwerb von Vernunfteinsichten erlangt die Seele nach Platon erst Regierungsfähigkeit. Im Gegensatz zur sophistischen Auffassung, die das faktische epistemische Selbst und das entsprechende Selbstwissen als regierende Instanz setzt (vgl. Charm. 174e1), ist bei Platon der Gedanke vorherrschend, dass nur das gebildete Selbst und die damit verbundene Einsicht in das Gute in der Lage sind, die Regierungsfunktion bestmöglich zu erfüllen. cc)

Selbsterkenntnis als richtige Einschätzung der fachlichen Kompetenzen und Inkompetenzen (Charm. 167a)

Neben der selbstbezüglichen Erkenntnis findet sich im Charmides noch eine zweite Bestimmung der Selbsterkenntnis, die Platon zwar von der SokratesFigur entwickeln lässt, die jedoch als Explikation des Kritias-Logos kenntlich gemacht wird (167a8)299 und insofern der Kritias-Figur zuzurechnen ist. Im 298 Vgl. die Differenzierung zwischen Erkenntnisfähigkeit und Agathon in rep. 508a–c. 299 Die Argumentation in Charm. 166e/167a hat erkennbar die Funktion, Implikationen und Bedeutungsgehalt des Kritias-Logos zum Zweck der anschließenden prüfenden Untersuchung zu exponieren. Der Explikationscharakter der Argumentation wird durch die abschließende Frage »Ist es dieses, was du meinst«? (/qa taOt² 1stim $ k´ceir; Charm. 167a8) deutlich betont. In der nachfolgenden kritischen Diskussion betont Sokrates wiederholt, dass es um die Prüfung und Begründung von Kritias’ Auffassung geht (vgl. Charm. 169b5–

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Anschluss an Kritias’ Bestimmung der Sophrosyne zeigt Sokrates auf (166e/ 167a), dass das konzipierte epistemische Selbstbewusstsein eine Urteilskraft impliziert, die den Wissensstand einer Person richtig einzuschätzen und vorhandene Fachkompetenzen sowie Wissensdefizite zu erkennen vermag. Diese Art von Selbsterkenntnis wird in mehreren Schritten argumentativ entwickelt. Zunächst erfolgt eine Erweiterung des selbstbezüglichen Erkennens durch Hinzufügung der Erkenntnis von epistemischen Mangelzuständen (»Müßte sie nicht auch […] der Unkenntnis Erkenntnis sein, wenn der Erkenntnis?« Charm. 166e8f.).300 Die so erweiterte Konzeption wird im zweiten Schritt mit einer materialen Wissensreflexion verbunden: »Der Besonnene also allein wird sich selbst erkennen und imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht« (gO %qa s¾vqym lºmor aqtºr te 2aut¹m cm¾setai ja· oWºr te 5stai 1net²sai t¸ te tucw²mei eQd½r ja· t¸ l¶ 167a1–3). Das Wissen des Wissens und Nichtwissens, das hier zunächst als Einsicht in die eigene epistemische Verfasstheit gemeint ist, erfährt im letzten Argumentationsschritt eine Ausdehnung auf andere Personen: »und ebenso auch wird er vermögend sein, andere zu beurteilen, was einer weiß und auch zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß« (Charm. 167a3–5). Die Beurteilung der Wissensverfassung wird hier als eine Fähigkeit gedacht, deren Anwendungsbereich prinzipiell alle epistemischen Subjekte umfasst, die also nicht auf die eigene Person beschränkt ist, sondern in ähnlicher Weise auf andere Personen angewendet werden kann. Versucht man, diese Art von prüfender Urteilskraft im Zusammenhang mit der zuvor diskutierten Erkenntnisreflexion zu deuten, so ist zunächst festzuhalten, dass beide Formen der Selbsterkenntnis als unauflösliche Einheit betrachtet werden. Es handelt sich um zwei Aspekte der Wissensreflexion, die durch ihre gemeinsame praktische Zielstellung miteinander verbunden sind. Für die Handlungsorientierung ist nicht nur die allgemeine Einsicht in Bedeutung, Wert und Funktion der Wissensfähigkeit relevant, sondern auch die Erkenntnis der besonderen Wissenskompetenzen und Defizite des Handlungssubjekts.301 Die Konzeption einer richtigen Einschätzung des personalen Wissensstandes 7, 169d7f., 171d2f.). Das lässt sich als weiterer Hinweis darauf deuten, dass Sokrates die in 167a dargestellte Selbsterkenntnis nicht als eigenen Bestimmungsvorschlag versteht, sondern als eine Exegese, die die Implikationen des Kritias-Logos offenzulegen versucht. 300 Vgl. rep. 598d. 301 Einen Bezug des Wissens des Wissens und Nichtwissens zu der 1pist¶lg 1pistgl_m sieht auch Ebert (1974, 68): »Vergleichen wir die Charakterisierung des s¾vqym, die Sokrates hier gibt, mit der voraufgegangenen Definition der Besonnenheit durch Kritias (166c1–3), auf die Sokrates sich dabei bezieht, so fällt sofort auf, daß Sokrates den ganz formalen Bezug, den die 1pist¶lg 1pistgl_m des Kritias auf die zu ihrem Inhalt erklärten Epistemai hat, in die Fähigkeit der Prüfung von Wissensansprüchen übersetzt«.

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birgt drei Momente in sich, die die Nähe zum sophistischen Denken erkennen lassen und die Verbindung mit den Kritias-Fragmenten herstellen. 1) Gegenstandsbereich: In Anknüpfung an das zuvor geltend gemachte Bewusstsein der verschiedenen Wissenschaften (»Wissen von den anderen Arten des Wissens« 166c2) ist die Beurteilung der Kompetenzen einer Person nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkt, sondern umfasst alle möglichen Sachbereiche und Wissensarten.302 Die darin aufscheinende Wertschätzung sämtlicher Wissenskompetenzen, insbesondere der hervorbringenden Künste und technischen Fertigkeiten (170b/d, 173a–174d), ist auch im sophistischen Denken zu beobachten. Sie spiegelt sich im platonischen Protagoras-Mythos (Prot. 321c–322d)303 wider und wird durch die thematisch breit gefächerte Lehrtätigkeit der Sophisten eindrucksvoll bezeugt. Die Nähe zur Sophistik lässt sich auch noch in anderer Hinsicht aufzeigen. Die Wissenskompetenzen sind in der im Charmides dargestellten Theorie erkennbar auf praktische Zwecke ausgerichtet (vgl. Charm. 173a–c). Die Entwicklung von technischer Intelligenz und die richtige Einschätzung der personalen Wissensverfassung wird mit der Zielstellung verbunden, »daß wir eben gesünder sein werden am Leibe als jetzt und besser aus Gefahren zur See und im Kriege errettet werden, und daß unser Hausgerät, Kleidung, Beschuhung und was sonst hierher gehört, fachmännisch wird gearbeitet sein« (173b/c). Hier lassen sich mühelos Parallelen zum Protagoras-Mythos (Prot. 321c–322a) ziehen. In ganz ähnlicher Weise wird das Wissen dort im Zusammenhang mit der Thematik der Selbsterhaltung und der Optimierung aller Lebensbedingungen diskutiert. 2) Einsicht in Wissensdefizite: Die Konzeption einer richtigen Einschätzung des eigenen Wissensstandes umfasst neben dem Bewusstsein der vorhandenen Sachkompetenzen auch die Einsicht in die eigenen Defizite. Durch diesen Aspekt wird die Thematik des Lernens und der Wissensvermittlung angedeutet, die in der Sophistik einen zentralen Stellenwert besitzt. Das Konzept einer prüfenden Urteilskraft basiert erkennbar auf der Annahme der Lehrbarkeit der Tugend. Durch die Einsicht in bestehende Kenntnislücken soll nicht nur unsachgemäßes 302 In Charm. 170b/d werden vor allem hervorbringende Künste angeführt: Heilkunst (Qatqij¶), Baukunst (oQjodolgtij¶), Tonkunst (lousij¶). Daneben findet hier jedoch auch die Staatskunst (pokitij¶) Beachtung. An späterer Stelle (173a–174d) werden noch andere Künste genannt: Steuermannskunst, strategische Kunst, Schusterhandwerk, Weberei. 303 Während die ältere Forschung den Mythos als Erfindung Platons betrachtete, hat sich in der jüngeren Forschung die Auffassung durchgesetzt, dass der Mythos in formaler und inhaltlicher Hinsicht den historischen Protagoras widerspiegelt. Zur Authentizität des platonischen Protagoras-Mythos vgl. Meister (2010, 105f.). Zur Verwendung der mythischen Darstellungsform in der Sophistik vgl. Meister (2010, 105). Zum Gebrauch des Mythos in der von Platon dargestellten protagoräischen Kulturentstehungstheorie vgl. Taureck (1995, 51f.). Taureck vertritt die Auffassung, dass Protagoras’ mythische Erzählung von Zeus als Stifter von Scham und Recht dem Zweck der Überredung dient.

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Handeln vermieden (Charm. 171d/e), sondern bei entsprechender Begabung die Motivation geweckt werden, die fehlenden Kenntnisse durch Unterricht zu erwerben (172b). An diesem Aspekt wird deutlich, dass sich die platonische Darstellung der Kritias-Figur in großer Nähe zu den überlieferten KritiasFragmenten befindet. Wie oben aufgezeigt, wird dort die Lehrbarkeitsdoktrin aufgegriffen und verstärkt diskutiert (vgl. B 40; B 9 DK). 3) Das Problem der Doxosophia: Die Einschätzung der Wissensverfassung einer Person wird im Charmides mit einer Prüffähigkeit verbunden (167a2 und a4), die auf das Problem der Wissensanmaßung verweist (»was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß« Charm. 167a5). Das Problem der Wissenseinbildung (donosov¸a) ist vermutlich nicht erst von Sokrates und Platon304, sondern bereits in der Sophistik im Zusammenhang mit der Lehrbarkeitsthematik diskutiert worden. Bei Platon finden sich einige Hinweise auf diesen Diskurs305 und in den Kritias-Fragmenten wird ein entsprechendes Problembewusstsein deutlich artikuliert.306 dd)

Differenz zur Erkenntnis des Nichtwissens

In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, dass sich die in Charm. 167a entwickelte Konzeption einer epistemischen Urteilskraft in wesentlichen Punkten von der sokratischen Erkenntnis des Nichtwissens unterscheidet. Das im Charmides 167a angeführte Selbstwissen wird in der Forschung häufig mit der sokratischen Selbsterkenntnis identifiziert. Dafür scheint es zunächst auch gute Gründe zu geben. Die Formulierung und die Wortwahl weisen große Ähnlichkeiten mit der Darstellung der sokratischen Einsicht in der Apologie auf. Das wird besonders deutlich, wenn man apol. 21d und Charm. 167a vergleicht. An der genannten Stelle erklärt Sokrates: »allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht« (!kk( oxtor l³m oUeta¸ ti eQd´mai oqj eQd¾r7 1c½ d´, ¦speq owm oqj oWda, oqd³ oUolai apol. 21d4–6). Im Charmides heißt es ganz ähnlich: »und ebenso auch wird er vermögend sein, andere zu beurteilen, was einer weiß und zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß« (t¸ tir oWdem ja· oUetai, eUpeq oWdem, ja· t¸ aw oUetai l³m eQd´mai, oWdem d( ou Charm. 167a3–5). Hinzu kommt, dass diese Form der Selbsterkenntnis im Charmides von Sokrates entwickelt wird, also nicht wie im Fall der selbsbezüglichen Erkenntnis der Figur des Kritias in den Mund gelegt wird. Das in Charm. 167a2–4 angedeutete Prü304 Vgl. Platon apol. 29a7; symp. 204a5; Phaidr. 275b2; Phil. 49a2; soph. 231b7; leg. 732a6, 863c5. 305 Vgl. Platon soph. 229c–231b und rep. 537e–539a. 306 Vgl. insbes. Fragment B 28 DK: »Furchtbar aber ist es, wann immer einer ohne Verstand glaubt bei Verstand zu sein« (Übers. Schirren/Zinsmaier).

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fungsmoment (1net²feim, 1pisjope?m) spricht ebenfalls für eine Identifizierung mit der sokratischen Einsicht. Aufgrund dieser Indizien vermag es nicht zu verwundern, dass selbst jene Interpreten, die die 1pist¶lg 2aut/r ja· t_m %kkym 1pistgl_m als sophistische Konzeption deuten, das in 166e/167a entwickelte Selbstwissen als sokratische Selbsterkenntnis auffassen (vgl. Schmid 1998, Stern 1999, Sue 2006).307 Unterzieht man jedoch die beiden Konzepte einem genauen Vergleich, so zeigen sich erhebliche Differenzen. Zunächst seien einige Beobachtungen zu Verfahren und Intention der Argumentation skizziert. Die rekonstruierte sokratische Agumentation hat erkennbar die Funktion, den Bedeutungsgehalt des Kritias-Logos zu exponieren. Die Überlegungen zur Erkenntnis der Unkenntnis und zum Wissen des Wissens und Nichtwissens versteht Sokrates als Auslegung und Entfaltung der von Kritias eingebrachten Selbsterkenntnis (166c), die dem Zweck der prüfenden Untersuchung dient. Der Explikationscharakter der Argumentation wird durch die abschließende Frage »Ist es dieses, was du meinst?« (/qa taOt² 1stim $ k´ceir; Charm. 167a8) deutlich betont.308 In der nachfolgenden kritischen Diskussion unterstreicht Sokrates die in dieser Frage zum Ausdruck kommende Verbindlichkeit des Gesprächs, indem er Kritias wiederholt darauf aufmerksam macht, dass es hier um die Prüfung und Begründung von dessen Auffassung geht (Charm. 169b5–7, 169d7f., 171d2f.). Das lässt sich als weiterer Hinweis darauf deuten, dass Sokrates die in 167a dargestellte Selbsterkenntnis nicht als eigenen Definitionsvorschlag der Sophrosyne versteht oder als eine auf der Grundlage der eigenen Überzeugungen vorgenommene Ergänzung von Kritias’ These, sondern als eine Exegese, die die Implikationen und den Bedeutungsgehalt des von Kritias eingebrachten Logos offenzulegen versucht. Platon orientiert sich, wie bereits bemerkt, bei der Darstellung der SokratesFigur hier wie in den anderen Tugenddialogen auch an einem dialogischen Verfahren, dass hinsichtlich eines bestimmten Sachgegenstandes die Logoi der Teilnehmer erfragt, deren Sinngehalt zu erschließen sucht309 und im weiteren 307 Die genannten Autoren unterscheiden im Charmides zwischen einer sophistischen Selbsterkenntnis (1pist¶lg 2aut/r ja· t_m %kkym 1pistgl_m Charm. 166c), die zurückgewiesen (Schmid 1998, Stern 1999) oder aber in bestimmten Aspekten positiv aufgegriffen werde (Sue 2006), und der sokratischen Selbsterkenntnis (t¹ eQd´mai û te oWdem ja· $ lµ oWdem Charm. 167a), die im Dialog zum einen sachlich exponiert (Stern 1999, Schmid 1998, Sue 2006) und ergänzt (Sue 2006), zum anderen aber hinsichtlich der praktischen Funktion eingeschränkt werde (Schmid 1998, Sue 2006). 308 Ähnlich Ebert (1974, 68): »Die […] argumentative Frage des Sokrates (167a1–7) will nun auf dem Hintergrund der gerade vorgenommenen Zusatzbestimmung eine Interpretation der These des Kritias geben. Die abschließende Frage ›Ist es dieses, was du meinst?‹ (167a7) macht diesen Charakter einer Interpretation deutlich […]«. 309 Im Theaitetos wird dafür der Begriff der Maieutik (la¸eusir, laieutij¶ Tht. 150b6) gebraucht.

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Verlauf des Gesprächs mit elenktischen Argumenten und Beweismustern arbeitet, die in prüfender Intention und Wahrheitssuche begründet sind. Im Charmides gelangt das in den Tugenddialogen übliche prüfende Verfahren zur Darstellung, das von der Artikulation eigener Thesen absieht und sich in einer besonderen Weise auf die Vorstellungen der Gesprächsteilnehmer einlässt. Dabei hat der prüfende Dialektiker stets den Zusammenhang der Aussagen im Blick und überschaut das Ganze der Argumentation. Das lässt sich auch in Charm. 167a beobachten. Wie oben bereits angedeutet, ist die Selbsterkenntnis in 164cff. als Begründung der vorherigen Definition der Sophrosyne (›Tun des Guten‹ t_m !cah_m pq÷nim 163e) eingeführt worden. Die kritische Diskussion dieser Definition hatte gezeigt, dass der Tugendcharakter letztlich verloren geht, wenn die Tugend ausschließlich über die qualitativ wertvollen Handlungsresultate verstanden wird und das epistemische Moment unberücksichtigt bleibt. Ein Handeln ohne Wissen und Selbstreflexion kann kaum als Bestheit verstanden werden (Charm. 164c/d). Um die im Begriff der Tugend implizierte Selbstverantwortlichkeit, Ausweisbarkeit und Intentionalität des Handelns zu gewährleisten, bedarf es einer Selbstvergewisserung, die die Ziele, Gründe und Prinzipien reflektiert und die Richtigkeit des eigenen Tuns aufzuklären sucht. Das von Kritias eingeführte cicm¾sjeim 2autºm sollte eben diese Funktion erfüllen und das Defizit der rein werkorientierten Bestimmung beheben. Beachtet man diesen Begründungszusammenhang, so lässt sich die von Kritias eingebrachte Erkenntnis der Wissensfähigkeit wie folgt deuten. Das Wissen bezeichnet nach Kritias’ Auffassung das Element, das das richtige und gute Handeln begründet (vgl. Charm. 172a2, 173d3)310 und die Bestheit des Tuns gewährleistet. Das Bewusstsein seiner selbst als epistemisches Subjekt, das auf der Grundlage von theoretischem Wissen und technischem Können agiert, das in seinem Handeln am Wissen orientiert ist und der Erkenntnis gemäß verfährt, wird hier als Begründung des ›Tuns des Guten‹ gesetzt. Das von Sokrates in 167a formulierte Selbstwissen im Sinn der Einschätzung der eigenen Wissenskompetenz setzt diese Begründungsbewegung fort und verbleibt dabei ganz in den von Kritias vorgegebenen Vorstellungsmustern. 310 Der Begründungszusammenhang wird in Charm. 173d angedeutet. Nachdem Sokrates seinen Zweifel darüber bekundet hat, dass die Orientierung am Wissen nicht als solche schon ein gutes und glückliches Leben verbürgt, antwortet Kritias: »Aber […] du wirst doch nicht leicht ein anderes Ziel des Gutlebens finden, wenn das erkenntnismäßig dir zu schlecht ist« ()kk± l´mtoi, G d( fr, oq Nôd¸yr erq¶seir %kko ti t´kor toO ew pq²tteim, 1±m t¹ 1pistglºmyr !til²s,r Charm. 173d5f.). Das Wissen ist Garant des guten Handelns und Lebens und nimmt damit selbst den Stellenwert des höchsten Wertes ein. Diese These wird von Sokrates in Frage gestellt und modifiziert: Nicht das Wissen überhaupt, sondern die Erkenntnis des Guten verbürgt das gute und glückliche Leben (Charm. 174b/c).

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Nachdem durch die selbstbezügliche Erkenntnis der Wertaspekt der vorherigen Bestimmung (Tun des Guten, t_m !cah_m pq÷nim) eine Fundierung erfahren hat, wird jetzt das selbstreferentielle Moment (Tun des Seinen, t± 2autoO pq²tteim) begründet, das ja in der Prüfung keineswegs verworfen worden war. Als unsinnig und absurd hat sich lediglich eine vordergründige Auslegung dieses Prinzips erwiesen (Charm. 161d–162a). Die implizierte Begründung lässt sich wie folgt umschreiben: Die mit der Formel ›was man weiß und was nicht‹ (167a3) gemeinte richtige Einschätzung der eigenen Fachkompetenzen und Wissenszustände ermöglicht eine sachgerechte Bestimmung der eigenen Aufgabe innerhalb der Polis und ordnet die individuelle Leistung in ein gemeinschaftliches Ganzes ein. Das ›Tun des Seinen‹ wurde ja von Kritias in der vorherigen Argumentation als Ausübung der eigenen Aufgabe oder Berufung verstanden. Diese Auslegung wird jetzt mit dem Erkenntnismoment verbunden. Um das Seine wählen und tun zu können, muss es zunächst erkannt werden. Die Erkenntnis und Bestimmung des Seinen aber erfolgt nach dem Kriterium des Könnens, das hier unter den Kategorien des Wissens gefasst wird.311 Die Überlegungen zu Intention und Verfahrensweise in 167a sowie die Erörterung des Zusammenhangs mit den vorherigen Bestimmungen der Sophrosyne vermochten Hinweise darauf zu liefern, dass Platon an dieser Stelle keine sokratische These entwickelt, sondern eine Explikation des Kritias-Logos vornimmt. Diese Annahme lässt sich durch eine weitere Analyse bestärken. Betrachtet man die Begründung und den Bedeutungsgehalt des in 167a entwickelten Selbstwissens genauer, so treten die Differenzen zur sokratischen Selbsterkenntnis deutlich zum Vorschein. Begründung in der selbstbezüglichen Erkenntnis: In 167a wird angedeutet, dass die selbstbezügliche Erkenntnis und die Beurteilung des eigenen Wissensstandes nicht einfach nur zwei Elemente einer umfassenden Einsicht darstellen, sondern durch eine Konditionalbeziehung miteinander verbunden sind. Die selbstbezügliche Erkenntnis scheint an dieser Stelle als Möglichkeitsbedingung des Wissens des Wissens und Nichtwissens auf. Anders formuliert: Das selbstreflexive Wissen von der Erkenntnis als solcher ermöglicht ein prüfendes Urteil darüber, ob hinsichtlich eines bestimmten Sachgegenstandes Erkenntnis gewonnen wurde oder nicht.312 311 Dass das Wissen des Wissens und Nichtwissens tatsächlich im Zusammenhang mit dem ›Tun des Seinen‹ gedacht wird, zeigt sich an späterer Stelle, in Charm. 170a–171c. Dort führt Sokrates unter Rückgriff auf die von Kritias eingeführten Beispiele aus dem technischen Bereich (161ef.) den kritischen Einwand an, dass die Erkenntnis der Erkenntnis und Unkenntnis nicht in der Lage ist, jemanden dahingehend zu prüfen, ob er seine Techne, seine ausgeübte oder intendierte berufliche Tätigkeit wirklich versteht. 312 Auf solch einen Begründungszusammenhang verweist der Partikel %qa in 167a1. Nachdem Sokrates die selbstbezügliche Erkenntnis durch das Element der Unkenntnis ergänzt hat,

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Identifiziert man die in 167a entwickelte Einschätzung der eigenen Wissenskompetenzen mit der sokratischen Selbsterkenntnis, so müsste folglich die selbstbezügliche Erkenntnis ebenfalls als sokratisch betrachtet werden. Dafür gibt es jedoch im platonischen Werk keinerlei Anhaltspunkte. Platon bringt die sokratische Selbsterkenntnis nirgendwo mit solch einer rein selbstreflexiv verstandenen Erkenntniskonzeption in Verbindung. Der einzige Dialog, in dem das sokratische Wissen des Nichtwissens im Zusammenhang mit einer Reflexion der Erkenntnisfähigkeit diskutiert wird, ist der Alkibiades I. Wie oben bereits aufgezeigt, unterscheidet sich jedoch die dort dargestellte Erkenntnis der Vernunftseele erheblich von der im Charmides erörterten selbstbezüglichen Erkenntnis. Zudem wird im Alkibiades I die Reflexion auf den vernünftigen Teil der Seele nicht als Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis des Nichtwissens und einer entsprechenden Prüfungskompetenz geltend gemacht. Die Bewusstmachung des Vernunftselbst als das Lenkende, Steuernde, Beste in der Seele wird dort im Rahmen des protreptischen Gesprächs thematisiert und hat eine motivierende Funktion. Sie soll die Selbstprüfung anregen, befördern, unterstützen. Eine Möglichkeit der Verbindung von sokratischer Prüfungskompetenz und selbstbezüglicher Erkenntnis bietet sich an, wenn man diese im Sinn eines Wissens von den formalen Erfordernissen des Wissens deutet, also als Einsicht in die formalen Eigenschaften der Erkenntnisobjekte und die Struktur von Wesensbestimmungen. In der jüngeren Forschung sind entsprechende Deutungen der sokratischen Prüfungsfähigkeit häufiger vorgenommen worden. Nach Meinung Detels (1973 und 2006) ist es weniger die materiale Erkenntnis, sondern »vor allem die formale Erkenntnis, die es Sokrates immer wieder ermöglicht, die Definitionsversuche seiner Gesprächspartner zu widerlegen« (1973, 28). Ähnlich Hardy (2004, 250)313, der Sokrates ein Wissen von den »formalen Eigenschaften der Ideen« zuspricht, das als Maßstab und Ermöglichungsgrund der Dialektik fungiert.314 Betrachtet man die platonischen Frühdialoge unter diesem Gesichtspunkt, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der darin agierende Sokrates über ein entsprechendes Wissen von den Strukfährt er in seiner Argumentation wie folgt fort: »Der Besonnene also (%qa) allein wird sich selbst erkennen und imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht« (167a1–3; Hervorhebung B.F.). Durch das schlussfolgernde %qa wird angezeigt, dass die Erkenntnis des Wissens und Nichtwissens in der vorher thematisierten selbstbezüglichen Erkenntnis impliziert ist. Der Konditionalzusammenhang wird auch an anderen Stellen ausgesprochen. Vgl. 167b8–c2, 169d5–7, 169e7f., 170aff. Vgl. zu diesem Punkt Ebert (1974, 68). 313 Vgl. auch Hardy (2011). 314 Auch bei Wieland (1982, 189ff.) findet sich der Gedanke eines formalen Wissens als Basis der sokratischen Prüfungskompetenz. Wieland vermutet beim platonischen Sokrates ein Wissen von Struktur und Typ des gesuchten praktischen Wissens, das diesen dazu befähige, die Definitionen zu prüfen.

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turmerkmalen einer Wesensbestimmung315 und von den formalen Eigenschaften der erörterten Erkennnisgegenstände besitzt. Die gesuchte Sache wird in den Gesprächen im Rückgriff auf die von allen Teilnehmern zugrunde gelegten Prämissen immer wieder als das Eine316 gegenüber der Vielheit der Erscheinungsweisen und als intrinsisch Gutes317 ausgezeichnet, das den indifferenten Verhaltensweisen und Charakterhaltungen Wert verleiht. Ebensowenig kann bezweifelt werden, dass dieses Wissen in der elenktischen Prüfung der Wissensansprüche eine wichtige Rolle spielt. Es fragt sich nur, ob darin der maßgebliche Möglichkeitsgrund der sokratischen Wissensprüfung zu sehen ist. Platon deutet jedenfalls weder in der Apologie noch in den methodischen Reflexionen, die in die Sacherörterungen der Frühdialoge eingeschoben sind, noch in späteren Dialogen an, dass dieses formale Wissen die sokratische Prüfungskompetenz begründet.318 Was jedoch immer wieder betont und herausgestellt wird, ist die Einstellung der Suche, die Sachorientierung und Sachbindung.319 Es bleibt zu vermuten, dass die Begründung der sokratischen Fähigkeit stärker in dieser Richtung zu suchen ist. Die Identifizierung der in Charm. 167a dargestellten Beurteilung der epistemischen Verfassung einer Person mit der sokratischen Selbsterkenntnis bleibt auch dann problematisch, wenn man dieses Wissen von der selbstbezüglichen Erkenntnis abtrennt und als separate Konzeption betrachtet. Hier zeigen sich zwei entscheidende Differenzen zur sokratischen Einsicht. 1) Ausgedehnter Gegenstandsbereich: Betrachtet man die Passage 167a im Kontext der gesamten Argumentation, so wird deutlich, dass das gemeinte Wissen des Wissens und Nichtwissens nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkt ist, sondern alle möglichen Sachbereiche und die verschiedenen Arten des Wissens umfasst, also sowohl theoretische Wissenschaften als auch hervorbringende Künste einschließt. Die kritische Diskussion von Möglichkeit und Nutzen der Selbsterkenntnis erweckt zunächst den Eindruck, als ob sich die thematisierte Prüfungskompetenz ausschließlich auf das 315 Vgl. z. B. die Erklärung der Strukturmerkmale einer Definition in Lach. 191d–192c und Men. 74b–76e. 316 Z. B. Lach. 191e10f. u. 192b6 und Men. 72c. 317 Z. B. Charm. 159c1 u. 161a1 und Lach. 192c5 u. 8f. 318 Heitsch (2004, 109f.) meint, dass das Wissen des Wissens von Platon im Charmides als mögliche Erklärung der sokratischen Prüfungskompetenz erwogen und verworfen werde: »Der Versuch, die Sicherheit, mit der Sokrates […] die Wissensansprüche anderer als unberechtigt zu erweisen versteht, dadurch verständlich zu machen, daß man ein Wissen 2 einführt, […] ist gescheitert […]«. Diese Interpretation, die Platon eine Unsicherheit im Verständnis der sokratischen Prüfung unterstellt, ist wenig plausibel. Eine so perfekte Gestaltung von dialektischen Gesprächen, wie sie Platon im Frühwerk präsentiert, setzt voraus, dass man deren Grundlagen versteht, also über eine sichere Einsicht in den Möglichkeitsgrund dieser Wissensprüfung verfügt. 319 Siehe dazu oben Kap. B II 1c/d.

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technische Wissen und Können bezieht. In 170b–d werden vor allem hervorbringende Künste angeführt: Heilkunst (Qatqij¶), Baukunst (oQjodolgtij¶), Tonkunst (lousij¶).320 Das sind jene Technai, die schon in der Erörtung des Gegenstands der Selbsterkenntnis Erwähnung gefunden haben (165c/d). An späterer Stelle (173a–174d) werden noch andere Künste genannt: Steuermannskunst, strategische Kunst, Schusterhandwerk, Weberei. Betrachtet man jedoch die Passage 165c–166c, so scheint auf, dass die in der selbstbezüglichen Erkenntnis eingefasste epistemische Urteilsfähigkeit einen weiteren Wissensbereich umfasst. In dieser Passage werden nicht nur die Technai, sondern auch die theoretischen Wissenschaften wie Mathematik und Geometrie (165e6) thematisiert. Vermutlich werden die theoretischen Wissenschaften in der späteren Argumentation deswegen nicht mehr angeführt, weil es dort im Rahmen der Nutzen-Untersuchung um die Erörterung einer möglichen Verbindung von Selbsterkenntnis und einem guten, glücklichen Leben geht und der diesbezügliche Nutzen der hervorbringenden Künste unmittelbar evident zu sein scheint, während der Beitrag der theoretischen Wissenschaften zum guten Leben nicht sofort eingängig ist. Im Gegensatz zum umfassenden Objektbereich der Selbsterkenntnis im Charmides ist die sokratische Selbsterkenntnis auf einen bestimmten Gegenstandsbereich fokussiert.321 In der Orakelerzählung der Apologie bezieht Sokrates die Wissensprüfung auf die wichtigsten, höchsten Dinge (t± l´cista apol. 22d7). Gemeint sind die ethisch und politisch relevanten Gegenstände, die für die Lebensweise des Einzelnen und das gemeinschaftliche Zusammenleben maßgeblich sind (apol. 29eff., 38a).322 Worin besteht das gute und glückliche Leben? Was ist notwendig für das Erreichen der Eudaimonia? Was kann als menschliche Bestheit (!qet¶) verstanden werden? Was ist das Gute, Schöne, Gerechte etc.?323 Die Erkenntnis des Nichtwissens, die der Sokrates der plato320 Daneben findet hier jedoch auch die Staatskunst (pokitij¶) Beachtung. 321 Vgl. auch Bachmann (2013, 94 Fußn. 222). 322 Vgl. Alk. I 118a und Gorg. 527e1. Im Alkibiades I werden die l´cista (118a7) wie folgt definiert: »Weißt du etwas Wichtigeres zu nennen als Gerechtes, und Schönes und Gutes und Vorteilhaftes?« (5weir le¸fy eQpe?m dija¸ym te ja· jak_m ja· !cah_m ja· sulveqºmtym; Alk. I 118a10f.). Vgl. auch rep. I 336e8f. und Tht. 175bf. 323 Zur Deutung der l´cista in diesem Sinn vgl. die genaue philologische Analyse von Meyer (1962, 89ff.). Vgl. auch Heitsch (2002, 86 Fußn. 117). Die hohe Wertschätzung der ethischen Gegenstände ist von Platon auch später beibehalten worden. Darauf verweisen die mittleren Dialoge (rep. 501b2f., 506a4, 520c5f., 531v6f., 538d7; Phaid. 69b/c, 76d8, 77a4, 100b–d; symp. 210a–212a, 222a; Phaidr. 276c3f., 278a3f.), der Theaitetos (175b–d), die Nomoi (965b–966b) und der Siebte Brief (344a5, 344b1). In den Nomoi wird die Erkenntnis der l´cista mit einer Theologie und Kosmotheologie verbunden (966c–968a). Diese Verbindung findet sich bereits andeutungsweise in der Politeia (516b/c). Die über die Erörterung der Tugend erreichte noetische Erkenntnis des Guten wird dort als Grundlage einer Vorstellung vom kosmischen Ordnungs- und Gestaltungsprinzip kenntlich gemacht.

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nischen Apologie exemplarisch realisiert hat und in anderen hervorzubringen sucht (apol. 23b6f.), bezieht sich primär auf diese Dinge.324 In der Orakelerzählung der Apologie wird zwar angedeutet, dass die Wissensprüfung auch das technische Wissen umfasst (apol. 22d1–4). Der Fokus liegt jedoch eindeutig auf den l´cista (apol. 22d4ff).325 2) Fokussierung des Wissens des Wissens: Neben der Differenz im Gegenstandsbereich gibt es noch einen weiteren wichtigen Unterschied. Die Selbsterkenntnis des Kritias ist erkennbar durch eine Versicherung der Wissenskompetenzen und Wissensfähigkeit charakterisiert. Das Nichtwissen wird erst im nächsten Argumentationsschritt eingeführt, und zwar als zweites Element: »Müßte sie nicht auch […] der Unkenntnis Erkenntnis sein, wenn der Erkenntnis?« (Charm. 166e8f.). Diese Gewichtung bestimmt auch die in 167a konzipierte epistemische Urteilskompetenz. Sokrates führt hier zunächst die Fähigkeit der Identifizierung von Sachkenntnissen an und thematisiert erst im zweiten Schritt die Erkenntnis des Nichtwissens bzw. des Scheinwissens. Das von der Kritias-Definition vorgegebene Primat des Wissens des Wissens spiegelt sich im Dialog sowohl in den sprachlichen Formulierungen der Selbsterkenntnis wider (»was einer weiß und was er nicht weiß« Charm. 167a7f., 169d6f., 171d4, 172d1, 175c2f.; Hervorhebung B.F.) als auch in der Prüfung, die mit der Untersuchung des Wissens des Wissens einsetzt (170b/c). Alles deutet darauf hin, dass hier vornehmlich eine Vergewisserung der eigenen Sachkompetenzen oder auch der entsprechenden Veranlagungen und Begabungen gemeint ist, die den Zweck hat, einen Selbstbegriff auszubilden, der bei der Bestimmung der eigenen Aufgabe (›des Seinen‹) als Orientierung dient. Im Unterschied dazu ist die sokratische Selbsterkenntnis primär auf die Einsicht in die eigenen Defizite und Wissensillusionen ausgerichtet. In der Orakelerzählung der Apologie wird zwar, wie bereits erwähnt, auch von einer Reflexion auf vorhandene technische Kompetenzen berichtet (apol. 22d), dennoch wird man wohl kaum bestreiten können, dass der Akzent in dieser Darstellung auf der Einsicht in das Nichtwissen liegt, die Sokrates als seine eigentümliche Weisheit erkennt und in anderen zu erwecken sucht (apol. 21c8f., 21e1f., 22c, 22d6–9, 23b, 29e). Die Gewichtung scheint hier eine entgegenge324 So auch Weiss (2009, 250): »The height of human wisdom is, as we saw, the recognition of one’s ignorance with respect to ta megista«. 325 Die Ausrichtung der Wissensprüfung auf die ethischen Gegenstände wird von Platon auch in anderen Dialogen betont. In den Tugendgesprächen des Frühwerks und den entsprechenden Reflexionen der mittleren und späten Dialoge werden immer wieder die ethischen Tugenden, die Weisheit, das Gute, das Schöne als primärer Objektbereich des Wissens des Nichtwissens geltend gemacht (Vgl. z.B. Alk. I 118a/b; rep. 538c–539d; Phil. 48ef.; leg. 863c/d; Tht. 175c/d). Auch die mit dem Motiv der Selbsterkenntnis eng verwandte Doxosophia wird in den Dialogen zumeist im Zusammenhang der Tugendproblematik diskutiert.

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setzte zu sein: Im Vordergrund steht die Erkenntnis des Nichtwissens, die Vergewisserung des Wissens hat demgegenüber einen nachgeordneten Stellenwert. Diese Prioritätensetzung spiegelt sich auch in der von Platon vorgenommenen axiologischen Beurteilung der Einsichten wider. Das Wissen des Nichtwissens bezeichnet Platon als Befreiung vom größten Übel (Gorg. 458a7f.), als großes Gut (Gorg. 458a6), als beste Hexis (soph. 230d5f.), als Sophia (apol. 20d7), als Sophrosyne (Tht. 210c). Eine vergleichbare Hervorhebung und Wertschätzung des Wissens des Wissens findet sich hingegen nicht. Der Grund dafür dürfte in der Ausrichtung der Selbsterkenntnis auf den Bereich des ethischen Wissens liegen, der – wie Platon immer wieder betont – häufig durch Fehlmeinungen und ungerechtfertigte Wissensansprüche bestimmt ist. Nach diesen vergleichenden Betrachtungen lässt sich folgendes Fazit ziehen: Aufgrund der aufgezeigten Differenzen gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass das in Charm. 167a konzipierte Wissen des Wissens und Nichtwissens eine Darstellung der sokratischen Selbsterkenntnis ist. Vielmehr ist zu vermuten, dass Platon hier die von der Kritias-Figur artikulierte sophistische Konzeption der Selbsterkenntnis expliziert.326 Die Auslegung des Kritias-Logos hat erkennbar den Zweck, die 1pist¶lg 2aut/r in ihren Implikationen offenzulegen und eine kritische Prüfung vorzubereiten. Die These einer sophistischen Selbsterkenntnis in Charm. 167a gewinnt an Plausibilität, wenn man in Betracht zieht, dass die Methode der elenktischen Wissensprüfung keineswegs originär sokratisch ist, sondern bereits in der Sophistik zur Anwendung kam. Dies wird zumindest in den platonischen Dialogen angedeutet. Im Sophistes beschreibt Platon eine Wissensprüfung, die in vielen Elementen der sokratischen Methode ganz ähnlich zu sein scheint. Vor der Vermittlung von Einsichten und Kenntnissen, so der Fremde aus Elea, müsse man eine Reinigung durchführen, die die Seele von Scheinwissen und Doxosophia befreit und zu einer Haltung des wissenden Nichtwissens führt (soph. 230aff.). Die Reinigung erfolge durch eine Prüfung (5kecwor) der Meinungen, die unter Zuhilfenahme des Satzes vom Widerspruch deren Inkohärenz aufzeigt (soph. 230b). Bei diesen Beschreibungen denkt man fast zwangsläufig an das sokratische Verfahren der Tugenddialoge. Der Elenchos (soph. 231b7) wird hier jedoch nicht mit der Sokrates-Figur in Verbindung gebracht, sondern als ein sophistisches Verfahren kenntlich gemacht. In soph. 231b bezeichnet Platon diesen Elenchos als ›edle Sophistik‹ (B c´mei cemma¸a sovistij¶ 231b9). Auch in der Politeia (537e– 539a) wird ein sophistischer Elenchos (rep. 538e1) thematisiert, der einige Gemeinsamkeiten mit der sokratischen Wissensprüfung aufweist. Platon nimmt hier

326 So auch Bachmann (2007) (2013, 94 Fußn. 222). Bachmann sieht die entscheidende Differenz im Gegenstandsbereich der Wissensprüfung. Vgl. auch Carone (1998).

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allerdings eine deutlich kritische Haltung ein und grenzt diesen Elenchos explizit von dem wahrheitsorientierten philosophischen Elenchos ab (rep. 539c). Angesichts der äußeren Ähnlichkeit zwischen sophistischem und sokratischem Elenchos ist zu vermuten, dass Platon im Charmides die sophistische Wissensprüfung thematisiert, um deren Problematik aufzuzeigen und auf die spezifischen Merkmale der sokratischen Wissensprüfung hinzudeuten. Platon stellt in den Frühdialogen häufiger Auffassungen dar, die sich scheinbar in größter Nähe zum sokratischen Denken befinden327, die jedoch bei genauerer Betrachtung erhebliche Differenzen zu den Einstellungen der Sokrates-Figur aufweisen. Diese Thematisierung von sokratesähnlichen Methoden und Auffassungen ist im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Missverständnis der sokratischen Prüfungstätigkeit als Sophistik zu verstehen.328 Die von Platon vorgenommene kritische Auseinandersetzung mit sophistischen Positionen, insbesondere auch mit der Auffassung der Selbsterkenntnis, diente nicht zuletzt dem Zweck, dem verbreiteten Vorurteil von Sokrates als einem Sophisten entgegenzuwirken und den Blick für die Differenzen zwischen sophistischer Selbstaufklärung und philosophischer Selbstprüfung zu schärfen. Das Ergebnis der Untersuchung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Im Dialog Charmides gelangt keine platonische oder sokratische Konzeption der Selbsterkenntnis zur Darstellung; vielmehr wird hier eine sophistische Auffassung der epistemischen Selbstbeziehung kritisch diskutiert, die unter Voraussetzung eines axiologisch hochbesetzten Wissensbegriffs eine Wissensaufklärung geltend macht und das Wissen als solches sowie die besonderen Fachkompetenzen und einzelwissenschaftlichen Kenntnisse ins Zentrum der Selbstreflexion rückt. Da der Dialog um die Tugendproblematik kreist und das Gute thematisch stets präsent ist, lässt sich die Erörterung zugleich als kritische Auseinandersetzung mit einer Auffassung des Guten verstehen, die das Wissen bzw. die Wissensfähigkeit mit dem höchsten Wert identifiziert.329

3.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

Im letzten Kapitel dieser Untersuchung soll eine Selbsterkenntnis thematisiert werden, die im Alkibiades I als ›Blick auf Gott‹ umschrieben und als höchste Form der Selbsterkenntnis aufgefasst wird. Um den Sinngehalt dieser Form der epistemischen Selbstbeziehung zu erschließen, soll in einem textvergleichenden 327 Wie z. B. die wissensorientierte Tugendkonzeption des Nikias im Dialog Laches (194c/d). Vgl. dazu Fröhlich (2007, 74ff.). 328 Vgl. die Darstellung in der Apologie 18a–20c. 329 Vgl. rep. 505b/c.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

451

Verfahren der mögliche Zusammenhang mit den Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge und der Erkenntnis des Guten untersucht werden. Die Argumentation wird sich insbesondere auf die mittleren Bücher der Politeia stützen. Die dort präsentierte bildlich-metaphorische Darstellung des Guten weist sprachliche, argumentationslogische und inhaltliche Ähnlichkeiten mit dem Augen- und Spiegelgleichnis des Alkibiades I auf, sodass eine Verknüpfung der in den beiden Dialogen thematisierten epistemischen Vorgänge und Erkenntnisobjekte naheliegt. Diese Überlegungen bleiben freilich aufgrund der unsicheren Textlage spekulativ und haben einen experimentellen Charakter. Die Untersuchung basiert auf der nur bei Eusebios und Stobaios überlieferte Passage Alk. I 133c8–16, die häufig als neuplatonische oder christliche Interpolation betrachtet wird und in ihrer Authentizität nach wie vor umstritten ist. Um trotz dieser schwierigen Textsituation einen Interpretationsgewinn zu erzielen, wird die Annahme der Echtheit hypothetisch zugrunde gelegt und die Frage verfolgt, zu welchen Deutungsresultaten und Einsichten man auf dieser Basis gelangt. Zum Zweck der Plausibilisierung wäre in einer anschließenden Betrachtung zu prüfen, ob die auf diesem Weg erzielten Ergebnisse mit Vorstellungsmustern und Motiven der kanonischen Dialoge kompatibel sind und durch Argumentationen der Selbsterkenntnis-Dialoge, d. h. jener Texte, in denen die epistemische Selbstbeziehung eine Thematisierung erfährt, gestützt werden können. Diese Art von Verifizierungsversuch wird in der folgenden Erörterung nur ansatzweise unternommen. Die Betrachtung konzentriert sich auf die Deutung des Textstücks und wird am Ende die Konsequenzen aufzeigen, die die erzielten Deutungsresultate für das Verständnis der platonischen Identitäts- und Bildungskonzeption haben.

a)

Der ›Blick auf Gott‹ als höchste Form der Selbsterkenntnis (Alk. I 133c8–16)

Mit dem Augengleichnis und der Selbsterkenntnis im Anderen ist die identitätstheoretische Erörterung im Alkibiades I noch nicht abgeschlossen. Der Bestimmung der Selbsterkenntnis als Blick auf das ›Göttliche‹ in der Seele folgt ein Passus (133c8–16), dessen Echtheit umstritten ist, und der wohl aus diesem Grund von den Interpreten häufig kaum beachtet wird. Zunächst sei hier der Text in der Übersetzung von Schleiermacher angeführt: So wie nun die Spiegel deutlicher sind als das Abspiegelnde im Auge und reiner und heller, ist nicht so auch Gott etwas Reineres und Helleres als jenes Edelste in unserer Seele? (/q( owm fti ¦speq j²toptq² 1sti sav´steqa toO 1m t` avhakl` 1mºptqou ja· jahaq¾teqa ja· kalpqºteqa, ovty ja· b he¹r toO 1m t0 Blet´qô xuw0 bekt¸stou jahaq¾teqºm te ja· kalpqºteqom tucw²mei em;) […] Schauen wir also auf Gott, so

452

Selbsterkenntnis bei Platon

bedienen wir uns jenes vortrefflichsten Spiegels, und unter den menschlichen Dingen auf die Tugend der Seele. Und so würden wir denn am besten uns selbst sehen und erkennen (EQr t¹m he¹m %qa bk´pomter 1je¸m\ jakk¸st\ 1mºptq\ wq]leh( #m ja· t_m !mhqyp¸mym eQr tµm xuw/r !qet¶m, ja· ovtyr #m l²kista bq`lem ja· cicm¾sjoilem Bl÷r aqto»r). (Alk. I 133c8–16)

Die nur durch Eusebios und Stobaios überlieferte Passage330 ist von etlichen Forschern als neuplatonische331 oder christliche332 Interpolation betrachtet worden.333 Gegen die These einer nachträglichen Erweiterung des Textes sind jedoch mehrfach überzeugende Argumente vorgetragen worden.334 Entscheidend dürften die inhaltlichen Beweisführungen für die Authentizität des Textstücks sein. Zu differenzieren sind hier dialogimmanente Nachweise und textvergleichende Argumente. Wiggers (1932, 700–703), Beierwaltes (1991, 82 Fußn. 9) und Johnson (1999, 13)335 verweisen darauf, dass in einer späteren Passage des Dialogs ein Rückbezug auf die Zeilen 133c8–16 erfolgt (134d1–6; vgl. insbes. 134d4–5: »Und so werdet ihr, wie wir in dem vorigen sagten, in das Göttliche [he?om] und Glänzende [kalpq¹m] schauend, handeln«) und die spätere Textstelle ohne die umstrittene Passage nicht verstehbar ist. Das in 133c9 und 11 gebrauchte »Wort kalpqºr […]«, so Wiggers (1932, 700f.), »kehrt 134d wieder : ja· fpeq ce 1m to?r pqºshem 1k´colem, eQr t¹ he?om ja· k a l p q ¹ m bq_mter pq²nete. Eine andere Beziehung als auf 133c ist unmöglich«. Ähnlich Beierwaltes (1991, 82 Fußn. 9): »Der Verweis in 134d4 auf das ›zuvor Gesagte‹, welcher sich auch auf das kalpqºm, das Leuchtende oder Lichte bezieht (kalpqºteqom in 133c11ff.), kann nur eben diese Stelle meinen« und Johnson (1999, 13): »While the references to the divine could refer merely to 133c4–6, the brightness here is almost certainly a

330 Vgl. dazu Pradeau (1999, 221–228). 331 So bereits Friedländer (1964, II, 334 Anm. 13). Reis (1999) hat für eine mittelplatonische Herkunft des Textstücks argumentiert. 332 Vgl. Linguiti (1981), Favrelle (1982, 371–374), Fortuna (1992). 333 Einen Überblick über die wichtigsten Argumente gibt Reis (1999, 84f.). Reis führt im Wesentlichen drei Indizien für eine Interpolation an: 1) Die Art und Weise, wie Stobaios die fragliche Textpassage zitiert: »Stobaios nämlich läßt nach Va¸metai (133c7) ebenso wie unsere Platonhandschriften die Worte 133c18–20 (T¹ d³ cicm¾sjeim – P²mu ce) folgen, setzt dann das aus Eusebios bekannte Stück 133c8–17 ein und zitiert darauf ein zweites Mal den Text der Zeilen 133c18–20« (84); 2) Sprachliche Auffälligkeiten: »Platon gebraucht, sooft er in seinem Werk von Spiegeln spricht, stets das Wort j²toptqom. Der Terminus 5moptqom (133c9) ist unplatonisch« (84f.); 3) »Im Alkibiades-Kommentar des Olympiodoros fehlt jede Spur des verdächtigen Abschnitts« (85). Denyer (2001, 236f.) hat in seinem Kommentar vor allem sprachliche Bedenken gegen die Echtheit der Passage geltend gemacht. 334 Vgl. Goldin (1993, 12 Anm. 30) und Johnson (1999, 12). 335 Zur Argumentation für eine Authentizität vgl. auch Pradeau (1999, 222 Anm. 2) und Döring (2016, 136–139).

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reference to the claim at 133c11 that God is brighter (kalpqºteqom) than the divine in our souls, just as mirrors are brighter than pupils«.336 Dönt (1964, 37–51), Beierwaltes (1991, 82, Fußn. 9) und Johnson (1999, 12f.) weisen zudem auf den engen inhaltlichen Zusammenhang mit dem vorangegangen Textstück hin. Dönt betont die Kohärenz und Konsistenz der gesamten Argumentation an dieser Stelle337: »In diesem klaren, geradlinigen Gedankengang […] sind alle Denkschritte so genau aufeinander bezogen und voneinander abhängig, die Analogien so pedantisch […] durchgeführt, daß es unmöglich ist, aus dem Gebäude einen Baustein herauszunehmen, ohne es zusammenfallen zu lassen. Das nur bei Stobaios und Eusebios überlieferte Stück (133c 8–17) stellt sich daher nicht nur als integrierender Bestandteil des Gedankenfortschrittes ab 132d heraus, sondern als dessen Ziel und krönender Abschluß« (39f.).338 Beierwaltes bemerkt, dass »in der fraglichen Passage (133c8) die Spiegel-Me336 Gegen dieses Argument hat Reis (1999, 85) eingewendet, »daß sich der Rückverweis 134d4 hinreichend auf die Zeilen 133c4–6 beziehen läßt. kalpq¹m (134d5) setzt keineswegs kalpqºteqa (133c9) und kalpqºteqom (133c11) voraus: Zum einen kann das he?om im Rahmen des Vergleichs mit Auge und Spiegel ohnehin nur als kalpqºm gedacht werden […]; zum anderen ist die Junktur t¹ he?om ja· kalpq¹m durch die Antithese mit dem nachfolgenden t¹ %heom ja· sjoteim¹m (134e4) motiviert«. Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Der Eingangssatz in 134d4 (Ja· fpeq ce 1m to?r pqºshem 1k´colem) kündigt durch das 1k´colem ein Zitat der im Vorigen benutzten Redeweisen und Beschreibungen des Objekts der Erkenntnis an und ist also sowohl auf das he?om als auch das kalpq¹m zu beziehen. Zum zweiten: Es verhält sich wohl eher umgekehrt. Das t¹ %heom ja· sjoteim¹m (134e4) ist durch das vorherige t¹ he?om ja· kalpq¹m (134d4f.) motiviert. Zu den Argumenten gegen eine Deutung von 134d4f. als Indiz für die Echtheit der umstrittenen Passage vgl. auch Remes (2013, 293f.). Döring (2016, 137) meint, dass alle Versuche, die Bezugnahme von134d4–5 auf 133c8–17 zu bestreiten, »zum Scheitern verurteilt« sind. 337 Dönt bezweifelt allerdings die Authentizität des gesamten Dialogs. 338 In seiner Bestreitung der Echtheit der Passage führt Reis (1999, 86f.) das Gegenargument an, dass Alk. I 133c8–17 »keinen Gedankenfortschritt gegenüber dem unmittelbar zuvor Erreichten« bringt und insofern entbehrlich ist. »Daß man […] sich selbst am besten dann erkennt, wenn man durch den Blick auf das Göttliche zur Erkenntnis Gottes gelangt ist, ist schon 133c4–6 ausgesprochen« (86). Nach Reis bezieht sich das eQr toOto in 133c4 nicht auf den vernünftigen Teil der menschlichen Seele, sondern auf das Göttliche, dem dieser gleicht. Das Problem dieser Lesart besteht m. E. darin, dass der Übergang vom Blick auf die Vernunftseele zur Erkenntnis Gottes ziemlich abrupt und unvermittelt erfolgen würde und dies für die Argumentationsweise in diesem Dialog völlig untypisch wäre. Das Prädikat des Göttlichen wird in 133c1 nicht als Vorbereitung einer Gotteserkenntnis eingeführt, sondern dient dem Zweck der Auszeichnung der Vernunft als das Beste in der Seele (analog zur Pupille als dem Besten im Auge in 133a5–7). Der nachfolgende Argumentationsschritt hat ganz eindeutig die Funktion einer Schlussfolgerung (vgl. das 133b2 entsprechende %qa in 133c4). Der ganze Schluss lautet wie folgt: 1) Eine Seele kann sich dadurch erkennen, dass sie in eine andere Seele sieht (133b7f.), und zwar in den besten Teil von ihr (133b9f.). 2) Die Vernunft ist das Beste, Göttlichste in der Seele (133c1f.). 3) Also muss die Seele in die Vernunftseele des Anderen hineinsehen, um sich selbst zu erkennen (133c4–6). Aufgrund dieser Argumenationslogik gibt es gute Gründe für die Annahme, dass sich das eQr toOto in 133c4 auf den vernünftigen Teil der Seele bezieht.

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Selbsterkenntnis bei Platon

tapher von 132e2 fortgeführt und auf die Interpretation des Augengleichnisses ausgedehnt« werde (82, Anm. 9). Pietsch (2008, 355 Fußn. 23) hat vor einigen Jahren den dialoginternen Argumenten für die Echtheit der Passage 133c8–16 beigepflichtet und darüber hinaus auf Parallelstellen in anderen Dialogen verwiesen. Es bestehe insbesondere zwischen der Alkibiades-Passage und den Aufstiegsdarstellungen in rep. VII 517a8–c5 und Phaidr. 247c3–e6 ein enger sachlicher Zusammenhang und eine inhaltliche Nähe.339 In Anknüpfung an diese textvergleichende Argumentation wird im Folgenden aufzuzeigen sein, dass es starke Ähnlichkeiten zwischen Alk. I 133c8–16 und dem Sonnen- und Höhlengleichnis der Politeia gibt und insofern einiges für die Echtheitsannahme spricht. Das eigentliche Problem besteht freilich im Verständnis der umstrittenen Zeilen. Eine Deutung der Passage ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, weil hier im Anschluss an das Augengleichnis eine mythisch-metaphorische Sprache verwendet wird, die keine rationale Ausformung erfährt. An der Stelle finden sich keine weiterführenden Erklärungen oder Verständnishinweise, die einen Schlüssel zur Interpretation bieten würden. Der im Dialog als Gesprächsführer auftretende Sokrates setzt in 133c17 die Argumentation mit einer Betrachtung der lebenspraktischen Konsequenzen der Selbsterkenntnis fort, ohne noch einmal erläuternd Bezug auf das Gleichnis zu nehmen. Der Leser wird an dieser Stelle mehr oder weniger allein gelassen. Um einer Erschließung des Bedeutungsgehalts der Passage näher zu kommen, ist zunächst eine Abgrenzung vorzunehmen. Die hier entworfene Form der Selbsterkenntnis ist keineswegs identisch mit der zuvor thematisierten epistemischen Selbstbeziehung, sondern bezeichnet eine ganz neue Einsicht. In der Literatur wird die Passage zumeist im Sinn einer weiteren Explikation des in 132c–133c7 dargestellten Blicks in die Vernunftseele des Anderen gedeutet.340 In der jüngeren Forschung341 ist jedoch richtig gesehen worden, dass hier ein Perspektivenwechsel vorgenommen und eine weitergehende Selbsterkenntnis konzipiert wird, die das Selbst durch den Bezug auf ›Gott‹ zu erfassen sucht. Die komparativischen Beschreibungen des ›Gottes‹ als das gegenüber der menschlichen Seele ›Reinere‹ und ›Hellere‹, als ›vortrefflichster Spiegel‹ (133c13) und die daraus abgeleitete Möglichkeit einer vollendeten Selbsterkenntnis in ›Gott‹ (»und so würden wir denn am besten uns selbst sehen und erkennen« 133c14f.)

339 Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch Tht. 176b/c. Zum Zusammenhang zwischen dem Alkibiades I und der Politeia vgl. auch Ortiz de Landazuri (2015). 340 So z. B. Beierwaltes (1991, 82–84). 341 Vgl. Johnson (1999, 15f.), Denyer (2001, 236f.), v. Kutschera (2002, Bd. 3, 260f.), Sorabji (2006, 231), Pietsch (2008), Döring (2016, 136f.). Etwas vorsichtiger Moore (2015, 124).

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verweisen darauf, dass an dieser Stelle eine höhere Form der epistemischen Selbstbeziehung thematisiert wird. Mit diesen Überlegungen ist jedoch noch nicht allzuviel erreicht. Der entscheidende Punkt für ein Verständnis der Passage ist die Klärung der Frage, welche Art von Gottesbezug hier gemeint ist. Wie ist der ›Blick auf Gott‹ zu verstehen? Im Sinn einer mystischen Versenkung, einer visionären Schau, einer kosmologischen Betrachtung, einer metaphysischen Spekulation oder einer rationalen Theologie? Welche epistemische Form und welches methodische Verfahren sind mit der Redeweise ›auf Gott schauen‹ (eQr t¹m he¹m %qa bk´pomter 133c13) angesprochen? Was für eine Wirklichkeit oder Kraft wird hier mit dem Begriff ›Gott‹ (b heºr 133c10) bezeichnet? Beachtet man die Verbindung zum Augengleichnis, so lassen sich erste Anhaltspunkte für eine Auslegung finden. Unter Rückgriff auf das im Augengleichnis thematisierte ›Göttliche‹ in der menschlichen Seele wird im Spiegelgleichnis ein anthropologisch vermittelter Gottesbegriff entworfen. In lichtmetaphorischer Ausdrucksweise bestimmt Sokrates die göttliche Dynamis als Potenzierung des menschlichen Vermögens: »Gott [ist] etwas Reineres und Helleres als jenes Edelste in unserer Seele« (Alk. I 133c10f.). Da das im Augengleichnis thematisierte Beste der menschlichen Seele eindeutig als Vernunftfähigkeit zu identifizieren war, liegt der Schluss nahe, dass mit ›Gott‹ die Idee einer vollkommenen Vernunft (moOr) gemeint ist.342 Die Selbsterkenntnis im Spiegel des Gottes lässt sich von daher in einer vorläufigen Weise wie folgt deuten: In der Ausrichtung auf eine vollkommene Vernunft wird etwas erfahren, das im Verhältnis zu den faktischen kognitiven Leistungen des Menschen einen idealen Status besitzt. Der ›Gott‹ spiegelt ein Selbst wider, auf das hin jedes Vernunftwesen angelegt ist, an das sich der Einzelne in einem prinzipiell unabschließbaren Prozess annähern kann343, das jedoch nie in einer endgültigen Weise verfügbar ist und insofern immer Aufgabe bleibt. Selbsterkenntnis bedeutet in dieser entwickelten Form nicht reflexive Vergewis-

342 Die Bezeichnung der Vernunft (moOr) mit dem Begriff des Gottes oder des Göttlichen findet sich auch in anderen platonischen Dialogen. In Anknüpfung an die anaxagoreische NousTradition wird inbesondere in den Spätdialogen, im Timaios und in den Nomoi die Vernunft (moOr) als Gott eingeführt. Vgl. Phaid. 99c2f.; Phil. 28b1; leg. 715e7–716a4. Zur Identifizierung des Demiurgen im Timaios mit dem Nous vgl. Menn (1995, 10): »it should be clear that the demiurge of the Timaeus is indeed the same as the nous of the Philebus«; ähnlich Bordt (2009a, 210) der im Demiurgen »das mythologische Bild der Vernunft« sieht. Zur Identifizierung von Gott und Nous bei Platon vgl. Menn (1995), Bordt (2006, 214–236) (2009a, 210), Karfik (2010, 82–97). 343 Vgl. das Motiv der ›Verähnlichung mit Gott‹ (blo¸ysir he`) in Tht. 176b1; Phaidr. 253a/b; rep. 500c/d, 613b1–2; Tim. 90d4; leg. 716c/dff. Zur Formel der Angleichung an Gott in den mittleren und späten Dialogen vgl. Sedley (1997), Russell (2004), Bordt (2009b, 253–255).

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Selbsterkenntnis bei Platon

serung der eigenen Vermögen und Leistungen, sondern Einsicht und Annäherung an ein aufgegebenes Selbst.344

b)

Selbsterkenntnis in Relation zur Erkenntnis des Guten (Alkibiades I, Politeia)

aa)

Strukturvergleich zwischen Alk. I 133c8–16 und den Gleichnissen der Politeia

Eine weitergehende Deutung des Spiegelgleichnisses lässt sich auf dem Weg einer textvergleichenden Untersuchung erzielen. Wie schon erwähnt, gibt es Parallelstellen in anderen Dialogen. Besonders aufschlussreich sind hier das Sonnen- und Höhlengleichnis der Politeia. Vergleicht man das Augen- und Spiegelgleichnis des Alkibiades I mit der Gleichnisserie der Politeia, so lassen sich auffallende Ähnlichkeiten beobachten. 1) Es werden dieselben Metaphern verwendet; 2) es gibt Übereinstimmungen bezüglich der Argumentationsstruktur ; 3) die lebenspraktischen Konsequenzen, die mit der jeweils thematisierten Erkenntnis verbunden werden, entsprechen einander. Zu 1): Sowohl im Alkibiades I als auch in der Politeia gebraucht Platon die Lichtmetaphorik, um auf den ausgezeichneten Rang und die besondere Qualität der höchsten Erkenntnisgegenstände hinzuweisen und zwischen verschiedenen Erkenntnisgraden und Gegenstandsbereichen zu differenzieren. Hier wie dort wird mit dem Hell-Dunkel-Gegensatz gearbeitet, um Erkenntniszustände und -objekte zu gewichten und als höherstufig bzw. als qualitativ geringer oder vorläufig auszuweisen. Im Spiegelgleichnis des Alkibiades I bezeichnet Platon Gott als das Leuchtendere, Lichtere, Hellere (kalpqºteqom) gegenüber der Sphäre des faktischen menschlichen Intellekts und seiner Leistungen, die er damit dem Dunkleren zuordnet: »Ist nicht so auch Gott etwas […] Helleres als jenes Edelste in unserer Seele?« (133c10f.). In ähnlicher Weise wird im Höhlengleichnis der Politeia 344 Ähnlich Pietsch (2008, 355 Fußn. 23): »der Mensch/die individuelle Seele [sieht] durch seinen/ihren Intellekt im Göttlichen das [ ], was er/sie selbst werden soll bzw. wozu er /sie durch die Betrachtung wird«. Diesen Aspekt übersieht Döring (2016, 136f.), wenn er den ›Blick auf Gott‹ als Einsicht in die »grundsätzliche Beschränktheit alles menschlichen Wissens« deutet. Döring betont die Kluft zwischen Gott und Mensch und deutet die sokratisch-platonische Selbsterkenntnis damit im Sinn der vorphilosophischen Selbstbesinnung: »Will der Mensch sich selbst erkennen, dann darf er sich nicht darauf beschränken, auf das Göttliche im Menschen, sein Denken, zu blicken, er muss, darüber hinausgehend, auf Gott blicken, weil er das Wesen alles menschlichen Denkens nur dann erkennen kann, wenn er erkennt, wie kläglich es im Vergleich zum göttlichen ist« (137).

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(514a–518b) die Differenz zwischen dem Guten und der entsprechenden Wahrheitserkenntnis auf der einen Seite und den Urteilen und Meinungen einer noch ungebildeten Vernunft auf der anderen Seite mit lichtmetaphorischen Kategorien ausgedrückt.345 Das Gute und seine Erkenntnis sei gegenüber den Meinungen und Wissenszuständen des faktischen Intellekts das Hellere, Glänzendere (vamºteqom rep. 518b1) und Leuchtendere, Lichtvollere (kalpqºteqom rep. 518b1). Der von der Erkenntnis der Tugenden und des Guten bestimmte epistemische Zustand wird hier mit einem vom Sonnenlicht durchfluteten äußeren Raum verglichen; den Zustand der Unwissenheit, des Irrtums, der unbegründeten Meinung hingegen umschreibt Platon metaphorisch als dunkle Höhle, die von einem Feuer schwach ausgeleuchtet wird, die also gegenüber der Wahrheitserkenntnis das Dunklere darstellt, aber nicht ganz von der Finsternis bestimmt ist. Neben dem Hell-Dunkel-Gegensatz lassen sich auch Ähnlichkeiten bei der metaphorischen Beschreibung des höchsten Erkenntnisgegenstandes beobachten. Im Sonnengleichnis vergleicht Platon die zuvor als größte Einsicht bezeichnete Idee des Guten (1pe· fti ce B toO !cahoO Qd´a l´cistom l²hgla rep. 505a2–3) mit der Sonne als Quelle allen Lichts (rep. 507aff.). In der Weiterführung dieser Metapher wird das Gute in 518c9 als das ›Glänzendste, Leuchtendste unter dem Seienden‹ (toO emtor t¹ vamºtatom) bezeichnet (vgl. auch rep. 532c7). In ähnlicher Weise umschreibt Sokrates im Spiegelgleichnis des Alkibiades I den ›Gott‹ als das ›Leuchtendere, Hellere‹ (kalpqºteqom 133c11). An späterer Stelle (Alk. 134d5) spricht er in Anknüpfung daran vom Blick auf das ›Glänzende‹ (t¹ kalpqºm). Zu 2): Vergleicht man die Argumentationslinie der Gleichnisserie der Politeia mit der Argumentation im Alkibiades I, so lassen sich folgende Strukturähnlichkeiten beobachten: a) Im Augengleichnis des Alkibiades I bestimmt Sokrates das geistige Vermögen in Relation zu den anderen seelischen Kräften: Die Vernunft ist das Beste (b´ktistom Alk. I 133a6) und Göttlichste (heiºteqom Alk. I 133c1) in der Seele. Dabei wird zwischen dem Organ oder Vermögen selbst (133b9 und 133c1f.) und der entsprechenden Leistung und Tugend – Weisheit, Wissen, Einsicht (sov¸a, eQd´mai, vqºmgsir) – differenziert (Alk. I 133b/c; vgl. insbes. 133b8–10). In ähnlicher Weise wird im Sonnengleichnis die Erkenntniskraft gegenüber den anderen seelischen Vermögen ausgezeichnet und eine Differenzierung zwischen Organ und Fähigkeit eingeführt. In rep. 508a11f. unterscheidet Platon im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung zwischen dem Organ, der spezifischen Leistung und deren Ermöglichungsgrund: »Das Sehen (exir) ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet, und was wir Auge (ella) 345 Zum Hell-Dunkel-Gegensatz vgl. auch das Sonnengleichnis (rep. 508c/d).

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nennen«. Mit dem Ausdruck ella ist an dieser Stelle das Sehorgan gemeint, während exir die spezifische Leistung und Fähigkeit, die Sehkraft bezeichnet, die hier im Zusammenhang mit der Bestheit erörtert wird. Durch das Licht der Sonne gelangt die Sehkraft zur vollen Entfaltung und realisiert eine deutliche, klare (sav¶r) Wahrnehmung der sichtbaren Gegenstände (rep. 508d1f.), erreicht also ihre eigentümliche Tugend. Diese Differenzierung wird in rep. 508c/d auf den geistigen Bereich übertragen.346 Die Seele (xuw¶ rep. 508d4) ist das Organ, dessen spezifische Fähigkeit die Vernunft (moOr rep. 508d6 u. 9) ist. Im Hinblick auf die im Alkibiades I angedeutete Topologie der Seele (Alk. I 133b9) und die Seelenteilkonzeption der Politeia lässt sich vermuten, dass hier die Vernunftseele gemeint ist. Durch die Wirksamkeit des Guten erfährt die Vernunftfähigkeit eine Entwicklung und Entfaltung und erzielt Wahrheitserkenntnis (mºgsir rep. 508d6, 1pist¶lg 508e3 u. 6) (508d).347 Als spezifische Tugend der Vernunftseele wird an dieser Stelle die Einheit von ausgebildeter Vernunftfähigkeit und wahrheitshaltiger Einsicht angedeutet und damit das subjektive Moment der Fähigkeit in die Tugend integriert.348 Ähnlich wie im Alkibiades I wird auch im Sonnengleichnis die Vernunft in ihrer Vorrangstellung gegenüber den anderen seelischen Vermögen kenntlich gemacht und als wertvollste Kraft ausgezeichnet. So wie die Sehkraft »das sonnenähnlichste […] unter allen Organen der Wahrnehmung« ist (rep. 508b3), so bezeichnet die Erkenntniskraft das Beste im seelischen Bereich. Dieser Satz wird zwar nicht explizit formuliert, aber durch die Analogieaussage in 508b12– c4 nahegelegt (vgl. auch rep. 509a3). b) Der Auszeichnung der Vernunft als göttlichster Kraft der Seele folgt im Alkibiades I eine Verhältnisbestimmung von menschlichem Erkenntnisvermö346 Vgl. die einleitende Aussage über die Ähnlichkeit zwischen dem Guten und der sinnlichen Sonne und den Relationen im sinnlichen und geistigen Bereich in rep. 508b12–c4. Die Analogie zwischen visuellem Wahrnehmungsorgan und geistig-seelischen Vermögen findet sich in ähnlicher Form bereits im Frühwerk. In Lach. 190a wird das Auge mit der Seele und die Sehkraft (exir) mit der Tugend der Seele analogisiert: »Wenn wir wissen, das Sehen (exir), den Augen einwohnend, mache die besser, denen es einwohnt, und zugleich vermögen zu bewirken, daß es den Augen einwohne, so kennen wir doch offenbar das Sehen selbst, was es ist, über welches wir Rat geben sollen, wie jemand es am leichtesten und besten erwerben möge. […] Haben nun nicht […] auch jetzt diese beiden (sc. Lysimachos und Melesias] uns zur Beratung gerufen, auf welche Weise wohl den Seelen ihrer Söhne Tugend beigebracht werden und sie besser machen möge?« (Lach. 190a1–b5). Vgl. auch rep. I 353b14ff. 347 In rep. 518d wird angedeutet, dass die Bildung der epistemischen Fähigkeit, der ›geistigen Sehkraft‹ durch Lenkung, Umlenkung (peqiacyc¶) geschieht. 348 Die Unterscheidung zwischen der Vernunftseele als Organ (eqcamom), der Erkenntnisfähigkeit als ein der Seele innewohnendes Vermögen (d¼malir) und der ausgebildeten epistemischen Fähigkeit wird in rep. 518c–519b noch einmal aufgegriffen und – wiederum in Analogie zur visuellen Wahrnehmung – entwickelt.

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gen und ›Gott‹. Im Rahmen des Spiegelgleichnisses führt Sokrates, wie schon mehrfach erwähnt aus, dass ›Gott‹ gegenüber dem menschlichen Intellekt das ›Reinere und Hellere‹ darstellt (133c10f.), also von übergeordneter Qualität ist. In ähnlicher Weise wird im Sonnengleichnis die Relation zwischen der Erkenntniskraft und dem Guten bestimmt. Nachdem das Gute als kausales Moment (aQt¸a) in rep. 508c–e von der Vernunftfähigkeit (moOr) und der Vernunfteinsicht (mºgsir, 1pist¶lg) unterschieden worden ist, wird es in rep. 508e/ 509a als das Wervollere, Schönere gekennzeichnet: »Eine überschwengliche Schönheit (!l¶wamom j²kkor ) […] verkündigst du, wenn es [sc. das Gute] Erkenntnis (1pist¶lg) und Wahrheit (!k¶heia) hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit (aqt¹ d( rp³q taOta j²kkei 1st¸m)« (rep. 509a6f.; vgl. auch 508e4).349 c) Hier wie dort kulminiert die Argumentation in der Thematisierung des Bezugs auf den höchsten Erkenntnisgegenstand. Im Alkibiades I wird nach der Verhältnisbestimmung die epistemische Ausrichtung auf ›Gott‹ als höchste Erkenntnisform und vollendete Selbsterkenntnis bezeichnet. Das Spiegelgleichnis mündet in die Darstellung des ›Blicks auf den Gott‹, der mit der Erkenntnis der ›Tugend der Seele‹ verknüpft wird (133c13–15). In ähnlicher Weise wird in der Politeia im Anschluss an das Sonnengleichnis und die dort vorgenommenen relationalen Bestimmungen die Erkenntnis des Guten zum Gegenstand gemacht. Das Liniengleichnis beschreibt das epistemische Verfahren: Das Gute ist nicht in einer direkten, unmittelbaren Gegenstandserkenntnis zu fassen, sondern nur erreichbar durch ein Zurückschreiten in den Voraussetzungen (rpoh´seir) bis zum voraussetzungslosen Grund (!qw¶ !mupºhetor rep. 510b7). Das daran anknüpfende Höhlengleichnis umschreibt die höchste Erkenntnis in sehensmetaphorisch-bildlicher Ausdrucksweise als Blick auf die ›natürlichen Gegenstände‹ und die ›Sonne‹ und verweist auf eine innere Umwendung und Gewöhnung als Bedingungen einer gelingenden Erkenntnis. In den nachfolgenden Kommentaren wird deutlich, dass hier vornehmlich die Erkenntnis der Tugend, insbesondere der Gerechtigkeit, und die Einsicht in das Gute gemeint sind (vgl. rep. 517d/e, 518c/d, 520c6f., 531c6f., 538d/e).350 Zu 3): Im Alkibiades I und der Politeia werden mit der jeweils als höchste Erkenntnisform geltend gemachten Einsicht ähnliche lebenspraktische Konsequenzen verbunden. Im Alkibiades I führt Sokrates als Folge der vollendeten Selbsterkenntnis eine Urteils- und Handlungskompetenz an, die sowohl auf die individuelle Lebenspraxis als auch auf die Gemeinschaft bezogen ist. Die Selbsterkenntnis vermittelt dem Einzelnen die Fähigkeit, in der konkreten Si349 Vgl. auch rep. 509a5: !kk ( 5ti leifºmyr tilgt´om tµm toO !cahoO 6nim. 350 Darauf hat insbesondere Stemmer (1992, 207) hingewiesen.

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tuation Handlungsoptionen nach vernünftigen Kriterien zu beurteilen und im privaten Lebensvollzug wie auch im politisch-öffentlichen Kontext gerecht und besonnen zu handeln (Alk. I 133c–135c; vgl. insbes. 134d). Analog dazu führt Platon in der Politeia aus, dass die Erkenntnis des Guten zu einem vernünftigen Handeln im privaten und im öffentlichen Bereich führt und die Fähigkeit zur Regierung und Lenkung des Gemeinwesens vermittelt (rep. 517c, 520c). Angesichts der aufgezeigten Strukturähnlichkeiten lässt sich die These wagen, dass in den Gleichnissen des Alkibiades I und der Gleichnisserie der Politeia dieselben epistemischen Prozesse und Erkenntnisgegenstände beschrieben werden. Das Spiegelgleichnis des Alkibiades I ist offenbar im Zusammenhang mit den Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge zu sehen, wie bereits Pietsch (2008) vermutet hat.351 Der Alkibiades I und die Darstellung in der Politeia interpretieren sich bei genauerem Hinsehen wechselseitig und ergänzen sich in bestimmten Aspekten. Der ›Blick auf Gott‹, der im Alkibiades I nicht weiter expliziert wird, lässt sich von den Gleichnissen her als Aufstieg zur Erkenntnis des Guten deuten. Umgekehrt lässt sich die in der Politeia dargestellte Erkenntnis des Guten auf der Grundlage des Alkibiades I als vollendete Selbsterkenntnis verstehen. Der Alkibiades I verweist auf die identitätsbildenden und selbstreferentiellen Aspekte des Aufstiegsprozesses, die in der Politeia zwar thematisch präsent sind, aber nicht in den Kategorien der Personalität formuliert werden.

bb)

Gott, Nous und Agathon

Die Identifizierung der im Alkibiades I dargestellten Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Guten lässt sich auch noch auf einem anderen Weg aufzeigen. Im Spiegelgleichnis des Alkibiades I bestimmt Sokrates, wie schon mehrfach aufgezeigt, ›Gott‹ als das dem faktischen menschlichen Vernunftvermögen qualitativ Übergeordnete, als das »Reinere [ ] und Hellere [ ] als jenes Edelste in unserer Seele« (133c10f.). Diese Bestimmung legt nahe, dass mit ›Gott‹ die Idee einer vollkommenen Vernunft gemeint ist. Ein Blick auf andere Dialoge zeigt, dass Platon die Ausdrücke ›Gott‹ (heºr) und das ›Göttliche‹ (he?om) häufiger zur Bezeichnung einer vollkommenen, alles umgreifenden Vernunft (moOr) gebraucht, sodass man also auch textvergleichende Argumente für die vorgeschlagene Deutung anführen kann. In Anknüpfung an die anaxagoreische NousTradition wird inbesondere in den Spätdialogen, im Philebos, Timaios und in den Nomoi die Vernunft als Gott eingeführt.352 Im Philebos bestimmt Platon den 351 Vgl. auch Tsouna (2004, 327–329). 352 Zur Identifizierung von Gott und Nous bei Platon vgl. Menn (1995), Bordt (2006, 214–236) (2009a, 210), Karfik (2010, 82–97).

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Nous in direkter affirmativer Bezugnahme auf die ›früheren‹ Philosophen (oR pqºshem Phil. 28d9; vgl. auch 30d6–8), die im Hinblick auf Phaid. 97b–99c als Schule des Anaxgaroras identifiziert werden können353, als kosmisches Prinzip, das das Ganze durchwaltet (Phil. 28d6f.) und alles Geschehen ordnet und bestimmt (Phil. 28d/e, 30c/d). Die schon durch die Funktionsbestimmung und den Anaxagoras-Bezug nahegelegte Identifizierung dieser Vernunftursache (aQt¸a) mit Gott oder dem Göttlichen (vgl. Phaid. 99c2–3)354 wird in Phil. 28b1, 28c7f. (¢r moOr 1sti basike»r Bl?m oqqamoO te ja· c/r) und Phil. 30d1f. ausdrücklich formuliert. Wie Menn (1995, 10) überzeugend aufgezeigt hat, ist der im Timaios als göttlicher Baumeister des Kosmos eingeführte Demiurg mit dem Vernunftprinzip aus dem Philebos in Beziehung zu setzen: »it should be clear that the demiurge of the Timaeus is indeed the same as the nous of the Philebus«. In ähnlicher Weise hat Bordt (2009a, 210) auf eine Identität hingewiesen: »Ferner identifiziert Platon in seinem Timaios Gott mit der Vernunft, denn der Demiurg, der an verschiedenen Stellen im Timaios ›Gott‹ genannt wird, ist das mythologische Bild der Vernunft. Dadurch, dass der Demiurg etwas erschafft, wird auf mythologische Art und Weise ausgedrückt, dass das, was geschaffen ist, vernünftig ist«. Eine Verbindung des Nous mit dem Göttlichen findet sich schließlich auch in den Nomoi. In leg. 897b wird im Rahmen einer Thematisierung der Bewegungen der Weltseele der Nous als ein Gott bezeichnet, der Orientierungsleistungen erfüllt. Wenn die Weltseele alles zum Richtigen und Besten ordnet, nimmt sie »die Vernunft zu Hilfe […], die auch für Götter mit Recht eine Gottheit (he¹r) ist«.355 Eine Bestimmung des Gottes als Vernunft wird auch in der Ansprache an die Siedler in leg. 715eff. angedeutet.356 In der jüngeren Forschung zur platonischen Theologie ist darüber hinaus aufgezeigt worden, dass Platon mit dem Ausdruck moOr ein Prinzip bezeichnet, dass an anderer Stelle unter dem Terminus ›Idee des Guten‹ (Qd´a toO !cahoO) eingeführt wird, und vieles für eine Wesenseinheit der beiden Prinzipien spricht. Wie insbesondere Bordt (2006, 238–250) in seiner Untersuchung über die platonische Theologie ausgeführt hat, liegt aufgrund der funktionalen Gleichheit 353 Zum Verhältnis von platonischer und anaxagoreischer Nous-Theorie vgl. Menn (1995, 43ff.). 354 Zur Identifizierung von Nous und Gott in der Anaxagoras-Schule vgl. Burkert (GR, 470). 355 Die Eigler-Ausgabe (griech. Text DiHs/Souilh8; Übers. H. Müller/K. Schöpsdau) folgt in der Übersetzung mit Görgemanns (1960, 200, Anm. 3) und Dönt (1968, 369–371) dem in AO überlieferten Text moOm l³m pqoskaßoOsa !e¸, he¹m aqh_r heo?r. So auch Bordt (2006, 234 Fußn. 243), der von der Lesart von DiHs (he?om aqh_r he¹r owsa) abweicht und dem Text der Burnet-Ausgabe folgt, »weil sowohl die Handschrift A als auch die Handschrift O he¹m aqhyr heo?r haben und diese Lesart vorgezogen werden sollte«. 356 Vgl. Bordt (2009a, 210).

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Selbsterkenntnis bei Platon

die Vermutung nahe, dass Platon eine Identität des Nous mit der Idee des Guten angenommen hat. Im Phaidon bestimme Platon in Anknüpfung an die anaxagoreische Nous-Theorie die Vernunft als Ursache aller Dinge. Dabei werde die Anaxagoras-Theorie in bestimmten Aspekten transformiert. Der Nous sei nicht nur Ursache der kosmischen Ordnung, sondern zugleich Ursache der Bestheit der Dinge. Bordt sieht darin die zwei charakteristischen Eigenschaften des Nous, die im Phaidon herausgestellt werden: »Erstens, daß die Ordnung bzw. die Struktur dessen, was erklärt wird, auf den nous zurückgeführt wird. Die Vernunft ist das, was alles ordnet und strukturiert. Zweitens, daß der nous eine Erklärung dafür ist, warum sich das, was durch den nous erklärt wird, im besten Zustand befindet« (242). Diese Erklärung der Wirklichkeit durch den Nous müsse mit der Konzeption der Idee des Guten in der Politeia verbunden werden: »Terminologisch spricht Platon zwar nicht mehr von der Vernunft als letztem Prinzip, sondern von einer Idee, der Idee des Guten, aber der Sache nach erfüllt die Idee des Guten die beiden Funktionen, die der Vernunft im Phaidon zugeschrieben werden: Die Idee des Guten ist erstens die Ursache dafür, daß die Dinge gut sind, und ist zweitens die Ursache für die Ordnung und Struktur der Wirklichkeit« (243f.). In seinen Ausführungen versucht Bordt diese These anhand der Gleichnisse zu belegen und gelangt schließlich zu folgendem Fazit: Die Idee des Guten und der Nous »erklären beide die Ordnung und die Gutheit der gesamten Wirklichkeit. Die Tatsache, daß sowohl die Idee des Guten als auch der nous wesentlich die gleichen Funktionen erfüllen, läßt es wenig wahrscheinlich erscheinen, daß Platon sich in der Politeia bewußt von dem im Phaidon skizzierten Projekt, alles durch den nous zu erklären, verabschiedet hat und statt dessen meint, nicht der nous, sondern die Idee des Guten sei letzte Ursache der gesamten Realität. Es liegt folglich nahe, die Idee des Guten mit dem nous zu identifizieren« (248).357 357 Den Timaios deutet Bordt (2006, 247f.) in Kontinuität zu den mittleren Dialogen. Der Demiurg erfülle jene beiden Funktionen der Ordnung und Bestheit der Dinge, die Platon dem Nous im Phaidon und der Idee des Guten in der Politeia zuschreibe. Bordt sieht allerdings auch die Probleme dieser Deutung: In der Politeia werde die Idee des Guten als Ursache aller anderen Ideen kenntlich gemacht, die Ideen seien von diesem Prinzip ontologisch abhängig. Der Demiurg des Timaios hingegen werde als schöpferische Kraft vorgestellt, die sich bei der Gestaltung der Dinge an den Ideen orientiert, also von diesen abhängig sei. Die Ideen erscheinen hier als von der schöpferischen Vernunft unabhängige Musterbilder (248f.). Zur Lösung dieses Problems wäre zunächst zu prüfen, inwieweit die Ideenvorstellung im Timaios der Bildhaftigkeit und der Intention der Darstellung geschuldet ist. In diesem Dialog geht es ja primär um die Frage der Erschaffung und Gestaltung des Kosmos; die Kausalität der Ideen hingegen ist kein Ziel der Darstellung und von daher thematisch nicht präsent. In einer genauen Analyse müsste zudem untersucht werden, ob der Dialog die Möglichkeit einer Kausalbeziehung zwischen schöpferischer Vernunft und Ideen offen lässt und die Ideen als geistige Objektivierungen der göttlichen Gedanken, also als Gebilde, die eine objektive Realität gegenüber dem gestaltenden Nous

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Diese These lässt sich mit verschiedenen Stellen im Corpus Platonicum belegen. Im Dialog Philebos zeigt Sokrates in einer längeren Untersuchung auf, dass das von Philebos präferierte Lustprinzip nicht mit dem Guten identisch ist. Auf Philebos’ Einwand, dass die von Sokrates favorisierte Vernunft (moOr) ebensowenig mit dem Guten (!cahºm) identisch sei (»aber auch deine Vernunft, o Sokrates, ist nicht das Gute« Oqd³ c±q b s¹r moOr, § S¾jqater, 5sti t!cahºm Phil. 22c3), lässt Platon Sokrates antworten: »Vielleicht […] die meinige wohl, die wahrhafte und göttliche Vernunft aber glaube ich wohl nicht, sondern mit der wird es sich wohl ganz anders verhalten« (T²w( %m […] f c( 1lºr7 oq l´mtoi tºm ce !kghim¹m ûla ja· he?om oWlai moOm, !kk( %kkyr pyr 5weim) (Phil. 22c5–6).358 Hier wird eine Unterscheidung zwischen der menschlichen Vernunft, die sich zwar graduell an das Gute annähern kann, aber dennoch stets defizitär bleibt, und einer göttlichen Vernunft getroffen, die in jeder Hinsicht und in jeder Beziehung, d. h. absolut das Gute ist. Man kann diese Aussage freilich in dem Sinn deuten, dass der göttliche Nous in vollkommener Weise am Guten partizipiert und hier insofern zwischen einer teilhabenden Entität und einem übergeordneten Prinzip differenziert wird. Das wäre jedoch eine Deutung, für die es zumindest an dieser Stelle keinerlei Hinweise gibt. Der Satz in Phil. 22c5f. ist eindeutig eine Identitätsaussage. Gegen eine Identifizierung von Nous und Agathon scheint jedoch das Sonnengleichnis im sechsten Buch der Politeia zu sprechen. Hier wird, wie im Strukturvergleich zwischen dem Alkibiades I und der Politeia bereits aufgezeigt, zwischen der Vernunft und der Idee des Guten unterschieden. Um diese Unterscheidung einsichtig zu machen, bedient sich Platon der Analogie zu Strukturen und Vorgängen im Bereich der optischen Wahrnehmung: Das Gesicht (exir) ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet und was wir Auge (ella) nennen. […] Aber das sonnenähnlichste, denke ich, ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung. […] Und auch das Vermögen (d¼malir), welches es hat, besitzt es doch als einen von jenem Gott ihm mitgeteilten besitzen, aber dennoch im Nous ihren Ursprung haben, gedeutet werden könnten. Der schöpferische Nous wäre dann identisch mit dem ideenerzeugenden Prinzip. Oder anders formuliert: Die Hervorbringung von geistigen Form- und Gestaltprinzipien und die Hineinbildung der Ideen in die Materie wären nur zwei Funktionen ein und derselben Kraft. Als Belegstelle für diese Deutung lässt sich Tim. 37d und 92c anführen. Der Kosmos wird dort als Abbild des unvergänglichen intelligiblen Lebewesens, das alle geistigen Formen und Gestaltprinzipien in sich begreift (Tim. 30c/d), bezeichnet. Das Wirken des Nous ist von dem Streben bestimmt, das Werdende diesem Urbild möglichst ähnlich zu gestalten (37c8). Da in 29e ausgeführt wurde, dass der Schöpfer alles ihm möglichst ähnlich gestalten wollte, liegt der Schluss nahe, dass der Schöpfer bzw. der Nous mit dem unvergänglichen Lebewesen identisch ist. Vgl. 92c8, wo angedeutet wird, dass das unvergängliche, nur noetisch zu efassende Lebewesen Gott ist. Zur Identität von Nous und Urbild vgl. auch Tim. 50d. 358 Bordt (2006, 238f.) sieht hier ebenfalls eine Identifizierung von Agathon und Nous.

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Ausfluß. […] So auch die Sonne ist nicht das Gesicht, aber als die Ursache (aQt¸a) davon wird sie von eben demselben gesehen. (rep. 508a11–b10)

In ähnlicher Weise ist auch im geistigen Bereich zwischen dem Organ (Seele), der Vernunftfähigkeit (Nous) und der Ursache (Agathon) der epistemischen Leistung zu unterscheiden (vgl. rep. 508c/d). Zwischen der Vernunftfähigkeit auf der einen Seite und der Idee des Guten auf der anderen Seite besteht, so die Aussage an dieser Stelle, ein Ähnlichkeits- oder Verwandtschaftsverhältnis, aber keine Identitätsbeziehung. Die Differenzierung wird analog zur visuellen Wahrnehmung mit der kausalen Funktion begründet. So wie die Sonne die optimale Leistung der Sehkraft und eine deutliche visuelle Wahrnehmung ermöglicht, so ist das !cahºm Ursache (aQt¸a) der Leistungskraft des epistemischen Vermögens (moOr) und der entsprechenden Leistung der Vernunfteinsicht (mºgsir, 1pist¶lg). Es bewirkt, dass das Erkenntnisorgan durch eine bestimmte Ausrichtung (508d) die Fähigkeit zur Vernunfteinsicht ausbildet und Wahrheitserkenntnis erlangt.359 In metaphorischer Ausdrucksweise wird an späterer Stelle vom ›Auge der Seele‹ (ella t/r xuw/r) gesprochen, das durch das Wirken des Guten seine spezifische Tugend erwirbt, also Sehkraft und Sehschärfe erhält, und damit Wahrheitsfähigkeit sowie wirklichkeitsaneignende und weltverstehende Kompetenz erlangt. Als Kausalität der Vernunfterkenntnis, so die Argumentation im Sonnengleichnis, besitzt das Gute einen größeren Wert als die Erkenntnisleistung (vgl. rep. 508e4, 509a5, 509a6f.) und ist insofern von dieser zu differenzieren. Der Gedanke wird unter Bezug auf die Analogie zur optischen Wahrnehmung in rep. 509a wie folgt formuliert: Erkenntnis (1pist¶lg) aber und Wahrheit (!k¶heia), so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten, zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier, diese beiden für gutartig zu halten, zwar recht, für das Gute selbst aber, gleichviel welches von beiden, anzusehen, nicht recht, sondern noch höher ist die Fähigkeit des Guten zu schätzen (!kk( 5ti leifºmyr tilgt´om tµm toO !cahou 6nim). (rep. 508e6–509a5)

Im Hinblick auf diese Argumentation hat man häufig gegen eine Identifizierung von Nous und Agathon eingewendet, dass das Gute in seiner Funktion als Kausalität der Vernunft eben nicht die Vernunft selbst sein kann.360 Dieser 359 In diesem Kontext werden sowohl das subjektive als auch das objektive Moment der Erkenntnis thematisiert Das Gute ist sowohl Ursache der Bildung und Aktualisierung des Erkenntnisvermögens als auch des Wahrheitsgehaltes der erlangten Einsicht. Erkenntnis und Wahrheit werden hier als untrennbare Einheit gedacht: Das !cahºm ist Ursache »der Erkenntnis und der Wahrheit, und zwar letzterer als erkanntseiender verstanden« (aQt¸am d( 1pist¶lgr owsam ja· !kghe¸ar, ¢r cicmysjol´mgr l³m diamooO 508e3–4). Das diamooO zeigt an, dass hier eine Explikation der !k¶heia erfolgt: Die Wahrheit ist in diesem Kontext im Modus des Erkanntseins gemeint (diamoe?shai – denken, meinen, im Sinn haben). Man könnte auch übersetzen: ›der Wahrheit, und zwar gemeint als erkanntseiender‹. 360 Vgl. z. B. Cherniss (1944, 606), Menn (1992, 572f.).

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Schluss scheint zunächst zwingend zu sein. Es sind jedoch folgende Punkte zu bedenken. Zunächst ist anzumerken, dass im Sonnengleichnis vornehmlich die menschliche Vernunft thematisiert wird, wie die Analogie zur sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit erkennen lässt. Die menschliche Vernunft aber, so der Gedanke aus dem Philebos (22c6–6) und dem Symposion, hat immer nur punktuell oder graduell am Guten teil; sie erreicht niemals den Zustand eines vollkommenen Bestimmt-Seins durch das Agathon und verbleibt insofern in einem unaufhebbaren Differenzverhältnis zum Guten.361 Der zentrale Punkt, der hier zu bedenken ist, bezieht sich jedoch auf die Frage, welchen Status die von Platon vorgenommene Differenzierung besitzt. Wird hier eine ontologische Aussage über verschiedene, selbständig existierende Entitäten getroffen? Oder wird an der Stelle nur eine analytische Unterscheidung vorgenommen? Betrachtet man das Gleichnis vor dem Hintergrund des Alkibiades I, der sich, wie oben ausgeführt, in zeitlicher und systematischer Nähe zur Politeia befindet, so liegt der Gedanke nahe, dass Platon analytisch zwischen verschiedenen Momenten einer ausgebildeten, d. h. zu ihrer spezifischen Tugend gelangten Vernunft unterscheidet und eine Art Binnendifferenzierung des Nous vornimmt. Wie oben ausgeführt, differenziert Platon im Alkibiades I zwischen bestimmten Identitätssphären und erhebt dabei die Funktionsmerkmale zum Unterscheidungskriterium. Die Seele regiert über den Leib und ist aufgrund der sie auszeichnenden Funktionen der Überlegung, Beratung, Zwecksetzung und der damit verbundenen Willensstrebungen das bewegende Prinzip; sie ist Ursache (aQt¸a)362 und Grund (!qw¶)363 der Bewegung des Körpers. Als Bewegendes und Regierendes ist die Seele vom Leib zu unterscheiden. Gleichwohl stellt Platon an dieser Stelle nicht die Behauptung auf, dass die Seele in der Weise von der Physis geschieden ist, dass sie keinerlei Vernetzung, Korrelation, Wechselwirkung mit dem Leiblichen aufweist. Hier wird von einer Verbundenheit der Sphären und einer im irdischen Dasein untrennbaren Einheit von seelischer und körperlicher Dimension der Personalität ausgegangen, die auch dadurch keine

361 Ähnlich Bordt (2006, 246). Bordt geht an dieser Stelle auf einen zweiten Einwand ein, der darin besteht, dass das Gute in der Politeia als Idee eingeführt wird, während der Nous nirgendwo als Idee bezeichnet wird. Gegen dieses Argument macht Bordt die Differenz zwischen der Idee des Guten und allen anderen Ideen geltend: »Die Idee des Guten ist keine Idee neben den anderen Ideen, und ihr Ideesein unterscheidet sich wesentlich vom Ideesein aller übrigen Ideen. Was immer mit der vieldiskutierten Formel, die Idee des Guten sei jenseits der ousia, gemeint ist, sie läßt auch die Deutung zu, daß die Idee des Guten deswegen keine Idee ist, weil sie als nous begriffen werden muß […]« (246). 362 Zur Verwendung des Ursachenbegriffs in diesem Sinn vgl. auch Phaid. 98b–99a. 363 Vgl. Phaidr. 245c–e.

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Aufhebung erfährt, dass der Seele die Fähigkeit zur Distanzierung von leiblichen Phänomenen zugesprochen wird. In der Seelenkonzeption der Politeia (435a–441c) wird eine analytische Unterscheidung der seelischen Potenzen vorgenommen, die hier wiederum unter Rekurs auf Funktions- und Leistungsmerkmale erfolgt. In einer genauen Entsprechung zur Bestimmung der Seele-Leib-Relation differenziert Platon im innerseelischen Bereich zwischen einer regierenden, als Ursache der Bestheit und Ordnung fungierenden Dynamis – der Vernunft (kocistijºm) – und Kräften, die einer Lenkung und Ausrichtung bedürfen. Diese Differenz-Aussage hat – so wie im Alkibiades I – rein analytischen Charakter und bezeichnet keine Annahme über den ontologischen Status der Vernunft. Anders formuliert: Das als Ursache der Bestheit bestimmte Logistikon wird nicht als Vermögen aufgefasst, das völlig abgesondert, beziehungslos, unverbunden neben den anderen seelischen Kräften existiert. Ähnlich wie im Phaidon (246aff.) versteht Platon die Seele in der Politeia als komplexe Einheit von verschiedenen Potenzen und Bestrebungen, die durch vielfältige Interaktionen und Korrelationen miteinander verbunden sind. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist die Annahme keineswegs abwegig, dass Platon im Sonnengleichnis nur eine analytische Unterscheidung zwischen der Vernunfteinsicht und deren Ursache vornimmt und dabei von einer Einheit der Momente ausgeht. Man würde Platon bei solch einer Deutung die Annahme zusprechen, dass sich Wahrheit, Erkenntnis und Vernunftgrund nur analytisch voneinander scheiden lassen, im Erkenntnisvollzug hingegen untrennbar miteinander verbunden sind und ein Ganzes bilden. Die Verbundenheit der Ursache mit dem Verursachten ließe sich in dem Sinn deuten, dass im Akt der Vernunfterkenntnis der Vernunftgrund – das Gute – in der erkennenden Seele wirksam ist. Das Agathon wäre als Dynamis (rep. 509b10) zu verstehen, die aufgrund ihrer erkenntnisfundierenden Leistung zwar einen besonderen Stellenwert besitzt, aber dennoch Teil des geistigen Prozesses ist, so wie die Vernunft ihrerseits als Möglichkeitsgrund und Ursache der seelischen Steuerungsleistung zwar eine übergeordnete Stellung inne hat, aber dennoch Teil des Seelenganzen ist. Man sollte an dieser Stelle nicht der Verführungskraft der von Platon verwendeten Metaphorik erliegen, die eine Getrenntheit364 der thematisierten 364 Bei der Annahme einer Getrenntheit der Idee des Guten beruft man sich häufig auf rep. 509b6–10, wo eine Seinstranszendenz des Guten ausgesagt wird. Bei der Deutung dieser Passage ist jedoch zu beachten, dass an späteren Stellen das Agathon in den Bereich des Seienden integriert wird. In rep. 518c wird das Gute als das Glänzendste unter dem Seienden benannt: 6yr #m eQr t¹ cm ja· toO emtor t¹ vam¹tatom dumatµ c´mgtai !masw´shai heyl´mg7 toOto d( eWma¸ valem t!cahºm 518c9–d1. Ähnlich rep. 532c5f., wo es als das Beste unter dem Seienden bestimmt wird: ja· 1pamacycµm toO bekt¸stou 1m xuw0 pq¹r tµm toO

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Vernunftursache zunächst nahelegt. Die Analogien zu visuellen Wahrnehmungsprozessen und die Verwendung der sehensmetaphorischen Ausdrucksweise in der Beschreibung der geistigen Vorgänge (rep. 508d) erwecken die Vorstellung, dass die Idee des Guten in derselben Weise zu denken ist wie die sinnliche Sonne, nämlich als ein vom Erkennenden getrennt existierender Gegenstand, der ›von oben‹ das ›Licht‹ sendet, in dem die Wahrheit ›sichtbar‹ wird und erkannt zu werden vermag. Es fragt sich jedoch, ob man damit nicht die Metaphern zu wörtlich nimmt und das eigentlich Gemeinte verfehlt. Das Gleichnis bezieht sich auf eine geistige Kausalität und auf geistige Prozesse, die nicht nach Art von raum-zeitlichen Dingen zu verstehen sind. Deutet man die Idee des Guten als eine in höherer Sphäre lokalisierte, getrennt und gegenständlich existierende geistige ›Sonne‹, so appliziert man die Strukturmerkmale der sinnlichen Phänomenwelt und der sinnlichen Erkenntnismedien auf Geistiges und bleibt in jener ›Abbildhaftigkeit‹ des Denkens verhaftet, die nach Platon im Erkenntnisaufstieg gerade überwunden werden soll (vgl. rep. 532a). In Bezug auf die Annahme einer Identität des Nous mit dem Guten ist jedoch die Einheits- oder Ganzheitsthese noch nicht hinreichend. Selbst wenn man annimmt, dass das Gute im geistigen Akt wirksam ist und insofern als immanenter Grund der Vernunft aufgefasst werden kann, ist damit noch keine Identitätsbehauptung aufgestellt. Aus der Untrennbarkeit und Verbundenheit folgt nicht zwingend die Identität. Man kann hier jedoch das von Platon im Alkibiades I implizit verwendete Argument anführen, dass das, was an einer Person oder einem Ding das Wesentlichste ist, mit dieser Person oder dem Ding identifiziert werden kann. Wendet man das Argument auf die Relation zwischen Nous und Agathon an, so lässt sich die These aufstellen, dass das Gute das Wesentlichste, nämlich Bestimmendste, eigentlich Lenkende in der geistigen Tätigkeit des vernünftigen Erkennens bezeichnet und insofern mit der Vernunft identifiziert werden kann. Dabei ist freilich die Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Vernunft zu beachten, die Platon an der zitierten Philebos-Stelle und in anderen Dialogen betont. Die menschliche Vernunft ist !q¸stou 1m to?r owsi h´am. Angesichts dieser Stellen liegt die Annahme nahe, dass sich die in rep. 509b8–10 ausgesagte Seinstranszendenz des Guten (»da doch das Gute selbst nicht das Sein (oqs¸a) ist, sondern noch über das Sein (oqs¸a) an Würde und Kraft hinausragt«) nur auf die oqs¸a des einzelnen Erkennbaren (cicmysjol´moi) bezieht, das in diesem Kontext hinsichtlich der Kausalität thematisiert wird. Zu den in der jüngeren Literatur vorgetragenen Argumenten gegen die Seinstranszendenz des Guten vgl. Baltes (1999), Brisson (2002), v. Ackeren (2003). Mit Bezug auf die in diesem Zusammenhang besonders relevante Stelle rep. 509b6–10 meint v. Ackeren (2003, 186): »Die Argumente gehen davon aus, dass die Idee des Guten eine besondere Kraft hat, die sie das Sein der Ideen übertreffen lässt, aber daraus kann eben nur geschlossen werden, dass sie eine Besonderheit haben muss, aber der Schluss, dass sie überseiend ist, folgt daraus keineswegs«. Zur kontroversen Diskussion der Seinstranszendenz der Idee des Guten vgl. Ferber (2005).

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vornehmlich durch ihre Potenzialität und die Annäherung an das Gute bestimmt, die immer nur graduell sein kann und stets Gefährdungen unterliegt, also prekär bleibt. Sie vermag von daher nur bedingt mit dem Guten identifiziert zu werden. Der göttliche Nous hingegen wird von Platon als reine Wirklichkeit der Geisttätigkeit gedacht, die vollkommen und dauerhaft vom Guten bestimmt und durchzogen ist (Phaid. 97c; Tim. 29d/e; leg. 967a). Er kann insofern mit dem Agathon identifiziert werden. Der göttliche Nous, so das vorläufige Resultat der Betrachtung, ist in letzter Instanz der Vernunftgrund, der sich in allem selbst anstrebt, also intentional auf die Realisierung des eigenen Prinzips im Anderen gerichtet ist, oder anders formuliert: der auf die Hervorbringung des Guten in der Welt zielt. Die angestellten Überlegungen zum Problem der Identität des Nous mit der Idee des Guten können nicht mehr als eine erste Annäherung an diese Frage sein. Um hier zu einer begründeten These zu gelangen, müssten die relevanten Dialoge und Passagen des mittleren und späten Werks einer genauen Analyse unterzogen werden, was im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Die Frage muss also letztlich offen bleiben. Für unsere Argumentation bezüglich einer Verbindung der Erkenntnis des Guten mit der Thematik der Selbsterkenntnis ist es jedoch völlig hinreichend, darauf zu verweisen, dass Platon den göttlichen Nous als eine Kraft denkt, die volkommen gut ist und alles zum Besten ordnet und gestaltet. Für diese Auffassung lassen sich viele Belege anführen. In der Anaxagoras-Rezeption des Phaidon wird der göttliche Nous als Dynamis dargestellt, die das Beste für alles einzelne (t¹ 2j²st\ b´ktistom Phaid. 98b2; vgl. auch 97c) und das Gute für das Ganze (ja· t¹ joim¹m p÷sim !cahºm Phaid. 98b2f.) denkt und zugleich erwirkt. Im Timaios bestimmt Platon den als demiurgischen Schöpfer des Kosmos versinnbildlichten Nous durch die Wesenseigenschaft des Guten und durch die Intention, den Kosmos nach dem Prinzip der Ähnlichkeit mit sich selbst zu gestalten: »Geben wir denn an, aus welchem Grund der Schöpfer das Entstehen und dieses Weltall schuf. Er war gut ()cah¹r Gm); in einem Guten erwächst nimmer und in keiner Beziehung irgendwelche Mißgunst. Von ihr frei, wollte er, daß alles ihm möglichst ähnlich (paqapk¶sior) werde« (Tim. 29d6–e4). In ähnlicher Weise wird in den Nomoi der göttliche Nous mit einer auf das Gute bezogenen Teleologie verknüpft. Die Vernunft, die alles im Kosmos ordnet, sei »auf die Verwirklichung des Guten aus« (diamo¸air bouk¶seyr !cah_m p´qi tekoul´mym leg. 967a5). Da das Gut-Sein und die Intention auf das Gute in der platonischen Darstellung keine akzidentelle, sondern eine essenzielle Eigenschaft des göttlichen Nous bezeichnet365, lässt sich der ›Blick auf den Gott‹, von dem im Spiegelgleichnis des Alkibiades I die Rede ist, als Ausrichtung auf das Gute oder als Orientierung am Guten 365 So auch Ferrari (1998). Mit dem Gutsein sei das Wesen des Gottes bestimmt.

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deuten.366 Neben dem oben durchgeführten Struktur- und Metaphernvergleich zwischen den Gleichnissen des Alkibiades I und der Gleichnisserie der Politeia kann man also auch auf diesem Weg die Verbindung der als ›Blick auf Gott‹ umschriebenen vollendeten Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Guten aufzeigen.367 Man könnte hier freilich den Einwand erheben, dass der ›Blick‹ auf den vom Guten bestimmten göttlichen Nous eine ganz andere Form der Erkenntnis des Guten bezeichnet als die Einsicht in die Idee des Guten in der Politeia, die zwar am Ende auch in eine Reflexion auf die Ursache des kosmischen Ganzen mündet (rep. 516b/c, 517c), aber im Aufstiegsgeschehen selbst über die Problematik der menschlichen Bestheit, d. h. über die Tugenderörterung gewonnen wird (vgl. rep. insbes. 504a/b, 506a, 517d/e, 520c6f., 538c–539d). Diese Differenzen lassen sich jedoch zum Teil aufheben, wenn man in Betracht zieht, dass die Tugendproblematik auch im Spiegelgleichnis des Alkibiades I angesprochen wird (»Schauen wir also auf Gott […] und unter den menschlichen Dingen auf die Tugend der Seele« 133c13f. Hervorhebung B.F.). Im Phaidon wird die Erkenntnis des göttlichen Nous ebenfalls mit der Frage nach der Bestheit des Menschen verbunden: »Und dem zufolge dann gezieme es dem Menschen nicht, nach irgend etwas anderem zu fragen, sowohl in bezug auf sich selbst als auch auf alles andere (ja· peq· aqtoO 1je¸mou ja· peq· t_m %kkym), als nach dem Trefflichsten und Besten (!kk( C t¹ %qistom ja· t¹ b´ktistom), und derselbe werde dann notwendig auch das Schlechtere wissen, denn die Erkenntnis von beiden sei dieselbe« (Phaid. 97d). Die Erkenntnis des Besten wird hier freilich in einem etwas anderen Sinn verstanden, nämlich als Reflexion auf die Zweckmäßigkeit und Funktionsadäquatheit der physischen und seelisch-geistigen Beschaffenheit des Menschen. Dennoch kann man wohl ganz allgemein festhalten, dass NousErkenntnis und Tugenderörterung bei Platon keine getrennten Bereiche des philosophischen Nachdenkens bilden, sondern vielfältig ineinander verschränkt und miteinander verwoben sind.368

366 Vgl. Phaid. 97d u. 98b wo die Ursachenerkenntnis, die hier die Erkenntnis des göttlichen Nous meint, als Erkenntnis des Guten verstanden wird. Gott zu erkennen heißt, die Zweckmäßigkeit und Bestheit der von ihm gestalteten Beschaffenheiten aller Dinge und der Welt im Ganzen zu erkennen. 367 Das ist als weiterer Hinweis darauf zu deuten, dass sich der Alkibiades I in großer Nähe zu den Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge befindet. Durch den elenktischen Teil, der an den Tudenddialog des Frühwerks anschließt, stellt er eine Art Verbindungsglied zwischen dem frühen und mittleren Werk dar. 368 Zur Verbindung von Gottes-, Tugend- und Selbsterkenntnis bei Platon vgl. Pietsch (2008, 355 Fußn. 23). Vgl. auch Johnson (1999, 16): »By looking to God one realizes the true nature of man, and acts accordingly by promoting justice and temperance, which are the true human goods, rather than looking to the material well-being of oneself or one’s city«.

470

Selbsterkenntnis bei Platon

c)

Das Selbst und das Gute (Alkibiades I, Politeia)

aa)

Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung

Die im Spiegelgleichnis des Alkibiades I angedeutete Verschmelzung der entwickelten Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Guten ist freilich deutungsbedürftig und wirft mehrere Fragen auf. In welcher Relation stehen hier das Gute und die personale Identität? Inwiefern vermittelt die Erkenntnis des Guten eine Selbsterkenntnis? Auf was für ein Selbst ist der gemeinte epistemische Akt bezogen? Die Verknüpfung der beiden Erkenntnisse zur Einheit eines epistemischen Prozesses lässt sich in unterschiedlicher Weise ausdeuten. Eine naheliegende Deutungsvariante ist die Auslegung im Sinn einer vermittelten Selbstbeziehung.369 Damit ist gemeint, dass die Person das Selbst im Erkenntnisakt nicht zum unmittelbaren Gegenstand macht, es nicht direkt intendiert. Sie ist thematisch auf ein anderes ihrer selbst, auf ein die faktischen Qualitäten und besonderen Zielvorstellungen übergreifendes Allgemeine – das Gute ausgerichtet. In der epistemischen Annäherung an das Gute ist jedoch das Selbst in vermittelter Weise stets präsent, da sich die erkennende Person in eine Beziehung zum Erkannten setzt. In der Annäherung an das Gute scheint ein höchster Wert auf, mit dem sich die Person identifizieren kann, auf den hin sie sich und andere versteht und beurteilt, unter dessen Anspruch sie das eigene Denken und Handeln zu stellen vermag. Die Person erkennt sich im Guten als das, was sie wesentlich sein will. Das Gute spiegelt insofern, um in der Metapher des Spiegelgleichnisses zu bleiben, ein Selbst wider, das dem eigenen Anspruch adäquat ist. Die skizzierte Form der Einheit von Selbstbeziehung und Sachbezug gewinnt an Evidenz, wenn man sich die von Platon vielfach thematisierte Bedeutung des Guten für die eigene Lebensführung vor Augen hält. Wie oben ausgeführt, geht es in der Suche nach der Erkenntnis des Guten stets um das Gute für einen selbst. Die von Platon gemeinte Wahrheitssuche ist wesentlich durch das Motiv bestimmt, den eigenen Mangel zu beheben, die eigenen seelischen Kräfte in eine vernünftige Ordnung zu bringen, das eigene Leben gut zu führen und zu einem Zustand der Eudaimonia zu finden.370 Die Bedürfnisstruktur des endlichen Daseins und das erfüllende Moment des Guten begründen den engen Zusam-

369 Zu dieser Form von vermittelter Selbstbeziehung vgl. Wieland (1982, 309–322). 370 Der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und eudaimonistischem Streben ist von Hardy (2011) untersucht worden. Im Hinblick auf das individuelle Interesse an einem gelingenden Leben und das die Erkenntnisbemühungen motivierende Glücksstreben bestimmt Hardy die Selbsterkenntnis bei Platon als ›eudämonistisches Wissen‹.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

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menhang zwischen dem Selbst und dem Guten, der sich in der Einheit von Selbstbeziehung und Sachbezug widerspiegelt. Die skizzierte Deutung der platonischen Erkenntnis des Guten als Selbsterkenntnis, die in der Forschung in dieser oder einer ähnlichen Form schon häufiger vorgenommen worden ist371, lässt sich mit Stellen und Aussagen aus dem platonischen Werk gut belegen und ist nicht zuletzt aus diesem Grund bedenkenswert. Man kann hier jedoch noch einen Schritt weiter gehen und die Einheit in einem sehr viel stärkeren Sinn denken, nämlich als Identität der Erkenntnisgegenstände. Diese stärkere These ist freilich nur unter der Bedingung einsichtig zu machen, dass man sowohl das Gute als auch das Selbst in etwas anderer Weise denkt als oben vorgeschlagen. Das Gute wäre bei einer Identitätsthese nicht nur als Orientierungspunkt, Paradigma oder Musterbild zu verstehen, sondern als wirkende Dynamis, die im Verlauf des Aufstiegsprozesses im Erkennenden Gestalt gewinnt, also eine personale Dimension erreicht. Bezüglich des Selbst wäre eine Identitätsthese an die Bedingung gebunden, dass ein stark verengter Selbstbegriff zugrunde gelegt wird, das Selbst also nicht als leiblich-bewusste Existenz, als Gesamtheit der seelischen Kräfte oder als IchBewusstsein verstanden wird, sondern als letzte steuernde, richtunggebende Kraft. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gibt es gute Gründe, die Identität des Selbst mit dem Guten als eine platonische Annahme zu deuten, die im Alkibiades I angelegt ist. Um diese Deutung zu plausibilisieren, soll in einem Funktionsvergleich zunächst aufgezeigt werden, dass bestimmte Kongruenzen hinsichtlich der funktionalen Bestimmung des Selbst und des Guten bei Platon zu beobachten sind. Im Anschluss daran werden anhand der Argumentationsbewegung im Alkibiades I Prämissen offengelegt, die die Annahme einer Identität des Selbst mit dem Guten nachvollziehbar machen. Vorab ist jedoch eine Einschränkung des Umfangs der Erörterung vorzunehmen. Die Plausibilität der Identitätsannahme soll hier nur in Bezug auf das Verhältnis von Selbst und Agathon im menschlichen Bereich untersucht werden. Die schwierige Frage, ob Platon den göttlichen Nous mit dem Gedanken der Personalität verbindet und als Selbst denkt, wird dabei ausgeklammert. Um diese Frage umfassend zu erörtern, müsste zunächst untersucht werden, ob Platon den göttlichen Nous mit einer seelischen Instanz verknüpft, also als Seele vorstellt372, oder ob der Nous als höchster Gott gedacht wird, der selbst nicht Seele ist, auf den vielmehr die Seelen ausgerichtet sind.373 Hier wäre eine weit371 Vgl. z. B. Kuhn (1959) (1960), Voigtländer (1989), Tsouna (2004), Pietsch (2008), Karl (2010), Ortiz de Landazuri (2015). 372 Zur Diskussion dieser Frage vgl. Bordt (2009a, 209f.). 373 So z. B. Menn (1995, 12–24, insbes. 24): »It should thus be clear, […] that Plato is willing and

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Selbsterkenntnis bei Platon

reichende Erörterung der platonischen Theologie notwendig, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.

bb)

Ein Funktionsvergleich

Betrachtet man die funktionale Bestimmung des Selbst und des Guten, die Platon im Alkibiades I und in der Politeia vornimmt, so lassen sich auffallende Übereinstimmungen beobachten. Im Alkibiades I wird das Selbst als Aktivitätsund Tätigkeitsprinzip kenntlich gemacht, das als solches mit bestimmten Leistungen und Funktionen verbunden ist. In der Argumentation werden zwei spezifische Funktionen angedeutet, die aufeinander bezogen sind: 1) das Aktivieren und In-Bewegung-Setzen. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang die Hervorbringung von Bewegungen des Körpers (129d/e) und die Verursachung von technischen (129c) und praktischen, kommunikativen Handlungen (129b, 130e1–4). 2) Das Regieren, Lenken, Steuern (%qweim 130a/b), das mit Kompetenzen der Zwecksetzung, Zielbestimmung, Sinngebung, Orientierung verbunden ist. Die beiden Funktionen sind eng miteinander verknüpft. Das Selbst bewegt, indem es regiert, d. h. Richtungen und Zwecke vorgibt und verfolgt. Es motiviert physische Bewegungen und praktische Handlungen durch Zwecksetzungen, Zielorientierungen und entsprechende Bestimmungen der seelischen und physischen Kräfte. Die zielsetzende Bestimmung (j¼qior, juqiºtgr 130d6) ist die spezifische Wirkungsweise dieser Ursache (aQt¸a). Die im Alkibiades I angeführten Beispiele des Schusterhandwerks und der Sprachhandlung veranschaulichen diesen Sachverhalt. Die Intention des Schusters, Schuhe zu verfertigen oder zu reparieren, setzt den Körper in Bewegung und motiviert bestimmte Verrichtungen, die am Ende, vorausgesetzt die notwendigen Erfolgsbedingungen sind gegeben, zu einem der Intention entsprechenden Resultat führen. Das von Sokrates zuerst angeführte Beispiel des Sprechaktes (129b, 130d9–e4) ist von besonderer Bedeutung, da hier das Selbst in seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion thematisiert wird. Die Absicht einer Person, sich mit anderen über bestimmte Sachverhalte zu verständigen, setzt Stimmbänder, Zunge und Mund in Bewegung und bringt unter Zuhilfenahme und Gebrauch der Logoi Sprachhandlungen hervor, die auf andere Personen wirken und eine Verbindung herstellen: »Es wird also ganz recht sein, so festzustellen, eager to posit a nous that exists equally outside all souls, whether the world-soul or the souls of particular animals within the world«. Vgl. auch Menn (1992, 556): »Although Plato says that nous cannot come-to-be or be present in anything without soul […], this does not mean that nous is itself a rational soul; nor does it mean that nous does not exist by itself in seperation from souls«. Ähnlich Bordt (2009a, 210) unter Verweis auf leg. 897b1f.: »Diese Vernunft, an der sich die Seele orientiert, ist eine Entität, die selbst keine Seele hat«.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

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daß wir, ich und du, zueinander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele« (OqjoOm jak_r 5wei ovty mol¸feim, 1l³ ja· s³ pqosolike?m !kk¶koir to?r kºcoir wqyl´mour t0 xuw0 pq¹r tµm xuw¶m; 130d9–11). Die im Alkibiades I thematisierten Leistungen und Funktionen des personalen Selbst weisen einige Ähnlichkeiten mit der Funktionsbestimmung des Guten (!cahºm) in der Politeia auf. In der Gleichnisserie der Politeia (505a–519b) bestimmt Platon die Idee des Guten (Qd´a toO !cahoO) als aktive, tätige Kraft (d¼malir 509b10)374, als eine hervorbringende Wirkursächlichkeit375 (aQt¸a 508e3, 516c1, 517c2). Der Ursachenbegriff wird in diesem Kontext in derselben Weise gebraucht wie in den Nous-Reflexionen der mittleren und späten Dialoge. Mit aQt¸a ist hier das herrschende, lenkende, regierende Moment sowie der schöpferische Aspekt des Hervorbringens und Erzeugens gleichermaßen gemeint. Der erwirkende Aspekt des Guten wird von Platon an etlichen Stellen hervorgehoben und sowohl auf Sinnliches (5m te bqat` 517c2) als auch auf Geistiges (5m te mogt` 517c3) bezogen. Zur Bezeichnung dieser Leistung wird meist das Verbum paq´weim (509a7, 509b7, 516b10, 517c4) verwendet, das in den Bedeutungsfeldern ›gewähren, verleihen, verschaffen‹ und ›verursachen, veranlassen‹ sowohl auf den Möglichkeitsgrund als auch auf die Wirksamkeit verweist. Diese Funktionen scheinen besonders deutlich in der Thematisierung des Guten als Kausalität von Vernunfteinsicht auf. So wie im Sichtbaren die Sonne die Sehfähigkeit des Wahrnehmungsorgans ermöglicht, verleiht das Gute im Geistigen Erkenntnisfähigkeit, ist also Möglichkeitsgrund von Einsicht. Zugleich verursacht es Wahrheitserkenntnis, bringt also die Aktualisierung der Fähigkeit hervor (508e3f., 509a6f., 517c3f.). Beides gehört untrennbar zusammen und ist als Einheit zu denken: Das zur besten Beschaffenheit aufgerichtete Organ erbringt eine entsprechende Leistung; das sehend gewordene ›geistige Auge‹ ist mit Tätigkeit verbunden, es sieht ›etwas‹. Analog zur Kausalität des Selbst bezieht sich die Wirkkraft des Guten sowohl auf den geistigen als auch auf den sinnlich-physischen Bereich, der hier freilich makrokosmisch gedacht wird. Das Gute verursacht nicht nur geistige Bewegungen und Gestalten, sondern fungiert zudem als Ursache der Gestirne und planetaren Bewegungsabläufe sowie aller Gestaltungen im sichtbaren Raum, wie in rep. 516b10–12 und 517c1–3 angedeutet wird. In einer Entsprechung zu den Identitätsüberlegungen im Alkibiades I wird die dem Guten zugesprochene Leistung des Hervorbringens, In-Bewegung-Setzens 374 Ähnlich Frede, D. (2002, 111): Platon bezeichne »das Gute als das aktive Prinzip [ ], das allen positiven Funktionen zugrundeliegt, und daher die Macht ist, die hinter allem steht, was gut ist«. 375 Das hat Bergemann (2006, 21–29 u. 74) überzeugend aufgezeigt. Vgl. auch Menn (1995, 55): »if the Good is the analogue of the sun for intellectual perception, then the Good must be a cause of noÞsis, and it seems that it must be an efficient cause«.

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Selbsterkenntnis bei Platon

mit der Regierungs- und Steuerungsfunktion verschränkt. Zur Bezeichnung des lenkenden, bestimmenden Moments verwendet Platon in der Politeia verschiedene Ausdrücke. In 509d2 greift er auf Kategorien aus dem Bereich der politischen Strukturen und Verfassungsordnungen zurück und bezeichnet die lenkende Tätigkeit des Guten mit dem Verbum basike¼eim, herrschen, gebieten, König sein.376 In 517c3 benennt er die Idee des Guten als juq¸a, Herrin, Herrscherin. Hier lässt sich die Nähe zur Bestimmung des Selbst im Alkibiades I besonders gut beobachten. In Alk. I 130d hält Sokrates als vorläufiges Resultat der Untersuchung fest, dass nichts an uns bestimmender, gebietender, entscheidender (juqi¾teqºm 130d6) sei als das Selbst. Im Liniengleichnis führt Platon über die angeführten Ausdrücke hinaus den !qw¶-Begriff zur Bezeichnung des Guten ein (510bff.)377, der in Form des Verbums %qweim oder des Neutrums t¹ %qwom auch in der Identitätsuntersuchung des Alkibiades I verstärkt verwendet wird (vgl. Alk. I 130a/b). Allerdings gebraucht Platon !qw¶ im Liniengleichnis primär in der Bedeutung ›Grund, Anfang‹, während im Alkibiades I der Bedeutungsaspekt der Lenkung, Regierung, Bestimmung im Vordergrund steht. Trotz der etwas differenten Gewichtung dürften jedoch hier wie dort jeweils beide Aspekte gemeint sein. Die Ausführungen in der Politeia verweisen darauf, dass Platon das Gute mit dem Telos-Gedanken verbindet und analog zum Selbst das Herrschen, Lenken, Regieren als intentionale Gerichtetheit auf einen Zweck oder Sinn versteht. Da der Zweck in diesem Kontext als ein letzter Zweck oder höchster Sinn zu denken ist und es nichts Höheres als das Gute gibt378, kann man hier von Selbstintentionalität sprechen.379 Die vergleichende Betrachtung konnte zeigen, dass es bestimmte funktionale Übereinstimmungen zwischen dem Selbst und dem Guten bei Platon gibt. Für 376 Vgl. Phil. 30d, wo die Vernunft des Zeus mit dem Ausdruck basikijºr prädiziert wird. Vgl. auch Phil. 28c7, wo der Nous als basike¼r bestimmt wird. 377 Es liegt nahe, den hier angeführten ›voraussetzungslosen Anfang‹ (!qw¶ !mupºhetor 510b7) mit der Idee des Guten zu identifizieren, wird doch das Gute im Sonnengleichnis als erkenntnisbegründendes Prinzip eingeführt und im Höhlengleichnis als Ziel der Aufstiegsbewegung, von der auch im Liniengleichnis die Rede ist (511b), bezeichnet. In der Forschung besteht in diesem Punkt weitgehender Konsens. Vgl. z. B. Stemmer (1992, 208), Krämer (1997), Tornau (2007, 41), Ferber (2007, 76), Szaif (2009, 124), Hardy (2011, 94). 378 Vgl. die intentionalen Bestimmungen des Nous in Phaid. 98b2, 97c; Tim. 29d6–e4; leg. 967a5. 379 Damit ist ein entscheidender Unterschied zur Identitätskonzeption des Alkibiades I angesprochen. Während das Gute im geistigen und physischen Bereich Bestheit hervorbringt – den geistigen Akten teilt es Wahrheit mit und den physischen Bewegungsabläufen und Gestalten Richtigkeit, Schönheit, Geordnetheit (517c1f.) – ist die Tätigkeit des Selbst nicht per se mit solch einem qualitativen Moment verbunden. Platon beschränkt sich im Alkibiades I zunächst auf die Erörterung der funktionalen Bestimmungen des Selbst und thematisiert erst im Spiegelgleichnis den axiologischen Grund.

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die Plausibilisierung der oben angedeuteten Identitätsthese, nach der das Objekt der höchsten Selbsterkenntnis mit dem Guten zusammenfällt, sind jedoch die beobachteten Kongruenzen nicht hinreichend. Stützt man die Identitätsthese allein auf die funktionalen Bestimmungen, so müsste behauptet werden, dass die Seele, die ja im Alkibiades I zunächst als das Regierende, Leitende, Bewegende bestimmt wird, mit dem Guten identisch ist. Diese Annahme aber ist wenig plausibel, da die Seele im Kontext der Thematik der Selbstsorge stets als Instanz aufgezeigt wird, die der Bestheit bedarf und auf das Gute hin orientiert ist. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die Identitätsthese nur dann Sinn macht, wenn ein verengter Selbstbegriff zugrunde gelegt wird. Diese spezifizierte Selbstkonzeption ist im Alkibiades I angelegt. Um dies aufzuzeigen, soll im Folgenden die von Platon im Alkibiades I vorgenommene Differenzierung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen des Selbstbegriffs nachgezeichnet werden.

cc)

Differenzierung zwischen verschiedenen Selbstbegriffen (Alk. I 129b–133c)

In der Untersuchung des Alkibiades I ist bereits sichtbar geworden, dass Platon in seiner Konzeption der Personalität zwischen verschiedenen Ebenen des Selbst unterscheidet.380 Wie bereits Gloy (1999, 1438) und Pietsch (2008, 349) beobachtet haben, gleichen diese Ebenen konzentrischen Kreisen, die sich nach innen zunehmend verengen. Unter Zugrundelegung des konzentrischen Modells kann man von einem weiten oder ganzheitlichen Selbstbegriff sprechen, der alle Identitätssphären umfasst, und von engeren Identitätsbegriffen, die sich auf funktional bestimmte, spezifische Dimensionen der Personalität beziehen. Die engeren Selbstkonzepte werden im Alkibiades I in einer Reflexionsbewegung gewonnen, die von den sinnlich wahrnehmbaren, physisch-materiell strukturierten Identitätsbereichen zu den seelisch-geistigen Dimensionen des Selbst fortschreitet. Dabei werden die geistigen Sphären nach dem Kriterium der Erhaltung, Fundierung und Lenkung des Ganzen als höherstufig und essenzieller eingeschätzt. Der weiteste, umfänglichste Selbstbegriff umfasst a) den gesamten Bereich des in eigener Verfügungsgewalt stehenden dinglich-materiellen Eigentums – technische Instrumente, Artefakte, Kapitalvermögen etc., b) die leibliche Sphäre mit den Wahrnehmungsorganen, Gliedmaßen und dem Ganzen des Körpers, und c) die Seele, die als komplex strukturierte Einheit von verschiedenen 380 So auch Johnson (1999). Vgl. auch Pietsch (2008, 345): »Platons Verständnis von Person bzw. vom Selbst ist also mehrschichtig und bezieht sich auf verschiedene, gleichsam vertikal gestufte Ebenen von unterschiedlicher Wertigkeit«.

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Selbsterkenntnis bei Platon

Kräften und Funktionen verstanden wird. Dieser ganzheitliche Identitätsbegriff wird zwar im Dialog nicht argumentativ entwickelt. Er ist jedoch in der Bezeichnung der verschiedenen Identitätsbereiche und in der Konzeption einer umfassenden Kunst der Selbsterkenntnis und Selbstregierung (Alk. I 133d/e) enthalten. Wie oben bereits angedeutet, wird durch die Verwendung von t± artoO – das Seinige – zur Bezeichnung des Leibes und von t± t_m 2autoO – das Zugehörige bzw. das des Seinigen, was hier soviel bedeutet wie: das den Leib Besorgende und zur leiblichen Sphäre Gehörige – zur Bezeichnung der dinglichen Vermögensebene eine Relation zum Selbst hergestellt. Leib und Besitz sind Wirklichkeits- und Erfahrungsbereiche, die für das Personsein, für das eigene Selbstverständnis und die Selbstentfaltung von Bedeutung sind und zur Identität gehören, wenn auch in einem anderen Sinn als der seelisch-geistige Bereich. In Alk. I 133d/e wird zudem die Synthetisierung der verschiedenen Bereiche zu einem ganzheitlichen Identitätsbegriff durch die Konzeption einer Techne der Selbsterkenntnis nahegelegt, die sich auf alle genannten Sphären versteht: »denn dies alles zu verstehen, scheint nur einer und derselben Kunst anzugehören, sich, das Seinige und das des Seinigen« (5oije c±q p²mta taOta eWmai jatide?m 2mºr te ja· li÷r t´wmgr, artºm, t± artoO, t± t_m 2autoO 133d11–e2). Die Zuordnung der einzelnen Bereiche zu ein und derselben Sophia oder Techne impliziert die Annahme eines engen Zusammenhangs und die mögliche Subsumierung unter einen Begriff. Im Fokus der in Alk. I 129b–131c vorgenommenen Erörterung steht jedoch ein engerer Selbstbegriff, der, wie oben ausführlich aufgezeigt, durch die Differenzierung zwischen einer aktiven, gebrauchenden Kraft und den in Gebrauch genommenen Dingen gewonnen wird. Die Person geht nicht restlos auf, in dem, was sie hat, was physisch-materiell zu ihr gehört. Als gebrauchende Instanz ist sie nicht identisch mit Leib und Besitztümern. Ebensowenig ist sie mit ihren Handlungen zu identifizieren. Sokrates ist nicht die im Dialog realisierte Sprechhandlung, sondern derjenige, der diese Handlung aus bestimmten Gründen und zu einem bestimmten Zweck ausführt (Alk. I. 129b/c). Die Person kann somit als Ursache oder Urheber der in verschiedenen Tätigkeitsfeldern ausgeübten Handlungen verstanden werden. Diese ursächliche Instanz wird in Alk. I 130a1 mit dem Begriff der Seele (xuw¶) benannt: Die Person oder das Selbst im engeren Sinn ist Seele. Zur Bezeichnung der spezifischen Funktion der Seele verwendet Platon an der Stelle, wie schon häufiger erwähnt, das Verbum %qweim381 oder auch das Neutrum t¹ %qwom382. Setzt man die substantivierte Form

381 Vgl. Alk. 130a3, a11, 130b2, b4, b8, b12, 130d6. 382 Der Gebrauch von t¹ %qwom in Alk. 130a11 legt die Verbindung zu dem Wort %qwym nahe, das im Griechischen zur Benennung der politischen Amtsinhaber verwendet wurde.

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ein, so kann man davon sprechen, dass die Seele hier als !qw¶383 der Handlungsund Bewegungsvollzüge sowie der äußeren Besitztümer bestimmt wird. Um den Sinn dieser Bestimmung zu verstehen, ist das ganze Bedeutungsspektrum von !qw¶ in den Blick zu nehmen. Das Wort wird in dem Kontext zum einen in der Bedeutung von ›Anfang, Ursprung‹ gebraucht. Es verweist in diesem semantischen Gehalt auf die Spontanität, Selbstanfänglichkeit und Freiheitsdimension des seelischen Selbst sowie auf die kausale Funktion des Veranlassens von Bewegungen und Handlungen. Das Wort !qw¶ hat im Zusammenhang der Identitätsproblematik zudem die Bedeutung von ›Grund, Prinzip‹. Damit ist neben dem schon erwähnten Aspekt des Erwirkens die Funktion einer Begründung von bestimmten Handlungen und Bewegungen durch Zwecksetzungen, Intentionen, Zielorientierungen angesprochen, aber auch die Funktion eines Möglichkeitsgrundes. Wie das Gebrauchsargument in Alk. I 129b–e deutlich macht, sorgt die Seele durch ihre Steuerungs- und Sinngebungskompetenzen für eine Verwirklichung der instrumentellen Funktionen von Leib, Technik und Besitz und kann insofern als Möglichkeitsgrund einer Funktionserfüllung der leiblich-materiellen Identitätssphäre aufgefasst werden. Und schließlich wird !qw¶ hier verstärkt im Sinn von ›Regierung, Herrschaft‹ verwendet. Im Zusammenhang mit der thematisierten seelischen Aktivität sind damit alle Tätigkeitsaspekte gemeint, die in Lenkungsprozessen eine Rolle spielen: Beratung, Zwecksetzung, Bestimmung, Entscheidung und nicht zuletzt die Übernahme der Verantwortung für das Ganze des Lebensvollzugs. Wie oben ausgeführt, bleibt die identitätstheoretische Erörterung nicht bei dem in Alk. I 129b–131c entwickelten seelischen Selbstbegriff stehen. Im Zusammenhang mit dem Versuch einer präziseren Bestimmung des Gegenstands der Selbstsorge wird die Identitätsreflexion in Alk. I 132c fortgesetzt. In Anbetracht der in 130a/b vorgenommenen Verknüpfung von Selbst- und !qw¶-Begriff kann diese Reflexionsbewegung auch als weitere Untersuchung der !qw¶ der Handlungs- und Bewegungsvollzüge verstanden werden. Dabei wird die personale Identität sukzessive mit geistigen Steuerungsprozessen enggeführt. Wie in der Analyse des Augengleichnisses aufgezeigt werden konnte, lenkt Platon die Aufmerksamkeit zunächst auf die Vernunft, die als das Wertvollste und Göttlichste in der Seele kenntlich gemacht wird (Alk. I. 133b/c). Die Begründung dieses Werturteils lässt sich aus der von Platon angeführten Analogie zum visuellen Wahrnehmungsorgan erschließen. So wie die Pupille der beste Teil des 383 Zum Begriff !qw¶ bei Platon vgl. Pietsch (2007b). Zur Verwendung von %qweim, !qw¶, %qwom im Zusammenhang mit der Bestimmung der Herrschaftsfunktion der Vernunft vgl. rep. 353d5, 428e8, 441e4 (»Nun gebührt doch dem Vernünftigen zu herrschen, weil es weise ist und für die gesamte Seele Vorsorge hat?« oqjoOm t` l³m kocistij` %qweim pqos¶jei, sov` emti ja· 5womti tµm rp³q "p²sgr t/r xuw/r pqol¶heiam); Phaidr. 246b2; Phil. 30d8; Tim. 29e5.

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Selbsterkenntnis bei Platon

Auges ist, weil es die Leistungsfähigkeit des Sehorgans begründet und die eigentliche Sehkraft enthält (Alk. I 133a5–b5), so ist die Vernunft das Wertvollste in der Seele, weil sie das Zentrum des seelischen Steuerungsvermögens bildet und durch die spezifischen Kompetenzen der Überlegung, Koordinierung, Einsicht, Entscheidung die Leistungsfähigkeit der Seele konstituiert. Knapper formuliert: Die Vernunft ist die eigentlich lenkende, regierende Kraft in der Seele; sie ist die !qw¶ der Handlungen und Bewegungen. Auch wenn die Vernunft an dieser Stelle nicht ausdrücklich mit dem Selbst identifiziert wird, kann hier von einer Vertiefung des Selbstbegriffs gesprochen werden. Die Identifizierung wird durch den Argumentationsgang nahegelegt und kann aus der Verknüpfung der Funktionsanalyse in Alk. I 129b–130c mit der im Augengleichnis vorgenommenen Bestimmung der Vernunft als geistiges Steuerungszentrum erschlossen werden. Wie die dem Augengleichnis nahestehende Formel von der Vernunftseele als ›innerer Mensch‹ (b 1mt¹r %mhqypor) des Menschen in Politeia 589a8f. zeigt, ist auch an anderen Stellen des platonischen Werks eine Verengung der Personalität auf die als axiologisch vorrangig eingeschätzte epistemische Kraft zu beobachten. Man kann von daher die These vertreten, dass das Personsein bzw. Menschsein im engeren Sinn in der platonischen Identitätskonzeption von jener Potenz her bestimmt wird, die für die Erfüllung der spezifischen Aufgaben am wesentlichsten ist384 und von daher einen besonderen Wert in sich trägt.385 Der engere Identitätsbegriff, so wird hier deutlich, basiert bei Platon auf der Annahme einer hierarchischen Ordnung der Identitätssphären und innerseelischen Kräfte und auf der damit verbundenen Prämisse einer differenten Wertigkeit.386 Die verschiedenen Identitätsbereiche und Potenzen werden nicht auf ein und derselben Ebene lokalisiert, sondern eher in vertikaler Richtung stufenartig angeordnet.387 Diese Hierarchisierung 384 Vgl. Gill (2007). Im Alkibiades I werde der Begriff des ›Selbst‹ im Sinn »what we are essentially« (104) gebraucht. 385 Das dem Alkibiades I und der angeführten Politeia-Stelle zugrunde liegende allgemeine Argument, dass das für die spezifische Beschaffenheit und Leistung eines Dings oder Lebewesens konstitutive Moment mit dem Ding oder Lebewesen identifiziert werden kann, bestimmt auch den platonischen Gebrauch des Tugendbegriffs im Alkibiades I. Die Tugend des Vernunftvermögens – die Weisheit (sov¸a), wird in Alk. I 133b9 mit der Tugend der ganzen Seele identifiziert, und zwar deswegen, weil die Weisheit für die zentralen Qualitäten der Gerechtigkeit, Sophrosyne, Tapferkeit konstitutiv ist und deren Tugendhaftigkeit begründet.Vgl. insbes. Men. 88a–89a und leg. 963a. 386 Vgl. auch leg. 726a: »Was einem aber gehört, ist alles für alle von zweifacher Art: das Höhere und Bessere ist das Herrschende, das Geringere und Schlechtere dagegen das Dienende; daher muß man unter dem Seinigen das Herrschende stets höher schätzen als das Dienende«. 387 Ähnlich Pietsch (2008, 347): »Die zunächst undifferenzierte Einheit ist nunmehr aufgebrochen. Es werden Elemente sichtbar, die nicht nur verschieden, sondern auch von unterschiedlicher Wertigkeit sind«.

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hat sich bereits in der Erörterung der platonischen Konzeption der Selbstsorge gezeigt.388 An der Thematik der Sorge um sich selbst ist zudem deutlich geworden, dass das hierarchische Identitätsmodell bei Platon keineswegs mit einer Abwertung oder Verachtung der untergeordneten Bereiche einhergeht. Eine auf Leibfeindlichkeit basierende Askese wird hier ebensowenig als Lebensmodell präferiert wie ein Dasein in Besitzlosigkeit und materieller Armut. Die im Augengleichnis vorgenommene Bestimmung der Selbsterkenntnis als Blick auf den vernünftigen Teil (tºpor) der Seele (133b7–10) und die Auszeichnung der Vernunft als das Göttlichste in der Seele (133c1–2), die einen Vergleich mit anderen psychischen Potenzen voraussetzt, weisen darauf hin, dass dem Dialog die Vorstellung einer komplex strukturierten Psyche zugrunde liegt.389 Auf der Grundlage dieser Beobachtung ist davon auszugehen, dass den im Augengleichnis thematisierten Steuerungsleistungen der Vernunft auch eine innerseelische Dimension zukommt und das in der Politeia (443d/e, 588eff.) entfaltete Motiv der Selbstherrschaft als Regierung über die seelischen Kräfte hier gleichsam mitgedacht wird. Das platonische Identitätsmodell umfasst demnach nicht nur das Verhältnis zwischen Leib und Seele, sondern auch die Relation zwischen den innerseelischen Kräften. Betrachtet man diese Relationen unter dem Aspekt der Ordnungs- und Organisationsstrukturen, so zeichnet sich eine proportionale Ähnlichkeit ab. So wie sich die ganze Seele zu Leib und Besitz verhält, so verhält sich die Vernunft zu den seeleninternen Kräften, zu Affekten, Volitionen und leibnahen Begierden.390 Die Seele im Ganzen gebraucht und lenkt die körperliche und dingliche Sphäre und die Vernunft organisiert und steuert die seelischen Kräfte und Antriebe. Die beiden Relationen zeichnen sich jedoch nicht nur durch Proportionalität aus, sondern sind zudem konditional aufeinander bezogen. Damit die Seele ihre auf Leib und dinglich-materiellen Besitz bezogene Steuerungsleistung erfüllen kann, bedarf sie der Vernunft, die das Beste für Erhaltung, Pflege und Förderung von Leib und Seele bedenkt, die über einen sinnvollen, zweckmäßigen Gebrauch befindet und die seelischen Kräfte entsprechend orientiert und ausrichtet. Durch diese geistige Lenkung und die damit verbundene Herstellung von innerseelischer Ordnung, Stabilität, Einheit wird die Seele erst handlungsfähig und kann die ihr zukommenden Funktionen in optimierter Weise erfüllen. Ein ähnlicher Zusammenhang wird im Dialog Menon entwickelt. In Men. 87e–89a führt Sokrates aus, dass die physischen und materiellen Lebensgüter 388 Siehe oben Kap. B II 2b.bb. 389 So auch Karl (2010, 98): »Im Spiegelgleichnis ist die Rede von dem Teil der Seele, welcher die Tugend einwohnt, und zwar die Weisheit bzw. das Wissen und die Vernunft (133b8ff.). Es ist offensichtlich, dass neben diesem Teil noch ein anderer oder andere Teile der Seele angenommen werden.« 390 So auch Denyer (2001, 234).

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wie Gesundheit, Stärke, Schönheit, Reichtum etc. auf die seelische Instanz angewiesen sind, die diese Dinge richtig gebraucht und regiert (aqh_r wqyl´mg ja· Bcoul´mg) und ihnen damit erst Nutzen und Sinn verleiht (Men. 88e1–2). Damit die Seele ihre Regierungsfunktion in bestmöglicher Weise ausüben kann, bedarf diese wiederum der Vernunft: »Recht aber regiert die vernünftige, fehlerhaft und verkehrt die unvernünftige [sc. Seele]?« ((Oqh_r d´ ce B 5lvqym Bce?tai, Blaqtgl´myr d( B %vqym ; Men. 88e4f.). Die Vernunft sorgt für die sachlich angemessene, zweckmäßige Ausrichtung der seelischen Kräfte und Dispositionen und befähigt die Seele auf diese Weise, ihre Steuerungsfunktion optimal zu erfüllen. Die konditionale Relation zwischen Gütern, Psyche und Vernunft wird abschließend wie folgt bestimmt: »Kann man nun nicht im allgemeinen sagen, daß dem Menschen alles andere, ob es ihm gut (!cahºr) sein wird, von der Seele (xuw¶) abhänge, was aber in der Seele selbst ist, dieses von der Vernunft (vqºmgsir)« (88e7–89a2). Ein Blick auf die mittleren Dialoge zeigt, dass Platon den Zusammenhang zwischen Vernunftregierung, seelischer Ordnung und Handlungsfähigkeit in den späteren Schriften auszugestalten und zu begründen sucht. In der Politeia wird auf der Basis der Seelenteilkonzeption und der Annahme von spezifischen Funktionen und Bestheiten der einzelnen Seelenpotenzen die Ordnungs- und Gestaltungsfunktion der Vernunft expliziert und durch die Erkenntnis des Zuträglichen für die Teile und das Ganze begründet. Im Rahmen einer Erörterung der Einzeltugenden (rep. 441cff.) zeigt Platon auf, dass dem vernünftigen Seelenteil (kocistijºm) die Aufgabe zukommt, für die gesamte Seele Vorsorge (pqol¶heia) zu tragen (rep. 441e). Die ausgebildete Vernunft verfügt über die Kenntnis dessen, was jedem Teil und dem Ganzen der Seele angemessen, zuträglich (n¼lvoqor) ist (rep. 442c6–8) und achtet darauf, dass jedes Vermögen das Seinige verrichtet (rep. 443d). Sie bewirkt eine innerpsychische Stabilität und Einheit, indem sie Konflikte zwischen den verschieden Kräften schlichtet und für Freundschaft und Verbundenheit sorgt: »indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist« (ja· %qnamta aqt¹m artoO ja· josl¶samta ja· v¸kom cemºlemom 2aut` 443d). Durch den ordnenden, gestaltenden Umgang der Vernunft mit den verschiedenen innerpsychischen Antrieben und Kräften gewinnen die Denkakte, Willensentscheidungen und Handlungsvollzüge an Einheitlichkeit und Kohärenz. Der Mensch wird aus vielen verschiedenen Kräften, Antrieben, affektiven Dispositionen einer (ja· pamt²pasim 6ma cemºlemom 1j pokk_m rep. 443e2f.) und gewinnt auf diese Weise erst volle Handlungsfähigkeit (rep. 443e). In ähnlicher Weise wird an späterer Stelle mittels des Bildes vom ›Seelentier‹ ausgeführt, dass die Vernunft die Funktion besitzt, ordnend in das seelische Kräftespiel einzu-

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greifen und die Verantwortung und Sorge für das Seelenganze zu übernehmen (rep. 589a/b).391 Auf der Grundlage der vorherigen Überlegungen lässt sich zeigen, dass das dem Augengleichnis nachfolgende Spiegelgleichnis die Identitätsreflexion im Alkibiades I zu einem letzten Punkt führt und als weitere Vertiefung des Selbstbegriffs aufgefasst werden kann. Zunächst ist zu beobachten, dass sich die Passage 133c8–16 in die soeben dargestellte argumentative Begründungsbewegung sinnvoll einfügt. Die Thematisierung des Guten, die hier vorgenommen wird392, kann man vor dem Hintergrund der skizzierten Begründungsreflexion als einen über das Augengleichnis hinausgehenden Verweis auf den Grund der Vernunftleistung lesen. Wie oben ausgeführt, deutet Platon in Alk. I 133b/c nicht nur auf die besondere Stellung der Vernunft als geistiges Steuerungszentrum der Seele hin, sondern macht sie im Kontext des paränetischen Gesprächs zugleich als primären Gegenstand der Selbstsorge kenntlich. Die Bestimmung dieses Vermögens als Objekt der Sorge setzt die Annahme voraus, dass das Vernunftselbst einer Entwicklung der spezifischen Fähigkeit bedarf, d. h. einer Ausbildung der Erkenntnisfähigkeit. Diese Art von epistemischer Bildung wird in der Politeia, wie schon mehrfach erwähnt, mit der Idee des Guten in Zusammenhang gebracht. Das Gute verleiht dem Vermögen Erkenntnisfähigkeit, so die Aussage im Sonnengleichnis, es bewirkt durch Lenkung und Steuerung, dass das ›geistige Auge‹ sehend wird und etwas sieht, also Wahrheitserkenntnis erlangt.393 Zieht man diesen Gedanken zur Interpretation des Alkibiades I heran, was ja angesichts der vielfältigen sachlichen Verbindungen zwischen den beiden Dialogen nicht ganz abwegig ist, so lässt sich die oben skizzierte Begründungskette zu einem Abschluss bringen. Es zeigt sich folgender Begründungszusammenhang: Die Seele ist durch die Aufgabe bestimmt, die Bewegungen des Leibes zu steuern und die Handlungen und Aktionen in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern zu motivieren und zu lenken. Die Erfüllung der seelischen Steuerungsfunktion ist 391 Vgl. auch die Darstellung der Vernunftregierung in Phaidr. 246a–256e. In der berühmten Seelenwagen-Metapher wird der vernünftige Seelenteil als Regent und Lenker (b ûqwym) der seelischen Kräfte dargestellt. Auch in den späteren Dialogen findet sich immer wieder das Motiv einer Selbstherrschaft als Vernunftregierung über die Seele. Im Philebos (30b) wird die leibliche Dimension in die Betrachtung miteinbezogen und die Vernunft (moOr) als !qw¶ über das Ganze des personalen Seins (vgl. 30d8) und als aQt¸a von Schönheit, Ordnung und Gesundheit sowohl im seelischen als auch im leiblichen Bereich bestimmt. In den Nomoi wird noch einmal die Abhängigkeit der seelischen Tugenden, die hier auf die zentralen Qualitäten wie Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit reduziert werden, von der Vernunft (moOr) betont. Die Vernunft sei die regierende, lenkende Instanz (Bcel¾m), die ziel- und richtunggebend wirke: »Und die Führerin von diesem allen sei die Vernunft, auf die demnach alles andere und so auch die drei übrigen Tugenden den Blick zu richten hätten« (leg. 963a8–9). Vgl. auch leg. 897b. 392 Siehe die Interpretation oben Kap. B II 3b. 393 rep. 508d–509b. Vgl. auch rep. 511d.

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von den Leistungen der Vernunftinstanz abhängig, die in Deliberations- und Entscheidungsprozessen das situativ Beste bedenkt und die seelischen Potenzen entsprechend ausrichtet und bestimmt. Damit die Vernunft ihre spezifische Regierungsfunktion bestmöglich erfüllen kann, bedarf sie wiederum einer richtunggebenden Kompetenz – des Guten, die die Erkenntniskraft lenkt und die für das Gelingen der Steuerungsprozesse essenzielle Vernunfteinsicht hervorbringt. Das Gute wäre somit die letzte !qw¶ der Bewegungs- und Handlungsvollzüge. Durchläuft man die Begründungsbewegung in umgekehrter Richtung, also vom letzten Grund ausgehend, so zeigt sich die Eigenschaft einer alles bestimmenden Leitinstanz noch deutlicher. Das Gute bestimmt das erkennende, überlegende Selbst und regiert mittels der Vernunft über die Seele, die wiederum die leiblich-materiellen Identitätssphären ordnend gestaltet. Das Gute wirkt über das Vernunftselbst, d. h. über die bewusste, erkennende Kraft auf alle für die personale Identität relevanten Bereiche ein und kann insofern als letztes Steuerndes, als ein alles tragender Grund verstanden werden. Diese fundierende !qw¶, deren Erfassung und graduelle Realisierung im Spiegelgleichnis als ›Blick auf Gott‹ umschrieben wird, lässt sich als letzte Vertiefung des Selbstbegriffs deuten. Für diese Deutung spricht das Argument der zunehmenden Verengung des Selbstbegriffs auf jene Kräfte, die für die Erfüllung der seelischen Funktionen konstitutiv sind. Der der Passage Alk. I 133b/c zugrunde liegende Gedanke, dass sich die Personalität im engeren Sinn von jener Kraft her bestimmt, die für die Leistungsfähigkeit der Seele ausschlaggebend ist, lässt sich auch für die Deutung des Spiegelgleichnisses fruchtbar machen. Auf der Grundlage dieses Gedankens lässt sich folgende Argumentation rekonstruieren: 1. Die mit dem Selbst zu identifizierende Seele bestimmt sich durch Steuerungs- und Lenkungsfunktionen. 2. Die Vernunft ist konstitutiv für die Erfüllung dieser Funktionen und bezeichnet somit das Selbst im engeren Sinn. 3. Die Leistungsfähigkeit der Vernunftseele wiederum hängt vom Guten ab, das somit das letzte konstitutive Moment und das Selbst im engsten Sinn darstellt. In der Reflexion auf das fundierende Prinzip der seelischen Steuerungsleistungen gelangt die Erörterung im Alkibiades I sukzessive zu geistigen Identitätsbegriffen und mündet schließlich in die Thematisierung des Vernunftgrundes, der hier als tiefste Dimension der Personalität aufscheint. Die Deutung des Spiegelgleichnisses im Sinn einer Vertiefung des Identitätsbegriffs lässt sich zudem durch einen Strukturvergleich zwischen den Tugenddialogen des Frühwerks und dem Alkibiades I plausibilisieren. In den dialektischen Erörterungen der Frühdialoge ist eine zunehmende Spezifizierung des Tugendbegriffs zu beobachten, die bezüglich der Stufen große Ähnlichkeit mit dem Alkibiades I aufweist. Die Argumentationsstruktur der Tugenddialoge ist oben ausführlicher erörtert worden und sei hier nur kurz angedeutet: In den Untersuchungen werden zunächst sinnlich wahrnehmbare, an leibliche Bewe-

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gungen gebundene Verhaltensmuster oder Handlungsausführungen als Tugend bestimmt. Die Verhaltensweisen werden in der weiteren Argumentation als begründungsbedürftig erkannt und auf bestimmte Charakterhaltungen oder seelische Qualitäten zurückgeführt, die ihrerseits auf epistemische Leistungen wie Wissen, Einsichten, praktische Urteilskraft angewiesen sind. Das praktische Urteilen wiederum bedarf einer richtunggebenden Kompetenz oder eines orientierenden Prinzips. Als dieser Grund scheint am Ende der Dialoge stets die Erkenntnis des Guten auf394, die das konstitutive Prinzip der Tugend bzw. die Tugend im engsten Sinn bezeichnet. Bestheit bedeutet zuletzt Einsicht in und Bestimmtwerden durch das Gute. Vergleicht man diese Argumentationsbewegung mit der Identitätserörterung im Alkibiades I, so fallen die strukturellen Parallelen sofort ins Auge. Hier wie dort ist eine Begründungsreflexion zu beobachten, die vom sichtbaren, sinnlich wahrnehmbaren Bereich über die Seele und die epistemischen Leistungen und Kompetenzen hin zum letzten Prinzip – zum Guten führt. Bei allen Differenzen bezüglich des Ausgangsproblems – Identitätsfrage vs. Tugendproblem – und der Ausgestaltung der verschiedenen Stufen kulminieren die Erörterungen am Ende in ein und demselben Prinzip. Das Gute bezeichnet die tiefste Dimension des Selbst- als auch des Tugendbegriffs. Es ist das letzte Fundament der Person und die Ursache der Bestheit. Diese Doppelfunktion des Guten bei Platon müsste in weiteren Untersuchungen noch genauer analysiert werden. Sie lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Selbstverwirklichung mit der ethischen Entwicklung in engstem Zusammenhang steht und im Sinn einer Formung zur ethisch gereiften Persönlichkeit aufzufassen ist. Dieser Aspekt kann hier nicht näher ausgeführt werden. Im Kontext der Deutung des Spielgleichnisses sollte lediglich aufgezeigt werden, dass es im Hinblick auf die Fundierung des Tugendbegriffs und die strukturell ähnliche Argumentationsbewegung in den Aretedialogen gute Gründe dafür gibt, das Gleichnis als letzte Vertiefung des Selbstbegriffs auszulegen. dd)

Transpersonale und personale Aspekte des Selbst

Die im letzten Kapitel vorgenommene Differenzierung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen des Selbstbegriffs sollte deutlich machen, dass die These einer Identität des Selbst mit dem Guten keineswegs eine Gleichsetzung der Seele mit dem Agathon bedeutet. Die Identitätsthese basiert auf der im Alkibiades I entwickelten komplexen Konzeption des Selbst, die zwischen verschiedenen Dimensionen und Ebenen der Personalität unterscheidet und sowohl weitere als auch engere Selbstbegriffe einschließt. Im Rahmen einer Begründungsreflexion wird hier, wie oben ausgeführt, eine sukzessive Bedeutungsverengung des 394 Vgl. Lach. 199b9–12; Charm. 174b/c.

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Selbstbegriffs vorgenommen, die in eine Thematisierung des geistigen Fundaments der seelischen Steuerungsleistungen mündet. Dieser geistige Grund, der als Selbst im engsten Sinn bezeichnet werden kann, wird im Dialog – vermittelt über den Gottesbegriff – als das Gute angedeutet und in seiner Funktion als alles tragende Leitinstanz kenntlich gemacht. Angesichts dieser Überlegungen stellt sich die Frage, ob man hier überhaupt noch sinnvoll von einem personalen Selbst sprechen kann oder eher die Kategorie eines transpersonalen Selbst395 gebrauchen müsste. Diese schwierige Frage lässt sich im Rahmen dieses kurzen Kapitels kaum hinreichend diskutieren. Es soll hier lediglich bei einer ersten vagen Überlegung bleiben, die in einer weitergehenden Untersuchung zu prüfen und zu explizieren wäre. Zunächst ist zu vermuten, dass sich bezüglich dieses Problems eine einfache Lösung zugunsten der einen oder der anderen Alternative verbietet. Man wird wohl eher nach einer komplexen, beide Möglichkeiten umfassenden Lösung suchen müssen. Dieses Sowohl-als-auch ließe sich z. B. in folgender Weise denken: Das gemeinte Selbst kann insofern als transpersonal bezeichnet werden, als es über das diskursive, deliberative Ich hinausgeht und ein dem Erkennen und der Erkenntniskraft übergeordnetes Moment darstellt. Das Merkmal des Übersteigens, Übertreffens, Darüber-Hinausgehens scheint besonders deutlich im Sonnengleichnis auf. Die Fähigkeit (6nir) des Guten sei noch höher (le¸fym) zu schätzen als die Erkenntniskraft (moOr) und das Erkennen (mºgsir, 1pist¶lg) (!kk( 5ti leifºmyr tilgt´om tµm toO !cahoO 6nim 509a5), so heißt es dort. Das Gute stehe an Schönheit über (rp´q) der Erkenntnis (aqt¹ d( rp³q taOta j²kkei 1st¸m 509a7). Das Gute besitzt jedoch zugleich eine personale Dimension, da es ja in der Person wirksam ist und als interne Kausalität die spezifischen Lenkungsfunktionen ausübt. Der Aspekt der Verbundenheit von Nous und Agathon ist oben bereits in Bezug auf die göttliche Vernunft thematisiert worden.396 Zieht man die Aufstiegsdarstellungen der mittleren Dialoge mit heran, so zeigt sich, dass Platon auch im menschlichen Bereich eine Verbindung annimmt, diese jedoch in ihrer Prozesshaftigkeit denkt. Auf den Aspekt des Werdens deutet die von Platon häufig gebrauchte Formel von der ›Angleichung an Gott‹ bzw. der ›Verähnli-

395 Der Begriff des ›transpersonalen Selbst‹ wird insbesondere in der psychosynthetischen und transpersonalen Psychologie gebraucht, die auf C. G. Jung, V. Frankl und R. Assagioli zurückgeht. Die transpersonale Psychologie versteht sich als integrativer Ansatz, der spirituelle und religiöse Dimensionen der menschlichen Psyche miteinbezieht. Die folgenden Überlegungen knüpfen nicht an diesen Ansatz an. Der Begriff ›transpersonales Selbst‹ wird hier ohne implizite Bezugnahme auf bestimmte Schulen oder Denkströmungen in der Bedeutung eines die Ich-Instanz überschreitenden Selbst gebraucht. 396 Vgl. Kap. B II 3b.bb.

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chung mit Gott‹ (blo¸ysir he`)397 hin, die im Zusammenhang mit der Aufstiegsbewegung als zunehmende Entwicklung des Vernunftgrundes im Erkennenden selbst gedeutet werden kann. Besonders aufschlussreich sind hier die Stellen aus der Politeia und den Nomoi. In der Politeia wird im Rahmen einer Bestimmung des wahren Philosophen folgende Aussage über die philosophische Bildung getroffen: Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das Seiende richtet, […] hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes schauend […], werden solche auch dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden (taOta lile?sha¸ te ja· fti l²kista !voloioOshai). […] Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geordneten umgeht, wird auch geordnet und göttlich (jºsliºr ja· he?or), soweit es nur dem Menschen möglich ist. (rep. 500c9–d1)398

Ähnlich leg. 716c/d: »Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß (l´tqom) aller Dinge sein […]. Wer also einem solchen Wesen lieb und teuer werden will, der muß notwendig, soweit er es vermag, möglichst selber zu einem solchen werden (ja· aqt¹m toioOtom !macja?om c¸cmeshai)«. Diese und andere Thematisierungen des Verähnlichungsmotivs weisen darauf hin, dass hier eine Selbstbildung (2aut¹m pk²tteim rep. 500d6)399 gemeint ist400, die in der Person eine dem Objekt der philosophischen Erkenntnissuche entsprechende Wirklichkeit hervorbringt und die Person sozusagen zu dem macht, worauf sie epistemisch bezogen ist.401 Das Motiv der geistigen Selbstzeugung aber ist zuletzt im Sinn einer Ausbildung des Guten zu verstehen, da dieses ja das erklärte Ziel des in der Politeia thematisierten Erkenntnisaufstiegs ist. Der Gedanke lässt sich anhand der angeführten Politeia-Stelle (500c/d) noch deutlicher herausarbeiten. Der Erkennende bildet das Seiende, auf das er geistig ausgerichtet ist, in sich aus, so heißt es dort. Er wird selbst von dieser Art, ein 397 Vgl. dazu Bordt (2009b, 253–55) und Russell (2004). Zur Herkunft des Motivs der ›Angleichung an Gott‹ und zur Verwendung in der Literatur vor Platon vgl. Roloff (1970). 398 An dieser Stelle wird von der ›Angleichung an das Göttliche‹ gesprochen. Vgl. aber rep. 613a, wo die Ausbildung der Gerechtigkeit, um die es ja im Erkenntnisaufstieg der Politeia vornehmlich geht (vgl. insbes. rep. 517d10, e2), als ›Verähnlichung mit Gott‹ bezeichnet wird. 399 Vgl. auch rep. 592b3f.: »Aber […] im Himmel ist doch vielleicht ein Muster aufgestellt für den, der sehen und nach dem, was er sieht, sich selbst einrichten will« ()kk( 1m oqqam` Usyr paq²deicla !m²jeitai t` boukol´m\ bq÷m ja· bq_mti 2aut¹m jatoij¸feim). Vgl. auch symp. 212a. Dort ist vom Erzeugen (t¸jteim) der Tugend durch den Blick auf das Schöne die Rede. 400 Vgl. dazu Karl (2010, 317). 401 Vgl. Bordt (2009b, 253): »Gott ähnlich zu werden meint also, selbst die Eigenschaften in sich auszuprägen, die Gott exemplarisch zukommen«.

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derartig Beschaffenes (ja· aqt¹m toioOtom c¸cmeshai), so die Formulierung in den Nomoi. Da das Gute von Platon als das höchste Seiende bezeichnet wird, das den Fluchtpunkt des Erkenntnisstrebens bildet (»bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute« rep. 518c9–d1), muss angenommen werden, dass sich die Selbstbildung zuletzt darauf bezieht. Das aber heißt nach dem in rep. 500c/d angedeuteten Bildungsbegriff nichts anderes, als dass das Gute im Verlauf einer gelingenden Erkenntnisbewegung sukzessive an Gestalt und Wirklichkeit in der Person gewinnt und die Ich-Instanz zunehmend vom Guten bestimmt und gelenkt wird. Das Gute wird auf diese Weise zum integralen Bestandteil der Personalität, es erhält eine personale Dimension.402 In engem Zusammenhang mit dem Problem der Personalität des gemeinten höheren Selbst steht die Frage der Individualität dieser Dynamis. Es liegt nahe, hier ebenfalls ein Sowohl-als-auch anzunehmen und von transindividuellen wie individuellen Aspekten zu sprechen. Transindividuell ist dieses Selbst insofern, als es über die Merkmale und Eigenschaften hinausgeht, die die Einzigartigkeit, Besonderheit, Einmaligkeit einer Person begründen, die nur dieser Person und keiner anderen zukommen. Das Gute ist bei Platon ein universales Prinzip und weist als solches in allen Personen, die es verwirklichen, ein und dieselbe Kraft und Fähigkeit auf. Dem Guten kommen jedoch insofern individuelle Aspekte zu, als es von besonderen Individuen unter spezifischen Bedingungen ausgebildet wird. Durch die Vermischung und Verbindung mit besonderen Dispositionen, Anlagen, Aufgaben und Tätigkeitsfeldern nimmt es gleichsam eine individuelle Färbung an. Das Eine gewinnt an Vielfalt und Verschiedenheit. In gewisser Weise taucht hier auf höherer Ebene die Figur der Synthese von Vielheit und Einheit wieder auf, die die Ideendiskussion im 5. Buch der Politeia (474bff.), aber auch schon den Frühdialog und die dort behandelte Tugendproblematik bestimmt. Die verschiedenen Einzeltugenden sind hinsichtlich ihrer spezifischen Qualität jeweils durch Einheit und Selbstidentität charakterisiert. Zugleich weist jedoch jede Tugend Vielfalt und Differenz auf, da sie in unterschiedlichen Situationslagen und Lebensbereichen, in differenter affektiver Verfasstheit und in verschiedenem Grad und Ausmaß realisiert wird. Die Tugend kann unterschiedlich und vielfältig erscheinen, bleibt aber hinsichtlich der spezifischen Eigenschaft stets mit sich selbst identisch. 402 Diese Überlegungen machen deutlich, dass sich Platon in seiner Konzeption einer individuell zu leistenden Aufstiegsbewegung weder am Modell der mystischen Einswerdung orientiert noch eine theoretisch-diskursive Erfassung des Vernunftgrundes im Blick hat. Wir finden hier vielmehr ein drittes Modell vor, das eine Synthese von bewusster Denkaktivität und unmittelbarer Verbundenheit darstellt, wobei die Verbundenheit durch Entwicklung des Vernunftgrundes in sich selbst geschaffen wird.

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Die Verschränkung des gemeinten Selbst mit dem Individuellen lässt sich auch noch in anderer Hinsicht aufzeigen. Nach platonischer Auffassung haben die charakterlichen Anlagen und die Willensentscheidung des Einzelnen einen erheblichen Einfluss auf die Ausbildung des Guten. Platon betont wiederholt403, dass sowohl für die Aufnahme und konsequente Durchführung des Erkenntnisaufstiegs als auch für den Grad der erreichten Einsicht bestimmte dispositionelle Ausgangsbedingungen entscheidend sind. Dazu zählen intellektuelle Fähigkeiten wie Lernbereitschaft, Erinnerungsvermögen, Auffassungskraft, aber auch charakterliche Anlagen wie Beharrlichkeit, Ausdauer, Mäßigkeit, Ernsthaftigkeit. Als konstitutiv für die Ausbildung des Guten betrachtet Platon jedoch die eigene Willensentscheidung, die im Schlussmythos der Politeia (614bff.) als individuelle Lebenswahl – oder mit modernen Kategorien ausgedrückt – als Akt der Selbstbestimmung dargestellt wird. Mit dem Motiv der Lebenswahl wird der Gedanke artikuliert, dass es in der Entscheidung und Verantwortung des Einzelnen liegt, dasjenige zu suchen und zu verwirklichen, was sein individuelles Dasein übersteigt, was größer ist als er selbst und eine erfüllte Individualität erst begründet. Der paradox erscheinende Gedanke, dass wahre Individualität nur durch Selbstüberschreitung, durch das Über-sichHinausgehen erreicht wird, findet in der Sokrates-Figur seine anschauliche Darstellung. Durch die Gestaltung des sokratischen Bios weist Platon darauf hin, dass nur in der ichvergessenen Hingabe an eine Sache ein Individuum erwächst, dass sich durch Einzigartigkeit, Besonderheit, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstherrschaft auszeichnet und damit die Merkmale von Individualität in einer exklusiven, herausragenden Weise erfüllt. ee)

Das Selbst als Aufgabe

Die Überlegungen zur Willensentscheidung und Lebenswahl verweisen auf den Aufgabencharakter des Selbst. Die These einer Identität des Selbst mit dem Guten lässt sich nur dann sinnvoll vertreten, wenn man das Selbst mit dem Entwicklungsgedanken verknüpft, es also nicht statisch als Faktizität versteht, sondern dynamisch deutet als eine immer bestehende, prinzipiell unabschließbare Aufgabe. Dieser Aspekt ist oben bereits im Zusammenhang mit dem Verähnlichungsmotiv angesprochen worden. Der in dem Motiv der ›Verähnlichung mit Gott‹ eingelassene Bildungsgedanke und die Rede von der graduellen, dem Vermögen entsprechenden Angleichung an das schlechthin Vollkommene (»soweit es möglich ist« rep. 500d1; »nach Vermögen« jat± t¹ dumatºm Tht. 176b1f.) implizieren die Annahme der Prozesshaftigkeit des Selbst. Das Selbst ist wesentlich ein Werden, ein Werden freilich, das nicht von außersub403 Vgl. insbes. Phaidr. 250e/251a, 252c–253c; rep. 485a–497a; epist. VII 340b–341a.

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jektiven Steuerungsprozessen gestaltet und vorangetrieben wird, sondern an die freie, willentliche Entscheidung der Person gebunden ist und insofern den Status einer Aufgabe hat. Schaut man sich die entsprechenden Aussagen über die ›Angleichung an Gott‹ (blo¸ysir he`) genauer an, so wird deutlich, dass Platon der Selbstbildung den Stellenwert einer zentralen Lebensaufgabe beimisst. Im Timaios (90d6f.) wird das Verähnlichungsmotiv mit teleologischen Vorstellungsmustern verknüpft und die Bildungsaufgabe als Ziel (t´kor) des menschlichen Lebens bestimmt. Diese Bestimmung erfährt in derselben Passage (90d7) durch die Hinzufügung des Prädikats %qistor eine Präzisierung. Die Selbstbildung – hier als Entwicklung der ursprünglichen Natur (jat± tµm !qwa¸am v¼sim Tim. 90d5) charakterisiert – ist das beste, vornehmste, höchste Ziel, besitzt also Vorrang gegenüber anderen Aufgaben und Beschäftigungsfeldern.404 Die in den mittleren und späten Dialogen enthaltenen Stellen zum Verähnlichungsmotiv erwecken zunächst den Eindruck, als ob Platon die Bildungsaufgabe in differenter Weise ausdeutet. Zumindest werden erkennbar unterschiedliche Akzente gesetzt. In rep. 613a wird die ›Angleichung an Gott‹ als Bildung zur Gerechtigkeit verstanden: »Denn nicht wird wohl der je von den Göttern vernachlässigt, der sich beeifern will, gerecht (d¸jaior) zu werden und, indem er die Tugend übt, soweit es dem Menschen möglich ist, Gott ähnlich zu sein« (rep. 613a7–b2). Im Theaitetos akzentuiert Platon ebenfalls die Tugend der Gerechtigkeit, die hier an das intellektuelle Moment der Einsicht und Erkenntnis gebunden wird: Gott ist niemals auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht (!kk( ¢r oXºm te dijaiºtator), und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der Gerechteste ist. Und hierauf geht auch die wahre Meisterschaft eines Mannes, so wie seine Nichtigkeit und Unmännlichkeit. Denn die Erkenntnis (cm_sir) hiervon ist wahre Weisheit (sov¸a) und Tugend, und die Unwissenheit hierin die offenbare Torheit und Schlechtigkeit. (Tht. 176b8–c5)405

In der schon zitierten Nomoi-Passage legt Platon der Gottheit das Prädikat eines vollkommenenen Maßes bei und bestimmt die Angleichung an Gott als Ausbildung der Tugend der Sophrosyne: »und so ist nach diesem Grundsatz der Besonnene (s¾vqym) unter uns dem Gott lieb (he` v¸kor), denn er ist ihm ähnlich (floior)« (leg. 716d1f.). Die Sophrosyne wird hier zwar nicht explizit mit Einsicht und Sophia verbunden; durch die Kenntlichmachung dieser Tugend als Orientierung an der Vernunft sowie als Anerkennung und Zustimmung zu den vernünftigen Gesetzen erfährt das intellektuelle Moment jedoch eine indi404 Zum Motiv der Verähnlichung mit Gott im Timaios vgl. Sedley (1997). 405 Vgl. auch Tht. 176b. Verähnlichung mit Gott, so heißt es dort, bedeutet, »daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht« (blo¸ysir d³ d¸jaiom ja· fsiom let± vqom¶seyr cem´shai).

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rekte Thematisierung. Im Timaios (90a–d) schließlich betont Platon die Ausbildung der Vernunftseele, die im Kontext der in diesem Dialog unternommenen kosmologischen Erörterung als Einsicht in den Nous durch Betrachtung der vernünftig geordneten Bewegungen der Himmelskörper verstanden wird. Verähnlichung mit Gott heißt hier Unsterbliches und Göttliches zu denken (vqome?m !h²mata ja· he?a Tim. 90c4) und dadurch eine Ordnung in der eigenen Seele herzustellen. Der Bildungsgedanke wird folglich auch an dieser Stelle – vermittelt über das Ordnungsmotiv – mit der Tugendproblematik verbunden. Die kurze Skizze lässt erkennen, dass Platon bei der Thematisierung des Angleichungsgedankens zwar verschiedene Momente heraushebt, aber keineswegs differente Bildungsbegriffe konzipiert. In den einzelnen Dialogen werden lediglich unterschiedliche Aspekte der Vollkommenheit betont406, die in einem Begründungs- und Sinnzusammenhang stehen und als Einheit aufzufassen sind. Der Zusammenhang scheint an den zitierten Stellen durch die Verknüpfung von seelischer Ordnung und Erkenntnis bzw. Tugend und Einsicht auf: Die Entwicklung der seelischen Qualitäten wie Besonnenheit, Gerechtigkeit sowie die Seelenordnung im Ganzen sind von der Ausbildung des Vernunftselbst und dessen spezifischer Tugend – Einsicht und Weisheit – abhängig. Die Genese der epistemischen Qualitäten wiederum ist an die Entwicklung des Vernunftgrundes – des Guten – gebunden. Dieser Aspekt wird zwar im Zusammenhang mit dem Angleichungsmotiv nicht ausdrücklich thematisiert; er lässt sich jedoch, wie oben ausgeführt, aus der funktionalen Bestimmung des Guten als Kausalität von Vernunfteinsicht und Tugend sowie aus der Annahme der Kongruenz von Bildungs- und Erkenntnisziel (rep. 500c/d) erschließen.407 Fasst man alle Aspekte der ›Verähnlichung mit Gott‹ zusammen, so erhält man einen umfassenden Begriff der Selbstbildung, der das Gute, die epistemischen Qualitäten sowie die Charakterbildung einschließt. Die Frage nach der Möglichkeit dieser Selbstbildung ist oben an verschiedenen Stellen bereits ansatzweise erörtert worden. Platon spricht in vielen Dialogen, meist im Zusammenhang mit der Erkenntnis- oder Identitätsproblematik, vom ›Gott oder dem Göttlichen in uns‹ (vgl. z. B. Alk. I 133c; rep. 518e2; Tim. 90c4, 90c8; leg. 726a3, 728b1), vom ›Göttlichsten seiner selbst‹ (t¹ 2autoO heiºtatom rep. 589e4), von dem ›von Gott verliehenen Daimon in uns selbst‹ (Tim. 90a4, c5), von ›unserer Verwandtschaft mit dem Göttlichen und Unsterblichen‹ (rep. 611e2f.) oder von »unserer Verwandtschaft im Himmel« 406 Ähnlich Bordt (2009b, 253): »Je nachdem, welche Eigenschaft Gottes in einem Dialog betont wird, unterscheiden sich die Perspektiven der Darstellung der Angleichung an Gott voneinander«. 407 Für die späten Dialoge lässt sich dieser Aspekt der Angleichung an Gott zumindest als wahrscheinliche Voraussetzung aufzeigen, wenn man die oben angedeutete Annahme der Verbundenheit von kosmischem Nous und Agathon in Betracht zieht.

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(tµm 1m oqqam` succ´meiam Tim. 90a6), die uns zukommt, »da wir kein irdisches, sondern ein himmlisches Gewächs sind« (Tim. 90a6f.). In mythisch-metaphorischer Sprache wird an diesen Stellen auf eine vorhandene geistige Potenzialität verwiesen, die die oben skizzierten epistemischen und charakterlichen Entwicklungsoptionen in sich birgt. Der Mensch besitzt nach Platon die Möglichkeit, sich dem Vollkommenen anzunähern, weil er mit einer entsprechenden Anlage und Kraft ausgestattet ist. Aufgrund dieser Veranlagung ist er in gewisser Weise immer schon mit einem alles tragenden geistigen Grund verbunden, auch wenn diese Verbundenheit zunächst von leiblich-materiellen Identifikationsmustern verdeckt wird und im bewussten Selbstverständnis der Person noch keine Präsenz besitzt. Die der platonischen Bildungskonzeption zugrunde liegende Prämisse einer Verwandtschaft mit dem ›Göttlichen‹ hat bestimmte Konsequenzen für das Bildungsverständnis. Bildung heißt unter dieser Ausgangsprämisse Entfaltung, Ausformung und Kultivierung der vorhandenen Anlagen, wobei der Ausbildung der geistigen Natur das Primat zugesprochen wird. Orientiert man sich an den von Platon häufig verwendeten Metaphern der Pflege (heqape¸a) und Nährung der besten Kraft in der Seele, der sogenannten ›Seelennahrung‹ (tqov¶)408, so könnte man von einem organischen Bildungskonzept sprechen, das auf Wachstum, Stärkung, Förderung des Geistigen durch entsprechende Erkenntnisbemühungen ausgerichtet ist.409 Dieses organische Konzept ist bei Platon jedoch mit kathartischen Elementen verknüpft, mit einer Reinigung und Befreiung von falschen Identifikationsmustern und Meinungen, von fragwürdigen Antrieben, Illusionen und Selbsttäuschungen. Das Moment der Katharsis verweist auf ein Ringen mit inneren Widerständen und auf bestimmte Transformationseffekte, die allzu harmonistische Vorstellungen des platonischen Bildungsmodells korrigieren. Bildung bezeichnet hier keine lineare, gleichmäßig progressive Entfaltung eines Vermögens, wie der Begriff des Organischen zunächst suggeriert, sondern umfasst Prozesse der Selbstüberwindung, der schmerzhaften Enttäuschung, der Selbstveränderung, Um- und Neuorientierung und des Richtungswechsels. Ein spezifisches Merkmal der platonischen Bildungsidee ist darüber hinaus die Verbindung von Selbstbildung und Ganzheitserfahrungen. Platon thematisiert im Zusammenhang mit der Aufstiegsthematik häufig bestimmte positive Zustände und Verfasstheiten, die die Erkenntnisbemühungen begleiten oder aus ihnen resultieren. Dabei stehen meist das Unsterblichkeitsmotiv und der Zu408 Vgl. Prot. 313ef.; Phaid. 107d3, 84b; Phaidr. 246e, 247d, 248b/c; rep. 401e, 490b, 588e– 589b; Tim. 90c. In engem Zusammenhang mit dem Motiv der ›Seelennahrung‹ steht die Analogie von körperlicher Gesundheit und bester Seelenverfassung (vgl. Krit. 47d–48a; Gorg. 504b–d, 511e–512b; rep. 444c–445b). 409 Vgl. insbes. rep. 588e–589b; Phaid. 84b, 107d; Tim. 90c.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

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stand der Eudaimonia im Zentrum der Reflexion. An einigen Stellen wird jedoch ein anderer Aspekt betont, der mit dem Verähnlichungsgedanken ebenfalls eng zusammenhängt. Im Kallikles-Gespräch des Dialogs Gorgias trifft Sokrates die Aussage, dass die Bildung im Sinn der Einrichtung der besten Verfassung der Seele die Gemeinschaft (joimym¸a) und Freundschaft (vik¸a) mit Gott begründet (Gorg. 507e).410 Dieser Satz wird im folgenden Passus unter Berufung auf die ›Weisen‹ (sovo¸), mit denen hier vermutlich die Pythagoreer gemeint sind, zu einer kosmischen Betrachtung ausgedehnt. Durch die Gemeinschaft zwischen »Himmel und Erde, Göttern und Menschen« (Gorg. 508a1) werde alles erhalten und zu einem geordneten Ganzen (fkom) zusammengefügt (Gorg. 508a3).411 Diese holistischen Überlegungen lassen sich auch auf das menschliche Sein beziehen. Der Mensch ist nach Platon Teil des Kosmos und als Teil, der zugleich das Ganze in sich trägt, ist er sozusagen ›Himmel und Erde‹ in mikrokosmischer Dimension. Er hat an allen Wirklichkeitsbereichen teil und ist in gewisser Weise immer schon ein Ganzes und in sich verbunden; eine wirkliche Gemeinschaft der verschiedenen Kräfte wird jedoch erst durch die Bildung der geistigen Vermögen hergestellt. Im Verlauf des Aufstiegsprozesses gewinnt das geistige Selbst an Gestalt und Effizienz und vermag in dieser entwickelten Form alle Identitätsbereiche zu durchdringen und in einen Ordnungs- und Sinnzusammenhang zu bringen. Im Hinblick auf diese verschiedenen Gemeinschaftsdimensionen kann man von einer doppelten Ganzheitserfahrung sprechen, die im Prozess der Selbstformung gewonnen wird. Im Verlauf des Bildungsgeschehens erfährt die Person zum einen eine zunehmende Gemeinschaft mit ›Gott‹, die die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Lebewesen einschließt und als Verbundenheit mit einem alles tragenden und umgreifenden Grund ausgedeutet werden kann. Zum anderen aber wird die Erfahrung einer inneren Ganzheit gewonnen, die zuletzt als Übereinstimmung und Freundschaft mit sich selbst zu verstehen ist.

d)

Das Gute bei Platon (Politeia)

Den Abschluss dieser Untersuchung sollen einige Überlegungen zum Guten bei Platon bilden. In den vorangegangenen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass die identitätstheoretischen Überlegungen bei Platon auf das Engste mit der Tu410 Vgl. auch leg. 716d1f., wo der Verähnlichungsgedanke ebenfalls mit dem Freundschaftsmotiv verknüpft wird: »Wer also einem solchen [sc. dem Gott] befreundet (pqosvik¶r) werden will, der muss notwendig, soweit er es vermag, möglichst selber zu einem solchen werden, und so ist nach dieser Rede der Besonnene unter uns dem Gott freund, denn er ist ihm ähnlich (he` v¸kor, floior c²q)«. 411 Vgl. auch symp. 202e.

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Selbsterkenntnis bei Platon

gendproblematik und dem Aufstieg zur Erkenntnis des Guten verknüpft sind. Der Alkibiades I, aber auch andere Dialoge, wie der Charmides412 verweisen darauf, dass Platon die in den Aufstiegsdialogen thematisierte Erkenntnis des Guten als Selbsterkenntnis versteht. In der Untersuchung wurde die These vertreten, dass Platon dabei keine vermittelte Selbstbeziehung voraussetzt, sondern eine Identität des Guten mit dem Selbst annimmt. Diese Überlegungen münden zuletzt in die Frage, was das Gute ist. Wenn ein fundiertes Selbstverständnis und eine gelingende Selbstformung nach Platon nur im Hinblick auf das Gute zu erlangen sind, so ist zu fragen, welche Konzeption des Guten Platon zugrunde legt bzw. ob sich Verweise auf solch eine Konzeption im platonischen Werk finden lassen. Die folgenden Überlegungen basieren auf den zentralen Passagen der Politeia (504a–519b), in denen das Gute ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion erhoben wird. Sokrates wirft dort im Kontext der Erörterung des Philosophenherrschers die Frage nach der ›größten Einsicht‹ (l´cistom l²hgla) auf (504d–505a), die die bürgerliche Tugend und die politische Urteilskraft begründet. Allerdings wird an dieser Stelle sofort eine für das Verständnis des Folgenden bedeutsame Einschränkung vorgenommen: »Allein […] was das Gute selbst ist, wollen wir für jetzt doch lassen; denn es scheint mir für unseren jetzigen Anlauf viel zu weit, auch nur bis zu dem zu kommen, was ich jetzt darüber denke« (rep. 506d8–e3). Um eine erste Vorstellung von Wesen und Wirkkraft des Guten zu geben, will Sokrates in seinen Ausführungen auf etwas dem Guten ›Ähnliches‹ (bloiºtgr rep. 506e4) zurückgreifen – auf die Kausalität von sinnlichen Wahrnehmungsvorgängen und Wachstums- und Erhaltungsprozessen. Für die Interpretation ergeben sich damit von vornherein besondere Schwierigkeiten. Abgesehen von der stets gegenwärtigen Versuchung, das ›Ähnliche‹ für die Sache selbst zu halten, besteht die Herausforderung darin, die eigentlich gemeinten geistigen Prozesse, auf die mittels Analogie und Metaphorik verwiesen wird, zu erschließen. Platon fügt zwar an verschiedenen Stellen Kommentare ein, die sich als Verständnishinweise lesen lassen. Diese Kommentare sind jedoch häufig ebenso uneindeutig und rätselhaft wie das Kommentierte selbst. Man kann hier aufgrund der Ähnlichkeit mit dem mehrdeutigen, rätselhaften Charakter vieler delphischer Orakelsprüche von einem ›Orakelstil‹ sprechen, den Platon möglicherweise bewusst als Gestaltungsmittel einsetzt, um den Leser zur intellektuellen Aktivität und eigenen Erkenntnisbemühung anzuregen. 412 Vgl. Charm. 174c. Zur Identifizierung der Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des Guten im Charmides vgl. Kuhn (1959, 57), Zehnpfennig (1987, 94f.) und Ortiz de Landazuri (2015).

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

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Wie schwierig die Annäherung an ein Verständnis der Gleichnisse ist, bezeugen die anhaltenden kontroversen Debatten und die Gegensätzlichkeit der Deutungsansätze.413 Die folgende Betrachtung wird auf eine eingehende Diskussion der Forschungsmeinungen sowie auf eine umfassende Deutung der Gleichnisse verzichten. Es wird in dem hier vorgenommenen Versuch nicht darum gehen, in Anknüpfung und Auseinandersetzung mit den aktuellen Debatten einen ausgearbeiteten, begründeten Forschungsbeitrag zu diesen zentralen Textpassagen zu liefern und die drei Gleichnisse in ihrer inneren Struktur, ihren spezifischen Gehalten und ihrem Zusammenhang zu analysieren. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen sollen lediglich einige Überlegungen zur funktionalen und inhaltlichen Bestimmung der Idee des Guten skizziert werden. Die Betrachtung wird dabei stellenweise selektiv verfahren, also bestimmte Aussagen, die vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung als besonders aufschlussreich erscheinen, herausgreifen und in Beziehung zueinander setzen. aa)

Lebenspraktischer Ausgangspunkt

Zunächst ist zu beobachten, dass die in der Politeia angestellte Erörterung über das Gute aus der Thematisierung von lebenspraktischen Fragen erwächst. Das Ausgangsproblem des Dialogs ist die Frage der Gerechtigkeit im individuellen und gemeinschaftlichen Lebenskontext. Wie im Gerechtigkeits-Dialog des ersten Buches und den nachfolgenden Ausführungen zur besten Stastverfassung deutlich wird, geht es in der Untersuchung zum einen um das Problem, wie der Einzelne leben soll (toO fmtima tqºpom wqµ f/m rep. 352d6f.; vgl. auch 353d9), was es ihm ermöglicht, seine Aufgaben und Tätigkeiten in bestmöglicher Weise zu erfüllen, zum anderen aber um die Frage, wie die Gemeinschaft zu gestalten ist, wodurch sie Einheit, Stabilität und Zusammenhalt gewinnt. In diesem thematischen Zusammenhang steht das in rep. 504aff. aufgeworfene Problem der Einsicht in das Gute, die als Möglichkeitsgrund und Kausalität von politischer und individueller Ordnung kenntlich gemacht wird (vgl. rep. 517c).414 Der Zugang zum Guten wird hier also nicht über die kosmologische oder kosmotheologische Betrachtung gewonnen, sondern über die Problematik der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensgestaltung.415 413 Vgl. dazu Krämer (1997), Szlez#k (1997), Erler (2007a, 399–404), Rehn (2009). 414 Platon bestimmt die Idee des Guten in den Gleichnissen sowohl als Ursache der Ordnung im menschlichen Bereich als auch als Ursache der kosmischen Struktur und Bestheit (vgl. insbes. 516b9–c1 u. 517c). Zum Zusammenhang des Guten im menschlichen und kosmischen Bereich und zur Annahme eines gemeinsamen Vernunftgrundes vgl. Phaid. 97d und Phil. 30b. 415 Ähnlich Ries (2005, 56): »Das Gute als die sinnbestimmende Macht des menschlichen

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Selbsterkenntnis bei Platon

Auf diesen lebenspraktisch fundierten Zugang zum Guten verweisen auch die im sechsten und siebten Buch enthaltenen Aussagen über den Erkenntnisaufstieg. In der einführenden Betrachtung zur Thematik des Guten (504aff.), in den Kommentaren zu den Gleichnissen (vgl. insbes. 517d/e, 520c6f. ) und zur Dialektik (vgl. insbes. 537e–539d) wird die Erkenntnis des Guten stets in den Kontext der Tugenderörterung gestellt.416 Als zentrale Gegenstände des Aufstiegs werden immer wieder die Gerechtigkeit (dijaios¼mg), das Schöne (jakºm) und das die Tugend begründende Gute (!cahºm) genannt.417 Diese Bestimmung der Erkenntnisobjekte verweist darauf, dass die gemeinte höchste Erkenntnis auf dem Weg der Erörterung der menschlichen Bestheit gewonnen418 und das Gute erst in einer nachgeordneten Reflexion im kosmischen Zusammenhang gedacht wird. In seinem Kommentar zum Höhlengleichnis hat Szlez#k (1997) überzeugend aufgezeigt, dass die Erkenntnis des höchsten Gegenstandes einerseits und die Reflexion auf das Gute als alles umfassende Kausalität andererseits zwei methodisch und zeitlich differente Erkenntnisvorgänge bezeichnen: »Von diesem Schauen der Sonne und der Idee des Guten ist nun deutlich abgehoben das Schließen (syllogizesthai: 516b8 und 517c1), das offenbar erst in einem zweiten Schritt vollzogen wird (danach, meta tauta: 516b8; 517c1 ophtheisa de: »ist sie aber gesehen, so…«) und durch welches die Sonne als letzte Ursache für alles Sichtbare, die Idee des Guten für alles Intelligible und Sichtbare im einzelnen aufgewiesen wird« (216). Platon unterscheidet im Höhlengleichnis zwischen einer im dialektischen Prozess erreichten noetischen Einsicht in das Gute und einer daran anschließenden Ursachenreflexion: Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst […] an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. […] Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen gewissermaßen die Ursache ist. (Tekeuta?om d¶, oWlai, t¹m Fkiom, […] 1m t0 aqtoO w¾qô d¼mait( #m jatide?m ja· Lebens hat seine Wurzel in einem sinnhaft (teleologisch) gegliederten Ordnungszusammenhang, der Kosmos, Polis und Individuum umgreift. So gesehen, steht Sokrates noch auf dem Standpunkt der alten griechischen Kosmotheologie. Was ihn von ihr unterscheidet, ist, dass das Gute nicht mehr unmittelbar in der Anschauung des Kosmos gegeben ist, sondern nur vermittelt, d. h. über den Weg dialektischer Reflexion für die menschliche Praxis zugänglich gemacht werden kann«. 416 So auch Stemmer (1992, 209ff.) u. Hardy (2011, 96). 417 So auch Stemmer (1992). Vgl. rep. 501b2f., 504a/b, 506a4, 517d/e, 520c6f., 531c6f., 538e2. Die in rep. 509c–511e und 521cff. thematisierten mathematischen Wissenschaften haben propädeutischen Charakter (vgl. Mittelstrass 1997) und beinhalten nicht die Gegenstände der philosophischen Dialektik. In der Politeia finden sich zudem Aussagen zum Erkenntnisverfahren, die auf eine dialektisch-elenktische Prüfung der Wertüberzeugungen verweisen (vgl. insbes. rep. 537e–539d). So auch Stemmer (1992) und Mittelstrass (1997, 244f.). 418 Auf diese Art der Ursachenforschung wird auch in Phaid. 97d1–3 verwiesen.

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he²sashai oWºr 1stim. […] Ja· let± taOt( #m Edg sukkoc¸foito peq· aqtoO fti aqt¹r b t²r te ¦qar paq´wym ja· 1miauto»r ja· p²mta 1pitqope¼ym t± 1m t` bqyl´m\ tºp\, ja¸ 1je¸mym ¨m sve?r 2¾qym tqºpom tim± p²mtym aUtior) (rep. 516b4–c1) […] daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist (1m t` cmyst` tekeuta¸a B toO !cahoO Qd´a ja· lºcir bq÷shai, avhe?sa d³ sukkocist´a eWmai ¢r %qa p÷si p²mtym avtg aqh_m te ja· jak_m aQt¸a). (rep. 517b8–c2)

Die für die Einsicht in das Gute verwendeten Ausdrücke he÷shai, jatide?m, bq÷m verweisen auf die in rep. 511d/e und 532b thematisierte Vernunfteinsicht (mºgsir), die ja bei Platon in Anknüpfung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch, häufig sehensmetaphorisch umschrieben wird. Das in rep. 516b9 und 517c1 verwendete sukkoc¸feshai hingegen meint im Gegensatz zu moe?m und mºgsir den epistemischen Vorgang des Schließens, Schlussfolgerns, Überlegens, der dem diskursiven Verstandesdenken zugeordnet ist.419 Hier werden also zwei methodisch und zeitlich verschiedene epistemische Akte beschrieben. Die mit dem Verbum sukkoc¸feshai beschriebene Tätigkeit wird eindeutig, wie schon Szlez#k beobachtet hat, als eine der Vernunfteinsicht nachfolgende Reflexion kenntlich gemacht: »Und dann würde er sich durch richtige Folgerungen klarmachen (sukkoc¸foito), daß sie [sc. die Sonne] es ist, der wir die Jahreszeiten und die Jahresumläufe verdanken und die über allem waltet« (rep. 516b9–11; Übers. O. Apelt); »hat sie [sc. die Idee des Guten] sich aber einmal gezeigt, so muß sich bei einiger Überlegung ergeben (sukkocist´a), daß sie für alle die Urheberin alles Rechten und Guten ist« (rep. 517b9–c2; Übers. O. Apelt). Die Unterscheidung und zeitliche Nachordnung der in rep. 516b und 517b/c angeführten epistemischen Vorgänge lässt sich in dem Sinn auslegen, dass in der Suche nach der Begründung der Bestheit des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens eine Einsicht in das Gute gewonnen wird, die als Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung einer kosmotheologischen Reflexion auf das Ganze fungiert.420 Die noetische Annäherung an die Ursache des menschlichen GutSeins, ermöglicht auf der Ebene des Verstandesdenkens bestimmte Schlussfolgerungen hinsichtlich der Wirkungsweise der kosmischen Kausalität und des umfassenden Zusammenhangs alles Seienden. Das würde bedeuten, dass die kosmotheologische Theorie vom Tugendaufstieg abhängig ist. Es wäre noch zu prüfen, inwieweit diese Überlegungen für die Deutung der kosmotheologischen Konzeption des platonischen Spätwerks nutzbar gemacht 419 Vgl. auch den Gebrauch von sukkoc¸feshai in rep. 531d2. 420 Vgl. leg. 961dff. Als das für die Gesetzgebung und die Rechtspflege erforderliche Orientierungswissen wird hier zunächst die Erkenntnis der Kardinaltugenden und des Guten angeführt und anschließend ein kosmotheologisches Wissen vom Nous als Ursache des Ganzen skizziert (leg. 966c–968b).

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werden können. Möglicherweise ergeben sich hier neue Perspektiven, die eine andere Einordnung und Gewichtung der platonischen Kosmologie ermöglichen.421

bb)

Das Gute als Lenkung des ›Auges der Seele‹ (rep. 518c–519b)

Im Vorfeld der Gleichnisse finden sich einige Überlegungen zur Leistung und Bedeutung der Erkenntnis des Guten, die für das Verständnis dieser Konzeption aufschlussreich sind. Um die lebenspraktische Relevanz und die Notwendigkeit der Einsicht in das Gute aufzuzeigen, wird dieses von Platon zunächst in seiner axiologischen Funktion bestimmt: Denn daß die Idee des Guten die größte Einsicht ist (B toO !cahoO Qd´a l´cistom l²hgla), hast du schon vielfältig gehört, durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird (Ø dµ d¸jaia ja· tükka pqoswqgs²lema wq¶sila ja· ¡v´kila c¸cmetai). […] wenn wir sie aber nicht kennen, weißt du wohl, daß, wenn wir auch ohne sie alles andere noch so gut wüßten, es uns doch nicht hilft, wie auch nicht, wenn wir etwas hätten ohne das Gute. Oder meinst du, es helfe uns etwas, alle Habe zu haben, nur die gute nicht? Oder alles zu verstehen, ohne das Gute, aber nichts Schönes und Gutes zu verstehen? (rep. 505a2–b4)

Das Gute macht alles andere – Besitz und Wissen – erst nützlich (¡v´kilor) und brauchbar (wq¶silor). Es verleiht sowohl den äußeren Lebensgütern und den natürlichen wie bürgerlichen Tugenden als auch dem theoretischen und technischen Wissen Wert, Sinn und Nutzen und gewährleistet die richtige Anwendung in der konkreten Situation. Das Gute und seine Erkenntnis, so wird an dieser Stelle angedeutet, erfüllt die Funktion eines fundierenden und regulierenden Prinzips, das die verschiedenen Vermögen und Identitätsbereiche des Menschen – Physis, Seele, Geist – erfüllt und begründet. Mit diesen Überlegungen zur Einsicht in das Gute als höchstes Wertprinzip 421 Es wäre zudem zu prüfen, ob und inwieweit sich die Annahme einer durch die Erörterung der Tugendideen erzielten Ursachenerkenntnis und einer darauf basierenden Kosmologie und Theologie mit den Überlegungen im Phaidon (96aff.) vereinbaren lassen. Eine Verbindungslinie lässt sich möglicherweise über die ›zweite Fahrt‹ herstellen, die Sokrates als Ausweg aus den Aporien einer naturwissenschaftlichen Erforschung der Ursache (vgl. dazu Menn 2010) anführt. Mit der Blendungsmetaphorik (99d/e) und der Rede von der ›zweiten Fahrt‹ (99d) wird angedeutet, dass die Vernunftursache nicht durch die Erforschung der der Beobachtung zugänglichen Naturphänomene und Himmelskörper zu erfassen ist – dies wäre die ›erste Fahrt‹ – sondern nur über einen Umweg, der hier als Zuflucht zu den Logoi (100a) beschrieben und als Reflexion und Zurückschreiten in den Voraussetzungen (rpoh´seir) kenntlich gemacht wird (100a, 101d, 107b). Möglicherweise ist die ›zweite Fahrt‹ mit dem Erkenntnisaufstieg in Zusammenhang zu bringen, von dem im Linien- und Höhlengleichnis die Rede ist. Ein Indiz dafür wäre die im Liniengleichnis angeführte Hypothesenreflexion als Methode des Zugangs zum Vernunftgrund.

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wird erkennbar an die Tugenddialoge des Frühwerks angeknüpft. In den dialektischen Untersuchungen der sokratischen Dialoge und den Reflexionen des Menon (87d–89a) und Euthydemos (278e–282d) wird zum einen die Indifferenz und Ambivalenz der natürlichen Qualitäten und Lebensgüter aufgezeigt und zum anderen auf die axiologische Funktion der Vernunfteinsicht verwiesen. Wie oben ausführlich dargestellt, zeigt sich das Gute und seine Erkenntnis in den dialektischen Prüfungen stets als Prinzip, das den Handlungsweisen und Charakterhaltungen Bestheit verleiht, das die situative Handlungsüberlegung leitet und das Güterstreben sowie den Gebrauch (aqhµ wq/sir) der Dinge reguliert. Wie eng der Zusammenhang zwischen den Ausführungen in rep. 505a/b und den Konzepten der Frühdialoge ist, zeigt sich am Vergleich von bestimmten Sätzen und Formulierungen. Die Aussage über die Begründungsfunktion der höchsten Einsicht, die sich in Euthyd. 281b findet (»Ist also wohl […] irgendein anderer Besitz etwas nutz ohne Einsicht [vqºmgsir] und Weisheit [sov¸a]? Würde wohl ein Mensch Vorteil haben, wenn er auch noch so viel besäße und täte, der keine Vernunft [moOr] hat?«) ist mit rep. 505b1–4 fast identisch: »Oder meinst du, es helfe uns etwas, alle Habe zu haben, nur die gute nicht? Oder alles zu verstehen ohne das Gute (!cahºm), aber nichts Schönes und Gutes zu verstehen?«. Wie oben bereits angemerkt, sind die im Frühwerk verwendeten Ausdrücke für epistemische Leistungen – vqºmgsir, sov¸a, moOr, 1pist¶lg – zumeist auf die Tugend und das Gute bezogen, sodass mit Vernunft und Einsicht hier bereits die Erkenntnis des Guten angesprochen ist. Den axiologischen Überlegungen in rep. 505a/b folgen eine Darstellung der gängigen Auffassungen über das Gute und die drei Gleichnisse, die weitere funktionale Aspekte sowie methodische und epistemologische Fragen des Aufstiegs zum Guten erörtern. Darauf wird unten noch genauer einzugehen sein. Am Ende der ganzen Passage, nach einem abschließenden Kommentar zum Höhlengleichnis, greift Platon noch einmal die Thematik der axiologischen Indifferenz von bestimmten Fähigkeiten und der Notwendigkeit eines wertstiftenden Prinzips auf. Im Rahmen einer Erörterung der Paideia (rep. 518bff.) führt Platon aus, dass das Erkenntnisvermögen einer besonderen Bildung bedarf. Um seine spezifische Tugend – Weisheit und Einsicht – entwickeln zu können und zum individuellen und gemeinschaftlichen Besten zu wirken, sei eine bestimmte Lenkung und Steuerung dieses Organs (eqcamom rep. 518c5) nötig. Die Erkenntniskraft gehöre zwar einem Göttlichen an, »welches seine Kraft niemals verliert«, sie werde jedoch nur »durch Umlenkung (peqiacyc¶) nützlich und heilbringend«, durch Fehlleitung aber »unnütz und verderblich« (rp¹ d³ t/r peqiacyc/r wq¶silºm te ja· ¡v´kilom ja· %wqgstom aw ja· bkabeq¹m c¸cmetai 518e4–519a1).422 Wie oben bereits ausgeführt, wird die Erkenntnisfä422 Vgl. rep. 519a: »Oder hast du noch nicht auf die geachtet, die man böse (pomgqºr) aber klug

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higkeit an dieser Stelle zwar mit dem Prädikat des Göttlichen ausgezeichnet und damit anderen seelischen Vermögen übergeordnet, bezüglich des intrinsischen Wertes erfährt sie jedoch eine Gleichstellung mit den anderen Potenzen. Die Erkenntniskraft ist ebenso indifferent und ambivalent wie die physischen Kräfte, Charakterhaltungen und Lebensgüter und bedarf ebenso wie diese einer höheren Instanz, einer Dynamis oder eines Prinzips, das den Gebrauch zum Besten gewährleistet. Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext die platonische Bestimmung des axiologischen Grundes: Die Erkenntniskraft gewinne durch eine gewisse Umlenkung (peqiacyc¶)423 an Nützlichkeit und positiver Wirkkraft. Verbindet man diese Aussage mit rep. 505a/b, so erhält man erste Hinweise auf das Gute, die über eine rein funktionale Bestimmung hinausgehen. Eine Verknüpfung der Annahmen führt zu folgendem Schluss: 1. Satz: Das Gute ist das axiologische Prinzip, das alle Fähigkeiten und Güter nützlich (¡v´kilor) und brauchbar (wq¶silor) macht. 2. Satz: Die Periagoge ist das Prinzip, wodurch die Erkenntniskraft nützlich (¡v´kilor) und brauchbar (wq¶silor) wird (rep. 518e4f.). Da das Vernunftvermögen nach platonischer Auffassung die leiblich-seelischen Kräfte sowie die Handlungsvollzüge bestimmt, kann man hier ergänzend hinzufügen, dass die Periagoge nicht nur die Erkenntniskraft nützlich macht, sondern vermittelt über die Erkenntnis allen anderen Kräften Nutzen verleiht. Konklusion: Die Periagoge steht offenbar in engster Verbindung zur Idee des Guten oder ist selbst bereits das Gute.424 In der folgenden Betrachtung soll die Annahme einer systematischen Einheit von Periagoge und Agathon als Hypothese zugrunde gelegt werden. Auf der Basis dieser Hypothese werden zunächst relevante Passagen aus dem fünften Buch der Politeia untersucht und im Anschluss daran das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis erörtert. Lassen sich mit dieser Hypothese die genannten Passagen und metaphorischen Darstellungen sinnvoll und kohärent deuten, so wäre dies zwar noch kein Beweis für deren Richtigkeit, aber zumindest ein Indiz dafür, dass das platonische Gute tatsächlich in dieser Richtung zu verstehen ist. Die Betrachtung stellt somit einen Versuch dar, sich dem platonischen Guten (sovºr) nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt, worauf es sich richtet, daß es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen dienen muß und daher, je schärfer es sieht, desto mehr Böses (jaj±) tut«. 423 Neben dem Ausdruck peqiacyc¶ (Umwendung, Umlenkung, Herumführung, Umdrehung, Umschwung) verwendet Platon in der Politeia auch die Worte peqistqov¶ (Umdrehung, das Sich-Umdrehen) und letastqov¶ (Umkehren). Vgl. rep. 515c7, 518c8, d4, d5, e4, 519b2, 521c5, c6, 525a1, c5, 526e3, 532b7. Zum Begriff peqiacyc¶ vgl. Farandos (1979, 97–101) u. Dietsche (2008, 335). Die peqiacyc¶ ist trotz der zentralen Bedeutung des Motivs kaum zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden. Unter den wenigen Arbeiten seien hier Fleischer (1970), Farandos (1979), Chen (1987), Delhey (1994) genannt. In jüngerer Zeit haben sich insbesondere Szlez#k (1997, 223f.) (2003, 35f. u. 104) und Erler (2002) (2006, 90– 94, 105) mit dem Motiv beschäftigt. 424 Das wird auch im Sonnengleichnis (rep. 508c–e) angedeutet.

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über die erkenntnisfundierende Leistung anzunähern. Die Idee des Guten ist ja, wie im Sonnengleichnis ausgeführt wird, nicht nur letztes Ziel, sondern auch hervorbringender Grund (aQt¸a) der Vernunfteinsicht (eQ 1pist¶lgm l³m ja· !k¶heiam paq´wei 509a6f.; vgl. auch 508e3, 509b6f.).425 Das bedeutet, dass das Gute dem Erkenntnisaufstieg bereits am Anfang in irgendeiner Form zugrunde liegen muss, damit überhaupt etwas erkannt werden kann. In der den Gleichnissen nachfolgenden Betrachtung über die Paideia, in der sich die Aussagen über die Periagoge finden, wird genau an diesem Punkt angesetzt. In der Beschreibung der als Bildungsmittel betrachteten geometrischen Wissenschaften ist immer wieder die Rede davon, dass das Erkenntnisorgan der Seele zu reinigen und zu beleben (!mafypuqe?m 527d8f.) und eine philosophische Denkart zu entwickeln ist (ja· !peqcastij¹m vikosºvou diamo¸ar 527b9f.), damit Vernunfteinsicht erlangt zu werden vermag und das ›geistige Auge‹ etwas sieht.426 Die aus rep. 505a4 und 518e4f. gewonnene vorläufige Bestimmung des Guten entspricht der oben vorgenommenen Analyse der Steuerungsfunktion des Guten.427 Das funktionale Moment der Lenkung, Steuerung, Führung, das im Motiv der Periagoge anklingt, konnte bereits als charakteristisches Merkmal des Guten herausgearbeitet werden. In der Funktionsanayse hat sich zudem gezeigt, dass das Gute in der platonischen Konzeption als letzte Steuerungsinstanz gedacht wird, als höchste !qw¶, die das Erkennen leitet und über die Vernunft alle Identitätsbereiche des Menschen bestimmt. Das Motiv der Periagoge verweist darüber hinaus auf eine bestimmte Ausfüllung dieser Steuerungsfunktion. Mit der Metapher der peqiacyc¶, der Umwendung, Umlenkung, Herumführung wird auf eine geistige Richtungsänderung verwiesen. Die Erkenntniskraft ist immer schon durch Lenkung und Gerichtetheit bestimmt, aber – so der in 518d geäußerte Gedanke – diese Lenkung geschieht noch nicht in der richtigen Weise. Das Erkenntnisorgan sei nicht richtig eingestellt, es sehe nicht dahin, wohin es solle (oqj aqh_r d³ tetqall´m\ oqd³ bk´pomti oW 5dei 518d6f.).428 Es geht also nicht um die Lenkung als solche, sondern um eine bestimmte Lenkung und eine bestimmte Richtung. Aber um welche Richtung? In der Passage 518b–519b werden zwar Antworten auf diese Frage gegeben, einen letzten Aufschluss erhält man hier jedoch nicht. Platon beschreibt an 425 Das Gute bewirkt, dass das ›geistige Auge‹ sieht. Damit dies geleistet werden kann, muss es Wirklichkeit in der menschlichen Seele gewinnen. 426 Vgl. auch rep. 518c/d, 519b, 521c, 525c, 526e. 427 Vgl. oben Kap. B II 3c.bb. 428 Vgl. Farandos (1979, 99): »Das ist die Aufgabe der Periagoge […], Änderung des Sehens, nicht das Sehen-Bringen (Machen), weil das Sehvermögen schon da ist, ihre Aufgabe ist also die Änderung der nicht richtigen Blickrichtung, das dialgwam¶sashai (Polit. 518d), das Erarbeiten dieser Möglichkeit. Die Möglichkeit des Sehens […] wird im Akt der Periagoge […] entwickelt.«

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dieser Stelle den gemeinten geistigen Vorgang – wie so häufig – in Analogie zur sinnlichen Wahrnehmung und verwendet die Lichtmetaphorik (›vom Dunklen zum Hellen‹)429 oder bedient sich der Raumsymbolik (›von unten nach oben‹430)431, die an dieser Stelle lediglich durch den Verweis auf das ›Werdende‹ als Ausgangspunkt und das ›Seiende‹ bzw. ›Wahre‹ als Pol der Hinwendung ergänzt werden. Die Bestimmung der Periagoge als Umwendung vom ›Werdenden zum Seienden‹ (518c)432 erklärt jedoch noch nicht allzuviel und ist ebenso interpretationsbedürftig wie die verwendeten Metaphern. Um eine präzisere Bestimmung der Lenkung bzw. Umlenkung zu gewinnen, werden im Folgenden die Erörterungen über den Philosophen in Buch 5 der Politeia (474b– 480a) und das Linien- und Höhlengleichnis ausgewertet. Zunächst aber seien drei Aspekte der Periagoge skizziert, die Platon in rep. 518b–519b darstellt. 1) Die Um-Lenkung des geistigen Vermögens ist durch Prozessualität charakterisiert und bedarf der langen Einübung und Gewöhnung. Es handelt sich hier nicht um einen plötzlichen, momentanen Akt – wie bei der Umwendung einer Scherbe (rep. 521c), sondern um eine zeitlich ausgedehnte, sukzessiv voranschreitende intellektuelle Bemühung. Der Prozesscharakter der Umlenkung wird durch die platonische Bildungskonzeption433 veranschaulicht (rep. 521c–531c), die vor der Einführung in die Dialektik eine Beschäftigung mit geeigneten Wissenschaften vorsieht, die die Vernunfttätigkeit anregen und eine erste Einübung in die angestrebte Denkrichtung sein soll (vgl. 524d, 525c, 526e, 527b, 527d/e).434 2) Die Periagoge bezieht sich nicht nur auf das Erkenntnisvermögen, sondern auf alle seelischen Kräfte. So wie sich das optische Wahrnehmungsorgan nur mit dem ganzen Körper vom Dunklen ins helle Tageslicht bewegen kann, so kann sich auch das ›geistige Auge‹ »nur mit der gesamten Seele zugleich« umwenden (rep. 518c).435 Diese Annahme folgt aus der im 4. Buch dargestellten Seelenkonzeption, die die Korrelation und Verbundenheit der Kräfte betont und den Zusammenhang der Vermögen als dynamische Kräfteordnung versteht.436 Die 429 430 431 432 433

Vgl. auch rep. 521c. Vgl. auch rep. 527b9–11, 529a, 533d. Vgl. dazu Szlez#k (2003, 36–38). Vgl. auch rep. 521c7, 525c6, 526e. Die Bildung (paide¸a) wird in rep. 518d3f. als ›Kunst der Umlenkung‹ (t´wmg t/r peqiacyc/r) bezeichnet. Es geht in der Bildung also vornehmlich darum, die Ausrichtung der geistig-seelischen Vermögen zu ändern. 434 Zu diesem Bildungsprogramm vgl. Mittelstrass (1997) und Frede, D. (2006). 435 Zur Umwendung der ganzen Seele vgl. Szlez#k (1997, 223f.) (2003, 35f. u. 104). 436 Ähnlich Szlez#k (2003, 104): »Mögen die Seelenteile auch ungleichen ontologischen Ranges sein, hier im irdischen Leben sind sie doch aneinander gebunden«. Daraus zieht Szlez#k allerdings die Konsequenz, dass die Reinigung der leibnahen Begierden eine Vorbedingung der platonischen Vernunftbildung ist. »Echtes Philosophieren« sei nach Platon erst mög-

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Umwendung der ganzen Seele wird von Platon als Umorientierung der gesamten Lebensrichtung kenntlich gemacht. Die Periagoge hat demnach nicht nur eine theoretische Dimension, sie fungiert nicht nur als erkenntnisbegründendes, epistemologisches Prinzip, sondern steht zugleich in einem praktischen Kontext und ist auf den Lebenszusammenhang bezogen. 3) In rep. 519a/b wird angedeutet, dass die mit der Periagoge verbundene Änderung der Lebensausrichtung in einer Lösung aus dem Verhaftetsein in hedonistischen Bestrebungen und einem anderen Umgang mit der Leiblichkeit und den sinnlichen Gütern besteht. An der Stelle klingt zudem an, dass sich die Maßstäbe und Beurteilungskriterien ändern und eine andere Perspektive auf den Menschen allgemein und die an den konkreten Handlungsvollzügen beteiligten Personen gewonnen wird (vgl. 519b4–6). cc)

Ausrichtung auf das Eine (rep. 474b–480a)

Um die von Platon gemeinte Lenkung der Seele zu präzisieren, werden im Folgenden relevante Passagen aus dem fünften Buch der Politeia ausgewertet. Nach der Erörterung der Möglichkeit des konzipierten besten Staates und der These einer notwendigen Einheit von politischer Machtausübung und Philosophie (473c/d) wird dort die Frage aufgeworfen, was einen Philosophen auszeichnet. Zunächst bestimmt Platon den Philosophen als Erotiker (1qytij_r): Er sei ein Liebender, der nach Weisheit (sov¸a) trachtet (475b9f.). Diese Bestimmung wird im nächsten Schritt präzisiert: Der Philosoph strebe nach Wahrheitserkenntnis, er sei ›schaulustig‹ (vikohe²lym) nach der Wahrheit (!k¶heia). Um deutlich zu machen, was das heißt, kontrastiert Platon die philosophische Betrachtungsweise mit der nicht-philosophischen Einstellung. In 476a–d werden zwei unterschiedliche Denk- und Lebensausrichtungen gegenübergestellt: die phänomen- und wahrnehmungsorientierte Sichtweise, die als Haltung der Menge kenntlich gemacht wird, und die begründungsorientierte Sichtweise der philosophischen Naturen. Die wahrnehmungsorientierte Ausrichtung ist dadurch charakterisiert, dass die sinnliche Gegenstandswelt zum primären Bezugspunkt der kognitiven Urteilsleistungen, des produktiven Handelns und des rezeptiven Verhaltens gemacht wird. Gemeint ist eine Lebensweise, die sich an den sinnlichen Gütern und der durch die Wahrnehmungsorgane unmittelbar zugänglichen Wirklichkeitsebene orientiert. Im Zentrum dieser Darstellung steht die Beschreibung der Urteilspraxis und der kognitiven Akte. Das nicht-philosolich, »wenn der Mensch seine ganze Seele vorher ethisch ›umgewendet‹, ethisch geläutert hat« (36). Dagegen ist einzuwenden, dass im Phaidon (69b8–c2) Katharsis und Vernunfteinsicht als die beiden Aspekte ein und desselben epistemischen Aktes dargestellt werden. Es handelt sich hier also weniger um ein zeitliches ›Nacheinander‹ als vielmehr um ein ›Zugleich‹. Ähnlich Ortiz de Landazuri (2015, 134). Vgl. dazu Kap. B II 2d.bb.

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phische Denken nimmt Farben, Töne, Dinge und Verhaltensweisen wahr und beurteilt sie als schön, gut, gerecht, tapfer, ohne zu hinterfragen, was einer bestimmten Gestalt Schönheit verleiht, was das eigentlich Schöne daran ist, oder was dem besonderen, als gerecht beurteilten Verhalten als Handlungsprinzip zugrunde liegt, was das Gerechte selbst ist, das in dieser oder in anderen Verhaltensweisen wirkt und zur Erscheinung gelangt: »Die Hörbegierigen und Schaulustigen […] lieben doch die schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst (t¹ jak¹m aqt¹) aber ist ihre Seele unfähig zu sehen und zu lieben« (476b). Wie in den weiteren Ausführungen deutlich wird, liegt der fehlenden Begründungsreflexion eine Identifizierung von Wahrnehmungswirklichkeit und Gestaltprinzip zugrunde. Die nicht-philosophische Sichtweise hält die wahrgenommene Form, Qualität oder Verhaltensweise für den Inbegriff der Sache. Sie trifft keine Unterscheidung zwischen den Erscheinungsweisen und der Sache selbst (476c7–8, 476d2–3) und verwickelt sich aus diesem Grund unentwegt in Widersprüche (479a–d). In den Tugenddialogen des Frühwerks wird dieser Aspekt exemplarisch vorgeführt. Der Militär Laches setzt das seiner Erfahrungswelt entsprechende Standhalten in der Schlachtreihe mit der Tapferkeit gleich und gerät in Widerspruch, als er eingestehen muss, dass auch das entgegengesetzte Verhalten – das Fliehen – unter bestimmten Umständen tapfer sein kann und das Standhalten in diesem Fall schädlich, also nicht tugendhaft ist (Lach. 191a–c). Ähnliches wird im ersten Buch der Politeia vorgeführt: Das von Kephalos mit der Gerechtigkeit identifizierte Wiedergeben von empfangenen Gütern kann in bestimmten Situationen auch schlecht und unangemessen sein; ein Zurückgeben wäre in diesem Fall ungerecht (rep. 331c). In rep. 479a/b wird diese Argumentation aufgegriffen und als Einwand gegen die phänomenorientierte, in der Vielheit der Erscheinungsweisen aufgehende Betrachtungsweise angeführt: »Unter diesem vielen Schönen also, o Bester«, so der dort dargestellte fiktive Dialog mit einem der ›Schaulustigen‹, »gibt es wohl eines, was nicht auch häßlich erscheinen kann? Und unter dem Gerechten, was nicht auch ungerecht? Und unter dem Frommen, was nicht auch unfromm?«437 Verbleibt man auf der Ebene der Phänomene und legt die sichtbaren Qualitäten und Handlungsmuster als Kriterien für Seins- und Wertaussagen zugrunde, so gelangt man zu keiner eindeutigen und sicheren Beurteilung der Dinge, da die wahrnehmbaren Gegenstände, Qualitäten und Verhaltensweisen stets mehr437 Die Passage 479a/b, die auf Positionen und Argumente des sokratischen Dialogs rekurriert und sich als verknappte Darstellung der dort präsentierten Dialektik verstehen lässt, weist neben den oben bereits angeführten Indizien darauf hin, dass der sokratische Tugenddialog Bezugspunkt der Ausführungen in den mittleren Büchern der Politeia ist. Zum Rückverweis des im 5. Buch entwickelten Ideenkonzepts auf den Frühdialog vgl. Zehnpfennig (2001, 113).

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deutig sind und nicht in allen Hinsichten und in jeder Situation das Sein aufweisen, das ihnen zugesprochen wird. Die als schön wahrgenommene physische Gestalt kann in anderen Situationen, in anderer Hinsicht oder in Relation zu anderen Gestalten häßlich erscheinen. Das als Tugend beurteilte Verhalten kann sich in einer anderen Situation als schlecht, schädlich, verwerflich zeigen. Nimmt man die Beurteilungsmaßstäbe allein aus den sinnlichen Daten, so ist das Denken stets Schwankungen unterworfen und gerät in Widerspruch zu sich selbst. Die Mehrdeutigkeit des sinnlich Wahrnehmbaren und der Widerstreit der Urteile ist für die philosophische Natur Anlass438, nach dem Grund des den sinnlichen Dingen zugesprochenen Seins zu fragen. Das philosophische Denken bezieht sich zunächst auch auf das in der Wahrnehmung Gegebene. Es setzt jedoch die Wahrnehmungsurteile nicht als unhintergehbare Wahrheit, sondern betrachtet sie als Ausgangspunkt einer begründungsorientierten Untersuchung. Dieser Ausgang des philosophischen Fragens wird besonders eingehend im Theaitetos geschildert. In der dort präsentierten Rede über den Philosophen (Tht. 173c–176a) führt Sokrates aus, dass das philosophische Denken die phänomenorientierte Sichtweise ›hinaufzieht‹ (Tht. 175b8), indem es die Wahrnehmungsurteile und den Streit über Recht und Unrecht (»ob ich dir hierin unrecht tue oder du mir« Tht. 175c1f.) zum Anlass nimmt, die Frage nach der Sache selbst zu stellen und »zur Untersuchung der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit selbst, was jede von ihnen ist, und wodurch sie unter sich und von allem übrigen unterschieden sind« (Tht. 175c) fortzuschreiten. Der Philosoph trachtet danach, die empirischen Einzelurteile über ihre Beschränktheit, Undifferenziertheit und Ungesichertheit hinauszuführen und eine Grundlage des Urteilens sowie ein tieferes Verständnis der Wahrnehmungswirklichkeit zu gewinnen. Er versucht, die Vielheit und Verschiedenheit der Erscheinungswelt auf das Prinzip hin zu durchdringen439 und damit überhaupt erst einen Beurteilungsmaßstab für die Phänomene zu erlangen (rep. 476c10– d2). Das philosophische Denken wendet sich der Frage zu, wodurch sich ein Gegenstand, ein Organ, ein Mensch wesentlich auszeichnet, es fragt, was eine als schön wahrgenommene Gestalt zur schönen macht, was das Schön-Sein dieser Blume, dieses Menschen, dieses Musikstücks begründet, wodurch ein bestimmtes Verhalten Wert, Nutzen, Bestheit erhält etc. An der Wahrnehmungswirklichkeit wird die Frage nach den zugrunde liegenden Form- und Gestaltprinzipien, nach Strukturgesetzen, nach Funktionen und spezifischen Leistun438 Dieser Anlass der philosophischen Wahrheitssuche wird im Phaidon (96b–97b), im Bildungsprogramm der Politeia (insbes. 523b–525a) und im Theaitetos (154c–155d) geschildert. 439 Vgl. auch Phaidr. 249b/c und leg. 965c.

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gen oder nach Handlungsprinzipien gestellt. Die philosophische Betrachtungsweise setzt beim Vielen an und zielt auf das eine Prinzip, das sich in vielfältiger Weise und in unterschiedlichsten Formen ausprägen kann, aber bei aller Differenz der Ausgestaltungen stets mit sich selbst identisch bleibt (479a1, 479e7f.)440, das in jeder Hinsicht das ist, was es ist (477a3). Mit der Frage nach dem Einheitsgrund der Phänomenvielfalt wird die Undifferenziertheit der wahrnehmungsorientierten Sichtweise aufgehoben und eine Unterscheidung zwischen der Erscheinung und der erscheinenden Sache selbst getroffen. Durch die Realisierung dieser Fragerichtung wird zudem die einseitige Fixierung auf das der Wahrnehmung unmittelbar Zugängliche aufgelöst und die nicht-sinnliche Dimension der Wirklichkeit erkannt. Die Farben und gestalteten Formen eines schönen Gemäldes kann man optisch wahrnehmen, die ästhetischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen das Bild gestaltet wurde, die die Schönheit dieses Kunstwerkes begründen, kann man hingegen nicht sinnlich sehen, sondern nur geistig erfassen. Das Verhalten eines tapferen Kriegers ist der Beobachtung zugänglich, die dem Verhalten zugrunde liegende seelische Beharrungskraft und die Handlungsprinzipien hingegen lassen sich nicht mit dem sinnlichen Auge wahrnehmen. Die Ausrichtung auf die nichtsinnlichen Strukturen und Prinzipien der Phänomenwelt hat nach Platon Rückwirkungen auf die Lebensweise und das praktische Handeln. Mit der Orientierung am Geistigen ist eine neue Bewertung des Sinnlichen verbunden, die zu einem anderen Umgang mit den Gütern und dem eigenen Leib führen. Da die Sinnlichkeit nicht mehr mit der Wirklichkeit schlechthin identifiziert wird, sondern als ein bestimmter Seinsbereich erkannt ist, der spezifische Grenzen und Beschränktheiten aufweist, verliert sie die uneingeschränkte Anziehungskraft und Faszination. Der philosophisch Orientierte lässt sich nicht in demselben Maß wie das wahrnehmungsorientierte Denken von den sinnlichen Gütern und leibnahen Begierden affizieren und gewinnt aufgrund seiner Ausrichtung eine relative Freiheit und Autarkie. Fassen wir zusammen: Im 5. Buch der Politeia werden zwei Denk- und Lebensweisen gegenübergestellt, die sich in verknappter Form als Ausrichtung auf das Viele (t± pokk±) und als Ausrichtung auf das Eine (t¹ 4m) beschreiben lassen. Die ›Hörbegierigen‹ und ›Schaulustigen‹ gehen in der Vielfalt der Phänomene auf und lieben die »schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen gearbeitet ist« (476b; vgl. auch 479e1f.). Die philosophischen Naturen hingegen sind auf die wirklichkeitsgestaltenden Einheitsprinzipien aus440 »Und mit dem Gerechten und Ungerechten und Guten und Bösen und allen anderen Begriffen ebenso, daß jeder für sich eins ist (aqt¹ l³m 4m 6jastom eWmai); aber da jeder vermöge seiner Gemeinschaft mit den Handlungen und körperlichen Dingen und den übrigen Begriffen überall zum Vorschein kommt, auch jeder als vieles erscheint (pokk± va¸meshai 6jastom)« (rep. 476a5–9).

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gerichtet und versuchen sich diesen im Erkennen anzunähern (476b10f., 479e7f.).441 Zur Bezeichnung dieses Einen werden im 5. Buch unterschiedliche Ausdrücke gebraucht: Sache selbst (t¹ pq÷cla aqt¹), Gestalt, Form (eWdor 476a6), Idee (Qd´a 479a1), das vollkommen Seiende bzw. Sein442 (t¹ pamtek_r cm 477a3). Der Gebrauch des Ideenbegriffs dürfte der Grund dafür sein, dass die Passage häufig als ein Kernstück der sogenannten platonischen ›Ideenlehre‹ betrachtet wird.443 Bei der Deutung dessen, was in dem Textstück mit ›Idee‹ bezeichnet wird, ist freilich alle Vorsicht geboten. Wie in der Platonforschung mehrfach betont und in den letzten Jahren insbesondere von Theodor Ebert (1998) und Arbogast Schmitt (1989; 2003; 2007; 2011)444 aufgezeigt wurde, lassen sich hier keine Hinweise auf eine ›platonistische‹ Lesart finden, d. h. auf die Annahme von zwei getrennt voneinander existierende Gegenstandswelten.445 Es wird nirgendwo behauptet, dass die Menge auf eine widersprüchliche, diffuse Sinnenwelt schaut, der Philosoph hingegen den Blick auf eine von der Sinnenwelt unabhängig existierende, transzendente Ideenwelt richtet. Beide sind vielmehr auf dieselbe Wirklichkeit bezogen, aber betrachten diese Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie sehen Verschiedenes an denselben Gegenständen: die Menge blickt auf die der Wahrnehmung entgegenkommende Fülle der Erscheinungsweisen; der Philosoph hingegen ist auf das geistig zu erschließende Eine im Vielen bezo-

441 Vgl. leg. 965b/c. 442 Zum platonischen Sprachgebrauch von ›Sein‹ im Sinn des Bestimmtseins vgl. Schmitt (1989, 72): Sein meint hier »nicht das Sein als bloßes Dasein oder als bloße Position eines Dings im Bewußtsein überhaupt […], sondern ›Sein‹ heißt immer : etwas sein, etwas, was von sich selbst her ein bestimmtes, von anderen unterschiedenes Sein hat und erst dadurch ein Seiendes genannt werden kann«. So auch Staudacher (2007, 78). 443 Zur Kritik an der ideentheoretischen Deutung Platons vgl. Ryle (1967), Wieland (1982), Mittelstrass (1994), Bordt (1999, 141ff.), Pleger (2009, 9). Im Anschluss an Ryle verweist Mittelstrass (1994, 45) darauf, dass die theoretische Erörterung der Idee im platonischen Werk nur einen relativ kleinen Raum einnimmt, und gelangt zu dem Urteil: »Platon war im Sinne der Entwicklung seiner Philosophie im Platonismus kein Platonist«. Bordt (1999, 142f.) führt folgendes Argument an: »Wenn es Platons Anliegen gewesen wäre, eine philosophische Systematik und eine Theorie der Ideen zu entwickeln, dann wäre die Frage danach, für was es Ideen gibt und in welcher Beziehung sie zu der Erfahrungswelt stehen, eine der wichtigsten Fragen, auf die er eine klare Antwort hätte geben müssen«. In den Dialogen ließen sich jedoch keine entsprechenden Antworten finden. 444 Vgl. auch Frede, D. (2002, 97). 445 Zur Kritik an der ›platonistischen‹ Lesart der Dialoge im Sinn einer ontologisch gedeuteten Zwei-Welten-Theorie vgl. McDowell (1973) (1998), Ebert (1974) (1998), Wieland (1982), Frede, D. (2002) (2011), Detel (2006), Martens (2009), Schmitt (1989) (2007) (2011). Nach Frede, D. (2002, 85) gibt es »gute Gründe zu bezweifeln, daß er [sc. Platon] von einer rigorosen Trennung von zwei Welten ausgeht und die wahre Einsicht in die Natur der Dinge für das Leben nach dem Tod aufbewahrt sehen will«. Vieles spreche für eine »Synthesis der Bereiche des Sinnlichen und des Intelligiblen in der platonischen Metaphysik« (85).

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gen.446 In dem Text ist nur von einer Welt oder Wirklichkeit die Rede, die als Einheit, Synthese, Gemeinschaft (joimym¸a 476a8)447 von Gestaltprinzipien und sinnlichen Erscheinungsweisen dargestellt wird (476a5–9). Voneinander geschieden werden lediglich die Betrachtungsweisen. Platon verwendet hier tatsächlich den Ausdruck der Trennung (wyqislºr). Als getrennt (wyq·r 476a11, 476b1) werden jedoch nicht das Sinnliche und das Geistige oder Erscheinung und Idee dargestellt, sondern die beiden Denk- und Lebensrichtungen: »Hiernach nun […] trenne ich abgesondert (diaiq_, wyq·r) diejenigen, welche du eben als schaulustig und kunstliebend und handelnd anführtest, und abgesondert (wyq·r) wiederum diejenigen, von denen die Rede ist und die allein einer mit Recht Philosophen nennen kann« (476a/b). Der Philosoph ist, wie oben ausgeführt, dadurch charakterisiert, dass er die Einheitsprinzipien nicht mit den sinnlich wahrnehmbaren Gestalten identifiziert, nicht das eine für das andere hält (476c/d), sondern beides zu unterscheiden versteht. Der epistemologische Akt der Unterscheidung wird jedoch weder mit der Annahme einer Getrenntheit des Unterschiedenen noch mit einer Behauptung der gegenständlichen Existenz des von den sinnlichen Wahrnehmungsdaten differenzierten Einheitsprinzips verbunden. In dem Text wird keine metaphysisch-ontologische Spekulation präsentiert, sondern ein analytischer Erkenntnisvorgang geschildert, der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen und Erkenntnisvermögen differenziert und den mit einem Begriff gemeinten Sachverhalt als etwas Bestimmtes, durch spezifische Merkmale Charakterisiertes versteht. Diese Einheiten und Identitäten werden lediglich in der Analyse von der Sinnlichkeit abgelöst. Die philosophischen Naturen streben danach, so heißt es in 476b9f., das Schöne selbst etc. »für sich zu betrachten«. Das heißt aber nicht, dass sie das separat Betrachtete als getrennt existierende Gegenstandswelt ansehen. Davon ist hier jedenfalls nicht die Rede. Noch einmal verknappt formuliert: In der Passage des 5. Buches werden Betrachtungsweisen und Erkenntnisakte dargestellt, die nicht mit spekulativen Annahmen zu verwechseln sind. Der Text liefert keine Hinweise, dass die hier geschilderten Erkenntnisvorgänge des Unterscheidens, Identifizierens, Absonderns substantialistisch aufzufassen sind, d. h. als metaphysische Aussagen über getrennte Gegenstände. Der ontologische Status der Idee ist thematisch gar nicht präsent. Die Idee wird hier lediglich in ihren Funktionen angedeutet. Sie ist zum einen das Einheits- und Gestaltprinzip der sinnlichen Realität und zum anderen das Prinzip der Wirklichkeitserfassung, d. h. das Erkenntnisprinzip, das in der

446 Ähnlich Schmitt (2007, 91). 447 Vgl. auch Phaid. 100d5.

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Reflexion zunächst als Grund von Seins- und Wertaussagen eingesehen wird und in der Folge durch Dialektik inhaltlich zu erschließen ist.448 Hinsichtlich der Ausgangsfrage nach der Spezifizierung der mit dem Guten zusammengeführten Umlenkung der Seele lässt sich folgendes Resümee ziehen: Im 5. Buch der Politeia wird eine Denkrichtung präferiert, die durch Begründungsorientierung charakterisiert ist. Zur Wahrheitserkenntnis und Kohärenz der Lebensweise gelangt das Denken dadurch, dass es sich von der Fixierung auf die sinnlichen Phänomene löst und nach deren Grund, nach den nichtsinnlichen Form- und Gestaltprinzipien fragt. Kurz gefasst: Konstitutiv für den Erkenntnisgewinn ist die Ausrichtung auf das Eine. Die zu gewinnende Lenkung des Erkenntnisorgans besteht demnach in der Orientierung auf Gründe und Prinzipien. Umlenkung bedeutet, diese Perspektive einzuüben und ein vordergründiges Verständnis der Wirklichkeit, das allein das Hörbare, Sichtbare, Fühlbare als etwas anerkennt und dieses mit dem Sein identifiziert, zu überwinden. Hätte Platon nicht die mittleren Bücher der Politeia verfasst, könnte man es bei dieser Bestimmung belassen und in der Interpretation lediglich eine weitergehende Ausbuchstabierung der praktischen Konsequenzen der Umlenkung vornehmen. Nun wird jedoch in diesem Dialog die Erörterung des Philosophen fortgesetzt, bis hin zu den Gleichnissen, die eine Art Kulminationspunkt der ganzen Untersuchung darstellen. Diese nachfolgenden Reflexionen machen deutlich, dass die Bestimmung im 5. Buch nur eine vorläufige ist. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang das Linien- und Höhlengleichnis, denen sich die Betrachtung im Folgenden zuwendet. dd)

Rückgang in den Hypothesen bis zum ›Voraussetzungslosen‹ (rep. 509c–511e)

Anhand des Liniengleichnisses führt Platon aus, dass die Ausrichtung auf das Seiende oder Eine nicht als solche schon Vernunfterkenntnis hervorbringt. Um einen tragfähigen Erkenntnisgrund zu gewinnen, ist ein bestimmter Weg zurückzulegen, der hier mit der dialektischen Methode zusammengeführt wird. Eine Analyse des Gleichnisses zeigt, dass im Bereich der Ausrichtung auf das Eine wiederum zwei Denkrichtungen unterschieden werden. Innerhalb der geistig orientierten Betrachtungsweise wird an dieser Stelle noch einmal differenziert und damit das gemeinte erkenntnislenkende Prinzip spezifiziert. Platon 448 Ähnlich Schmitt (2007, 105): »Dass die Voraussetzung der Erkenntnis von etwas nicht eine idealisierte Gegenstandsvorstellung ist, geht […] auch daraus hervor, dass Platon anders als seine neuzeitlichen Rezipienten überhaupt kein inhaltliches Wissen von der Idee voraussetzt.« Die inhaltliche Bedeutung der Ideen sei im dialektischen Erkenntnisverfahren erst zu ermitteln.

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unterscheidet hier zwischen einem wissenschaftlichen Verstandesdenken (di²moia) und einem philosophisch-dialektischen Vernunftdenken (mºgsir). Die Differenz zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Denkweise wird in Hinsicht auf das unterschiedliche methodische Verfahren – noch präziser : im Hinblick auf den unterschiedlichen Umgang mit Prämissen bestimmt.449 Das Verstandesdenken, das Platon an dieser Stelle mit den mathematischen Wissenschaften identifiziert, ist zwar auch auf das Seiende, Eine, die Sache selbst ausgerichtet (510e3f., 533b7) und zielt auf die Erfassung des Allgemeinen in der jeweiligen Fachdisziplin. So ist z. B. die Geometrie auf die Erfassung der geometrischen Figuren, auf die Erkenntnis des Vierecks selbst etc. (510d6f.) bezogen. Es gelangt jedoch zu keiner begründeten Erkenntnis, weil es von Voraussetzungen und Annahmen (rpoh´seir) ausgeht, die nicht kritisch hinterfragt und geprüft, sondern als evident gesetzt werden. Das wissenschaftliche Denken legt den Untersuchungen bestimmte Grundbegriffe, Sätze, Definitionen zugrunde, ohne darüber Rechenschaft geben zu können (kºcom didºmai 510c7f.), und bleibt aus diesem Grund in einem epistemisch unsicheren, problematischen Status befangen (511d). An späterer Stelle wird angemerkt, dass die Wissenschaften zwar träumen von dem Seienden, ordentlich wachend aber es wirklich zu erkennen nicht vermögen, solange sie, Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich lassen, indem sie keine Rechenschaft davon geben können (6yr #m rpoh´sesi wq¾lemai ta¼tar !jim¶tour 1_si, lµ dum²lemai kºcom didºmai aqt_m). Denn wovon der Anfang (!qwµ) ist, was man nicht weiß, Mitte und Ende also aus diesem, was man nicht weiß, zusammengeflochten sind, wie soll wohl, was auf solche Weise angenommen wird, jemals eine Wissenschaft sein können? (rep. 533c)

Indem das Verstandesdenken ungeprüfte Prämissen als ›Anfänge‹ setzt, bewegt es sich auf unsicherem Boden. Es gelangt zwar über die bloße Meinung (dºna) hinaus, erreicht aber nur ein Verstandeswissen, das einer Begründung mangelt und damit den Status des Vorläufigen, Prekären besitzt. Die mathematischen Wissenschaften, so die Bestimmung an dieser Stelle, sind »etwas zwischen der bloßen Vorstellung (dºna) und der Vernunfterkenntnis (moOr) zwischeninne (letan¼) Liegendes« (511d5f.). Das philosophische Vernunftdenken wird im Gegensatz dazu als ein Verfahren beschrieben, das die den besonderen Gegenstandserkenntnissen zugrunde liegenden Prämissen zum Gegenstand der Untersuchung macht und mittels der dialektischen Methode (B diakejtijµ l´hodor) sukzessive in den Voraussetzungen zurückschreitet bis zum ›voraussetzungslosen Grund‹ (!qw¶ !mupºhetor 510b7). Das philosophische Denken setzt die Prämissen nicht als 449 Eine ausführliche Interpretation der Differenz zwischen mathematischem und dialektischem Denken findet sich bei Stemmer (1992, 200ff.). Vgl. auch Mittelstrass 1997.

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›Anfänge‹ (!qwa¸) der Untersuchungen, sondern versteht sie »als Einschritt und Anlauf, damit sie, bis zum Aufhören aller Voraussetzungen an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife […]« (511b). Dieses Zurückgehen in den Prämissen – in 533c10 wird es als ein Aufheben, Wegnehmen der Voraussetzungen umschrieben (rpoh´seir !maiqoOsa) – scheint hier als Grundlage und Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis auf. Das ›Voraussetzungslose‹ (!mupºhetom 511b6f.) bzw. der ›voraussetzungslose Anfang‹ ermöglicht ein Erkennen der Einheits- und Gestaltprinzipien – der Sache selbst, der Ideen, des Seienden – (511b8–c2, 511d3f.) und begründet eine über das Verstandeswissen hinausgehende Vernunfteinsicht (511e1). Es liegt nahe, das hier gemeinte ›Voraussetzungslose‹ mit der Idee des Guten zu identifizieren, wird doch das Gute im Sonnengleichnis als erkenntnisbegründendes Prinzip eingeführt und im Höhlengleichnis als Ziel der Aufstiegsbewegung, von der auch im Liniengleichnis die Rede ist (511b), bezeichnet.450 Das Liniengleichnis bietet somit eine weitergehende Bestimmung des Guten. Anhand der platonischen Auszeichnung der Periagoge als axiologischer Grund451 der Erkenntniskraft (518ef.) konnte oben das Gute als eine bestimmte Lenkung des Erkenntnisorgans und der Seele im Ganzen aufgezeigt werden. Die Ausführungen im 5. Buch haben erkennen lassen, dass die gemeinte Lenkung in einer Ausrichtung auf das nichtsinnliche Eine besteht. Diese Aussage und die im 5. Buch unterschiedenen Sichtweisen werden im Sonnengleichnis noch einmal anschaulich dargestellt (vgl. rep. 508cf.). Das Liniengleichnis wiederum macht deutlich, dass die Ausrichtung auf das Eine nur dann erkenntnisfundierend ist, wenn sie in der Reflexion und Aufhebung der Prämissen, im ›Voraussetzungslosen‹ gründet. Mit der Umlenkung von der Fülle des sinnlich Wahrnehmbaren zur Ausrichtung auf geistige Strukturen und Prinzipien ist zwar eine Überwindung der undifferenzierten, wahrnehmungsorientierten Betrachtungsweise erreicht; das Gute hingegen ist damit offenbar noch nicht gewonnen. Um dieses zu erfassen und und als tragenden Grund zu festigen (533d1), bedarf es, so die Aussage des Liniengleichnisses, eines Prozesses der Bewusstmachung und kritischen Reflexion aller Grundannahmen bis hin zu den letzten Voraussetzungen. Für ein präziseres Verständnis dieser Prämissenreflexion ist nun freilich die Frage entscheidend, um welche Art von Voraussetzungen es hier eigentlich geht. Im Liniengleichnis selbst lassen sich dazu kaum Hinweise finden. Hier werden lediglich einige formale Merkmale der gemeinten ›Hypothesen‹ und einige Beispiele aus der Geometrie angeführt – die Winkelarten, die geometrischen 450 In der Forschung besteht weitgehender Konsens bezüglich dieser Frage. Vgl. z. B. Stemmer (1992, 208), Krämer (1997), Tornau (2007, 41), Ferber (2007, 76), Szaif (2009, 124), Hardy (2011, 94). 451 Das Gute fungiert bei Platon bekanntlich als höchstes Wertprinzip und als letztes Erkenntnisprinzip.

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Figuren, das Gerade und Ungerade (510c). Als spezifisches Merkmal von ›Hypothesen‹ bestimmt Platon an dieser Stelle den Setzungscharakter und den epistemisch unsicheren Status. Betont wird in diesem Zusammenhang insbesondere die doxosophische Einstellung der mathematischen Wissenschaft zu den ›Hypothesen‹. Der Wissenschaftler legt diese »als wissend zugrunde«, er glaubt »keine Rechenschaft weiter darüber weder sich noch anderen [ ] geben zu müssen, als sei dies schon allen deutlich« (510c6–8). Das Verstandesdenken verkennt den unsicheren epistemischen Status seiner Grundannahmen und ist insofern im Nichtwissen des Nichtwissens befangen. Mehr Informationen werden an dieser Stelle jedoch nicht gegeben. Es bleibt ungeklärt, welche Voraussetzungen der Dialektiker untersucht, welches die letzten Prämissen sind, zu denen er vordringt. Man könnte angesichts der Thematisierung der mathematischen Wissenschaften und deren ›Hypothesen‹ vermuten, dass der Dialektiker hier ansetzt und am Ende zu den allgemeinsten formalen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten aller Wissenschaften gelangt, die in einem Gesetz der Gesetzlichkeit aufgehoben werden. Diese Deutung ist in der Platonforschung schon häufig vorgenommen worden.452 Dagegen sprechen jedoch die platonischen Ausführungen zur Dialektik und die Kommentare zum Erkenntnisaufstieg, in denen, wie schon mehrfach bemerkt, stets von denselben Gegenständen die Rede ist: von den Tugenden, insbesondere der Gerechtigkeit, vom Schönen, vom Guten.453 Besonders deutlich sind diesbezüglich die Bemerkungen zur Dialektik, die sich in rep. 537e–539d finden. Die im Kontext des Bildungsweges getroffenen Aussagen über die Einführung in die dialektische Kunst verweisen darauf, dass die gemeinte Dialektik mit einer prüfenden Untersuchung der Tugendvorstellungen zu assoziieren ist. Verbindet man diese Aussagen mit dem Liniengleichnis, so liegt der Schluss nahe, dass der Aufstieg zum ›voraussetzungslosen Anfang‹ zuletzt in eine kritische Reflexion und Aufhebung der ethischen Prämissen mündet.454 Die Hypothesenreflexion gelangt offenbar auf der letzten Stufe zu einer Prüfung der Grundlagen der Werturteile. Dabei geht es wohl weniger um die Offenlegung der formalen Voraussetzungen eines ethischen Definitions- und Ideenwissens455, sondern primär um die Prüfung der inhaltlichen Prämissen, d. h. um die Auf-

452 Vgl. z. B. Natorp ([21921] 1994, 176, 192ff.). 453 So auch Stemmer (1992, 207): »Platon umgrenzt nirgendwo genau die Gegenstände der Dialektik, er sagt nirgendwo, welche Ideen genau sie zu bestimmen sucht. Aber er nennt immer wieder das Gerechte, das Besonnene, das Schöne, das Gute. Diese ethischen Ideen sind die vorrangigen Gegenstände der Dialektik«. Vgl. auch Hardy (2011). 454 Vgl. Stemmer (1992, 207ff.). 455 So z. B. Hardy (2011, 94ff.).

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klärung und Untersuchung der als Basis des Handelns und Urteilens gesetzten Annahmen (rpoh´seir)456 über das Gerechte, Schöne, Gute etc. Stemmer (1992) hat in seiner Untersuchung über die platonische Dialektik überzeugend aufgezeigt, dass Platon die im Liniengleichnis beschriebene hypothetische Betrachtungsweise nicht auf die mathematischen Wissenschaften beschränkt, sondern auch im Bereich des ethischen Urteilens annimmt. Die Mathematiker »wenden sich nicht um, weg von ihren Untersuchungsgegenständen, hin zu den Begriffen, mit denen sie ihre Objekte charakterisieren. Sie lassen die Hypothesen in ihrem Rücken, lassen sie unangetastet, gehen vielmehr immer sofort auf die Gegenstände zu, denen ihre Untersuchung gilt« (206). Eine ähnliche nicht-reflexive Haltung gegenüber den Prämissen zeichne auch die gewöhnliche Art der Untersuchung von konkreten ethischen Fragen aus, die Platon in den Eingangsgesprächen der sokratischen Tugenddialoge anschaulich darstellt: Wenn zu entscheiden ist, ob bestimmte konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen tapfer, gerecht, besonnen sind, geht es […] zwar nicht um intelligible, sondern konkrete Dinge, aber über sie wird in der Regel auch so entschieden, daß die Begriffe des Tapferen, Gerechten, Besonnenen unthematisiert bleiben. Den Urteilen unterliegen gewöhnlich implizite, vorreflexive Vorstellungen davon, was es heißt, tapfer, gerecht, besonnen zu sein. Diese Vorstellungen sind unausgewiesene Annahmen, Hypothesen. Der Urteilende geht von diesen Hypothesen aus, bedient sich ihrer als Ausgangspunkte, geht aber unmittelbar auf den Gegenstand zu, um dessen Beurteilung es geht. Die vorausgesetzte Bestimmung etwa des Gerechtseins ist immer nur Ausgangspunkt, das, von dem man weggeht, um anderes zu thematisieren, sie ist nie das, auf das man zugeht, um es selbst zu thematisieren. Die Hypothese kommt gar nicht in den Blick. (Stemmer 1992, 206)

Der Dialektiker hingegen mache »den verdeckten Ausgangspunkt der bisherigen Urteilspraxis zum Zielpunkt der Untersuchung« (206). Er wendet den Blick zu den Prämissen um und unterzieht diese einer eingehenden Prüfung. Die Annahme, dass die Hypothesenreflexion des im Liniengleichnis dargestellten dialektischen Denkens zuletzt in eine Betrachtung der ethischen Grundannahmen mündet, mag zunächst etwas überraschen, da im Gleichnis vornehmlich von den unreflektierten Prämissen der theoretischen Wissenschaften die Rede ist. Angesichts der platonischen Beurteilung der ethischen Dinge als wichtigste Gegenstände (t± l´cista)457 ist jedoch dieses Finale der 456 Zum Gebrauch von rpºhesir zur Bezeichnung der dem Handeln zugrunde liegenden Annahmen im Frühwerk vgl. Charm. 160d, 163a, 171d; Euthyphr. 9d, 11c; Gorg. 454c; Hipp. mai. 299b, 302e; Prot. 339d, 361b. 457 So schon in apol. 22d7. Dieses Urteil ist offenbar von Platon nie revidiert worden. Darauf verweisen die mittleren Dialoge (rep. 501b2f., 506a4, 520c5f., 531c6f., 538e2; Phaid. 69b/c, 76d8, 77a4, 100b–d; symp. 210a–212a, 222a; Phaidr. 276c3f., 278a3f.), der Theaitetos

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Hypothesenreflexion nur folgerichtig. Wenn das Gerechte, Besonnene, Schöne, Gute die höchsten Gegenstände bezeichnen, die Vorrang vor allen anderen Gegenstandsbereichen haben, dann sind die Annahmen über diese Dinge die höchsten und letzten Prämissen. Der Aufstiegsweg, den der Dialektiker vollzieht, ist offenbar durch verschiedene Ebenenwechsel charakterisiert. Zunächst wird anscheinend die Umwendung von einer unreflektierten gegenstandsorientierten Wissenschaft zur Reflexion der Grundlagen des besonderen Gegenstandswissens und der besonderen Wissenschaften vollzogen. Der Dialektiker reflektiert die Kategorien und Prinzipien, die das Verstandesdenken bei der Erfassung seiner Gegenstände anwendet, und macht das der Wissenschaft zugrunde liegende und sich in ihr vergegenständlichende epistemische Vermögen zum Objekt der Betrachtung. Das ist jedoch nur eine Etappe innerhalb der Hypothesenreflexion. In einer weiteren Umwendung wird hier offenbar der Blick von den Wissenschaftsprinzipien zu der die Wissenschaft betreibenden Person umgelenkt und das eigene Selbstverständnis geprüft. Da das personale Selbstverständnis zuletzt immer an ethische Wertbegriffe gebunden ist, mündet diese Selbstbetrachtung in eine Untersuchung der handlungs- und urteilsleitenden Vorstellungen von der Bestheit und dem Guten. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Im Liniengleichnis wird als Weg zur Idee des Guten eine dialektische Prämissenreflexion aufgezeigt, die sukzessive zu tieferen Voraussetzungen gelangt. Sie mündet zuletzt in eine prüfende Reflexion der inhaltlichen Annahmen über die Tugenden und das Gute. Der ›voraussetzungslose Grund‹, von dem im Liniengleichnis die Rede ist, wird allem Anschein nach im Kontext der Tugenduntersuchung gewonnen.

ee)

Nicht-hypothetische Ausrichtung auf die Sache (rep. 514a–518b)

Damit ist jedoch noch immer nicht das letzte Wort über das Gute gesprochen. Im Höhlengleichnis nimmt Platon eine letzte Differenzierung vor. Er unterscheidet innerhalb der auf die Tugendannahmen bezogenen Hypothesenreflexion wiederum zwischen zwei Einstellungen. Anhand der Darstellung einer scheiternden, durch zunehmende Blindheit charakterisierten Aufstiegsbewegung (515c– 516a2) und einer gelingenden, mit dem Zuwachs an Erkenntnisfähigkeit und Einsicht verbundenen Bewegung (516a–c) wird deutlich gemacht, dass die Re(175b–d), die Nomoi (965b–966b) und der Siebte Brief (344a5, 344b1). In den Nomoi wird die Erkenntnis der Tugenden, des Schönen und des Guten mit einer Kosmotheologie verbunden, die hier als ein für das Amt des Gesetzeswächters und Staatsherrschers notwendiges Wissen bezeichnet wird (966c–968a). Diese Verbindung findet sich bereits andeutungsweise in der Politeia (516b/c). Die noetische Erkenntnis des Guten wird dort, wie oben bereits bemerkt, als Basis und Ausgangspunkt einer Vorstellung vom kosmischen Ordnungs- und Gestaltungsprinzip kenntlich gemacht.

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flexion der Tugendhypothesen nicht als solche schon zum Guten führt. Entscheidend ist offenbar, wie eine Person auf die prüfenden, widerlegenden Argumente reagiert.458 Wird die elenktische Beweisführung unsachlich bestritten oder willkürlich beiseite geschoben, werden Fluchtwege beschritten und Selbsttäuschungsmanöver durchgeführt oder kommt es nur zu einer unverbindlichen, äußerlich bleibenden Anerkennung der Einwände oder zu einem widerwilligen Sich-Beugen unter die Argumentationslogik, kurz – wird die mit oder ohne fremde Hilfe durchgeführte Prüfung der ethischen Grundannahmen innerlich abgewehrt459, bleiben die Prämissen letztlich unangetastet und das Gute unerreicht. Im Gleichnis wird diese scheiternde Selbsterforschung anschaulich dargestellt. Der Höhlenbewohner, der die Tugendprüfung nur unter ›Zwang‹ und mit ›Nötigung‹ (515c–e) vollzieht, der der Sache große Widerstände entgegenbringt und sie ohne letzte innere Zustimmung realisiert, vollzieht keine wirkliche geistige Bewegung. Er realisiert allenfalls eine Scheinbewegung, die sich in der bloßen Bewusstmachung der dem Handeln und Urteilen zugrunde gelegten Annahmen erschöpft. Durch die Darstellung von Beharrungstendenzen (515d6f.) und Fluchtimpulsen (515e1–4) wird angedeutet, dass der Höhlenbewohner an seinen Überzeugungen und der bisherigen Betrachtungsweise festhält. Er stellt seine Grundannahmen nicht ernsthaft in Frage, sondern lässt sie unbewegt, fest, unangetastet (!j¸mgtor 533c3), geht also weiterhin von ihnen aus und setzt sie als ›Anfänge‹. Gelingt es ihm nicht, seine Widerstände zu überwinden, so kehrt er am Ende zur Höhlenwand zurück, um dort, der vorherigen Praxis gemäß, von den gesetzten Annahmen her über die Dinge zu entscheiden und zu urteilen. Im Höhlengleichnis wird solch eine Rückkehr nicht dargestellt, weil hier die Wendung zum erfolgreichen Aufstieg gezeigt werden soll. In den Tugenddialogen führt Platon hingegen exemplarisch vor, dass eine ›unfreiwillig‹, also mit inneren Widerständen vollzogene Aufstiegsbewegung in die Rückkehr zu den anfänglichen Positionen und Betrachtungsweisen mündet. Ein Erkenntnisfortschritt ist offenbar an die Voraussetzung gebunden, dass die inneren Vorbehalte und widerstrebenden Momente überwunden werden und eine andere geistige Einstellung an Raum gewinnt. Im Höhlengleichnis ist zwar nicht explizit von solch einer Einstellungsänderung die Rede; die Darstellung des gelingenden Aufstiegs liefert jedoch genug Hinweise, die auf eine derartige Veränderung schließen lassen. Zunächst fällt auf, dass im Aufstieg außerhalb der Höhle nicht mehr von einem führenden Dialektiker die Rede ist, 458 Im Höhlengleichnis wird der Dialektiker als prüfende Instanz eingeführt, die die Wertüberzeugungen anderer Personen untersucht. Es ist jedoch auch vorstellbar, dass eine Selbstprüfung ohne Hilfe eines erfahrenen Dialektikers stattfindet. 459 In den Tugenddialogen des Frühwerks (vgl. insbes. Lach, Charm., rep. I., Prot., Men.) finden sich zahlreiche Beispiele für derartige Abwehrmanöver.

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der zum Erkennen und Weitergehen animiert.460 Die Aussparung einer Person, die durch beharrliches Fragen (vgl. 515d5) eine gewisse Nötigung ausübt bzw. als nötigend empfunden wird, ist als Hinweis darauf anzusehen, dass in dem Aufsteigenden ein ganz eigenständiger Impuls zur Suche an Raum gewonnen hat und er anders als zuvor von einem inneren Antrieb geleitet wird, der eine äußere Anregung verzichtbar macht. Durch das Weglassen des führenden Dialektikers wird indirekt gezeigt, das die Fragehaltung gleichsam auf den Anderen übergesprungen ist. Der ehemalige Höhlenbewohner ist selbst zum Fragenden geworden und vollzieht eine Erkenntnisbewegung, die ihre Kraft und Dynamik aus der gewonnenen eigenen Ausrichtung gewinnt und keines äußeren Anstoßes mehr bedarf. Das bedeutet freilich nicht, dass die soziale Dimension des Erkenntnisgeschehens nun völlig zurücktritt und der Aufstieg im einsamen Selbstgespräch bewältigt wird. Die Erkenntnisbewegung bleibt auf den sozialen Dialog und die Verständigung mit anderen angewiesen. Darauf deutet zumindest das bei Platon so häufig betonte interaktive, kommunikative Moment der Wahrheitssuche hin.461 In der Schilderung des Aufstiegs außerhalb der Höhle fehlen zudem jegliche Hinweise auf Schmerzen und Fluchtimpulse, die in der Darstellung der ersten Aufstiegsbewegung dominant sind und ein redundantes Motiv bilden. Auch dies ist als Indiz dafür zu deuten, dass hier eine Einstellungsänderung erfolgt ist. Das Fehlen von Schmerzempfindungen und entsprechenden Fluchttendenzen weist darauf hin, dass das starre Festhalten an bisherigen Denkmustern einer geistigen Beweglichkeit und suchenden Haltung gewichen ist und die dialektische Untersuchung innerlich bejaht wird. In engem Zusammenhang damit steht die Rede von der langsamen Gewöhnung an das Licht (sum¶heia 516a4), die als Sinnbild für eine wachsende Erkenntnisfähigkeit und zunehmende Leichtigkeit des Erkennens zu verstehen ist. Auch damit wird eine Änderung der inneren Haltung angezeigt. Innerhalb der Höhle findet schließlich keinerlei Gewöhnung an das dort vorhandene Licht statt – im Gegenteil: Der Aufsteigende ist zu460 Vgl. die Darstellung der Nötigung in rep. 515c6, 515d5, 515e1, 515e6. 461 Im Hinblick auf den in anderen Zusammenhängen stets thematisierten kommunikativen Aspekt ist zu vermuten, dass der Aufstieg außerhalb der Höhle in Form eines gemeinsamen wahrheitsorientierten Gesprächs vollzogen wird. Solch ein gemeinsames philosophisches Gespräch, das mit einem im gegenseitigen Fragen und Antworten erzielten Erkenntnisfortschritt verbunden ist, wird zwar bei Platon kaum vorgeführt, aber häufig thematisiert. Vgl. Phaidr. 252c–256a (insbes. 256a7f.); rep. 539c/d; Tht. 150d/e. Vgl. auch die sokratischen Aufforderungen zur gemeinsamen Suche am Ende der prüfenden Gespräche Men. 86c; Prot. 360e–361d (»und wenn du nur wolltest, möchte ich sie [sc. die Tugend] […] am liebsten mit dir gemeinschaftlich untersuchen« 361d5–7); Alk. I 135c/d. In der Darstellung des Höhlengleichnisses bleibt die als Dialogpartner agierende Person gleichsam unsichtbar, weil es hier – wie oben angedeutet – darum geht, das eigenständige, freiwillige und selbsttätige Moment des Erkenntnisprozesses hervorzuheben.

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nehmend geblendet, je näher er der Lichtquelle kommt und vermag weder in das Feuer und schon gar nicht in die Sonne zu sehen. Die metaphorische Beschreibung der Erkenntnisbewegung im Freien als ein Sich-Gewöhnen an die Helligkeit verweist darauf, dass erst jetzt die Bereitschaft vorhanden ist, neue Wege zu beschreiten und die geistigen Gehalte, die sich im Logos zeigen, aufzunehmen und tiefer zu verstehen. Um die Einstellung, die dem Höhlengleichnis zufolge für ein Gelingen des Erkenntnisaufstiegs notwendig ist, noch präziser zu fassen, kann man auf den Sokrates der Tugenddialoge zurückgreifen, der ja von Platon als Vorbild und Paradigma der dialektischen Hypothesenprüfung dargestellt wird.462 An dem im Frühwerk gestalteten sokratischen Umgang mit Argumenten, Resultaten, Reaktionen sowie an den dort enthaltenen Reflexionen auf das prüfende Gespräch werden charakteristische Einstellungen und Dispositionen erkennbar, die als Bedingungen einer erfolgreichen dialektischen Untersuchung aufgefasst werden können.463 1) Für ein Gelingen der Hypothesenprüfung ist es offenbar unabdingbar, dass die elenktischen Argumente und Prüfungsresultate anerkannt, ernst genommen464 und als verbindlich für die eigene Urteils- und Handlungspraxis angesehen werden.465 Die Untersuchung führt nur dann zum Erfolg, wenn die Prüfung ohne Vorbehalte bejaht wird und die Person aus eigenem Antrieb, also ohne Nötigung, und mit innerer Zustimmung der Logik der Argumentation folgt. Diese affirmative Haltung wird in den Frühdialogen zum einen durch die Gestaltung der sokratischen Gesprächsführung gezeigt und zum anderen in Form von Selbstreflexionen der Sokrates-Figur dargestellt. Im Gorgias bekennt Sokrates, dass er zu denen gehört, »die sich gern überführen (1k´cweim) lassen, wenn sie etwas Unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein anderer etwas Unrichtiges sagt; nicht unlieber jedoch jenes als dieses« (458a). Zur Begründung dieser Präferenz wird das Argument angeführt, dass es von größerem Wert (le?fom !cahºm) ist, wenn man selbst von Irrtum und Unverstand befreit wird, als wenn man andere davon entbindet. Die Bereitschaft zur Prüfung und 462 Erler (2006) spricht vom ›Protophilosophen‹ Sokrates. 463 Geiger (2006) geht in seiner Untersuchung zur Gesprächsform in den Platonischen Dialogen nicht weit genug, wenn er zwar richtig bemerkt, dass für ein Gelingen der Gespräche bestimmte intellektuelle Kompetenzen und charakterliche Haltungen wie Einsichtsfähigkeit, Gedächtnis, logische und semantische Grundkompetenz, Wohlwollen, Freimütigkeit notwendig sind, aber dabei übersieht, dass Platon zuletzt die Fähigkeit zur Selbstüberwindung und Selbstkritik als maßgeblich betrachtet. 464 Vgl. rep. 539d5, wo gesagt wird, dass man nur feste, ruhige, ernste (st²silor) Naturen an den dialektischen Untersuchungen teilnehmen lassen soll. 465 Vgl. die Aussage des Sokrates in Krit. 46b: »Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satz, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt«. Vgl. auch Phaid. 100a3ff.

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Infragestellung der eigenen Logoi wird in demselben Dialog an späterer Stelle nochmals ausdrücklich formuliert. In 506a fordert Sokrates die Anwesenden dazu auf, ihn zu widerlegen (1k´cweim), wenn sie den Eindruck hätten, dass seine Argumentation nicht schlüssig sei. In ähnlicher Weise betont Sokrates im Charmides seine affirmative Haltung gegenüber der Selbsterforschung. Um Kritias’ Vorwurf zu entkräften, dass er im Gespräch nur auf den eristischen Sieg aus sei, verweist er auf das von ihm verfolgte Wahrheitsziel, das vor allem das Sich-Selbst-Prüfen und Sich-Selbst-Ausfragen erfordere (Charm. 166c/d). 2) Gefordert ist zudem eine Haltung der Sachlichkeit und Sachbezogenheit. Ein Erkenntnisaufstieg ist in maßgeblicher Weise davon abhängig, ob und inwieweit es der Person gelingt, die Wirkkraft von unsachlichen Bestrebungen – wie Rechthaberei, Streitlust, Eitelkeit, Narzissmus – zu reduzieren und sich am Sachargument zu orientieren. Ein geistiger Erfolg kann nur unter der Voraussetzung erzielt werden, dass sich die Person in zunehmender Weise der Sachlogik unterstellt. In den platonischen Dialogen, insbesondere im Frühwerk, wird dieser Punkt immer wieder zum Thema der Reflexion gemacht. Platon stellt häufig Situationen dar, in denen die Gesprächspartner die sokratische Dialektik als sophistischen Redewettkampf auslegen und Sokrates eristische, agonale Beweggründe und Ziele unterstellen. Im Rahmen einer Darlegung der wahren sokratischen Motive lässt Paton Sokrates im Gespräch mit Protagoras erklären, dass es ihm bei der hartnäckigen Verfolgung seiner Frage nicht darum geht, den rhetorischen Sieg über den Anderen zu erlangen, sondern die Sache (pq÷cla) zu erforschen: »Keineswegs […] frage ich alles dieses aus irgendeiner anderen Absicht (bo¼kgsir), als um zu ergründen, wie es sich wohl eigentlich verhält mit der Tugend und was sie wohl selbst ist, die Tugend« (Prot. 360e). Im Hippias II erklärt Sokrates seinem Gesprächspartner, dass er mit diesem nicht in einen rhetorischen Agon treten will, der auf Statusfragen und den Nachweis der eigenen überlegenen argumentativen Fähigkeit und Wissenskompetenz abzielt. Sein argumentativer Umgang mit der Rede eines Anderen sei sachlich begründet: »Aber ich pflege jedesmal, wenn jemand etwas sagt, recht achtzugeben […] und aus Verlangen zu verstehen, was er meint, forsche ich nach und überlege die Sache weiter und vergleiche das Gesagte, um es zu verstehen« (Hipp. min. 369d). In einigen Dialogen werden die verschiedenen Ausprägungen einer unsachlichen Gesprächsführung thematisiert und als Fehlhaltung kritisiert, die die Ungebildeten (oR p²mu !pa¸deutoi) kennzeichnet, nicht aber den Philosophen. In Gorg. 457c/d und Phaid. 91a kritisiert Platon die Fixierung auf das eigene Selbstbild und das damit verbundene Streben nach eristischer Behauptung und Durchsetzung der in einem Gespräch vorgebrachten Thesen. Beides wird als Fehlhaltung kenntlich gemacht, die einen Erkenntnisgewinn verhindere. Indirekt verweist Platon damit auf die Sachbezogenheit als Bedingung für ein ge-

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lingendes dialektisches Gespräch. Die streitsüchtige, rechthaberische (vikºmijor) Haltung der ›Ungebildeten‹ beschreibt Platon in Phaid. 91a wie folgt: »Denn auch diese [sc. die Ungebildeten], wenn sie über etwas streiten, kümmern sich nicht darum, wie sich das wohl eigentlich verhält, wovon die Rede ist, sondern nur, daß den Anwesenden das annehmlich erscheine, was sie selbst festgestellt haben, danach trachten sie«. Wie ernst es Platon mit dieser Kritik ist, wird an der Darstellung des Umgangs der Sokrates-Figur mit der Rechthaberei und Streitsucht seiner Gesprächspartner deutlich. Im Dialog Laches lässt Platon Sokrates als wahrhaften Philosophen auftreten, der sich nicht in den immer wieder aufflammenden Disput zwischen Laches und Nikias hineinziehen lässt, sondern mit Beharrlichkeit und Nachdruck zur Sache zurücklenkt (195a–197e). 3) Eine weitere Bedingung einer gelingenden Hypothesenprüfung ist der verantwortliche Umgang mit den Prüfungsresultaten. Wie in den Tugenddialogen deutlich wird, hat die elenktische Prüfung nur dann einen nachhaltigen Effekt auf die Urteils- und Lebenspraxis, wenn nicht äußere Faktoren für die vom Elenchos aufgezeigte Widersprüchlichkeit der Annahmen verantwortlich gemacht werden, sondern der Geprüfte die offenbar gewordene Unstimmigkeit auf das eigene Denken zurückführt und insofern die Verantwortung übernimmt. Während dieser Aspekt im Frühwerk zumeist indirekt oder in negativer Form, durch die Darstellung der Zurückweisung von Verantwortung466 angesprochen wird, findet sich im Phaidon eine direkte Thematisierung des Sachverhalts: Wäre das nun nicht ein Jammer […], wenn einer, weil er auf solche Reden stößt, die ihm bald wahr zu sein scheinen, bald wieder nicht, sich selbst nicht die Schuld geben wollte und seiner Kunstlosigkeit (lµ 2autºm tir aQti`to lgd³ tµm 2autoO !tewm¸am), sondern am Ende aus Mißmut die Schuld gern von sich selbst auf die Reden hinwälzte und dann sein übriges Leben in Haß und Schmähungen gegen alle Reden hinbrächte und so der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge verlustig ginge? (Phaid. 90c7–d7)

Die Flucht vor dem Eingeständnis des eigenen Versagens mündet hier in einen Antiintellektualismus und einer Skepsis gegen die Logoi. All diese verschiedenen Aspekte verweisen zuletzt auf ein Moment, das als Grundbedingung einer gelingenden Hypothesenprüfung angesehen werden kann: die innere Bereitschaft, die eigenen Annahmen (rpoh´seir) über die Tugend und das Gute in Frage zu stellen, sie gegebenenfalls als problematisch oder unbegründet einzusehen und sich davon zu lösen, d. h. sie als Orientierungspunkt der Entscheidungen, Urteilsleistungen, praktischen Handlungsvollzüge aufzugeben. Wie heikel und schwierig dieser Punkt ist, wird unmittelbar evident, wenn man sich vor Augen führt, dass es in der Tugenduntersuchung zuletzt um 466 Vgl. z. B. Lach. 189c, 194b; rep. 331d, 338d, 340d.

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die innere Person und das eigene Selbstverständnis geht. Wie oben ausgeführt, ist die dialektische Wissensprüfung dadurch gekennzeichnet, dass sie die seelische Verfasstheit der Person in den Blick nimmt. An den Hypothesen über die Tugend wird die ethische Bildung und Kompetenz geprüft. Oder konkreter formuliert: An der Meinung über das Tapfere, Gerechte, Schöne, Gute wird das eigene Tapfer-Sein, Gerecht-Sein, Schön-Sein, Gut-Sein untersucht. Für ein Gelingen der Tugenduntersuchung ist somit nicht nur die Bereitschaft zur Infragestellung der eigenen Wissensannahmen über das Gute erforderlich. Es geht darüber hinaus um die Fähigkeit, auch die Seinsansprüche in Frage zu stellen, sie gegebenenfalls als unbegründet einzusehen und aufzugeben. Gefordert ist zuletzt die Bereitschaft, sich von der als Grund der personalen Existenz gesetzten Prämisse des Gut-Seins zu lösen, diese !qw¶ ›wegzunehmen‹ (533c10) und loszulassen. Es ist ganz klar, dass eine Prämissenaufhebung auf dieser Ebene mit massiven Widerständen verbunden ist. Eine Berührung des letzten Selbstverständnisses verstößt nicht nur gegen die eigene Selbstliebe, sondern gefährdet die Selbstverständlichkeit und Sicherheit des Lebensvollzugs. Durch eine solche Infragestellung drohen alle Handlungen, Entscheidungen und Urteilsleistungen problematisch zu werden, da der personale Handlungsgrund zum Problem wird. Das Höhlengleichnis und die Tugenddialoge deuten somit an, wo die eigentlichen Schwierigkeiten beim Erwerb der Erkenntnis des Guten liegen.467 Platon macht anhand des Gleichnisses deutlich, dass für einen Zugang zum Guten zuletzt der Umgang mit sich selbst, das eigene Selbstverhältnis maßgeblich ist. Die Entscheidung, die der Einzelne zu treffen hat und die nur er allein treffen kann, betrifft die Wahl zwischen einer in bisherigen Orientierungsmustern verharrenden Selbstbewahrung und einer als Wagnis erscheinenden Loslösung von vermeintlichen Sicherheiten. Es ist die Entscheidung und Frage, ob die Person an ihrem Selbstbild und der letzten Hypothese festhält oder ob sie bereit ist, diese aufzugeben, sie loszulassen auf das Wagnis eines neuen Grundes, einer erst zu gewinnenden !qw¶ hin. Gelingt es, die inneren Widerstände zu überwinden und im Verlauf der Prüfung die Unbegründetheit der Prämissen immer verbindlicher einzusehen, so wird in diesem Prozess eine Ausrichtung auf die Sache selbst, auf das Eine gewonnen, die sich von der Betrachtungsweise des ›Höhlenbewohners‹ erheblich unterscheidet. Der den Blick von der Höhlenwand zum Höhleninneren 467 Angesichts dieser Überlegungen darf folgendes Urteil von Böhme (2000, 36) als verfehlt angesehen werden: »Denn – so merkwürdig es klingen mag – die peqiacycµ t/r xuw/r, die Umkehrung der ganzen Seele, die Platon als den ersten und schwierigsten Schritt auf dem Weg zu einer philosophischen Existenz fordert, hat heute jeder schon hinter sich. Jeder – damit wäre wohl zu viel behauptet, wenn das hieße jeder Mensch, – sicher aber jeder Leser eines Buches wie das vorliegende oder überhaupt jeder, der ein akademisches Training hinter sich hat«.

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wendende Bewohner lässt sich zwar im Gegensatz zu den unbeweglich vor der Wand Sitzenden und die Schatten Betrachtenden von der Frage nach der Sache selbst (515d5f.) affizieren und macht seine Annahmen über sie zum Gegenstand der Reflexion. Da er diese Annahmen jedoch letztlich unbewegt lässt, also deren Wahrheitsgehalt nicht ernsthaft in Frage stellt, bleibt er in der hypothesenbestimmten Sichtweise verhaftet und erfasst die Sache nur nach Maßgabe der eigenen Prämissen. Realisiert wird hier eine Betrachtungsweise, die zwar die Frage nach der Sache stellt und in gewisser Weise auf das Eine ausgerichtet ist, aber nie über den Horizont der eigenen Hypothesen hinausgelangt und damit in sich gefangen bleibt. Diese Beschränktheit wird erst durch die Dynamisierung der Prämissen aufgelöst. Die ernsthafte Infragestellung der Annahmen befreit aus dieser Art von intellektueller Gefangenschaft und öffnet den Blick für die Sache jenseits der eigenen Annahmen über sie. Was im Gleichnis als physisches Hinaustreten aus der Enge der Höhle in den freien Raum dargestellt wird, kann als Metapher für diesen geistigen Befreiungsakt468, für ein intellektuelles Übersich-Hinausgehen gedeutet werden. Die veränderte Einstellung lässt sich auch mit der bereits erwähnten Metapher der Umwendung des Blicks (peqiacyc¶) umschreiben, die ja im Höhlengleichnis ebenfalls zur Anwendung kommt (515c7). Die Einsicht in die Unbegründetheit der eigenen Prämissen wendet den Blick gleichsam um. Die Sache erscheint nicht mehr als das, was ›hinter‹ einem ist, wovon man ausgehen kann, sondern als das, worauf man hinblickt und sich suchend zubewegt. Mit dieser nicht-hypothetischen Ausrichtung auf die Sache bzw. das Eine wird, so suggeriert jedenfalls das Gleichnis, ein neuer Grund gewonnen, der sich in der dynamischen, aktiven Erkenntnissuche aktualisiert und in dieser Suche zunehmend an Gestalt, Festigkeit, Stabilität gewinnt. Durch die Darstellung eines Zuwachses an Sehfähigkeit und Objektwahrnehmung (rep. 516a/b) wird im Gleichnis angedeutet, dass der gewonnene Grund zu einer konstruktiven, mit Vernunfteinsicht verbundenen Tugenduntersuchung führt und eine progressive Hypothesenprüfung ermöglicht. Im Aufstieg außerhalb der Höhle werden die Annahmen über das Gerechte, Schöne, Gute, von denen man sich in anfänglicher Weise bereits gelöst hat, auf die Sache hin durchdacht, in ihrem bedingten Wahrheitsgehalt erkannt und auf die jeweils höhere Ebene hin überschritten. Eine wirkliche Aufhebung der Voraussetzungen findet wohl erst in dieser Aufstiegsbewegung statt. Durch das sachorientierte Durchdenken und die damit verknüpfte Vernunfteinsicht werden die Prämissen als ›Anfänge‹ aufgelöst und deren Setzung als Prinzipien aufgehoben. Die im Höhlengleichnis dargestellte Aufstiegsbewegung endet bekanntlich 468 Vgl. die Metaphern der Fesseln, des Gefesseltseins, der Gefangenschaft sowie der Entfesselung in rep. 514a5ff., 514b4, 515a4, 515c4f.

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Selbsterkenntnis bei Platon

mit dem Blick in die Sonne (516b4ff.). Die Idee des Guten, die hier zweifellos gemeint ist, wird also in irgendeiner Form erreicht.469 Unklar bleibt jedoch, was hier eigentlich erkannt und gewonnen wird. Platon belässt es an dieser Stelle bei der Aussage über die prinzipielle Erreichbarkeit des Erkenntnisziels, ohne weitere Erklärungen und Präzisierungen vorzunehmen. Aus den Bestimmungen des Guten in den Gleichnissen lassen sich jedoch einige Schlüsse ziehen. 1) Im Sonnengleichnis wird die Prämisse aufgestellt, dass das Gute eine erkenntnisfundierende Funktion besitzt. Die Idee des Guten sei Ursache (aQt¸a) von Erkenntnis (1pist¶lg) und Wahrheit (!k¶heia), die an dieser Stelle als objektives Moment der Vernunfteinsicht bestimmt wird: »wie sie [sc. die Idee des Guten] der Erkenntnis und der Wahrheit, soweit diese erkannt wird, Ursache zwar ist« (aQt¸am d( 1pist¶lgr owsam ja· !kghe¸ar, ¢r cicmysjol´mgr l³m diamooO rep. 508e3f.). Wie die folgenden Passagen erkennen lassen, wird der Ursachenbegriff hier im Sinn des Hervorbringens, Erwirkens, Erzeugens gebraucht. In 509a7 verwendet Platon zur Bestimmung der Kausalitätsbeziehung zwischen dem Guten und dem Erkennen das Verbum paq´weim (»wenn es Erkenntnis und Wahrheit hervorbringt« eQ 1pist¶lgm l³m ja· !k¶heiam paq´wei ; vgl. auch rep. 509b7 und 517c4). Damit wird der Gedanke ausgedrückt, dass das Gute dem ›geistigen Auge‹ Sehkraft verleiht. Es bewirkt, dass das Erkenntnisvermögen seine spezifische Kraft ausbildet und Vernunfteinsicht erlangt. 2) Im Liniengleichnis wird dieser Gedanke aufgegriffen und durch das Motiv des ›Nicht-Voraussetzungshaften‹ (!mupºhetom) ergänzt. Die Vernunfteinsicht wird hier an die Bedingung der Reflexion und Aufhebung der den theoretischen Wissenschaften und der Handlungspraxis zugrunde liegenden Hypothesen gebunden. Das Vernunfteinsicht hervorbringende Gute, so deutet Platon in dem Gleichnis an, ist der nicht-hypothetische Grund (!qw¶ !mupºhetor) (vgl. 511b8– c2, 511d3f., 511e1). 3) Im Höhlengleichnis wird der dialektische Weg der Hypothesenprüfung, der, wie oben angedeutet, in die Reflexion der ethischen Grundannahmen mündet, bildlich dargestellt und unter dem Aspekt der Schwierigkeit und existenziellen Herausforderung thematisiert. Durch die Gegenüberstellung einer in den Hypothesen verhaftet bleibenden Betrachtung, die zu keinem wirklichen Erkenntnisgewinn gelangt und einer nicht-hypothetischen Intention auf die Sache, die zur sukzessiven Ausbildung von Erkenntnisfähigkeit und zum Erwerb von Vernunfteinsicht führt470, wird angedeutet, dass nicht die Hypothesenreflexion als solche, sondern nur die mit der inneren Bereitschaft zur Selbstinfragestellung verbundene Prämissenreflexion zum epistemischen Erfolg führt. 469 Die vorsichtigen Formulierungen an dieser Stelle (rep. 517b9) deuten auf ein punktuelles Erfassen hin. Vgl. auch die Aufstiegsdarstellung im Phaidros (247b3). 470 Auf diesen Erkenntnisgrund wird auch im Siebten Brief verwiesen.Vgl. epist. VII 343c–d.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Guten

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Verknüpft man die Aussage des Höhlengleichnisses, die an das Liniengleichnis anschließt und durch dieses vorbereitet wird, mit der funktionalen Bestimmung des Sonnengleichnisses, so ergibt sich folgender Schluss: 1. Satz: Das Gute bringt Erkenntnisfähigkeit und Vernunfteinsicht hervor. 2. Satz: Die nicht-hypothetische Ausrichtung auf die Sache bewirkt Erkenntnisfähigkeit und Vernunfteinsicht. Konklusion: Das Gute ist in der nicht-hypothetischen Intention auf die Sache enthalten. Sollte sich diese Konklusion bei genauerer Prüfung als richtig erweisen, so ist zu schließen, dass das Gute der gelingenden Erkenntnisbewegung von Anfang an zugrunde liegt und offenbar zuletzt als das Gesuchte eingesehen wird. Dieser Gedanke gewinnt an Plausibilität, wenn man das Entwicklungsmoment hinzunimmt. Wird das Gute in der oben angedeuteten Weise als ein richtunggebender Vernunftgrund, als eine Denkrichtung oder Denkhaltung verstanden471, die durch intellektuelle Bemühung erst zu gewinnen ist, so erhält das Gute – zumindest im menschlichen Bereich, von dem hier ja stets die Rede ist – eine prozessuale Dimension und ist mit der Kategorie des Werdens zu verknüpfen. Wie die Redeweise von der Gewöhnung (sum¶heia 516a4), dem langsamen SichEinleben, sowie die Bemerkung über das allmähliche Festwerden des Grundes in rep. 533d1 andeuten (»Nun aber […] geht die dialektische Methode […] alle Voraussetzungen aufhebend, gerade zum Anfang selbst, damit dieser fest werde [1p( aqtµm tµm !qwµm Vma bebai¾sgtai]«), wird die Gewinnung des Guten bei Platon dynamisch gedacht, als eine sukzessive Ausprägung oder Vertiefung, die man als seelischen Verankerungsprozess verstehen kann. Im Verlauf einer gelingenden Tugenduntersuchung wird das Gute offenbar zunächst in anfänglicher Weise als Wirklichkeit erreicht, dann in der Realisierung der sachorientierten Erkenntnissuche gefestigt und vertieft und am Ende als die gesuchte Begründung der Tugenden und des gelingenden Lebensvollzugs eingesehen. Identifiziert man diesen richtunggebenden Grund mit der eigentlich aktiven Kraft im Aufstiegsgeschehen, so kann man davon sprechen, dass es das Gute ist, dass sich in der Suche nach sich selbst hervorbringt und sich als das Begründende erkennt, jedoch nicht in einer selbstreflexiven Weise, also nicht in der Rückbeugung auf sich selbst, sondern im suchenden Durchdenken der Annahmen auf die Begründung hin. Die Erkenntnis des Guten wäre insofern eine Selbsterkenntnis des Guten.

471 Ähnlich Mittelstrass (1982) (1986) (1997). Mittelstrass (1986, 247) spricht von einer »philosophischen Orientierung« als »Ziel des philosophischen Dialogs«.

Schlussbetrachtung

Überblickt man die Epoche von der homerischen Apollon-Religion bis zur klassischen Philosophie, so wird zum einen deutlich, dass die apollinische Aufforderung zur Selbsterkenntnis eine beispiellose Wirkung entfaltet und die griechische Geistesgeschichte maßgeblich bestimmt hat. Zum anderen aber zeigt sich, dass das Motiv im Laufe der Jahrhunderte einen Bedeutungswandel erfahren hat. Die eigentliche Zäsur in diesem Transformationsprozess ist der Übergang von der religiösen, mythisch fundierten Selbstbesinnung zur philosophischen Selbsterkenntnis. Bei Sokrates und Platon erhält das cm_hi sautºm einen ganz neuen Sinn. Die philosophische Umdeutung der Selbsterkenntnis wird zumeist als Verschiebung von einer ›negativen‹ zu einer ›positiven‹ Anthropologie gedeutet. Während die apollinisch-delphische Tradition die Schwäche und Hinfälligkeit der menschlichen Kräfte betone und die Grenzen des Erreichbaren hervorhebe, verweise Platon auf die Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der Vernunftseele und unterstreiche die Aufstiegsmöglichkeiten des Menschen. Die apollinische Religion betone die unaufhebbare Differenz zwischen Gott und Mensch; die platonische Philosophie hingegen hebe die Wesensverwandtschaft und die darin begründete mögliche Annäherung an Gott hervor. Im Fazit: Die pessimistisch gefärbte Sichtweise der Tradition wird bei Platon durch eine optimistischere Auffassung des Menschen abgelöst.1 Unterzieht man die in der apollinisch inspirierten Dichtung enthaltene An1 Vgl. z. B. Beierwaltes (1991, 78f.), Hager (1995, 406f.), Kutschera (2000, 10), Göbel (2002, 16– 51), Trawny (2003), Utzinger (2008, 173f.), Karfik (2010, 96). Besonders prägnant Göbel (2002), der den von Platon vorgenommenen Bedeutungswandel wie folgt formuliert: »von den menschlichen Grenzen und Unterschieden zum Göttlichen zur Erkenntnis der unendlichen Möglichkeiten des menschlichen Intellekts und der Wesensgleichheit mit dem Göttlichen« (45). Göbel sieht einen »deutlichen Gegensatz zu den vorherigen Deutungen des cm_hi sautºm [….]. Zwar steht immer noch das Verhältnis ›Gott – Mensch‹ im Mittelpunkt des Interesses, jetzt aber sind es nicht mehr die Unterschiede, die betont werden, sondern die Wesensgleichheit von Gott und Mensch« (44).

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Schlussbetrachtung

thropologie einer genauen Analyse, so erscheint solch eine Sichtweise als problematisch. Der Gedanke der Göttlichkeit der menschlichen Potenzen und das damit verbundene Motiv der Wesensverwandtschaft finden sich bereits in der archaischen Dichtung. So verweisen insbesondere die pindarischen Epinikien auf den göttlichen Ursprung der menschlichen Anlagen (vu²)2 und auf eine Gottnähe, die durch Ähnlichkeiten im geistigen Vermögen (mºor) und in der Gestalt (v¼sir) begründet ist.3 Diese theoanthropologischen Annahmen sind bei Pindar mit einem Aufstiegsgedanken verbunden, der die Möglichkeit des Menschen zur Selbststeigerung betont. Zwar ist dem Sterblichen ein Überstieg zum göttlichen Sein versagt, dennoch besitzt er aufgrund seiner gottgegebenen Anlagen die Fähigkeit, über sich hinauszugehen, sich unter Aufbietung aller Kräfte zur glanzvollen Areta aufzuschwingen und damit eine momenthafte Gottnähe zu erreichen. Auch der Begründungszusammenhang zwischen der göttlichen Herkunft des seelischen Selbst und dessen Unvergänglichkeit findet sich bereits in präformierter Gestalt in der dichterischen Tradition. In dem Pindar zugeschriebenen Fragment 131b wird zwischen der leiblichen Existenz, die mit dem Tod zerfällt, und einem Selbst unterschieden, das göttlichen Ursprungs ist und als Abbild des lebendigen Menschen (aQ_mor eUdykom) nach dessen Tod fortdauert.4 Zweifellos zeichnet sich die platonische Erörterung der Identitätsproblematik im Unterschied zur vorphilosophischen Betrachtung durch eine differenziertere Reflexion der seelischen Fähigkeiten und die besondere Betonung des geistigen Vermögens aus. Es ist jedoch wenig plausibel, das Motiv der Göttlichkeit der menschlichen Kräfte und die damit verbundene Wesensverwandtschaft als innovative Momente der platonischen Philosophie zu betrachten und daraus eine Dichotomie zwischen dichterisch-religiöser Tradition und klassischer Philosophie abzuleiten. Bei den genannten Vorstellungen handelt es sich eher um Grundmotive des griechischen Denkens, die nicht erst die klassische und spätantike Philosophie bestimmen, sondern bereits im Mythos, in der Dichtung und im vorsokratischen Logos artikuliert werden. Die schon im mythischen Denken zu beobachtende Vorstellung einer ur2 Vgl. Pind. P. 1, 41f.: 1j he_m c±q lawama· p÷sai bqot´air !qetair, ja· sovo· ja· weqs· biata· peq¸ckysso¸ t( 5vum. »Von den Göttern kommen alle Möglichkeiten sterblicher Leistung, kommt die Klugheit und der Arme Kraft und die Gewalt der Rede« (Übers. H. Fränkel). Vgl. auch Soph. Ant. 683f.: heo· v¼ousim !mhq¾poir vq´mar, p²mtym fs( 1st· jtgl²tym rp´qtatom »Die Götter […] pflanzen die Vernunft den Menschen: Das höchste aller Güter, die es gibt« (Übers. W. Schadewaldt). Vgl. auch Eur. fr. 1018. 3 Vgl. Pind. N. 6, 4f. 4 »Aller Menschen Leib folgt dem überstarken Tod, lebend aber bleibt zurück ein Abbild des Daseins (aQ_mor eUdykom), denn dieses allein stammt von den Göttern; es schläft, wenn die Glieder schaffen, doch den Schlafenden zeigt es in vielen Träumen (1m pokko?r ame¸qoir) des Frohen und Schlimmen nahende Entscheidung« (Pind. fr. 131b Snell; Übers. H. Fränkel).

Schlussbetrachtung

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sprünglichen Gottnähe des Menschen ist im Kontext der Annahme der Immanenz des Göttlichen zu sehen. Im religiösen Denken der Griechen gibt es bekanntlich keine radikale Trennung zwischen dem Säkularen, Irdischen und dem Numinosen. Die Idee einer göttlichen Sphäre ist hier nicht an die Vorstellung eines transzendenten Seins geknüpft, sondern steht im Zusammenhang mit dem Entwurf einer innerweltlichen Ordnung. Die Götter sind zwar dem Bereich des menschlichen Lebens übergeordnet, befinden sich jedoch nicht jenseits der Welt. Es ist ein und dasselbe Sein, aus dem Götter und Menschen hervorgegangen sind, das beide zur Ganzheit verbindet.5 Aus dieser Konzeption resultiert eine Auffassung der Relation zwischen Mensch und Gott, die nicht nur die Differenzen und hierarchischen Aspekte im Blick hat, sondern zugleich vom Bewusstsein der Ähnlichkeit bestimmt ist.6 Die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs fungiert dabei als Fundament, das absolute Unterschiede einebnet und die Relativität der Differenzen begründet. Nach der traditionellen griechischen Auffassung gibt es zwischen göttlichen und menschlichen Kräften nur Abstufungen und Gradunterschiede, aber keinen kategorialen, wesensmäßigen Unterschied. Die für die griechische Theoanthropologie charakteristische Einheit von Ähnlichkeit und Differenz wird vermutlich deswegen im Zusammenhang mit der apollinischen Selbsterkenntnis so wenig wahrgenommen, weil das cm_hi sautºm die Begrenztheit der menschlichen Kräfte akzentuiert und auf das Bewusstsein der Kluft zwischen Mensch und Gott zielt. Hier sind jedoch der Problemhorizont und die Intention der Einsicht zu beachten. Betrachtet man die apollinische Selbstbesinnung vor dem Hintergrund des Phänomens der Hybris, so wird deutlich, dass die Betonung der Differenz eine Reaktion auf die übermäßige Potenzierung der Gottähnlichkeit ist. Das Motiv der Göttlichkeit der menschlichen Kräfte wird im Denken der Hybristai zur Annahme einer Gottgleichheit gesteigert und damit in seinem fruchtbaren, konstruktiven Potenzial vernichtet. Der apollinische Verweis auf die nicht aufzuhebende Differenz zwischen Mensch und Gott lässt sich insofern als Korrektiv der megalomanen Übersteigerung des Ähnlichkeitsgedankens deuten. Es ist der Versuch, das Gleichgewicht zwischen Gottnähe und Gottferne wiederherzustellen und die positive, harmonisierende Kraft der Verwandtschaftsannahme freizulegen. Damit ist bereits angedeutet, dass die apollinische Selbsterkenntnis kaum im Sinn eines Pessimismus, einer düsteren Resignation oder eines müden Lebensüberdrusses zu verstehen ist. Sie steht vielmehr im Dienst eines gelingenden Lebens. Die Prophylaxe und Korrektur der Hybris zielt auf eine konstruktive Entfaltung der Potenzen, auf eine in Übereinstimmung mit den göttlichen 5 Vgl. Hesiod, Theogonie. 6 Vgl. Pind. N. 6, 1–5.

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Schlussbetrachtung

Mächten, der gemeinschaftlichen Ordnung und den eigenen Kräften erfolgende Ausschöpfung des Möglichen. Die apollinische Selbsterkenntnis lässt sich somit in das griechische Projekt eines Ausbalancierens der menschlichen Möglichkeiten und Grenzen, der Selbstentfaltung und Selbstbeschränkung, kurz – des Auffindens des richtigen Maßes einordnen, das auf der Annahme einer Gottnähe und Gottferne basiert. Will man den Bedeutungswandel der Selbsterkenntnis erfassen, der sich bei aller Kontinuität der Motive zweifellos vollzogen hat, so ist an einer ganz anderen Stelle anzusetzen. Das innovative Moment der sokratisch-platonischen Selbsterkenntnis zeigt sich in einer vergleichenden Betrachtung der Identitätskonzeptionen. Wie in der Untersuchung aufgezeigt werden konnte, gelangen Sokrates und Platon zu Dimensionen des Selbst, die von der vorphilosophischen Problemdiskussion noch kaum erahnt worden sind. Wir finden bei Platon eine differenzierte Reflexion der personalen Identität vor, die unter Einbezug des Motivs der Selbstprüfung und Selbstsorge zu einer komplexen Bildungskonzeption gestaltet wird. Im Folgenden sollen die wesentlichen Transformationen in verdichteter Form noch einmal skizziert werden. 1) Die platonische Selbsterkenntnis zeichnet sich durch eine philosophische Reflexion des Selbstbegriffs aus. Die Frage nach der personalen Identität wird hier in ganz neuer Weise gestellt und beantwortet. Die in Dichtung und Historiographie thematisierte apollinische Selbstbesinnung basiert auf einem noch undifferenzierten, sehr weit gefassten Selbstbegriff, der sowohl äußere Besitzverhältnisse als auch physische Kräfte und seelisch-geistige Potenzen umgreift und primär an materiellen und sozialen Identifikationsmustern orientiert ist. Durch die philosophische Frage nach dem Selbst werden die verschiedenen Identitätsbereiche zum Gegenstand einer begrifflichen Reflexion gemacht. Platon nimmt in seiner Identitätsanalyse eine klare Unterscheidung der einzelnen Sphären vor und erörtert diese in ihren spezifischen Leistungen. Dabei wird ein vertiefter, an funktionalen Kriterien orientierter Selbstbegriff entwickelt. Die Personalität bestimmt sich nach platonischer Auffassung von jener Instanz her, die für die Erfüllung der menschlichen Aufgaben am wesentlichsten ist und die einzelnen Handlungsvollzüge steuert und koordiniert. Das ist die Seele und im engeren Sinn das Vernunftselbst, das als Steuerungszentrum der Seele kenntlich gemacht wird. 2) Die Selbsterkenntnis ist bei Platon an eine Prüfung der identitätsstiftenden Wertvorstellungen gebunden, die kathartische Effekte besitzt und sukzessive in eine konstruktive Erkenntnissuche übergeht. Damit wird gegenüber der apollinischen Selbstbesinnung, die vornehmlich auf die zeitliche Begrenztheit des menschlichen Lebens, die Instabilität und den beschränkten Umfang der Lebenskräfte und Güter reflektiert und dabei die herkömmlichen Wert- und

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Zielvorstellungen ungeprüft zugrunde legt, eine ganze neue Richtung der Selbstreflexion eingeschlagen. 3) Die mythische Fundierung der traditionellen Selbsterkenntnis wird bei Platon durch eine rationale Grundlegung ersetzt, die sich nicht mehr an anthropomorphen, die menschlichen Kräfte potenzierenden Gottesvorstellungen orientiert, sondern die Gesetze der Vernunft zum Maßstab der Selbstprüfung erhebt. 4) Die platonische Konzeption der epistemischen Selbstbeziehung ist mit einem besonderen, höchst anspruchsvollen Erkenntnisverfahren verknüpft, das durch dialogische, elenktische und noetische Momente charakterisiert ist und als kritisch-konstruktive Dialektik bezeichnet werden kann. 5) Die von Platon konzipierte Selbsterkenntnis stellt keinen singulären Erkenntnisakt dar, sondern zeichnet sich durch die Merkmale der Prozessualität und prinzipiellen Unabschließbarkeit aus. Das dynamische, prozessuale Moment findet sich zwar auch in der vorphilosophischen Reflexion. In Herodots Kroisos-Logos wird unter Rückgriff auf die Geschichte von Aufstieg und Fall des lydischen Herrschers eine Genese der Selbsterkenntnis dargestellt, die zeitlich ausgedehnt ist und über mehrere Etappen hinweg verläuft. Bei Platon gestaltet sich jedoch der Prozess der Selbstwerdung viel komplexer und differenzierter und ist zudem an anspruchsvolle methodische Verfahren gebunden. Wir finden hier einen Erkenntnisprozess vor, der verschiedene Reflexionsebenen und Wissensformen umfasst und durch eine zunehmende Vertiefung des Selbstverständnisses charakterisiert ist. In diesem Prozess geht es wesentlich um die Befreiung von leiblich-materiellen Identifikationsmustern und die Ausbildung eines geistigen Vernunftselbst, das in der Handlungs- und Urteilspraxis als orientierende, steuernde Instanz fungiert. Die These dieser Untersuchung ist, dass sich die verschiedenen Konzepte der Selbsterkenntnis, die bei Platon zur Darstellung gelangen, in diese Bewegung einordnen lassen. Der Erkenntnisprozess hebt mit einer Selbstprüfung an, die auf der Grundlage einer kritischen Betrachtung der Handlungsmuster und Wertüberzeugungen die Verfassung der seelischen Kräfte untersucht. Die gelingende Selbstprüfung führt zur Erkenntnis der Tugenddefizite und des Mangels an begründender Vernunfteinsicht (Erkenntnis des Nichtwissens). Die Erkenntnis des Nichtwissens, die sowohl die Möglichkeit eines konstruktiven Sachbezugs begründet, als auch dessen Notwendigkeit existenziell erfahrbar macht, konstituiert eine suchende, philosophische Haltung, die sich in der Wahrheitssuche verwirklicht. Gegenstand der Suche ist die beste Verfassung der seelischen Kräfte, also das tugendhafte, geordnete Selbst, das nicht gegeben, sondern aufgegeben ist. Das letzte Ziel der platonischen Erkenntnisbewegung ist die Erkenntnis des Guten, die im Alkibiades I als höchste Form der Selbsterkenntnis angedeutet wird. Mit dem Guten ist im Kontext der Identitätsproble-

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Schlussbetrachtung

matik eine fundierende Dimension der Personalität gemeint, die für die Erfüllung der seelischen Funktionen und der Leistungsfähigkeit des Vernunftselbst maßgeblich ist. Versteht man das Gute, wie in der Untersuchung vorgeschlagen, als Vernunftgrund, der als Potenzialität gegeben ist und in einer Aufstiegsbewegung ausgebildet werden kann, so lässt sich der Prozess der Selbsterkenntnis als eine umfassende Persönlichkeitsbildung deuten. In diesen Erkenntnisprozess eingebettet ist eine Reflexion auf die Funktion der Seele als Steuerungszentrum der Person (Erkenntnis der Seele). Diese Art von Selbstreflexion hat im Rahmen der platonischen Bildungskonzeption zum einen die Aufgabe, die Wahrheitssuche anzuregen und deren Möglichkeit und Notwendigkeit aufzuzeigen. Zum anderen aber dient sie dazu, sich im Verlauf des Erkenntnisprozesses des Stellenwertes des Vernunftselbst zu vergewissern und die Selbstbildung in den ausgreifenden Horizont eines göttlichen Ganzen einzuordnen. Wie insbesondere im Phaidros (229ef.) erkennbar wird, hat Platon dabei ein Spiralmodell vor Augen, das eine Realisierung der Seelenreflexion im Wechsel mit den anderen Formen der Selbsterkenntnis vorsieht. Dabei wird das Vernunftselbst des Menschen zunehmend besser erkannt, da es im Progress der kathartisch-dialektischen Erkenntnisbewegung immer deutlicher und reiner zum Vorschein tritt.7 Im Fazit ist Folgendes festzuhalten: Die von Sokrates und Platon vorgenommene Transformation des Selbsterkenntnis-Motivs besteht in einer Vertiefung, Dynamisierung und Entmythologisierung der epistemischen Selbstbeziehung. Die philosophische Konzeption zeichnet sich durch eine intensivierte Selbsterforschung aus, die verschiedene Elemente zur Einheit eines Bildungsprozesses synthetisiert. Die Selbsterkenntnis bei Platon umfasst das kritisch-kathartische Moment der Selbstprüfung, ein psychologisches Selbstbewusstsein und die im Rahmen der Wahrheitssuche erlangte noetische Einsicht in die Tugend und das Gute, die mit einer Selbstkonstitution verbunden ist. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Transformationen werden die Grenzen der traditionellen Selbstbesinnung deutlich sichtbar. Die Beschränktheit der apollinischen Selbsterkenntnis ist wohl nicht zuletzt in der mythischen Einbindung und der besonderen Funktion dieser Einsicht begründet. Als Korrektiv der Selbstüberschätzung und Selbstvergöttlichung ist sie auf eine Grenzbestimmung gerichtet, die sich an der herkömmlichen anthropomorphen Gottesvorstellung orientiert. Die apollinische Ethik ist Ausdruck einer mythischreligiösen Sichtweise, die das menschliche Geschehen von individuellen Göt7 Diese Art von Selbstreflexion besitzt jedoch bei aller Bedeutsamkeit für das eigene Selbstverständnis nicht die Kraft, die Wahrheitssuche auszulösen und nachhaltig zu motivieren. Als kausales und konstitutives Moment der Suche fungiert bei Platon die Erkenntnis des Nichtwissens.

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terpersönlichkeiten abhängig weiß und auf die Harmonie zwischen Gott und Mensch zielt. Die platonische Selbsterkenntnis hingegen steht im Kontext der philosophischen Ursachensuche, die nach der !qw¶ forscht und intentional auf das steuernde Prinzip, auf Anfänge und Gründe ausgerichtet ist. Bei aller erkennbaren Anknüpfung an die apollinisch-delphische Tradition bewegt sie sich somit von vornherein auf einer ganz anderen Ebene. Spätestens an dieser Stelle zeigen sich die Grenzen der vorliegenden Untersuchung. Um die von Platon konzipierte Selbsterkenntnis in ihrer ganzen Bedeutung und Intention erfassen zu können, reicht es nicht aus, sie im Zusammenhang mit der dichterischreligiösen Tradition zu betrachten. Es ist zudem notwendig, den Kontext der vorsokratischen Philosophie in die Untersuchung einzubeziehen. Platon ist erkennbar von beiden Traditionen beeinflusst. Die Selbsterkenntnis bildet dabei eine Art Kristallisationspunkt. In der platonischen Selbsterkenntnis schmelzen die dichterisch-religiöse Aufforderung zur Selbstbesinnung und die frühgriechische Prinzipienforschung und Nous-Reflexion zur Einheit zusammen. Die Ursachenforschung wird bei Sokrates und Platon zur Selbsterkenntnis und die Selbsterkenntnis zur Erforschung der !qw¶.

Nachwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/15 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift im Fach Philosophie angenommen. Mein besonderer Dank gilt Volker Gerhardt, der mir 2008 die Möglichkeit eröffnet hat, an der Humboldt-Universität in Freiheit und Eigenständigkeit zu lehren und zu forschen, und das Forschungsprojekt über viele Jahre hinweg begleitet hat. Sein Engagement und seine Umsicht haben in schwierigen Situationen geholfen und wesentlich zum Erfolg der Sache beigetragen. Für wohlwollende Unterstützung danke ich zudem dem Institut für Philosophie an der HU Berlin, vor allem Geert Keil, Thomas Schmidt und Olaf Müller. Mein herzlicher Dank geht auch an die drei weiteren Gutachter der Habilitationsschrift: Stephen Menn (McGill University Montreal), der mir in langen Gesprächen wertvolle Anregungen gegeben und durch seine fachliche Kompetenz und philologische Gründlichkeit zu der jetzt vorliegenden Fassung der Arbeit entscheidend beigetragen hat, Barbara Zehnpfennig (Universität Passau), die die Habilitationsschrift mit philosophischem Sachverstand und Platon-Expertise gelesen und mir hilfreiche methodische Hinweise gegeben hat, und Wolfgang Detel (Goethe-Universität Frankfurt a. Main), dessen kritische Anmerkungen mir Anstöße zur erneuten Prüfung des Textes vermittelt haben. Rudolf Schrastetter (Freie Universität Berlin) sei an dieser Stelle für die Befreiung vom dogmatischen ›Platonismus‹ und einen ganz neuen Blick auf Platon gedankt. Für kritische Korrektur und Lektüre, hilfreiche Hinweise und anderweitigen Beistand danke ich Jacqueline Karl, Viktoria Bachmann, Raul Heimann, Ulrich Kühn, Hendrik Hansen, Monika Budde, Anke Adamik. Schließlich danke ich ganz besonders der Fritz Thyssen Stiftung: Sie hat diese Arbeit mit einer Projektförderung ermöglicht und die Veröffentlichung mit einer Druckkostenbeihilfe gefördert. Berlin, im März 2017

Bettina Fröhlich

Literaturverzeichnis

1.

Siglenverzeichnis

a)

Antike Autoren und Werktitel

Alle antiken Autoren und Werktitel werden nach DNP (Bd. 1, XXXIX–XLVII) abgekürzt.

b)

Lexika, Wörterbücher, Standardwerke

DKP DNP GdH GGR GR HWPh LAW RAC ThWbNT RE PW

c)

Der kleine Pauly Der neue Pauly Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen Nilsson, Geschichte der griechischen Religion Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche Historisches Wörterbuch der Philosophie Lexikon der Alten Welt Reallexikon für Antike und Christentum Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Parke/Wormell, The Delphic Oracle

Quellensammlungen

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2.

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Sachregister

Agathon 228, 338, 342, 349, 438, 460, 463– 468, 471, 483f., 489, 498 Agon 60, 68, 94, 516 Anmaßung 33f., 61, 74, 79, 86, 88, 138f., 167, 272 apollinisch 11–19, 32–43, 52, 61–63, 67, 71–73, 88–90, 103, 105–107, 112–116, 119–122, 124f., 130, 132–141, 154f., 158–161, 164f., 174, 185, 207–222, 225, 229, 233, 245, 255, 257f., 265f., 272, 274f., 281f., 313–315, 351, 523–526, 528f. Aporie 228, 240, 253, 309, 325–327, 329, 334, 382, 387, 496 Arete 24, 104, 145f., 152, 174, 219, 253 Aufstieg 12, 117, 230, 314, 350, 352, 362, 366, 370, 392, 413, 416, 423, 451, 460, 467, 469, 471, 474, 485–487, 490–492, 494–499, 509f., 512–521, 523f., 528 Auge der Seele 391, 404, 408, 438, 464, 496 Bedürfnis 176, 219, 296, 298, 302, 304– 307, 338f., 340f., 470f. Begierde 76, 78, 211f., 215, 345–347, 422f., 479, 500, 504 Begrenztheit 36f., 52, 61f., 71, 87, 102f., 106, 115, 130, 134, 138–141, 149, 151, 154f., 162, 165f., 172, 176, 209–211, 214, 218, 220, 222, 226, 229, 255f., 336, 352, 525f. Begründung 126, 151f., 154, 200, 207f., 211f., 216, 220, 267f., 285, 299, 311f.,

341, 358, 365f., 372, 379f., 385, 437f., 442–444, 446, 495, 508, 521 Besonnenheit 37f., 40, 86, 127f., 151– 154, 156f., 166, 177, 191, 199, 206, 208, 273, 275, 294, 358, 413, 423, 426f., 432, 439, 481, 489 Bestheit 24, 48, 238, 243f., 254, 267, 276, 283, 286, 291, 296, 298, 311, 314, 329, 336, 354f., 359, 400f., 403, 408, 413, 418, 423, 429, 436–438, 443, 447, 458, 462, 466, 469, 474f., 480, 483, 493–495, 497, 503, 512 Bildung 66, 167, 241, 253, 314, 330, 332, 337, 347, 370, 387, 393, 399f., 411f., 418, 421–423, 434, 437f., 458, 464, 481, 485, 488–491, 497, 500, 518 Condicio humana 109, 114, 120, 143, 177, 204 Daimonion 234, 390 Delphi 14, 16, 19, 30f., 44–47, 49–53, 57f., 63–67, 70f., 88–90, 106, 132f., 156, 158– 160, 170, 183, 186, 191, 196, 233, 235f., 240f., 245–248, 255, 270, 274, 281, 285, 290, 417, 427 delphisch 11f., 14–21, 44–52, 62f., 71–73, 88–90, 131f., 140, 158–160, 170, 174f., 188, 192f., 213, 215, 236–240, 247–258, 261f., 269–275, 523, 529 – Ethik (siehe Ethik) – Legenden 17, 52–63, 250–253 – Orakel (siehe Orakel)

568 – Spruch 53–55, 60, 63–70, 121, 236– 243, 290, 417, 421, 427 Dialektik 232, 260, 311, 349, 356, 358– 364, 366, 369f., 377–379, 381, 386f., 445, 494, 507–512, 516, 527 Dialog 268, 288–299, 383–385, 407, 411, 419–421, 431–433, 442, 514–517 Dihairese 349 Doxa 145, 310, 327 Doxosophia 231, 289, 305f., 308, 332f., 339, 381, 417, 421, 425, 441, 448f. Dynamis 61, 63, 112, 122, 130, 133f., 149, 212, 214, 342, 394, 455, 466, 468, 471, 486, 498 Ehrfurcht 34f., 82, 87, 127, 129, 151, 213, 219, 256 Ehrgeiz 69, 82, 85, 400 Eine, das 371, 375, 380, 446, 486, 501–507, 509, 518f. Eintagswesen 91, 313 Elenchos 267, 327, 331, 354–356, 359– 364, 381, 383, 392, 417, 449f., 517 Elenktik 232, 299, 354, 362f., 381 Endlichkeit 36f., 41, 108, 114, 135, 140, 151, 209–211, 217, 226, 344, 352 ephemer 93f., 166, 215 Ephemerität 103, 166 Ergon 270, 345 Erkenntnis 34f., 140f., 344–352, 365– 375, 376–382 – des Guten 23f., 228, 230, 287, 295, 299–309, 336f., 342, 370, 429f., 436f., 443, 450f., 456–460, 468f., 481–483, 492–497, 509, 512, 518, 520f., 527 – des Nichtwissens 21f., 24, 229–231, 256f., 259f., 263, 265, 267, 287–290, 306–309, 312, 319, 324f., 330, 335, 337, 340, 342, 344, 352f., 356, 363, 379f., 382f., 388, 416–418, 420f., 425, 441, 445, 447–449, 510, 527f. Eros 94, 287, 303, 337–343, 345, 349, 352– 355, 393 Erzeugung 338, 345, 353, 485 Erziehung 64, 73, 199, 281, 330, 340, 347, 413

Sachregister

Ethik – apollinische 13–18, 32–44, 73, 208– 216, 528 – delphische 11f., 14–18, 51f., 60–63, 170f., 174f., 192–194, 250–253, 254– 258, 523 – des Maßes 51, 70, 139f., 151–158, 317, 120f., 126, 116–130, 219f. – platonische 13, 299–313, 346–348, 399–403, 421–424, 470f., 496f. Eudaimonia 13, 106, 117f., 121, 147–149, 156f., 198, 208, 213, 222, 251, 261, 264, 267, 295, 303–305, 310, 402, 447, 470, 491 Eunomia 70, 79 Fatum 195, 197f., 204 Flüchtigkeit 95, 98, 134f., 146, 214, 313f., 327 Freiheit 13, 68, 78, 82, 106, 152, 154, 168, 193, 196f., 214, 247, 274, 293, 398, 422, 426, 504, 531 Freundschaft 264, 335, 480, 491 Frevel 33f., 36, 42f., 75, 80, 82f., 137, 178, 192, 196f. Frömmigkeit 49, 52–54, 58f., 72, 103, 106, 112, 121, 128, 158, 183, 185, 190, 194, 203, 208, 212f., 216, 219, 256, 258, 269f., 278, 282, 293f., 301, 316f. Ganze, das 277, 283, 286, 314, 381, 403, 410f., 418, 461, 468, 477, 480f., 491, 495 Ganzheit 29, 215f., 467, 475f., 490f., 525 Gebrauch 142, 242f., 292, 295, 298, 300, 309f., 330, 394–399, 404, 410f., 414, 426, 472, 476f., 479, 496–498 Gemeinschaft 73, 77, 94, 120, 138, 216f., 293–296, 305, 311, 346, 359, 401, 418, 420, 422, 436, 438, 459, 491, 493, 504, 506 Geometrie 428, 447, 508f. Gerechtigkeit 72, 79, 81, 128, 204, 212, 219, 243, 247, 267f., 273, 275, 293f., 297, 305, 328, 360, 380, 393, 413, 417, 423, 459, 478, 481, 485, 488f., 493f., 502f., 510

Sachregister

Gesetz 69f., 88, 165, 203f., 245, 296, 329, 406, 488, 510, 527 Gesetzlichkeit 127, 204, 219, 329, 396, 510 Glück 48, 52, 57–59, 74–78, 84–86, 92, 94, 103–106, 114f., 118, 121f., 127–130, 139, 141–148, 151, 156f., 162, 168–172, 175f., 178–181, 185–187, 198f., 203f., 207, 209, 213–215, 218–220, 242, 252f., 303f. Gott 27–32, 32–44, 44–52, 63, 79, 83–85, 109–116, 131f., 137, 150, 171f., 178– 180, 183, 188f., 192f., 204, 209f., 216, 221, 265f., 269–284, 350, 409, 414f., 451–456, 460–469, 487–491, 523–526 Gotteserkenntnis 36, 229, 414, 453 gottgleich 81f., 86, 176, 245 Gottheit 50, 53, 59, 83, 115f., 123, 127, 171f., 174f., 178–182, 188f., 192, 204, 269, 277, 414, 461, 485, 488 Göttliche, das 11, 13, 52, 63, 83, 106, 111f., 115, 137, 171f., 174, 181, 204, 209, 258, 270, 276f., 278, 282, 316f., 349f., 351f., 404, 407, 409, 414, 422, 438, 452f., 455f., 461, 485, 489f., 497f., 523, 525 Grenzen 13, 63, 75, 77, 87, 106, 112, 114f., 116, 120, 127, 146, 148, 149, 164, 169, 208, 210, 213, 214, 220, 221, 245, 255, 265f., 281, 312, 351f., 523, 526 Gute, das 24, 282f., 293, 296f., 299–307, 310, 312, 336–338, 342, 352, 356, 366, 369, 377, 410, 422f., 429f., 432f., 437f., 443, 447f., 450, 457, 459, 463–468, 470f., 473–475, 481–484, 486, 489, 491–499, 509f., 512f., 517f., 520f., 528 Güter 57–59, 61, 74–76, 78, 81, 94, 99, 114, 118, 122, 130, 138, 140, 148, 155, 157, 163, 170, 172–176, 185, 188, 198, 209– 212, 217, 219f., 293, 295, 297–300, 303, 309f., 322, 330, 394, 399, 402, 480, 498, 501f., 504, 524, 526 Gut, größtes 156f., 288, 357, 359, 447, 511f. Habsucht 69, 78, 215, 294, 347 Hebammenkunst 290, 367, 383 Heilmittel 13, 31, 70, 73, 267, 272

569 Hexis 335, 344, 351–353, 363, 379, 382f., 449 human 33, 104f., 107, 122, 124, 143, 154, 167, 170, 181, 184, 187, 199, 202, 258, 267, 410, 448, 469 Humanität 154, 156, 165, 187, 200 Hybris 11, 13, 33f., 61f., 69f., 72–88, 104, 107f., 118, 121, 127, 129f., 133f., 137, 139, 152, 155f., 162, 164–167, 169f., 178f., 182, 193, 201, 207f., 210f., 215, 219, 250f., 256, 258, 525 Hybristes 82, 86f., 169, 208, 245, 255, 259 Hypothese 311, 496, 507, 509–513, 515– 520 Idee 362, 445, 457, 461–469, 473f., 481, 486, 493–499, 502, 505–510, 512, 520 Idee des Guten 362, 457, 461–469, 473f., 481, 493–496, 498f., 509, 512, 520 Identität 13, 19, 21f., 92–94, 98f., 102, 116, 120, 217f., 222, 237, 244, 299, 309, 313f., 331f., 340, 345, 391, 394, 395–397, 401, 425, 460, 470, 475f., 478f., 482, 496, 526f. Instabilität 60, 69, 93, 161, 177, 207, 209, 217f., 314, 330, 526 Katharsis 15, 272, 381, 422f., 490, 501 Kondition, menschliche 120, 185, 207 Kosmos 111, 278, 415, 461–463, 468, 491, 494 Kyklos 142, 203f. Leib 68, 81, 97, 100, 104, 150, 238, 294, 318, 324, 341, 345f., 388, 394–400, 402, 409, 412, 422, 426, 440, 465f., 476f., 479, 481, 504, 524 Leistungsethik 117–119, 219 Liebe 39, 41, 76, 133, 274f., 295, 332, 334, 354f., 404, 412, 437, 502, 504 Logos 35–40, 45, 71, 136, 138, 141, 150, 152, 158–163, 165–168, 185, 188, 192, 194, 207, 212, 220f., 237, 255f., 320–322, 338, 342f., 345, 355–358, 365f., 369, 376f., 379f., 382, 418, 438f., 442, 444, 449, 515, 524, 527

570 Maieutik 351, 383f., 442 Mantik 18, 28, 44, 51f., 71, 83, 149, 237, 257, 271 Maß 51, 63f., 70, 75f., 79, 81, 104f., 119– 130, 139, 151f., 154f., 201, 273, 283, 317, 347, 485, 488, 526 Maßethik 116, 118f., 126–130, 219f. Mäßigung 17, 32, 35f., 51, 60, 64, 70, 105, 108f., 118f., 121, 126–130, 139, 148, 151, 154, 156, 162, 199f., 211–213, 215, 219– 221, 256, 273, 329, 346, 401 Maßlosigkeit 31, 74, 76, 78, 127, 152, 166f., 208, 297, 347 Mathematik 428, 447, 511 Megalomanie 87, 169, 215 Meinung, richtige 309–313, 341, 351, 357, 365, 384, 386 Mensch, innerer 346, 391, 410 Mysterienkult, eleusinischer 219, 338, 345, 349 mystisch 14, 366, 368, 371, 455, 486 Mythos 28, 45, 75f., 105, 118, 120, 266, 277, 317, 440, 524 Neid 33, 59, 79, 84f., 104, 148, 171, 175f., 178, 180, 204, 210, 272 Nemesis 178–180 Nichtigkeit 95, 102f., 113, 137, 143–146, 149, 314, 488 Nichts 94–97, 104, 112f., 135, 143–146, 150 Nichtwissen 244, 255f., 258, 262, 264, 267, 288, 306, 308, 312, 319, 322f., 325f., 329, 332f., 335–337, 339, 342, 353, 357, 363, 382, 388, 417f., 420f., 424, 431, 439, 442, 444–446, 448f., 510 Noesis 366–368, 370f., 374 noetisch 321, 344, 356, 365f., 370–374, 376–379, 385, 447, 463, 494f., 512, 527f. Nous 12, 228, 246, 275f., 278, 282–284, 321f., 356, 358, 365f., 368–372, 374– 377, 385, 415f., 455, 460–465, 467–469, 471–474, 484, 489, 495, 529 Nutzen 188, 244, 270, 289, 290, 294, 295, 297f., 309f., 334, 355, 385, 429f., 433, 435–438, 446f., 480, 496, 498, 503

Sachregister

Orakel 14, 18f., 33f., 41, 44f., 47–50, 52– 58, 63, 65, 70–72, 83, 90, 158, 182–185, 192–195, 197f., 221, 233f., 240, 242, 245, 247–253, 255–258, 260–262, 264–268, 271, 274, 279, 281, 285, 312, 427 Paideia 419, 438, 497, 499 Periagoge 498–501, 509 Person 19, 39, 73, 88, 98–102, 115f., 120, 217f., 244, 278, 285, 302f., 331f., 340, 345, 375, 380, 387, 391, 393–399, 405– 407, 428, 467, 470f., 475–487, 512, 518, 526 Persönlichkeit 106, 167, 193, 196, 254, 260, 262, 274, 319, 436, 483 Persönlichkeitsbildung 24, 215, 231, 332, 351, 399, 416, 419, 424, 528 Pessimismus 103f., 106, 208, 525 Pharmakon 211 Philia 334, 337, 341, 398 Phronesis 153, 215, 256, 298f., 320f. Phthonos 84, 171, 178–180, 204 Physis 30f., 108, 138, 197, 214, 243, 309, 340, 348, 393, 396, 398, 426, 465, 496 Pragma 15, 265f., 270, 280 Psyche 97f., 145, 407, 421f., 479f., 484 Pythia 17, 49, 53–60, 65, 85, 88–90, 148, 183, 192–194, 240, 242, 247, 250–254, 256f., 260f., 271 Recht 72, 77, 79, 83, 86f., 127, 130, 138, 213, 294, 299, 317, 328, 495 Rechtlichkeit 72, 79, 127, 129f., 212f., 219 Regierung 243, 397f., 412, 460, 474, 477, 479 Sache 239, 299, 309f., 320f., 324f., 333f., 342f., 348f., 356, 358, 360–362, 365f., 368–386, 421, 446, 487, 501–512, 512– 521 Sachkompetenz 211, 309, 321, 440, 448 Schatten 90f., 94–96, 98–100, 102, 104, 133–135, 137, 144f., 311–314, 370, 519 Schattenbild 39, 41, 99f., 132, 135, 144f., 311, 314, 383 Schau 366f., 371f., 373, 455

Sachregister

Schein 134f., 143–149, 175, 289, 297, 302, 304f., 355, 380f., 383, 401, 433, 448f., 513 Schicksal 37, 39, 52, 63, 79, 83, 86, 106, 109, 113f., 124, 133f., 139, 141f., 146– 148, 152, 156, 166, 168, 173, 176, 192, 194–198, 204, 220, 269, 271, 314 Schuld 34, 74, 79f., 82, 84f., 143f., 149, 164, 180f., 189, 195, 198, 517 Seele 19, 22f., 95–102, 145, 218, 230, 237f., 243, 272, 285, 309–311, 345–354, 388, 396f., 399–403, 403–416, 421–426, 451–456, 458, 466, 471f., 475–483, 491, 500f., 526, 528 Seelennahrung 346, 348, 350, 490 Seelentherapie 13, 211, 228, 239 Seelenumlauf 349–351 Sein 37, 73, 93–96, 101f., 104, 106, 113, 115, 134–140, 145–150, 154f., 162, 172, 203, 209, 216, 302, 304f., 313–315, 345, 352, 371, 397f., 406, 431, 467, 478, 481, 491, 495, 503–505, 507, 518, 525 Selbstbeherrschung 40, 43, 127, 479, 481, 487 Selbstbesinnung 11, 13f., 16f., 34f., 40f., 51f., 60f., 72f., 88, 103f., 114, 116, 119, 121, 125f., 134, 136f., 139, 152, 155, 161f., 165, 207f., 214, 222, 240, 244, 255, 285, 313, 315, 456, 523, 525f., 528f. Selbstbildung 167, 212, 401, 413, 423, 485f., 488–490, 528 Selbsterkenntnis 11–24, 208–216, 285f., 523–529 – apollinische 13f., 16–18, 35, 39, 62, 71–73, 88, 106, 125, 134, 172, 208–222, 313, 525f. – platonische 12, 18–24, 225–232, 456, 526–529 – sokratische 228, 244, 247, 255f., 264, 281, 285f., 431, 442, 445, 447f. – vorphilosophische 12f., 16, 72, 116, 135, 140, 154, 216f., 220, 222, 244f., 313f., 456, 524, 526f. Selbstformung 11, 13, 22, 211f., 215, 228, 239, 262, 332, 351, 388, 415f., 419, 421, 426, 491f.

571 Selbstliebe 331–333, 518 Selbstprüfung 18, 20f., 52, 240–243, 255f., 258, 260, 280, 284–286, 288f., 308, 312, 326, 331, 339, 359, 383, 386f., 400, 418f., 445, 450, 513, 526–528 Selbstsorge 15, 21f., 24, 228–230, 238, 268, 282, 291, 332, 390–394, 396, 399– 403, 407f., 410, 412–414, 416, 419–421, 424–426, 475, 477, 479, 481, 526 Selbsttätigkeit 55, 60, 237, 253, 290, 398 Selbsttäuschung 221, 307, 315, 321, 332, 339, 341, 490 Selbstüberschätzung 31, 36, 61, 76, 78, 85–87, 118, 152, 162, 169, 176, 182, 201, 207, 218, 255, 261, 528 Selbstverantwortung 13, 193, 196, 214, 307, 314, 334 Selbstvergöttlichung 81, 87, 118, 528 Selbstverkennung 87, 177, 193, 207, 237f., 256, 258, 306, 333, 340 Sieben Weise 55–58, 65–67, 170, 259, 261 Sinnesgesundheit 154, 211 Sophia 104, 253f., 259–264, 266, 283, 288f., 293, 335, 337f., 341f., 349, 387, 449, 476, 488 Sophisten 248f., 253, 257, 261, 283, 323– 325, 328, 330, 334, 360, 433–435, 440, 450 Sophistik 246, 258, 278, 430, 433–435, 440f., 449f. Sophrosyne 11f., 19, 38, 40f., 51, 73, 86, 126f., 137, 139, 148, 151–153, 156f., 190, 200, 211–215, 219, 255f., 270f., 291, 293f., 337, 358, 426–429, 433, 439, 442– 444, 449, 478, 488 Sorge 22, 30f., 214, 230, 238, 243, 270, 289, 316, 354, 391f., 394, 399–403, 407, 409, 412, 419f., 424–426, 437, 479, 481 Sterblichen, die 37f., 42, 75, 78f., 92, 95, 104, 107, 113, 117, 121f., 124, 127, 135– 137, 143, 147, 149–151, 155f., 171, 179, 210, 212, 218–221, 271, 277, 279, 314, 345f., 350, 352, 409, 524 Sterblichkeit 36–39, 61f., 106–108, 115, 122, 124, 128, 135, 140, 152, 209f., 352

572 Stolz 43, 77, 81f., 84f., 88, 138, 180, 248, 258 Strafe 33, 44, 74, 76f., 79–81, 85, 133, 137, 178, 187f., 196f., 280 Suche 24, 33, 50, 60, 193f., 207, 211f., 221f., 237, 240, 253, 256, 258, 261, 264, 266, 305, 309, 320, 323, 325f., 333–335, 340, 352, 356–360, 376f., 382, 385–387, 425, 446, 470, 495, 514, 519, 521, 527 Tagwesen 40, 90, 92f. Tapferkeit 128, 219, 291f., 300, 319–322, 332, 358, 379f., 384, 413, 423, 478, 481, 502 Techne 259, 283, 444, 476 Theologie 11–13, 50, 57, 62f., 213, 255, 275–278, 282–284, 414, 447, 455, 461, 472, 496 Traum 90f., 94–99, 101f., 180–182, 313, 348, 386 Traumbild 39, 95, 99–101, 135 Tugend 48, 58, 126–128, 139, 153, 212– 216, 219, 238, 243f., 254, 264, 272, 286, 291–299, 309–315, 359f., 380, 383f., 402, 408, 412–415, 422f., 425, 437, 458f., 478, 480f., 483, 486, 488f., 494–497, 512, 518, 521 Tugendkanon 128 Tyche 92

Übel 29, 31, 69, 139, 180, 192, 201, 271f., 289, 296–298, 306, 322, 333–335, 337, 340, 422, 449 Überhebung 31, 60, 74, 77–79, 81f., 85, 87, 104, 106, 109, 129, 169, 251 Umkehr 82, 164, 205, 207, 383, 416, 498 Umlenkung 164, 422, 438, 458, 497–500, 507, 509 Unbeständigkeit 37f., 41, 59–62, 93f., 98, 104, 114, 134f., 138, 146, 148–150, 161, 168, 170f., 181, 185, 189, 204, 209, 211, 214, 217, 251, 305, 311, 313f., 327, 340, 384, 417 Unglück 30, 40, 74, 79, 81, 87, 92, 94, 104, 114, 118, 141f., 149, 156f., 164, 171, 173,

Sachregister

176, 178, 180–182, 186, 191–193, 196f., 203–205, 209, 330 Unsterblichen, die 35–37, 44, 97, 100, 109, 111, 113, 135, 137, 150, 209f., 212, 277, 422, 489 Unsterblichkeit 36, 101, 113, 174, 345f. Unverstand 31, 164, 166f., 263, 271f., 292, 296, 306, 328, 334–340, 342, 417, 425, 515 Ursache 128, 171, 181, 246, 276, 278, 282f., 284, 306, 336f., 461f., 464–467, 469, 472f., 476, 483, 493–496, 520 Urteilskraft 125, 207, 211, 259, 261, 293, 411, 434, 439–441, 483, 492 Verantwortung 50, 78, 189, 193, 195, 200, 205, 215, 256, 307, 314, 320, 326–328, 334, 403, 409f., 477, 481, 487, 517 Vergänglichkeit 62, 107, 115, 122, 130, 140, 149f., 156, 162, 169, 314, 344–346, 351f. Vernunft 13, 70, 149, 157f., 191, 194, 199, 201, 208, 211, 215f., 245, 255, 258, 261, 267, 276, 282–284, 294, 296, 298f., 309f., 320–322, 331, 346–349, 384, 393, 404, 408, 410–416, 422, 425, 453, 455, 457f., 460–468, 477–482, 488, 497, 527 – praktische 157f., 208, 211f., 255, 293, 299f., 306, 322 Vernunfteinsicht 11, 293, 296, 298–300, 306, 309f., 312f., 315, 346, 349, 351, 365f., 368–372, 376f., 379, 381, 383– 385, 413f., 423, 425, 438, 459, 464, 466, 473, 482, 489, 495, 497, 499, 501, 509, 519–521, 527 Vernunftseele 22, 229, 306, 346, 391, 403f., 406, 409–411, 414, 419, 421, 424– 426, 436–438, 445, 453f., 458, 478, 482, 489, 523 Verstandesdenken 495, 508, 510, 512 Verstehen 320f., 351, 368–375, 378 Voraussetzungslose, das 459, 474, 507– 510, 512 Wahrheit 50, 83, 106, 145–148, 165, 168, 181, 185f., 198, 240, 249, 262, 265f., 269,

573

Sachregister

271, 274f., 280f., 304, 315f., 329, 346, 356, 358–360, 363f., 373, 382, 384, 386, 400f., 422, 459, 464, 466f., 474, 501, 503, 517, 520 Wahrheitsanspruch 252, 309, 381 Wahrheitseros 22, 229, 288, 333f., 338f., 342, 353, 360, 385 Wahrheitssuche 15, 262, 272, 286–288, 306, 325f., 333f., 353–356, 358, 360f., 363, 365, 378f., 381, 383, 385–387, 423– 425, 443, 470, 503, 514, 527f. Wandlung 163–166, 271 Wechselhaftigkeit 40, 59, 62, 92, 136, 162, 170–172, 174, 251, 313, 417 Weisheit 11, 52, 56f., 59, 64–67, 103, 128, 159, 174f., 186, 219, 221, 243, 246f., 250–252, 253f., 261f., 265f., 271, 282, 312, 338f., 353, 399, 408, 412, 425, 436f., 448, 457, 478, 489, 497, 501 – gnomische 11, 94, 175 – menschliche 262, 266, 283, 312, 353 Weisheitsliebe 334–337, 339 Weltseele 461

Wert 13, 42f., 57, 115f., 117, 146, 200, 218–222, 245, 264, 280f., 295–299, 301, 308–310, 312, 318–320, 333, 366, 379f., 385, 401, 409, 419, 430, 434, 439, 443, 446, 450, 458, 464, 470, 475, 477f., 496f. Wissen 33, 38, 50, 56, 114, 138, 140, 149, 194, 210, 220–222, 253f., 255, 259, 261, 265f., 283, 293–295, 307, 326, 337, 342f., 344, 347, 351, 356, 364–366, 371f., 376, 378, 412–414, 427–433, 436f., 443, 445f., 448f., 456, 470, 496 Wissenschaft 11, 238, 257, 261, 293, 364, 428f., 440, 446f., 494, 499f., 508, 510– 512, 520 Wissensillusion 306–308, 323, 339, 342, 353, 381, 448 Wissensprüfung 15, 22, 280, 286, 288, 333, 353, 355, 377, 379, 381, 383, 385– 387, 392, 418–421, 423f., 446–450, 518 Zeugung 345, 353 zyklisch 114, 150, 351f., 371