Nation und Emotion: Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert 9783666357732, 9783647357737, 3525357737, 9783525357736


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German Pages [404] Year 1995

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Nation und Emotion: Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert
 9783666357732, 9783647357737, 3525357737, 9783525357736

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 110 Nation und Emotion

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Nation und Emotion Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von

Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

95. 41830

Bayerische Staatsbibli \ill\ München

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nation und Emotion Deutschland und Frankreich im Vergleich; 19. und 20. Jahrhundert/ hrsg. von Etienne Francois ... - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 110) ISBN 3-525-35773-7 NE: Francois, Etienne [Hrsg.]; GT Gedruckt mit Unterstützung der. Deutschen Forschungsgemeinschaft und mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 1995, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Inhalt Vorwort

9

Einleitung ETIENNE FRANÇOIS / HANNES SIEGRIST / JAKOB VOGEL

Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen

13

Geschichte HEINZ-GERHARD HAUPT

Der Nationalismus in der neueren deutschen und französischen Geschichtswissenschaft

39

MAURICE AGULHON

Die nationale Frage in Frankreich: Geschichte und Anthropologie

56

OTTO DANN

Nationale Fragen in Deutschland: Kulturnation, Volksnation, Reichsnation ..

66

PIERRE NORA

Das Abenteuer der Lieux de memoire

83

ETIENNE FRANÇOIS

Von der wiedererlangten Nation zur »Nation wider Willen«. Kann man eine Geschichte der deutschen »Erinnerungsorte« schreiben?

93

Gedächtnis und Mythos STEFAN-LUDWIG HOFFMANN

Mythos und Geschichte. Leipziger Gedenkfeiern der Völkerschlacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert

111

5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

GERD KRUMEICH

Jeanne d'Arc von Deutschland aus gesehen

133

DANNY TROM

Natur und nationale Identität. Der Streit um den Schutz der ›Natur‹ um die Jahrhundertwende in Deutschland und Frankreich . . 1 4 7 PETER REICHEL

Steine des Anstoßes. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen

168

EMMANUEL TERRAY

Die unmögliche Erinnerung. Die Herstellung eines künstlichen nationalen Gedächtnisses in der DDR und ihr Mißlingen

189

Kult und Riten JAKOB VOGEL

Militärfeiern in Deutschland und Frankreich als Rituale der Nation (1871-1914)

199

ANNETTE MAAS

Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870/71

215

AVNER BEN-AMOS

Der letzte Gang des großen Mannes. Die Staatsbegräbnisse in Frankreichs Dritter Republik

232

VOLKER ACKERMANN

Staatsbegräbnisse in Deutschland von Wilhelm I. bis Willy Brandt ... 252 MARC ABÉLÈS

Die Inszenierung der republikanischen Nation durch François Mitterrand

2 74

Körper und Bewegung WOLEGANG KASCHUBA

Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ›nationaler‹ Alltagswelt 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

291

PIERRE ARNAUD / ANDRÉ GOUNOT

Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879-1889). Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte

300

JEAN-MICHEL FAURE

Nationalstaaten und Sport

321

ALFRED WAHL

Fußball und Nation in Frankreich und Deutschland

342

INGE BAXMANN

Der Körper der Nation

353

DANIELLE TARTAKOWSKY

Das Eigene und das Fremde. ›Nationale Muster‹ der Demonstrationskultur im Frankreich der Zwischenkriegszeit

366

Rückblicke und Ausblicke EMMANUEL TERRAY

Das Wirkliche und das Mögliche. Handeln und Identität, Nation und Emotion aus der Perspektive des Anthropologen

383

JÜRGEN KOCKA

Faszination und Kritik. Bemerkungen aus der Perspektive eines Sozialhistorikers

389

JEAN-FRANÇOIS SIRINELLI

Politische Kultur und nationale Emotionen

393

ALLAN MITCHELL

Nationalfeiertage im Vergleich: Deutschland, Frankreich und die USA

396

Autoren und Autorinnen

403

7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Vorwort Die in diesem Band vorgelegten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die vom 14. bis 16. Oktober 1993 in Berlin von der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin und dem Centre Marc Bloch (Deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften) veranstaltet wurde. Diese von Inge Baxmann, Etienne François, Jürgen Kocka, Hannes Siegrist, Emmanuel Terray und Jakob Vogel gemeinsam konzipierte Konferenz trug den Titel „Nation und Emotion: Die Repräsentation der Nation in Deutschland und Frankreich im Vergleich (19. und 20. Jahrhundert)“. Der Beschäftigung mit diesem Thema lagen die folgenden Motive, Anliegen und Ziele zugrunde: 1. Seit der Wende von 1989/90 sind Nation, Nationalstaat und Nationalbewußtsein verstärkt auf die Bühne der aktuellen Politik und in die Foren kollektiver Selbstverständigung zurückgekehrt. Der Nationalstaat als politisch-gesellschaftliches Organisationsprinzip, die Nationsbildung als gesellschaftlicher Prozeß und die Nation als kollektive Identität sind derzeit große Themen der Kulturwissenschaften und speziell der Geschichtswissenschaft. 2. Am Beispiel der deutschen und französischen Entwicklung im Zeitalter der Moderne wollte die Tagung eine Zwischenbilanz der neueren kulturgeschichtlichen und kulturanthropologischen Forschungen zur Geschichte der Nation ziehen. Die Nation sollte vor allem als kulturelle Praxis im weitesten Sinne des Wortes in den Blick kommen. Dabei wurde auf verschiedene Forschungsansätze zurückgegriffen, vor allem auf solche der in diesem Gebiet besonders aktiven und innovativen französischen Forschung. 3. Es galt aber auch, die neueren kulturgeschichtlichen Ansätze mit politik- und sozialhistorischen Konzepten der Nationsforschung zu konfrontieren und zu verknüpfen sowie die deutschen und die französischen Entwicklungen auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu befragen. Die Notwendigkeit einer vergleichenden Betrachtung drängte sich hier auf, da im Bereich der Kulturgeschichte und der Kulturanthropologie bisher nur wenige vergleichende Studien unternommen wurden. Wir danken, auch im Namen von Hannes Siegrist und Jakob Vogel, allen Institutionen und Personen, die zum Erfolg und zum Zustandekommen der Konferenz und der Publikation beigetragen haben: der Deutschen 9

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Forschungsgemeinschaft für ihre finanzielle Hilfe bei der Durchführung der Konferenz und einen Druckkostenzuschuß; der Geschwister Bochringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für eine Druckbeihilfe; den Übersetzerinnen und Übersetzern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und des Centre Marc Bloch; und nicht zuletzt den Herausgebern der Kritischen Studien für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe. Etienne François und Jürgen Focka

10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Einleitung

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ETIENNE FRANÇOIS / HANNES SIEGRIST / JAKOB VOGEL

Die Nation Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen

Die politische Herausforderung eines in den vergangenen Jahren in ganz Europa wieder virulent werdenden Nationalismus muß auch als eine Herausforderung für die Wissenschaft betrachtet werden. Denn sie hat die Nation lange Zeit für ein allmählich überholtes Konzept der europäischen Geschichte gehalten. Nun legt die politische Entwicklung der Wissenschaft nahe, sich mit neuen Fragestellungen und mit einem durch die Beobachtung der unmittelbaren Gegenwart geschärften Blick der Geschichte zweier Länder zuzuwenden, die - zeitweilig in unerbittlicher Konfrontation das heutige Verständnis der Nation geprägt haben: Frankreich und Deutschland. Das wiedererwachte Interesse an der Nation trifft sich dabei mit wissenschaftsinternen Entwicklungen, die seit den 1960er Jahren beigetragen haben, das Phänomen der Nation und des Nationalen in ein neues Licht zu rücken. Hatten bis dahin politik-, ideen- und personengeschichtliche Ansätze dominiert, wurde die historische Forschung zur Geschichte des Nationalismus nun zunächst von sozialhistorischen Studien bestimmt, die den Nationalismus als ein soziales Phänomen moderner Gesellschaften zu interpretieren versuchten.1 Entsprechend verlegte sich die Forschung weitgehend auf die Untersuchung von Nationalbewegungen und auf den Prozeß der äußeren und inneren Nationalstaatsbildung (»nation-building«) in Europa.2 In Abgrenzung zur älteren politik- und geistesgeschichtlichen Nationsforschung3 entwickelten sich Debatten über die Typologie von Nationen und Nationalismen (»Staatsnation versus Kulturnation«, »vom linken zum rechten Nationalismus«, »west-, mittel- und osteuropäischer Nationalismus«) sowie über Frühformen und Vorstufen des Nationalismus.4 Dabei zeigten sich fruchtbare Ansätze zu einer vergleichenden Nationsforschung, die aber nur selten systematisch fortgeführt wurden. Neben den sozialhistorischen Arbeiten hielt sich immer auch eine eher politik- und ideengeschichtlich orientierte Forschungsrichtung, die sich für Anregungen aus der Sozialgeschichte offen zeigte.5 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

In den achtziger Jahren geriet die auf die Geschichte des europäischen Nationalismus konzentrierte Forschung zunehmend in die Kritik von Historikern und Anthropologen, die sich mit Phänomenen des Nationalismus und der Ethnizität in der außereuropäischen Welt nach dem Ende der Dekolonialisierung befaßten.6 So unternahm Benedict Anderson den Versuch, die nicht-europäischen Erscheinungsformen des Nationalismus in ein an die Leninsche Imperialismus-Theorie angelehntes allgemeines Entwicklungsmodell einzubeziehen.7 Anderson legte seinem Essay über die »Imagined Communities« einen strikt konstruktivistischen Ansatz zu Grunde. Die Nation besteht danach weder als eine natürlich oder historisch vorgegebene Größe noch als ein Netz verdichteter Kommunikation. Vielmehr konstituiert sie sich entsprechend der Renanschen Formel vom »täglichen Plebiszit« immer wieder neu durch das in der Bevölkerung verbreitete Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit.8 Die Nation und die damit verbundenen Bilder sind in diesem Sinne das Produkt eines Prozesses der sozialen Konstruktion, an dem sich die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft beteiligen. Mit seiner Formulierung von der »gedachten Gemeinschaft« hat Anderson eine griffige Formel für den neueren konstruktivistischen Ansatz in der Nationsforschung gefunden, die auch im vorliegenden Werk immer wieder zitiert wird. Sein Buch gehört jedoch zu einer breiteren, vor allem von angloamerikanischen und französischen Historikern und Anthropologen vertretenen Forschungsströmung, die seit dem Beginn der achtziger Jahre allgemein den ›künstlichen‹, ›erfundenen‹ bzw. ›gemachten‹ Charakter nationaler und ethnischer Gemeinschaften und ihrer Identifikationssymbole hervorhebt.9 Hier ist die Dekonstruktion des Begriffs der Ethnie durch die Anthropologen Jean-Loup Amselle und Elikia M'Bokolo10 ebenso zu nennen wie das Konzept der »Invention of Tradition« der englischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger11 oder der »Lieux de memoire« ihres französischen Kollegen Pierre Nora.12 Diese konstruktivistischen Ansätze der Nationsforschung verbanden sich mit dem etwa zur gleichen Zeit in der Geschichtswissenschaft vermehrt zutage tretenden Interesse an anthropologischen Fragestellungen und Themen sowie mit einer stärker diskursgeschichtlich orientierten Forschung.13 Historiker in Frankreich und Deutschland rückten die Geschichte von nationalen Denkmälern,14 Ritualen,15 Mythen16 und Symbolen17 sowie von nationalen Stereotypen und Feindbildern18 in das Blickfeld der Forschung.19 Die in diesem Zusammenhang entstandenen Studien konzentrierten sich allerdings mit wenigen Ausnahmen20 auf die Geschichte einer einzelnen Nation,21 so daß über die Geschichte eines Landes hinausführende und dezidiert vergleichende Darstellungen bislang noch selten sind.22 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Emotionen Betrachtet man, wie in den hier publizierten Studien, die Repräsentation des Nationalen in Ritualen, Symbolen und Mythen, gerät in besonderer Weise der Zusammenhang von Nation und Emotion ins Blickfeld. Dabei geht es erstens um die Frage, wie in Ritualen, Kulten und Mythen nationale Emotionen erzeugt und ausgelebt, verstärkt, ausgerichtet und synchronisiert wurden. Zweitens ist in einer allgemeineren Pespektive zu untersuchen, wie ›nationale‹ Emotionen in den einzelnen Ländern kodiert und vorhandene Emotionsregeln sozial und kulturell umdefiniert und auf das politische Werte- und Herrschaftssystem ausgerichtet wurden. Drittens geht es darum zu zeigen, wie ›Geschichte‹ in der Gestalt von Mythen, Geschichtsbildern und Erinnerungen bei der Interpretation, Definition und Steuerung von Emotionen - etwa Schuld, Trauer und Hoffnung mitwirkte. Der Band greift damit ein klassisches Thema der Forschung über Nation und Nationalismus auf. Er fährt dort fort, wo andere Richtungen der Geschichtswissenschaft an ihre Grenzen gestoßen sind, weil sich ideen-, geistes-, institutions-, politik- und sozialgeschichtliche Ansätze, Konzepte und Begriffe für die Behandlung von Emotionen weniger eignen und weil ahistorische psychologische und sozialpsychologische Theorien nur schwer genuine historische Deutungen und Erklärungen liefern können,23 da sie an den Unterschieden in Raum und Zeit nicht wirklich interessiert sind.24 Bei der Behandlung des vielfältigen und vielschichtigen Zusammenhangs zwischen Nation und Emotion stehen drei Aspekte im Vordergrund: Da ist erstens das sogenannte Nationalgefühl, eine diffuse Mischung von kognitiven und emotionalen, kollektiven und individuellen Elementen, formellen und informellen Rollen und Erwartungen. Wichtig sind zweitens menschliche Emotionen wie Liebe und Haß, die auch im vormodernen und vornationalen Zeitalter kulturell und sozial geregelt waren, im Zusammenhang von Nationalismus und Nation aber eine andere Richtung, Intensität und Einfärbung bekamen. Man denke nur an die nationale Einfärbung der Mutterliebe oder an die kompensatorische Projektion von individuellen und kollektiven Gefühlen der Schwäche oder Überlegenheit auf andere, etwa in der Form der Germanophobie und des Franzosenhasses. Besonders interessant wird dieser Zusammenhang dadurch, daß die Geschichte der Nation mit gesellschaftlichen Prozessen einherging, in denen das Individuum und freiwillige Bindungen wichtiger wurden und die Emotionen sich auch aus ganz anderen Gründen änderten. Drittens interessieren hier Emotionen oder emotionale Stile, die den Beteiligten als nationsspezifisch gelten mögen, sich aber nur schwer oder indirekt mit den Besonderheiten der Nation als politisch verfaßter Gesellschaft erklären lassen. 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die meisten Beiträge fragen nach der Beeinflussung der Menschen und ihrer Emotionen durch den Nationalstaat bzw. durch Trager und Propagandisten der Nationsidee. Sie machen deutlich, daß der Nationalstaat nicht immer die unabhängige und die Emotion die abhängige Variable war, und daß die Richtung, Intensität und Dauer der ›nationalen‹ Emotionen in komplizierten Prozessen ständig neu ›ausgehandelt‹ wurden. Aufgrund der Dichte und Nähe der Nationalstaaten in Europa, deren Zahl seit den 1860er Jahren zunahm, kam es überdies in den einzelnen Ländern und Perioden zeitweise zur Nachahmung von Emotionen und zur Übernahme von erfolgversprechenden Mustern aus anderen Ländern. Dabei erhoffte man sich eine Steigerung der ›nationalen Emotionem, die für die gesellschaftliche Steuerung, politische Kontrolle und Legitimation nach innen und außen immer wichtiger wurden.25 Emotionen sind in der deutschen Sozialgeschichte und Soziologie bis heute kein zentrales oder besonders beliebtes Thema, obwohl in der Familien- und in der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den 1970er Jahren energisch auf die Bedeutung des Wandels von Emotionen für die gesellschaftlichen Beziehungen hingewiesen wird.26 Auch hatte das soziologisch-psychologische Entwicklungskonzept von Norbert Elias, das hier in einzelnen Beiträgen aufgegriffen wird, den Wandel von Affekten, Emotionen und Verhaltensweisen nachdrücklich ins Blickfeld der Historiker gerückt. Zudem wurden Aspekte der Emotionsgeschichte immer wieder in der erziehungs-, bildungs- und rechtsgeschichtlichen Forschung behandelt. Weit prominenter sind die Emotionen und Gefühle dagegen in der Historiographie über Nationalismus, Nationalbewegung und Nation. Diffuse Kategorien wie »nationale Emotionen«, »nationale Gefühle«, »Nationalgefühl«, »nationale Identität«, »nationale Leidenschaften« sind bis heute selbstverständlich und weit verbreitet. Wissenschaftsgeschichtlich ließe sich das damit erklären, daß die wissenschaftliche (Neu-)Entdeckung der Gefühle und Emotionen in dieselbe Periode fällt wie die Anfange der modernen Nation und des Nationalismus. Die meisten Historiker, die sich mit Nation und Nationalismus beschäftigen, begreifen seitdem die »nationalen Gefühle« in der Regel so, wie es in denjenigen Wissenschaften üblich ist, die in der jeweiligen Gesellschaft und Wissenschaftskultur primär für Gefühle zuständig sind.27 Bisweilen haben Historiker bei der Bestimmung von Emotionen führend mitgewirkt, indem sie beispielsweise die individuelle Emotion als Ausfluß des Nationalgefühls - das ›erwachte und erblühre‹ - betrachteten oder als Ausdruck einer ›nationalen Seele‹, die sich in Sprache, Poesie, Geschichte und Kultur verkörperte. Zu einer konsequenten Historisierung und kulturellen Relativierung der Emotionen hat die Geschichtswissenschaft eigentlich erst in jüngster Zeit gefunden - und schon wird das von verschiedensten Seiten wieder in Frage gestellt. 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Als analytische Begriffe und Konzepte für die Untersuchung von individuellen und kollektiven Wertorientierungen und Emotionen in einer komplexen Gesellschaft eignen sich die Kategorien »Nationalgefühl« und »nationale Identität« nur beschränkt. Wenn überdies, wie in großen Teilen der geistes-, doktrin- und ideengeschichtlichen Literatur, die in den Diskursen über die Nation verbreiteten Ideen und Vorstellungen in unkontrollierter Weise mit den tatsächlichen Gefühlen der Menschen gleichgesetzt werden, verwischen sich die Unterschiede und Grenzen zwischen Emotionen des Kollektivsubjekts Nation und Emotionen von einzelnen Personen und Gruppen vollends.28 Auf dieses Problem hat schon Max Weber hingewiesen, für den das - durch die Zugehörigkeit zur Nation begründete Nationalgefühl eines von vielen möglichen Gemeinschaftsgefühlen war, deren Ausrichtung und Intensität erheblich variieren konnten. Der vorliegende Band versucht, Webers weiterhin aktueller Aufforderung nachzukommen, die »Gemeinsamkeits- und Solidaritätsempfindungen« für die Nation in ihren Entstehungsbedingungen und ihren Konsequenzen für das Gemeinschaftshandeln der Beteiligten empirisch zu prüfen.29 Nach 1945 gab es Zeiten, in denen auch die Historiker für die Erklärung und Einordnung von nationalen Emotionen auf psychologische, sozialpsychologische und massenpsychologische Begriffe und Theorien zurückgriffen30 und sich auf die Frage konzentrierten, unter welchen historischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umständen diese psychologischen Mechanismen wirksam werden können - oder nicht. Emotionen waren jedoch lange kein wirklicher Forschungsgegenstand der Geschichte mehr. Es schien vielen, als komme man in dieser Richtung nicht mehr weiter. Von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre ist die wissenschaftliche Diskussion über die Nation und den Nationalismus vor allem durch sozialgeschichtliche Studien vorangetrieben worden. Dank dieser Forschungen weiß man nun sehr viel mehr über Trägerschichten, Organisationen und Interessen nationaler und nationalistischer Bewegungen, über den Zusammenhang zwischen sozialen Strukturen und ›national‹ aufgeladenen Konflikten und Spannungen und über die funktionale Integration von Menschen und Verbänden in die nationale Gesellschaft. Im Hintergrund spielten die nationalen Emotionen aber weiterhin eine Rolle als letzte Erklärung für die nationale Mobilisierung, Legitimation und Integration. Implizit oder explizit wurde in der Regel angenommen, daß nationale Emotionen für den Zusammenhalt einer komplexen, sich funktional und hierarchisch ausdifferenzierenden und national verfaßten Gesellschaft unerläßlich seien. Die Nation habe die »Identität« von Individuen und Kollektiven stabilisiert, die im Zuge von Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Differenzierungsprozessen aus den traditionellen politischen, sozialen, kulturellen, emotionalen und wirtschaftlichen Zu17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sammenhängen und Bindungen freigesetzt worden waren. Antony D. Smith meint deshalb, daß Historiker immer schon, gleich ob als Mitschöpfer oder Kritiker des Nationalismus, geglaubt hätten, die Funktion der Nation bestehe darin, »individuelle und kollektive Bedürfnisse nach Wärme, Stärke und Stabilität« zu decken, die um so stärker seien, je mehr die Bindungen in der Familie und Nachbarschaft sich auflockerten.31 Dieses im Kern struktur-funktionalistische oder modernisierungstheoretische Erklärungsmuster findet sich in der einen oder anderen Weise auch in den sonst so verschiedenen vergleichenden Studien über die Nation von Ernest Gellner, Benedict Anderson und Hagen Schulze.32 Auch der Sozialhistoriker Hans Mommsen meinte 1986 mit Blick auf die europäischen und außereuropäischen Entwicklungen, daß Nationalismus und Nationsbildungsprozesse letztlich »auf universelle sozialpsychologische Bedürfnisse trotz unterschiedlicher kultureller Horizonte« verwiesen. Es spreche vieles dafür, daß »beim Übergang zur Hochkultur analoge Ersatzmechanismen entwickelt würden, um die sozio-ökonomisch unentbehrliche Integration angesichts der Auflösung traditionaler Strukturen zu bewerkstelligen«.33 Ganz ähnlich argumentierte 1989 der Ethnologe Georg Elwert mit seinem Konzept der »Moralökonomie im Rahmen der Nation«, die in einer mobilen und individualisierten Gesellschaft eine wesentliche Integrationsfunktion habe.34 Über kurz oder lang sind damit die Emotionen wieder zu einem seriösen wissenschaftlichen Thema geworden, nun aber in einem wissenschaftlichen Kontext, der sich von demjenigen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erheblich unterscheidet. Deshalb kann gehofft werden, daß die Beschäftigung mit ihnen nicht wieder in den Tautologien und Sackgassen der alten Nationalgeschichte endet. Dafür sollen im vorliegenden Band die vergleichende Perspektive, die kritische Anwendung von Konzepten aus einem Land im jeweils anderen und die Diskussion der Konzepte und Ergebnisse sorgen. Mit welchen Theorien, Begriffen, Konzepten, Methoden und Quefen lassen sich im Forschungsfeld »Emotionen« neue Erkenntnisse gewinnen? In dem erwähnten Aufsatz schlug Hans Mommsen vor, sich »der von der Mentalitätsforschung entwickelten Methoden« zu bedienen.35 Diese Ansätze waren zu jener Zeit in Frankreich aufgrund der Tradition der Menralitätsgeschichte der »Annales« und der Durkheimschen Soziologie weirer entwickelt als in Deutschland. Bei Durkheim spielen Emotionen - in der Konstruktion und Unterfütterung von sozialen Verhältnissen und in der symbolischen Integration funktional differenzierter Gesellschaften - ene ungleich zentralere Rolle als in der Weberschen Soziologie,36 die die deutsche Sozialgeschichte stark beeinflußt hat. Überdies gibt es in cer weitverzweigten »Annales«-Schule eine lange Tradition der Beschäftigung 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

mit den psychologischen Dimensionen von Gesellschaft und Kultur.37 Zwar war die Aufmerksamkeit dafür in den 1960er Jahren vorübergehend erlahmt, doch nahm das Interesse in den 1970er Jahren erneut zu. Psychologische Phänomene und Mentalitäten wurden zum zentralen Bezugspunkt einer nun als »Historische Anthropologie« bezeichneten Richtung,38 deren Arbeiten und Methoden seither auch in Deutschland an Einfluß gewinnen. Bei der Behandlung der Nation und nationaler Phänomene steht in der französischen Historiographie das Problem der symbolischen Integration, die über die Identifikation und die affektive Bindung an ›nationale‹ Symbole verläuft, im Vordergrund. Bevorzugte Forschungsgegenstände sind Rituale und Feste, materielle Symbole wie Denkmäler, Gebäude und Landschaften sowie künstlerische und alltägliche Gegenstände - von den in den Rathäusern aufgestellten Büsten bis zur Münze und Briefmarke.39 Ein ähnliches Interesse an Emotionen zeigt sich auch in neueren deutschen Forschungen zur politischen Festkultur, die beispielsweise fragen, wie bürgerlich-nationale Feste der »emotionalen Selbstvergewisserung« der Gesellschaft dienten, soziale Ängste bändigten und zukunftsgerichtete Emotionen weckten.40 Die empirischen Untersuchungen von nationalen Ritualen, Festen und Mythen machen deutlich, daß außer den ›nationalen Gefühlen‹ immer auch kultur- und gruppen-, stände-, klassen-, generations- und geschlechtsspezifische Emotionen aktualisiert und sichtbar wurden. Und sie weisen darauf hin, daß manche dieser Emotionen nur sehr indirekt oder wenig mit der ›Nation‹ zu tun hatten, bei diesen Gelegenheiten aber national eingefärbt oder als auf die Nation bezogene Emotion definiert oder interpretiert wurden. Bisweilen bildete die nationale Emotion nur die Schaumkrone auf einer Welle lokaler und regionaler Emotionen, Bindungs- und Mobilisierungsenergien. Die Konstrukteure und Interpreten von ›nationalen Gefühlen‹ und von Emotionen, die sich in irgendeiner Weise auf die Nation beziehen, haben deshalb zu allen Zeiten versucht, an die in der jeweiligen Gesellschaft und Kultur üblichen Gewohnheiten und »Emotionsregeln« anzuknüpfen. Die Beiträge unseres Bandes weisen darauf hin, daß die spezielle Forschung über ›nationale Emotionem in das sehr viel weitere Forschungsfeld der Konstruktion von Emotionen und der Emotionskultur eingebunden werden müßte. Hier ist ein weiterer Erkenntnisgewinn zu erwarten, wenn es gelingt, die vielversprechenden Begriffe, Ansätze und Ergebnisse der in den 1980er Jahren entstandenen »(Cultural) Anthropology of Emotions«,41 der »Sociology of Emotions«42 und der »History of Emotions«43 heranzuziehen und so die sogenannten nationalen Emotionen in die weitere Emotionskultur oder in den allgemeinen emotionalen Stil der Zeit einzubetten. 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die »Emotionssoziologie« ging zunächst von der Konzeption des symbolischen Interaktionismus aus, die »Anthropologie der Emotionen« zusätzlich von kulturvergleichenden anthropologischen Arbeiten sowie der Diskursgeschichte und den Arbeiten von Foucault. Prominente Exponenten dieser Richtungen behandeln die Emotionen nicht nur im Zusammenhang von Kultur und Moral, sondern auch mit Blick auf die soziale Struktur und das Herrschafts- und Machtsystem. Die Fähigkeit, Schuld oder Scham zu erfahren, setze ein bestimmtes kulturelles Wissen, die Kenntnis von Konventionen und die Fähigkeit voraus, Dinge und Situationen unter normativen, zweck- und zielorientierten Gesichtspunkten zu interpretieren. Emotionen würden sozio-kulturellen Funktionen dienen, ihre Bedeutung primär aus dem sozio-kulturellen System erhalten, kulturelle Werte stützen und unerwünschte Verhaltensweisen und Einstellungen beschränken.44 Ähnliche Ziele verfolgt die in Deutschland noch kaum beachtete amerikanische »History of Emotions«. Carol und Peter Stearns fragen nach Kontinuität und Wandel von Emotionen wie Zorn, Angst und »Coolness« und nach periodenspezifischen »emotionalen Stilen«. Sie untersuchen dazu emotionale Standards, Ziele und Erfahrungen.45 Kennzeichnend für diese neuen Spezialdisziplinen zur Erforschung der Emotionen ist die Annahme vom gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Charakter der Emotionen. Danach lassen sich wichtige Aspekte der Emotionen begreifen, ohne auf die komplexen inneren psychischen Zustände, die Gesamtpersönlichkeit, die Identität des einzelnen und physiologische Zusammenhänge selbst systematisch einzugehen.46 Monopolistische Ansprüche einer nomologischen, ahistorischen oder kulturindifferenten Psychologie in der Erforschung und Deutung von Emotionen werden damit ebenso relativiert wie die Erklärungskraft und Reichweite von biologischen und physiologischen Ansätzen, welche sich auf die organischen Aspekte von Emotionen konzentrieren. Plädiert wird für eine historische und gesellschafts- und kulturvergleichende Erforschung von Emotionen wie Liebe und Haß, Wut und Ärger, Freude und Trauer, Angst und Tapferkeit, Mitleid und Leid, Stolz und Neid, Schuld und Scham, Dankbarkeit und Vertrauen, die durch gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, rechtliche, moralische Verhältnisse bedingt und kulturell konstruiert seien. Die ›Maximalisten‹ dieser Richtung gehen davon aus, daß Emotionen und sozialpsychologische Deutungen sich im Verlauf der Geschichte erheblich wandeln und interkulturell grundsätzlich differieren können. Deshalb sei im Umgang mit den üblichen psychologischen, sozialpsychologischen oder gar massenpsychologischen Theorien, bei denen es sich immer auch um gesellschafts-, zeit- und kulturspezifische Deutungsmuster handelt, kritische Vorsicht geboten. Den ›Minimalisten‹ dagegen, die in diesem Punkt den Vertretern der französischen Mentalitätsgeschich20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

te und Historischen Anthropologie nahestehen, geht es indessen mehr um den Grad der Ausprägung und die Intensität eines Gefühls als um den qualitativen Wandel der Emotionen.47 Die Geschichte, Soziologie und Anthropologie der Emotionen untersuchen, wie und warum Emotionen im Rahmen der jeweiligen Kultur (Kultur als System kollektiver Sinnkonstruktion und Symbole verstanden) ihre Bedeutung bekommen. Emotionen werden als Teil des Schemas der Weltinterpretation begriffen, mit dem die Menschen Wirklichkeit definieren und wahrnehmen. »Kultur der Emotionen« meint die von den Menschen einer Gesellschaft geteilten »Deutungen von Emotionen«, durch die »Emotionen gerade erst, im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, konstituiert werden«. Kultur wirke unmittelbar durch »kulturelle Gebote des richtigen und angemessenen Fühlens und des angemessenen Ausdrucks der Gefühle auf die Entstehung von Emotionen ein«.48 Bei der Erforschung von Emotionen geht es in jedem Fall um die »Aushandlung der Emotionen in der Interaktion«, um die »Definition, Weitergabe, Interpretation und Kontrolle der Emotions- oder Gefühlsregeln« und um die damit verbundenen Regeln für die »Gefühlsexpression«. Zu fragen ist nach der Richtung der Emotion (z.B. Mitleid oder Trauer), der Intensität, der Dauer, dem Objekt (Gegenstand, Person oder Gruppe, auf die sich die Emotion richtet), dem Anlaß oder der Gelegenheit (z.B. Ritual), dem Kontext, den Aushandlungsmechanismen und dem Status der Akteure im System von Herrschaft, Kultur und Gesellschaft. Indem sich die einmal von historischen Akteuren ausgehandelten Emotionsregeln verfestigen und ablagern, werden sie zu Elementen einer Emotionskultur, die durch ihre Wissensbestände und durch Institutionen auf die Menschen einwirkt und eine gewisse Eigendynamik bekommt. Die hier vorgelegten Studien über die mit der Nation verknüpften Symbole, Rituale und Mythen leisten in diesem Sinne einen Beitrag zur Geschichte der Emotionskultur. Geschichte Das Verhältnis zwischen der deutschen und französischen Historiographie zur Geschichte der Nation seit dem 19. Jahrhundert läßt sich mit den Begriffen »Wechselspiel«, »gegenseitige Beeinflussung« und »Abgrenzung«, »Nähe« und »Distanz« charakterisieren. Darauf weist Gerd Krumeich in seinem Essay über Jeanne d'Arc in der deutschen und französischen Geschichtsschreibung hin. Mit Blick auf die neueren Forschungen macht Heinz-Gerhard Haupt deutlich, daß in Frankreich die Kulturgeschichte des Nationalismus und der Nation eingehender bearbeitet worden 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ist, während man sich in Deutschland intensiver mit der Ideengeschichte des Nationalismus, der politischen Sozialgeschichte der Nationalbewegung und der Problematik von Nationsbildung und Modernisierung befaßt hat. Dieser Unterschied in der Historiographie erklärt sich aus den Eigenarten der französischen und deutschen Geschichte. Auch in einer Zeit, in der viel vom gemeinsamen Europa oder gar vom Ende der Nation die Rede ist, bleibt der Stil der Geschichtschreibung weiterhin stark national geprägt. Diese Stilunterschiede sollten nicht weiter vertieft werden. Man muß sich ihrer bewußt werden, um durch eine Kombination ihrer Qualitäten in der wissenschaftlichen Forschung und öffentlichen Diskussion voranzukommen. Maurice Agulhon und Otto Dann weisen in ihren Beiträgen über die französischen bzw. deutschen Besonderheiten der Nations-Historiographie darauf hin, daß immer ein Neben- und Gegeneinander von unterschiedlichen Nationsvorstellungen und entsprechenden Geschichtsbildern existiert hat. Aus einer heutigen Perspektive hält Dann es für sinnvoll, die föderalen und pluralistischen Traditionen des älteren deutschen Reichsnationalismus wieder nachdrücklich ins politisch-gesellschaftliche Bewußtsein zu rücken. Agulhon betont, wie sehr die Nation im französischen Fall lange Zeit mit »Republik« assoziiert worden sei. Paradoxerweise sei die heutige französische Gesellschaft, in der der Republikanismus seine Bindungskraft verloren habe, kulturell und sozial homogener als noch im Frankreich der Jahrhundertwende, als die Dritte Republik bewußt die nationale Homogenisierung der Menschen und des nationalen Lebens anstrebte. Das in der heutigen französischen Geschichtswissenschaft einflußreiche Konzept der »Lieux de mémoire« will - wie Pierre Nora in seinem Beitrag zu diesem Band ausfuhrt - den allmählichen Wandel des nationalen Bewußtseins und der Konzeption der Nation erklären. Während Frankreich den Wandel »von einer erd- und staatsverbundenenen Nation, von ihrer Bestimmung überzeugten, universalistischen, imperialistischen Nation zu einer Nation, die schmerzvoll den Verlust ihrer Macht, ihre Auflösung in einem größeren Ganzen und ihren Zerfall in kleinere Einheiten (Europa und die Regionen)« erlebe,49 steige paradoxerweise das Interesse am nationalen Erbe. Die Historiographie der Nation als einer »symbolischen Realität im Wandel« müsse daher auch der Verschiedenheit von Erinnerung Rechnung tragen und sich in erster Linie für »die Erinnerung als Mittel zur Situierung der Vergangenheit in der Gegenwart« interessieren. Diesen Gedanken greift Etienne François in seinem Beitrag auf. Er fragt, mit einem kritischen Blick auf die spezifisch ›französischen‹ Bedingungen des Noraschen Konzepts, nach den Möglichkeiten der ›Exportierbarkeit‹ dieses Ansatzes in die deutsche Geschichte. 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Gedächtnis und Mythos Seit Maurice Halbwachs in den zwanziger Jahren den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« (»memoire collective«) entwickelte, haben Anthropologen, Religions- und Altertumswissenschaftler immer wieder auf die zentrale Rolle hingewiesen, welche die gemeinsam geteilte Erinnerung fur die emotionale Bindung des einzelnen an eine Gemeinschaft spielt.50 Auch die Nation als eine im Laufe der europäischen Geschichte der Neuzeit auftauchende spezifische Gemeinschaftsform verzichtet nicht auf ein solches »kulturelles Gedächtnis« (Assmann), um ihren inneren Zusammenhalt zu gewährleisten und zu bestärken.51 Die in den Gedenkritualen und »Erinnerungsorten« (Nora)52 einer Nation präsenten nationalen Mythen53 und Geschichtserzählungen müssen in diesem Sinne als ein wesentliches Element der emotionalen Beziehungen angesehen werden, durch die sich die »imagined community« der Nation konstituierte. Allerdings traten in den »heiligen Geschichten« (Eliade) der Nationen der aufgeklärten geistigen Zeitströmung entsprechend Menschen und die ›Natur‹ an jene Stelle, die in den antiken Mythen noch Götter und übermenschliche Heroen eingenommen hatten.54 Obwohl die nationalen Mythen so nach außen hin den Anschein einer ›objektiven‹ Geschichte vermittelten, blieben sie in ihrer impliziten oder expliziten Interpretation der historischen Ereignisse und Sinnstiftung meist eng bestimmten national-politischen Projekten verbunden.55 Dies macht etwa Stefan-Ludwig Hoffmann in diesem Band anhand der Inszenierung des Mythos der Leipziger »Völkerschlacht« deutlich. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein besonderes Kennzeichen der modernen Nationalmythen. So wurde etwa von Anthropologen schon früh darauf hingewiesen, daß selbst in vermeintlich traditionalen Gesellschaften die gemeinschaftsbildenden Mythen nicht nur einen religiösen, sondern immer auch einen politischen Hintergrund besitzen.56 Die Instrumentalisierung von Mythen und Geschichtsbildern in den politischen Auseinandersetzungen der Nationalstaaten ist somit nicht, wie es in der religionswissenschaftlichen und philosophischen Forschung teilweise geschieht,57 als ein Phänomen der Moderne anzusehen, sondern vielmehr eine normale Konsequenz des sozialen Wettstreits um die Definitionsmacht. Es wäre daher auch verfehlt, die politische Sinnstiftung der modernen Nationalmythen allein unter dem Aspekt der ›Propaganda‹, d.h. einer bewußten Manipulation ›von oben‹ zu fassen.58 Denn wie alle Elemente der symbolischen Sinnwelt müssen auch die verschiedenen Erscheinungsformen des »kulturellen Gedächtnisses« der Nation als Ergebnis eines - je nach Zeit und Umständen unterschiedlichen - gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses betrachtet werden, an dem eine Vielzahl sozialer Grup23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

pen beteiligt ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt in dem von Emmanuel Terray beschriebenen Scheitern der Versuche, in der DDR ein eigenständiges nationales Gedächtnis zu dekretieren. Ähnlich wie in dem von Krumeich geschilderten Fall Jeanne d'Arcs besaß dabei das jeweilige Nachbarland einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die soziale Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses. Hier wird deutlich, daß der Vergleich der Geschichte der Nationen nicht ohne die Berücksichtigung der Beziehungsgeschichte auskommt. Wie die historische Forschung schon früh betont hat,59 übernahmen gerade die bürgerlichen Bildungseliten eine besonders wichtige Rolle bei der Konstruktion des nationalen Gedächtnisses, da sie entscheidend an der Formulierung der nationalen Mythen und Selbstbilder mitwirkten. Danny Trom stellt in seinem Beitrag dar, wie es der bürgerlich geprägten Heimatschutzbewegung in Deutschland und Frankreich um die Jahrhundertwende gelang, selbst die unbelebte Natur zu einem Träger der nationalen Erinnerung zu stilisieren. Eine Interpretation der nationalen Mythen als bloßes Element der nationalen Propaganda würde zudem vielfach zu einer Unterschätzung der affektiven Bindungen fuhren, die die jeweiligen nationalen Gesellschaften mit ›ihren‹ Mythen und Geschichtsbildern besaßen. So spiegelt sich etwa in den von Peter Reichel dargestellten Auseinandersetzungen, die in Westdeutschland in den Jahrzehnten nach 1945 um die Erinnerungsorte des Nationalsozialismus geführt wurden, auch das problematische Verhältnis wider, das in weiten Teilen der westdeutschen Gesellschaft zu den Konzepten einer ›deutschen Nation‹ und einer ›deutschen Geschichte‹ bestand. In diesem Sinne erhalten die nationalen Mythen und Geschichtsbilder wie die antike Mythologie den Status einer »transzendentalen Wahrheit« (Veyne), durch die sich die Nation ihre eigenen Ursprünge konstruiert.60 Dies mag die erstaunliche Prägekraft erklären, die nationale Denkmuster und Kategorien bis heute auch bei den vermeintlichen Gegnern der Nation besitzen.61 Kult und Riten Die an kulturanthropologischen bzw. religionssoziologischen Konzepter62 orientierte Nationsforschung schärft den Blick des Historikers für die formale und inhaltliche Kontinuität von religiösen Motiven im Nationilkult der modernen Gesellschaften. Wie weitgehend die aus dem kirchlichen Bereich entlehnten Muster das äußere Bild der Nation bestimmten, zegt sich dabei nicht nur im Bereich der Mythen und des kulturellen Gedächtnisses der Nation,63 sondern auch in den Riten, mit denen die Nation den Lebensablauf und -raum der Gesellschaft prägte.64 Die Nation hat ihre 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

eigenen, spezifisch nationalen Rituale erfunden; sie griff dabei aber auf die vier Elemente zurück, die auch für jeden religiösen Ritus konstitutiv sind: die Außergewöhnlichkeit, die konsequente Formalisierung, die regelmäßige Wiederkehr und die Gemeinschaftsstiftung.65 Die relative Kontinutität von religiösen Praktiken wird am stärksten in den Bereichen deutlich, in denen die etablierten Religionen bzw. Kirchen selber an den Inszenierungen der Nation beteiligt waren - wie etwa bei den von Annette Maas untersuchten Gedenkfeiern für die gefallenen Soldaten. Maas geht dabei soweit, von einer »problemlosen Verschränkung von Religion und Nation« zu sprechen. Der Einfluß der kirchlichen Rituale war sogar noch dort spürbar, wo die Rituale in bewußter Distanzierung zur Religion oder Ablehnung der Kirchen gestaltet wurden - sei es bei den Staatsbegräbnissen der laizistischen Dritten Republik, die Avner Ben-Amos als Übergang in das »republikanische Jenseits« thematisiert, oder sei es gar bei den von Marc Abélès beschriebenen Zeremonien, die François Mitterrand während seiner Amtszeit als französischer Staatspräsident im Pantheon veranstalten ließ. Ob mit oder ohne Beteiligung der etablierten Religion, überall läßt sich dieselbe Formierung einer eigenständigen nationalen Sakralität bzw. einer säkularen Religiosität der Nation feststellen. Besonders auffällig ist dabei, wie selbst in den scheinbar am meisten säkularisierten und entkirchlichten nationalen Ritualen die Übernahme von Formen und Begriffen aus der christlichen Tradition bzw. die direkte oder indirekte Anspielung auf christliche Begriffe und christliche Formen weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Dies läßt auch die selbstverständliche Verwendung von Begriffen wie »Kult«, »Opfer«, »Ewigkeit«, »Wallfahrt«, »Prozession«, »Inkarnation«, »Heil«, »Märtyrer«, »Kommunion« oder »Auferstehung« in den Diskursen über die Nation und ihre Riten erkennen. Die starke religiös-sakrale Dimension der Nation als Inszenierung und als Erlebnis hängt eng mit der zentralen Stellung zusammen, die der Tod - ob individuell oder kollektiv - im nationalen Kult besitzt. Eine ganze Reihe von nationalen Ritualen - auch in den extrem säkularisierten Formen der Gegenwart - soll nachweisen, in Erinnerung rufen und emotional faßbar machen, daß die Nation in vielen Ahnengenerationen verwurzelt ist und ihr Leben denen verdankt, die für sie gestorben sind, ja daß die Nation so wertvoll ist, daß es sich im Extremfall lohnt, für sie das Leben zu opfern, daß sie dem Tod einen Sinn gibt und ihn dadurch letztlich aufhebt.66 Auf diese Weise präsentiert sich die Nation als eine ewige säkulare Heilsgemeinschaft, die den einzelnen auch über den Tod hinaus an sich bindet. Viele der nationalen Riten erhielten ihre teilweise bis heute gültige Form im Laufe des langen 19. Jahrhunderts, d.h. im sogenannten Zeitalter der Nationen.67 Das gilt für die von Vogel untersuchten Militärfeiern genauso 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

wie für die von Ben-Arnos und Ackermann analysierten Staatsbegräbnisse oder den von Maas dargestellten ›Kult der toten Kriegen. Dies gilt selbst noch für die meisten Bestandteile der von Abélès analysierten Inszenierung der republikanischen Nation durch François Mitterrand, wobei aber ein Unterschied zwischen der traditionellen Inszenierung der Nation und der modernen Inszenierung Europas besonders auffallt: Während die erste vielfältiger und durch zahlreiche Traditionen angereichert ist, besticht die zweite bislang durch ihre Kargheit und Künstlichkeit. Alle Inszenierungen des nationalen Kultes wurden und werden mit der größten Sorgfalt und bis in die letzten Details vorbereitet. Spezialisten, Verbände, Institutionen und oft auch Künstler führen dabei Regie. Nichts wird dem Zufall oder der Improvisation überlassen, denn es gilt ein ›totales Schauspiel‹ zu inszenieren, das die größtmögliche Zahl von Teilnehmern anspricht. Dabei sollen vornehmlich die Emotionen, die Phantasie, die Gefühle und die Sensibilität angerührt werden,68 damit sich die Nation während des Rituals und darüber hinaus im Alltag - nicht nur als »gedachte«, sondern auch als »emotionale« Gemeinschaft konstitutiert. Die nationalen Rituale und ihre Sakralität sind daher auch kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, die Nation als eine konkrete Gemeinschaft entstehen zu lassen.69 Durch sie soll jeder Teilnehmer emotional ergriffen werden, damit er in der Nation aufgeht und sich als Teil einer größeren Einheit entdeckt, die zumindest äußerlich und für kurze Zeit andere soziale, kulturelle und weltanschauliche Zugehörigkeiten zu überdecken, Orientierungen und Perspektiven für die Zukunft zu geben vermag. Diese ›Nationalisierung‹ erreicht der nationale Kult zum einen dadurch, daß der Hauptakteur der Inszenierung - gleich ob es sich dabei um die Armee, um den Präsidenten, um einen »großen Mann« oder um gefallene Soldaten handelt - zur Inkarnation der Nation erhoben wird. Zum anderen geschieht das aber auch durch die emotionale Identifikation der an der Inszenierung teilnehmenden Menschenmengen mit diesen Inkarnationen, wobei Ergriffenheit und Begeisterung die dominanten Gefühle sind.70 Die Menge fungiert in diesem Sinne nicht mehr nur als Zuschauer einer offiziellen Veranstaltung, sondern wird auch zu einem elementaren Bestandteil des Rituals. Drei Aspekte sind in diesem für die Konstituierung der Nation entscheidenden Prozeß immer vorhanden: Erstens wird die Konkretheit, die Verwurzelung und die Exemplarität der Identifikationsfiguren und -bilder betont (denn man identifiziert sich nicht mit einer Idee, sondern mit einer konkreten Person, mit einer bestimmten Region oder mit einem bestimmten Ereignis). Zweitens beruft man sich auf eine oft weit zurückreichende, aber zugleich immer aktualisierte, vermeintlich gemeinsame Vergangenheit. Drittens werden Ziele und Werte beschworen, die ergreifen und 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

begeistern sollen, die es nachzuahmen gilt und die sich nur gemeinsam erreichen lassen - vor allem die Einheit, die Opferbereitschaft und die Liebe zum Vaterland. Der oft theatralische oder auch volksfestartige Charakter der Masseninszenierungen widerspricht dabei, ebenso wie bei den religösen Ritualen,71 nicht der sakralen Dimension des nationalen Kultes. Denn auch wenn ihre genauen symbolischen Bezüge und Inhalte möglicherweise vielen Beteiligten durch die aufwendige Inszenierung verborgen bleiben, behalten sie als ritualisierte soziale bzw kulturelle Praktiken dennoch ihre emotionale Wirkung, die sich jedoch mehr an die Form als an den Inhalt des Rituals knüpft.72 Zudem erlaubt die Vieldeutigkeit der in den Ritualen präsenten Symbole den Menschen, im Rahmen des nationalen Kultes zusammenzukommen und zu agieren, ohne daß zwischen ihnen auch notwendig ein Konsens über dessen ideologischen Inhalte bestehen muß.73 Als letztes sei schließlich auf die verblüffenden Ähnlichkeiten hingewiesen, die sich dort, wo der Vergleich möglich ist, zwischen Frankreich und Deutschland beobachten lassen - Ähnlichkeiten, die so massiv sind, daß die zu beobachtenden Unterschiede bloß als Nuancen erscheinen. In beiden Ländern sind die Militärparaden die einzigen Veranstaltungen, die den nationalen Kult im ganzen Land nach einem identischen Ritual verbreiten. In beiden Ländern werden die »toten Krieger« als »Märtyrer der Nation« verehrt, während die Formensprache der Kriegerdenkmäler sich eines weitgehend ähnlichen Symbolrepertoires bedient. In beiden Ländern schließlich werden die Staatsbegräbnisse in denselben Formen gestaltet und setzen sich zum Ziel, die »großen Männer« der Nation in die Ewigkeit zu führen, die Einheit der Nation zu beschwören und den Anwesenden Identifikationsangebote zu vermitteln, die sie emotional an die Nation binden. Körper und Bewegung Der Zusammenhang von Emotion, Körper und Bewegung wurde schon früh von Intellektuellen und Politikern zu einem vorrangigen Thema der Nation gemacht. In der Bewegung des einzelnen und der Gruppe sollten Körper und Geist national kodiert und die Nation inszeniert und verkörpert werden. Das sollte bei dem in das Schauspiel eingebundenen Zuschauer nationale Emotionen auslösen. Es ging indes nie bloß um die Nationalisierung des Individuums, sondern auch in einem allgemeineren Sinn um die soziale Disziplinierung und emotionale Grundausrichtung des für potentiell unbeherrscht, unberechenbar und gewalttätig gehaltenen Menschen oder Volks. So sollten, wie der Beitrag von Jean-Michel Faure zeigt, 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

das deutsche Turnen und die französische Gymnastik ›gewalttätige Instinkte‹ in disziplinierten »Kampfgeist« umformen und national einbinden, während der englische Sport der inneren Bildung der gesellschaftlichen Eliten diente. In Turnfesten, Aufmärschen und Massentänzen verkörperte sich die Nation somit in Bildern und einer synchronen Bewegung. Dem Zuschauer bot sich die Möglichkeit zur Identifikation mit der Nation und zum Erleben von Gemeinschaftsgefühl. Die Art der Nationalisierung des Körpers und der Körperbewegungrichtetesich unter anderem nach kulturellen Entwicklungen. Die Intensität und Ausrichtung der Emotionen war aber auch teils durch die außenpolitische Lage geprägt - was Alfred Wahl am Beispiel des Fußballs im deutsch-französischen Verhältnis zeigt -, teils durch die Konjunkturen und Krisen der innergesellschaftlichen Nationalisierung bedingt. Obwohl die Bewegung der Körper und der Menschenmengen in Frankreich kulturell und politisch partiell anders kodiert war als in Deutschland, gab es doch - wie Pierre Arnaud und André Gounot darlegen - ganz erhebliche Ähnlichkeiten der Praxisformen der Gymnastik und des Turnens, die beide zur inneren Militarisierung der »Nation in Waffen« und zur Stärkung der Nation und Regierung beitrugen. Weitreichende Gemeinsamkeiten stellt auch Inge Baxmann am Beispiel des Massentanzes im frühen 20. Jahrhundert fest, der an die christliche Liturgie und die europäischen Theorien zur Körperkultur anknüpfte, sich mit anthropologisierenden Konzepten gegen eine nichteuropäische Körperkultur rhetorisch abgrenzte und gleichzeitig eine ›nationale Substanz‹ repräsentieren sollte. Auf deutsch-französische Gemeinsamkeiten und Parallelen in bezug auf die Formen und Medien der »Verkörperung der Nation« weist schließlich Wolfgang Kaschuba hin. Im kulturellen Prozeß der Konstruktion des Nationalen hätten »physische Imaginationen und Repräsentationen« eine wesentliche Rolle gespielt und die »Nation zum Anfassen« geschaffen - mit emotional weitreichenden Konsequenzen. Indem Danielle Tartakowsky in ihrem Beitrag den Blick auf die Aufmärsche und Symbole der Arbeiterbewegung richtet, relativiert sich das Bild von der Gemeinsamkeit stiftenden Nation. Denn hier treten auch die Unterschiede zwischen den Ländern wieder deutlicher hervor. So wurden in der Zwischenkriegszeit in Frankreich ›deutsche‹ quasi-militärische Muster des öffentlichen Auftretens zwar in den Jugendverbänden der verschiedenen politischen Strömungen populär, sie konnten sich aber gegen die auf die frühe Dritte Republik zurückgehenden Traditionen der französischen Demonstrationskultur nicht durchsetzen.

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Vergleich Es gibt geistes-, politik- und sozialgeschichtliche Vergleiche zwischen Deutschland und Frankreich,74 die hier behandelten Aspekte wurden bisher jedoch selten verglichen. Ländervergleiche von Symbolen, Emotionen und Mentalitäten sind noch rar. Ohne hier auf die Ergebnisse im einzelnen ein zugehen, möchten wir zusammenfassend folgendes festhalten: Die Nations- und Nationalismustypologien wie »Staatsnation versus Kulturnation« oder »westliche Willensnation versus östliche Gefühlsnation« erweisen sich bei näherer Betrachtung als wenig strukturierend und bedürfen einer gründlichen Revision und Weiterentwicklung, um für den Vergleich geeignet zu sein.75 Typologien, die historisch, ordnungspolitisch und entwicklungsmäßig stärker differenzieren (revolutionärer Nationalismus, integraler Nationalismus u.ä.) scheinen dagegen dem Problem angemessener und als heuristisches Instrument für die weitere Forschung geeigneter zu sein. Blickt man auf die Inszenierung und die Repräsentation des Nationalen, die Rituale, Symbole und Emotionen, überwiegen im Vergleich der beiden Nachbarländer, der immer auch die gegenseitigen Beziehungen zu beachten hat, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Das unterstreicht auch der Beitrag von Allan Mitchell, der die Nationalfeiertage in Frankreich und Deutschland einerseits und in den Vereinigten Staaten andererseits vergleicht. Dabei hebt er europäisch-amerikanische Unterschiede hervor. Im Bereich der Symbole und Mythen überwiegen ebenfalls die deutschfranzösischen Gemeinsamkeiten und Parallelen. Hier gilt im Prinzip, was Koselleck am Beispiel der Kriegerdenkmäler formuliert hat: »Die Signatur der Totenmale ist international, ihre politische Sinnstiftung jeweils national gebrochen. Es ist das Paradox der politischen Totenkulte, daß ihre Zeichen und Funktionen identisch sind oder analog lesbar, ihre Botschaften dagegen für die jeweiligen Handlungseinheiten Ausschließlichkeit beanspruchen.«76 In bezug auf die Emotionen hielten sich die Unterschiede letztlich ebenfalls in engen Grenzen, die durch gesellschaftliche Konvention, Emotionsregeln oder bewußte Einstellungen bestimmt waren. Einige bemerkenswerte deutsch-französische Unterschiede offenbaren sich erst bei einer vergleichenden Betrachtung, die auch die jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontexte einbezieht, wie es die historische Komparatistik anstrebt.

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Anmerkungen 1 Vgl. etwa K. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge 1966 2 ; E. Lemberg, Nationalismus, 2 Bde., Reinbek 1964; T. Schieder ( H g . ) , Sozialstruktur und Organisation curopäischer Nationalbewegungen, München 1971; O. Dann ( H g . ) , Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978; W. Conze u.a. ( H g . ) , Modernisierung und nationale Gesellschaft im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1979 (Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 9 9 ) ; P. Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985; 0 . Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, München 1993. Zum Überblick über die sozialhistorische Forschungsrichtung siehe: G. Eley, Nationalism and Social History, in: Social History 6, 1981, S. 8 3 - 1 0 7 ; H. Mommsen, Nation und Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: W. Schieder u. V. Sellin ( H g . ) , Sozialgcschichte in Deutschland, Bd.2: Handlungsräume des Menschen in der Geschichte, Göttingen 1986, S. 1 6 2 - 1 8 5 ; H.-U. Wehler, Einleitung, in: T. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, ND Göttingen 1992, S. 5 - 1 1 . 2 Vgl. etwa M. Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968; H. Schulze (Hg.), Nation-Building in Central Europe, Leamington Spa 1987. 3 Vgl. etwa H. Kohn, The Idea of Nationalism, New York 1944 (dt. Die Idee des Nationalismus, Frankfurt/M. 1962 2 ); F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat ( 1 9 0 7 ) , in: Ders., Werke, Bd. 5, München 1962. Einen breiten Überblick über die ältere Literatur zum Nationalismus bietet: H.A. Winkler ( H g . ) , Nationalismus, Königstein 1985 2 . 4 Ders., Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1 8 7 8 / 7 9 , in: GG 4, 1978, S. 5-28; T. Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in: HZ 202, 1966, S. 5 8 - 8 1 ; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 5 0 6 - 5 3 0 , 6 5 7 - 6 6 2 , Bd. 2, München 1989 2 , S. 394—412, 845-848; R. Vierhaus, »Patriotismus« - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: U. Herrmann (Hg.), »Die Bildung des Bürgers«. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Weinheim 1982, S. 1 1 9 - 1 3 1 , B. Giesen ( H g . ) , Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991; C. Beaune, Naissance de la nation France, Paris 1985. 5 Vgl. etwa J. Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 1993 2 ; H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; D. Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994 (Gesprächskreis Geschichte 6 ) . 6 Zusammenfassend: »Ethnicity and Nationalism«, Themenheft des International Journal of Comparative Sociology 33, 1992; G. Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3, 1989, S. 4 4 0 - 4 6 4 . 7 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (dt. Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M. 1993 2 ). Einen wichtigen Beitrag zur Nationalismus-Diskussion der achtziger Jahre lieferte auch: E. Gellner, Nations und Nationalism, Oxford 1983. 8 E. Renan, Qu'est-ce qu'une nation? Conférence faite en Sorbonne, le 11 mars 1882. in: Ders., Oeuvres completes, hg. v. H. Psichari, Bd. 1, Paris 1947. 9 Einen konstruktivistischen Ansatz vertritt auch: M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232-2+6.

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10 ].-L. Amselle u. E. M'Bokolo (Hg.), Au coeur de l'ethnie. Ethnies, tribalisme et Etat en Afrique, Paris 1985. 11 E. Hobsbawm u. T. Ranger ( H g . ) , The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Auf den künstlichen Charakter von vermeintlichen Traditionen und ihren Einsatz in politischen Machtkämpfen hatte bereits früh der französische Soziologe und Anthropologe Georges Balandier hingewiesen (G. Balandier, Sens et puissance. Les dynamiques sociales, Paris 1971). 12 P. Nora ( H g . ) , Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984-1992. 13 Vgl. A. Brugière, L'Anthropologie historique, in: J . LeGoff u.a. ( H g . ) , La Nouvelle Histoire, Paris 1978, S. 3 7 - 6 1 ; U. Raulff ( H g . ) , Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986; H. Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984; C. Conrad u. M. Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. ( H g . ) , Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, S. 9 - 3 6 , hier v.a. S. 13f 14 M. Agulhon, La »statuomanie« et l'histoire, in: Ders., Histoire vagabonde, Bd. 1: Ethnologie et politique dans la France contemporaine, Paris 1988, S. 1 3 7 - 1 8 5 ; R. Koselleck u. M. Jeismann ( H g . ) , Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; W. Hardtwig, Politische Topographie und Nationalismus. Städtegeist, Landespatriotismus und Reichsbewußtsein in München 1871-1914, in: Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500-1914, Göttingen 1994, S. 2 1 9 - 2 4 5 ; C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Eine vergleichende Regionalstudie nationaler Denkmalsbewegungen in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995. 15 V. Ackermann, Nationale Totenfeiern in Deutschland von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauß. Eine Studie zur politischen Semiotik, Stuttgart 1990; F. Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt/M. 1990; P. Arnaud, Les athletes de la République. Gymnastique, sport et idéologie républicaine, Toulouse 1987; A. Ben-Amos, La ›panthéonisation‹ de Jean Jaurès. Rituel et politique pendant la IIIe République, in: Terrain 15, 1990, S. 49-64; P. Ory, Une nation pour memoire. 1889, 1939, 1989, Trois jubilés révolutionaires, Paris 1992. 16 R. Girardet, Mythes et mythologies politiques, Paris 1986; C. Amalvi, De l'art et la manière d'accomoder les héros de l'histoire de France. De Vercingétorix à la Révolution. Essais de mythologie nationale, Paris 1988; J. Link u. W. Wülfing ( H g . ) , Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991 (Sprache und Geschichte 16); L. Machtan ( H g ) , Bismarck und der deutsche Nationalmythos, Bremen 1994. 17 M. Agulhon, Marianne au combat. L'imageric et la symbolique républicaines de 1789 à 1880, Paris 1979; Ders., Marianne au pouvoir. L'imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914, Paris 1989; F. J. Bauer, Gehalt und Gestalt in der Monumentalsymbolik. Zur Ikonologie des Nationalstaats in Deutschland und Italien 1860-1914, München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 30); W. Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871 - 1914, in: GG 16, 1990, S. 269-295. 18 M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992 (Sprache und Geschichte 19). 19 Relativ folgenlos geblieben waren die älteren Studien von T. Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat ( 1 9 6 1 ) , ND hg. v. H.-U. Wehler, Göttingen 1992 2 ; T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 206. 1968, S. 527-585; E. Fehrenbach, Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, in: HZ 213, 1 9 7 1 , S. 2 9 8 - 3 5 7 ; G.L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Krie-

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gen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976; R. Sanson, Les 14 Juillet. Fête et conscience nationale. 1 7 8 9 - 1 9 7 5 , Paris 1976; M. Ozouf, La fête révolutionnaire, Paris 1976. 20 Vgl. etwa Jeismann, Vaterland; Tacke, Denkmal. 21 Dasselbe gilt für andere Länder. Vgl. u.a. J. Hutchinson, The Dynamics of Cultural Nationalism: The Gaelic Revival and the Creation of the Irish Nation, London 1987; G.P. Marchal u. A. Mattioli ( H g . ) , Erfundene Schweiz/La Suisse imaginée. Konstruktionen nationaler Identität/Bricolages d'une identité nationale, Zürich 1992 (Clio Lucernensis 1); B. Tobia, Una patria per gli italiani. Spazi, itinerari, monumenti nell'Italia unita ( 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ) , Bari 1 9 9 1 ; I. Porciani, Stato e nazione: l'immagine debole dell'Italia, in: S. Soldani u. G. Turi ( H g . ) , Fare gli italiani. Scuola e cultura nell'Italia contemporanea, Bd. 1: La nascita dello Stato nazionale, Bologna 1993, S. 3 8 5 - 4 2 8 . 22 Eine Synthese unter Berücksichtigung der neueren Forschung versucht E. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1789, Cambridge 1990 (dt. Nationen und Nationalismus, Frankfurt/M. 1991). 23 B. Loewenstein, Eine alte Geschichte? Massenpsychologie und Nationalismusforschung, in: E. Hartmann-Schmidt ( H g . ) , Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994, S. 8 7 - 1 0 2 . 24 P. Burke, Collective Psychology and Social Change - Achievements and Problems, in: B. Loewenstein (Hg.), Geschichte und Psychologic Pfaffenweiler 1992, S. 19-37. 25 Hobsbawm, Nation. 26 H. Medick u. D. Sabean (Hg.), Emotionen und Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge, Göttingen 1984; H. Brandes, Das Märchenbuch der Gründerzeit, in: Link u. Wülfing, Nationale Mythen, S. 2 5 6 - 2 7 3 . 27 R. Harre, An Outline of the Social Constructionist Viewpoint, in: Dies. (Hg.), The Social Construction of Emotions, New York 1986, S. 2 - 1 4 ; H M . Gardiner u.a., Feeling and Emotion. A History of Theories, Westport 1970. Die Ansätze in der Forschung über Emotionen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen materialistischen/physiologischen und idealistischen Erklärungen, positivistischen/nomologischen und interpretativen Ansätzen, universalistischen und kulturrelativistischen Theorien und zwischen den Dichotomien Individuum - Kultur, Romantizismus - Rationalismus. 28 J. Breuilly, Approaches to Nationalism, in: Hartmann-Schmidt, Formen, S. 15-38, insb. S. 16. 29 M . Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, ND Tübingen 1972, S. 529f. 30 Einen Literaturüberblick gibt Loewenstein, F›ine alte Geschichte?. 31 A.D. Smith, Nationalism and the Historians, in: International Journal of Comparative Sociology 33, 1992, S. 5 8 - 8 0 , hier S. 59. »The nation is then seen as serving individual and collective needs for warmth, strength and stability which assume much greater importance once the ties of family and neighbourhood are loosened. In that sense, nationalism may be functional for society in the modern era.« 32 Gellner, Nations; Anderson, Imagined Communities; Schulze, Staat und Nation. 33 Mommsen, Nation, S. 177. 34 Elwert, Nationalismus und Ethnizität. - Wo die bisherigen Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen nicht mehr funktionierten, werde die Nation zu einem berechenbaren Feld, in dem Vertrauen und Austauschbeziehungen auch ohne Geld möglich seien Die beschädigte Identität des einzelnen werde gestützt oder ersetzt durch die Beschwörung der nationalen Größe. 35 Mommsen, Nation, S. 181. 36 J. Gerhards, Soziologie der Emotionen, Weinheim 1988, S. 2 4 - 4 2 . 37 P. Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Themasisie-

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rung der dritten Ebene‹ in: A. Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/M. 1989, S. 85-136. 38 Burke, Collective Psychology (mit einer positiv-kritischen Bewertung des Umgangs mit psychologischen Phänomenen in der französischen Historiographie). 39 Agulhon, Marianne au pouvoir. 40 M. Hettling u. P. Nolte, Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.) Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politische Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 7-24, hier S. 16-24. 41 L. Aba-Lughod u. C.A. Lutz, Introduction: Emotion, Discourse, and the Politics of Everyday Lite, in: Dies. (Hg.), Language and the Politics of Emotion, Cambridge 1990, S. 1-23; C.A. Lutz u. GM. White, The Anthropology of Emotions, in: Annual Review of Anthropology 15, 1986, S. 405-436; Harré, The Social Construction. 42 Gerhards, Soziologie der Emotionen (integrativ, systematisch); Harre, The Social Construction; T.D. Kemper, Power, Status, and Emotions: A Sociological Contribution to a Psychophysiological Domain, in: K.R. Scherer u. P. Ekman (Hg.), Approaches to Emotion, London 1984, S. 369-384. 43 P.N. Stearns, American Cool. Constructing a Twentieth-Century Emotional Style, New York 1994, S. 1-15; Ders. u. C.2. Stearns, Emotionology: Clarifying the History of Emotion and Emotional Standards, in: American Historical Review 90, 1985, S. 813-836. 44 C. Armon-Jones, The Thesis of Constructionism, in: Harre, The Social Construction, S. 32-56, hier S. 33f. 45 Stearns, Cool, S. 2 46 Emotionen sind im weitesten Sinn nur im Rahmen des Zusammenspiels von Organismus, Persönlichkeit, Sozialsystem und Kultur zu begreifen. Gerhards, Soziologie, S. 2. 47 Siehe den vorzüglichen kritischen Essay von Burke, Collective Psychology, S. 24-28. 48 Gerhards, Soziologie, S. 200f. 49 Siehe den Beitrag von Pierre Nora in diesem Band. 50 M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 1985 (frz. Paris 1950); Ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M. 1985 (frz. Paris 1950). Vgl. auch J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen des politischen Verhaltens, ND Frankfurt/M. 1985; A4. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/M. 1990(frz. Paris 1965), S. 174-183; K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 129-134; F. Graf (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms; Stuttgart 1993 (Colloquium Rauricum 3); W. Schamschula, Mythos, Mythologie und Nationalismus im Schrifttum, in: HartmannSchmidt, Formen, S. 67-75. 51 W. Connor, The Nation and its Myth, in: International Journal of Comparative Sociology 33, 1992, S. 48-57. 52 Obwohl es sich in der deutschen Rezeption des von Pierre Nora entworfenen Konzepts der »lieux de memoire« inzwischen fast eingebürgert hat, von »Gedächtnisorten« zu sprechen, sind die Herausgeber dieses Bandes der Meinung, daß diese an der Halbwachsschen Terminologie (»kollektives Gedächtnis«) orientierte Übersetzung dem eigentlichen Konzept nicht gerecht wird. Denn tatsächlich erhalten die »lieux de mémoire« ihre spezifische Bedeutung nicht als Verkörperung eines quasi eigenständigen »Gedächnisses«, sondern durch die jeweilige »Erinnerung«, die ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben wird. In diesem Sinne wird im folgenden wie auch in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes abweichend von der bisher verbreiteten Praxis im allgemeinen der Begriff »Erinnerungsort« verwendet werden. 53 Die hier als nationale Mythen bezeichneten nationalen Geschichtserzählungen werden in der religionswissenschaftlichen Literatur zu den »neuen Mythen« bzw. »Pseudomythen«

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gezählt, um damit den Unterschied zu den Göttererzählungen der antiken Mythologie und anderen »echten« Mythen hervorzuheben (vgl. Hübner, Wahrheit, S. 349-365; G. Marchal, Mythos im 20. Jahrhundert. Der Wille zum Mythos oder die Versuchung des »neuen Mythos« in einer säkularisierten Welt, in: Graf, Mythos, S. 204-229, insb. S. 205f.). Als entscheidendes Kriterium gilt dabei der »spontane« bzw. »geschichtlich gewachsene« Charakter der »echten Mythen« (Hübner, Wahrheit, S. 361). Da alle Mythen ihren Ursprung in einer im gewissen Sinne »erfundenen Tradition« (Hobsbawm/Ranger) besitzen, muß jedoch eine solch Trennung von »echten« und »politischen« Mythen fragwürdig bleiben (ähnlich auch: W. Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, in: Graf, Mythos, S. 9-24). 54 Vgl. Eliade, Das Heilige, S. 85, 174. 55 Vgl. auch J. Tanner, »Man tanzt nicht, wenn im Nachbarhaus der Tod umgeht.« Die 500-Jahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs 1944, in: W. Geiser (Hg.), EreignisMythos-Deutung. 1444 1994. St. Jakob an der Birs, Basel 1994, S. 179-218, hier S. 198ff. 56 Vgl. etwa Balandier, Sens. 57 Vgl. etwa Cassirer, Mythus, S. 360-390. 58 So etwa U. Daniel u. W. Siemann, Historische Dimensionen der Propaganda, in: Dies., Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung (1789-1989), Frankfurt/M. 1994, S. 7-20. Ähnlich auch: Cassirer, Mythus, S. 360-390; Hübner, Wahrheit, S. 362-365. Eine entsprechende Kritik am ›Propaganda‹-Begriff in der älteren NationalismusForschung formuliert bereits Fehrenbach, Symbole, insb. S. 296-302. 59 So etwa schon: Hroch, Vorkämpfer. 60 Vgl. P. Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1987. 61 Vgl. hierzu etwa den Essay von H. Belting, Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe, München 1992. 62 Vgl. etwa E. Durkheim, Les formes élémentaires de la vie réligieuse. Le Système totémique en Australie, Paris 1960 4 ND 1990; D. Hervieu-Leger, La religion pour memoire, Paris 1993; A. Dupront, Religion, anthropologie religieuse, in: P. Nora (Hg.), Faire de l'histoire, Bd. 2, Paris 1974, S. 105-136; Ders., Du sacré. Croisades et pélérinages, images et langages, Paris 1987; Ders., Du sentiment nationale, in: M. François (Hg.), La France et les Français, Paris 1972. 63 Siehe hierzu auch allgemein Girardet, Mythes, insb. S. 17f. 64 Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 56-59. 65 Durkheim, Formes, insb. S. 50-58; siehe auch V. Turner, Dramas, Fields and Metaphors, Ithaca 1974. Wenig aufschlußreich dagegen: H. Pross, Ritualisierung des Nationalen, in: Link u. Wülfing, Nationale Mythen, S. 94-105. 66 Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 56-59; R. Koselleck, Einleitung, in: Ders. u. Jeismann, Totenkult, S. 9-20. Siehe auch Tanner, »Man tanzt nicht...«, S. 203-216; P. Sarasin, »Ihr Tod war unser Leben«. Die St. Jakobsfeiern im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geiser, Ereignis, S. 83-125, hier S. 100-122. 67 Hobsbawm, Nations. 68 Vgl. Durkheim, Formes, S. 544-548. 69 Vgl. allgemein zur gemeinschaftsstiftenden Rolle von politischen Ritualen M. Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana 1964; S. Lukes, Political Ritual and Social Integration, in: Sociology 9, 1975, S. 289-308. 70 Durkheim, Formes, S. 49-58, 531-555. 71 Ebd., S. 544-548. 72 Siehe hierzu auch P. Veyne, Propagande expression roi, image idole oracle, in: L'Homme 114, 1990, S. 7-26, hier S. 12, 21f. 73 Vgl. S. Moore u. B. Meyerhoff, Introduction. Secular Ritual: Forms and Meanings, in:

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Dies. (Hg.), Secular Ritual, Assen 1977, S. 18; D. Kertzer, The Role of Ritual in Political Change, in: M.J. Aronoff (Hg.), Political Anthropology, Bd. 2: Culture and Political Change, New Brunswick 1983, S. 63. 74 So z.B. H. Berding u.a. (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1989; H. Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen Gesellschaft seit 1800, München 1991; A. Mitchell, The Divided Path, Chapel Hill 1991; R. Hudemann u. G.-H. Soutou (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994. 75 D. Schnapper, La communauté des citoyens. Sur l'idée moderne de nation, Paris 1994. 76 Koselleck, Einleitung, S. 10.

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Geschichte

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HEINZ-GERHARD HAUPT

Der Nationalismus in der neueren deutschen und französischen Geschichtswissenschaft I. Unter den bestimmenden Parametern der deutschen und französischen Geschichtswissenschaft gehörten die gegenseitigen intellektuellen und kulturellen Beziehungen nicht zu den bekanntesten, aber doch zu den entscheidenden Faktoren. Stereotype beeinflußten das jeweilige Bild des Nachbarn, das in historischen Werken benutzt und fortgeschrieben wurde. In der Aufnahme von älteren Völkercharakteristiken entstanden nationale Selbst- und Fremdbezeichnungen, die durch das 19. Jahrhundert hindurch und bis in die Zwischenkriegszeit hinein weiterentwickelt, national angereichert und in historische Entwicklungsmodelle eingebaut wurden. Sie dienten der nationalen Selbstvergewisserung ebenso wie der Abgrenzung von anderen Völkern, vor allem jedoch vom jeweiligen Nachbarn.1 Wenn dieser Prozeß für Frankreich auch noch weniger bekannt ist als für Deutschland, so deuten Forschungen darauf hin, daß - wie Gerard Noiriel formuliert hat - die Definitionen von Nation und Volk allmählich von Individuen gebildet wurden, die in politischen und sozialen Auseinandersetzungen engagiert waren, deren zentrales Anliegen gerade in der Definition beider Worte bestand.2 In liberal-bürgerlichen Kreisen der konstitutionellen Monarchie Frankreichs ging es dabei um eine Abgrenzung vom Adel, der die Nation im Rückgriff auf die monarchische Vergangenheit definierte. Dagegen behaupteten Liberale die Offenheit der nationalen Gesellschaft für Veränderungen auf sozialem und politischem Gebiet. Im Unterschied zu diesem universalisierbaren Nationsverständnis bei Augustin Thierry, François Guizot oder Jules Michelet grenzten nach 1870 vor allem Fustel de Coulanges, Ernest Renan und Hippolyte Taine ihr Bild Frankreichs einerseits vom revolutionären Erbe, andererseits vom deutschen Nachbarn defensiv argumentierend ab.3 Dabei wurden Selbst- und Fremddefinitionen herausgebildet, mithin jene »asymmetrischen Gegenbegriffe« (R. Koselleck), die phasenweise und für Teile der Geschichtswissenschaft sowie der Publizistik maßgeblich in die Ausformulierung von ›nationalen‹ Positionen, Wertungen und Methoden eingingen.4 Eine genauere Analyse 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der Begriffe, die jeweils verbreitet waren, um die eigene nationale Gruppe von der anderen abzugrenzen, kann nicht nur dazu dienen, die Referenzhorizonte der jeweiligen Gruppe und ihrer Initiatoren auszuloten, sondern auch herauszuarbeiten, wie komplementär in beiden Ländern die Bestimmungen waren, mit denen die Besonderheiten der eigenen Nation charakterisiert wurden. Die Begriffspaare ›Staats- und Kulturnation‹, ›Zivilisation und Kultur‹ erhalten in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung. Eine naive Benutzung einzelner Wertungen, die die transnationalen Argumentationsfiguren unterschlüge, müßte in die Irre führen. Unter der Metapher der »Transferleistungen« wird in neueren, vor allem französischen Arbeiten diesen Zuschreibungsmechanismen wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet.5 Versucht man die Ansätze, die sich in der historiographischen Beschäftigung mit dem Nationalismus nach 1945 ausmachen lassen, zu sortieren, so lassen sich vier Perspektiven unterscheiden. Die erste war maßgeblich geistesgeschichtlich bestimmt und mit dem Ziel verbunden, die Übersteigerung des Nationalismus im Nationalsozialismus in eine historische Entwicklungslinie einzuordnen. In seinen Arbeiten unterschied Carlton Hayes vor der nationalsozialistischen Instrumentalisierung des Nationalismus eine jakobinische, liberale, konservative und integrale Version des Nationalen, Hans Kohn den rationalen westlichen vom irrationalen östlichen Nationalismus.6 Geistesgeschichtliche Zusammenhänge standen im Mittelpunkt jener einflußreichen Typologien. Eine zweite Richtung betonte die soziale Zusammensetzung, politische Programmatik und organisatorischen Strukturen der verschiedenen Nationalbewegungen. Nationale Organisationen wurden dabei nach den gleichen Kriterien analysiert wie politische Parteien oder Interessengruppen. Dieser Ansatz dominierte in Forschungen, die an der Universität Köln im Umkreis von Theodor Schieder entstanden sind. Er zeigt sich aber auch in Arbeiten, die nach der jeweiligen Funktion und nach dem Funktionswandel des Nationalismus fragen.7 Eine dritte Tendenz nahm die Thesen des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Karl W. Deutsch auf und fragte nach dem Prozeß der Nationsbildung, der nicht nur auf die Intentionen der »Nationbuilder« zurückgeführt, sondern mit der Komplementarität gesellschaftlicher Kommunikations- und Modernisierungsvorgänge verbunden wurde.8 Neuerdings schließlich steht die Kultur des Nationalismus im Mittelpunkt, das heißt das Problem, auf welchen Wegen staatstheoretische Entwürfe, gesellschaftliche Dynamisierungsstrategien und politische Interessenorganisationen in die Wertehorizonte der Bevölkerung eingingen und wie breit dabei das Nationale als Grundlage kollektiver Identität akzeptiert wurde.9 Fragt man nunmehr, ob und in welchem Ausmaß die Geschichtswissenschaft in Frankreich und in der Bundesrepublik an diesen Forschungsten40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

denzen teilgenommen haben, so sticht ein Unterschied zwischen den beiden Historiographien ins Auge. Während sich in der Bundesrepublik, wo alle vier Richtungen - wenn auch in unterschiedlicher Stärke - vertreten waren, ein insgesamt beeindruckendes Ensemble von Forschungen dem Nationalismus in Deutschland und in Westeuropa widmete,10 fehlte in Frankreich - sieht man von wegweisenden Arbeiten zur Kultur des Nationalismus ab - eine explizite Beschäftigung mit dem Problemkreis nahezu völlig. Wer sich einen Überblick über den französischen Nationalismus verschaffen will, ist immer noch auf eine aus den 1960er Jahren stammende, von Raoul Girardet eingeleitete Anthologie angewiesen. Diese konzentriert sich in ihrem Textteil ausschließlich auf die nationalistischen Manifestationen, die im Zusammenhang der Krise der Dritten Republik in den 1880er und 1890er Jahren ausbrachen und steuert mithin Elemente zu einer Vorgeschichte der 1900 gegründeten »Action Française« bei. Selbst das Werk Gérard Noiriels mit dem vielversprechenden Titel »Immigration, territoire et identité nationale en France XIXe-XXe siècle« ersetzt eine Geschichte desfranzösischenNationalismus nicht, da sich Noiriel auf die Abgrenzung und Assimilierung von Fremden und die damit verbundenen administrativen Prozesse konzentriert und fragt, ob und inwiefern diese die nationalistische Ideologie prägten.11 Auch Michel Winocks Band, der bereits zuvor publizierte Aufsätze zusammenfaßt, verbleibt wie Girardet in den Kreisen der Nationalisten des Fin de siècle, wenn man von kurzen Ausflügen in die 1930er Jahre einmal absieht.12 Zu den meisten zentralen Problemkreisen der Geschichte des Nationalismus in Frankreich fehlen französische Studien nahezu gänzlich. Die wenigen vorhandenen stammen zumeist von nicht-französischen Historikern. In allgemeinen Darstellungen zur Geschichte des Nationalismus ist unbestritten, daß sich der moderne Typus des nationalen Denkens, der nationalistischen Politik und Mobilisierung in der Französischen Revolution des Jahres 1789 herausgebildet hatte. George L. Mosse spricht in diesem Zusammenhang vom Beginn einer »Nationalisierung der Massen«.13 Sieht man von einer Geschichte des französischen Patriotismus von der Renaissance bis zur Reaktion ab, die der französische Revolutionshistoriker Alphonse Aulard bereits 1921 verfaßt hat, sowie von einem Artikel Jacques Godechots aus den 1970er Jahren, so schreckte die französische Revolutionshistoriographie offensichtlich vor der Analyse der Dynamik der Veränderungen durch die nationale Mobilisierung zurück. Selbst im »Dictionnaire critique de la Révolution française«, der zur 200-Jahrfeier eine die traditionellen Grundannahmen revidierende Version der Französischen Revolution präsentierte, ist nicht der Begriff Nationalismus, sondern lediglich die Nation vertreten.14 Dieser Artikel konnte sich zum einen auf Forschungen stützen, die Elisabeth Fehrenbach zur Geschichte des Be41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

griffs vom Ende des Ancien régime bis ins frühe 19. Jahrhundert angestellt hat, sowie zum anderen auf eine bereits in den 1930er Jahren publizierte Auswertung der »Cahiers de Doléance« durch die amerikanische Historikerin Beatrice Hyslob. Ein Kenner der Revolution wie François Furet hat diese Forschungslücke erkannt, als er schrieb: »Wenig erforscht und einer genaueren Betrachtung würdig ist die soziale Resonanz des Diskurses des nationalen Messianismus im revolutionären Frankreich und der Übergang vom ›Patriotismus‹ von 1789, der sich aus dem gewaltsamen Bruch mit der Aristokratie speiste, zu jenem von 1792, der von der Idee einer universellen Mission der Nation angereichert wurde.«15 Selbst auf wesentliche Probleme des französischen Nationalismus am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben zuerst ausländische Historiker hingewiesen, ohne daß ihre französischen Kollegen diese Forschungen weitergeführt hätten. So hat Eugen Weber die Staats- und Nationsbildung im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert, Gilbert Ziebura den nationalistischen »revival« vor 1914 untersucht und die »Action Française« mit Eugen Weber ihren ersten Historiker gefunden. Auch bei einer jüngst auf Initiative britischer Historiker organisierten Tagung über Nationalität und Nationalismus in Frankreich blieben die französischen Autoren gegenüber angelsächsischen Forschern deutlich in der Minderheit.16 Selbst zentrale Phasen der französischen Nationsbildung und wichtige Theoretiker und Protagonisten des Nationalismus haben ihre Bearbeitung entweder außerhalb Frankreichs oder bislang überhaupt noch nicht gefunden. Ebensowenig wie der jakobinische Nationalismus, der in seiner Verbindung von politischen Idealen und propagandistischem Missionsbewußtsein wichtige Spuren im 19. Jahrhundert hinterließ, ist die nationalistische Agitation in der Julimonarchie oder zu Beginn der Dritten Republik monographisch untersucht worden. Wichtige theoretische Entwürfe des Nationalismus etwa bei Maurice Barrès sind nicht von französischen Forschern, sondern vom israelischen Historiker Zeev Sternhell eingehend untersucht worden.17 Detaillierte Arbeiten über Ernest Renan, Jules Michelet oder Raymond Poincaré, die vor 1914 in verschiedener Hinsicht eine entscheidende Rolle bei der Definition und Verbreitung der nationalistischen Ideologie spielten, stehen in Frankreich noch aus. Die Frage schließlich, ob, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Parteien und Interessenorganisationen nationalistisch aufgeladene Themen und nationale Loyalitäten in der Tagespolitik bemühten, ist in der französischen Historiographie keineswegs ein so durchgängiges Thema wie in der bundesrepublikanischen Forschung.

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II. Nun könnte man allerdings argumentieren, daß die politische Instrumentalisierung des Nationalen in der französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geringer war und daß nationalistische Thesen politisch eingebunden und gleichsam neutralisiert waren.18 Solange aber die Aufmerksamkeit derfranzösischenForschung für diesen politischen Gebrauch des Nationalismus so gering ist, bleibt diese Argumentation wenig überzeugend. Denn es fehlt keineswegs an Beispielen für den massiven Einsatz nationalistischer Parolen in der französischen Innenpolitik am Rande des republikanischen Spektrums oder gegen es. So ist beispielsweise die Bewegung des General Boulanger zwar bereits in den 1950er Jahren erforscht worden, der Akzent lag dabei aber weniger auf der Wirksamkeit des »Mouvement« als auf dessen sozialen Strukturen und der ökonomischen Situation, in der es dem General gelang, sich mit revanchistischen Parolen eine Massenbasis auch in den arbeitenden Klassen zu erobern. Hingegen stehen detaillierte Analysen etwa zu dem Nationalisten Paul Déroulède aus, der als Herold dafür warb, daß Frankreich für die Niederlage im deutsch-französischen Krieg Revanche suche. Auch die Versuche von Marcel Déat zu Beginn der 1930er Jahre, Sozialismus und Nationalismus so zu verquicken, daß den faschistischen Bewegungen der Wind aus den Segeln genommen werden könne, haben erst in jüngster Zeit vor allem bei nichtfranzösischen Autoren Beachtung gefunden.19 Die Ursachen für die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit, die die französische Geschichtswissenschaft dem Nationalismus widmete, sind zum einen in der historischen Entwicklung Frankreichs selbst, zum anderen in Besonderheiten der Geschichtsschreibung zu suchen. Da die französische Nation bereits in der frühen Neuzeit politisch konstituiert, das Gewalt- und Steuermonopol des zentralistischen Staates deutlich früher als in Deutschland durchgesetzt war, stellte der Prozeß der Nationalstaatsbildung ein geringeres Problem als in Deutschland dar. Die Aufmerksamkeit richtete sich nicht so sehr auf die Notwendigkeit der nationalen Einigung, als auf die unterschiedlichen Konstitutionsprinzipien des Nationalstaats. Die politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen des 18. und 19. Jahrhunderts fanden bereits in einem Rahmen statt, in dem die Staatlichkeit Frankreichs nicht mehr zur Disposition stand.20 Vor allem aber hat die Durchsetzung der modernen, auf die Zustimmung der Aktivbürger gegründeten Nation in der Französischen Revolution von 1789 die Wahrnehmung nationaler Probleme geprägt. Da diese Nation prinzipiell offen war für all diejenigen, die die politischen Werte der Revolution annahmen, konnte sie als keineswegs national eingeengtes Prinzip verstanden werden. Da die Werte universalistisch definiert wurden, wurde die Forderung nach 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

rechtlicher, sprachlicher und kultureller Homogenität während der Jakobinerzeit eher als Ausdruck eines republikanischen Kredos, denn als nationalistische Gleichmacherei oder tendenziell terroristisches Programm angesehen. In der Verbindung von Republikanismus, Nationalismus und Universalismus bot die Französische Revolution einen Werthorizont, in dem dem Nationalismus eine untergeordnete, durch republikanische und universelle Prinzipien entschärfte Bedeutung zukam.21 In dem Maße, in dem die politisch vereinigte Nation zum Gründungsmythos des liberalen und später dann des republikanischen Frankreich gehörte, wurden nationale Traditionen eher beschworen als differenziert analysiert. Der legitime Verteidigungskampf der »Nation en armes« (»Nation in Waffen«) und der »Patrie en danger« (»Vaterland in Gefahr«), hatte dabei mehr Gewicht als Xenophobie und nationale Verengung.22 Das Nationale, das man begrifflich deutlich vom Chauvinismus absetzte, wobei man den Nationalismus als Bewegung gänzlich aussparte, war derartig im Republikanischen aufgehoben und entschärft, daß es keine dynamische Kraft oder zerstörerische Wirkung mehr entfalten konnte. Überdies spiegeln sich in der Vernachlässigung der Nationalismusforschung gewisse Tendenzen der französischen Historiographie wider. Diese hat bekanntlich viel weniger Anregungen in den systematischen Sozialwissenschaften gesucht als die deutsche und hat vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in einer An- und Ablehnung des von der Kommunistischen Partei Frankreichs formulierten orthodoxen Marxismus ihre Ansätze legitimieren und durchsetzen müssen. Dabei spielte die Auseinandersetzung um den Nationalismus keine Rolle.23 Jene historische Schule, die sich in ihrer methodischen Offenheit und Interdisziplinarität des Problems hätte annehmen können, die »Annales«-Schule, hat nach 1945 der Zeitgeschichte und der Erforschung von Ideologien wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Da überdies Studien zu staatlichen Strukturen lange Zeit eher in den juristischen Fakultäten gemacht wurden, blieb auch eine breite Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalstaats in Frankreich aus. Ein Aufbrechen der hier sicherlich überpointiert geschilderten Blockaden der Forschung setzte in dem Augenblick ein, in dem zentrale Bestimmungselemente des nationalen Modells Frankreich in Frage gestellt wurden. Erst dann setzten auch historiographische Veränderungen ein. Mit dem Zweifel an der Fortschrittlichkeit der französischen Geschichte, der zunehmenden Suche nach ihren Schattenseiten und dem Verlust der Großmachtstellung wurde das bisher unbefragt übernommene Modell Frankreich in sich brüchig, oder wie Pierre Nora formulierte: »Ein Absturz vom Eingedenken zur Historie, von einer Welt, in der man Vorfahren hat, zu einer Welt mit zufälliger Beziehung zu dem, was uns gemacht hat, Übergang von einer totemistischen Geschichte zu einer kritischen Geschichte: 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Das ist der Augenblick der Gedächtnisorte. Man feiert nicht mehr die Nation, sondern studiert ihre Feierstunden.«24 In der kulturgeschichtlichen Analyse jener »lieux de mémoire« liegt zweifellos eine wichtige Innovationsleistung der französischen Geschichtswissenschaft. Wenn das ihr zugrundeliegende Programm auch als eine Kompensation für die verlorene politische Weltmachtstellung Frankreichs zu interpretieren ist, so sind die einzelnen Aufsätze oft beeindruckende Forschungsleistungen, die demonstrieren, wie sich kumulativ und kontinuierlich ein Bestand an nationalen Größen, Bezugspunkten und Symbolen herausbildete. Sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze werden in den gelungensten Analysen überzeugend verbunden. Es entsteht das Bild einer Nation, die sich - nach der Formulierung von Fernand Braudel - »mit dem Besten und Wesentlichsten, über das sie verfugt, identifiziert, sich also in Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt sind«.25 In der Vergangenheit bildete sich dieser Konsens über die »Markenzeichen und Losungsworte« erst in Auseinandersetzungen heraus. Schon bald wurde er aber auch wieder brüchig. Die »lieux de mémoire« Noras versuchen indes nicht nur jenen Prozeß nachzuzeichnen, sondern auch den Augenblick zu erfassen, in dem die Orte der Erinnerungen ihre trennende Wirkung verloren haben, ohne bereits obsolet oder antiquiert zu erscheinen. Vergleicht man etwa diesen Ansatz mit bundesrepublikanischen Forschungen zu Nationaldenkmälern, so fällt auf, daß dort den sich verändernden Verwertungsbedingungen keineswegs eine ähnliche Wirkung zugeschrieben wird, wie es in Frankreich geschieht. Vielmehr werden sie in den Tagesstreit der politischen Parteien gestellt und mit allgemeinen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Eher ihre politische Aussagekraft als ihre Wirkung auf Einstellungen standen daher bisher im Mittelpunkt der meisten Arbeiten in der Bundesrepublik.26 III. Ebenso wichtig wie der Vergleich der vorhandenen Forschungen ist die unterschiedliche Bedeutung, die die Nation vor allem in der Gegenwart in den beiden Historiographien erlangt hat. Im Unterschied zur deutschen Geschichtswissenschaft wird in Frankreich der Zusammenhang von Bürgertum und Nationalismus weitgehend ausgeblendet. Der Nationalismus und die nationale Idee werden kaum als Ausdruck, Mittel und Ergebnis bürgerlicher Interessen und Konstellationen analysiert und systematisch entfaltet, sondern - von wenigen Ausnahmen abgesehen - eher geistes- und mentalitätsgeschichtlich und damit sozialgeschichtlich ungenau verortet. In die45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sem Punkt unterscheidet sich die französische Historiographie deutlich von der deutschen, die gerade die Rolle des Nationalismus in der Politik der bürgerlich-liberalen Bewegung und die Rolle des Nationalen bei der Selbstdarstellung bürgerlicher Herrschaft thematisiert hat.27 Nicht nur kam in Frankreich die Darstellung des Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts ohne die Kategorie des Bürgertums aus, sondern auch die Geschichte des Bürgertums ohne die Einbeziehung des Nationalen. Dies wird an den großen Arbeiten zum Bürgertum von Adeline Daumard, Jean-Pierre Chaline und Christophe Charle deutlich.28 Dabei ist keineswegs ausgemacht, daß dieser Unterschied in der Behandlung auch eine Differenz der realhistorischen Entwicklung bedeutet. Denn die liberalen Bürger der Restaurationszeit und der Julimonarchie benutzten in ihrer Abgrenzung vom Adel sehr wohl nationale Parolen, gaben diesen aus der herrschenden Revolutionsfurcht heraus indes keine aggressive Wendung.29 Die Frage, ob die Tatsache, daß wenig über die Rolle von Vereinen für die Durchsetzung nationaler Werte in bürgerlichen Kreisen Frankreichs im 19. Jahrhundert bekannt ist, nun ein Ausdruck der Realität oder der historiographischen Tendenzen ist, muß offen bleiben. Die Beschäftigung mit dem Nationalismus in der französischen Historiographie ist sehr stark auf den »etat national unitaire«, auf den Nationalstaat bezogen. Dieser Bezugspunkt wird in den »Lieux de mémoire« von Pierre Nora deutlich, der als Fluchtpunkt die Orte des republikanischen und sich als Einheit konstituierenden Staates und die Phasen der Herausbildung der politischen Identität Frankreichs, nicht aber der einzelnen Gruppen verwandte.30 Die Erinnerungstypen, die in dem Werk schließlich behandelt werden, entwickelten sich von der »königlichen Erinnerung« (»memoire royale«) über die »staatliche Erinnerung« (»memoire etat«) zur »staatsbürgerlichen Erinnerung« (»memoire citoyen«) und verblieben mithin im Rahmen der staatlichen Konstruktionen. Auch Maurice Agulhon untersucht die nationale Ikonographie und Symbolik in ihrer Bedeutung für die Herausbildung der französischen Republik und der politisch konstitutierten Nation. Schließlich verengt Gerard Noiriel in einem jüngst erschienenen Aufsatz zur Sozialgeschichte des Nationalen seinen Ansatz auf die Identifikations- und Assimilationsprozesse im Nationalstaat, dessen Existenz vorgegeben und nicht hinterfragt wird.31 Stärker die Probleme des Nationalismus als der Nationalismus selbst stehen mithin in jenen Ansätzen im Mittelpunkt. Analog dazu hat sich der politische Regionalismus in Frankreich selbst als Angriff oder Auf- bzw. Abweichung vom Nationalstaat verstanden, der in seiner republikanischen Variante die Existenz von Zwischengewalten ablehnte. Auch die Historiographie ist teilweise dieser Einschätzung gefolgt.32 Es bedeutet einen deutlichen Fortschritt, wenn in den letzten 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Jahren die spezifischen Konstruktionsprinzipien regionalen Sonderbewußtseins stärker herausgearbeitet werden und die Region, die keineswegs mit den alten Provinzen identisch zu sein brauchte, wie etwa im Falle der Bretagne als Konstrukt eines heterogenen Ensembles von Notabein, Klerus und Intellektuellen interpretiert wird.33 Die teleologische Tendenz und die Fixierung auf den Nationalstaat ist der deutschen Historiographie auch nicht fremd und wurde in ihr zudem oft in modernisierungstheoretische Überlegungen eingebettet. Daß die historische Entwicklung notwendigerweise auf die Gründung eines Nationalstaates hinauslaufen müsse, diese Meinung teilten nicht nur die Liberalen und Karl Marx, sondern auch die Historiker in Deutschland nach 1945. Ein in beiden Ländern verbreitetes Begriffspaar war die Gegenüberstellung von ›Kultur- und Staatsnation‹, die oftmals unhinterfragt als Paradigma in die Nationalismusforschung eingegangen ist. Bekanntlich hat Friedrich Meinecke in seinem erstmals 1907 erschienenen Buch »Weltbürgertum und Nationalstaat« den Unterschied zwischen Frankreich, das sein Nationalbewußtsein auf dem »Geiste von 1789, dem Gedanken der Selbstbestimmung und Souveränität der Nation« gegründet habe, und Deutschland herausgearbeitet, wo die Zugehörigkeit auf der gemeinsamen Kultur, Sprache und Geschichte fußte.34 In einer Ausweitung dieser These ist der Gegensatz vom »subjektiven«, westlichen Nationalismus und dem »objektiven«, ost- bzw. mitteleuropäischen Nationsbegriff entfaltet worden. Die Kategorien sind zwar immer wieder kritisiert worden, weil sie zu sehr aus der Geistesgeschichte entwickelt wurden und Mischungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Typen ausschlössen, aber sie sind doch als zentrale Bezugsgrößen relevant geworden. Dabei hat sich die Vorstellung eingeschliffen, als sei der Unterschied eine der Forschung vorgelagerte Realität, nicht aber ein Konstrukt historischer Forschung und Rekonstruktion. Schon ein Blick auf die politische Geschichte der ersten Teile des 19. Jahrhunderts lehrt das Gegenteil. Denn die Betonung einer auf die Teilnahme der Bürger gegründeten Nation gehörte generell zu den Leitmotiven einer liberalen Geschichts- und Gesellschaftssicht, während konservative, gegenrevolutionäre Denker und Politiker die objektiven Grundlagen der Nation akzentuierten. Selbst Ernest Renan hat in seinem berühmten Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882, der als Manifest des subjektiven Nationsbegriffs galt, sehr wohl die Bedeutung von Rasse, Sprache und natürlichen Gegebenheiten für die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls diskutiert.35 Mithin ist es notwendig, die intellektuellen und politischen Bedingungen zu bestimmen, unter denen das antinomische Begriffspaar entwickelt, umformuliert und angewandt wurde. Eine Ineinssetzung der deutschen Entwicklung mit dem einen, der französischen mit dem anderen Weg ist wenig sinnvoll. 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Überdies hat sich jene Gegenüberstellung als zu schematisch erwiesen, da selbst der französische Nationalismus sich sowohl auf subjektive als auch auf objektive Begründungselemente stützte und auch im deutschen Nationalismus das subjektive Element keineswegs fehlte. Gerade in der Mischung aus Beteiligungsrechten und Abgrenzungsstrategien scheint das Charakteristikum des Nationalismus zu liegen.36 Zudem ist in diesem Kontext die Aussage von Ernest Renan wohl überinterpretiert worden. Bei einer genaueren Lektüre erweist sich nämlich, daß Renan die subjektive Begründung der Nation sehr wohl gleichberechtigt neben andere eher objektive Begründungen des Nationalen stellt. Er sieht sie keineswegs als Grundlage jeglicher Nationsbildung, sondern ausschließlich als Mittel an, um das Problem Elsaß-Lothringen zwischen Deutschland und Frankreich durch eine Volksbefragung aus der Welt zu schaffen.37 Gleichwohl ist es bezeichnend, wie in Anlehnung an Renans Aussage und durch deren Herauslösung aus dem Argumentationszusammenhang ein bestimmter Typus der nationalen Zuordnung hochstilisiert worden ist. Die Geschichte des Erfolgs jenes einflußreichen Satzes von Ernest Renan: »Die Nation ist ein tägliches Plebiszit« (»La nation, c'est un plébiscite de tous les jours«) bleibt in ihrem Einfluß auf Mentalitäten und Stilisierungen nationaler Eigenarten zu schreiben. Während in den 1960er und 1970er Jahren die Untersuchung der Verbindung von Nationalismus und geistesgeschichtlichen Strömungen etwas aus der Mode gekommen ist, hat vor allem die Suche nach den sozialen Gruppen und politischen Formen zugenommen, die den Nationalismus getragen und strukturiert haben. Vor allem der Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts ist als Teil einer breiten Sammlungsbewegung interpretiert worden, in der die herrschenden Kräfte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich versucht haben, die durch die soziale Frage erschütterte Gesellschaft zu einen und die Herrschaftspositionen der traditionellen Eliten in einem Rückgriff auf ständische Modelle abzusichern. So ist etwa für Deutschland das Jahr 1878 als Wende von einem eher liberalen, mit emanzipatorischen Zielen durchsetzten Nationalismus zu einem konservativen, auf die Bewahrung bestehender Herrschaftsstrukturen konzentrierten Nationalismus des Jahrhundertendes beschrieben worden. Aber auch in Frankreich ist die Boulanger-Krise der Jahre 1886 bis 1889 als entscheidende Zäsur in dem allgemeinen Übergang zu einem in der Rechten verankerten Liberalismus angesehen worden.38 Gegen solche Thesen hat Dieter Langewiesche mit Recht und guten Argumenten formuliert, daß die Ausgrenzung von Anfang an zum Nationalismus gehörte und daß der Nationalismus keineswegs vollständig in einem allein auf Mitwirkung und Zusammenspiel gegründeten liberalen Gesellschaftsmodell aufging. Auch Michael Jeismann hat herausgearbeitet, wie stark Feindbilder 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

als konstitutive Elemente in dem französischen und deutschen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts eingegangen sind. 39 Die Frage, welche sozialen Schichten vor allem für die Verbreitung des Nationalismus und seine Aufnahme verantwortlich waren, hat besonders stark die Forschungen bestimmt, die im Umkreis von Theodor Schieder in Köln unter anderem von Gerhard Brunn, Peter Alter und Otto Dann durchgeführt wurden, Ihre Forschungen galten der Sozial- und Organisationsstruktur nationaler Organisationen. Eine Fülle von sehr detaillierten Untersuchungen zu Katalonien, Galizien, Polen und Irland sind in diesem Kontext entstanden. Miroslav Hroch hat diese Forschungen für die kleinen Nationen vor allem Ostmitteleuropas und Nordeuropas erweitert und die These vertreten, daß den Intellektuellen in einer Dreiphasenentwicklung der nationalen Bewegungen eine entscheidende Rolle bei der Initiierung und Verbreitung der Massenbasis nationalistischer Organisationen zukamen. 40 Jene Forschungen, die eine direkte Beziehung zwischen sozialen Gruppen und Klassen und politischem Engagement herstellen, sind in der gegenwärtigen Diskussion allerdings daraufhin befragt worden, ob sie nicht den Nationalismus zu reduktionistisch erklären, die Komplexität der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und politischen Organisationen und Programmen und das Eigengewicht nationaler Symbole, Begriffe und Rituale unterschätzen. 41 Schließlich ist der Nationalismus als Teil allgemeiner sozialer Prozesse untersucht worden. Unter diesen standen die Modernisierungs- und Staatsbildungsprozesse im Mittelpunkt. Diese Forschungen sind inbesondere durch die Überlegungen von Karl W. Deutsch angeregt worden, der den Nationalismus auf eine besonders dichte Kommunikation und die Komplementarität von Verkehrs- und Organisationsformen in verschiedenen Gesellschaften zurückführte. In historischen Studien u. a. von Otto Dann sind in dieser Perspektive die Vereine in ihren Verbindungen, der Grad der Schulbildung und Alphabetisierung sowie die Verbreitung der Zeitungen als sozialgeschichtliche Prozesse untersucht worden, um die Etappen und das Ausmaß der Nationsbildung in Deutschland zu bestimmen. Für Frankreich hat das klassische Werk von Eugen Weber »Peasants into Frenchman« - wenn auch auf teilweise problematischer Quellenbasis nachgewiesen, wie langsam sich die Nation als Erfahrungsraum und -horizont in der Alltagspraxis von Franzosen durchsetzte und wie spät einzelne Teile der Bevölkerung in einen nationalen Kontext integriert wurden. 42 Diesen Forschungen liegt in der Regel ein teleologisches Modell zugrunde, da es ihnen darum geht, die einzelnen Phänomene an dem Grad ihrer Nähe zum Nationalen und als Etappen auf dem Weg zur nationalen Integration zu erforschen. Sie gehen - ähnliche Vorstellungen von Norbert 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Elias aufnehmend - von der Diffusion von kulturellen Modellen von oben aus, die sich gleichsam tröpfchenweise in der Gesellschaft verbreiten, und sind der Meinung, daß Strukturen die Verhaltensweisen prägen. Dabei unterschlagen sie ein wichtiges Problem der Nationalismusforschung, nämlich daß es nicht nur eine Herausbildung des Nationalen, sondern auch eine Zurückbildung nationaler Zusammenhänge geben kann und segeben hat. Die Rolle der Region als Etappe und Widerpart des Nationalen ist in dieser Sichtweise wenig relevant geworden. Sie wird eher als Teil des Weges zum Nationalstaat gesehen oder als Partikularismus gewertet, kaum aber in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt. 4 3 In den historischen Forschungen, die sich an Modernisierungstheorien anlehnen, wird geradezu in der Überwindung der parochialen Sichtweise und der regionalen Begrenzung eine Voraussetzung für die Herausbildung von nationalen Loyalitäten gesehen. 44 Da die Erklärung und Typologisierung der Nationalstaatsbildung Ziel jener Konstruktionen ist, können die Regionen als eigenständige, in sich durchaus widersprüchliche und komplexe Formen der Identitätsbildung nicht zureichend gewichtet werden. Schließlich ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß zu schnell Regionen mit Regionen gleichgesetzt werden. Regionen eines dynastischen Reiches haben eine andere Bedeutung als imaginäre Regionen oder Regionen in zentralistischen oder dezentral organisierten Staaten. Nation und Region rücken indes in den neueren, insbesondere von Benedict Andersons These der »imagined community« angeregten Arbeiten als Vorgänge in den Mittelpunkt, in denen Werte und Symbole geschaffen, organisiert und verbreitet werden. 45 Diese Werte und Symbole besitzen im Unterschied zu anderen historischen Wertkonstruktionen einige Besonderheiten. Beim Nationalismus handelt es sich um Werte, die Legitimität beanspruchen, ohne sich selbst legitimieren zu müssen. Diese Werte konstruieren durch die Stilisierung kultureller Eigenarten Abgrenzungen bzw. Überlegenheiten. Sie beziehen sich auf einen Gründungsmythos, eine unerhörte Begebenheit oder eine besondere Tradition.

IV. Ausgehend von jenen Überlegungen scheinen folgende Wege der historischen Analyse gegenwärtig sinnvoll. Einmal sind nationale und regionale Identitäten als Prozesse der Zuschreibung einer bestimmten Eigenart zu untersuchen. Die Fragen nach nationalem und regionalem Habitus und nach den Bedingungen, unter denen sich diese herausbildeten, sind in der Vorurteilsforschung für die Gegenwart untersucht worden. Sie wären aber auch im historischen Bereich zu verlängern. Insbesondere wäre dabei jene 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Korrespondenz von Zuschreibungen herauszuarbeiten, die Reinhart Koselleck in dem Konzept der »korrespondierenden Gegenbegriffe« erfaßt hat. Region und Nation sind darüberhinaus als Ergebnis der Strategien unterschiedlicher sozialer Gruppen zu interpretieren. In die Konstruktion der Besonderheit einer bestimmten Region können überaus unterschiedliche Strategien eingehen. Dies ist am Beispiel der Bretagne nachgewiesen worden, deren Eigentümlichkeiten in der Zeit zwischen 1815 und 1840 sowohl von lokalen Gelehrten und dem Klerus als auch von Adligen und Pariser Schriftstellern festgelegt und verbreitet worden sind. Eine Vielfalt teilweise divergierender, teilweise konvergierender Strategien kann mithin in die Konstruktion des Regionalen wie des Nationalen eingehen. 46 Es handelt sich nicht um eine, sondern um unterschiedliche soziale Gruppen, die Loyalitätsbildung betreiben. Die relevante Frage dabei lautet, welche soziale Gruppe welches nationale oder regionale Ereignis im Rückgriff auf welche Mythen, Geschichte, Vorbilder in Szene setzt. Bei der Untersuchung der Region und Nation als öffentliche Inszenierung ist immer auch zu fragen, ob das Engagement für das nationale Ereignis tatsächlich als Ausdruck von nationalen Loyalitäten zu interpretieren ist, oder ob das Nationale als Metapher für andere Prozesse und andere Zuordnungen steht oder aus anderen Zusammenhängen entsteht. In einer neueren Arbeit hat zum Beispiel Charlotte Tacke nachweisen können, daß die Sammlungen, die den Bau des Hermannsdenkmals bei Detmold begleiteten, keineswegs schlicht als Ausdruck nationaler Gesinnung zu interpretieren sind, da Geschäftsbeziehungen und individuelle Kontakte für die Verbreitung der Sammlung relevant waren und Beamte geradezu verpflichtet waren, ihr Scherflein zum Denkmalsbau beizutragen. 47 Eher ein Netz von Verpflichtungen und Geselligkeitsstrukturen als ein mitreißender Strom von nationaler Gesinnung kann offensichtlich aus jenen Sammlungen abgelesen werden. Auch die Feste, die ein derartiges als national ausgegebenes Symbol begleiteten, waren eher lokale und regionale als nationale Feierstunden. In dem Maße, in dem die sozialen Bezüge und Mechanismen hinter den nationalen Aufmärschen erscheinen, verliert damit das Nationale seinen Ausschließlichkeitsanspruch. Es ist Teil eines komplexen Wirkungszusammenhanges, jedoch keineswegs notwendigerweise dessen Motor.

Anmerkungen 1 Siehe etwa R. Blomert u.a. (Hg.), Tranformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt/M. 1993, darin vor allem den Aufsatz von M. Maurer, Nationalcharakter in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Vergleich, in: ebd., S. 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

45-84. Zum Zusammenhang von Fremd- und Selbstthematisierung siehe A. Hahn u. V. Kapp (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt/M. 1987, insb. A Hahn, Identität und Selbstthematisierung, in: ebd., S. 9-24; sowie M. Jeismann, Was bedeuten Stereotype für nationale Identität und politisches Handeln, in: J. Link u. W. Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 84-93. 2 Vgl. die Bemerkungen von G. Noiriel, Population, immigration et identité nationale en France XIXe-XXe siècle, Paris 1992, S. 5; Ders., La tyrannie du national. Le droit d'asile en Europe (1793-1993), Paris 1991. 3 Siehe die Ausführungen bei Noiriel, Population, S. 5ff.; sowie W. Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt 1989. 4 R. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 211-259. 5 Siehe M. Espagne u. M. Werner (Hg.), Transferts culturels. Les relations interculturelles dans l'espace franco-allemand (XVIII-XXe siècles), Paris 1988; siehe auch G. Noiriel, Trans ferts culturels: l'exemple franco-allemand. Entretien avec M.Espagne,in: Genèses 8, 1992, S. 146-154; M. Christadler (Hg.), Deutschland-Frankreich. Alte Klischees - Neue Bilder, Duisburg 1981. 6 C.J.H. Hayes, Essays on Nationalism, New York 1926; Ders., Nationalism. A Religion, New York 1960; H, Kohn, Die Idee des Nationalismus, Frankfurt 1962; Ders., Prelude to Nation States. The French and German Experience 1789-1815, Princeton 1967. Zur Forschungsentwicklung vgl. immer noch: H.A. Winkler, Der Nationalismus und seine Funktion, in: Ders. (Hg.), Nationalismus, Königstein 1978, S. 5-48, hier S. 7ff. 7 Vgl. jetzt die Aufsatzsammlung T. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat, Göttingen 1992; Ders. (Hg.), Staatsgründlingen und Nationalitätsprinzip, München 1974; Ders. (Hg.), Sozialstruktur und Organisation europäischer Nationalbewegungen, München 1971. Dieser Richtung ordnet sich auch O. Dann mit seinen Forschungen zu. Siehe O. Dann (Hg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit, München 1986; Ders. u. J. Dinwiddy (Hg.), Nationalism in the Age of Revolution, London 1988; Ders., Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993. Siehe auch P. Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985. 8 K.W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge/Mass. 1953; Ders., Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972. Mit dem Modell von Deutsch arbeitet O. Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978. 9 Siehe M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992 (Sprache und Geschichte 19); aber auch E. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 1991. In diesen Kontext gehören die Arbeiten zu nationalen Denkmälern und Festen. Siehe etwa: M. Hettling u. P. Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993. Vgl. vor allem die innovative Studie von C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995. 10 Siehe auch: H.A. Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982, darin vor allem: M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus, S. 12-27. Stimulierend: H. Mommsen, Nationalismus als weltgeschichtlicher Faktor. Probleme einer Theorie des Nationalismus (1971), in: Ders., Arbeiterbewegung und nationale Frage, Göttingen 1979, S. 15-60; Ders., Nation und Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: W. Schieder u. V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 2, Göttingen 1986, S. 162-185. Siehe auch die Einarbeitung der deutschen Forschung in: W. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500-1914, Göttingen 1994, vor allem aber in: D. Langewiesche, 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Nationalismus im 19. und 20. Jahrhunden. Zwischen Partizipation und Aggression, BonnBad Godesberg 1994 (Gesprächskreis Geschichte 6). 11 G. Noiriel, Immigration, territoire et identité nationale en France XIXe-XXe siècle, Paris 1991. 12 Siehe R. Girardet (Hg.), Le nationalisme français. 1871-1914. Textes choisis, Paris 1966; Ders., Pour une introduction à l'histoire du nationalismefrançais,in: Revue française des sciences politiques 8, 1958, S. 505-528; M. Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1990. 13 G.L. Mosse, The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, New York 1975. 14 F. Furet u. M. Ozouf, Dictionnaire critique de la Revolution Français, Paris 1988, S. 801 ff.; A. Aulard, Le Patriotismefrançaisde la Renaissance à la Révolution, Paris 1921; J. Godechot, Nation, patrie, nationalisme, patriotisme en France au 18e siècle, in: Annales historiques de la Revolutionfrançaise206, 1971. 15 F. Furet, La Révolution, 2 Bde., Paris 1988, hier Bd. 1, S. 191;E.Fehrenbach, Nation, in: R. Reichhardt u. E. Schmitt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, München 1986, S. 75-107; B.F. Hyslob, French Nationalism in 1789 according to the General Cahiers, New York 1934. 16 E. Weber, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870-1914, Stanford 1976; G. Ziebura, Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1911-1914, Berlin 1955; E. Weber, L'Action française, Paris 1964; R. Tombs (Hg.), Nationhood and Nationalism in France. From Boulangism to the Great War. 1889-1918, London 1991. Eine Ausnahme bildet das allerdings in der Forschung wenig beachtete Werk von J.P. Rioux, Nationalisme et Conservatisme. La ligue de la patrie française 1899-1904, Paris 1977. 17 Zur Verbindung von Nationalismus und Liberalismus in der Restaurationszeit vgl. H.G. Haupt, Nationalismus und Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frankreich der Restauration, Frankfurt/M. 1974. Siehe auch Z. Sternhell, Maurice Barrès et le nationalisme français, Paris 1972; Ders., La Droite révolutionnaire, Paris 1984; jetzt auch J.-F. Sirinelli u. E. Vigne (Hg.), Histoire des droites en France, 3 Bde., Paris 1993; M. Winock, Histoire de l'extrême droite en France, Paris 1993. In dem Klassiker von R. Rémond, Les Droites en France, Paris 1982, spielt der Nationalismus kaum ein Rolle. 18 Diese Position scheint etwa durch in: P. Nora (Hg.), Les lieux de memoire, Bd. 2: La Nation, 3 Bde., Paris 1986. 19 Das Werk des Schweizer Historikers: P. Burrin, La Dérive fasciste: Doriot, Déat, Bergerey, Paris 1986. 20 O. Dann, Der Durchbruch der modernen Nation. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: J. Schlobach (Hg.), Médiations/Vermittlungen. Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bern 1992, S. 47-50. 21 Siehe P. Nora, Nation, in: Furet u. Ozouf, Dictionnaire, S. 801ff. 22 Siehe D. Richet, Frontieres naturelles, in: ebd., S. 742-750. 23 Siehe G. Noiriel, La question nationale comme objet de l'histoire sociale, in: Genèses 4, 1991, S. 72-94; enttäuschend: B. Jenkins, Nationalism in France: Class and Nation since 1789, London 1990. 24 Siehe P. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 18; Ders., Les lieux, 7 Bde., Paris 1984-1992. Zur »Annales«-Schule jetzt: L. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre: Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994. 25 F. Braudel, L'identité de la France, Paris 1986, hier: Bd. 1, S. 17. Siehe kritisch zu Noras politischem Programm: S. Eglund, The Ghost of National Past, in: Journal of Modern History 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

64, 1992, S. 299-320; siehe auch den vergleichenden Aufsatz von R. von Thadden, Aufbau nationaler Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: B. Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991, S. 493-512. 26 Siehe etwa T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 133-173; W. Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, in: Ders., Nationalismus, S. 191218. 27 Siehe etwa neuerdings Hettling u. Nolte, Bürgerliche Feste. 28 A. Daumard, La bourgeoisie parisienne de 1815 à 1848, Paris 1963; J.-P. Chaline, Les bourgeois de Rouen: une elite urbaine au XIXe siècle, Paris 1982; C. Charle, Les élites de la Republique (1880-1900), Paris 1987. 29 Siehe H.-G. Haupt, Nationalismus. Vgl. auch: A. M. Banti, Borghesia e natione nell'Ottocento italiano e tedesco, in: Italia contemporanea 189, 1992, S. 749-753. 30 Siehe Nora, Les lieux. 31 M. Agulhon, Marianne au pouvoir, Paris 1989; G. Noiriel, La question nationale. 32 Siehe H.-G. Haupt, Die Konstruktion der Regionen und die Vielfalt der Loyalitäten in Frankreich, in: G. Lottes (Hg.), Region, Nation, Europa, Heidelberg 1992, S. 121-126; C. Tacke, Les lieux de memoire et la memoire des lieux. Mythes et monuments entre nation et region en France et en Allemagne au XIXe siècle, in: D. Julia (Hg.), Culture et société dans l'europe moderne et contemporaine, in: HeC. Annuaire du Département d'Histoire et la Civilisation 1, 1992, S. 131-161. 33 Siehe M. Agulhon, Conscience nationale et conscience regionale en France de 1815 à nos jours, in: J.C. Boogmann u. G.N. van der Plaat (Hg.), Federalism. History and Current Significance of a Form of Government, La Haye 1980, S. 243-266; C. Bertho, L'invention de la Bretagne. Genese sociale d'un stéréotype, in: Actes de la recherche en sciences sociales 35, 1980, S. 45-62. Siehe auch zur Konstruktion des Konzepts Nation: J.Y. Guiomar, La Nation entre l'histoire et la raison, Paris 1989. 34 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907), in: Ders., Werke, Bd. 5, München 1962. Siehe jetzt auch aus moderner, kritischer Sicht: D. Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: HZ 254, 1992, S. 341-381. 35 E. Renan, Qu'est-ce qu'une nation? et autres essais politiques, ND Paris 1992, S. 45-53. Allerdings gelangt Renan zu der Schlußfolgerung »Une Nation est une âme, un principe spirituel ... une grande solidarité« (ebd., S. 54). 36 Langewiesche, Nationalismus. 37 Siehe Einleitung von J. Roman in: E. Renan, Qu'est-ce qu'une Nation?, S. 22ff. Wie die Mentalitätsgeschichte bestimmter Bilder und Topoi geschrieben werden kann, demonstriert am Beispiel des Chauvinismus G. de Puymège, Chauvin, le soldat-laboureur. Contribution a l'étude des nationalismes, Paris 1993. 38 H.A. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: GG 4, 1978, S. 5-28; siehe Girardet, Nationalisme. 39 Langewiesche, Nationalismus; Jeismann, Vaterland. 40 Siehe M. Hroch, Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985. Siehe auch Hobsbawm, Nationen. 41 Siehe dagegen den konstruktivistischen Ansatz in: Giesen, Identität. 42 Weber, Peasants. 43 Siehe T. Schieder, Partikularismus und nationales Bewußtsein im Denken des Vormärz, in: Ders., Nationalismus, S. 166-196. 44 Siehe etwa J. Kocka, Fecondità e complessità del concetto die spazio come categoria 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

storiografica, in: F. Andreucci u. A. Pescarolo (Hg.), Gli spazi del potere. Aree, regioni, stati: le coordinate territoriali della storia contemporanea, Florenz 1989, S. 225-229. 45 B. Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankrurt/M. 1993. Siehe auch W. Kaschuba, Nationalismus und Ethnozentrismus, in: M. Jeismann u. H. Ritter (Hg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 239-274. 46 Bertho, L'invention de la Bretagne. 47 Tacke, Denkmal.

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MAURICE

AGULHON

Die nationale Frage in Frankreich: Geschichte und

Anthropologie*

Die Geschichte der französischen Nation ist wohlbekannt; seit langem bildet sie einen der wichtigsten Gegenstände der historischen Forschung. Die Anthropologie dagegen, eine vergleichsweise junge Wissenschaft, befaßt sich noch nicht lange mit nationalen Phänomenen. Ich werde hier also das doppelte Risiko eingehen, einerseits an Dinge zu erinnern, die in der Geschichtswissenschaft als Selbstverständlichkeiten gelten, und andererseits Meinungen zu vertreten, die in der Anthropologie umstritten bzw. noch nicht gesichert sind. In meinen Überlegungen bewege ich mich vom Gesicherten zum Umstrittenen und vom Alten zum Neuen, um schließlich bei den offenen Fragen der heutigen Politik zu landen.

1. Geschichte: Realität der Nation - Bewußtsein der Nation Die Historiker sehen im französischen Nationalstaat eher ein Produkt der Geschichte als ein Geschenk der Natur. 1 Am Ursprung Frankreichs steht weder eine klare geographische Einheit (Frankreich ist keine Insel) noch eine dauerhafte, ethnisch homogene Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Sprache. Die älteste und stabilste Erscheinungsform Frankreichs ist die des Staates. Der berühmte Schriftsteller und monarchistische Politiker Charles Maurras ( 1 8 6 8 - 1 9 5 2 ) hat daher nicht zu Unrecht von den »vierzig Königen, die in zehn Jahrhunderten Frankreich geschaffen haben«, gesprochen. Es war der Staat (zunächst die fränkische, dann die französische Monarchie vor allem unter den Kapetingern, deren Werk später vom republikanischen und napoleonischen Staat fortgesetzt wurde), der das Territorium und die Grenzen Frankreichs definierte, sicherte, erweiterte und schließlich konsolidierte. Es war der Staat, der innerhalb der Grenzen seine Autorität und Verwaltungsmacht behauptete, indem er Widerstände brach oder die Macht von konkurrierenden Autoritäten, zuerst feudalen, später * Aus dem Französischen übersetzt von Michaela Ort. Überarbeitet von Hannes Siegrist und Jakob Vogel. 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

regionalen, sowie Widersachern aller Art schwächte. Schließlich war es der Staat, der alle Franzosen gezwungen oder ermutigt hat, die Sprache, die ehemals nur in einem kleinen Kernbereich des Landes gesprochen worden war, zu übernehmen. Die Sprache verbreitete sich auch durch die Bevölkerungsvermischung, den Austausch zwischen den sozialen Gruppen und dank der Tatsache, daß Kontakte mit dem Zentrum eines beständigen und immer vertrauter werdenden Territoriums Vorteile mit sich brachten. Die französische Nation ist sicherlich eine künstliche Schöpfung (»die Könige haben Frankreich geschaffen«), aber sie ist alt und hat aufgrund ihres Alters eine gewisse Festigkeit. Es gibt in der Geschichte der Menschheit eben keine andere ›Natur‹ als eine künstliche, die aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit den Anschein des Natürlichen bekommt. Das ist ein philosophisches Problem. Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft lassen uns heute besser als in der Vergangenheit verstehen, daß die Nation nicht nur als objektive Realität geschaffen wurde, sondern auch als Bewußtsein der Zugehörigkeit, als mentale Größe. Nicht nur Frankreich wurde geschaffen, sondern auch die Franzosen. Das hat der amerikanische Historiker Eugen Weber mit dem plakativen Titel seines Buches »Peasants into Frenchmen« 2 in Erinnerung gerufen, in dem er von Bauern spricht, die sich in »Franzosen« verwandelten. Weber stellt dabei jedoch nur die allerletzte Phase dieses tatsächlich tausendjährigen Nationalisierungsprozesses dar, indem er zeigt, wie in den Jahren 1870 bis 1914 auch noch die abgelegensten Regionen des ländlichen Frankreichs erfaßt wurden. Die Geschichte der Ausprägung eines Nationalbewußtseins, das vom positiven Gefühl des Patriotismus begleitet wird, ist ungefähr ebenso alt wie die Geschichte Frankreichs und seiner Institutionen. Colette Beaune hat in ihrem Buch über die »Geburt der Nation Frankreich« erneut mit Nachdruck an diese Tatsache erinnert, die auch durch die Geschichte von Jeanne d'Arc im kollektiven Gedächtnis der Franzosen fixiert worden ist.3 Wir heben drei weitere, seltener erwähnte Tatsachen hervor. Erstens muß daran erinnert werden, daß die Lehrmeinung über Frankreich lange Zeit von Kontroversen über den Ursprung des Landes gekennzeichnet war. Seit wann gibt es Frankreich? Seit Chlodwig, wie das royalistische, dynastische und christliche Dogma lautet? Seit Vercingetorix, wie die Verfechter der gallischen, populären und republikanischen These meinen? Oder seit Karl dem Kahlen, dem Vertrag von Verdun und der spektakulären Dreiteilung des Karolingerreiches, aus dem die »francia occidentalis« hervorging? Also seit Hugo Capet? Wir neigen ganz klassisch der dritten Auffassung zu, doch die langen Debatten über die beiden ersten Anschauungen sprechen für sich. Streiten läßt sich ebenso über 1789 und die Französische Revolution. Dies war in der Tat nur eine Etappe, allerdings eine wichtige. Die Revolu57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

tion hat weder Frankreich noch seinen Patriotismus hervorgebracht, das aber auch nicht für sich beansprucht. Die republikanische Doktrin stellte mehrere große Könige und ihre bedeutenden Diener als positive Persönlichkeiten dar, denen Respekt gebührt. Dennoch legte die Demokratie, die aus Prinzip freie und einige Bürger anstelle passiver und gehorsamer Untertanen forderte, auf die staatsbürgerliche Bildung besonderen Wert. Die Erziehung zu Franzosentum und französischem Patriotismus war daher vor allem im 19. Jahrhundert massiv und spektakulär, obwohl sie bereits auf alte und interessante Vorläufer im Ancien régime zurückblicken konnte. Schließlich muß festgehalten werden, daß es letztlich auch mehr Übereinstimmung gab als bekannt ist. Im postrevolutionären Frankreich, das in so mancher Hinsicht gespalten war, stimmten selbst die entgegengesetzten Ideologien im Hinblick auf die Legitimität und das Existenzrecht der Nation überein. Selbstverständlich ist es nicht dasselbe, ob man Frankreich liebt, weil es im Grunde christlich ist, weil es das Land ist, in dem Gott uns zur Welt kommen ließ und weil die Vorsehung bestimmte Pläne mit ihm verfolgt, wie die Vertreter der Gegenrevolution oder des katholischen Traditionalismus meinten; oder aber weil es das Land der Revolution und des neuen Rechts sowie der Vorläufer der emanzipierten Völker ist, wie die Revolutionäre und, in ihrem Gefolge, die Linken betonten. Praktisch lief das aufs gleiche hinaus: Man war bereit, dem Land in Kriegszeiten zu dienen und, wenn nötig, dafür im Kampf zu sterben. Ohne diese bemerkenswerte Konvergenz, zu der es zwischen 1815 und 1914 allmählich kam, ließe sich nicht verstehen, warum das Frankreich der Belle Époque, in dem die Feindseligkeiten zwischen Weißen und Roten ihren Höhepunkt erreichen, den Ersten Weltkrieg zu einem großen Teil dank der Moral der mobilisierten Truppen gewinnen konnte, in denen die »beiden Frankreich« zusammengeschmolzen waren. Die nationale Akkulturation, so zeigte sich hier, war aufs beste geglückt. 4

2. Verfahren u n d Widersprüche der nationalen Akkulturation Es erscheint in diesem Zusammenhang durchaus sinnvoll, den anthropologischen Begriff der Akkulturation zu verwenden, um den Prozeß zu begreifen, durch den die »Bauern« von einst, die nur ihre lokale Zugehörigkeit kannten, in »Franzosen« verwandelt wurden. Wichtiger als die Wahl des Begriffs ist jedoch die Bestandsaufnahme der Prozesse, die er erfaßt. Diese intensivierten und verbreiteten sich im postrevolutionären 19. Jahrhundert und durch die ganze Dritte Republik ( 1 8 7 0 - 1 9 4 0 ) hindurch. Ihren Ausläufern begegnet man bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Hier sind zunächst die unkontrollierten Folgen der ökonomischen, sozialen und institutionellen Umwälzungen zu erwähnen, die dem Leben der modernen Nation Auftrieb gaben, nämlich die Verbreitung der modernen Verkehrswege (Straßen und Eisenbahn), der Schulen und Kasernen. Das hat E. Weber ausdrücklich hervorgehoben. Im kulturellen Bereich führten die Geschichte und der Geschichtsunterricht zu ähnlichen Ergebnissen. Zu diesem wichtigen Bereich ist bereits alles gesagt worden. 5 Erst allmählich fängt man dagegen an, sich auch für die anderen Wege der Vermittlung und Aneignung des nationalen Erbes zu interessieren. Historisch bilden und erziehen konnten beispielsweise auch Straßennamen, nationale Kultorte, die sich ergänzten oder, wie das Pantheon und der Invalidendom, Gegensätze darstellten, Gedenkstätten von historischen Ereignissen oder Schlachten, Statuen »großer Männer« und Rituale bei Nationalfeiertagen. 6 Doch gibt es jenseits der von Büchern und Steinen erzählten Geschichte nicht auch noch etwas anderes, wie die Prägung durch Kunst und Literatur? Oder eine Realität von Erinnerungen, die so stark waren, daß bei der Weitergabe nur wenig verloren ging? Aus diesem noch unscharfen Blickwinkel heraus läßt sich etwa das Phänomen Napoleon erfassen. Die Besonderheit von Napoleon wird schon anhand der Begrifflichkeit deutlich, mit der üblicherweise über ihn gesprochen wird, nämlich als »Napoleonische Legende« (»la légende napoléonienne«). Der Napoleonkult stellt ein Problem dar, dem man mit dem bloßen ethnographischen Inventarisieren der Medien, mit deren Hilfe diese »Legende« im 19. Jahrhundert - besonders in der Zeit zwischen der Niederlage von Waterloo (1815) und Sankt Helena (1821) bis zur Wahl seines Neffen zum Staatspräsidenten (1848) - verbreitet wurde, nicht beikommt. Das Volkslied, die Bilderbögen von Epinal, die Andenkenfiguren und deren Verbreitung durch den Kolportagehandel oder die Kreise ehemaliger Militärs - all das ist ausreichend beschrieben worden. Problematisch bleibt dennoch der Widerspruch zwischen dem Kaiserkult und der nationalen und bürgerlichen Erziehung Frankreichs. Trotz der feindlichen Haltung der Monarchie zwischen 1815 und 1830 hat sich in dieser Zeit der Ruhm Napoleons in der französischen Gesellschaft festsetzen können. Weitgehend akzeptiert zwischen 1830 und 1 8 5 1 , offiziell gefördert zwischen 1852 und 1870, wurde er nach 1870 von seiten der Linken erneut geächtet. Doch so sehr die Republik Napoleon III. als »Mann des 2. Dezember« und »Mann von Sedan« verteufelte und so sehr sie ihr Freiheitsideal gegen den Despoten Napoleon I. und ihre humanistischen Bestrebungen gegen den Kriegstreiber Napoleon richtete, konnte sie doch den Napoleonkult nicht wirklich aus dem spontanen Nationalgefühl verbannen. Noch heute läßt sich leicht feststellen, daß es keine historische 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Persönlichkeit in Frankreich gibt, deren Büste in den Souvenirgeschäften häufiger verkauft wird als die des Kaisers. Napoleon ist bekannter und geschätzter als irgendeiner der guten Diener der Freiheit und der Republik, deren Wert und Beispielhaftigkeit von offizieller Seite höher eingestuft wird. Dies macht deutlich, daß die in den staatlichen Institutionen und ›legitimen Idealen‹ verbreitete populäre Geschichtsauffassung nicht zwangsläufig mit der »Legende« übereinstimmt, die einer tieferen Volkskultur entspringt. Das ist jedoch nicht der einzige Widerspruch im postrevolutionären Nationalgefühl. Es gibt einen anderen, augenfälligeren, der allerdings weniger störend ist als der nicht unterdrückte Heroenkult, nämlich den offenen Widerstand gegen die offizielle patriotische Erziehung. So hat die sehr volkspädagogisch ausgerichtete, aber auch sehr liberale Dritte Republik das Entstehen einiger Gegenkulte und geschichtlicher Erinnerungen hingenommen, die im Widerspruch zur nationalen Erinnerung standen. Mit der Vendee wurde beispielsweise nachträglich die Gegenrevolution glorifiziert. In den regionalen Erinnerungen der Provinzen wurden im Stillen Andenken und Werturteile kultiviert, die mit der euphorischen und zielgerichteten Tendenz des republikanischen Frankreich unvereinbar waren. Schließlich gab es den Kult der revolutionären Arbeiterbewegung, die ihre eigene Entstehungsgeschichte und ihre eigenen Helden besaß. So wurde die Mauer auf dem Friedhof Père Lachaise, vor der die Kommunarden erschossen wurden (»le mur des fédéres«), in Paris für sie ein symbolisches Zeugnis, wie der Invalidendom oder das Pantheon für die Nation. Auf diese Weise haben Geschichte und Gegengeschichte, Kultur und Subkulturen schon immer nebeneinander bestanden. Wie der Krieg schließlich zeigte, blieb dies alles 1914 in einem Rahmen, der eine gemeinsame nationale Anstrengung nicht unmöglich machte. Doch nach dem Weltkrieg begann eine andere Epoche.

3. Die Krise des Patriotismus im 2 0 . J a h r h u n d e r t Da die Krise des Patriotismus kaum geleugnet werden kann, erscheint es uns an dieser Stelle sinnvoller, ihre Ursachen aufzulisten, als die Symptome zu beschreiben. 7 An erster Stelle in der chronologischen Reihenfolge steht der Erste Weltkrieg, der vielleicht auch die wichtigste Rolle in diesem Prozeß spielte. Die von ihm verursachten ungeheuren Leiden ließen in der französischen Gesellschaft vor allem eine Abscheu vor dem Krieg entstehen. Diese war in gewisser Weise dem Patriotismus, der das Führen und Erdulden des Krieges überhaupt erst möglich gemacht hatte, ebenso abträglich wie die durch diesen hervorgerufene pazifistische Haltung. 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Auch der Zweite Weltkrieg konnte trotz der großartigen materiellen und moralischen Leistungen de Gaulles und der Widerstandskämpfer diese Entwicklung nicht gänzlich abwenden. Der Sieg von 1945 war als Sieg in einem Bürgerkrieg ein trauriger Sieg, zugleich auch der Sieg einer Minderheit, da nur wenige Franzosen wirklich daran teilgenommen und die Alliierten einen wichtigen Anteil an dem glücklichen Ende hatten. In diesem Sinne wich das Triumphgefühl vielfach der Unsicherheit vor der Zukunft. Die Entkolonialisierung schließlich raubte dem französischen Patriotismus seinen Stolz, den er aus dem Besitz des »Reiches« zog, und zugleich sein gutes Gewissen, das er aus der Überzeugung von der »zivilisatorischen Mission« des Landes schöpfte. Der Patriotismus einer Weltmacht ließ sich nicht ohne weiteres in den Patriotismus einer mittleren Macht umwandeln. Zudem war der Patriotismus vor 1914 zum großen Teil und besonders in seiner linken Spielart an einen anderen Stolz gebunden: an den der liberalen Demokratie, die wir üblicherweise Republik nennen. Doch auch diese ›ist nicht mehr das, was sie einmal war‹. Heute erleben wir den Niedergang des republikanischen Ideals, da die Republik nicht mehr genügend und ausreichend überzeugte Anhänger hat, um ihre Werte effizient zu verbreiten. Ausgehöhlt wurde dieses Ideal durch die mittlerweile mehr als hundert Jahre alte Kritik der Arbeiterbewegung; dann des Antikolonialismus und der Dritte-Welt-Bewegung, die den Leninismus ablösten. Man wagt daher heute nicht mehr, die Jugend für Mirabeau oder Gambetta, für Corneille oder Hugo begeistern zu wollen. So hat sich vor unseren Augen eine beachtliche Verschiebung vollzogen. Die Linke, in der Mehrheit nunmehr sozialistisch oder »sozialkommunistisch«, ist nicht mehr wie früher republikanisch, sondern versteht sich klassenkämpferisch, »postachtundsechzigerisch« oder anarchistisch. Daher traut sie sich, weder von Ordnung oder Moral zu sprechen noch Respekt vor dem Gesetz zu fordern. Jetzt ist es die Rechte, die in diesem Sinn immer mehr ›republikanisch‹ wird. Dies geschieht allerdings nicht ohne Vorbehalte, da die lange Tradition der Verachtung der Republik ein Teil ihres Erbes ist. Es wird daher auch heftig gestritten, welche Seite tatsächlich die republikanischen Werte für sich in Anspruch nehmen kann. Doch ist es leicht einzusehen, daß diese berühmten Werte unter dem Wechsel vom einen zum anderen ideologischen Lager gelitten haben. Selbst die alte Staatsbürgerkunde, die so gut wie möglich den Unterricht der republikanischen Werte mit den Realitäten zu verbinden suchte, findet sich plötzlich in der Defensive. Das ist besonders heikel. Die offiziell verbreitete nationale Erinnerung verstand sich als moralisch. Daher stellte sie sehr oft das Prinzip der Beispielhaftigkeit dem Realitätsprinzip gegen61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

über. So war es etwa im Fall von Marschall Pétain. Als Sieger von Verdun sollte dieser nach dem Realitätsprinzip würdig geehrt werden, indem man zumindest seine sterbliche Hülle entsprechend der Forderung seiner Anhänger in der Gedenkstätte von Douaumont beisetzte. Nach dem Prinzip der Beispielhaftigkeit war er dagegen der Kollaboration mit dem Feind in den Jahren 1940 bis 1944 schuldig. Aus diesem Grund verurteilt, starb er in Haft und wird heute in einer Art posthumem Gefängnis auf dem Friedhof der Insel Yeu festgehalten. Der Konflikt ist in diesem Fall eindeutig. Gelöst wird er gegenwärtig im Sinne des Primats der Beispielhaftigkeit. Im Sinne der gleichen Werthierarchie mißbilligt die nationale Erinnerung heute Napoleon III., einen intelligenten Souverän mit guten Absichten und das Symbol zweier Jahrzehnte des Fortschritts (Realitätsprinzip), da er für den antirepublikanischen Staatsstreich des 2. Dezember 1851 verantwortlich war (Prinzip der Beispielhaftigkeit). Vergeblich erwarten auch die Bewohner der Vendee, ein Bauernvolk, das unbestritten (Realitätsprinzip) von der republikanischen Armee in den Revolutionskriegen grausam unterdrückt wurde, die Anerkennung ihres Martyriums. Im Sinne der Beispielhaftigkeit hält man sie für Aufständische, die dem eigenen Land in den Rücken fielen, als dieses mit den Feinden der Republik im Krieg stand. Jeder Beobachter der französischen Politik weiß, wie sehr das republikanische Ideal der Beispielhaftigkeit heute bekämpft wird. Daher kann sich auch die republikanische Orthodoxie nur mühsam gegen die Kampagnen verteidigen, die zur Zeit etwa zugunsten der kollektiven Erinnerung der Bewohner der Vendée 8 wie auch Napoleons III. 9 geführt werden. Was wird geschehen, wenn sich das Realitätsprinzip überall durchsetzt? Sicherlich läßt sich leicht sagen, daß sich dies positiv auswirken könnte. Intellektuell ist es auf jeden Fall insgesamt befriedigender, daß das objektiv Wichtige in der Geschichte anerkannt, weitergegeben und erinnert wird. Dies wäre einer offiziellen Geschichtsschreibung vorzuziehen, deren Ziele noch so sympathisch sein mögen, bei der aber ein schaler Geschmack zurückbleibt, weil sie die objektive Bedeutung der Dinge von ihrem moralischen, staatsbürgerlichen Wert abhängig macht. Aber was würde dann in Zukunft aus der staatsbürgerlichen Gesinnung (»civisme«)? Letzten Endes ist das größte Hindernis für den traditionellen Patriotismus philosophischer Natur. Unser Wissen um die Geschichtlichkeit des Nationalen (»fait national«) relativiert dessen Autorität. Wir wissen, daß die Nationen künstlich sind. Wenn wir darüber hinaus berücksichtigen, daß die erbaulichen Nationalgeschichten vieles vereinfachen und schlimmstenfalls einseitig auswählen oder verzerren, dann müssen wir von einem der klassischen Wege der patriotischen Erziehung Abstand nehmen, ohne die Gewißheit zu haben, daß es dafür eine Alternative gibt. Es sei denn, man 62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

griffe auf sehr allgemeine Werte zurück, von denen dann aber nicht sicher ist, daß sie genuin französisch sind. Wir wollen hier weder die Werturteile, zu denen uns diese Entwicklung zwingt, noch die Suche nach Rat für die Zukunft berücksichtigen, da der Historiker an sich weder Moralist noch Ratgeber ist. Dennoch müssen wir die wichtige und offenkundige Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß die ideologischen Grundlagen des Patriotismus empfindlich geschwächt worden sind. Die mit ihm konkurrierenden Ideologien werden stärker und populärer. Indem der Druck der im letzten Jahrhundert so starken nationalen Propaganda aus den genannten Gründen nachläßt, erstarken alle Gegenerinnerungen, die von dieser bis dahin verdrängt oder aufgesaugt worden sind. Sich als französischer Patriot zu bekennen, erscheint heutzutage altmodisch. Sich gegenüber der öffentlichen Meinung oder gegenüber den Behörden als Revolutionär oder Anarchist, als Supranationalist oder Separatist zu bekennen, birgt heute unvergleichlich weniger Risiken in sich als früher. Ob dies gut oder schlecht ist, möge jeder für sich allein entscheiden. Als Historiker kann man nicht mehr tun, als auf den Wandel verweisen, der ins Auge springt: Der französische Patriotismus ist bis auf einen kleinen Rest verschwunden - es sei denn, man wäre bereit einzugestehen, daß er in jenen gewalttätigen Gefühlen unterschwellig weiterlebt, die Franzosen in alltäglichen Begegnungen gegenüber Immigranten und Touristen zum Ausdruck bringen, etwa bei Sportveranstaltungen, wo man auf den Tribünen der Stadien Chauvinist bleibt, oder in der wirtschaftlichen Konkurrenz. Aber haben diese ebenso starken wie primitiven Gefühle, die eher eine Frage der Mentalität als der Ausdruck einer politischen Meinung sind, noch mit Patriotismus zu tun, oder nicht einfach mit Fremdenfeindlichkeit? Wie auch immer man hierzu stehen mag, diese Tatsachen eines lebendigen und rohen Selbstbewußtseins existieren zum Teil einfach deshalb, weil Frankreich existiert.

4 . Die nationale Frage als Wunsch u n d Wirklichkeit Wenn man diesem Gedankengang folgt, muß man zu dem Schluß kommen, daß Frankreich als Ideal, als Projekt, als »Geist« (»esprit«) heute eher dabei ist, sich aufzulösen. Tatsächlich bildet es sich aber als anthropologische Realität ständig neu. Die Anthropologie sieht also nicht dasselbe wie die politische Geschichte. Das in bezug auf Nationalstolz und patriotischen Konsens viel geeintere Frankreich von 1914 war in Wirklichkeit wesentlich vielfältiger als das heutige. 10 In den Randregionen wurden zu Beginn des Jahrhunderts auf dem Land noch die lokalen Dialekte gesprochen. Die 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Alltagsbräuche (und nicht nur die berühmten folkloristischen Feste), Ernährungsgewohnheiten, Getränke und populären Spiele waren noch beinahe so vielfältig wie im 19. Jahrhundert. Die meisten Leute reisten selten und fühlten sich, wenn sie außerhalb ihrer Herkunftsregion leben mußten, sehr viel mehr entwurzelt, als das bei den heutigen Menschen der Fall ist. Wenn man das Alltagsleben von heute mit dem von 1900 oder 1914 vergleicht, dann könnte man fast zu dem Schluß kommen, daß das anthropologisch geeinte Frankreich sich erst heute konstituiert. Die Linguisten wissen sehr wohl, daß die regionalen Dialekte nicht in der Dritten Republik aufgrund des staatlichen Schulwesens untergegangen sind, sondern erst in der Fünften Republik infolge des Zusammenbruchs der bäuerlichen Welt und der kulturellen Uniformierung durch das Fernsehen. Wohlstand, Tourismus und der Druck der Werbung tragen dazu bei, daß sich die Bräuche im ganzen Land immer ähnlicher werden. Die ungeplante Schöpfung eines anthropologisch geeinten Frankreich vollzieht sich also direkt vor unseren Augen, während das von den Republikanern des 19. Jahrhunderts geplante Unternehmen, das Volk, von dessen realer Existenz man ausging, mit einem gemeinsamen Geist auszustatten, im Sande zu verlaufen droht. Der Historiker kann diese Tatsache nur feststellen. Der Philosoph dagegen hat die Aufgabe, über die Nichtübereinstimmung von Rhythmen und Kräften nachzudenken, die in der menschlichen Gemeinschaft aufeinandertreffen und koexistieren. Es ist schließlich Sache des Staatsbürgers zu entscheiden, was er in einer so komplexen Situation machen will. Wir haben uns hier auf die Rolle des Historikers zu beschränken versucht. In Frankreich und anderswo in Europa sind die Bürger mit dem Problem der europäische Einigung konfrontiert. Die Konstruktion eines europäischen Superstaates durch die Bündelung der Fähigkeiten der verschiedenen Staaten und Volkswirtschaften ist sicherlich vernünftig. Angesichts seiner wichtigsten Rivalen, vielleicht seiner Feinde, die kontinentale Ausmaße haben, muß Europa die Möglichkeit bekommen, auf dem gleichen Niveau handeln zu können, um in Stärke zu überleben. Höchstwahrscheinlich wird aber die Konstruktion Europas durch eine spontane anthropologische Entwicklung unterstützt werden, denn schon in der gemeinsamen Kultur des heutigen Frankreich sind die Elemente einer paneuropäischen Moderne ziemlich leicht auszumachen. Doch bleibt das Problem der Vielsprachigkeit Europas. Ein europäischer Geist wird voraussichtlich nicht spontan entstehen. Ebenso wie das Bewußtsein Frankreichs muß auch das von Europa ›hergestellt‹ werden, mit der gleichen Willenskraft und Hellsichtigkeit wie im Fall der nationalen Pädagogik. Es gibt jedoch gute Gründe zu hoffen, daß dies am Ende weniger Zeit beanspruchen wird.

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Anmerkungen 1 Vgl. M. Agulhon u. P. Oulmont, Documentation photographique: Nation, Patrie, Patriotisme, Paris 1993. 2 E. Weber, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France 1870-1914, Stanford 1973. Das Buch wurde mit dem zu banalen Titel »La Fin des terroirs ins Französische übersetzt, Paris 1980. 3 C. Beaune, Naissance de la Nation France, Paris 1985. 4 Vgl. hierzu schon M. Agulhon, La Republique de 1880 à nos jours, Paris 1990 (Histoire de la France 5). 5 Für eine besonders kritische Darstellung der Nationalisierung durch den schulischen Geschichtsunterricht siehe S. Citron, Le mythe national. L'histoire de la France en question, Paris 1989. 6 Diese ganze symbolische Geschichte ist ausführlich dargestellt in den mittlerweile berühmten Bänden von P. Nora (Hg.), Les lieux de memoire, 7 Bde., Paris 1984-1992. 7 Für eine ausführliche Darlegung vgl. die in Anm. 1 und 4 zitierten Werke. 8 Die Vendee war am Ende die große Gewinnerin der fünfjährigen Kontroversen, die die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution von 1789 begleitet haben. Für die Vendee siehe die Werke von J.C. Martin, insbesondere Ders., La Vendée et la France, Paris 1987. 9 So wurde vor drei Jahren der Vorplatz des Gare du Nord von der Pariser Stadtverwaltung nach Napoleon III. benannt. Siehe auch die beachtliche Biographie von P. Séguin, Louis Napoleon le Grand, Paris 1990. 10 M. Agulhon, La fabrication de la France. Problèmes et controverses, in: M. Segalen (Hg.), L'Autre et le semblable. Regards sur l'ethnologie des sociétés contemporaines, Paris 1989, S. 109-120.

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OTTO

DANN

Nationale Fragen in Deutschland: Kulturnation, Volksnation,

Reichsnation

Im Vergleich der europäischen Nationen war es schon immer eine schwierige Frage, wie die Deutschen zu charakterisieren seien, - dieses Volk, dessen Siedlungsgebiet keine klaren Konturen aufweist, das schon seit Beginn der Neuzeit nicht mehr von einem einheitlichen religiösen Bekenntnis geprägt war und dessen Adel seit dem 10. Jahrhundert bereits den Anspruch stellte, das karolingische Projekt des Imperium Romanum fortzusetzen und damit über ein Territorium zu herrschen, das über das der deutschen Sprachgemeinschaft weit hinausging. Solche Fragen verstärkten sich, nachdem jenes Heilige Römische Reich im Jahre 1806 zerfallen war. Nun war auch das politische Schicksal der Deutschen als Nation zu einer offenen Frage geworden, die selbst nach der Gründung eines neuen Deutschen Reiches im Jahre 1870 nicht beantwortet war. Das bedeutet: seitdem sich Europa im Zeitalter der modernen Nation befand, war es ein Charakteristikum Deutschlands, daß es hier eine nationale Frage gab, die nicht befriedigend gelöst war. Die nationale Frage in Deutschland war zunächst und vor allem eine politische: Welche Möglichkeiten für die Konstituierung eines deutschen Nationalstaats waren angesichts der Tatsache gegeben, daß die deutschsprachige Bevölkerung in mehrere Staaten eingebunden war? Allein in zwei Großmächten des 19. Jahrhunderts bildeten Deutsche das führende Staatsvolk. Wie also war in einem Europa, in dem die Nationsbildung der sich emanzipierenden Völker zur Regel geworden war, eine Nationsbildung der Deutschen denkbar und politisch zu verwirklichen? Auf diesem Hintergrund wurde eine ›deutsche Frage‹ in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer wieder zu einem zentralen Problem der europäischen Politik. Die ›deutsche Frage‹ war jedoch nicht nur eine Frage der Politik. Es gab und gibt sie auch in den Köpfen als eine Frage des politischen Bewußtseins, der öffentlichen Meinungsbildung und Mentalität. Ihr Ausgangspunkt ist das unklare nationalpolitische Erscheinungsbild der Deutschen. Können sie als ein Staatsvolk bezeichnet werden, oder sind sie nicht vielmehr eine Nation, die durch eine gemeinsame Sprache und Kultur zusammengehalten wird, eine Kulturnation, eine ethnische Nation? Solche konzeptionel66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

len Fragen kommen nicht nur von außen. Es sind auch Fragen der Deutschen selbst, die bis heute Schwierigkeiten haben, sich selbst als Nation zu definieren. Nationale Fragen dieser Art begleiten jene deutsche Frage in der Politik, stehen mit ihr in einer vielfachen Wechselwirkung, sind deren integraler Bestandteil. Sie sind virulent bis heute; auch die wissenschaftliche Literatur ist davon geprägt. Mehrere Antworten, verschiedene Begriffe von der deutschen Nation stehen nebeneinander. 1 Drei der wichtigsten sollen im folgenden untersucht und diskutiert werden.

I. Schon wenige Jahre nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gab Germaine de Staël in Ihrem Buch »De l'Allemagne«, das in Westeuropa eine große Wirkung entfalten sollte, eine Charakterisierung Deutschlands, bei der sie die Literatur, die Philosophie und die Religiosität in den Mittelpunkt stellte. Sie bezeichnete Deutschland als das »Vaterland des Gedankens« und entwarf das Bild von den Deutschen als Nation der ›Dichter und Denken, im Kontrast zu ihrer politischen Rückständigkeit und nationalen Zerrissenheit. 2 Germaine de Staël formulierte damit quasi als erste die These von den Deutschen als einer Kulturnation. Auf ihren Reisen durch Deutschland, die sie vor allem nach Wien, Weimar und Berlin führten, hatte sie noch die wichtigsten Vertreter jener Generation der reichsdeutschen Kulturgesellschaft des späten 18. Jahrhunderts kennengelernt, von der die wichtigsten Impulse für eine neue Nationsbildung in Deutschland ausgegangen waren. Diese bürgerlich geprägte Kulturgesellschaft des Reiches befand sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen und kulturellen Produktivität. Um so stärker wurde in ihren Reihen der Widerspruch zwischen der geistigen und der politischen Existenz Deutschlands empfunden und reflektiert. Darüber war in den 1790er Jahren bereits die Gemeinsamkeit ihrer reformpolitischen Orientierung zerbrochen. Die Jahre nach 1795, in denen sich die Existenzkrise des Heiligen Römischen Reiches deutlich abzeichnete, waren geprägt von einer großen Desillusionierung über den Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung und von einer tiefen Resignation über das nationale Schicksal. Der junge Hegel zog bereits 1802 das nüchterne Resümee, daß »Deutschland als eigener, unabhängiger Staat und die deutsche Nation als Volk vollends ganz zugrunde geht« und man in Zukunft »Deutschland nicht mehr als ein vereinigtes Staatsganzes, sondern als eine Menge unabhängiger und dem Wesen nach souveräner Staaten anzusehen habe«. 3 Sein Tübinger Studienfreund Höl67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

derlin ist an diesem deutschen Schicksal zerbrochen - man vergleiche das letzte Kapitel seines »Hyperion«, und auch Goethe und Schiller sind über fragmentarische Äußerungen hier nicht hinausgekommen: »Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das Gelehrte beginnt, hört das Politische auf«. 4 In dieser häufig zitierten »Xenie« der beiden aus dem Jahre 1797 kommt die Aporie der Zeitgenossen über ihre nationale Identität zum Ausdruck, aber auch die zunehmende Spannung zwischen der politischen Welt der Reichsfürsten und der Kulturgesellschaft. In diesem Sinne fragte Schiller nach der Abtretung des linksrheinischen Deutschland an Frankreich: »Darf der Deutsche sein Haupt erheben und mit Selbstgefühl auftreten in der Völker Reihe?«, und er antwortete: »Ja, er darf s! ... Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät der Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.«5 Als Vertreter der Kulturgesellschaft formulierte Schiller ein eigenes nationales Selbstbewußtsein, das ihn in der Zeit des Reichszerfalls dazu legitimierte, gegenüber der alten Reichsnation der Fürsten den Anspruch zu erheben, die Nation zu repräsentieren. Auch nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches waren es die Vertreter und Gruppierungen der Kulturgesellschaft, die mit ihren spezifischen Aktivitäten der deutschen Nationalbewegung neue Impulse und einen spezifischen Charakter verliehen. Die Initiative, die der Freiherr vom Stein mit der Gründung einer »Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde« und der Herausgabe von »Monumenta Germaniae Historica« betrieb, war 1819 noch ein Einzelfall. Die bürgerliche Gesellschaft ging jedoch in den Jahren nach 1815 schnell und entschlossen dazu über, ihre Interessen durch Organisierung eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Die zahlreichen Vereine, die nun entstanden, versuchten, sobald wie möglich nationale Dimensionen zu erreichen. Die Männergesangvereine, entstanden nach Schweizer Vorbild in Württemberg, veranstalteten beispielsweise bereits 1827 ein erstes regionales Sängerfest, gründeten schon bald einen Schwäbischen Sängerbund, so daß 1845 in Würzburg das erste deutsche Sängerfest mit unüberhörbaren nationalen Akzenten stattfinden konnte. Ein Jubiläumsfest für Albrecht Dürer in Nürnberg, zu dem 1828 an alle deutschen Künstler eine Einladung ergangen war, eröffnete die Reihe der öffentlichen Feste mit überregionaler Beteiligung, die zu einer besonderen Ausdrucksform nationalen Verhaltens in Deutschland wurden. Es waren meist kulturgeschichtliche Jubiläen, die wegen ihres unpolitischen Charak68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ters ungehindert durch staatliche Einsprüche organisiert werden konnten, unter der Hand aber eine nationalpolitische Bedeutung erhielten und von der Bevölkerung auch so verstanden wurden. An dem im Jahre 1837 in Mainz veranstalteten Gutenberg-Fest nahmen etwa 30 000 Menschen teil, und als im Jahre 1839 in Stuttgart das Schiller-Denkmal eingeweiht wurde, sollen es etwa ebenso viele gewesen sein. »Seine wahre Bedeutung erhielt dieser Tag«, so ein Bericht aus Stuttgart, »durch das Bewußtsein, das sich überall kundtat, daß ganz Deutschland dieses Fest mitfeierte, daß die dabei Handelnden und Genießenden nur die Stellvertreter des ganzen Volkes waren.« 6 Im Jahre 1840 wurde wieder ein Gutenberg-Fest gefeiert, diesmal in dezentralisierter Form. Hier waren die Massen, die sich in über achtzig deutschen Städten versammelten, nicht mehr zu zählen. Die bürgerlichen Schichten nahmen nun jeden geeignet erscheinenden Anlaß wahr, sich zu versammeln und sich als nationale Gesellschaft darzustellen. Das kulturnationale Fest war zu einer bevorzugten Ausdrucksform der nationalen Bewegung geworden. Die Schiller-Feiern des Jahres 1859 bestätigten noch einmal die politische Funktion dieser Feste. Kurz nach der Gründung des »Deutschen Nationalvereins« rief eine aus sechzehn Städten gebildete Schiller-Stiftung dazu auf, im November 1859 den hundertsten Geburtstag des Dichters mit Feiern zu begehen. Obwohl nur vier Wochen Zeit blieben, um diese Anregung in die Tat umzusetzen, folgten ihr mehr als fünfhundert Städte. Sie organisierten öffentliche Schiller-Feiern, an denen sich alle Schichten der Bevölkerung auf ihre Art beteiligten. Es war diese Mobilisierung von Zehntausenden, mit der die letzte Etappe der nationalen Bewegung in Deutschland wirkungsvoll eingeleitet wurde. Die Bezeichnung der deutschen Nation als ›Kulturnation‹ ist erst zu Beginn unseres Jahrhunderts in Umlauf gekommen, und zwar als ein Wissenschaftsbegriff. Der Historiker Friedrich Meinecke schlug sie vor und hatte dabei die soeben skizzierte Entwicklung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Auge. Er wollte zeigen, daß sich das Projekt einer kleindeutschen Nationalstaatsgründung erst relativ spät im politischen Denken der Deutschen durchgesetzt hat. 7 Meineckes Begriff von der deutschen Kulturnation hatte jedoch auch politische Bezüge: Er richtete sich gegen die Verabsolutierung des Staates im damaligen Bürgertum und sollte darauf hinweisen, daß die moderne deutsche Nation von ihren Ursprüngen her kulturell und universal geprägt war. Außerdem spielte die Abgrenzung gegenüber Frankreich eine Rolle; denn Frankreich war für Meinecke das klassische Beispiel einer ›Staatsnation‹, die er typologisch der ›Kulturnation‹ gegenüberstellte und dadurch charakterisiert sah, daß die Nationsbildung hier durch das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat geprägt war. Meinecke war jedoch souverän genug, um die Position von Ernest Renan in sein Modell 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

einzubeziehen. Er verwies auf die »Hauptzäsur« in der Geschichte der modernen Nationen, die mit dem Erwachen des politischen Selbstbewußtseins, des »Willens zur Nation« verbunden ist, und kam damit der Charakterisierung, die Renan von der Nation gegeben hatte, sehr entgegen. 8 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß zur Zeit des Erscheinens von Meineckes Buch der »Deutsche Schulverein«, der deutschsprachige Schulen im Ausland unterstützte, zu einem »Verein für das Deutschtum im Ausland« wurde und damit zu einer größeren Aktivität mit politischer Dimension ansetzte. Die ›kulturnationale‹ Gemeinsamkeit der Sprache wurde hier generalisiert und politisch für eine volksnationale Bewegung in Anspruch genommen, die über die existierenden Staatsgrenzen hinausging und problematische Folgen haben konnte. Friedrich Meineckes Unterscheidung in Kulturnationen und Staatsnationen hatte eine weitreichende wissenschaftsgeschichtliche Wirkung. Die angelsächsische Nationalismusforschung hat in der Nachfolge von Hans Kohn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine dichotomische Typologie der Nation entwickelt und dabei unverkennbar auf Meinecke zurückgegriffen. In dieser Typologie wird dem staatlich-politisch geprägten Nationsbegriff des Westens, der auf naturrechtlichen Grundlagen beruhe, ein auf ethnisch-kulturellen Grundlagen beruhender Nationsbegriff des Ostens gegenübergestellt. 9 Deutschland galt seit dem Weltkrieg als Prototyp des ethnischen Nationsmodells, durch das der einzelne in seiner Nationalität objektiv festgelegt werde, während nach dem westlichen Typ eine subjektive Willensentscheidung möglich sei. Der Begriff der Kulturnation hat im zweigeteilten Deutschland noch einmal eine Rolle gespielt. Er wurde seit der Anerkennung von zwei deutschen Staaten innerhalb der westdeutschen Diskussion in Anspruch genommen, um eine besondere Zusammengehörigkeit der Bevölkerung in den beiden deutschen Staaten hervorzuheben. Da eine nationale Zusammengehörigkeit im politischen Bereich nicht mehr manifest war, versuchte man, diese mit Hilfe des Begriffes der Kulturnation zu verdeutlichen. Hier zeigte sich noch einmal seine spezifische Funktion in der deutschen Geschichte: In den Epochen, in denen kein deutscher Nationalstaat existierte, diente der Begriff zur Legitimierung einer nationalen Identität. Wenn auch eine politische Inanspruchnahme des Begriffs der Kulturnation seit 1990 in Deutschland nicht mehr notwendig erscheint, die Literatur über das Nationsproblem kann auf ihn offensichtlich nur schwer verzichten. Im Lichte des Konstruktivismus erscheint die Nation als etwas von den kulturellen Eliten Erfundenes, und so kann der Begriff der Kulturnation in Abgrenzung von den Staatsnationen des ›Westens‹ zur Erklärung der späten politischen Nationsbildung im modernen Deutschland verwendet werden. 10 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die Geschichte des Begriffs ›Kulturnation‹ ist ein Beispiel für die verlorene Unschuld wissenschaftlicher Begriffe. Friedrich Meinecke hatte ihn am Anfang des Jahrhunderts eingeführt, um die vormodernen Bedingungen für die Entstehung von solchen Nationen zu bezeichnen, die sich nicht im Rahmen einer eigenen modernen Staatlichkeit entwickeln konnten. Er wollte mit diesem Begriff nicht den allgemeinen Charakter einer Nation, auch nicht deren gesamte Geschichte, sondern nur eine bestimmte Phase charakterisieren. Was ist aus diesem Wissenschaftsbegriff, der sich nur in Deutschland als solcher eingebürgert hat, im Laufe des Jahrhunderts geworden! Er wurde nicht nur generalisiert und politisiert, sondern in seiner Aussage quasi in sein Gegenteil verkehrt. Im Rückblick darauf ist generell zu fragen, ob dieser Begriff sich überhaupt für die Unterscheidung von Nationen eignet; denn unbestreitbar haben alle Nationen ihre eigene Kultur und sind von daher stets auch Kulturnationen. Ist es gerechtfertigt, einige unter diesem Begriff herauszugreifen? Da sich ein sogenannter kulturnationaler Zusammenhang vor allem durch eine gemeinsame Sprache konstituiert, wäre der Begriff allenfalls dort zu verwenden, wo eine weitgehende Übereinstimmung zwischen politisch-nationaler Gemeinschaft und Sprachgemeinschaft besteht, in Europa etwa in Italien, Portugal, Dänemark oder Norwegen. Für eine Charakterisierung der deutschen Nation jedoch ist aus eben diesen Gründen der Begriff ›Kulturnation‹ ungeeignet und problematisch. Die große deutsche Sprachgemeinschaft in Europa, die auch eine Kulturgemeinschaft bildet, hat sich niemals in ihrer Geschichte als eine Nation verstanden; sie war und ist an mehreren Nationalstaaten integrativ beteiligt. Die aktive Rolle der Kulturgesellschaft innerhalb der deutschen Nationalbewegung rechtfertigt nicht den generalisierenden Rückschluß, die deutsche Nation sei eine Kulturnation. Die moderne Nationsbildung innerhalb Deutschlands ist auch in ihren Anfängen nicht allein kulturell geprägt gewesen; sie war auf einen konkreten politischen Rahmen bezogen: das Deutsche Reich. Dies gilt, wie zu zeigen sein wird, auch über dessen Ende im Jahre 1806 hinaus. Die Gefahren sind nicht zu übersehen, die sich in politischer Hinsicht durch die Verwendung des Begriffs einer deutschen Kulturnation ergeben. Weil mit diesem Begriff suggeriert wird, die ethnisch-kulturelle Gemeinschaft der Deutschsprachigen sei auch eine national-politische Gemeinschaft, bzw. solle es sein, kann der Begriff in einer großdeutschen oder Volksdeutschen Richtung mißverstanden und mißbraucht werden. Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat dies deutlich gemacht. Einmal mehr werden hier die Probleme sichtbar, die entstehen, wenn kulturelle Phänomene politischen Kriterien unterworfen, wenn sie nationalisiert werden. 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

II. Der Begriff des Volkes ist in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts der zentrale Begriff zur Bezeichnung der eigenen nationalen Identität. Das wurde zuletzt im Jahr 1989 während der politischen Revolution der DDRBevölkerung deutlich. Mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« reklamierte in der ersten Etappe jener Revolution die protestbereite Bevölkerung das Prinzip der Volkssouveränität gegenüber der Alleinherrschaft der SED. In der bald folgenden zweiten Etappe wurde mit dem Ruf »Wir sind ein Volk!« der Wille zum Ausdruck gebracht, gemeinsam mit den Westdeutschen eine Nation zu bilden. Zur Begründung dieser Forderung wurden jedoch zwei verschiedene Antworten gegeben: die gemeinsame Geschichte der Deutschen und ihre ethnische Zusammengehörigkeit. Während innerhalb der DDR-Bevölkerung das historisch-politische Argument vorherrschte, das auf ein künftiges gesamtdeutsches Staatsvolk ausgerichtet war, dominierte in der westdeutschen Bevölkerung das ethnische Argument. In der verschwommenen Formulierung des späten Willy Brandt, »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, erfreut es sich bis heute großer Beliebtheit und macht deutlich, in welchem Maße ein ethnisches Verständnis vom Volk in den älteren Generationen der Deutschen noch verbreitet ist. Es hat wissenschaftlich seinen Ausdruck gefunden in der Charakterisierung der deutschen Nation als Volksnation. 11 Der Begriff Volksnation suggeriert, daß eine Nation durch eine gemeinsame Volkszugehörigkeit definiert ist, die ethnisch verstanden wird, als Abstammungsgemeinschaft, als Sprach- und Kulturgemeinschaft, sogar als ›Blutsgemeinschaft‹. Sind die Deutschen in diesem Sinne eine Volksnation? Ein aktuelles Meinungsbild 12 und die geschichtliche Wirklichkeit liegen hier weit auseinander. Der Begriff des Volkes war im neuzeitlichen Deutschland keineswegs nur ethnisch geprägt; eine politisch-soziale Dimension stand zunächst im Vordergrund. Nach der jüngsten Erforschung der einschlägigen Begriffsgeschichte ist festzuhalten, daß sich ein eindeutiger Begriff von einem deutschen Volk erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als ein politischer Begriff durchgesetzt hat. 13 Daß innerhalb des Deutschen Reiches mehrere Völker existieren, war seit dem Mittelalter allgemeine Anschauung und soziale und politische Realität. Gegenüber dem Adel, der die Reichsnation bildete, bezeichnete der Volksbegriff zudem die niederen, handarbeitenden Bevölkerungsschichten. Für die politische Terminologie des modernen Deutschland ist es wichtig, zwischen der politischen und einer ethnischen Verwendung des Volksbegriffs zu unterscheiden. Die politische stand zunächst eindeutig im Vordergrund. Im Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine betonte Aufwertung des Volksbegriffes zu beobachten, der Adelsnation wurde die Volksnation gegenübergestellt. Johann Gottfried Herder lieferte in seinen Schriften hierzu wichtige Beiträge durch den Hinweis auf die Kultur der Volksschichten, die er als die eigentliche Basis einer Nationalkultur bezeichnete und damit politisch aufwertete. Herder war in seinem Volksverständnis vor allem von Rousseau geprägt. Er hatte das Selbständigwerden der Völker vor Augen und betrachtete die Aufwertung der Volkssprachen und Volkskulturen als einen Weg zur Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins von Völkern, die noch keinen eigenen Staat besaßen. Sein Volksbegriff war also auch in seinen kulturellen Komponenten politisch geprägt. Dies ist gegenüber der Stilisierung Herders zum Begründer eines rein ethnischen Nationsbegriffes festzuhalten, die bis heute geradezu formelhaft fortgeschrieben wird. Herder trug dazu bei, daß in den Jahren nach 1789 der französische Nationsbegriff in Deutschland vielfach mit dem politisch verstandenen Volksbegriff wiedergegeben wurde. 14 Die politische Prägung des Volksbegriffes im Sinne des Staatsvolkes war in Deutschland vor allem innerhalb der Territorialstaaten verbreitet. In diesem Sinne wurden die Untertanen von den Regierungen seit der Wende zum 19. Jahrhundert zunehmend als Volk angesprochen. Verstärkt geschah dies im Zusammenhang der antinapoleonischen Befreiungskriege. In der Proklamation von Kaiisch wurde im März 1813 »den Fürsten und Völkern [!] Deutschlands die Rückkehr der Freiheit und Unabhängigkeit« versprochen, die Gestaltung der Zukunft Deutschlands »aus dem ureigenen Geiste des deutschen Volkes« wurde »allein den Fürsten und Völkern Deutschlands anheimgestellt«. Erstmals wurden damit neben den Fürsten auch die Völker als politische Subjekte angesprochen, die über ihr Schicksal selbst bestimmen können. Kurz vorher hatte Friedrich Wilhelm III. von Preußen seinen Aufruf »An mein Volk« erlassen, in dem er vom preußischen Staatsvolk zum deutschen Volk hinüberspielte, Erzherzog Karl von Österreich hatte im April 1809 seinen Feldzug mit einem Aufruf »An die deutsche Nation« eröffnet. Die Begriffe Volk und Nation wurden also im politischen Sinne fast synonym gebraucht. In diesem betont politischen Sinne finden wir den Volksbegriff sodann im Zusammenhang der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, in der es um die Durchsetzung der Volkssouveränität gegenüber der noch existierenden Fürstenherrschaft ging. Daher bezeichnete die Nationalversammlung der Paulskirche das Parlament des zu schaffenden Nationalstaates als »Volkshaus«, und die sozialdemokratische Bewegung proklamierte seit den 1860er Jahren einen nationalen »Volksstaat« als ihr Verfassungsideal. Hier ging es stets um einen politisch verstandenen Begriff 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

von der Volksnation, mit dem zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß das gesamte Volk die Nation, d.h. den Souverän des Staates, bildet. In den Zeiten, in denen ein deutscher Nationalstaat noch nicht existierte, war es jedoch immer wieder eine offene Frage, welche Grenzen dieser Staat haben, und das hieß auch: wer zu dem deutschen Volk gehören sollte. Bereits zu Beginn der deutschen Nationalbewegung stellte Ernst Moritz Arndt in seinem Gedicht »Was ist des Deutschen Vaterland?« jene Frage, und er gab die Antwort: »Soweit die deutsche Zunge klingt ... das soll es sein«. Er definierte das deutsche Volk also nicht politisch, sondern als Sprachgemeinschaft. Hier wurde zum ersten Mal die gefährliche Falle im politischen Denken des modernen Deutschland sichtbar, in die man geraten konnte, wenn politische und ethnisch-kulturelle Realitäten nicht unterschieden und die ethnischen politisiert wurden. Der Volksbegriff war für einen solchen Kurzschluß disponibel, weil er von jeher sowohl eine politische als auch eine ethnische Bedeutung umfaßte. Die Versuchung, in jene Falle des nationalpolitischen Denkens zu geraten, war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders groß. In der Frankfurter Nationalversammlung war 1849 die Entscheidung für eine kleindeutsche Nationalstaatsbildung gefallen. Das bedeutete, daß der Begriff von der Volksnation auf die Staaten Kleindeutschlands einzugrenzen war, die 1866/71 durch Bismarcks Politik im Deutschen Reich zusammengefaßt wurden. Diese nationalpolitische Selbstbeschränkung der deutschen Nation im Zuge ihrer Staatsgründung konnte auf die Dauer nur dann erfolgreich sein, wenn es gelang, auch im politischen Selbstverständnis den Volks- und Nationsbegriff auf den kleindeutschen Nationalstaat zu reduzieren, d.h. unter dem deutschen Volk in Zukunft allein das Staatsvolk des Reiches zu verstehen. Die politischen und ideologischen Voraussetzungen dafür waren nicht günstig. Bereits die Annexion Elsaß-Lothringens konnte nur ethnisch, nicht aber nationalpolitisch legitimiert werden. Die nationalen Minderheiten der Polen und Dänen innerhalb des Reiches stellten in dieser Hinsicht ein weiteres Problem dar. Vor allem aber war es die deutschösterreichische Bevölkerung, die in den 1880er Jahren im Zeichen ihres zunehmenden Minderheitssyndroms dazu überging, großdeutsch zu optieren und dabei den Volksbegriff in Anspruch zu nehmen. In diesem Zusammenhang setzte sich der Begriff »Volksdeutsche« durch, der ethnisch verstanden wurde. Ihm gegenüber stand der Begriff »Reichsdeutsche«, der das Staatsvolk des Reiches meinte. 13 Die hier sichtbar werdende Ethnisierung des Begriffs vom deutschen Volk setzte sich auch innerhalb des Reiches zunehmend durch. Seit den 1880er Jahren war das politische Denken in Europa allgemein von einer Ethnisierung des Nationalen geprägt. Ein ethnischer Volksbegriff, zunehmend auch antisemitisch unterlegt, wurde zu einem Kampfbegriff des 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

organisierten Nationalismus und richtete sich nicht zuletzt gegen den sozialdemokratischen Volksbegriff. Während des Ersten Weltkrieges kam der Begriff der »Volksgemeinschaft« auf und signalisierte den allgemeinen Durchbruch des ethnischen Denkens. Das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie, die beiden deutschsprachigen ›Mittelmächte‹ Europas, bildeten in diesem Krieg eine Kampfgemeinschaft. Ihnen gegenüber standen die Westmächte, die zunehmend zu einer ideologischen Kriegführung der antideutschen Abgrenzung übergingen. Der ethnische Nationalismus ist seitdem eine bis heute nicht überwundende Gefährdung des politischen Denkens in Europa, vor allem innerhalb der Intelligenz und des politischen Journalismus. In den zwei Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg waren ethnische Denkkategorien in allen politischen Lagern verbreitet. In Deutschland bildeten sie die wichtigste mentale Voraussetzung für die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda. Die politische Ausbeutung des Begriffs der »Volksgemeinschaft« durch die Nationalsozialisten wurde zum Angelpunkt ihres Erfolges in der deutschen Bevölkerung. Durch Hitler wurde den Deutschen dann aber deutlich genug demonstriert, wohin es fuhren mußte, wenn man mit einem ethnischen Volksbegriff Politik machte. Aus der Falle, in die bereits Ernst Moritz Arndt geraten war, war eine tödliche Falle geworden. Damit war nach 1945 der Weg frei für ein neues politisches Selbstverständnis der Deutschsprachigen in Europa als Mitglieder des Staatsvolkes ihres jeweiligen Landes. Den Deutsch-Österreichern gelang es am ehesten, innerhalb ihres neu konstituierten Staates zu einer eigenständigen Nationsbildung zu gelangen. Sehr viel schwieriger und leidensvoll war die Situation der deutschsprachigen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa. Sie waren als Deutsche vielfältigen Repressionen ausgesetzt, so daß der ethnisch begründete Rückbezug auf Deutschland in ihren Kreisen zu verstehen ist, dem die westdeutschen Regierungen durch den Artikel 116 Grundgesetz und das auf ihm beruhende Einbürgerungsrecht entgegengekommen sind. Für die Deutschen innerhalb des verkleinerten Reichsgebietes begann mit dem Jahre 1945 eine lange Phase der politischen Unsicherheit im Zeichen der Nachfolgelasten des Hitler-Krieges. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist zunächst ein erneutes ethnisches Empfinden der schicksalhaften Zusammengehörigkeit nach der Erfahrung von massenhafter Evakuierung, Flucht und Vertreibung deutscher Bevölkerungsteile und angesichts der ethnischen Sippenhaftung für die Verbrechen Hitler-Deutschlands, mit der man sich konfrontiert sah, zu beobachten. Die ungeklärte Situation des eigenen nationalen Schicksals führte innerhalb Westdeutschlands zu einem Nebeneinander von drei verschiedenen Völksbegriffen, die auch im Grundgesetz der Bundesrepublik ihren Niederschlag gefunden haben. 16 Unter dem deutschen Volk wurde zunächst das Staatsvolk der Bundesrepublik 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

verstanden, sodann die Bevölkerung des gesamten Nachkriegsdeutschland, und schließlich gab und gibt es im Artikel 116 des Grundgesetzes den Begriff der Volksdeutschen, der mit seiner ethnischen Prägung auf die bereits genannten Folgelasten des untergegangenen Reiches verweist. Mit der Vereinigung von 1990 ist die Basis dafür gegeben, daß dieses Nebeneinander der Volksbegriffe und die damit verbundene Unsicherheit hinsichtlich der politischen Identität der Deutschen verschwinden kann. Erst jetzt kann sich ein Begriff vom deutschen Volk durchsetzen, der alle Staatsbürger der Bundesrepublik ohne Rücksicht auf ihre Religion, ihre politische Meinung, ihre ethnische oder regionale Herkunft umfaßt. Dieser Begriff vom deutschen Volk ist ausschließlich politisch geprägt; das mit ihm bezeichnete deutsche Volk endet an den Staatsgrenzen der Bundesrepublik. Es ist daher inkorrekt, weiterhin von ›den Deutsche‹ in Polen oder Rußland zu sprechen. Neben dem deutschen Volk existiert in Europa die deutsche Sprachgemeinschaft, deren Angehörige in vielen Nationalstaaten beheimatet sind. Der ethnische Begriff von der deutschen Volksnation hat sich damit endgültig als politisch unbrauchbar und gefährlich erwiesen. Dieser Begriff war Ausdruck der nationalpolitischen Unsicherheiten in der Phase der nationalen Staatsbildung der Deutschen, die erst im Jahre 1990 zum Abschluß gekommen ist.

III. Der Abschied vom ethnischen Begriff des deutschen Volkes stellt einen Lernprozeß im heutigen Deutschland dar, der noch nicht abgeschlossen ist. Ein anderer Begriff der politischen Identität wurde dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell abgestoßen: der Begriff des Reiches. Das Reich war für alle Deutschen seit jeher die Bezeichnung ihres Staates gewesen. Mit dem Verzicht auf diesen Begriff signalisierte die deutsche Bevölkerung relativ frühzeitig, daß sie bereit war, die Entscheidungen der Siegermächte und die Resultate der Konferenz von Potsdam zu akzeptieren. Im Jahre 1919 dagegen hatte die Mehrheit des Reichstages noch demonstrativ an dem Begriff festgehalten, obwohl Deutschland kein Kaiserreich mehr war. Die signifikante Distanzierung der Deutschen nach 1945 von dem Begriff des Reiches legt daher die Frage nahe: War das Reich nicht das eigentliche Charakteristikum jener deutschen Nation, die nach 1945 mit der Auflösung ihres Nationalstaates zu Ende ging? Sollte diese Nation daher nicht als ›Reichsnation‹ verstanden und bezeichnet werden? Unter der deutschen Reichsnation versteht man in geschichtlicher Perspektive zunächst die im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches ver76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sammelten Reichsstände des deutschen Hochadels. Sie waren der politische Träger des alten Reiches, bewirkten jedoch mit ihrer eigenen Territorialpolitik, daß jenes Reich sich nicht zu einem modernen Nationalstaat ausbilden konnte. In der Konfrontation mit dem revolutionären Frankreich ließen die führenden deutschen Fürsten das Reich endgültig zugunsten ihrer eigenen Territorialpolitik fallen, so daß es durch Initiativen Napoleons im Jahre 1806 aufgelöst werden konnte. Bei den Wiener Verhandlungen im Jahre 1815, in denen es um eine Wiederherstellung der alten Ordnung ging, wurde von den deutschen Fürsten eine Restauration des Reiches bewußt vermieden. Der Begriff des Reiches paßte nicht zu der Verfassungswirklichkeit, die sich in Deutschland herausgebildet hatte: eine weitgehende Souveränität der Einzelstaaten im Rahmen eines politischen Gesamtsystems, das von dem Zusammenspiel der Großmächte Österreich und Preußen geprägt war. Der Begriff eines Bundes war hier angemessener. Um so überraschender, daß die bürgerliche Nation nun auf den Terminus Reich zurückgriff. Die reichsdeutsche Kulturgesellschaft hatte sich in ihrem aufgeklärten Patriotismus noch bewußt mit dem alten Reich identifiziert, war jedoch seit 1795, als die Existenzkrise jenes Reiches einsetzte, schnell auf Distanz gegangen. Auch 1813 ist bei Ernst Moritz Arndt diese Distanz gegenüber dem Reich der Fürsten noch spürbar. In den Jahren nach 1815 jedoch, als das Verhalten der Fürsten deutlich erkennbar war, bedienten sich fast alle Richtungen der nationalen Bewegung des Reichsbegriffes, um ihre nationalen Verfassungsvorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Schon im Jahre 1814 hatte Joseph Görres seinem »Rheinischen Merkur«, dem westdeutschen Organ der nationalen Bewegung, die Losungsworte »Kaiser und Reich« vorangestellt. Obwohl das Reich ursprünglich einen übernationalen Charakter trug, wurde es in diesem neuen politischen Zusammenhang nun als eine nationaldeutsche Institution verstanden. Die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches, das viele Völker umfaßte, wurden als die Grenzen des deutschen Vaterlandes betrachtet, innerhalb deren sich die Nationalbewegung in ihren Vorstellungen und Aktionen bewegte. Der Reichsbegriff wurde zur Metapher für den nationalen Staat, den man erhoffte. Losgelöst von einem Bezug auf konkrete politische Institutionen, war dieser Begriff nun offen für weitergehende Vorstellungen und konnte mit anderen Traditionen verbunden werden. Drei Dimensionen sind besonders wichtig geworden: Zentral waren zunächst verfassungspolitische Grundvorstellungen, die auf einen Nationalstaat ausgerichtet waren. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte hielt seine letzte staatsphilosophische Vorlesung zur Zeit des antinapoleonischen Krieges, in diesem Sinne als eine »Lehre von der Errichtung des Reiches«. Unter dem Reich verstand er ein »wahrhaftes Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, in aller Begeisterung für 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die Freiheit des Bürgers, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt«. Es waren die menschenrechtlichen Ideale, Vermächtnis der deutschen Aufklärung und der Französischen Revolution, die in diesem Reich verwirklicht werden sollten. Mit vielen seiner gleichgesinnten Zeitgenossen hoffte Fichte, daß es den Deutschen zuerst in Europa gelingen würde, ein solches Reich zu errichten. Das Reich verkörperte in der politischen Programmatik der Nationalbewegung zum anderen eine föderale Option für den erhofften Nationalstaat. Das alte Reich war ein Herrschaftsverband, der aus der Vielgestaltigkeit seiner Glieder lebte. Daher blieb der Reichsbegriff ein Symbol für alle, die den deutschen Nationalstaat nicht als einen Zentralstaat nach französischem Vorbild verwirklicht sehen wollten, sondern als ein Reich, in dem die verschiedenartige regionale, religiöse und politische Prägung der Deutschen gewahrt blieb. Die Reichsvorstellungen innerhalb der Nationalbewegung hatten nicht zuletzt einen rückwärts gewandten Charakter. Im Rückbezug auf das Kaiserreich des Mittelalters spielte die Figur des Kaiser Barbarossa eine wichtige, mythenbildende Rolle. In seinem 1817 verfaßten Gedicht, das schnell populär wurde, hatte Friedrich Rückert von jenem Kaiser geschrieben: »Er hat hinabgenommen des Reiches Herrlichkeit und wird einst wiederkommen mit ihr, zu seiner Zeit.« Auch im deutschen Katholizismus war dieses Reichsdenken stark vertreten und verbunden mit dem Ideal einer Rom-orientierten Kircheneinheit. Die nationale Bewegung sollte in allen ihren Lagern von dem Begriff des Reiches nicht mehr loskommen. Auch in der revolutionären Situation des Jahres 1848/49 konnte man sich einen deutschen Nationalstaat nur als Reich vorstellen. Sobald sich die Nationalversammlung im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche konstituiert hatte, setzte sie einen »Reichsverweser« aus dem alten habsburgischen Kaiserhaus ein. Die erste moderne deutsche Verfassung wurde eine »Reichsverfassung«. Die Grenzen, die in dieser dem geplanten Nationalstaat gegeben wurden, entsprachen weitgehend denen des alten Reiches. Damit aber verstrickte sich die nationalliberale Bewegung in zahlreiche Probleme. Die Vertreter der tschechischen Nationalbewegung protestierten beispielsweise gegen die Einbeziehung in dieses Reich. Die politische Hypothek, die mit dem Reichsbegriff verbunden war, wurde nur von wenigen gesehen. Im Heiligen Römischen Reich lebten unter der Herrschaft des deutschen Hochadels mehrere Völker und Volksgruppen zusammen; dieses Staatsmodell aus vormoderner Zeit war mit einem modernen Nationalstaat schwer zu vereinen. Übersetzt in die Gegenwart, mußte das Reichsmodell auf einen nationalen Machtstaat hinauslaufen, dessen Grenzen über das deutsche Siedlungsgebiet hinausgingen. 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Als im Jahre 1870 endlich ein deutscher Nationalstaat konstituiert wurde, war es ein »Deutsches Reich«. Es wurde von etwa den gleichen Herrschaftsträgern jener Reichsnation gegründet, die auch schon das alte Reich getragen und es dann fallengelassen hatten. Mit der Dominanz der Fürsten war ein Stück feudalstaatlicher Verfassungswirklichkeit in dem zweiten Deutschen Reich lebendig und hat nicht unwesentlich zu dessen Problemen und Krisen beigetragen. Die moderne deutsche Nation war sowohl in regionaler wie in sozialpolitischer Hinsicht nur unvollkommen an diesem Reich beteiligt; Staatsbildung und Nationsbildung waren nicht zur Deckung gekommen. Als nach der Revolution von 1918 dafür wesentlich bessere Voraussetzungen gegeben waren, hielt auch die nun souveräne Nation am Reichsbegriff fest. Ein Antrag der beiden sozialdemokratischen Parteien in der Weimarer Nationalversammlung, den demokratisch-republikanischen Nationalstaat nicht mehr »Deutsches Reich«, sondern »Deutsche Republik« zu nennen, stieß auf die geschlossene Ablehnung der bürgerlichen Parteien; auch die Koalitionspartner der Sozialdemokratie innerhalb der Weimarer Koalition sprachen sich für den Reichsbegriff aus. Die demokratischen Gruppierungen wurden jedoch in der Beanspruchung des Reichsbegriffes schon bald vom nationalistischen Revisionismus der Rechten überholt. Bei den antidemokratischen Kräften verband sich die Hoffnung auf die Wiedergewinnung einer Großmachtstellung Deutschlands mit dem Projekt von einem ›neuen Reich‹. Als dann im Jahre 1933 ein »Drittes Reich« in Deutschland eingeläutet wurde, verzichtete die bürgerliche Mehrheit des Reichstages auf das wichtigste Recht einer modernen Nation, die politische Souveränität. Sie übergab sie einem »Führer«, der die Schaffung eines »Großdeutschen Reiches« versprach. Dessen Realisierung im Zeichen von Faschismus, Krieg und Völkermord führte zum Untergang des Reiches. Damit war nicht nur der Reichsgedanke unter den Deutschen an ein Ende gekommen, sondern auch die Nation, die jenes Reich getragen hatte.

Es liegt daher nahe, die Nation, die im Deutschen Reich ihren Nationalstaat hatte und sich nach dessen Ende nicht wieder als Nation konstituieren konnte, als ›Reichsnation‹ zu bezeichnen. Schon vor der Entstehung ihres Nationalstaates, die eine ›Reichsgründung‹ war, hatte sie in ihren nationalpolitischen Vorstellungen stets den ReichsbegrifT favorisiert. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lagen die geschichdichen Wurzeln dieser Nation. Die große mittelalterliche Geschichte des Reiches war im Geschichtsbewußtsein der modernen Nation stets als die eigene Geschichte lebendig. Aus dieser Orientierung ergaben sich für das politische Verhalten der modernen deutschen Nation wichtige Charakteristika: 1. Mit dem Reich war stets die Institution des Kaisertums verbunden. 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

»Kaiser und Reich« gehörten wie eine Formel zusammen. Das Kaisertum, das von jeher im Denken des Volkes einen besonderen Stellenwert hatte, blieb für die moderne Nation ein Bezugspunkt nationaler Hoffnungen, wie es der Barbarossa-Mythos zeigt. Selbst die revolutionäre Nation des Jahres 1848/49 hat ein neues Kaisertum zu schaffen versucht. Innerhalb des 1871 gegründeten Kaiserreiches arbeitete auch die Sozialdemokratie als Opposition nicht auf eine Abschaffung des Kaisertums hin. Der Rücktritt von Kaiser Wilhelm II. im November 1918 hinterließ im politischen Denken der Nation eine nicht bewältigte Leerstelle, die Suche nach einem ›Ersatzkaiser‹. 2. Das Reichsdenken implizierte das Plädoyer für eine föderale Verfassungsstruktur. Das Deutsche Reich war nie, bzw. nur unter Hitler, ein unitarischer Zentralstaat; es war ein Verband von Staaten, Städten, Ländern, Herrschaften. Auch die nationalen Bewegungen trugen diesem Umstand mehr oder weniger Rechnung. Selbst im Revolutionsjahr 1848/49 hat es nicht nur eine ›Nationalversammlung‹ in Deutschland gegeben. 3. Mit der Reichsorientierung war eine imperiale Grundorientierung verbunden. Das politische Verhalten jener Deutschen war von dem Bewußtsein geprägt, zu einer herrschenden Nation zu gehören. Das Heilige Römische Reich war das in Mitteleuropa dominierende Herrschaftssystem, in das mehrere Völker und Volksgruppen inkorporiert waren, aber die Deutschen, respektive der deutsche Adel, waren in ihm unbestritten die herrschende Nation. Das wirkte sich auch auf das Verhältnis zu den Nachbarvölkern aus. Die vom Königtum repräsentierte französische Nation entwickelte ihr Selbstbewußtsein schon früh aus der Abgrenzung vom Reich, und eine Rivalität der beiden Nationen blieb bis zum Ende beider deutscher Reiche vorherrschend. Im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn entwickelte sich eine imperiale Grundeinstellung erst in der Neuzeit; sie erlebte im Zweiten Weltkrieg eine mörderische Pervertierung. Nicht nur die Anfänge also, auch das Ende jener deutschen Nation war mit dem Begriff des Reiches aufs engste verbunden. Von daher ist die Distanzierung vom Begriff des Reiches zu verstehen, die sich in der deutschen Gesellschaft nach 1945 schnell durchsetzte. Das bedeutete eine erste Abgrenzung gegenüber der bisherigen nationalen Geschichte. Dieser Prozeß vollzog sich bis in die 1970er Jahre in mehreren Etappen. Auf die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 blieb die westdeutsche Bevölkerung und ihre Regierung noch bis zum Ende der 1960er Jahre fixiert. Erst mit dem politischen Generationswechsel um 1970 setzte sich ein anderer Deutschlandbegriff innerhalb der Bundesrepublik durch. Er war zunächst ausschließlich auf Westdeutschland bezogen; erst die Ereignisse in der DDR von 1989 und die nachfolgende Vereinigung legte das »Deutschland einig Vaterland« in seinen heutigen Grenzen fest. 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Damit ist von der Staatsbildung und Staatsverfassung her die Grundlage für eine neue Nationsbildung in Deutschland geschaffen. Das Selbstverständnis der Deutschen und der Nationsbegriff, der sich mit ihnen verbindet, können sich neu formen. Für die politische Kultur, in deren Rahmen dies geschieht, sind die historischen Dimensionen von großer Bedeutung. Wie wird sich die deutsche Gesellschaft künftig zu ihrer nationalen Geschichte vor 1945 und deren Traditionen verhalten? Werden die Deutschen immer noch als Kulturnation und wieder als ethnische Volksnation definiert? Die Problematik solcher genereller Typologisierungen von Völkern und Nationen ist hier in Bezug auf Deutschland deutlich geworden. Allenfalls für bestimmte Etappen in der Geschichte einer nationalen Gesellschaft erscheint es legitim, klassifizierende Aussagen zu machen. Auch für die Deutschen, das steht zu hoffen, sollte eine besondere Klassifizierung nicht mehr notwendig sein. Denn die heutige deutsche Nation ist identisch mit Staatsvolk der Bundesrepublik. Eine Kennzeichnung der mit dem Deutschen Reich untergegangenen Nation als Reichsnation würde daher eine geschichtliche Abgrenzung ermöglichen, die für das nationale Selbstverständnis der Deutschen wichtig sein wird.

Anmerkungen 1 Hin jüngst erschienener Tagungsbericht des Collegium Carolinum gibt einen instruktiven Überblick über das heutige Spektrum an Nationstypologien: E. Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994. Den interessantesten Beitrag zur Typologisierung der deutschen Nation hat M. Rainer Lepsius auf dem Höhepunkt der deutschen Zweistaatlichkeit vor zehn Jahren vorgelegt: M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, jetzt in: Ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232-246. 2 G. de Staël, Über Deutschland, hg. v. S. Metken, Stuttgart 1962, S. 50. Vgl. insb. das Kapitel I, 2. S. 56ff. 3 F.W.G. Hegel, Politische Schriften, hg. v. J. Habermas, Frankfurt/M. 1966, S. 138. 4 Die Xenie mit der Überschrift »Deutsches Reich«, in: F. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1965, S. 267. 5 Ebd., S. 473f. Dieses Fragment sollte zu einem locus classicus für den Topos der deutschen Kulturnation werden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts aus Schillers Nachlaß bekannt geworden, wurde der Text von Friedrich Meinecke zuerst aufgegriffen und entsprechend interpretiert. Vgl. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907), in: Ders., Werke, Bd. 5, München 1962, S. 54ff. 6 R. Noltenius, Dichterfeiern in Deutschland, München 1984, S. 109. 7 Meinecke, Weltbürgertum, S. 10 u. 16ff. 8 Ebd., S. 12. 9 P. Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985, S. 19ff. Zuletzt auch H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 141ff. 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

10 Ebd., S. 147f. 11 Vgl. zum folgenden Lepsius, Nation, S. 235ff. 12 Zur Diskussion um die deutsche Staatsbürgerschaft: R. Brubaker, Staats-Bürger, Hamburg 1994. 13 Vgl. den umfangreichen Beitrag von R. Koselleck u.a., Volk, Nation, Nationali:mus, Masse, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 19c2, S. 141-431, insb. S. 314ff. 14 Vgl. ebd., S. 381f. 15 Den Prozeß der Ethnisierung des Nationaldenkens hat für Deutschland und Franlreich im ausgehenden 19. Jahrhundert nachgewiesen: M. Jeismann, Das Vaterland der Eande. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankeich, Stuttgart 1992. 16 Vgl. Koselleck, Volk, S. 420ff.

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PIERRE NORA

Das Abenteuer der Lieux de mémoire* I. Die fast zehnjährige Arbeit an den sieben umfangreichen Bänden der »Lieux de mémoire«1 war nicht nur ein verlegerisches, sondern auch ein intellektuelles Abenteuer, und dies auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene: Einerseits haben fast hundertdreißig Historiker an dem Projekt mitgewirkt. Andererseits haben sich aber auch die von mir verantwortete Gesamtkonzeption und der Detailaufbau des Werkes im Verlauf der Jahre ständig fortentwickelt. Das ursprüngliche Konzept, das in meinem Seminar an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (E.H.E.S.S.) erprobt worden war, bestand im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichtsschreibung darin, ausgewählte Kristallisationspunkte unseres nationalen Erbes zu erforschen, die wichtigsten »Orte« (in allen Bedeutungen dieses Wortes), an denen sich das kollektive Gedächtnis festmacht, zu inventarisieren und eine Topologie der Symbolik Frankreichs zu erstellen. Ursprünglich war ein vierbändiges Werk geplant: ein Band für »La République«, zwei für »La Nation« und einer für »Les France«, dessen Konzept - obwohl ich wußte, daß der Titel im Plural gehalten werden mußte - mir aber nur in groben Umrissen vorschwebte. Nach der Veröffentlichung des Bandes »La République«, in dem ich einleitend unter der Überschrift »Zwischen Geschichte und Gedächtnis«2 die Gesamtproblematik der »Lieux de mémoire« darlegte, stellte sich heraus, daß »La Nation« letztlich drei anstatt zwei Bände umfassen würde. »La République« konnte sich meiner Meinung nach weitgehend auf Beispiele beschränken, die aus der Gründungszeit der Dritten Republik stammten. »La Nation« hingegen, die weniger gut erforscht war, als vermutet werden konnte, erforderte eine sehr viel systematischere und umfassendere Untersuchung. Daher entschied ich mich für eine dreiteilige Gliederung. Der erste Band von »La Nation« enthält den Bestand an Immateriellem: das Erbe (»héritage«), das sich durch den Charakter der »langen Dauer« (»longue durée«) auszeichnet, wie etwa die * Aus dem Französischen übersetzt von Linda Gränz.

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Heiligtümer von Saint-Denis und die Salbung der Könige in Reims; weiter die großen Momente, in denen die »Geschichtsschreibung« die Grundlagen des historischen Gedächtnisses erneuert hat; schließlich die Art und Weise, wie Gelehrte und Maler »die Landschaft« der Nation entworfen haben. Der zweite Band behandelt das Materielle, das heißt das »Territorium« Frankreichs mit seinen Grenzen und dem Begriff des Hexagons; den »Staat« mit seinen symbolischen Instrumenten oder dem Code civil; schließlich das »nationale Erbe« (»patrimoine«) und die Männer, die es definiert haben, wie Guizot, Mérimée oder Viollet-le-Duc. Der dritte Band widmet sich dem Ideellen, das heißt den beiden Leitgedanken, auf die sich die Nation gründet, nämlich dem militärischen und zivilen »Ruhm« (»gloire«) sowie den »Worten«, die eine besondere Bedeutung in diesem Land haben, in dem Sprache und Literatur so eng mit der Macht, dem Staat und dem Nationalgedanken verbunden sind. Darunter finden sich zum Beispiel »Verdun«, die »Académie française«, das »Musée historique de Versailles« und »Der Besuch beim großen Schriftsteller«.3 Nach der Veröffentlichung von »La Nation« (1986) machte das Projekt lange Zeit keine Fortschritte. Eine Vielzahl von Gründen hielt mich davon ab, mit den Arbeiten für »Les France« zu beginnen. Die drei wichtigsten möchte ich hier nennen: Erstens war seit »L'identité de la France« von Fernand Braudel4 eine Flut von Publikationen zur französischen Geschichte erschienen. Der Markt schien gesättigt und animierte nicht zu neuen verlegerischen Initiativen, auch wenn die »Lieux de mémoire« das Thema aus einem völlig anderen Blickwinkel beleuchtet hätten. Zweitens fürchtete ich den großen Umfang dieses Teils, der durch die am Ende unvermeidliche Vielfalt von Themen und deren notwendige ausführliche Erörterung massiv angewachsen war. Drittens wußte ich um die ›Banalität‹ mancher Sujets, da man im Zusammenhang mit »Les France« beispielsweise weder auf Jeanne d'Arc noch auf den Eiffelturm verzichten konnte. Doch wenn es in den ersten Bänden noch genügt hatte, die »Tour de France par deux enfants«5 mit den »Grandes chroniques de France«6 oder die Straßennamen7 mit den Begräbnisfeiern für Victor Hugo8 zu vergleichen, um den Begriff »Erinnerungsorte« und seine Fruchtbarkeit zu verdeutlichen, so ging es nun darum, Jeanne d'Arc oder den Eiffelturm als Erinnerungsort zu konstituieren: das heißt, über ihre historische Realität hinaus ihre symbolische Wahrheit herauszuarbeiten, um die Erinnerung, deren Träger sie waren, zu rekonstruieren. Dies war eine sehr viel schwierigere, aber dennoch reizvolle Aufgabe. Denn wenn es gelänge, ›Frankreich‹ nicht etwa als den Endpunkt einer ›Geschichte‹ darzustellen, die sich unmöglich unter einem bestimmten Schema subsumieren läßt, und auch nicht als das Ergebnis zahlreicher, aber klar identifizierbarer determinierender Strukturen, sondern als eine gänz84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

lich symbolische Realität, dann würden diese Strukturen selbst als das erscheinen, was sie sind, nämlich als unerschöpflich. Damit wäre der Plural »Les France« tatsächlich gerechtfertigt. Dann würde das Ganze diesen ungewöhnlichen Ansatz, der im Vergleich voneinander unabhängiger symbolischer Einheiten besteht, vollkommen verständlich machen und die verbindende Logik deutlich herausstellen. Dann würde diese empirische, experimentelle und beinahe spielerische Vorgehensweise der »Lieux de mémoire« äußerst interessante Möglichkeiten eröffnen: Aus einem Begriff, der am Anfang nur als Mittel zum Zweck konzipiert wurde, könnte sich eine Intelligibilitätskategorie für die Neueste Geschichte entwickeln, wenn nicht sogar - was in der Geschichtsschreibung recht selten ist - ein ›Konzept‹. Auf diese Weise könnte ein Beitrag zur Entwicklung einer Symbolgeschichte geleistet werden, die besser als die klassische Geschichte den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen unserer Zeit entsprechen würde. Am besonders geeigneten französischen Beispiel könnte ein anderer Umgang mit nationaler Geschichte demonstriert werden, der vielleicht auch in anderen Ländern Schule macht. Diese Aussicht hat mich dazu veranlaßt, das Projekt mit doppeltem Einsatz wieder in Angriff zu nehmen. »Les France« enthält siebzig neue Beiträge und umfaßt drei Bände, die zusammen den gleichen Umfang wie die vier ersten Bände aufweisen. Der erste Band, »Konflikte und Teilungen« (»Conflits et partages«), befaßt sich mit den großen politischen, religiösen und geo-historischen Auseinandersetzungen, die im kollektiven Gedächtnis Frankreichs präsent sind. »Traditionen« (»Traditions«), der zweite Band, untersucht die realen und imaginären Wurzeln der Gesellschaftsmodelle, der regionalen Strukturen, der Volkskultur und der mehr oder weniger unterstellten Eigenarten des Landes. Der dritte Band schließlich, »Vom Archiv zum Emblem« (»De l'archive à Pemblème«), geht von den nüchternen dokumentarischen Instrumenten aus, mit deren Hilfe das kollektive Gedächtnis Spuren sichert, um am Ende zu den typischsten Repräsentationen der französischen Identität zu gelangen. II. Die »Lieux de mémoire« gehören damit auf ihre Art zu der traditionellen Gattung der »Französischen Geschichte« (»Histoire de France«). Ihre Originalität besteht darin, daß sie in sich geschlossene Elemente unserer Mythologie, unseres Organisations- und Repräsentationssystems herausgreifen und durch das historische Mikroskop betrachten. Es kann sich dabei um Denkmäler im eigentlichen Sinne handeln, wie Kriegerdenkmäler, das Pantheon oder die heiligen Kirchen der französischen Krone; oder um 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

bestimmte Orte, die die Funktion von Gedenkstätten haben, wie Versailles oder Vézelay; oder um Gedenkzeremonien, von der Salbung der Könige in Reims bis zur Jahrhundertfeier der Revolution, von der Rede auf ein verstorbenes Mitglied der Académie française bis zur Jahrtausendfeier des Kapetingerreichs; oder auch um Embleme wie den gallischen Hahn oder die Trikolore, um Wahlsprüche wie »Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit«, »Frankreich, die älteste Tochter der Kirche« oder »Für das Vaterland sterben«. Es kann sich um bestimmte erinnerungswürdige Persönlichkeiten, um typische Institutionen oder grundlegende Gesetzeswerke handeln, aber auch um komplexere Begriffe wie »die Rechte und die Linke« oder »die Generation« in bezug auf ihre spezifisch französischen Eigenschaften. Das Spektrum der möglichen Untersuchungsgegenstände ist daher praktisch unbegrenzt. Alles ist abhängig von einer kohärenten Zusammenstellung, die das »Muster im Teppich« sichtbar macht, und von der Umsetzung, die ein Spiegel der französischen Identität sein soll, eine Brechungslinse, ein symbolisches Fragment eines symbolischen Ganzen. Es macht einen Unterschied, ob man die Felsmalereien von Lascaux konkret beschreibt oder anhand von Mitterrands Rede zum fünfzigjährigen Jubiläum der Entdeckung der Grotte analysiert, wie Frankreich sich das, was Pierre Chaunu sein »dunkles Gedächtnis« nannte, angeeignet hat. Es ist auch etwas anderes, die Geschichte der Tour de France seit 1903 zu erzählen, ihre großen Momente, ihre Helden, ihre Reporter und ihre allmähliche Kommerzialisierung, oder zu untersuchen, wie dieses populäre Zugpferd dem Volk die Möglichkeit eröffnete, Frankreich in seiner geographischen Gesamtheit auf einer Rundstrecke kennenzulernen, die ursprünglich dem typischen Reiseweg der Wandergesellen entsprach. Dies geschah zudem im gleichen Jahr, in dem der Geograph und Historiker Vidal de La Blache die Vielfalt und zugleich Geschlossenheit des Landes in seinem »Tableau de la géographie de la France« beschrieb, das als Einleitung zu der klassischen »Histoire de France« von Ernst Lavisse dienen sollte.9 Proust läßt sich einerseits als »der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« untersuchen, andererseits kann man aber bei diesem Romancier der Erinnerung auch die »Erinnerungsorte« zählen - von den kleinen Sandplätzchen über die Kirchtürme von Martinville bis zu den unebenen Pflastersteinen. Man kann jedoch schließlich auch, wie es in »Les France« zum ersten Mal unternommen wird, analysieren, auf welchen Umwegen dieser homosexuelle, jüdische und dandyhafte Schriftsteller, der anfangs eine Randstellung gegenüber den vorherrschenden literarischen Strömungen einnahm und von Andre Gide ebensowenig geschätzt wurde wie von Andre Breton, Malraux oder Sartre, in den Zenit des literarischen Firmaments aufstieg. Ähnlich könnte man mit allen Themen verfahren. 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Zudem lassen sich die verschiedenen Gegenstände der Bände beliebig nach Verwandtschaftsbeziehungen anordnen. Man kann sie etwa nach Epochen gliedern und dabei insgesamt fünf Erinnerungsschichten entdekken, wobei das 19. Jahrhundert besonders kreativ gewesen zu sein scheint. Vom »monarchischen Gedächtnis« gelangen wir über das »Gedächtnis des Staates«, das »Gedächtnis der Nation« und das »Gedächtnis des Bürgers« zu unserem heutigen »Gedächtnis des nationalen Erbes«. Die einzelnen Themen (Staat, Raum, Politik, Kunst, Literatur und Religion) lassen sich aber auch jeweils für sich betrachten. Diese Art von Symbolgeschichte erlaubt insbesondere, Verbindungen zwischen den elementarsten materiellen Grundlagen der Gesellschaft und den erlesensten Schöpfungen der Kultur und des Denkens herzustellen. Dabei bietet sie die Gelegenheit für eine Zusammenarbeit von Historikern, die ansonsten so verschiedene Bereiche wie Kunst, Literatur, Politik, Recht, Demographie und Wirtschaft bearbeiten. In allen Fällen geht es aber um das gleiche Ziel: Jedem Gegenstand soll seine ursprüngliche Eigenart zurückgegeben werden, indem man zeigt, was das einzelne Element vom Ganzen bezieht und welchen Anteil es an der Identität des Gesamten hat. Das Spektrum der Themen umfaßt daher neben vertrauten, aber merkwürdigerweise niemals untersuchten Sujets, wie der Marseillaise oder der Trikolore, auch sehr klassische Motive wie Jeanne d'Arc oder den Eiffelturm (um diese Beispiele wieder aufzugreifen), die jedoch aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Schließlich enthält es grundlegend neue Untersuchungsgegenstände (vor allem in »La Nation«), die von keiner Geschichte Frankreichs ernsthaft berücksichtigt wurden, wie zum Beispiel der Soldat Chauvin. Jeder kennt den Begriff »Chauvinismus« und weiß, daß er überall auf der Welt gebräuchlich ist. Manche wissen auch, daß er vom Namen Nicolas Chauvins abgeleitet ist, einem Veteranen der Revolutionskriege und Napoleonischen Kriege. Gerard de Puymége, der diese Geschichte genauer untersucht hat, hat aber festgestellt, daß Chauvin niemals existiert hat.10 Es handelt sich um einen Mythos, der von den Karikaturisten und Kabarettisten der Restauration und der Julimonarchie geschaffen wurde, um ein »Remake« des bäuerlichen Soldaten, dessen Gestalt bei jedem Wiederaufleben der christlichen Agrarromantik, von Bugeaud bis Méline und Pétain, immer wieder erscheint. Doch welche Einsichten gewährt uns eine genaue Analyse dieses für die französische Identität zentralen Mythos? Und welche Bedeutung gewinnt er, wenn wir ihn in den Abschnitt von »La Nation« über den militärischen Ruhm neben das unvermeidliche Thema »Verdun« stellen? Ein solcher für die »Lieux de mémoire« typischer Ansatz mag zunächst verwirrend oder gar skandalös wirken. Er scheint jede Art von nationaler Dynamik zu leugnen, sei sie nun geistiger oder materieller, nationaler oder 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

revolutionärer Art. Denn wenn man einen Wahlspruch wie »Für das Vaterland sterben« neben Artikel über Valmy und Verdun stellt, wenn man das »Comité des travaux historiques«11 nach dem gleichen analytischen Prinzip wie die Gestalt General de Gaulles untersucht, wenn man dem Gedenken an ein großes Ereignis die gleiche Art von Aufmerksamkeit wie dem Ereignis selbst zollt, dann stellt man die herausragendsten Leistungen der nationalen Geschichte und Tradition auf eine Stufe mit den bescheidensten Instrumenten, durch die eben diese Geschichte und Tradition erzeugt werden. Genau auf diesem Prinzip baut unser Vorhaben auf, das die Konstruktion einer Repräsentation, die allmähliche Herausbildung eines historischen Gegenstands beleuchten will. Die »Lieux de mémoire« privilegieren somit unvermeidlich die historiographischen Dimensionen der behandelten Themen.

III. Dieses Vorgehen bedeutet keineswegs, daß man den Problemen politischer, wissenschaftlicher, ethischer und gesellschaftlicher Art, die sich heute bei der Abfassung einer historischen Gesamtdarstellung stellen, ausweichen möchte. Mir scheint im Gegenteil, daß es vollkommen dem Erkenntnisprozeß der historischen und historiographischen Forschung entspricht. Die Geschichte und insbesondere die nationale Geschichte hat sich seit der Konstituierung der Disziplin als Wissenschaft bei ihren ständigen Fortschritten und entscheidenden Erneuerungsbestrebungen immer darum bemüht, den Abstand zu bestimmen bzw. eine klare Trennlinie zu ziehen zwischen dem, was die Zeitgenossen erlebten oder erlebt zu haben glaubten, und der genauen Bewertung dieses Bestandes an Glaubensüberzeugungen und Traditionen. Immer standen die Fortschritte der Disziplin in Zusammenhang mit großen Umwälzungen, die zu einer Neuorientierung im Hinblick auf die benutzten Quellen, die Forschungsmethoden und Interessenschwerpunkte der Wissenschaft führten. So haben in der frühen Dritten Republik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts das Trauma der Niederlage von 1870 und die Rivalität mit Deutschland die Inventarisierung und Überprüfung der gesamten nationalen Überlieferung zu einer wichtigen, der Abgrenzung gegenüber dem Ausland und den vorherigen Regimen dienenden Aufgabe erhoben. Dies erforderte eine strenge, definitive Trennung zwischen narrativen Quellen und Archivmaterial. Es handelte sich hier, laut der sogenannten methodischen oder positivistischen Schule, um eine »kritische Diskontinuität«. Nach dem Krieg von 1914 und der Weltwirtschaftskrise von 1929 arbeitete man im Rahmen der 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sich entwickelnden Wirtschaftsgeschichte und der demographischen Statistik eine »strukturelle Diskontinuität« heraus: Dem gelebten individuellen oder kollektiven Bewußtsein wurde die unwiderlegbare Wahrheit langfristiger Strukturen und der großen und mittleren Zyklen gegenübergestellt, die das Leben einer Gemeinschaft bis in Liebesbeziehungen, berufliche Karrieren und den Tod hinein bestimmen. Braudels Konzept der unterschiedlichen Zeitebenen (»durées«) hat viel dazu beigetragen, den nur scheinbar homogenen Charakter der historischen Zeit offenzulegen. Im Zuge des gleichen geschichtlichen Erkenntnisprozesses haben der Schock der Entkolonisierung und das einsetzende Wirtschaftswachstum ein Bewußtsein und eine Wissenschaft von unserer zeitlichen und räumlichen Distanz zu uns selbst geschaffen. Das ließe sich als »ethnologische Diskontinuität« bezeichnen. Diese hat die Entwicklung der Mentalitätengeschichte angeregt und das Interesse für Randgruppen, für sogenannte Kolonien im eigenen Land (Arbeiter, Frauen, Juden oder auch Bewohner der ›Provinz‹) geweckt. Ferner hat sie zu einer massiven Historisierung von anscheinend zeitlosen Themen (Körper, Klima, Mythen und Feste) und trivialen Themen (Küche, Körperhygiene, Gerüche) geführt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Medien rief sie außerdem ein ganz neues Interesse für Meinungen, Bilder und Ereignisse hervor.12 Die Diskontinuität, die wir heute erleben, erklärt sich durch die gleiche, unaufhörliche Besinnung der Geschichte auf sich selbst, durch ihr Streben nach noch mehr Abstand. Dabei geht es um das schwierige Unterfangen einer Loslösung von der gesamten historischen Tradition Frankreichs, die zugleich wieder aufgenommen werden soll. Wir befinden uns damit im Zeitalter der »historiographischen Diskontinuität«, welche weniger genau faßbar, aber zugleich radikaler als die oben erwähnten Diskontinuitäten ist. Sie wurzelt in mehreren Phänomenen, die man nicht genau auseinanderhalten kann und die in sich selbst äußerst komplex und weitreichend sind. Ich erwähne hier nur die politischen und nationalen Auswirkungen der Ära nach de Gaulle, die Auszehrung des Revolutionsgedankens und die Folgen der Wirtschaftskrise. Von einer radikaleren Diskontinuität können wir sprechen, weil sich diese drei Phänomene zwischen dem Beginn der »zweiten Französischen Revolution« - die der Soziologe Henri Mendras auf das Jahr 1965 datiert, während ich sie eher 1975 ansetzen würde - und dem herannahenden Ende des zweiten Jahrtausends zu einer Konstellation verbunden haben, die unser Verhältnis zur Vergangenheit und die traditionellen Ausprägungen des Nationalgefühls tiefgreifend verändern. Diese neue Konstellation läßt die Bedeutung des Gedächtnisses wachsen und fördert die Suche nach den Erinnerungsorten, die Rückkehr zum kollektiven Erbe und die Untersuchung seiner zersplitterten Identitäten. Im Zeichen dieses Übergangs von einem nationalen Bewußtsein zu einem 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

anderen, von einer Konzeption der Nation zu einer anderen steht das Projekt der »Lieux de mémoire«. Es ist ein Übergang von einer erd- und staatsverbundenen, von ihrer Bestimmung überzeugten, universalistischen, imperialistischen Nation zu einer Nation, die schmerzvoll den Verlust ihrer Macht, ihre Auflösung in einem größeren Ganzen und ihren Zerfall in kleinere Einheiten (Europa und die Regionen) erlebt; die das Verschwinden der seit 1794 gültigen Gleichsetzung von Revolution und Nation spürt; die einem Zustrom von Menschen ausgesetzt ist, die kaum den Normen der traditionellen französischen Kultur entsprechen. Gleichzeitig ist aber in dieser Nation in Gestalt des gesteigerten Interesses am nationalen Erbe eine intensive, breit angelegte Wiederbelebung des Nationalgefühls zu beobachten. Diesem Augenblick des Übergangs möchte die vielstimmige Studie der »Lieux de mémoire« Rechnung tragen. Die Geschichte, der sie sich verschrieben hat, ist zugleich sehr traditionell und - so wage ich zu behaupten - sehr neu. Sie ist sehr traditionell, weil sie keine spezielle Methodologie erfordert und sich mit Themen befaßt, die jedem vertraut sind. Angesichts der fast literarisch zu nennenden Herangehensweise könnte man sich in die Zeiten des Positivismus und sogar noch weiter zurück versetzt fühlen. Sehr neu ist diese Art von Geschichte insofern, als die Geschichte der Erinnerung eine durch und durch kritisch gewordene Geschichte darstellt. Dies gilt nicht nur gegenüber ihren eigenen Arbeitsinstrumenten; es ist eine ganzheitliche Geschichte, die nun sozusagen ihr epistemologisches Alter, einen neuen Grad von theoretischer und methodischer Reife, erreicht hat. Die im eigentlichen Sinne nationale Geschichte umfaßte letztlich drei charakteristische Typen. Es gab den Typ Michelet, der alle materiellen und geistigen Gegebenheiten zu einer organischen Gesamtheit und lebendigen Einheit verschmolz und Frankreich »als eine Seele und eine Person« darstellte. Es gab den Typ Lavisse, der die gesamte nationale Überlieferung anhand von Archiv- und Quellenmaterial überprüfte. Es gab schließlich den leider unvollendet gebliebenen Typ Braudel, der bemüht war, die Stufen und Etappen des Zeitablaufs getrennt zu untersuchen, die geographische Geschichte im Sinne Vidal de La Blaches zu integrieren, aus den ökonomischen Zyklen Schlüsse zu ziehen und die marxistischen Konzepte in abgemilderter Form zu übernehmen. Mit den »Lieux de mémoire« wird nun der Versuch einer Geschichtsschreibung unternommen, die viele Stimmen umfaßt. Ihr Hauptanliegen besteht - und genau das ist der zentrale Punkt - in der Weigerung, das Symbolische in einen gesonderten Bereich zu verbannen und Frankreich als eine Realität zu definieren, die selbst gänzlich symbolisch wäre. Dies bedeutet aber auch, jede mögliche Definition zu verwerfen, die Frankreich auf ein Repertoire bestimmter Realitäten reduzieren würde. Akzeptiert 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

man diese Sichtweise, dann ist der Weg für eine andere Geschichte frei, die sich weder ausschließlich auf organische noch auf nationale, ökonomische oder soziale Zusammenhänge konzentriert. Dies wäre eine Geschichte, die sich weniger für die determinierenden Faktoren als für ihre Auswirkungen interessiert; weniger für die memorierten und kommemorierten Handlungen als vielmehr für die Spuren dieser Handlungen und für das Gedenken an sie; weniger für die Ereignisse als dafür, wie sie im nachhinein konstruiert werden, wie sie in Vergessenheit geraten und wieder an Bedeutung gewinnen; weniger für die Vergangenheit, so wie sie sich zugetragen hat, als für ihre Wiederverwendung, ihren Mißbrauch, ihren Einfluß auf die aufeinanderfolgenden Gegenwarten; weniger für die Tradition an sich als für die Art und Weise, wie diese sich konstituiert hat und übermittelt wurde. Kurz, es würde sich um eine Geschichte handeln, die weder eine Wiedererweckung, noch eine Rekonstitution, keine Rekonstruktion und keine Repräsentation darstellt, sondern ein »Sich-erinnern«. Diese Geschichte würde sich nicht für die von der Erinnerung gespeicherten Inhalte, sondern für die Erinnerung als Mittel zur Situierung der Vergangenheit in der Gegenwart interessieren. Eine Geschichte Frankreichs also, aber auf einer höheren Ebene. Zu dieser Geschichte möchten die »Lieux de mémoire« beitragen - und dieses Anspruchs bin ich mir deutlich bewußt, denn in der fortgesetzten Reihe der Geschichten Frankreichs möchten sie ebenfalls einen jener Momente verkörpern, in denen die Franzosen einen Blick auf Frankreich werfen.

Anmerkungen 1 P. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984; Bd. 2 (3 Bde.): La Nation, Paris 1986; Bd. 3 (3 Bde.): Les France, Paris 1992. 2 Ders., Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux, in: Ders., Les lieux, Bd. 1, S. XV-XLII (dt. in: Ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990). 3 Erzählung von Maurice Barrès, in der er einen fiktiven Besuch bei Ernest Renan beschreibt. 4 F. Braudel, L'identité de la France, Paris 1986 (dt. Frankreich, Raum und Geschichte, Stuttgart 1989/90). 5 G. Bruno(Pseud.von A. Fouillée), Le Tour de France par deux enfants, Paris 1877 (Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich weit verbreitetes Geschichtsbuch für Kinder, vgl. M. Ozouf, Le Tour de France par deux enfants. Le petit livre rouge de la République, in: Nora, Les lieux, Bd. L S . 291-321). 6 Chronik aus dem 13. Jahrhundert, die die dynastische Überlieferung zusammenfaßte (vgl. B. Guenée, Les Grandes Chroniques de France, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/I, S. 189-214). 7 Vgl. D. Milo, Les noms de rue, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/III, S. 283-315. 8 Vgl. Α. Ben-Arnos, Les funérailles de Victor Hugo, in: Nora, Les lieux, Bd. 1, S. 473-522.

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9 Ρ. Vidal de La Blache, Tableau de la géographie de la France, in: E. Lavisse, Histore de France, depuis les origines jusqu'á la Revolution, Bd. 1, Paris 1903. 10 Vgl. G. de Puymège, Le soldat Chauvin, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/III, S. 45-80 11 Mit Quellenpublikationen zur französischen Geschichte beauftragter Ausschuß in 19. Jahrhundert. 12 Ein Inventar all dieser Themen haben Jacques Le Goff und ich vor zwanzig Jahren zu erstellen versucht: J. Le Goff u. P. Nora (Hg.), Faire de l'histoire, 3 Bde., Paris 1974.

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ΕΤΙΕΝΝΕ

FRANÇOIS

Von der wiedererlangten Nation zur »Nation wider Willen«* Kann man eine Geschichte der deutschen »Erinnerungsorte« schreiben?

Pierre Nora, der Architekt der siebenbändigen Geschichte der »Lieux de mémoire«, hatte sein Projekt ursprünglich als eine »Typologie der französischen Symbolik«, als Inventar wirklicher und geistiger/imaginärer »Orte kollektiver Erinnerung« konzipiert. Inzwischen hat es indes, wie Nora selbst betont, ganz andere Dimensionen angenommen.1 Ausgehend von der These, daß Frankreich eine ganz und gar symbolische Realität sei, hat er sich zum Ziel gesetzt, die Nationalgeschichte einmal anders zu schreiben und schließlich eine »französische Geschichte zweiten Grades« zu präsentieren, die besser als die klassische in der Lage wäre, auf die »radikalen Veränderungen der traditionellen Ausdrucksformen des Nationalgefühls und der Beziehung der Franzosen zur eigenen Geschichte« zu reagieren. Ist dieses neue, beispielhaft am Fall Frankreichs erprobte Paradigma einer »Symbol-Geschichte« nun an den französischen ›Sonderweg‹ gebunden, oder läßt es sich auch auf andere Länder - allen voran Deutschland anwenden? Pierre Nora hat auf diese, in seinem Projekt der »Lieux de mémoire« bereits angelegte Frage keine klare Antwort. Er erklärt zwar, daß sein Ansatz, »der besonders gut auf das französische Beispiel paßt, eventuell auch in anderen nationalen Kontexten anwendbar ist«, aber wenn er etwas später die Gründe dafür anfuhrt, daß dieser neue Ansatz in Frankreich entstanden ist, stellt man fest, daß die internen, spezifisch französischen Gründe (der Kontext der »post-de Gaulle«-Ära, »die Erschöpfung der revolutionären Idee«, die Nachwirkungen der »zweiten Französischen Revolution«) gegenüber allgemeineren Ursachen deutlich überwiegen. Handelt es sich beim Konzept der »Lieux de mémoire« (nur unzureichend übersetzbar mit »Gedächtnisorte« oder »Erinnerungsstätten«)2 also * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate unter Mitarbeit von Elke Fein und Julia Frank.

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um eine französische Besonderheit, oder ist es allgemeiner handhabbar? Beschränkt sich seine Aussagekraft auf Frankreich, oder könnte man den methodischen Ansatz beispielsweise auch auf Deutschland anwenden? Um dies zu beantworten, müssen drei Fragen untersucht werden: Kann man erstens in Deutschland eine ähnliche »Propagierung des Gedenkens« und die Suche nach dafür geeigneten, repräsentativen Orten, eine Rückbesinnung auf das kollektive Erbe und eine Fokussierung gerade auf die Bruchstellen der nationalen Identität beobachten wie in Frankreich? Hat zweitens das Verhältnis zur Vergangenheit in Deutschland ähnliche Veränderungen wie in Frankreich erfahren? Und sind seine Ausdrucksformen und Begrifflichkeiten derart faßbar, daß man sie (mit Rücksicht auf die unvermeidbaren nationalen Nuancen) ebenfalls an bestimmten »Gedächtnis-« oder »Erinnerungsorten« historisch festmachen könnte? Wenn dies der Fall ist, wie und unter welchen Voraussetzungen müßte drittens eine solche Geschichte geschrieben werden? I. Von den drei Fragen ist die Antwort auf die erste die einfachste. Ganz ähnlich wie Frankreich scheint auch Deutschland in eine Ära der Gedenkfeiern eingetreten zu sein, die etwa zum gleichen Zeitpunkt wie in Frankreich (vor etwa fünfzehn Jahren) eingesetzt hat. Daraufweisen fünf Punkte hin: die Welle der Ausstellungen, die Serie der Gedenkfeiern, die wachsende Zahl historischer Museen, der Wettstreit der Verlage auf dem Markt für Nationalgeschichten und schließlich die jüngste Entwicklung in der Forschung, die sich direkt oder indirekt von der Fragestellung der »Orte der Erinnerung« französischen Stils leiten läßt. Seinen Anfang nahm alles 1977 mit dem Erfolg der in Stuttgart ausgerichteten Stauferausstellung. Ursprünglich für ein begrenztes Publikum von Spezialisten und interessierten Laien gedacht, zog die Ausstellung eine wahre Flut von Besuchern an, die sich zuweilen von den Organisatoren nur mit Mühe durch die Räume schleusen ließen. Dieser Erfolg war nicht nur vollkommen unerwartet, sondern er wurde auch als Offenbarung eines gesellschaftlichen Wandels gewertet. Seitdem findet zwischen den verschiedenen Bundesländern ein regelrechter Wettstreit der historischen Ausstellungen statt, in dem vor allem die Münchener Ausstellung über die Witteisbacher aus dem Jahr 1980 sowie die Berliner Ausstellung von 1981 über »Preußen - Versuch einer Bilanz« hervorzuheben sind.3 Diese plötzlich aufgeflackerte Begeisterung für große historische oder kulturhistorische Ausstellungen ist seitdem nicht mehr abgeflaut. Dies beweisen einige jüngere Beispiele aus Berlin. Die 1990 gezeigte Ausstellung »Bismarck 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Preußen, Deutschland und Europa«, eine kritische Bestandsaufnahme der Begegnung eines Mannes mit seiner Zeit, konnte beispielsweise nicht weniger als 164 000 Besucher verzeichnen. Erfolge waren auch die »Jüdischen Lebenswelten« Anfang 1992 und »Entartete Kunst«, die Übernahme einer vom Los Angeles County Museum of Art organisierten Ausstellung zur Erinnerung an die 1937 in München von den Nazis veranstaltete gleichnamige Ausstellung und an das Schicksal der künstlerischen Avantgarde im nationalsozialistischen Deutschland; schließlich auch die Ausstellung »Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges« im Sommer 1994. Die Welle von Gedenkveranstaltungen zeigte sich zum ersten Mal 1983 anläßlich des 500. Jahrestages der Geburt von Martin Luther. Dieser wurde in beiden deutschen Staaten mit einem Aufwand begangen, der in krassem Gegensatz zum rein akademischen Zeremoniell und dem schwachen Echo des 400. Todestages des Reformators im Jahr 1946 oder des 450. Jahrestages der Reformation (des Thesenanschlags) im Jahr 1967 stand. Eine (unvollständige) Aufstellung fuhrt nicht weniger als dreißig Tagungen und zwanzig Ausstellungen allein in der Bundesrepublik auf. In Ostdeutschland wurden die Veranstaltungen zu Ehren Luthers von Erich Honecker persönlich in die Hand genommen und stellten am Ende sogar die Gedenkfeiern anläßlich des 100. Todestages von Karl Marx völlig in den Schatten. Andere markante Anlässe des Gedenkens waren der 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1985, der zum Gegenstand intensiver Debatten und lebhafter Polemiken vor allem in der westdeutschen Öffentlichkeit wurde (etwa um die umstrittene Zeremonie auf dem Militärfriedhof von Bitburg in Anwesenheit von Präsident Reagan und Kanzler Kohl oder die bedeutende Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag am 8. Mai 1985), die 750-Jahrfeier der Gründung Berlins im Jahre 1987 mit einem Streit der beiden deutschen Staaten um dasselbe Erbe und einem Übermaß an Gedenkfeiern, die sogar noch die Dimensionen des »Lutherjahres« sprengten.4 Zu erwähnen wären ferner die Überführung der sterblichen Überreste Friedrichs IL von der Burg der Hohenzollern nach Schloß Sanssouci in Potsdam,5 die Publikationen, die öffentlichen Debatten und Reportagen, die sich im Winter 1992/93 am 50. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad entzündeten, die Eröffnung der »Zentralen Gedenkstätte« der Bundesrepublik Deutschland »für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« in der Neuen Wache am 14. November 1993 oder schließlich - um nur die Ereignisse der ersten Hälfte des Jahres 1994 zu nennen - die Debatten, Gedenkfeiern und Stellungnahmen anläßlich des 50. Jahrestages der alliierten Landung in der Normandie, des Attentates vom 20. Juli und des Warschauer Aufstandes vom August 1944. 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die zahlreichen Neugründungen historischer Museen gehen auf die frühen achtziger Jahre zurück. Die wichtigste Initiative in diesem Bereich war die 1982 getroffene Entscheidung der Bundesregierung, in WestBerlin ein großes »Deutsches Historisches Museum« zu schaffen. Dieses war als Gegenstück zu dem Ost-Berliner »Museum für Deutsche Geschichte« gedacht und sollte durch ein »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« in Bonn vervollständigt werden. Nach langen und leidenschaftlichen Debatten und wiederholten Wendungen aufgrund der politischen Veränderungen vor allem infolge der deutschen Wiedervereinigung fand es 1990 seinen Platz - welch ein Winkelzug der Geschichte! - im Berliner Zeughaus, dem ehemaligen Arsenal der Könige von Preußen, das seit dem 19. Jahrhundert das preußische Militärmuseum und dann das Museum für Deutsche Geschichte der DDR beherbergt hatte. Seit 1991 hat sich das neue deutsche Geschichtsmuseum mit einer Reihe von Wechselausstellungen zu den unterschiedlichsten Themen als ein maßgeblicher Ort und eine der fruchtbarsten Institutionen für die Vermittlung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart etabliert.6 Auch das »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« in Bonn ist inzwischen fertiggestellt. In unmittelbarer Nähe des Kanzleramtes erbaut, hat es im Juni 1994 seine Tore geöffnet und bereitet die Einrichtung eines Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationszentrums zur Deutschen Einheit in Leipzig vor. Zusätzlich zu diesen beiden großen Gründungen von bundesweiter Bedeutung ist es auch geboten, auf die zahlreichen Museumsgründungen auf lokaler Ebene hinzuweisen. Hier seien nur vier erwähnt, die allesamt in Berlin angesiedelt sind: die »Topographie des Terrors«, 1987 anläßlich der 750-Jahrfeier auf dem Gelände der ehemaligen Zentrale von SS, Gestapo und SD eröffnet; die »Gedenkstätte Deutscher Widerstand« im Bendler-Block (1989); die »Gedenkstätte der Endlösung« (Januar 1992) in der Villa Minoux, in der im Januar 1942 die »Wannseekonferenz« stattfand; schließlich das seit 1992 im Bau befindliche Museum, das die Sammlungen der jüdischen Abteilung des BerlinMuseums beherbergen soll. Die Welle der Veröffentlichungen zur Geschichte Deutschlands setzte ebenfalls Anfang der achtziger Jahre ein. Nicht, daß es vorher nichts Derartiges gegeben hätte. Doch im Gegensatz zu den bis dahin veröffentlichten Sammelwerken, die eher den Charakter von Handbüchern für eine wissenschaftliche Leserschaft hatten - wie etwa die »Deutsche Geschichte«, die zwischen 1973 und 1984 in Göttingen beim Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschien -, nahmen ab 1982-84 drei große Verlage fast gleichzeitig ehrgeizige Reihen in Angriff (von denen noch keine abgeschlossen ist). Ihre Beiträge werden von anerkannten Spezialisten verfaßt, richten sich aber auch an ein breites Publikum. Entsprechend legen diese 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Werke besonderen Wert auf sprachliche Sorgfalt und reiche, häufig farbige Bebilderung. Die Initiative ging vom Berliner Verleger Siedler aus, der 1982 eine Geschichte Deutschlands in zwölf Bänden in Auftrag gab. 7 Ihm folgten der Propyläen-Verlag mit seiner deutschen Geschichte in neun Bänden 8 und schließlich der Münchner Verlag C.H. Beck, der 1984 eine auf zehn Bände angelegte Geschichte Deutschlands auf den Weg brachte. 9 Aus heutiger Sicht erscheint diese Rückbesinnung auf die Nation und ihre Geschichte in gewisser Weise wie eine Vorahnung der bevorstehenden Vereinigung. Sie ist um so bezeichnender, als sie einerseits mit einer Fülle von Tagungen über die »deutsche Identität« zusammenfällt und andererseits sich gerade in dieser Zeit die Dauerhaftigkeit der deutschen Teilung und die Existenz zweier deutscher Staaten fester denn je im Bewußtsein der Deutschen verankert hatte. Christian Meier bemerkte dies in einem scharfsinnigen Artikel vom April 1990: »Seit den späten siebziger Jahren setzte ungefähr gleichzeitig in beiden deutschen Teilstaaten eine stärkere Besinnung auf die deutsche Geschichte als eigene Geschichte ein. Nachträglich nimmt sich das wie eine Vorbereitung auf die neue Einheit aus, obwohl es - soviel ich weiß - von keiner der beiden Seiten so gedacht war.« 10 Als letztes Indiz ist schließlich die Entwicklung der historischen Forschungen und Publikationen zu nennen, die sich direkt oder indirekt auf die Fragestellung der »Lieux de mémoire« beziehen. Nach den Pionierarbeiten von Thomas Nipperdey über »Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert« (1968) und den »Kölner Dom als Nationaldenkmal« (1981) 1 1 sind vor allem - mit indirektem Bezug auf die Konzeption - die noch nicht abgeschlossenen Arbeiten Reinhart Kosellecks über den »politischen Totenkult«, die anregende vergleichende Studie von Michael Jeismann über die Feindbilder im deutschen und französischen Bewußtsein im 19. Jahrhundert, die Untersuchung von Volker Ackermann über die Staatsbegräbnisse von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauß zu nennen. 12 Direkt auf den französischen Ansatz »Lieux de memoire« beziehen sich (unter Verwendung des Begriffes »Gedächtnisorte«, der immer noch den Charakter eines direkt aus dem Französischen übersetzten Neologismus hat) 13 beispielsweise die Dissertation von Charlotte Tacke über den Arminius- und den Vercingetorix-Kult, 14 die kleine Textsammlung über deutsche Erinnerungsorte von Klaus Wagenbach, ein literarischer Spaziergang vom Rhein zum Bunker des Reichskanzlers und vom deutschen Wald zu Parsifal,15 oder schließlich Aleida Assmanns ebenso brillanter wie grundlegender Essay über die Geschichte des Begriffes »Bildung« als »Gedächtnisort« der erste gelungene Versuch, den von Pierre Nora definierten Ansatz einer Geschichte »zweiten Grades« auf einen für die deutsche Geschichte und Identität maßgeblichen »symbolischen Ort« anzuwenden. 16 Diese summarische Aufzählung bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch die enorm

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breite Literatur zum »deutschen Erinnerungsort« schlechthin einbezöge, nämlich die Erinnerung an die Nazizeit und die Rolle, die der Bezug auf die Jahre 1933-1945 in der deutschen politischen Kultur der Gegenwart einnimmt.17 II. In vielerlei Hinsicht mit der französischen Entwicklung der letzten zwanzig Jahre vergleichbar, unterscheidet sich die Situation in Deutschland jedoch in zwei wesentlichen Punkten: dem Verhältnis zur Zeit einerseits und dem Verhältnis zur Nation andererseits. In Frankreich umfaßt das Verhältnis zur Vergangenheit die Geschichte vieler Jahrhunderte, wenn nicht bis zu den Galliern, so doch zumindest bis ins Mittelalter (die außerordentlich weit zurückliegende Figur von Jeanne d'Arc oder die Tausendjahrfeiern zum Gedenken an die Kapetinger im Jahr 1987, die als Tausendjahrfeier Frankreichs aufgefaßt wurden, sind gute Beispiele dafür), und zwar in einer oft selbstzufriedenen, wenn nicht gar selbstverherrlichenden Perspektive. In Deutschland hingegen konzentriert sich der Blick auf eine kurze Spanne der Vergangenheit - die zwölf Jahre des Nationalsozialismus - und die Frage, was ihn möglich gemacht hat. Dabei ist der Blickwinkel fundamental kritisch bzw. selbstkritisch. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem Bewußtsein der unabänderlichen Singularität des Nazismus, stellt hier die Geschichte selbst das Problem dar. Sind nicht Auschwitz und seine Rampe der wichtigste Erinnerungsort der Deutschen von heute, wie Jürgen Habermas zu Recht bemerkt hat? Der lange nur von einer Minderheit gehegte Wunsch, die »Vergangenheit, die nicht vergehen will« ans Licht zu ziehen, sowohl um sie anzunehmen, als auch um sie zu bewältigen, ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren stetig stärker geworden, als habe der wachsende zeitliche Abstand zu den Jahren 1933-45 nicht nur in keiner Weise zu einer Relativierung der Dinge geführt, sondern im Gegenteil dazu beigetragen, das Bewußtsein für ihre dämonische Einzigartigkeit zu schärfen.18 Getragen von einem unermüdlichen politischen und ethischen Anspruch, begünstigt durch den Generationenwechsel und die Internalisierung demokratischer und liberaler Werte durch die deutsche Gesellschaft, bleibt dieser Wille zur kritischen Selbstbespiegelung problematisch, da er wie jede Gewissenserforschung Konflikte mit dem eigenen Selbst mit sich bringt. Die Vervielfachung der »Orte des Gedenkens« der Tyrannei und des Genozids, die Emotionen, die sich an der Zeremonie auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg entzündeten, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und Täter und Opfer auf dieselbe Ebene zu stellen schien, das enorme Echo, das die Rede Weizsäckers vor dem 98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Bundestag vom 8. Mai 1985 hervorriet, die leidenschaftliche Intensität, mit der in den Jahren 1985/86 der Historikerstreit ausgefochten wurde (bei dem es, man kann es nicht genug betonen, weniger um wissenschaftliche als um politisch-ethische Fragen ging), die Empörung, die die ungeschickte Rede von Bundestagspräsident Jenninger anläßlich des 50. Jahrestages der »Reichskristallnacht« hervorrief und die zu dessen Rücktritt führte - dies alles sind deutliche Anzeichen dafür. Anders als zu erwarten war, haben der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung diese Problemlage nicht grundlegend verändert. Zwar stellt heute die Geschichte des Nationalsozialismus nicht mehr den einzigen Problempunkt dar. Die »zweite deutsche Diktatur« wirft ähnliche Schwierigkeiten auf, da auch ihre Geschichte zugleich als Negativfolie, als zu erhellendes Rätsel, als Herausforderung und zu tragende Vergangenheit wahrgenommen wird. Obwohl es stimmt, daß sich die Aufmerksamkeit verlagert hat, so bleibt doch die vorherrschende Einstellung dieselbe: Die wichtigste Forderung bleibt die nach Kritik und Selbstkritik. Die Geschichte der DDR und die dazu erforderliche Haltung werden daher auch anhand der Geschichte der Nazizeit und der Einstellung, die man zu ihr hatte, betrachtet. Dies fuhrt zur paradoxen Situation, daß die Vergangenheitsbewältigung durch die Verlagerung ihres Objekts neue Aktualität erhalten hat. So werden zum Beispiel die Versäumnisse nach 1945 als Argument zum Umgang mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern und mit den Stasi-Akten angeführt. Nur fünf Jahre nach dem Fall der Mauer bleibt überdies die wichtigste Assoziation zum 9. November die »Reichskristallnacht« von 1938 - als ob die Ausrufung der Republik am 9. November 1918, die Niederschlagung des Hitler-Putsches am 9. November 1923 oder selbst die Maueröffnung am 9. November 1989 dahinter verblassen würden. Die größte der zahlreichen »Lichterketten«, die im Winter 1992/93 aus Protest gegen Rassismus und Fremdenhaß veranstaltet wurden, fand entsprechend auch ausgerechnet in der Nacht des 30. Januar in Berlin statt - in umgekehrter Symmetrie und mit sechzig Jahren Abstand zum Fackelzug, der am 30. Januar 1933 Hitlers Machtübernahme feierte. Als viertes Beispiel sind schließlich die lebhaften Debatten zu nennen, die um die Neugestaltung der »Neuen Wache« zur »zentralen Gedenkstätte« des vereinigten Deutschland geführt wurden. Die Proteste, die hierbei die allzu vereinfachende Inschrift (»den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft«) hervorrief, waren derart laut, daß sich die Regierung gezwungen sah, im Innern der Gedenkstätte zwei Tafeln anzubringen, die ausdrücklich an die Opfer der nationalsozialistischen Barbarei erinnern.

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III. Der zweite Gegensatz zu Frankreich betrifft die Beziehung zur Nation. Während in Frankreich das allgemeine Geschichtsbild auf der Idee beruht, daß das Nationale etwas Selbstverständliches ist, bereitet im Gegensatz dazu in Deutschland gerade das Nationale erhebliche Probleme. Entsprechend muß das Gedenken als ein Versuch angesehen werden, damit ins reine zu kommen und auch das Rätselhafte der deutschen Identität zu entdämonisieren. In dem Gedenkfieber, das sich Anfang der achtziger Jahre Westdeutschlands bemächtigt hat, spielte die Rivalität mit der DDR eine wesentliche Rolle - ob es sich dabei um Luther oder Friedrich II., Bismarck oder die Verschwörung des 20. Juli handelte. Diese Dimension der »Herausforderung der Erinnerung« tritt am deutlichsten in den Motiven zutage, die beim Projekt des »Deutschen Historischen Museums« in (West-)Berlin Pate standen. Denn dieses Projekt war einerseits die Antwort auf die systematischen Versuche der DDR, das historische Erbe Deutschlands zu usurpieren, um dieses für die Konstruktion eines ostdeutschen »Nationalgefühls« zu instrumentalisieren. Andererseits war es das riskante Unternehmen eines Museums neuen Stils, das eine demokratische, pluralistische und kritische Präsentation der deutschen Geschichte in ihren wechselhaften und europäischen Dimensionen bieten und gleichzeitig Ausdruck der Suche nach einer das gemeinsame historische Erbe der Deutschen wahrenden Identität sein sollte, um die Modalitäten für einen post-nationalen Dialog, oder, um Willy Brandt zu zitieren, um ein »Miteinander trotz und in der Trennung« zu schaffen. Spätestens seit dem 3. Oktober 1990 hat sich all dies verändert: Die Nation ist fortan eine feste Größe mit einer nahezu perfekten Entsprechung von Staat und Nation, politischer und Kulturnation - eine Tatsache, die in der Geschichte Deutschlands vielleicht einmalig ist. Diese Nation existiert zwar bereits als ein äußerer Rahmen, sie muß aber zugleich noch weitgehend mit Leben erfüllt werden, insbesondere in den Köpfen und den Vorstellungen. Damit stellt die Nation auch unter den veränderten Bedingungen weiterhin ein Problem dar, das die Deutschen mehr trennt als eint und das Gedenken vor eine neue Herausforderung stellt: Wie lassen sich die Erinnerungen in Einklang bringen, die vierzig Jahre lang völlig getrennt waren? Was soll man im vereinten Deutschland mit dem von der DDR übernommenen Erbe anfangen? Wie mit den unzähligen Denkmälern des Antifaschismus und all den Denkmälern umgehen, die den Heldenmut der KPD und Ernst Thälmanns preisen? Wie in Buchenwald oder Oranienburg/Sachsenhausen der vielen Tausend Opfer des NKWD gedenken, die hier zwischen 1945 und 1949 in Haft gestorben und anonym in Massengräbern beerdigt sind, ohne dabei die Schrecken der Naziverbre100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

chen zu relativieren? Was soll man, mitten im Zentrum von Berlin, mit einem »Palast der Republik« anfangen, der 1976 eingeweiht wurde und seit dem Fall des DDR-Regimes wegen, wie es heißt, Asbestverseuchung geschlossen ist? Soll man ihn sanieren und ihm so eine neue Bedeutung geben oder ihn abreißen und an seiner Stelle das alte Stadtschloß der Preußenkönige wiedererrichten, dessen Überreste Ulbricht 1950 sprengen ließ? Soll man in Potsdam die Garnisonskirche wiederaufbauen, in der Friedrich II. beigesetzt war, in der am 21. März 1933 der alte General Hindenburg das Erbe Preußens dem neuen Kanzler Adolf Hitler übergab und die 1968 vom kommunistischen Regime gesprengt wurde? Wer befaßt sich mit den 600 sowjetischen Soldatenfriedhöfen und -denkmälern, die über die frühere DDR verstreut sind - von schmalen Stelen mit rotem Stern, wie man sie auf fast allen Dorfplätzen findet, bis hin zur gigantischen Gedenkstätte von Treptow, die das Opfer tausender Soldaten ehrt, die in der Schlacht von Berlin gefallen sind, und in goldenen Lettern das Genie Stalins rühmt, der das sowjetische Volk zum Sieg geführt hat? Alle diese Gedenkentscheidungen sind ebenso Zukunftsentscheidungen, und der Mangel an Selbstverständlichkeit dabei zeigt gut, welche Schwierigkeiten das vereinigte Deutschland dabei hat, sich als Nation anzunehmen und als solche anzuerkennen.19 »Gibt es eine Besonderheit der Rolle, die die Vergangenheit im heutigen Frankreich spielt? Haben nicht die Konflikte und Spaltungen der Geschichte in Frankreich eine Ablagerung von Anschwemmungen und Rückstände hinterlassen, die in anderen Ländern nicht ihresgleichen hat?« fragte der britische Historiker Stefan Collini in einem Artikel der Tageszeitung »Le Monde« anläßlich des Erscheinens der letzten Bände der »Lieux de memoire«. Die leidenschaftliche und konfliktgeladene Intensität, mit der die Deutschen von heute ihre Beziehung zur Vergangenheit erleben, läßt daran zumindest Zweifel aufkommen. In mancher Hinsicht ist man eher versucht zu fragen, ob diese Aussage umgekehrt nicht eher zutrifft und ob wir nicht zu dem zurückgekehrt sind, was Cournot Anfang des 19. Jahrhunderts beobachtete und Marc Bloch noch 1941 feststellte: »Die Franzosen in ihrer Mehrheit erleben ihre kollektiven Erinnerungen wesentlich weniger intensiv als die Deutschen.«20 Aber die Unterschiede sind noch größer. Im Gegensatz nämlich zu Frankreich, wo die Debatte noch völlig von der Dreiheit »Erinnerung, Identität, Frbe« bestimmt wird, verwendet die deutsche Debatte den Begriff der »Erinnerung« viel häufiger als den des »Gedächtnisses«, pflegt im übrigen einen recht maßlosen Gebrauch der »Identität« und ignoriert nahezu das Element des Erbes. 1984 stellte Thomas Nipperdey diese Tatsache mit Bedauern fest: »Der geschichtlich-kulturelle, politisch-soziale Begriff des Erbes, gar des nationalen Erbes spielt in unserer Sprache keine 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Rolle. Das gibt es in anderen Ländern, in der DDR, in den USA, im jüdischen Volk, in der Dritten Welt. Bei uns ist das kein Begriff.«21 Dieser überraschende Mangel liegt sicher zum Teil in der Tatsache begründet, daß der Begriff des Erbes, der in der Terminologie der Nazis einen zentralen Platz hatte, von der Mitte der sechziger Jahre an als Schlüsselbegriff der DDR und ihrer Historiker verwandt wurde, um sich die deutsche Geschichte wiederanzueignen.22 Tiefergehend jedoch ist es wahrscheinlich der Ausdruck des Umstandes, daß - um mit den Worten des Münchener Historikers Christian Meier zu sprechen - »die Deutschen in bezug auf ihre jüngste Geschichte die Möglichkeit verloren haben, zu ihrer eigenen Vergangenheit dieses einfache und natürliche Verhältnis zu haben, wie es die anderen Nationen haben«.23 Denn seine Geschichte als Erbe anzuerkennen heißt, um noch einmal Thomas Nipperdey zu zitieren, daß man weder »die Schuld ohne ihre Größe noch die Größe ohne die Schuld« annehmen kann.24 Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hat ihre Rede bei der Gedenkfeier am 9. November 1993 mit diesen Worten beschlossen: »Wir würden heute versagen, wenn wir uns der Verantwortung für die Vergangenheit nicht stellten. Die Geschichte entläßt niemanden. Wir alle sind in sie eingebunden, übernehmen sie als Erbe und Auftrag.« Dieser Anspruch ist hochgesteckt und gereicht der politischen Kultur des heutigen Deutschland zur Ehre, doch ist er alles andere als selbstverständlich für ein Land, das Hitler und Auschwitz in seinem Erbe trägt und, ungeachtet der wiedererlangten Einheit, weiterhin »eine Nation wider Willen« (Ch. Meier) bleibt. IV. Muß man nun daraus folgern, daß die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland in ihrer Beziehung zur nationalen Vergangenheit so eklatant sind, daß es unmöglich würde, eine, um den Ausdruck von Pierre Nora vom Anfang dieses Artikels wiederaufzunehmen, »deutsche Geschichte zweiten Grades« mit Betonung des Symbolischen zu schreiben? Entgegen dem Anschein und ohne im geringsten die Schwierigkeiten in Abrede zu stellen, auf die ein solches Unternehmen stieße, ist zur Stunde die entgegengesetzte Schlußfolgerung wahrscheinlicher. In der Tat, so scheint es mir sogar, waren die Bedingungen für das Gelingen eines solchen Projektes nie günstiger. Jenseits der latenten Erwartung der Öffentlichkeit und des wachsenden Interesses, das die Historiker diesen Fragen entgegenbringen, scheinen mir fünf Gründe für diesen möglicherweise überraschenden Optimismus zu sprechen. Der erste Grund rührt von der schon erwähnten Tatsache her, daß Deutschland in seiner Selbstdefinition und Selbstwahrnehmung wie 102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

auch in der Wahrnehmung des Auslands wieder zur Nation geworden ist. Zu erwarten ist, daß sich Deutschland unter den jetzigen Bedingungen mittelfristig selbst als normale Nation akzeptieren wird und daß es auch von anderen als solche akzeptiert werden wird. Die nunmehr hergestellte Identität von Staat und Nation sowie die nicht mehr vorhandenen Grenzprobleme, die Solidität der liberalen, demokratischen und westlichen Verankerung Deutschlands und schließlich die Tatsache, daß die Mehrheit der Deutschen heute einer Definition der Nation anhängt, die der von Renan weit näher ist als der der »Sonderwegs«- und »Volks«-Ideologen, können als Indizien für diese These betrachtet werden.25 Ein zweiter Grund ist die Tatsache, daß die Debatte um die deutsche Vergangenheit weiterhin im Klima einer »kritisch-offenen Auseinandersetzung« stattfindet und so ein deutliches Gegengewicht zu den Gewaltausbrüchen, dem Sektierertum und Verdrängen darstellt, wie es sich in den Attentaten auf die Gedenkstätten von Buchenwald und Oranienburg, der erneuten Diskussion um den Beitrag des kommunistischen Widerstandes gegen die Naziherrschaft oder der anhaltenden Weigerung eines großen Teils der ehemals westdeutschen Öffentlichkeit zeigt, das Gedenken der DDR in die nationale Erinnerung mit einzubeziehen. Hier ist zum Beispiel die sehr weitgehende Öffnung der Archive der ehemaligen DDR zu nennen, wie auch die trotz des Zusammenbruchs des Ostblocks und der »zweiten deutschen Diktatur« ausgebliebene Relativierung der Naziherrschaft und ihrer Verbrechen, die bemerkenswerte historische und politische Aufklärungsarbeit, die von den mit der Neudefinition der Gedenkstätten von Buchenwald, Oranienburg und Ravensbrück betrauten Kommissionen geleistet worden ist und schließlich die wissenschaftliche und ethische Qualität zahlreicher Untersuchungen zur Geschichte der DDR - wobei insbesondere die Arbeiten des in Potsdam von Jürgen Kocka angeregten »Forschungsschwerpunkts Zeithistorische Studien« hervorzuheben sind. Der dritte Grund ist die schnelle Normalisierung der Beziehungen zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und seinen Nachbarn, insbesondere zu Polen. Diese neue Sachlage ermöglicht es nun einerseits, endlich auch die »östlichen Dimensionen« der deutschen Geschichte wieder zu berücksichtigen, die von der westdeutschen historischen Forschung aus naheliegenden Gründen zunehmend vernachlässigt worden sind. Andererseits können auf diese Weise deutsche Historiker - zusammen mit ihren Kollegen aus den Nachbarländern - eine gemeinsame Erforschung ihrer ebenso alten wie tragischen und miteinander verwobenen und daher sensiblen Geschichte auf der Basis einer gleichberechtigten Partnerschaft und in einem Klima relativer Gelassenheit ins Auge fassen; unbelastet von politischen Einmischungen, territorialen Ansprüchen und kulturellen und ethnischen Auseinandersetzungen.26 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Einen vierten Grund liefern die Wachsamkeit der Öffentlichkeit und der deutschen Medien sowie die lebhaften Debatten, die immer dann sofort aufbrechen, wenn sich ein Bezug zwischen der problematischen Vergangenheit und aktuellen politischen und moralischen Streitfragen herstellen läßt. Diese Sensibilität und die historisch-politische Streitkultur im heutigen Deutschland sind in der Tat das beste Mittel gegen die stets präsente Gefahr der Geschichtsklitterung, der autoritären Restauration eines vereinheitlichten Geschichtsbildes oder der ideologisch-politischen Instrumentalisierung einer mythisierten Vergangenheit. Der letzte Grundfindetsich schließlich in der Liberalität der zuständigen politischen Autoritäten, ihrer relativen Zurückhaltung hinsichtlich einer »Geschichts- und Erinnerungspolitik« (der Vergleich zum französischen Fall ist in diesem Punkt besonders aufschlußreich) und der zumeist hohen Qualität ihrer öffentlichen Auftritte - angefangen von der Rolle der Präsidenten Theodor Heuss oder Gustav Heinemann über die staatsbürgerliche Autorität Richard von Weizsäckers bis zur Rede von Präsident Roman Herzog zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes. Welche Form könnte ein solches Forschungsprojekt über die deutschen Erinnerungsorte annehmen? Es ist noch zu früh, um auf diese Frage eine auch nur einigermaßen präzise Antwort zu geben. Die Umrisse eines Entwurfes werden sich erst auf der Basis vielfältiger Überlegungen, Auseinandersetzungen und gemeinschaftlichen Experimentierens skizzieren lassen. Wenn man jedoch die Lehren aus dem französischen Fall sowie die Besonderheiten der deutschen Geschichte berücksichtigt, spricht vieles dafür, daß ein solches Projekt den folgenden Punkten gerecht werden sollte: Zunächst müßte damit begonnen werden, die Orte, die Denkmäler, die Symbole und die Mythen zu untersuchen, um die sich Deutschland als Nation konstituiert hat: vom Hambacher Fest über die Bismarcktürme und das Deutschlandlied bis zu den »Bildern der deutschen Vergangenheit« von Gustav Freytag. Dabei wäre der Akzent naturgemäß in erster Linie auf die große Zeit des nationalen Erfindungs- und Gründungsgeistes - das 19. Jahrhundert - zu legen.27 Zweitens müßte eine offene und voraussetzungslose Definition der deutschen Nation zugrundegelegt werden, die den kulturellen, affektiven und alltäglichen Aspekten der deutschen Realität mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit widmet wie den kulturellen, politischen und institutionellen und die den vorangehenden Jahrhunderten bei der Entstehung der modernen Definition von Nation breiten Raum einräumt. Die in Arbeit befindliche Untersuchung von Michael Werner über die Prägung, die Tacitus' »Germania« dem nationalen Gedächtnis der Deutschen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gegeben hat, bildet in dieser Hinsicht ein Modell dessen, was zu untersuchen wäre.28 Drittens wären die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit, die Widersprüche und 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Brüche besonders hervorzuheben, auf denen die Dynamik und die Besonderheit des deutschen Falls wesentlich beruhen - in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht (Herausbildung, Entwicklung und wechselseitige Beziehungen zwischen den regionalen und territorialen, religiösen und konfessionellen, politischen und sozialen Identitäten). Viertens müßte den Kontakten zwischen Deutschland und seinen Nachbarn besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, und zwar insbesondere der Dynamik der wechselseitigen Beeinflussung und gegenseitigen Abgrenzung, aus denen sich die deutsche Identität, oder vielmehr die deutschen Identitäten herausgebildet und erneuert haben (was vor allem - und sei es nur wegen der häufigen historischen Veränderungen des deutschen Raumes - bedeutet, daß den »Grenz- und Randgebieten« von Straßburg bis Marienburg viel Platz einzuräumen wäre). Schließlich müßte - als logische Konsequenz des bisher Gesagten sowie der »Mittellage« Deutschlands - ein solches Projekt in einer eindeutig vergleichenden und europäischen Perspektive konzipiert werden. Denn: »Es gibt keine Geschichte Frankreichs«, sagte Marc Bloch, »es gibt nur eine Geschichte Europas.« Und gilt diese Behauptung, die noch nie so aktuell war wie heute, nicht in noch weit höherem Maße für die Geschichte Deutschlands?29

Anmerkungen 1 Vgl. den Artikel von P. Nora in diesem Band. 2 Siehe Anm. 52 der Einleitung der Herausgeber dieses Bandes. 3 Unter den anderen Ausstellungen, die in Berlin zu diesem Thema organisiert wurden, ist insbesondere diejenige über das »musée sentimental« Preußens hervorzuheben. Die Konzeption von Marie-Louise Plessen und Daniel Spoerri beruht auf ganz ähnlichen Überlegungen, die auch in Frankreich das Unternehmen der »Lieux de mémoire« prägten. 4 Für mehr Details vgl. die Sondernummer »Berlin 750« der Zeitschrift Documents 3, 1987, hg. v. F. Hartweg. Im gleichen Zusammenhang könnte man auch daran erinnern, mit welchem Aufwand die Gründungen anderer Städte gefeiert wurden, von der Auseinandersetzung zwischen Trier und Augsburg anläßlich ihrer 2000-Jahrfeiern in den Jahren 1984/85 um die Ehre, die älteste deutsche Stadt zu sein, bis hin zur 2000-Jahrfeier von Koblenz im Jahr 1992 oder der 1000-Jahrfeier von Potsdam 1993. 5 Der 200. Todestag Friedrichs II. im Jahr 1986 hat dagegen nur wenig an Gedenkveranstaltungcn nach sich gezogen: zwei Ausstellungen, die eine in Charlottenburg, die andere in Potsdam, einige Tagungen und Gelegenheitsbücher, als ob das Mißtrauen gegenüber einer Gestalt, die mit den Dämon der deutschen Geschichte und ihrer Teilung zu eng verbunden war, weiterhin zu stark war. Vgl. dazu den Artikel von G. Chaix, L'année Frédéric II, in: Bulletin d'Information de la Mission Historique Française en Allemagne 14, 1987, S. 49-62. Vgl. Ε. François, Faut-il réhabiliter Frédéric II de Prusse?, in: L'Histoire 112, 1988, S. 26-34. 6 Vgl. hierzu auch Ders., L'Allemagne fédérale se penche sur son passé, in: Vingtième

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Siècle. Revue d'histoire 7, 1985, S. 151-163; Ders., Naissance d'une nation. Le Musée Historique Allemand de Berlin, in: Vingtième Siècle. Revue d'histoire 34, 1992, S. 69-84. 7 Die zwölf vorgesehenen Bände (neun sind schon erschienen) behandeln nacheinander »Das Reich und die Germanen« (ein Band), »Das Reich und die Deutschen« (fünf Bände) und »Die Deutschen und ihre Nation« (sechs Bände). Zwei Jahre nach Beginn der Reihe veröffentlichte derselbe Verleger eine Deutsche Geschichte mit dem Titel »Mitten in Europa - Deutsche Geschichte«, die, von H. Boockmann, H. Schilling, H. Schulze und M. Stürmer verfaßt, in einer Auflage von 100 000 Exemplaren gedruckt und kürzlich als Taschenbuch wieder aufgelegt wurde. 8 Von den neun Bänden sind sechs bereits erschienen. 9 Um sich besser von seinen Konkurrenten abzusetzen, wurde die Reihe »Neue Deutsche Geschichte« genannt. Von den zehn Bänden sind bislang fünf erschienen. 10 Gleichzeitig, d.h. 1982, konzipierte auch das Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR das Projekt einer großen zwölfbändigen deutschen Geschichte. Erschienen sind nur die Bände eins bis fünf (die Anfange der Geschichte bis 1897) sowie der Band neun (der die Zeit 1945-1949 behandelt). Über den Platz der Geschichte in der deutschen politischen Kultur und die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten vor 1989 vgl. die ausgezeichneten Ausführungen von A.-M. Le Gloannec, La nation orpheline. Les Allemagnes en Europe, Paris 1989. 11 T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert, in: HZ 206, 1968, S. 529-585; Ders., Der Kölner Dom als Nationaldenkmal, in: HZ 233, 1981, S. 5 9 5 613. In direkter Fortführung an die Arbeit von Nipperdey vgl. die Arbeiten von H. Schulze, Wir sind, was wir geworden sind. Vom Nutzen der Geschichte für die deutsche Gegenwart, München 1987, ebenso wie die von W. Hardtwig, insb. seine Aufsatzsammlungen: Ders., Gedächtniskultur und Wissenschaft, München 1990; Ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500-1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994. 12 R. Koselleck u. M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und zum Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1791-1918, Stuttgart 1992; V. Ackermann, Nationale Totenfeiern in Deutschland von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauß, Stuttgart 1990; im gleichen Zusammenhang vgl. auch J. Link u. W. Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Analysen zu Sinn und Zweck patriotischer Riten, Stuttgart 1991. 13 Auszüge der »Lieux de mémoire« sind bereits auf deutsch veröffentlicht worden: P. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. 14 C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995. 15 K. Wagenbach (Hg.), Deutsche Orte, Berlin 1991. 16 A. Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M. 1993. 17 Vgl. etwa die beiden Aufsatzsammlungen H. Loewy (Hg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Die Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbeck 1992; O. Groehler u. U. Herbert (Hg.), Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992. Siehe auch den Artikel von P. Reichel in diesem Band. 18 Vgl. hierzu den Artikel von M. Zimmermann, Negativer Fixpunkt und Suche nach positiver Identität. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik, in: Loewy, Holocaust, S. 128-143. Zu dem wachsenden Raum, den der Nationalsozialismus im deutschen historischen Gedächtnis einnimmt, vgl. auch die Anmerkungen von J. Buruma, Between Guilt and Shame. German and Japanese Memories of War, in: Wissenschaftskolleg zu Berlin, Jahrbuch 1991/92, S. 189-195; sowie A. Elon, Politics of Memory,

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in: ebd., S. 196-209. Zu der Erinnerung an die NS-Zeit und den Widerstand in den beiden deutschen Staaten vgl. schließlich die bemerkenswerte Aufsatzsammlung von J. Danyel ( H g . ) , Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1994. 19 Vgl. hierzu E. Terray, L'Allcmagne et sa mémoire, in: Liber 10, 1992, S. 13ff 20 Diese Gedanken greifen auf die Thesen zurück, die ich im Artikel E. François, Einstellung zur Geschichte, in: J . Leenhardt u. R. Picht ( H g . ) , Esprit / Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München 1989, S. 15-20, ausgeführt habe. 21 T. Nipperdey, Neugier, Skepsis und das Erbe. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben, in: Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 7 - 2 3 , Zitat S. 22. 22 H. Meier u. W. Schmidt ( H g . ) , Erbe und Tradition in der DDR: Die Diskussion der Historiker, Berlin (Ost) 1988. 23 C. Meier, Vierzig Jahre nach Auschwitz: Deutsche Geschichtserinnerung heute, München 1990 2 . Vgl. Ders., Deutsche Einheit als Herausforderung, München 1990. »Die Schwierigkeiten der Nation resultieren aus den namenlosen Untaten der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Daher in den fünfziger Jahren der Versuch, unsere nationale Identität an der Garderobe Europas abzugeben (wozu die anderen gar nicht neigten, was den meisten noch heute unverständlich ist) ... Die Nationalität ist uns also zur Verlegenheit geraten, wir haben sie ein Stück weit zurückgedrängt, aber keineswegs überwunden. Wir tun uns schwer mit dem Nationalstolz, aber im übrigen ist das Nationale uns, und zum Teil quälend, präsent. Nach wie vor sind wir Deutsche und werden von den anderen dafür gehalten. Wir sind also gar nicht postnational, sondern nur von latenter Nationalität.« (ebd., S. 4 9 ) . 24 T. Nipperdey, Preuβen und die Universität, in: Ders., Nachdenken, S. 188. 25 Die Gründung einer Deutschen Nationalstiftung im Frühjahr 1994 auf Initiative von Persönlichkeiten sehr unterschiedlicher politischer und ideologischer Herkunft (von Helmut Schmidt bis Christa Wolf, von Kurt Biedenkopf bis Richard Schröder) ist in dieser Hinsicht sehr bezeichnend. 26 Die Gründung eines »Deutschen Historischen Instituts« in Warschau oder die Gründung eines »Zentrums für die Erforschung der Geschichte der deutschsprachigen Länder« an der Karls-Universität in Prag auf Initiative tschechischer Gelehrter verdienen hier besonders hervorgehoben zu werden. 27 Interessante Anregungen für ein solches Projekt finden sich in dem Artikel von E. Schulin, Weltbürgertum und deutscher Volksgeist. Die romantische Nationalisierung im frühen neunzehnten Jahrhundert, in: B. Martin (Hg.), Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick, München 1992, S. 1 0 5 - 1 2 5 . Die folgenden Bücher bieten ebenfalls gute Ansatzpunkte: R. Grimm u. J. Hermand ( H g . ) , Deutsche Feiern, Wiesbaden 1977; D. Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbeck 1988; E. Mai u. G. Schirmber, ( H g . ) , Denkmal, Zeichen, Monument, Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989; H. Hattenhauer, Geschichte der deutschen Nationalsymbole. Zeichen und Bedeutung, München 1990 2 . 28 M. Werner, La Germania de Tacite et l'originalité allemande, in: Le Débat 78, 1994, S. 42-61. 29 Vgl. zu dieser Frage den sehr anregenden Essay von H. Schulze, Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Berlin 1988, sowie (auch wenn ich weit davon entfernt bin, alle darin geäußerten Thesen zu teilen) den Artikel von F.E. Schrader, »Comment une histoire nationale est-elle possible?«, in: Genèses 14, 1994, S. 1 5 3 - 1 6 3 . Die Untersuchungen von C. Tacke u . M . Jeismann sind eine perfekte Illustration der Reichhaltigkeit der Erträge, die man von einem solchen vergleichenden und dialektischen Ansatz der nationalen Identitäten und ihrer Genese erwarten darf (vgl. Tacke, Denkmal; Jeismann, Vaterland).

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Gedächtnis und Mythos

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STEFAN-LUDWIG HOFFMANN

Mythos und Geschichte Leipziger Gedenkfeiern der Völkerschlacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert Wie wird ein historisches Ereignis zu einem nationalen Mythos? Wie beeinflussen einmal gebildete Nationalmythen künftige Formen der Erinnerung? Sind sie nur Chiffren, die von den Zeitgenossen benutzt werden, um ihre jeweils neuen politischen und sozialen Zielvorstellungen durchzusetzen, oder besitzen sie eine ihnen innewohnende Handlungslogik, mithin ein eigenes politisches Potential? Diesen Fragen soll hier am Beispiel der Gedenkfeiern der Leipziger Völkerschlacht von 1813 nachgegangen werden. In drei zeitlichen Schnitten - 1814, 1863 und 1913 - soll die strukturelle Gleichförmigkeit der nationalen Erinnerung und die jeweils zeitgebundene politische Funktion der Jubiläumsfeiern herausgearbeitet werden, wobei ich mich im wesentlichen auf die Feiern und Denkmalsprojekte in Leipzig beschränken werde. Hier war es vor allem das in den Vereinen organisierte städtische Bürgertum, das die Arbeit am nationalen Mythos »Völkerschlacht« leistete. Unter einem nationalen Mythos soll im folgenden die Erinnerung an ein Ereignis der Vergangenheit verstanden werden, das durch diese Erinnerung sprachlich, aber auch bildlich oder rituell erschlossen und national gedeutet wird. Mythen handeln bekanntlich von Ursprüngen, entspringen aber geschichtlichen Übergängen; sie verleihen einem Ereignis und den damit verbundenen neuen Erfahrungen politischen Sinn.1 Zum Mythos erhoben, bedarf dieses Ereignis in seiner symbolischen Bedeutung für die Nation keiner rationalen Erklärung, vielmehr ist gerade die Emotionalität und Gläubigkeit, die an nationale Mythen gebunden ist, kennzeichnend. Durch sie wird politisches Handeln ausgelöst und sanktioniert, wird der Mythos zur Realität. Meine These ist erstens, daß es eine Kontinuität der Sprache, Bilder und Rituale einmal gebildeter Nationalmythen gibt, die mit den in ihnen gespeicherten Erfahrungen und Erwartungen strukturelle Vorgaben künftiger Erinnerung enthalten. Zweitens gibt es jedoch eine Diskontinuität von zeitlich getrennten, jeweils spezifischen politischen und sozialen Vorstellungen der Zeitgenossen, mit denen nationale Mythen aufgefüllt und 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

umgedeutet werden, die nur im realhistorischen Kontext der Zeit verstanden werden können. Drittens besteht eine nicht aufhebbare Differenz von wiederholbarer symbolischer Struktur und unmittelbarer politischer Funktion nationaler Mythen. Weder gehen nationale Mythen in ihrer jeweils zeitspezifischen politischen Funktion auf (sie können also nicht nur instrumentell begriffen werden), noch gibt es eine geschichtliche Zwangsläufigkeit, die sich aus der einmal gefundenen Sprache und Symbolik nationaler Mythen ergibt. Anders gewendet: Zwar werden zu verschiedenen Zeiten immer ganz bestimmte politische und soziale Vorstellungen in nationale Mythen hineingelesen, doch gilt umgekehrt, daß nationale Mythen symbolisch verdichtet etwa in Denkmal und Fest - nicht beliebig umgedeutet werden können. Vielmehr weisen sie über ihren unmittelbaren Entstehungszusammenhang hinaus, besitzen eigene zeitliche Strukturen und enthalten mögliche Handlungsmaximen für die Zukunft.2 I. Daß die Leipziger Völkerschlacht von 1813 zu den großen Wendepunkten der europäischen Geschichte gehört, steht außer Zweifel. Sie war mit mehr als 500 000 beteiligten Soldaten die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte. Auf seiten der gegen Napoleon verbündeten Staaten (Rußland, Österreich, Preußen und Schweden) gab es mehr als 54 000 Gefallene; 37 000 Franzosen wurden getötet oder verwundet. Mit dem Sieg der Koalition auf dem Schlachtfeld bei Leipzig brach das napoleonische Herrschaftssystem in Europa zusammen. Auch der 1806 von Napoleon geschaffene Rheinbund löste sich auf. Eine Neuordnung Europas in der Tradition der Mächte- und Gleichgewichtspolitik des 18. Jahrhunderts wurde auf dem Wiener Kongreß vom Oktober 1814 bis Juni 1815 beschlossen. Umstritten ist jedoch bis heute, welchen Anteil eine nationale Begeisterung ›von unten‹ am militärischen Sieg über Napoleon hatte. In der Namensgebung der »Völkerschlacht« wird dieser Konflikt semantisch angezeigt. Während Oberst von Müffling, der 1813 das neue Wort in den Armeebericht einschleuste, es sicher noch in der alten Bedeutung verwendete, mit »Völkern« die Truppen absolutistischer Herrscher zu bezeichnen, wurde es von anderen Zeitgenossen als Schlacht der um nationale Emanzipation von Napoleon ringenden »Völker« Europas umgedeutet.3 In dieser Bedeutung sollte die Völkerschlacht auch an ihrem ersten Jahrestag am 18. und 19. Oktober 1814 in ganz Deutschland gefeiert werden - als nationales Volksfest, als »Fest aller Teutschen«.4 So wollte es zumindest die schmale Schicht von Bildungsbürgern und städtischen Honoratio112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ren, die den Anstoß zu den Feiern gab. Wie die Erinnerung an die Völkerschlacht gefeiert werden sollte, dazu hatte diese Elite der bürgerlichen Reform- und Nationalbewegung konkrete Vorstellungen. So schlug z.B. Ernst Moritz Arndt in seiner Flugschrift »Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht« von 1814 nationale Feiern jeweils am 18. und 19. Oktober vor. Der 18. Oktober sollte dabei ein reines Volksfest sein; um die Einheit aller Deutschen zu symbolisieren und sie sinnlich erlebbar zu machen, sollten am Abend auf nahe gelegenen Bergen oder Hügeln in ganz Deutschland Freudenfeuer entzündet werden. »Diese laufen als Boten in die Ferne und als Liebeszeichen und Freudenzeichen, und verkünden allen Nachbarn ringsum, daß jetzt bei allen teutschen Menschen nur Ein Gefühl und Ein Gedanke ist.«5 Die Feuer sollten von der Verbrüderung aller Deutschen zeugen; zugleich waren sie aber auch als archaische Drohgebärde gegen Frankreich gemeint. Der 19. Oktober sollte der eigentliche Festtag sein. Mit Aufzügen der städtischen Behörden, Gottesdiensten und Versammlungen sollte der Völkerschlacht gedacht werden. Zudem kam Arndt auf seine idée fixe einer deutschen Tracht zurück, die an solchen Tagen getragen werden sollte, damit sich »alle Teutsche auch äußerlich als teutsche Menschen von allen anderen Völkern unterschieden«. »O wie unendlich viel wäre gewonnen, wenn wir nur erst äusserlich hätten, was uns von wälschen Menschen unterschiede!« Reden, Lieder, Turnübung und Spiele sollten zur »Erfrischung und Freudigung deutscher Tugend« beitragen.6 Tatsächlich wurden die Völkerschlachtfeiern im Oktober 1814 nach diesen Vorgaben überall im deutschsprachigen Mitteleuropa gefeiert, sie wurden dem Wunsch ihrer Initiatoren gemäß zum ersten deutschen Nationalfest. Am 18. Oktober trafen sich die festlich gekleideten Menschen, geschmückt mit Eichenlaub oder anderen deutschen Nationalsymbolen, auf dem örtlichen Marktplatz, dann formierte sich ein Umzug hinaus zum höchsten Punkt des Umlandes; dort wurden Oktoberfeuer entzündet, in denen sich »der Geist des Vaterlands« zeigen sollte, »ihm selbst zur Lust, den Feinden zum Schrecken«.7 Die um die Feuer versammelte Menge sang patriotische Lieder oder folgte Reden oder Rezitationen eigens geschriebener Gedichte; eine eigene »Oktoberlyrik« entstand.8 Am 19. Oktober fanden dann zumeist Gottesdienste statt, auf denen in patriotischen Festpredigten nochmals auf die Völkerschlacht Bezug genommen wurde. Das Fest war begleitet von der Wohltätigkeit der Bürger gegenüber den ärmeren Schichten, auch das war ein Symbol der nationalen Verbrüderung: Die sozialen Unterschiede sollten im Fest aufgehoben bzw. gemildert werden, um die Einheit der Nation zu betonen. Wie erwähnt, fanden die Feste auf Betreiben einer schmalen, aber publizistisch aktiven Minorität statt. Diese regte die Feiern nicht nur an, sondern berichtete in Zeit- und Flugschriften über die Völkerschlachtfeiern 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und versuchte, ihnen eine nationale Begründung zu geben. Anhand von drei wiederkehrenden Grundaussagen, auf die auch 1863 und 1913 zurückgegriffen werden konnte, soll die Mythisierung der Völkerschlacht beispielhaft skizziert werden. Erstens sollten die Völkerschlachtfeiern als Nationalfeste nicht nur der Gefallenen der Schlacht gedenken und den Sieg über Napoleon bejubeln, sondern zugleich dem vergangenen Ereignis Sinn für die Gegenwart abfordern. Zu einer Zeit, als in Wien die Fürsten der einzelnen Staaten über eine politische Neuordnung Europas berieten, zelebrierte ein genuin bürgerlicher Nationalismus Verbrüderungsfeste, die über die partikularstaatliche Zersplitterung des »Vaterlandes« hinweggriffen. Gefeiert wurde die Freiheit nach außen, die Beendigung der »Fremdherrschaft«, die als erster Schritt zur inneren Einheit galt. Das vergangene Ereignis wurde mit der politischen Forderung nach nationaler Einheit verbunden, die vor allem an die deutschen Fürsten gerichtet war und noch nicht, was häufig übersehen wird, die Einforderung verfassungsmäßiger Rechte umschloß. Diese Einheit, so die Verheißung für die nationale Zukunft, sollte auch in Friedenszeiten auf den jährlich wiederkehrenden Oktoberfeiern erneuert werden, zudem mit der Schaffung eines Denkmals für die Völkerschlacht dauerhaften symbolischen Ausdruck erhalten. Denkmal und Fest sollten die Völkerschlacht auf Dauer im Bewußtsein der Nation verankern, das Bekenntnis zur Dynastie mit dem für die Nation verbinden, als Mahnung und Verpflichtung für die Zukunft.9 Zweitens wurde die Völkerschlacht Teil eines zyklischen Geschichtsbildes, einer nationalen Heilsgeschichte, mithin einer mythischen Erzählung. Der Ausgangspunkt war der Sündenfall (die politische Zersplitterung, die Uneinigkeit des deutschen Volkes), dem die vermeintlich tiefste Erniedrigung, die napoleonische »Fremdherrschaft«, zu folgen schien. So hieß es in einer Festpredigt im Oktober 1814: »Verlohren, durch eigne Schuld und Verkehrtheit, hatten wir das, was dem freygeschaffenen Menschen das Schätzbarste seyn muß; - verkauft an Fremdlinge der Selbständigkeit heiliges Recht; - umgetauscht reine Sitten und Grundsätze gegen die leichte und verderbliche Waare eines bloß äußeren Scheines. - Ja! Wir waren reif für Deine Züchtigungen.«10 So wie das »fremde Joch« die gottgewollte Strafe für ein selbstvergessenes Volk sein sollte, so war die Völkerschlacht das Strafgericht für die Feinde des Vaterlandes und zugleich die göttliche »Erhebung« des Volkes, seine »Wiedergeburt«, wie es in der pietistischen Sprache der »Befreiungskriege« hieß.11 Aus Opfertod und Wiedergeburt ergab sich eine Verpflichtung für die Zukunft, eine nationale Aufgabe für zukünftige Generationen. Die Sakralisierung der Völkerschlacht erhob den massenhaften Kriegstod zum gottgewollten Opfer für das Vaterland, zu einem höchsten Wert, der »köstlicher [ist] als Menschen114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

blut, und müßte es auch - entsetzliches Wort! - bis auf den letzten Tropfen vergossen werden«.12 Die Selbstfindung der Nation konnte aber nur im dämonisierten Gegenbild des Feindes erfolgen. Deswegen wurde drittens immer wieder die grundsätzliche Feindschaft gegen Frankreich beschworen.13 Der bürgerliche Napoleonkult schlug um in Haß auf den »Despoten«, den »Tyrannen«, zuweilen wiederum mit religiösem Einschlag auf den »Satan«. Um die eigene Deutung der Völkerschlacht als drastische Umkehrung, als Wiedergeburt des deutschen Volkes zu verklären, mußte auch der Gegner mythisch überhöht werden. Die Völkerschlacht wurde zum Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. Der Code Napoleon wurde demgemäß auch auf den Völkerschlachtfeiern den Flammen übergeben, eine Art national motiviertes Autodafé.14 Dieses Feindbild diente nicht nur der Abgrenzung nach außen, sondern auch der Eingrenzung nach innen. Die nationale Einheit sollte im Zusammengehen von Volk und Monarchen geschaffen werden. Beide hatten gemeinsam die Freiheit errungen: »Der Fürst ficht in den Reih'n der gemeinen Krieger, Mit Gott, Mit Gott« für die Befreiung des Vaterlandes.15 »Mit Gott für König und Vaterland« war demgemäß auch die populärste Formel der »Befreiungskriege«. In dem Mythologem der gemeinsam geschlagenen Schlacht wurden die tatsächlichen Grenzlinien zwischen Monarch und Bürger sowie die Vielzahl der sozialen, regionalen, konfessionellen Unterschiede innerhalb der Nation überwölbt und religiös verklärt.16 Um es noch einmal zu betonen: Diese Deutung der Völkerschlacht erfolgte vor allem durch eine schmale Schicht von Bildungsbürgern, die die Feiern angeregt, zum Teil auch durchgeführt und auch über sie berichtet hatte und ihnen damit einen spezifischen Sinn verleihen wollte. Dabei knüpften sie an ältere symbolische Praktiken an. Zu erinnern wäre an die Übernahme älterer Festelemente wie den volkstümlichen Johannisfeuern oder an den Einfluß der französischen Revolutionsfeiern. Gleichwohl hat dieser zahlenmäßig kleine Kreis mit den Völkerschlachtfeiern eine nationale Tradition geschaffen, die die wichtigsten Medien künftiger Erinnerung vorgab: das Nationalfest mit seinen typischen symbolischen Handlungen (Festumzug, Oktoberfeuer), die patriotische Festrede und die zumeist gesungene Oktoberlyrik mit ihren stereotypen Grundaussagen sowie erste Ideen für ein Völkerschlachtdenkmal.17 Diese Deutung war freilich nur eine unter vielen. Ein Blick auf die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Völkerschlacht in der Stadt Leipzig soll das unterstreichen.18 Die Feiern am 18. und 19. Oktober waren hier kein Nationalfest, sondern ein religiöses Dank- und Siegesfest, das zudem vom russischen Generalgouverneur für Sachsen, Fürst Repnin, angeordnet werden mußte.19 Sachsen, das 1813 noch auf seiten Napoleons gekämpft 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

hatte, war keineswegs »befreit«, sondern von den gegen Napoleon verbündeten Mächten annektiert worden; der sächsische König befand sich im Oktober 1814 noch immer in Gefangenschaft, das politische Schicksal des Landes war völlig ungewiß. Überdies hatte die Stadt Leipzig mehr unter den Verwüstungen durch die Völkerschlacht und die sich anschließenden Seuchen und Hungersnöte gelitten als unter der napoleonischen »Fremdherrschaft«.20 Im Gegenteil, die Messestadt hatte unter der französischen Besatzung zunächst einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, wie andernorts in Deutschland gab es einen regelrechten bürgerlichen Napoleonkult, der auch späterhin kaum Neigung zum ›nationalen‹ Widerstand autkommen ließ.21 So wurde der Jahrestag der Völkerschlacht in Leipzig auch sehr verhalten gefeiert, »so froh und feierlich, wie es den Umständen nach möglich war«.22 Die Feiern wurden nach dem Vorbild der Siegesfeiern des Vorjahres gestaltet.23 Der 18. Oktober wurde als Totenfeier begangen, mit einem Gottesdienst in der Nikolai-Kirche, der einzigen Kirche Leipzigs, die nicht mehr mit Verwundeten der Schlacht gefüllt war. Am 19. Oktober fand eine religiöse Dank- und Siegesfeier statt, die wiederum mit einem Gottesdienst begann. Anschließend zog die Festgemeinde zum Marktplatz, wo ein gemeinsamer Gesang des Dankchorals »Nun danket alle Gott« die öffentliche Feier beschloß. Am Nachmittag traf sich, wiederum mit Erlaubnis des russischen Generalgouverneurs, eine private Gesellschaft zur Gründung des »Vereins zur Feier des 19. Octobers«.24 Diese Gesellschaft war eine Art Geschichtsverein, der sich die Erinnerung an die Völkerschlacht als Aufgabe gesetzt hatte. Die Mitglieder rekrutierten sich fast ausschließlich aus dem städtischen Bürgertum Leipzigs. Die Festansprache hielt August Mahlmann, Schriftsteller und Redakteur der »Leipziger Zeitung«.25 Die Rede war vom Opportunismus gegenüber den neuen Machthabern geprägt; zwar wurde auch hier Napoleon zum »Tyrannen« stilisiert, aber die Notwendigkeit seiner Niederwerfung wurde einzig und allein mit der Wiederherstellung der Fürsteneintracht begründet. Nicht der Erhebung des deutschen Volkes, sondern dieser Eintracht der verbündeten Monarchen wurde der Sieg bei Leipzig zugeschrieben. Auch die öffentliche Feier am gleichen Tag, als eine größere Menschenmenge hinaus auf das ehemalige Schlachtfeld zog, um dort ein mit Eichenlaub bekränztes Kreuz aufzurichten, war vornehmlich eine religiöse Danksagung für die »glückliche Errettung unserer Stadt« vor der Zerstörung durch die Kriegsparteien.26 In Leipzig wurde, ein Jahr nach der Völkerschlacht, nicht die nationale »Befreiung« vom napoleonischen »Joch«, sondern der lang erwartete Frieden, an den sich die Hoffnung auf eine politische Verschonung Sachsens durch die Siegermächte knüpfte, gefeiert. Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Auf dem Wiener Kongreß wurde nahezu die Hälfte des 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sächsischen Territoriums Preußen zugeschlagen; Leipzig war damit plötzlich an die Landesgrenze zu Preußen gerückt. Eine weitere öffentliche Feier der Völkerschlacht widersprach dadurch eklatant dem sächsischen Landespatriotismus; sie unterblieb in den darauffolgenden Jahren. Aber auch die bürgerliche Nationalbewegung erlebte durch die allgemeine Restauration im Anschluß an den Wiener Kongreß eine Ernüchterung. Als sich am 18. Oktober 1817 die deutschen Burschenschaften auf der Wartburg zu ihrer Völkerschlachtfeier trafen, war die politische Stimmung bereits umgeschlagen. Die politischen Zielvorstellungen der bürgerlichen Nationalbewegung und der deutschen Bundesfürsten waren nach der erfolgten staatlichen Neuordnung auf dem Wiener Kongreß auseinandergebrochen. Das Bekenntnis zu den nationalen Grundaussagen von 1813 auf dem Wartburgfest wurde mit politischer Verfolgung durch die Restauration beantwortet. II. Der fünfzigste Jahrestag der Völkerschlacht im Jahre 1863 stand ganz im Zeichen des preußischen Verfassungskonflikts. Die bürgerliche nationalliberale Bewegung beschwor die Erinnerung an den nationalen Mythos von 1813, um in der Auseinandersetzung mit der Regierung eine Zurücknahme der Heeresreformen von 1813/14 zu verhindern. Die Entrüstung über die versuchte Entbürgerlichung des Heeres wurde zum politischen Machtkampf zwischen Parlament und Regierung. Zudem erschien dem nationalliberalen Bürgertum eine Lösung der »nationalen Frage« infolge des Konflikts um Schleswig-Holstein immer dringlicher. Es kennzeichnet die Jubiläumsfeier von 1863, daß sie als politische Willensbekundung des national-liberalen Bürgertums zentral geplant, also nicht wie 1814 ausschließlich dezentral und ohne einheitliche Organisation abgehalten wurde. In Leipzig sollte sich, wie es Robert Prutz forderte, »das aufgeklärte und patriotische Bürgertum von ganz Deutschland« versammeln, »um gemeinsam Hand anzulegen an den Bau deutscher Freiheit und Selbständigkeit«.27 Eingeladen hatten - mit Duldung der sächsischen Regierung - die deutschen Städte, allen voran Leipzig und Berlin. Ungefähr fünfhundert städtische Deputierte waren aus den verschiedenen deutschen Staaten, vor allem aber aus Preußen angereist. Allein die Städte der preußischen Rheinprovinz nahmen, als Besiegte von 1813 und, wie es hieß, mit Rücksicht auf den französischen Nachbarn, nicht an den Feiern teil. Zeitgleich fand in Leipzig die vierte Generalversammlung des »Nationalvereins« statt, so daß ein großer Teil der Protagonisten der liberal-nationalen Bewegung in der Stadt zusammenkam. Die Gedenkfeiern für 1813 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

wurden so zu einer Art »politischer Messe«, wie es Gustav Freytag in einem Brief an das Festkomitee formulierte, von der sich Liberale wie Freytag ganz unmittelbare tagespolitische Folgen versprachen.28 Tatsächlich wurde auf einer Festsitzung am 19. Oktober von den städtischen Deputierten der Beschluß zur Gründung eines deutschen Städtetages gefaßt, um die Selbstverwaltung der Städte zu stärken und ein politisches Gegengewicht zu den partikularstaatlichen Monarchien zu schaffen. In der Gestaltung der Feiern wurde bewußt auf die Tradition von 1813/14 zurückgegriffen. Am 18. Oktober fanden Gottesdienste in den Kirchen aller Religionsgemeinschaften statt, auf denen in Festpredigten die Ereignisse von 1813 für die Gegenwart gedeutet wurden. Am Mittag füllte eine große Menschenmenge (ca. 25 000-30 000) den Marktplatz zu einer musikalischen Festfeier, auf der Lieder der Befreiungskriege, etwa Theodor Körners »Schlachtgebet« und »Lützow's wilde Jagd«, von den Leipziger Gesangsvereinen vorgetragen wurden. Wie 1814 beschloß der Dankchoral »Nun danket alle Gott«, angestimmt von der versammelten Menschenmenge, diesen Teil der Festlichkeiten. Am Nachmittag wurde im städtischen Theater »Die Hermannsschlacht« von Kleist gespielt, auch im Gewandhaus und in anderen städtischen Konzerthallen fanden patriotische Festaufführungen statt. Am Abend wurde schließlich auf die Symbolik der Oktoberfeuer mit einem Fackelzug zurückgegriffen, der wiederum die Zusammengehörigkeit der Festteilnehmer und des gesamten deutschen Volkes emotional erlebbar machen sollte. Der bürgerliche Festumzug am 19. Oktober bildete dann den eigentlichen Höhepunkt. Auch aus der Umgebung Leipzigs strömten Besucher in die Stadt, insgesamt mögen es einhunderttausend Zuschauer und zwanzigtausend Festzugsteilnehmer gewesen sein. Welches waren nun die Grundmerkmale des Umzuges? Zum einen sollte er vom gewachsenen bürgerlichen Selbstbewußtsein zeugen, in seiner Ordnung und Symbolik die Tugendhaftigkeit der Bürger veranschaulichen, mithin in seiner Anordnung ein Abbild der bürgerlichen Gesellschaft sein. Die Vereine, die verschiedenen Konfessionen (auch Rabbiner nahmen am Festzug teil), der Nationalverein und die Berufsorganisationen konnten sich öffentlich darstellen.29 Zumeist wurden Bilder und Symbole, die an das Jahr 1813 erinnerten, getragen, aber auch die Zeichen des Vereins oder Berufsstandes. Andererseits wurde diese soziale Grenzziehung überschritten. Die Gleichheit im emotionalen Festerlebnis sollte die zu schaffende nationale Einheit vorwegnehmen und einfordern. Beispielhaft hierfür stand die Beteiligung von mehr als eintausend Veteranen der Völkerschlacht, die von der Stadt zu dem Fest eingeladen wurden. Ihr Auftritt wurde in besonderer Weise inszeniert. Die Abfolge der Vereine wurde unterbrochen durch fünfzig weißgekleidete »Ehrenjungfrauen«, Töchter 118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

von Familien aus dem alteingesessenen Stadtbürgertum Leipzigs, die mit ihren über die Schultern geschlagenen weißen Mänteln und grünen Kränzen auf dem Kopf und in den Händen als »Priesterinnen des Sieges und der Freude« »Unschuld und Hoffnung« darstellten.30 Ihnen folgten meist in offenen Wagen die Veteranen, alle nunmehr im Greisenalter. Im ersten Wagen befanden sich General von Pfuel, 1815 Kommandant von Paris, und der Historiker Friedrich von Raumer, doch entsprach die Anordnung der Wagen keiner Rangfolge; weder militärische noch soziale Sonderungen traten hervor. Obgleich die Veteranen erkennbar aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten stammten, wurden sie von der Menge gleichermaßen bejubelt, denn »hier waren sich alle gleich, hochgestellte Offiziere in Uniform und neben ihnen Arbeiter und Bauern im schlichten, zum Theil selbst ärmlichen Rocke. Sie alle waren Kameraden, Kämpfer und Sieger in Deutschlands größter Schlacht.«31 Die Gleichheit vor dem Tod in der Schlacht sollte die Gleichheit im Bekenntnis zur Nation beschwören. Dem Auftritt der Veteranen kam eine weitere symbolische Bedeutung zu. Sie waren »lebendige Denkmäler« der Völkerschlacht, sie bezeugten die Authentizität des vergangenen Ereignisses und verliehen so dem politischen Sinn, den man der Völkerschlacht für die Gegenwart zusprach, Autorität. Verallgemeinert könnte formuliert werden, daß der nationale Mythos eines geschichtlichen Kerns bedarf, um geglaubt zu werden. Dieser garantiert die Überzeugungskraft der ihm angesonnenen politischen Sinnstiftungen. In diesen Zusammenhang gehören auch die historischen Ausstellungen, die im Rathaus vom »Verein zur Feier des 19. Octobers« veranstaltet wurden, wo Reliquien der Schlacht, wie z.B. Schädel von Gefallenen, von der Authentizität des Mythos von 1813 zeugten. Zum Abschluß des Festumzuges wurde schließlich die Bauidee von 1814 aufgegriffen und der Grundstein für ein Völkerschlachtdenkmal außerhalb der Stadt gelegt. Zuletzt wurde das vom »Verein zur Feier des 19. Octobers« gestiftete Denkmal für den Befehlshaber der Königsberger Landwehr Major Friccius eingeweiht - Denkmal und Fest gehörten also auch 1863 zusammen. Aber nicht nur auf die 1813/14 geprägten Rituale und symbolischen Handlungsweisen, die mit dem Nationalmythos »Völkerschlacht« verbunden waren, wurde 1863 zurückgegriffen. Auch in den semantischen Grundstrukturen artikulierte sich 1863 das Bekenntnis zur Nation in der Kontinuität von 1813/14. Erstens wurde die Sinnstiftung des massenhaften Kriegstodes von 1813/14 (»Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung«)32 in der Festrede des Leipziger Bürgermeisters Koch zur Grundsteinlegung des Völkerschlachtdenkmals wieder aufgegriffen: »Der erste Schlag gilt dem Erwachen des deutschen Volks in seinem nationalen Bewußtsein; gilt allen denen, welche dafür gekämpft, gelitten und geblutet haben! 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Der zweite Schlag gilt dem treuen Ausharren in der begonnenen Arbeit für die großen Endziele deutscher Nation! Der dritte Schlag gilt dem endlichen Sieg des deutschen Volks im Ringen nach nationaler Macht und Größe, Einheit und Freiheit des heißgeliebten deutschen Vaterlandes.«33 Wieder legitimierte die heroische Vergangenheit einen bestimmten Sinn für die Gegenwart, der für die Zukunft festgeschrieben werden sollte. Mehr noch: Die Wiederverwendung dieser Denkfigur forderte emotional »die Einlösung der heiligen Pflichten«, die man dem »Vaterland« zu schulden glaubte. Um nicht »erblose Erben der Vergangenheit« zu sein, ertönte im Festgedicht des Linksliberalen Albert Traeger der »heilige Schwur«: » Wir wollen endlichfreiund einig sein, Laßt unsern Vätern diesen Schwur gehören, Laßt unsern Söhnen diesen Schwur uns weih'n! Die Freiheit ist es, die den Weg uns bahne Zur Einheit, die die Herzen schon beseelt, Dann reißen wir den Flor von jener Fahne, Die uns zum Schmerz, zur Schande heut gefehlt.«34 »Ihr Blut ist nicht umsonst geflossen«35 lautete die Blindformel, die auch 1863 galt. Wurde 1813 die Freiheit nach außen erkämpft, sollte nun endlich die Freiheit im Inneren erreicht werden, ohne die keine Einheit möglich schien. Eingefordert wurden die verfassungsmäßigen Rechte, die 1813 von den Fürsten angeblich versprochen, aber nicht eingelöst worden waren. Zweitens wurde auch 1863 die Völkerschlacht als Wendepunkt in einem heilsgeschichtlichen Zyklus begriffen. Wieder war man überzeugt, daß der Weg, »den Gott mit unserem Volk zu seiner Errettung [1813] gegangen ist ... kein anderer [ist] als der, den er mit jeder einzelnen Seele geht: durch die Demüthigung zur Erhebung, durch Züchtigung zum Segen.«36 Die tiefe Resignation über die nationale Zersplitterung und soziale Zerklüftung der Gegenwart wurde zur gottgewollten Prüfung, denn »die nationale Kraft quillt aus der nationalen Buße«.37 Darum wurde die Völkerschlachtfeier als Zeichen dafür gedeutet, daß diese Zersplitterung überwunden werden könne, oder, wie Jakob Venedey meinte, sie sogar zumindest »geistig ... bereits besiegt« sei: »Wir sind ein einig Volk von Brüdern.«38 Die prodynastische Formel von 1813 »Für König und Vaterland« verschwand völlig aus den Festreden. Nationaldemokratisch wurde das deutsche Volk als Souverän in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gefeiert. Schließlich verlor drittens die Feindschaft gegen Frankreich angesichts der innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Weg zur nationalen Einheit die Schärfe von 1813/14. Mehr noch, man mußte sich in der 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Öffentlichkeit wegen der Feier des Sieges über den ehemaligen Feind rechtfertigen: »Mag auch mancher ängstliche Kosmopolit fürchten, daß man durch die Feier das französische Volk beleidigen könne, mag auch mancher andere Bedenken hegen, das Fest könne eine individuelle Färbung annehmen,... das bleibt sicher, es wird viel zur Erweckung des deutschen Nationalgefühls beitragen. Sind wir einmal auf unser Vaterland in ähnlicher Weise stolz, wie dies die Engländer und Franzosen auf die ihrigen sind, dann haben wir die Garantie, daß die Schmach eines Rheinbundes zum zweiten mal nicht wiederkehren wird.«39 Der Anspruch auf eine nationale Machtstellung wurde mit der Erinnerung an 1813 verknüpft, trat gleichsam an die Stelle der emotionalen Feindschaft gegen Napoleon. Auch in der Festrede des Leipziger Bürgermeisters klang das an: »Wir feiern heute an dieser geheiligten Stätte die Selbstherrlichkcit deutscher Nation ..., welche uns wieder einfuhren soll in die Reihe der Völker, die da mit zu entscheiden haben über die Geschicke der Welt.«40 Gleichwohl muß man sich auch für das Jahr 1863 vergegenwärtigen, daß es durchaus konkurrierende Erinnerungen an die Völkerschlacht gab. Während die bürgerliche Nationalbewegung der 1860er Jahre bewußt die Tradition des Intellektuellennationalismus von 1813/14 aufnahm, betei ligten sich andere Gruppen des Leipziger Bürgertums nicht an den Feiern, So fand im Leipziger Schützenhaus eine private Feier statt, auf der sächsischer Landespatriotismus und Königstreue gefeiert wurden.41 Und die Leipziger Freimaurerlogen lehnten eine Feier der Völkerschlacht aufgrund ihres weltbürgerlichen Bekenntnisses schlichtweg ab: »Wie dürfte sie [die Freimaurerei] ein Fest begehen, an dem die französischen Brüder nicht theilnehmen könnten? Wie müsste es das Herz der franz. Brr. zerschneiden, wenn vielleicht in ihrem Beisein deutsche Jubellieder angestimmt würden, in denen man sich des Unglücks des franz. Volkes freut.«42 Als Weltbürger hofften sie, daß fünfzig Jahre später im Jahre 1913 statt eines Völkerschlachtfestes ein Völkerfriedensfest gefeiert würde, wo man an gleicher Stelle »den ersten Völkertag abhalten und Leipzig zur Bundesstadt der europäischen Völkerfamilie erheben [werde], wo das Völkerbundesgericht seinen Sitz hat, um alle Streitigkeiten der europäischen Völker zu schlichten und allem Krieg und Blutvergiessen unter Brudervölkern zu wehren ... Dann kann auch die [Freimaurerei] an solchem Jubel theilnehmen, denn die Menschlichkeit und das Weltbürgerthum feiern dann ihr Siegesfest und bescheeren allen Völkern Europas ... den ewigen Frieden.«43

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III. Die sogenannten Einigungskriege 1864, 1866 und 1870/71 ließen die Erinnerung an die Zeit der Befreiungskriege im Kaiserreich zunächst in den Hintergrund treten. Mythologisch überhöht wurde die Nationalstaatsgründung durch einen neuen Reichsnationalismus, der etwa im KyffhäuserDenkmal zu einer anschaulichen Symbolik fand. Der mittelalterliche Mythos vom Reich konvergierte mit demjenigen von Kaiser Barbarossa und verkündete das Selbstvertrauen des geschaffenen monarchisch-nationalen Machtstaates. Mehr noch: Eine Erinnerung an die Völkerschlacht (»Wo Deutsche gegen Deutsche gekämpft hatten«) wirkte merkwürdig anachronistisch in einer Zeit, als die Nationalstaatsgründung glücklich vollzogen war. Gleichwohl wurde 1894 in Leipzig ein »Deutscher Patriotenbund« gegründet, der die vergeblichen Versuche von 1814 und 1863, der Völkerschlacht ein Denkmal zu setzen, schließlich zu Ende fuhren wollte. Es waren vor allem die bürgerlichen Mittelschichten Leipzigs, die sich im »Patriotenbund« engagierten, nicht Kleinbürger oder Arbeiter, aber auch nicht die städtische Oberschicht.44 Durch ein eigenes Mitteilungsblatt, Spendenaufrufe und Verbindungen zu einem Geflecht patriotischer Vereine, vor allem zu den Turner-, Sänger- und Schützenvereinen, erreichte der Bund sofort eine beträchüiche Publizität und Mitgliederzahl (1894: 3 500, 1895:42 000) 45 . Zum eigentlichen Innenkreis des Vereins gehörte jedoch eine schmale Schicht von Bildungsbürgern. Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie, daß dieser Innenkreis, der den Anstoß zur Gründung des »Patriotenbundes« gab und diesen auch organisatorisch beherrschte, mehrheitlich aus Mitgliedern der Leipziger Freimaurerlogen bestand, die sich noch 1863 aufgrund ihres weltbürgerlichen Bekenntnisses gegen die Erinnerung an einen Krieg zwischen den Völkern gewandt hatten.46 Die Nationalisierung der deutschen Gesellschaft im Zuge der inneren Nationalstaatsbildung seit 1870/71 zeigte sich auch bei weiten Teilen des in den Logen organisierten Bürgertums in einer Verschiebung von humanitären, kosmopolitischen zu nationalen und machtstaatlichen Wertvorstellungen. Die Evokation des Nationalmythos »Völkerschlacht« zwischen den 1890er Jahren und dem Ersten Weltkrieg ging politisch über den Reichsnationalismus der Bismarck-Ära hinaus. Auf der Suche nach politischen Zielen sah eine neue Generation in der Nationalstaatsgründung von 1870/71 nur den Geburtstag des Deutschen Reiches. Die Völkerschlacht von 1813 war für sie jedoch die »Geburtsstunde des deutschen Volkes«47, nämlich »die Entfesselung der edelsten Kräfte unseres Volkstums, des deutschen Volksbewußtseins«.48 Hierin lag der besondere Wert von 1813: 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

»Da hat sich deutsche Art bewährt wie immer sonst. Denn seines Wesens höchsten Adel löst ein Volk Nur aus im letzten, schwersten Kampf ums Dasein. Und wollt ihr Helden ziehen aus unserer jungen Brut: Nicht zu der Wacht am Rhein führt sie am Niederwald! Dort spielen Geister rasch begnügter Zuversicht. Zum Denkmal auf dem Leipziger Schlachtfeld fuhrt sie einst Und laßt sie Arndts und Körners Feuerlieder singen

Und lehrt sie, wie man Opfer bringt und Fesseln bricht!«49

Der Volksbegriff ruht hier auf nationaldemokratischer Grundlage, wird aber gegen das Verfassungsmodell der Demokratie gewendet. Die Nation wird als harmonische und solidarische »Volksgemeinschaft« begriffen, in der der Kaiser zum Repräsentanten des »deutschen Volkstums« wird - eine Vorstellung, der das Regime Wilhelms IL nicht so recht entsprach. Umgekehrt brachte der Kaiser dem nationaldemokratischen Volksbegriff, der im Völkerschlachtdenkmal zur sinnfälligen Symbolik findet, keine Sympathien entgegen. Gleichsam als Gegenentwurf zum Völkerschlachtdenkmal baute der Kaiser in Berlin die Siegesallee, die sowohl in ihrer preußisch-dynastischen Grundaussage als auch in ihrem naiven Historismus zum Sinnbild des Wilhelminismus wurde.50 Der Nationalismus der im »Patriotenbund« vereinten Bürger speiste sich aus einer Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse der wilhelminischen Gegenwart, zielte also durchaus auf Reform (wie 1813/14 und 1863), doch waren die politischen Ziele merkwürdig diffus. Die unklaren Zielvorstellungen, wie auch der Konflikt mit dem Kaiser, bündelten sich in den Feierlichkeiten zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals im Jahre 1913. Sie warfen in ihrer eigentümlichen Mischung aus bürgerlichem Nationalfest und feierlichem Herrscherempfang ein Licht auf die Zwiespältigkeit der inneren politischen Ordnung des Kaiserreiches. Zunächst boten die Feiern wie 1863 einen geeigneten Anlaß zur Repräsentation des gewachsenen städtischen Selbstbewußtseins. Der Rat der Stadt stellte enorme finanzielle Mittel für die festliche Ausschmückung der Leipziger Innenstadt zur Verfügung. Ehrenpforten, Obeliske, Pylonen säumten die Feststraße; am königlichen Schloß waren zwölf Lebensbäume pyramidenartig aufgerichtet worden, welche die Schlachtorte um Leipzig symbolisierten. Nachdem Wilhelm II. mit militärischem Pomp auf dem Hauptbahnhof empfangen worden war, nahm er auf der Fahrt durch die Stadt in einer Art herrschaftlichen Einholungszeremoniells die Akklamation von tausenden Leipzigern entgegen.51 Mitangereist waren die gesamte wilhelminische Führungselite und alle deutschen Bundesfürsten, die dem Kaiser in einer Wagenkolonne folgten. Auf der Via triumphalis, die vom Hauptbahnhof über den Augustusplatz bis hinaus zum Denkmal führte, 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

standen allein 28 000 Schulkinder Spalier. Getrennt davon hatte sich im Laufe des Vormittags der Festzug der bürgerlichen Vereine und Korporationen zum Denkmal hin bewegt. An der Spitze gingen Professoren verschiedener Universitäten des Reiches, gefolgt von etwa dreitausend Studenten »in Wichs« und unzähligen Turn-, Schützen-, Gesangs- und Kriegervereinen, die sich auf Tribünen zu beiden Seiten des Denkmals aufstellten. Insgesamt nahmen wohl mehr als hunderttausend Zuschauer an der Einweihungszeremonie teil. Ganz im Sinne des »Patriotenbundes« trafen sich bürgerlicher Festumzug und kaiserliches Einholungszeremoniell am Denkmal. In einer sakralen »Weihestunde« von Bürger und Monarch sollten beide im Nationalmythos »Völkerschlacht« in einer schicksalhaften Volksgemeinschaft zusammengefaßt werden. Daher wandte sich auch der Gründer und Spiritus rector des »Patriotenbundes«, Clemens Thieme, zu Beginn seiner Festrede - der Kaiser hatte sich aus den vorn genannten Gründen geweigert, selber das Wort zu ergreifen - nicht an die anwesenden Fürsten, sondern schlicht an »Ew. Königliche Majestät, deutsche Brüder, deutsche Schwestern«, an den Kaiser und sein Volk. Aber nicht nur die Mißachtung der höfischen Etikette, auch die nationaldemokratische Evokation des Mythos »Völkerschlacht« in der Festrede brüskierte den Kaiser und den Hofstaat: »Der Kampfplatz rings um Leipzig ist eine geweihte Stätte, ein Heiligtum des gesamten deutschen Volkes geworden, geheiligt durch die dargebrachten Opfer an Gut und Leben für die Freiheit des Vaterlandes, geheiligt, weil hier unsere Heldenväter die drückenden Fesseln des Eroberers zertrümmerten, hier die so lange ersehnte Freiheit im harten Kampf des Leibes und der Seele wiedergewannen, um wieder ein Volk von Brüdern [!] zu werden.«52 Diese Rede verdeutlicht, wie am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf die Grundaussagen von 1813/14 zurückgegriffen wurde. Erstens wurden erneut Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Verhältnis gesetzt. Ein Blick auf die Gliederung des nach fast zwanzigjähriger Bauzeit fertiggestellten Völkerschlachtdenkmals soll das veranschaulichen.53 Der Unterbau des Denkmals birgt eine von acht Säulen getragene Krypta. Zu beiden Seiten von acht hohen Schicksalsmasken stehen trauernde Krieger. Sie halten die Totenwacht. Zwei der Masken haben die Augen geöffnet, die nächsten beiden schließen sie mehr und mehr, und die vierte hat die Lider völlig gesenkt - das Brechen der Augen zeugt vom Todeskampf der Getöteten. Das Denkmal soll also ein Ehrenmal für die Gefallenen der Völkerschlacht sein, allerdings nur für die deutschen Opfer. Die Gleichheit der gefallenen Gegner im Tode wird im Völkerschlachtdenkmal zurückgenommen zugunsten einer postulierten Geschlossenheit der Nation. Selbst den ehemaligen Verbündeten gilt das Denkmal nicht.54 Der vergangene Tod soll der Nationsvorstellung der Gegenwart einen sakralen Charakter 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

verleihen. Deshalb ist die Krypta auch nach oben offen, sie fuhrt zum Mittelbau, der tempelartigen »Ruhmeshalle des deutschen Volkes«, in der vier kolossale Figurengruppen die vermeintlich spezifisch deutschen Volkstugenden symbolisieren: Opferfreudigkeit, Tapferkeit, Glaubensstärke und Volkskraft. Diese Figurengruppen vollziehen in ihrer Monumentalität und Blockhaftigkeit auch stilistisch die Abkehr vom naiv-historistischen Geschmack des Wilhelminismus. Im Kuppelbau wird schließlich die dritte Funktion des Denkmals deutlich: Es soll Mahnzeichen für kommende Geschlechter sein. Im Inneren der Kuppel sind in elf konzentrischen Kreisen insgesamt 324 Reiterfiguren aneinandergereiht, die den »Siegeszug der heimkehrenden Krieger« symbolisieren.55 Außen trägt der Kuppelbau rundherum zwölf je zwölf Meter hohe, weithin sichtbare Kriegergestalten als Hüter der erkämpften Freiheit. Sie ähneln Hugo Lederers BismarckStatue in Hamburg; vollkommen typisiert, stehen diese Wächterfiguren gleichsam wie mittelalterliche Recken auf ihre Schwerter gestützt da. Die Kritik an der wilhelminischen Gegenwart, die im Opfer- und Leidenspathos des Denkmals vorschien, speiste sich aus den im Mythos »Völkerschlacht« vorgegebenen Erfahrungen, aber die damit verknüpften Erwartungen äußerten sich nicht in konkreten politischen Zielvorstellungen.56 Die linksliberale Wochenschrift »Die Hilfe« sah diese politische Blindstelle sehr genau und warnte 1913, daß ungeachtet aller nationalen Rückbesinnung »nicht die Zukunft vergessen« werde: »So sollten die Zentenarfeiern auch vor allem daran erinnern, daß das damals heldenhaft begonnene Werk heute noch Stückwerk ist; das Gedächtnis von 1813 sollten die preußischen Wähler von 1913 durch eine neue Volkserhebung feiern, die endlich aus dem Wähler dritter Klasse den Bürger macht.«57 Ironisch fragte Friedrich Naumann in Anspielung auf den bekannten Aufruf von Friedrich Wilhelm III. vom März 1813, ob es bei einem künftigen Krieg in Preußen heißen solle: »An die drei Klassen meines Volkes«?58 Im nationaldemokratischen, aber völkisch gewendeten Nationalismus, wie er etwa vom »Patriotenbund« verfochten wurde, besaß der Volksbegriff keine unmittelbare politische Stoßrichtung, auch wenn er nicht an politischer Brisanz verlor. So hieß es etwa bei Ernst Lissauer, der nach Kriegsausbruch mit seinem »Hassgesang« gegen England zu trauriger Berühmtheit gelangte: »1813 war im tiefsten der Aufstand des lebendig Irrationalen wider die tötende Ratio. Und eben diesen Kampf wird unsre Zukunft gegen unsre Zeit auszukämpfen haben.«59 »Volk« und »Volkstum« lagen jenseits konkreter politischer Auseinandersetzungen, über dem »öden Parteiengezänk«60 der wilhelminischen Gegenwart. Das »Volk« wurde nicht als politisches Subjekt, sondern als Objekt transzendenter Größen verstanden, es ist zerstritten und daher leidend, passiv und erlösungsbedürftig.61 125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Es überrascht kaum, daß sich daher auch, zweitens, in den vielen Festreden ein Rückgriff auf die heilsgeschichtliche Semantik von 1813/14 findet. Wieder wurden die deutschen Staaten, aber besonders Preußen, vor dem »Entscheidungsjahr« 1813 als schwächlich und erniedrigt beschrieben. Von »Fäulnis« war der preußische Staat angeblich durch die Aufklärung und den Kosmopolitismus »zerfressen«. Nach der »Erniedrigung des preußischen Volkes« durch Napoleon mußte »die alte Ordnung ganz zusammenbrechen, mußte alles in den Tod gehen, damit aus dem Tode neues Leben geboren werden konnte«.62 Im Tod für das Vaterland kam die Nation zu sich selbst,63 erfolgte die gottgewollte »Wiedergeburt« des deutschen Volkes. Die Klassen-, Konfessions- und politischen Gegensätze der wilhelminischen Gegenwart wurden mit der Zeit der »Erniedrigung« vor 1813/14 gleichgesetzt: »In blinder Selbstsucht denkt jeder nur an sich selbst und nicht an das Wohl der Gesamtheit. Parteigeist, Glaubenshaß und Klassenhaß verzehren die besten Kräfte des Volkes ... Und ist es nicht schon so weit gekommen, daß Patriotismus und Vaterlandsliebe in weiten Kreisen des Volkes geächtete und entweihte Begriffe sind? In internationaler Schwärmerei wird der Feind geliebt, um das Recht zu haben, die deutschen Brüder zu hassen. Deutsches Volk, erwache! Schau zurück auf die Schmach und Schande früherer Zeiten, Blicke auf das Vorbild deiner Heldenväter, und du wirst den richtigen Wegfinden,auch die sozialen Kämpfe siegreich durchzukämpfen, damit ein neuer Völkerfrühling dir erstehe.«64 Schließlich war, drittens, in der heilsgeschichtlichen Semantik vom erlösungsbedürftigen Volk die Feindschaft nach außen, aber auch der eingrenzende Anspruch nach innen (nunmehr gegen die Sozialdemokratie) enthalten. Das Gefühl der äußeren, aber auch der inneren Bedrohung war allgegenwärtig, wurde jedoch nicht mehr wie noch wenige Jahre zuvor mit dem Anspruch auf Weltgeltung beantwortet, sondern eher defensiv als Einkesselung empfunden. Das vorn beschriebene Opfer- und Leidenspathos des Völkerschlachtdenkmals veranschaulichte diesen defensiven Nationalismus weiter Teile des Bürgertums. Nicht von der Verherrlichung des Krieges zeugten das Denkmal und die Einweihungsfeierlichkeiten von 1913, sondern von einer unbestimmten Kriegserwartung, in der die Furcht vor einem Krieg mit der eschatologischen Hoffnung auf eine völkische »Wiedergeburt«, eine »Erlösung«, eine »Auferstehung« in einem neuen Befreiungskrieg eine spannungsvolle Verbindung einging.

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IV. Es wäre ein Mißverständnis zu meinen, daß die Kriegserwartung, die sich auf den Gedenkfeiern der Völkerschlacht im Jahre 1913 artikulierte, gleichsam im Fieberwahn wenige Monate später zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Vielmehr war sie eine Voraussetzung dafür, daß die Übernahme des Kriegsrisikos im Juli 1914 für die wilhelminische Führungselite ohne innenpolitische Auseinandersetzungen möglich war. Nach dem Kriegsausbruch wurden zwar die »Jubelfeiern« von 1913 als unmittelbare Einstimmung auf den Krieg aufgefaßt: »Wie eine Vorbereitung der Herzen und Seelen war es, als wir im vergangenen Jahr die Erinnerungsfeste an den Befreiungskrieg feierten, eine Vorbereitung für den neuen Befreiungskrieg von 1914«,65 doch sollte diese nachträgliche Sinngebung nicht über die Offenheit der historischen Situation hinwegtäuschen. Gleichwohl, und damit komme ich auf die eingangs gestellte Frage zurück, läßt sich insbesondere für die ersten Monate nach Kriegsausbruch zeigen, wie die neuen Erfahrungen mit Erwartungen gefüllt wurden, die sich auch aus den langfristigen semantischen und symbolhaften Vorgaben der Erinnerung an den Mythos von 1813 ergaben.66 So hält etwa der Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch die Stimmung unmittelbar nach Kriegsausbruch mit den Worten fest: »Ich denke: Wenn wir fallen, schlagen wir vorher Europa zusammen, und es stürzt über uns; wenn wir uns aber behaupten, so erwächst uns ein großes Glück aus diesem Krieg: höhere Brüderlichkeit im Volk.«67 Während Klemperer unreflektiert auf die heilsgeschichtliche Sprache von 1813/14 zurückgreift, stellt Friedrich Meinecke die »deutsche Erhebung von 1914« bewußt in die Tradition von 1813. Nun hat »der Tod für das Vaterland, dieses uralte Opfer ... für uns wieder einen neuen und ewigen Sinn erhalten«. Der Opfertod für das Vaterland »bedeutet einen heiligen Frühling für ganz Deutschland. Wir sind uns wieder gewiß geworden. Wir waren in den Jahren vorher anscheinend ganz unheilbar gespalten und oft ganz müde und verzagt über den unseligen Klassen- und Konfessionshaß und die Bedrohungen unseres Geisteslebens. Nun sind wir mit einem Schlage hinausgehoben über alle Schranken, eine einzige, mächtige, tief atmende Gemeinschaft des Volkes auf Leben und Tod.«68 Solche Beispiele, die sich leicht vermehren ließen, verdeutlichen, wie die wiederholbaren Strukturen nationaler Erinnerung mögliche Handlungsmaximen für die Zukunft vorgeben können. Die politische Sinnstiftung des Krieges erfolgte in der semantischen Kontinuität von 1813/14, die eigenen Handlungsmöglichkeiten wurden auf Untergang oder Wiedergeburt der Volks- und Schicksalsgemeinschaft verengt. Ein Blick auf die Gedenkfeiern der Völkerschlacht bis 1914 hat, hoffe 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ich, deutlich gemacht, daß es zu kurz greifen würde, die Sprache, die Bilder und Rituale nationaler Mythen nur als Hülsen politischer und sozialer Zielvorstellungen zu begreifen, wie es umgekehrt naiv wäre, nationale Mythen beim Wort zu nehmen und ihnen ein eigenständiges Telos zuzuschreiben. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die Differenz, die zwischen ›Mythos‹ und ›Realität‹ des Nationalismus besteht, für die verschiedenen Zeiten immer neu zu bestimmen, sie ins Verhältnis zu setzten, ohne das eine auf das andere zu reduzieren.

Anmerkungen 1 Vgl. V. Turner, Myth and Symbol, in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 10, New York 1968, S. 5 7 6 - 5 8 2 , hier S. 576. Aus der umfangreichen Literatur zum Mythos-Begriff vgl. zuletzt D. Harth, Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens, in: Ders. u. J . Assmann (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt/M. 1992, S. 9 - 3 5 . 2 Ich folge hier z.T. Überlegungen R. Kosellecks zum Verhältnis von Sprache und Geschichte, etwa in: Ders., Sprachwandel und Ereignisgeschichte, in: Merkur 43, 1989, S. 6 5 7 - 6 7 3 ; Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989. Vgl. dazu auch ].E. Toews, Intellectual History after the Linguistic Turn, in: American Historical Review 92, 1987, S. 8 7 9 - 9 0 7 . 3 Vgl. R. Koselleck u.a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: O. Brunner u.a. ( H g . ) , Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 147. 4 Vgl. D. Düding, Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste des 19. Jahrhunderts, in: Ders. u.a. ( H g . ) , Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Frsten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 6 7 - 8 8 . Zu den Anfängen des deutschen Nationalismus vgl. mit Literaturübersicht: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftseeschichte, Bd. 1: 1700-1815, München 1989 2 , S. 5 0 6 - 5 3 0 . 5 E.M. Arndt, Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, Frankfurt/M. 1814, S. 11. 6 Ebd., S. 15. 7 G.L.W., Das Fest aller Teutschen, in: Nemesis 3, 1814, S. 1 3 2 - 1 3 8 , hier S. 133. 8 Vgl. E. Weber, Lyrik der Befreiungskriege ( 1 8 1 2 - 1 8 1 5 ) . Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991. 9 Vgl. hierzu auch V. Sellin, Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhunden, in: J . Assmann u. T. Hölscher ( H g . ) , Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 2 4 1 - 2 6 4 . 10 G.L. Müller, Rede, gehalten auf dem Feldbergc, in: Der feyerlichen Nacht vom 18ten auf den 19ten October 1814, Frankfurt/M. 1814, S. 10f. 11 Vgl. hierzu G. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Hin Beitrag zur Säkularisation, Wiesbaden 1971. 12 T.F. Tiede, Zwei Predigten. 1. Die Weyhc der Landwehr, 2. Der Sieg bey Leipzig, Heidelberg 1814, S. 30f. 13 Vgl. grundlegend M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1 7 9 2 - 1 9 1 8 , Stuttgart 1992, insb. S. 7 6 - 9 4 .

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14 Düding, Nationalfest, S. 77. 15 O. Krenzer, Die Jahresfeier der Völkerschlacht bei Leipzig in Bamberg am 18. und 19. Oktober 1814, in: Bericht und Jahrbuch des Historischen Vereins ... zu Bamberg 7 1 , 1 9 1 3 / 14, S. 9 5 - 1 2 2 , hier S. 112. 16 Vgl. jetzt auch A. Dörner, Die symbolische Politik der Ehre. Zur Konstruktion der nationalen Ehre in den Diskursen der Befreiungskriege, in: L. Vogt u. A. Zingerle (Hg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M. 1994, 7 8 - 9 3 , hier S. 84. 17 Zu den verschiedenen Entwürfen für ein Völkerschlachtdenkmal im 19. Jahrhunden vgl. P. Hutter, »Die feinste Barbarei«. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig, Mainz 1990; M. Lurz, Lieblich ertönt der Gesang des Sieges. Projekte und Denkmäler der Völkerschlacht bei Leipzig 1814-1894, in: Kritische Berichte 16, 1988, S. 17-32 u. 17, 1989, S. 2 2 - 3 8 ; U. Bischoff, Denkmäler der Befreiungskriege in Deutschland 1 8 1 3 - 1 8 1 5 , Berlin 1977. 18 Auf umfangreiche Nachweise der zeitgenössische Berichte über die Völkerschlachtfeiern wird im folgenden verzichtet. Diese finden sich - wie auch eine Zusammenstellung der Festpredigten seit 1813 - bei G. Loh, Die Völkerschlacht bei Leipzig. Eine bibliographische Übersicht, Leipzig 1963. 19 Vgl. M.J.C. Dolz, Versuch einer Geschichte Leipzig's von seinem Entstehen bis auf die neuesten Zeiten, Leipzig 1818, S. 488ff. 20 Ludwig Hussell ( 1 7 7 2 - 1 8 1 8 ) beschrieb die Situation im November 1813 wie folgt: »Dem kältesten Verstand mußte schwindeln und die unerschütterlichste Gegenwart des Geistes bankerott werden, wenn sie den Knäul erblickten, der hier zu entwirren war. Man sah nirgends einen Anfang noch ein Ende. Die Stadt war mit Leichen bedeckt, die Flüsse von Leichen gedämmt. Tausende Hände waren nötig, diese Pestmaterialien wegzuschaffen und zu verscharren, ohne das man daran denken durfte, das Schlachtfeld von Leipzig selbst aufzuräumen.« L. Hussell, Leipzigs Schreckenstage während der Völkerschlacht. Nach eigenen Erlebnisse und Anschauungen dargestellt, Leipzig 1863 4 , S. 55; dank frdl. Hinweis von Wolfgang Ernst. 21 Vgl. H. Zwahr, Leipzig im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft ( 1 7 6 3 - 1 8 7 1 ) , in: Neues Leipzigisches Geschichts-Buch, Leipzig 1990, S. 132-179. 22 Die Feier des 18. und 19. Oktobers in Sachsen, in: Allgemeine Zeitung 132, 1814, S. 517. 23 An den Siegesfeiern von 1813 hatte noch die gesamte Generalität der verbündeten Staaten, wie auch der Freiherr vom Stein teilgenommen. Vgl. Predigten über die Schlacht bey Leipzig, in: Leipziger Literatur-Zeitung Dezember 1813, Sp. 2 5 7 9 - 2 5 8 4 . 24 Vgl. E. Kroker, Aus der Geschichte und aus den Akten des Vereins zur Feier des 19. Oktobers, in: Leipziger Kalender 1913, S. 9 7 - 1 0 7 ; R. Naumann, Zum 19. October 1864. Festschrift den Mitgliedern des vor fünfzig Jahren am 19. October 1814 gegr. Vereins zur Feier des 19. Octobers gewidmet, Leipzig 1864. 25 Vgl. A. Mahlmann, Rede, gesprochen am 19. October [1814] in Gegenwart Sr. Durchlaucht des Herrn Fürsten Repnin ... bei der Stiftung der zur Feyer der Rettung von Leipzig vereinigten Gesellschaft, hg. ν. Ε. Wiegandt, Leipzig 1910. 26 Erste Jahresfeyer des 19ten Oktobers 1813, in: Leipziger Tageblatt 305, 1. 11. 1814, S. 1217fr. 27 Ein Rückblick auf die Jubelfeier der Völkerschlacht bei Leipzig, in: Deutsches Museum 13, 1863, II, S. 7 1 3 - 7 1 9 , hier S. 719. Vgl. auch: Die Jubelfeier der Befreiungskämpfe, in: Preußische Jahrbücher 12, 1863, S. 6 4 - 8 2 ; W. Veit, Die Leipziger Gedenkfeier der Völkerschlacht, in: ebd., S. 3 8 7 - 3 9 2 ; Tagebuchblätter vom Leipziger Fest, in: Grenzboten 2 2 , 1863, S. 161-173; Nach dem Befreiungskampfe, in: ebd., S. 2 1 3 - 2 1 7 . 28 Abgedr. bei J. Gensel, Zwei Briefe zur Jubelfeier der Völkerschlacht 1863, in: Der Leipziger 3 / 4 1 , 1908, S. 1223f.

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29 Vgl. Neuestes Programm, ausführliche Festzugs-Beschreibung & Fest-Lieder zum Octoberfest in Leipzig 1863 am 18. und 19. October, Leipzig 1863. 30 Illustrirte Zeitung 4 1 / 1 0 6 1 , 1863. 31 Ebd. 32 Der Spruch erschien zuerst auf Schinkels Kreuzberg-Denkmal in Berlin ( 1 8 1 9 - 2 2 ) . Zit. nach R. Koselleck, Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftung der Überlebenden, in: O. Marquard u. K. Stierle ( H g . ) , Identität, München 1979, S. 2 5 5 - 2 7 5 , hier S. 262. 33 Specielle Fest-Reden zur Octoberfeier in Leipzig 1863 am 18. und 19. October, Leipzig 1863, S. 7. 34 A. Traeger, Prolog zur Hermannsschlacht, in: Specielle Fest-Reden, S. 3. 35 So der Mannheimer Bürgermeister Aschenbach in einer Festrede, abgedr. in: Deutsche Allgemeine Zeitung 2 4 6 , 21.10.1863. 36 B.B. Brückner, Die Befreiung des deutschen Vaterlandes. Predigt bei der Gedenkfeier der Leipziger Völkerschlacht am 20. Sonntag nach Trinitatis 1863 gehalten, Leipzig 1863, S. 310. 37 Ebd., S. 320. 38 Deutsche Allgemeine Zeitung 2 4 6 , 21.10.1863. 39 Illustrirte Zeitung 4 1 / 1 0 5 6 , 1863. 40 Specielle Fest-Reden, S. 4. 41 Tagebuchblätter vom Leipziger Fest, in: Grenzboten 22, 1863, S. 161-173, hier S. 164. 42 M. Zille, Die Jubelfeier der Völkerschlacht bei Leipzig, in: Freimaurer-Zeitung [Leipzig] 17/42, 1863, S. 3 3 1 . 43 Ebd. 44 Vgl. S.-L. Hoffmann, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, in: R. Kosellcck u. M. Jeismann ( H g . ) , Der Politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 2 4 9 - 2 8 0 . 45 Stadtarchiv Leipzig (im folgenden StAL), Kap. 35, Nr. 1775, Protokollbuch des Deutschen Patriotenbundes, Gesamtausschußsitzung v. 30.5.1894, Ausschußsitzung v. 15.3.1895. 46 Vgl. R. Bachmann, Männer der Tat, in: Freimaurer-Zeitung 17/42, 1913. 47 Rede des bekannten Kirchenrechtlers Rudolf Sohm auf der Feier zum 18. Oktober 1894 im Krystall-Palast zu Leipzig, abgedr. in: Leipziger Tageblatt, 19.10.1894. Zuerst in den 1890er Jahren geprägt, wird diese Formel zum Leitgedanken der Denkmalseinweihung von 1913. Vgl. A. Spitzner, Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, Das Ehrenmal seiner Befreiung und nationalen Wiedergeburt. Weiheschrift des Deutschen Patriotenbundes, I eipzig 1913, S. 34: »Auf Leipzig folgte Sedan; auf den Geburtstag des deutschen Volkes folgte der Geburtstag des Deutschen Reiches.« 48 Spitzner, Weiheschrift, S. 14. 49 Gedicht von Victor Blüthgen, abgedr. in: Mitteilungen des Deutschen Patriotenbundes zur Errichtung eines Völkerschlacht-Denkmals bei Leipzig 5/18, 1899. 50 Zu diesem Gegensatz einer nationaldcmokratischcn und einer nationalmonarchischen Seite in der politischen Symbolik des Kaiserreiches vgl. Γ. Schieder, Das Deutsche K aiserreich von 1871 als Nationalstaat, hg. v. H.-U. Wehler, ND Göttingen 1992, S. 8 1 - 9 5 . 51 Vgl. auch K. Tenfelde, Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: HZ 2 3 5 , 1982, S. 4 5 - 8 4 . 52 Die Weihe des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig am 18. Oktober 1913, Sonderabdruck aus dem Leipziger Tageblatt, 18.10.1913, S. 37; dort findet sich auch eine ausführliche Schilderung der Feier. Vgl. ferner StAL, Kap. 7 1 , Nr. 63, Akten die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals am 18.10.1913 betr. Auf die Bedeutung der Jahrhundertfeiern von

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1913 hat zuerst hingewiesen: W. Siemann, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: Düding ( H g . ) , Festkultur, S. 2 9 8 - 3 2 0 ; vgl. ferner: S. Poser, Die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht und die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals zu Leipzig 1913, in: K. Keller (Hg.), Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig, Leipzig 1994, S. 196-213. Die Distanz zwischen dem Kaiser und den Denkmalsinitiatoren wurde in der französischen Presse positiv gelesen: Der Kaiser, »der nach dem Geschmack der Pangermanisten viel zu pazifistisch ist«, habe sich offenbar bewußt einer antifranzösischen Vereinnahmung entzogen, denn »wenn er geschwiegen hat, dann sicher wohlüberlegt«. P. de Quireille, Α Leipzig. Impressions d'Allemagne, in: Le correspondant, 10. 11. 1913, S. 464; dank frdl. Hinweis von Friedemann Schmoll. 53 Zum Völkerschlachtdcnkmal vgl. T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jh., in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133-173, insb. S. 163ff.; ausführlicher: Hutter, »Die feinste Barbarei«; T. Topfstedt, Das Völkerschlachtdenkmal Konzeption, Baugeschichte, Baugestalt, in: E. Ullmann ( H g . ) , »Die ganze Welt im kleinen ...«. Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig, Leipzig 1989, S. 2 4 8 - 2 6 1 ; Ders., Anmerkungen zur Monumentalskulptur des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, in: Wien und die Architektur des 20. Jh., Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Bd. 8, Wien 1983, S. 6 5 - 7 1 ; E. Bachmann, Die Völkerschlacht, Das Völkerschlachtdenkmal und sein Erbauer Clemens Thieme, Leipzig 1938. 54 »... allein wir dürfen uns mit vollem Rechte in der Frage der Errichtung eines Völkerschlacht-Denkmals, ohne die Gefühle hoher Dankbarkeit gegen unsere einstigen Verbündeten zu verletzen, auf den rein nationalen Standpunkt beschränken, denn den Korsen hat hauptsächlich deutsche Kraft gefallt.« A. Spitzner, Das Völkerschlacht-National-Denkmal, das Denkmal der Befreiung und der nationalen Wiedergeburt, Denkschrift des Deutschen Patriotenbundes, Leipzig 1897, S. 6. 55 Der Patriot 1 9 / 9 , 1913, zit. nach Hutter, »Die feinste Barbarei«, S. 179. 56 Vgl. auch W. Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , in: GG 16, 1990, S. 2 6 9 - 2 9 5 . 57 Die Hilfe 19, 1913, S. 78. 58 Ebd., S. 2 7 5 . 59 E. Lissauer, 1813 und Wir, in: Die Tat. Sozialreligiöse Monatsschrift für deutsche Kultur 5, 1913/14, S. 9 0 - 9 8 , hier S. 9 8 ; vgl. auch Ders., 1813. Ein Cyklus, Jena 1913. 60 Rede des Rektors der Leipziger Universität Kömmel 1896 auf dem Festcommers des »Patriotenbundes« zur Feier des 18. Oktober, in: Leipziger Tageblatt, 20.10.1896. 61 Koselleck, Volk, S. 4 0 9 f . 62 K. Weiß, 1813 und Wir, in: Freimaurer-Zeitung 67, 1913, S. 2 0 1 . 63 Jeismann, Vaterland, S. 35. 64 Rede von Clemens Thieme auf der Gedenkfeier zum 90. Jahrestag der Völkerschlacht, 18. Oktober 1903, abgedr. in: Der Patriot 9/12, 1903. 65 J.E. Frhr. v. Grotthuss, Prophetisches vor hundert Jahren, in: Der Türmer 17, 1 9 1 4 / 1 5 , S. 4 0 3 - 4 0 5 , hier S. 403f. (zit. nach W. Wülfing u.a., Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1 9 9 1 , S. 191). Auch der »Patriotenbund« bilanzierte nach Kriegsausbruch seine Arbeit in diesem Sinn: »Die Denkmalsweihe am 18. Oktober 1913 hat vorbereitend und bahnbrechend gewirkt für die jetzt zu Tage getretene Einmütigkeit des Volkes, denn sie schuf in der sorglosen Zeit des Friedens einen Höhepunkt, der dem Volke seinen eignen Wert im Lichtglanz der Sittlichkeit zeigte.« R. Bachmann, in: Der Patriot 2 0 / 1 1 , 1914. 66 Vgl. auch M. Hettling u. M. Jeismann, Der Weltkrieg als Epos. P. Witkops Kriegsbriefe gefallener Studenten, in: G. Hirschfeld u.a. ( H g . ) , Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 175-198.

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67 V. Klemperer, Curriculum Vitae. Jugend um 1900, Bd. II, Berlin 1989, S. 182 (zit. nach M. Hettling, Die Nationalisierung von Kunst. Der »Fall Hodler« 1914, in: Ders. u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte?, München 1991, S. 2 1 5 - 2 2 4 , hier S. 219). 68 F. Meinecke, Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: Ders., Die deutsche Erhebung von 1914, Stuttgart 1914, S. 9 - 3 8 , hier S. 28f. Der Nachklang der Gedenkfeiern von 1913 tritt hier deutlich zu Tage. Meinecke selbst hatte 1913 in einer Festrede an der Universität Freiburg gesagt: »So sind wir auch in unserer inneren Entwicklung in eine Gefahrenzone eingetreten, deren Ausgang im Dunklen liegt, und indem wir die Siege von 1813 feiern, zieht uns die Verwandtschaft der Stimmungen mehr zu jenen zukunftsschwangeren, ahnungsreichen Vorjahren vor 1813, wo Winter und Frühling miteinander im Kampfe lagen, die innersten Kräfte der Nation noch verhüllt waren und alles Große unter dem Drucke eines ungewissen Schicksals geschaffen wurde. Die eigentlichen Schlachtfelder unserer Zeit liegen noch vor uns, nicht hinter uns. Darum vergeht uns auch heute die Neigung zum Prunken und Prahlen. Dafür ergreift uns eine starke und heilige Liebe zu dem wunderbaren ... Genius unseres Volkes, und mit tiefem Ernste fassen wir den Entschluß, für ihn zu leben oder zu sterben.« (Ders., Deutsche Jahrhundertfeier und Kaiserfeier, in: Ders., Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1918, S. 21-40, hier S. 39).

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GERD KRUMEICH

Jeanne d'Arc von Deutschland aus gesehen Jeanne d'Arc hat die Deutschen schon immer interessiert. Ihre Persönlichkeit ist in der kollektiven Erinnerung so stark verwurzelt, daß zu ihrer Person auch aphoristische Anmerkungen ohne weiteres verstanden werden. So beispielsweise wenn, wie vor einiger Zeit im »Spiegel«, eine Computerfirma ohne weitere Erläuterungen ein Bild von einer jungen Frau mit einer Fahne publiziert, das nur durch den Werbespruch erklärt wird: »Früher wurde man verbrannt, wenn man für die Freiheit kämpfte - heute wird man dafür belohnt ...!« Auf die Nennung des Namens von Jeanne d'Arc wird verzichtet; gleichwohl scheint man in der entsprechenden Werbeagentur sicher gewesen zu sein, daß das Publikum die ›Message‹ versteht: Eine junge Frau - eine Fahne - die Freiheit - verbrannt-werden Jeanne d'Arc. Es gibt also offensichtlich eine latente Präsenz Jeanne d'Arcs in Deutschland, eine Rekanntheit, die selbstverständlich auch durch eine kontinuierliche literarische Bearbeitung dieser Gestalt in deutscher Sprache zu erklären ist. Auf dem deutschen Buchmarkt liegen augenblicklich zwei verschiedene Ausgaben des Jeanne d'Arc-Prozesses in Taschenbuchform vor.1 Außerdem sind mehrere Biographien, teils deutscher Herkunft, teils Übersetzungen aus dem Französischen oder dem Englischen, im Buchhandel verfügbar.2 Es gibt darüber hinaus auch eine Reihe von Untersuchungen über die literarische Präsenz Jeanne d'Arcs in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert, vor allem die Arbeiten von Rieger, Graus und Sello.3 Auf diese wird im folgenden zurückgegriffen, wobei allerdings meine Überlegungen in eine etwas andere Richtung zielen. Nicht so sehr von der deutschen Erinnerung an Jeanne d'Arc soll die Rede sein, sondern es soll versucht werden, eine Art deutsch-französischer Geschichte dieser Erinnerung zu skizzieren. Tatsächlich zeigt sich, daß die Geschichte der Vergegenwärtigung von Jeanne d'Arc im Laufe der Jahrhunderte immer auch ein Prozeß deutschfranzösischer Annäherungen, Antagonismen - jedenfalls gegenseitiger Herausforderungen und Abhängigkeiten war.4 Dabei reicht es nicht aus, die Rückwirkungen des französischen Jeanne d'Arc-Kultes auf Deutschland zu studieren. Diesen Aspekt hat es selbstverständlich gegeben, aber er 133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

genügt nicht, um die Entwicklung des Jeanne d'Arc-Bildes zu erklären. Denn man kann feststellen, daß es oft ein recht eigenständiges Interesse der Deutschen an der Jungfrau von Orleans gegeben hat, ein Interesse, das auf kurze oder mittlere Frist auch erheblichen Einfluß auf die Entwicklung des Jeanne d'Arc-Bildes in Frankreich selber ausgeübt hat. Der Fall Guido Görres, auf den ausführlich einzugehen sein wird, ist nicht mehr als das sprechendste Beispiel für einen solchen kontinuierlichen Austausch. Darüber hinaus hat Jeanne d'Arc oft als Katalysator in den Konflikten zwischen Protestanten und katholischen »Ultramontanen« in Deutschland im 19. Jahrhundert gedient, und es ist interessant zu sehen, auf welche Weise ihr Bild von diesen religiösen und politischen Querelen geformt worden ist. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Geschichte der deutschen Jeanne d'Arc-Deutung ein schönes Beispiel für die Vielgestaltigkeit deutsch-französischen Austausches im Laufe der letzten Jahrhunderte ist. Eine Vielgestaltigkeit, die als Zeichen eines wirklichen kulturellen Austausches, einer gegenseitigen Durchdringung zwischen Selbstbild und Bild des anderen verstanden werden kann. 1. Die deutschen Quellen der Geschichte Jeanne d'Arcs Bereits zu ihren Lebzeiten war Jeanne d'Arc Objekt der Neugier, der Diskussion, der Ablehnung und des Enthusiasmus in den deutschsprachigen Ländern.5 So verfugen wir über zwei Briefe in deutscher Sprache vom Juni und Juli 1429, die vor der Königssalbung von Reims geschrieben sind und die voller Begeisterung die Befreiung von Orleans und den Weg nach Reims beschreiben. Jeanne ist für diese deutschen Beobachter nicht nur Kriegsherrin, sondern sie ist zweifellos von Gott geschickt worden. Weiterhin verfugen wir über die »Propositiones pro et contra puella« des Kanonikus Heinrich von Gorkum und auf der anderen Seite den »Formicarius« des Johannes Nieder, der sich bemüht, die Untaten der Jungfrau und ihre Abhängigkeit vom Teufel zu beweisen. Wichtigste deutsche Quellen Jeanne d'Arcs aber sind einige zeitgenössische Chroniken, deren auch heute noch bekannteste die von Eberhard von Windecke ist. Es scheint, daß der Hof Karls VII. eine regelrechte Kolportage-Aktion organisiert hat, um die Taten der Jungfrau zum Ruhme des Königs von Frankreich auch im Ausland bekannt zu machen. Nur so ist zu erklären, daß sich Jeanne d'Arcs berühmter Text »Lettre aux Anglais« vom 28. Juni 1429 in einer deutschen Übersetzung in der zeitgenössischen Chronik von Windecke findet, der sie wahrscheinlich in den städtischen Archiven von Mainz vorgefunden hat. In denselben Archiven befand sich auch eine Zusammenfassung der Schlußfolgerungen der Enquete-Kommission von 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Poitiers, die darüber zu entscheiden hatte, ob Jeanne - mutmaßlich von Gott geschickt - deshalb zum König vorgelassen werden durfte. Man merkt der heute unter Fachleuten berühmten Windecke-Chronik an, daß sie guten Teils ein Echo der Neuigkeiten ist, die damals in den größeren deutschen Städten zirkulierten und die, so scheint es, auch mittels fliegender Blätter ihr Publikum erreichten. Man kann sogar feststellen, daß die damaligen deutschen Autoren mit einer einzigen Ausnahme davon überzeugt waren, daß Jeanne d'Arc tatsächlich einen Auftrag von Gott erhalten hatte. Bereits in mehreren dieser zeitgenössischen Chroniken und Briefe wird besonderer Wert auf die Tatsache gelegt, daß Jeanne d'Arc ein einfaches Mädchen niederer Herkunft ist, weshalb ihre Taten umso deutlicher als von Gott gewollt und gelenkt erscheinen. Denn Gott hat ein einfaches Mädchen aus dem Volk erwählt, um den Großen dieser Erde zu zeigen, daß in Wirklichkeit nur er allein der Herr ist. Es ist seit dem 17. Jahrhundert in dieser Hinsicht eine interessante Auseinanderentwicklung der deutschen und französischen Jeanne d'ArcTopik zu beobachten: Während noch Ende des 16. Jahrhunderts in Frankreich beispielsweise Etienne Pasquier die Auffassung vertrat, daß Jeanne d'Arc ein einfaches Kind des Volkes gewesen sei, das Gott absichtlich ausgesucht habe, um die hohen Herren zur Demut zurückzubringen, so verliert sich diese Denkrichtung in Frankreich in dem Maße, wie die Historiographie royalistischere Züge annimmt. Die Historiker des Grand Siècle (18. Jahrhundert) betrachten Jeanne d'Arc entweder als eine Erfindung der »hohen Herren«, um dem verstörten Volk durch ein vorgebliches Wunder neuen Mut zu verleihen; oder aber sie sehen Jeanne d'Arc als ein Instrument an, dessen sich Gott bedient hat, um dem französischen König im Kampf gegen die Engländer zu helfen. Paradigmatisch wird dieses Verhältnis in einer Orléaneser Predigt aus dem 18. Jahrhundert zu Ehren Jeanne d'Arcs formuliert: »Gott hat die Franzosen befreit, um dem Universum zu zeigen, daß er uns und unsere Könige beschützt. So formte sich die Macht unserer Monarchie. Mögen die vorgeblich starken Geister ihre Augen dem Lichte dieser Wahrheit öffnen.« In Deutschland hingegen ist die Jeanne d'Arc-Tradition niemals in diesem Sinne royalistisch geworden, was wohl der Tatsache zuzuschreiben ist, daß sich hier eine in gleicher Weise absolute Monarchie nicht hat entwickeln können. So wird insgesamt in der deutschen Historiographie stärker als in derjenigen Frankreichs die Erinnerung an Jeanne d'Arc, das Mädchen aus dem Volk, aufrecht erhalten, welches Gott ausgesucht hat, um zu zeigen, daß er jederzeit fähig ist, die Eiche mit einem Schilfrohr zu fällen.

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2. Im Bannkreis von Schiller Schillers »Jungfrau von Orleans«, die als »romantische Tragödie« eine unmittelbare Antwort auf Voltaires »Pucelle« sein wollte, hat sowohl in Deutschland als auch in Frankreich einen überragenden Erfolg gefeiert. Nicht weniger als 241 verschiedene Inszenierungen lassen sich in den Jahren 1802 bis 1843 zählen. Man muß betonen, daß dieses Theaterstück, wenngleich in den historischen Einzelheiten wenig korrekt (die Jungfrau fällt auf dem Schlachtfeld), das unbestrittene Verdienst besessen hat, auch in Frankreich ein riesiges öffentliches Interesse für die Jungfrau von Orleans zu wecken, welches dann auch die historische Forschung neu angeregt hat. Man muß sich fragen, warum diese romantische Tragödie trotz ihrer so offenkundigen Verzerrungen der Fakten einen so überwältigenden Erfolg verbuchen konnte. Die zeitgenössischen Kritiken zeigen, daß das damalige Publikum sehr wohl begriff, daß Schillers Aussage trotz aller Unstimmigkeit in den Fakten das grundsätzlich Wichtige an der Geschichte Jeanne d'Arcs vollständig traf: Nach langem Zögern und Hemmnissen aller möglichen Art führt Jeanne ihren Kampf um die Freiheit fort, und sie stirbt, nachdem sie die Soldaten auf das Schlachtfeld geführt und damit ihre Mission, Frankreich zu befreien, erfüllt hat. Ganz offensichtlich hat das durch Schillers Tragödie erweckte Interesse des Publikums auch sofort zu einer Reihe von Übersetzungen zeitgenössischer französischer Werke bzw. zu deren Adaptation für den deutschen Leser geführt. Bereits im Jahre 1802 erschien eine Geschichte Jeanne d'Arcs von einem anonymen Autor, der, wie er einleitend sagte, dem durch das Schillersche Stück geweckten Publikumsinteresse weiteres historisches Material zuführen wollte. In diesem Fall handelte es sich um die Arbeit des französischen Gelehrten L'Averdy, der Ende des 18. Jahrhunderts eine Übersicht und kritische Diskussion der Hauptprozeßakten verfaßt hatte, die allerdings in Frankreich wenig bekannt geworden war. Eine solche Übersetzung und Adaptation französischer Quellentexte für das durch Schillers Tragödie an der Geschichte Jeanne d'Arcs interessierte deutsche Publikum findet sich auch bei Friedrich Schlegel, der im Jahre 1802 eine Übersetzung einiger Quellenstücke aus den »Choix de chroniques« von Denis Godefroy aus dem Jahre 1661 herausgab und damit auch diesen Klassiker der französischen Jeanne d'Arc-Forschung in Deutschland bekanntmachte. Dies war insofern von besonderer Bedeutung, als Godefroys Kompilation bis in die 1830er Jahre hinein die einzige einem breiteren Publikum zugängliche Quellensammlung über das Leben Jeanne d'Arcs darstellte. Ein weiteres interessantes Produkt dieser neuen Quellenvergewisserung war die Arbeit von La Motte Fouqué, eines Autors französischer Herkunft, dessen Familie im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Hugenottenauswanderung nach Preußen gelangt war. Dieser Schriftsteller publizierte 1826 eine Adaption (und nicht, wie er behauptet, eine »Übersetzung«) eines im Frankreich der Restaurationszeit berühmten Werkes, nämlich der »Histoire de Jeanne d'Arc« von Lebrun de Charmettes. Dieses Werk, aus dem Geist der Restauration geboren und auch von staatlicher Seite gefördert und lanciert, war gleichwohl eine bedeutende wissenschaftliche Leistung, da hier zum ersten Mal seit der Kompilation von L'Averdy nahezu alle bis dato bekannten Quellen der Geschichte Jeanne d'Arcs verwertet wurden. Lebruns Arbeit repräsentierte noch bis Mitte des Jahrhunderts das Maß der Jeanne d'Arc-Kenntnis in Frankreich. Sein Werk wurde von nahezu allen Autoren rezipiert, auch von solchen, die Lebrun wegen seines konservativ-monarchischen Duktus verabscheuten. Die Übertragung von La Motte Fouqué aus dem Jahre 1826 bedeutete, daß auch das deutsche Publikum nunmehr über die Mehrzahl der bis dahin publizierten Quellen zur Geschichte Jeanne d'Arcs verfügen konnte. Es läßt sich also sagen, daß ungefähr ab 1800 Jeanne d'Arc durch die diversen Quellenübersetzungen und -adaptationen für das deutsche Publikum auf eine neue Weise präsent wurde. Die in dieser Zeit in Deutschland publizierten Geschichten Jeanne d'Arcs, die alle im Sog des Schillerschen Stückes entstanden, sollen hier jedoch nicht im einzelnen vorgestellt werden. Es soll nur eine merkwürdige Ausnahme kurz erwähnt werden, eine abweichende Ansicht aus einer berühmten Feder. Tatsächlich verfaßte der Staatsrat in russischen Diensten, August von Kotzebue, Vorkämpfer der Reaktion und als solcher wenige Jahre später von einem radikalen Studenten ermordet, im Jahre 1810 eine Broschüre mit dem Titel »Die Jungfrau von Orleans als Frau und Mutter«. Um dem neuen Jeanne d'Arc-Enthusiasmus Einhalt zu gebieten, um ein Gegengewicht gegen den neuen Elan für nationales Heldentum im Widerstreit gegen konservative Großmächte zu setzen, ließ es sich Kotzebue angelegen sein, die wenige Jahre zuvor in Frankreich aufgekommene These, daß Jeanne d'Arc keineswegs auf dem Scheiterhaufen verbrannt sei, auch dem deutschen Publikum mitzuteilen. Jeanne d'Arc, so Kotzebue, sei einige Jahre nach ihrem vorgeblichen Feuertod wieder aufgetaucht und sogar von ihrem Bruder Pierre wiedererkannt worden, habe dann auch geheiratet und Kinder geboren. Es sei nur am Rande vermerkt, daß diese Geschichte der sogenannten »Jeanne des Armoises« bis heute alle paar Jahre mit Vorliebe von Revisionisten und von Hobby-Historikern neu ausgegraben und dem Publikum aufgetischt wird.

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3. Guido Görres Was also trotz aller literarischen und historiographischen Intensität Anfang der 1830er Jahre noch fehlte, war eine fundierte Beschäftigung mit Prozeß-Akten der Verdammungs- und Revisions-Prozesse Jeanne d'Arcs und deren Edition. Beide Prozesse waren seit dem 16. Jahrhundet im Prinzip bekannt, tatsächlich aber wenig rezipiert worden. Hier hat die deutsche historische Forschung durch das 1834 zum ersten Mal erschienene Buch »Die Jungfrau von Orleans« von Guido Görres, dem Sohn des berühmten Joseph Görres, einen orginellen Beitrag zur Kenntnis Jeanne d'Arcs geleistet.6 Sein Werk hatte einen großen Anteil daran, daß das von den französischen Romantikern der 1820er bis 1850er Jahre entworfene Bild der »Jungfrau von Orleans« auf eine quellenmäßig sichere Basis gelangte, die sich eigentlich bis heute behauptet hat. Es war somit nicht allein ein Meilenstein in bezug auf die Erforschung Jeanne d'Arcs, sondern auch im Hinblick auf die Entwicklung der deutsch-französischen Historikerbeziehungen im Umkreis der Diskussionen über die Jungfrau von Orleans. Guido Görres hatte sich auf Heiligen-Geschichten spezialisiert. Diese publizierte er, gerichtet an die Adresse der »reiferen Jugend«, regelmäßig in den »Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland«, einer Zeitschrift, die von Joseph Görres im Kampf gegen Napoleon gegründet worden war und die sein Sohn Guido bis zu seinem frühen Tode im Alter von 47 Jahren (1852) weiterführte. Im Zuge dieser recht harmlosen katholisch-romantisch inspirierten Heiligen-Vergegenwärtigungen stieß Guido auch auf die Geschichte Jeanne d'Arcs. Er wurde zu einem Jeanne d'Arc-Fanatiker, der sich mehrfach zu einer Art Pilgerreise an die Stätten der großen Taten Jeanne d'Arcs begab und hierüber auch in Briefen an seinen Vater Bericht erstattete. Seine »Jungfrau von Orleans« war in einem streng katholischen Geist geschrieben, beruhte aber auf einer für damalige Verhältnisse ganz ungewöhnlichen Quellenfülle - Quellen, die Guido Görres in der Nationalbibliothek von Paris eingesehen bzw. sich dort von einem Kopisten hatte übertragen lassen. Die Intention dieser Arbeit, die ganz dem seit dem 15. Jahrhundert etablierten Duktus der deutschen Jeanne d'Arc-Geschichtsschreibung folgte, hat der Vater Joseph Görres in einem sprachmächtigen Vorwort zur Erstausgabe dieses Werkes folgendermaßen formuliert: »Frankreich war, weil sein Zepter sich gekrümmt, und somit auch Volk und Landesordnung sich krummgezogen, auf ein Jahrhundert der Herrschaft der Engländer hingegeben. Züchtigung sollte dem Volke werden, Demüthigung seinen Königen durch die stolzen Nebenbuhler, das Verderben sollte ihnen nahetreten, aber sie sollten ihm nicht verfallen seyn, denn wie der Welttheil neuerer Zeit in Völkern sich ausgegliedert, so sollte es auf langehin sein Bewenden haben; alle Glieder, wie sie 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

wechselseitig sich bedingend in ein großes Ganze sich zusammengefügt, sollten in dieser Ordnung erhalten werden; und das innere Leben konnte nimmer mit bleibender Bemeisterung und Unterjochung des einen durch das andere bestehen. ... Zugleich war für die kommende Zeit das Reich der Franzosen zu einer Geisel und einem Sporn des Antriebs den anderen Reichen aufbehalten, und mußte, sollte es diese Bestimmung erfüllen, von der Herrschaft des Auslandes befreit, und in seiner Eigenthümlichkeit geschützt und verwahrt werden. Aber schwer war das Gericht, das über das zügellose Volk ergangen, hart darum die Noth, die das Reich heimgesucht, Menschenhilfe kann nicht retten. Der Himmel, der dieser Hilfe nicht bedarf und damit ihm die Ehre bleibe, sie nicht will, muß einen Heiland senden, und erwählt ihn zur Demüthigung der Vermessenheit unter dem schwächeren Geschlechte, zur Beschämung des Hochmuths der entarteten Großen, in den Hütten der Armuth, unter den Einfältigen endlich, die ihm noch mit gläubigem Vertrauen dienen, damit Allen klar werde, daß Unglauben und Gottlosigkeit nur das Verderben herbeiführen und tiefer und tiefer in dasselbe verwickeln, nimmer aber Rettung und Wiederherstellung bringen mögen. So tritt denn nun auf diesen Ruf jene wundersame Jungfrau in die Weltgeschichte ein.«7 Für Guido Görres ist Jeanne d'Arc durchgehend eine Heilige, ein einfaches junges Mädchen, das Gott geschickt hat, um seine Macht zu zeigen. Die Originalität der Arbeit von Görres im Vergleich vor allem mit der französischen Jeanne d'Arc-Historiographie seit dem 17. Jahrhundert liegt darin, daß hier Glaube und Macht voneinander getrennt werden. Während die katholische Tradition in Frankreich fast ausschließlich royalistische Tendenzen aufwies, war Görres keineswegs ein Royalist. Jeanne d'Arc war für ihn nicht eine Staatsmännin, wie für die Franzosen des 17. und 18. Jahrhunderts. Görres gelang es vielmehr, sowohl die deutsche katholische Tradition des Topos zu aktualisieren, als auch ihn auf eine neue Weise mit der romantischen Empfindsamkeit der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts anzureichern. Und tatsächlich gab es in Frankreich der Restauration und der Juli-Monarchie noch keine irgendwie signifikante Tendenz im Bereich der Jeanne d'Arc-Historiographie, die auf eine ähnliche Synthese von katholischer Tradition und neuer romantischer Sensibilität hinauslief. Es ist wohl dieser Tatsache zuzuschreiben, daß die Arbeit von Görres in einer auch für jene übersetzungshungrige Zeit ganz ungewöhnlich raschen Weise in Frankreich rezipiert wurde. Einer ersten Brüsseler Ausgabe aus dem Jahre 1840 folgte bereits 1843 eine Übersetzung von Bore, die noch im Jahre 1886 in leicht veränderter Form neu aufgelegt wurde.8 Forschungsmäßig brachte das Buch von Guido Görres zwei wichtige Neuigkeiten. Zunächst entdeckte er die oben erwähnte Chronik von Windecke und benutzte als eine wesentliche Quelle seiner Darstellung weiterhin die Akten des Verdammungsprozesses von 1431, die ihm in einer (allerdings recht späten Version) als Manuskript in der Königlichen Biblio139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

thek in München zur Verfügung standen. Dieser Fund war von folgenschwerer Bedeutung. Als Zeitgenosse von Michelet war Guido Görres der erste, der aus den Verdammungsprozeß-Akten die seither in keiner Lebensbeschreibung Jeanne d'Arcs fehlenden sogenannten »réponses sublimes« der Jungfrau herauszog und in seine Darstellung systematisch einbrachte. Sicherlich wurden schon vorher in den französischen Biographien die ›Kernsprüche‹ der Jungfrau verwendet, doch geschah dies auf eine eher marginale Weise, denn - und dies ist wesentlich! - die katholische und offizielle Historiographie Jeanne d'Arcs sah die Hauptquelle niemals in dem Verdammungsprozeß von 1431, sondern in dem Rehabilitationsprozeß von 1456. In diesem Rehabilitationsprozeß, der quellenmäßig in vieler Hinsicht dubios und eine Apologie sowohl der Jungfrau als auch des Königs Karls VII. darstellte, hatten diese Antworten Johannas eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Über die wirklichen Jeanne d'Arc-Zitate aus den Verdammungsprozeß-Akten fand Guido Görres zeitgleich mit, aber unabhängig von den französischen romantischen Historikern - vor allem Michelet - eine originelle, einfache und aus gesundem Menschenverstand heraus operierende und argumentierende Jeanne d'Arc, ein junges Mädchen voller Enthusiasmus, aber auch voller Vertrauen zu Gott. Tatsächlich bestand der Beitrag von Guido Görres zur Jeanne d'ArcForschung in einem regelrechten Paradigmenwechsel. In seiner Eigenschaft als deutscher Katholik mit romantischer Prägung war er fähig, den Graben zu überwinden, der zwischen der ›populären‹ Tradition einerseits und den royalistischen Überzeugungen andererseits in Frankreich bestand. Für einen französischen Royalisten hatte in der Gestalt Jeanne d'Arcs Gott sein Schwert in den Dienst des Königtums gestellt. In dieser Tradition war es undenkbar, daß etwa Jeanne d'Arc einen göttlichen Auftrag zur Befreiung der französischen Nation hatte, ohne daß dieser gleichsam über den König vermittelt worden war. Dem deutschen Katholiken hingegen, in dessen Weltbild der Royalismus nicht bestimmend war, fiel es unendlich viel leichter, eine nationale Befreiung durch Jeanne d'Arc auch ohne Intervention des Königs zu denken und in Jeanne eine aus dem Volk stammende Persönlichkeit zu sehen, deren Elan unmittelbar von Gott eingegeben war. Als dann aber der legitimistische Royalismus seit den 1850er Jahren in Frankreich langsam aufhörte, alternativlos auf den katholischen Mentalitäten zu lasten, und als auch hier die Katholiken sich allmählich für eine gleichsam populäre Sichtweise Jeanne d'Arcs öffneten, gab es für sie auf dem Buchmarkt eigentlich nur die Arbeit von Görres, die ihnen helfen konnte, eine Jeanne d'Arc zu entdecken, die sowohl populär als auch katholisch war. So kannte etwa der Bischof von Orléans, Mgr. Dupanloup, der dort seit 1849 den Jeanne d'Arc-Kult wieder stark profilierte, die Jungfrau allein über das Werk von Guido Görres. Görres' Arbeit 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

hatte in jenem für die Jeanne d'Arc-Geschichtsschreibung ohnehin so entscheidenden Moment (in den Jahren 1842-1849 erschienen die fünf Bände der sogenannten Quicherat-Edition, der ersten kompletten Ausgabe der Jeanne d'Arc-Prozesse) eine besondere Bedeutung: hier fand sich die einzige Sichtweise, die es ermöglichte, gleichermaßen eine Brücke zwischen dem romantischen Interesse für das Mädchen aus dem Volk und einer eigenständigen katholischen Annäherung zu schlagen - aus der dann in kurzer Zeit das Projekt der Kanonisierung Jeanne d'Arcs entstehen sollte. 4. Die »naturwissenschaftliche Kritik« und ihr Einfluß auf die Jeanne d'Arc-Historiographie Die Fortschritte der Naturwissenschaften ließen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Mitte der 1840er Jahre eine Reihe psychologisch orientierter Studien über Jeanne d'Arc entstehen, in deren Zentrum ihre Visionen standen. In diesem Zusammenhang wurden auch die traditionellen Überlegungen über die sogenannten Halluzinationen Jeanne d'Arcs, die bereits im rationalistischen 18. Jahrhundert äußerst verbreitet gewesen waren, auf eine zumindest vom Anspruch her wissenschaftlichere Weise wieder aufgenommen. Eine auch in Frankreich stark beachtete Arbeit über Jeanne d'Arc vom »naturwissenschaftlichen Standpunkt aus« war das Traktat »Über Visionen« von Justus Friedrich Hecker. Hecker unterschied zwischen Visionen und Halluzinationen auf der einen und zwischen Visionen und Ekstase auf der anderen Seite. Für ihn waren die Erscheinungen Jeanne d'Arcs Phantome, die von ihrer Vorstellungskraft geschaffen worden waren. Alles, was sie geleistet hatte, war Ergebnis einer übermenschlichen Geisteskraft, die noch durch ihre Visionen angereichert wurde. Jeanne, so Hecker, konnte einen solchen Sieg über die Vorstellungen ihres Jahrhunderts und über die Gegebenheiten der menschlichen Natur nur erringen, weil ihr ihre Visionen übermenschliche Kräfte verliehen. Auch die zweite große deutsche naturwissenschaftliche Arbeit über Jeanne d'Arc steht in dieser Heckerschen Denktradition. Es handelt sich um die Arbeit von Karl Hase, einem bekannten lutherischen Kirchenhistoriker. Hases Werk besaß großen Einfluß und wurde bis in die 1890er Jahre hinein vielfach neu aufgelegt. Auf der Basis einer wissenschaftlichen Psychologie, die aber auch von sehr viel Sympathie für Jeanne d'Arc geprägt ist, versucht Hase, Leben und Charakter Jeanne d'Arcs nachzuzeichnen. Für ihn ist Jeanne eine reine Jungfrau, deren psychologische Ekstase keineswegs Ergebnis mentaler Defekte, sondern Zeichen übermenschlicher Aufnahmefähigkeit ist. Im Gegensatz zu Görres nimmt Hase aber nicht 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

zum Wunder Zuflucht: Gott wird durch die psychologische Erklärung ersetzt. Hases Arbeit hat in Deutschland großen Einfluß gehabt und den protestantischen Strom der Jeanne d'Arc-Geschichte stark verbreitert. Besonders hervorgetan hat sich dabei ebenfalls Theodor Sickel, ein bekannter Spezialist der mittelalterlichen Geschichte, dessen Arbeit auch in Frankreich sehr einflußreich war. Sickel, der sich 1861 bereits auf die Pionierarbeiten Quicherats stützt, geht allerdings in seinen psychologischen Erwägungen sehr weit. Sein Hauptaugenmerk gilt den Zeugenaussagen im Verdammungs- und Rehabilitierungsprozeß, die er einer psychologischen Kritik unterwirft. Aber auch Sickel will seine Psychologie nicht reduktionistisch verstanden wissen. Jeanne d'Arc erscheint bei ihm als eine, wenn schon nicht von Gott gesandte, so doch zumindest von einem äußerst intensiven und reinen Patriotismus getragene Person. Diese deutsche historische Jeanne d'Arc-Forschung, die sich vor allem abgesehen von der »Eruditio« - auf protestantische Überzeugung und Psychologie stützte, kulminierte in der großen Arbeit »Johanna d'Arc« von Georg Friedrich Eisell aus dem Jahr 1864. Für Eisell bleibt bei aller Anerkennung der psychologischen Erklärung der Taten Jeanne d'Arcs gleichwohl ihre Inspiration durch die Gnade Gottes erhalten. Nach seiner Überzeugung sind alle ihre Handlungen von Gott gewollt und dies auf eine Weise, daß das Wunderbare als natürlich erscheint. Eisell macht sich sogar die meisten Folgerungen seines katholischen Antipoden Guido Görres zu eigen, wenngleich er diesen auch auf recht beckmesserische Weise kritisiert. Interessanterweise fand diese deutsche protestantisch-naturwissenschaftlich orientierte Jeanne d'Arc-Forschung praktisch keinen Widerhall in Frankreich, wo zur selben Zeit eine formal ganz anders operierende psychologische Forschung entstand. Dieser erstaunliche Mangel an Kontakt oder Austausch beruhte meines Erachtens darauf, daß die französische Forschung ganz überwiegend in der Tradition der »Aufklärung«, besonders Voltaires, stand und daher dem Wunderbaren in Jeannes Existenz mit aller Energie reduktionistisch widerstehen wollte. Die deutschen protestantischen Jeanne d'Arc-Exegeten hatten dagegen andere Sorgen und Interessen. Zu dem Zeitpunkt, als der seit dem Jahre 1869 in Gang gesetzte Heiligsprechungs-Prozeß Jeanne d'Arcs im »Venerabilis«-Dekret des Papstes von 1894 einen ersten Höhepunkt erreichte, kam es nämlich in Deutschland zu einer ganzen Reihe ›protestierenden‹ Schriften. Es mag hier genügen, nur auf ein ganz besonders bezeichnendes Beispiel dieser Polemik einzugehen, nämlich auf eine 29 Seiten lange Broschüre in der Reihe der »Flugschriften des Evangelischen Bundes«, die von einem gewissen Tomassin (sicherlich ein Pseudonym) herausgegeben wurde. Der Autor 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

widerspricht darin der These, daß Jeanne in Wirklichkeit doch dem Scheiterhaufen entkommen sei - eine These, die seltsamerweise in Frankreich und in Deutschland in den 1890er Jahren wieder häufig in Umlauf gesetzt wurde. Der Autor benutzt diese Frage für einen Frontalangriff gegen die katholische Kirche: Jeanne d'Arc ist sicherlich verbrannt worden und dies vor allem wegen der übergroßen Grausamkeit, die den geistlichen Würdenträgern Roms immer schon eigen war. Diese Polemik hatte allerdings unter Wissenschaftlern in Deutschland keine weitreichenden Folgen. Man kann sagen, daß in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg eine Art von Normalität in den ›Geschichtsschreibungs-Beziehungen‹ zwischen Deutschland und Frankreich im Umkreis des Jeanne d'Arc-Themas herrschte. Dies ist vor allem ein Verdienst des herausragenden deutschen Historikers Hans Prutz der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.9 Prutz war fähig, sich sowohl auf die traditionelle französische Forschung zu stützen als auch die aus der deutschen protestantischen und psychologisierenden Tradition stammenden Erkenntnisse in diesen Forschungsprozeß mit einzubringen. Mit diesem doppelten Rüstzeug und seiner feinsinnigen Quellenkritik, besonders der Briefe Jeanne d'Arcs, traf er in Frankreich auf ein ziemlich breites Interesse. Prutz bemühte sich nachzuweisen, daß die Briefe Jeanne d'Arcs in Wirklichkeit kanzleimäßig verfaßte Schriftstücke waren. Nun war dies eine nicht unbedeutende Frage und für eine Zeitlang hing tatsächlich die Weiterfuhrung des Heiligsprechungsprozesses von dieser Frage ab: Denn wenn Jeanne wirklich schreiben konnte, dann war damit bewiesen, daß sie die Abschwörungsurkunde, die sie auf dem Friedhof von St. Ouen in Rouen erhalten und mit einem Kreuz unterzeichnet hatte, in Wirklichkeit nicht unterzeichnen wollte. Das Kreuz als Unterschrift mußte dann entweder als eine Ironie oder als ein Versteckspiel verstanden werden. Wenn im Gegenteil das Kreuz ein wahrheitsgetreues Zeugnis der Zustimmung einer des Schreibens nicht mächtigen Person war, dann war bewiesen, daß Jeanne d'Arc tatsächlich ihre Stimmen widerrufen hatte. Die Heiligsprechung einer Person aber, die im Glauben geschwankt hatte, war durch die Regeln des kanonischen Rechtes untersagt. Tatsächlich überzeugte die Beweisführung von Prutz allein diejenigen, die ohnehin gegen die Kanonisierung Stellung bezogen hatten. Auch entsprach sein Räsonnement, wie wir heute wissen, nicht den Tatsachen, weil inzwischen bewiesen ist, daß Jeanne gelernt hatte, ihren Namen zu schreiben. Gleichwohl eröffnete auch hier - ähnlich wie im Falle von Guido Görres - ein deutscher Forscher eine Debatte, die dann später von französischen Historikern aufgenommen und in ihrem Ergebnis differenziert wurde.

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5. Das ›Syndrom Goyau‹ Man kann also sagen, daß der Fall Jeanne d'Arc vor allem im 19. Jahrhundert sehr viel Interesse in Deutschland gefunden hat, wobei es zu einem guten Teil gemäß dem Antagonismus zwischen katholischen und protestantischen Historikern formuliert wurde. Diese deutschen Arbeiten, deren wissenschaftliche Resultate zum Teil erheblich waren, haben auch die französische Geschichtsforschung direkt beeinflußt. Dennoch hat das Thema »Jeanne d'Arc« keineswegs insgesamt zu einer Annäherung zwischen deutscher und französischer Geschichtsschreibung geführt, sondern eher die Unterschiede zwischen beiden Seiten akzentuiert. Vielleicht ist dieser historiographische Graben auch dadurch entstanden, daß Jeanne d'Arc auf beiden Seiten immer als eine Art Spiegel benutzt wurde, in dem die vorgebliche Sicht des anderen auf die Jungfrau von Orleans propagandistisch für die Zwecke der eigenen Nation ausgebeutet wurde. Ein solches Phänomen kann man ein Syndrom nennen, dessen allgemeine Struktur in dem zum Vorschein kommt, was ich das ›Syndrom Goyau‹ nennen würde. Georges Goyau war ein großer Deutschlandspezialist, der sich während des Ersten Weltkriegs dem Kampf gegen die deutsche »Kultur« verschrieb. Im Jahre 1907 verfaßte er eine Schrift mit dem Titel »Jeanne d'Arc devant l'opinion allemande« (»Jeanne d'Arc aus deutscher Sicht«). Die in diesem Buch gewählte »deutsche Perspektive« diente Goyau tatsächlich aber nur für rein innerfranzösische Zwecke. Der Kontext dieser Schrift lag in einer Polemik gegen Thalamas, einen sich historisch betätigenden Schullehrer, der sich gegen die Heiligsprechung Jeanne d'Arcs gewandt und sie in diesem Zusammenhang zur Empörung der politischen Rechten und der Schulbehörden als eine »arme Idiotin« bezeichnet hatte. Die Affäre hatte in Frankreich großen Wirbel verursacht, den die monarchistische »Action française« für ihre Propaganda ausschlachtete. Niemals zuvor ist die Debatte um Jeanne d'Arc in Frankreich so sehr politisiert worden wie während der Jahre des »Blocks der Linken« nach der Jahrhundertwende. Zur Beilegung dieses Streites unter den Franzosen inszenierte Georges Goyau in seinem Werk gleichsam einen deutschen Schiedsrichter: »Von Schiller bis August Schlegel, von Schlegel zu Görres, von Görres zu Hase, von Hase zu Hermann Semmig hat Deutschland eine Art spielerischer Liebe zur Jungfrau von Orleans entwickelt. Dieses Liebäugeln ist für uns Franzosen oft beleidigend gewesen. Immer dann, wenn Frankreich angeklagt werden konnte, Jeanne d'Arc vergessen zu haben, dann war Deutschland da, um sie zu feiern. Wenn irgendein Franzose Jeanne diffamiert, taucht der Deutsche als ihr Beschützer auf. Man könnte sagen, daß das literarische und wissenschaftliche Deutschland, immer auf der Suche nach der antiken Velleda, einigermaßen neidisch auf die Franzosen ist, welche es 144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nicht nötig haben, in einem alten, vergangenen Heidentum nachzusuchen, wenn sie eine kriegerische Jungfrau an die Wiege ihrer Nation steilen wollen; sie brauchen nur in ihren nationalen und christlichen Geschichten nachzublättern.« Goyaus Argumentation ist ein typisches Beispiel für das Denken in Zeiten politischer Spannung, dessen deutsche Varianten nicht weniger unerquicklich sind, ebenso auch Friedrich Sieburgs berühmtes Buch »Gott in Frankreich«, welches zum ersten Mal im Jahre 1929 erschien und auf seine Weise ein Produkt des deutschen Nachkriegsrevanchismus ist. In diesem Buch wird Jcanne als eine Vorgängerin Napoleons vorgestellt, in deren Anspruch schon die Prätention des universalistischen Nationalismus französischer Spielart zutage tritt: »Ihr Ziel ist nicht Eroberung, sondern Verjagung des Eindringlings. Sie liebt wie Frankreich den Frieden, aber sie macht sich nicht klar, daß sie sich eine höchst unfriedliche Art von französischer Religion angeeignet hat, die aus anderen Nationen mit einer Handbewegung Völker zweiten Ranges macht. Johanna hat kein sehnlicheres Ziel als die heilige Erde von bewaffneten Fremden frei zu sehen, um dann in ihr Dorf zurückzukehren, dort im Hause zu walten, zu kochen und zu spinnen. Aber sie beansprucht für Frankreich den Vorrang, den ersten Platz vor Gott und den Menschen, Sie schafft den Patriotismus und schafft gleichzeitig auch seine Gefahr.... Wer sich mit Frankreich in einen Krieg einläßt, der bekommt es mit Gott zu tun, dieser heute noch lebendige Glaubenssatz des französischen Vaterlandsgefühls wurde von Johanna erfunden und für alle Zeiten in den Patriotismus ihres Landes eingelassen ... Johanna war es, die den Satz aussprach: Ceux qui font la guerre au saint royaume de France font la guerre au roi Jesus. In der Tat ein schrecklicher Satz, der der geplagten Menschheit eine Ahnung davon vermitteln mag, warum es so schwer ist, mit Frankreich in Frieden zu leben, obwohl dieses Land den Frieden über alles zu lieben behauptet.«10 Sieburgs Äußerungen sind ein typisches Produkt der besserwisserischen deutsch-französischen Abrechnung, wie sie in den tagespolitischen Schriften - auch vieler Historiker und anderer Gebildeter! - im 19. und 20. Jahrhundert gang und gäbe war. Die wirkliche Kenntnis Jeanne d'Arcs und mit ihr eines wichtigen Stückes der französischen Geschichte wurde aber von dieser Art politisch-historischer Polemik nie zugeschüttet. Es hat daneben immer auf beiden Seiten auch ein persönliches Interesse und ein emotionales Engagement für die Jungfrau von Orleans gegeben, das, in den Regeln der historischen Wissenschaft kanalisiert, einen wirklichen Austausch des historischen Wissens in Frankreich und Deutschland mit sich gebracht hat.

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Anmerkungen 1 Der Prozeß Jeanne d'Arc, hg. v. R. Schirmer-Imhoff, München 1987 4 ; Die Prozesse der Jeanne d'Arc, hg. v. G. u. A. Duby, Berlin 1985. 2 Vgl. etwa H. Steinbach, Jeanne d'Arc: Wirklichkeit und Legende, Frankfurt/M. 1973; A. Kröning, Auf den Spuren der Jeanne d'Arc, Paderborn 1979; H. Nette, Jeanne d'Arc in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, München 1977. 3 F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Wien 1975; D. Rieger, Jeanne d'Arc und der Patriotismus, in: Romanistisches Jahrbuch 36, 1985, S. 122-139; H. Sello, Die deutschen Anschauungen über die geschichtliche Jungfrau von Orleans im Wandel der Zeit, phil. Diss., Berlin 1932. Siehe auch: U. Fischer, Der Fortschritt im Jeanne d'Arc-Drama des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1982; E. von Jan, Das literarische Bild der Jeanne d'Arc, Halle 1926. 4 G. Krumeich, Jeanne d'Arc in der Geschichte. Historiographie, Politik, Kultur, Sigmaringen 1989. 5 H. Thomas, Jeanne la Pucelle, das Basler Konzil und die ›Kleinen‹ der Reformatio Sigismundi, in: Francia 11, 1983, S. 3 1 9 - 3 3 8 ; H. Twellenkamp, Jeanne d'Arc und ihr Fxho im zeitgenössischen Deutschland, in: Jahrbücher für westdeutsche Landesgeschichte 14, 1988, S, 43-62. 6 G. Görres, Die Jungfrau von Orleans. Nach den Prozeßakten und gleichzeitigen Chroniken, Regensburg 1834. 7 Ebd. 8 Ders., Jeanne d'Arc, Brüssel 1840; Ders., Jeanne d'Arc d'après les chroniques contemporaines. Traduit de l'allemand par Leon Bore, Paris 1843 (2. Aufl.: La vie de Jeanne d'Arc d'après les chroniques contemporaines, Paris 1886). 9 H. Prutz, Studien zur Geschichte der Jungfrau von Orleans, in: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1913/2 und 1 9 1 7 / 1 ; Ders., Die Briefe Jeanne d'Arcs, München 1914. 10 F. Sieburg, Gott in Frankreich, Stuttgart 1929.

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DANNY TROM

Natur und nationale Identität* Der Streit um den Schutz der ›Natur‹ um die Jahrhundertwende in Deutschland und Frankreich

Wenn wir heute von der Natur sprechen und sie als Schützens- und erhaltenswert erklären, bedienen wir uns dabei einer »Grammatik«, die in dieser Form nicht immer zur Verfügung gestanden hat. Zahlreiche historische Untersuchungen, die durch die aktuelle Diskussion über die Natur angeregt wurden, fragen nach früheren »Umweltkrisen«, »ökologischen Bewußtwerdungsprozessen« und »ökologischen Bedenken« und verwenden dabei Begriffe (wie auch die darin eingeschlossene Sinnwelt), die sich eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben. Diese moderne Begrifflichkeit und Wahrnehmungsweise beruht auf zwei konstitutiven Elementen, die in einem spezifischen Sinn ermöglichen, von der Existenz einer Natur nach heutigem Verständnis zu sprechen. Erstens handelt es sich um das Bewußtsein von der Begrenztheit der Welt, und zwar nicht im Sinne eines geschlossenen philosophischen Systems, sondern im Sinne der Beherrschung des Raums durch seine kartographische Erfassung. Im Jahre 1909 brachte der französische Geograph Jean Brunhes dies auf die lapidare Formel »Der Mensch ist an die Grenzen seines Käfigs gestoßen«.1 Zweitens geht es um das Bewußtsein der Möglichkeit des Niedergangs und schließlich des Verschwindens der Natur. Hierbei ist das Interesse an der Natur durch die Vorstellung motiviert und strukturiert, daß diese in die Wirren einer zerstörerischen Geschichte hineingerissen wird und daher in ihrer Existenz bedroht ist. Was bis dahin als eine unveränderliche und gewissermaßen geschichtslose Kulisse galt, ist nun eine eigenständige geschichtliche Kategorie. Die Natur wird damit zum Objekt der Fürsorge und des Schutzes, die helfen sollen, ihren Fortbestand zu sichern. Endlichkeit und Bedrohtheit der Natur sind unlösbar miteinander verknüpft und lassen diese als knappes und kostbares Gut erscheinen, zu dessen Erhaltung regulierend eingegriffen werden muß.

* Aus dem Französischen übersetzt von Linda Gränz.

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Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich zunächst ein diffuser, häufig von Literaten und Künstlern vorgebrachter Protest gegen das Verschwinden des Schönen, den Niedergang des Geschmacks, die Zerstörungen durch Industrialisierung und den demokratischen Geist. Dabei wurde die Geschichte negativ als Prozeß der Verarmung, der Nivellierung von Unterschieden und der Uniformierung der Vielfalt betrachtet.2 Gleichzeitig bildete sich eine schärfer strukturierte Diskussion heraus, in der die Natur nicht bloß als Abstraktum begriffen wurde, sondern als konkreter besonderer Ort, als Landschaft/paysage. Um herauszufinden, nach welchen Kriterien diese Orte ausgewählt wurden, muß man die Bedingungen und Verfahren der Diskussion analysieren, durch die die Natur vor der Bedrohung durch eine gleichgültige Umwelt, durch private Inbesitznahme oder durch andere unangemessene Nutzung geschützt werden sollte. Die kollektive Aneignung der Natur ist also ein Prozeß der gesellschaftlichen Produktion von »lieux communs« (»Gemeinplätzen«) sowohl im Sinne von »gemeinsamen Orten« als auch von »Topoi«. Diese bewußt für die Gemeinschaft in Anspruch genommenen Orte werden vor allem als »exemplarische Orte« (»lieux exemplaires«) betrachtet,3 die dazu bestimmt sind - um die Terminologie von Pierre Nora4 aufzugreifen - »Erinnerungsorte« (»lieux de mémoire«) zu werden. Damit stellt sich die Frage, was die Natur darstellen kann und welche Erinnerungsprozesse sie auslöst. Die Periode von 1880 bis 1918 ist durch eine Prohlematisierung von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit geprägt, die sowohl die Überlegungen zur Neuordnung der räumlich-zeitlichen Einheiten5 als auch die Entwicklung von Verfahren zur Wahrnehmung und Beherrschung der Zeit beeinflußte. Zwar sind diese Prozesse und die sich daraus ergebenden Fragen für alle europäischen Industrieländer von Bedeutung. Im folgendem soll indessen vor allem die spezifische Entwicklung in Frankreich und Deutschland behandelt und verglichen werden. 1. Die Erfindung eines Anliegens: Die Natur Die »Société pour la Protection des Paysages de France« (SPPF) und der »Bund Heimatschutz« (BHS) waren in beiden Ländern die ersten Verbände, die den Schutz der Natur auf nationaler Ebene zu ihren vorrangigen Zielen erklärten. Die SPPF wurde 1901 in Paris gegründet, der BHS 1904 in Dresden. Beide Vereinigungen betrachteten sich als Schwesterorganisationen und tauschten ihre Erfahrungen auf dem ersten »Congrès International pour la Protection des Paysages« aus, der 1909 auf Initiative der SPPF in Paris veranstaltet wurde; ein zweiter Kongreß folgte 1912 in Stuttgart. 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Es soll an dieser Stelle keine vergleichende Sozialgeschichte der beiden ersten auf nationaler Ebene operierenden Fürsprecher der Natur geschrieben werden. Vielmehr sollen die beiden Verbände als ›Laboratorien‹ betrachtet und untersucht werden, in denen sich nach und nach die Verfahren zur Konstruktion der ›Natur‹ als legitimem Anliegen entwickelten.6 Die Gründung der beiden Vereinigungen markiert den Abschluß einer Entwicklung, in deren Verlauf vielfältige Erfahrungen von frühen Aktivisten und Bewegungen zusammenkamen und in einer umfassenden und vielgestaltigen Bewegung zum Schutze der Natur aufgingen. Erinnert sei hier an die Aktivitäten, die im Jahre 1902 zur Verabschiedung des preußischen Gesetzes über den Landschaftsschutz führten. Diese Gesetzesvorlage, die die Verbreitung von Werbeplakaten einschränken wollte, stieß auf den Widerstand der Landbesitzer, die schon 1898 die Gesetzesvorlage des Abgeordneten Wetekamp über die Schaffung von Naturparks in Preußen zu Fall gebracht hatten. Außerdem sei der Einsatz des französischen Alpenvereins (»Club Alpin«) im Jahre 1897 erwähnt, der mit Unterstützung der »Société des Artistes Français« und der »Société de Géographie« gegen die von einem örtlichen Industriellen geplante Trockenlegung der Wasserfälle von Gimel kämpfte. Sowohl BHS als auch SPPF schlugen zielbewußt eine Strategie ein, die ihnen den nationalen Alleinvertretungsanspruch für die Belange der ›Natur‹ sicherte. Die Liste der Organisationen und Einzelpersonen, die der SPPF und dem BHS vom Zeitpunkt ihrer Gründung bis zum »Premier Congrès international« beitraten, ist lang und vielfältig. Regionale Vereinigungen von Naturforschern und Liebhabern von Geschichte, Archäologie, regionaler Kunst, Folklore, Trachten und Architektur finden sich ebenso wie Verwaltungsbeamte, Museumsdirektoren, Professoren, Lehrer, Künstler und Schriftsteller. Sie bildeten zusammen ein komplexes Netzwerk institutionalisierter und informeller Kontakte, das die alten gelehrten Gesellschaften, deren Ursprünge teilweise bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichten, überlagerte. Aufgrund des Studiums dieser Vereinigungen, deren Mitglieder aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammten, soll hier die Diskussion dargestellt werden, in der die Natur als eigenständiger Gegenstand erscheint. 2. Naturalisierung und Ästhetisierung der regionalen Räume Die Phase der massiven Industrialisierung, die Frankreich und Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts erlebten, wurde von der Furcht vor einer Vernichtung der lokalen Kulturen begleitet. Dies führte zur Gründung zahlreicher regionaler gelehrter Gesellschaften und wissenschaftlicher Ver149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

eine und einem wachsenden Interesse für die Volkskultur. Das Bewußtsein der Einzigartigkeit und Besonderheit der Regionen erwachte zu einer Zeit, in der die nationale Einheit in beiden Ländern verwirklicht schien. In der Folge setzte ein intensives Nachdenken über die Beziehungen zwischen dem Nationalstaat und seinen Teilen, zwischen dem Zentrum und der Peripherie ein, indem man nach einem neuen Bindeglied zwischen dem Nationalen und dem Lokalen suchte.7 Während die Bewegung in Frankreich eine stark politische Färbung aufwies und die Begriffe »province«, »région« und »pays« für konkrete Reformbestrebungen standen, machte sich das deutsche Schrifttum die Vieldeutigkeit des Begriffs »Heimat« zunutze, der je nach Kontext den eng begrenzten Raum einer ländlichen Gemeinde, die im Reich vereinigten Einzelstaaten oder ganz Deutschland bezeichnen konnte. Im BHS schloß sich entsprechend eine Vielzahl von regionalen Vereinigungen (»Landesgruppen«) zusammen, die sich dem Schutz der Heimat im allgemeinen (»Verein für Heimatschutz Lübeck«; »Niedersächsischer Vertretertag für Heimatschutz«; »Heimatbund Mecklenburg«) oder in ihren konkreten Ausprägungen (»Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz«; »Minden-Ravenbergischer Hauptverein für Heimatschutz und Denkmalpflege«; »Ausschuß zur Pflege heimatlicher Natur, Kunst und Bauweise in Sachsen«) oder gar der Pflege des ›Volkstümlichen‹ (»Verein für niedersächsisches Volkstum«; »Bayerischer Verein für Volkskunst und Volkskunde«) verschrieben hatten.8 Die SPPF war dagegen zentralistisch organisiert und absorbierte direkt und indirekt bereits bestehende Vereinigungen. So fallt beispielsweise auf, daß der Präsident der SPPF, der radikale Parlamentsabgeordnete Beauquier, auch Vizepräsident der »Ligue de Décentralisation« (»Liga für Dezentralisierung«) 9 war, als deren stellvertretender Sekretär Maurras fungierte. In dieser Vereinigung versammelten sich Monarchisten, gemäßigte Republikaner und Radikale wie der Abgeordnete Maurice Faure, der wiederum Mitglied der SPPF war und sich als unermüdlicher Anwalt des Landschaftsschutzes in der Nationalversammlung hervortat. André Theurriet, der bekannte Heimatschriftsteller und Ehrenvizepräsident der SPPF, amtierte außerdem als Vorsitzender der 1895 gegründeten »Société d'Ethnographie nationale« (»Nationale Gesellschaft für Ethnographie«), die gegen die Nivellierung der regionalen Eigenheiten kämpfte und die volkstümliche Lebensart und lokale Kultur förderte. Die wissenschaftlich fundierte Geographie spielte bei der Suche nach offensichtlichen, sogenannt natürlichen territorialen Einheiten eine wichtige Rolle.10 Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bezog die Kritik an der analytischen Vernunft auch die traditionelle Geographie ein, wodurch der gesunde Menschenverstand und die subjektive Wahrnehmung von Heimat/pays rehabilitiert wurde. Vidal de La Blache, Foncin und 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Gallois - alle drei Mitglieder der »Fédération Régionaliste Française« (»Französischer regionalistischer Verband«), die im Jahre 1900 gegründet wurde und deren Vorsitzender Charles-Brun Gründungsmitglied der SPPF war - bemühten sich um die Identifizierung und Eingrenzung der Regionen, deren kulturelle Vielfalt ein Gegengewicht zum Pariser Zentralismus bilden und außerdem alle potentiellen Energien Frankreichs gegen Deutschland mobilisieren sollte.11 Das »Tableau de la géographie de la France« (1903) von Vidal de La Blache lieferte die theoretische und deskriptive Basis für diese heterogene Bewegung.12 Die Einzigartigkeit des »pays« drückte sich demnach in seiner »Physiognomie«, einem besonderen »Stil« der räumlichen Struktur aus, die durch natürliche, soziale und historische Faktoren bedingt ist.13 Gallois zufolge galt es, »hinter den irreführenden Worten und Etiketten und den politischen und administrativen Überschneidungen die Substanz der natürlichen und beständigen geographischen Einheiten zu entdecken, die mit weitgehend konstanten Begriffen bezeichnet werden«.14 In Deutschland war man im BHS weniger um eine theoretische Fundierung des Heimatbegriffs bemüht, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, daß die Aufteilung der Verwaltungseinheiten hier weniger künstlich erschien.15 Dennoch fanden die Kategorien »Landschaft« und »Gebiet« ein gesteigertes Interesse. S. Passarge stellte sie bei seiner Suche nach einer »natürlicheren« Definition der räumlichen Einheiten den Verwaltungskategorien »Land« und »Länder« gegenüber.16 Oswald Muris entdeckte die »Landschaft« als volkstümliche und intuitive Vorstellung wieder. Besonders zu erwähnen ist auch der Anthropogeograph Friedrich Ratzel, der eine Theorie vertrat, die eine ästhetische und ganzheitliche Darstellung der Landschaft als Instrument der geographischen Forschung forderte.17 Ratzel nahm an der Gründungssversammlung des BHS teil und stand mit dessen führenden Köpfen auch später noch in engem Kontakt. Der Darwinist Ernst Haeckel, der Schöpfer des Begriffes »Ökologie«, der 1866 in seinem gleichnamigen Werk die Grundlagen eines »Naturhaushalts« skizzierte, stützte sich 1903 in dem Buch »Kunstformen der Natur« auf einen ähnlichen theoretischen Ansatz. Während der Begriff »pays« in Frankreich zum wichtigsten Ausdruck der Aufwertung des Lokalen wurde, stellte das Konzept der »petite patrie« (»kleines Vaterland«) und der »matrie« (»Mutterland«)18 einen Versuch dar, ein funktionales Äquivalent zu dem Konzept der »Heimat« zu finden.19 Für den Historiker Eugen Weber taten sich bei der Übersetzung des Begriffs »pays« ins Englische die gleichen Schwierigkeiten auf wie bei der Übertragung des Begriffs »Heimat« ins Französische: »Der Begriff ›pays‹, der nicht ins Englische übersetzbar ist, bedeutet im Grunde ›Land der Geburt‹ und bezieht sich eher auf einen lokalen Raum anstatt auf das 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nationale Territorium. In diesem Sinne wird er von den meisten Franzosen verwendet; sie bezeichnen damit größere oder kleinere Gebiete, manchmal eine Provinz, manchmal ein Tal oder eine klar abgrenzbare Ebene ... ›Pays‹ kann auch (jedoch nicht häufig) eine administrative Einheit, eine ganze Region ... oder einfach (das ist meistens der Fall) ein Kirchspiel oder ein Dorf sein. ...Vor allem aber stellt ›pays‹ eine Einheit dar, deren Angehörige alle etwas gemeinsam haben - Erfahrung, Sprache, Lebensweise -, die sie von anderen unterscheidet.«20 Während der Eröffnungssitzung des »Premier Congrès International pour la protection des paysages« bemühte sich Beauquier für die frankophone Zuhörerschaft in ähnlicher Weise um eine kulturelle Übersetzung: »Sie wissen alle, daß es in Deutschland zahlreiche Gemeinschaften gibt, die man, um eine genaue Übersetzung zu liefern, als ›petite patrie‹ bezeichnen müßte. Es handelt sich dabei nicht um das Vaterland, sondern um die ›petite patrie‹, das, was wir ›matrie‹ nennen könnten, wenn wir einen neuen Begriff schöpfen wollten, der besser den zärtlichen und liebevollen Gefühlen entspricht, die wir für unsere ›petite patrie‹ empfinden. ›Heimatschutz‹ bedeutet also ›Schutz der petite patrie‹ ..., worunter nicht nur der Schutz der städtischen und ländlichen Umgebung, sondern auch all dessen fällt, was den besonderen nationalen Charakter der Provinzen ausmacht: Trachten, Traditionen, bestimmte Pflanzen und Tiere, die zu verschwinden drohen und deren Fortbestand und Überleben wir sichern möchten.«21 Den ästhetisierenden Beschreibungen der Geographen und Heimatschriftsteller entsprachen die vielfältigen Maßnahmen zur Pflege des architektonischen Erbes, der alten Stadtkerne, der Bauernhöfe, Dorfkirchen und schließlich der Landschaft insgesamt, die als »Gesicht« oder »Ausdruck« des Landes betrachtet wurden. Dieses Bestreben findet sich am erschöpfendsten erläutert im Werk des bekannten Architekturtheoretikers und Vorsitzenden des BHS, Schultze-Naumburg, der zahlreiche Artikel in der Zeitschrift »Der Kunstwart«22 veröffentlichte. Deren Herausgeber war ein anderes Gründungsmitglied des BHS, Ferdinand Avenarius, der das Alltagsleben im Zeichen des sogenannten Deutschtums ästhetisieren wollte.23 In Frankreich verbreiteten Publikationen wie »L'Ame Latine. Revue de littérature, d'art et de sociologie« (gegründet 1896) und »La Petite Patrie« (1898 gegründet) gleichartiges Gedankengut.24 Einen großen Stellenwert maßen sowohl SPPF als auch BHS dem von den Volkskundlern geforderten Erhalt der traditionellen Trachten bei,25 da diese einen augenfälligen Aspekt des Brauchtums darstellten und somit zum Bestandteil der Landschaft wurden. Maurice Benoit-Lévy, der Vorsitzende der »Société Populaire des Beaux-Arts« (»Volkstümliche Gesellschaft für die schönen Künste«), die sich aus örtlichen Sektionen zusammensetzte und aus der die kurzlebige »Ligue contre la Publicité à travers les Champs« (»Liga zur Bekämpfung der Verbreitung von Werbeplakaten auf dem Land«) hervorging, verband die Problematik der Trachten mit der Tourismusfrage. Die explosionsartige Entwicklung des regionalen Fremdenverkehrs, die 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Gründung von Heimatmuseen, die Veröffentlichung von zahlreichen Heimatbüchern und touristischen Führern26 trugen zur Festigung regionaler Stereotype und fortwährenden Neuerfindung der lokalen Identität bei. Sowohl im BHS als auch in der SPPF löste der Fremdenverkehr kontroverse Stellungnahmen aus: Zum einen wurde die gestiegene Mobilität - der Ausbau des Straßen- und Schienennetzes förderte die Entstehung eines Massentourismus - angeprangert und auf die durch die Erschließung des Raumes heraufbeschworene Gefahr der Uniformierung hingewiesen. Zum anderen aber rechtfertigten die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Fremdenverkehrs die an die Behörden gerichtete Forderung nach Bewahrung der Heimat. Die örtlichen Fremdenverkehrsvereine wurden ermutigt, sich für die »Aufwertung« und »Verschönerung« der Landschaft und die »Authentizität« von Bausubstanz und Trachten einzusetzen. Überdies unterschied man zwischen guten und schlechten Formen des Fremdenverkehrs (Ausflug oder Reise kontra organisierten Fremdenverkehr) und zwischen einem guten und schlechten Umgang mit der Landschaft (besinnliche Betrachtung versus Konsum).27 Der in der Tradition Proudhons stehende Ideologe des Regionalismus Jean Charles-Brun, Gründungsmitglied der SPPF, Mitbegründer der »Ligue Régionaliste« (im Jahre 1900) und Freund des »Touring Club de France«, versuchte, die Voraussetzungen für eine harmonische Verbindung zwischen Regionalismus und Fremdenverkehr aufzuzeigen. 3. Naturalisierung und Ästhetisierung der bäuerlichen Welt Zu einer heftigen Diskussion zwischen den Befürwortern der Industriegesellschaft: und den Anhängern eines Agrarstaats kam es nicht nur in Deutschland,28 sondern auch in Frankreich, wo man angesichts der »Landflucht« auf Abhilfen sann, die unter den Oberbegriffen »innere Kolonisation«, »Rückkehr zur Scholle« (»retour à la terre«) oder »Wiederbevölkerung der ländlichen Gebiete« (»repopulation des campagnes«)29 zusammengefaßt wurden und unter anderem Schutzzölle und die Förderung der Kleinbauern einschlossen.30 Die Thematik der inneren Kolonisation, die in Deutschland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vom angesehenen »Verein für Socialpolitik« aufgegriffen wurde,31 bildete den Hintergrund für die Schriften des Musikwissenschaftlers Ernst Rudorff, dem Schöpfer des Begriffs »Naturschutz« und Förderer des BHS. Rudorff machte sich die Auffassungen der Agrarromantiker zu eigen und orientierte sich stark am Werk Wilhelm Heinrich Riehls, der den Landschaftsschutz mit der sozialen Frage verknüpfte.32 Zu erwähnen ist in diesem Zusam153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

menhang auch der BHS-Mitbegründer Heinrich Sohnrey, der den Ausschuß für »Wohlfahrtspflege auf dem Lande« gründete, die Zeitschrift »Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande« ins Leben rief sowie 1908 als Mitherausgeber der Zeitschrift »Archiv für innere Kolonisation« auftrat.33 Mit seinem engen Mitarbeiter Robert Mielke, dem Schatzmeister des BHS, der auch Vorsitzender der »Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg« und Mitglied des »Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege« war, rückte er Riehls Thesen über die Zerstörung der Kunst durch die Industrie34 und die Ästhetisierung des Dorfes wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.35 Die gleiche Haltung nahmen in Frankreich die oben erwähnte »Fédération Régionaliste Française«36 und die Zeitschrift »La Reforme Sociale« ein, die ein Forum für die soziologische Schule von Le Play war und den Landschaftsschutz unter hygienischen Aspekten betrachtete.37 In diesem Dunstkreis priesen Heimatschriftsteller und -künstler das »Landleben« und verliehen dem Wort »Bauer« eine neue Konnotation:38 Es bezeichnete nun nicht mehr den derben, grobschlächtigen Landbewohner, sondern den Bewahrer der »Echtheit«, der »Seele«, des »Wesens der Nation«, der gleichzeitig Hüter des Bodens, seiner »Gesundheit« und seines Fortbestandes war. Als Verkörperung der »Natürlichkeit«39 (»naturalité«) wurde der Bauer nun zum Gegengewicht zur urbanen und industriellen Welt, einem degenerierten Ort, wo die proletarische Revolution gärte. So meinte der Agrarromantiker Méline: »Neben dieser dekadenten Literatur ist glücklicherweise seit einigen Jahren eine neue Literatur im Entstehen begriffen, die Literatur der Zukunft, die sich für alle Schönheiten begeistert, die Schönheit der Natur, die Schönheit des starken und gesunden Menschen, die Schönheit des inneren Lebens; sie appelliert an die edelsten Regungen der menschlichen Seele und will in ihr den Geschmack am einfachen Leben und an den Freuden der Familie wecken.«40 Die Ästhetisierung der ländlichen Welt scheint bei den Agrarromantikern zwischen den Zeilen auf: Der Bauer ist jener Künstler, der die Landschaft gestaltet, ihr ein »Gesicht«, einen »Charakter«, eine »Seele« verleiht. Die bildlichen Darstellungen der »Bauernmärkte«41 und der »Bodenroman« (»roman de terroir«) verherrlichten die dörfliche Gemeinschaft.42 Die gleichen Bestrebungen wie der akademische Folklorismus verfolgte der von »La Renaissance Provinciale. Société d'Etudes et de Vuigarisation des Costumes et des Arts Provinciaux« (»Die Wiedergeburt der Provinzen. Gesellschaft zum Studium und zur Förderung provinzialer Trachten und Künste - 1906 gegründet«) propagierte »Revivalismus«. Einer der beiden Ehrenvorsitzenden dieser Gesellschaft war André Theurriet, der stellvertretende Vorsitzende der SPPF; zu ihren Schirmherren zählten Barrès, 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Mistral, Beauquier, Maurras und Le Goffic (der Mitbegründer der im Jahre 1898 gebildeten »Union Régionaliste Bretonne«), also ein Großteil der führenden Köpfe der »Fédération Régionaliste Française« und der SPPF. Die deutsche Heimatkunstbewegung, deren Theoretiker der »Kunstwart«-Redakteur Adolf Bartels war, und ihr Modell des Bauernromans, als dessen wichtigster Vertreter Peter Rosegger zu nennen ist, begeisterte sich ebenso für eine volkstümliche Literatur, die von ländlichen und bäuerlichdörflichen Motiven beherrscht war.43 Zusammen mit dem Maler Hans Thoma, einer herausragenden Persönlichkeit unter den Neuromantikern der Künstlerkolonie von Worpswede und Gründungsmitglied des BHS, kämpften sie im »Dürerbund« für die gleichen Ziele wie der BHS. Der 1902 gegründete »Dürerbund« war das politische Pendant zum »Kunstwart« und für den BHS ein Verbündeter der ersten Stunde. Alle diese unterschiedlichen Aktivitäten bildeten zusammen eine Art Bewegung (oder wurden als solche wahrgenommen); die deutsche »Heimatbewegung« im Gefolge von Bismarcks Reichsgründung und der französische »Réveil des Provinces« (»Erwachen der Provinzen«) vor dem Hintergrund der Niederlage von 1870 und der Gründung der Dritten Republik. Trotz der völlig unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen sind einige generelle Ähnlichkeiten zu konstatieren. Die Bewegung stellte nicht den inneren Zusammenhalt des Nationalstaats in Frage, sondern beschwor die Einheit in der Vielfalt.44 Der Begriff »Heimat« zog niemals die Einigung in Zweifel, sondern bezeichnete letztlich immer »unsere deutsche Heimat« 45 . Der Regionalismus der Dritten Republik war ein »Nationalismus, der auf den Expansionismus verzichtet« hatte (zumindest in Europa).46 In einer Rede an die »Société des Amis de l'Arbre« (»Gesellschaft der Baumfreunde«) erklärte der Schriftsteller Jean Lahor, der zu den Gründungsmitgliedern der SPPF gehört hatte: »Wir verfolgen dasselbe oder fast dasselbe Ziel wie Sie, nämlich den Schutz des geheiligten Bodens unseres Vaterlandes; denn es ist sehr wohl das Vaterland, das wir verteidigen, wenn wir zu bewahren versuchen, was seinen Charme, seine Schönheit, sein Leben, seinen Körper, seine Seele ausmacht.«47 Um das in der Bewegung gebräuchliche Vokabular aufzugreifen: Ein »zivilisierter Staat« (»Etat civilisé«), ein »Kulturstaat« (beide Begriffe scheinen in diesem Kontext die gleiche Bedeutung zu haben) war es sich aus moralischen, ästhetischen und hygienischen Gründen schuldig, seine Vergangenheit und sein Erbe zu pflegen. Andernfalls verfiel er der Barbarei und dem Niedergang.48 Der Landschaftsschutz war außerdem Bestandteil eines umfassenden Versuchs zur Wiederbelebung der Vergangenheit, dessen zentraler Aspekt das Ästhetische war. Dieses ästhetisch-patriotische Projekt der Verräumlichung der nationalen Geschichte benutzte die Landschaft als visuellen Träger.49 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

4. Die ästhetische Stabilisierung der Natur Die SPPF und der BHS schufen Strukturen zur Beobachtung der Natur und zur Entdeckung von Bedrohungen für die Natur. Wurde eine Bedrohung registriert, ging es darum, die Legitimität des Anliegens der Bewegung zu beweisen und darzulegen, daß dort, wo sich nur ein unbestimmter Raum befand, eine schützenswerte »Landschaft« existierte.50 Die sogenannte Natur ist jedoch kein homogener Gegenstand. Sie ist das Ergebnis der einander entgegengesetzten Prozesse der ›Artenkreuzung‹ und der ›Artenreinerhaltung‹, die niemals abgeschlossen sind, und bleibt daher immer eine heterogene Ansammlung von Objekten.51 Die vielfältigen miteinander verwobenen Konzepte und Argumentationen, die zur Zeit der Gründung von SPPF und BHS existierten, weisen auf die starke begriffliche Verflechtung hin, die bei der Konstruktion der Natur wirksam wurde. Ein verborgenes Netz zwischen verschiedenen sozialen Welten wurde geknüpft, indem heterogene Raumbezeichnungen miteinander verbunden wurden (vgl. Übersicht). Soziale Welten

Bestimmende Begriffe

Raumbezeichnungen der Objekte

Folklorismus

Volk/peuple

Naturalismus Agrarismus

Geobiologie Bauer

Kulturgeographie

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Territorium/ Territoire Erde/Terre Land-Boden/ Campagne-sol Heimat/ Pays Landschaft/ Paysage

Auch die gelehrten Gesellschaften und die Vereine der Naturforscher (Botaniker, Ornithologen, Geologen, Zoologen) waren jeweils für sich allein nicht in der Lage, »Natur« zu definieren oder konstituieren. Obwohl die Naturforscher zunehmend als Gutachter für die Naturschutzvorhaben staatlicher Behörden wirkten,52 setzten ihre gebildeten Mitglieder die wissenschaftlich-ästhetische Tradition Alexander von Humboldts und Elisée Reclus' fort; die Landschaft wurde über die Grenzen der Fachdisziplinen hinaus als Träger einer im wesentlichen ästhetischen Erfahrung begriffen.53 Die Diskussion über die Definition des Begriffs »Naturdenkmal« während des ersten gemeinsamen Kongresses von SPPF und BHS im Jahre 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

1909 ist ein gutes Beispiel für die Unentschlossenheit, die daraus resultierte, daß wissenschaftliche Klassifikationen sich nicht dafür eigneten, die hauptsächlich visuell faßbaren ästhetischen Ziele der Naturschützer zu beschreiben.54 Unsicherheit herrschte dabei in bezug auf zwei Kriterien, die jedes Objekt mit einem eigenen, bestimmenden Begriff verbinden. »Interessant« hieß jenes Kriterium, das den »naturwissenschaftlichen Schutz« der geobiologischen Welt rechtfertigte. Das Objekt war hier ein stellvertretendes Exemplar seiner Gattung. »Monumental« lautete das Kriterium, welches den »künstlerischen Schutz« der Geschmackswelt begründen sollte. Das Objekt unterlag in diesem Fall einem ästhetischen Werturteil (»das Erhabene«), welches ihm seine unermeßliche Einzigartigkeit verlieh. Der Begriff »bemerkenswert« war insofern ein Kompromiß, als er ein »schönes« Gattungsexemplar bezeichnen sollte. Damit verwies er zum einen auf seinen Gattungscharakter, zum anderen darauf, daß es als einzigartiges Objekt erkannt werden sollte. Die Ungenauigkeit dieses Kategorisierungsversuchs auf der Grundlage eines einzigen, einfachen Kriteriums resultierte jedoch gerade aus der ästhetischen Synthese, die es ermöglichte, verschiedenartige Objekte in einem landschaftlichen Raum nebeneinanderzustellen. Die Handlungsaufrufe von SPPF und BHS waren daher gefühlsbetont und reich an Metaphern. Sie ermöglichten dadurch die assoziative Verbindung der Raumbezeichnungen untereinander: vom Felsen zum Menhir, vom Findling zum Druidenstein, vom Talzirkus zum römischen Zirkus, vom Wald zum gotischen Kirchenschiff. Aber mit der Naturalisierung kultureller Objekte vollzieht sich gleichzeitig eine Kulturalisierung natürlicher Objekte. Beide Kategorien gleichen einander und werden austauschbar. Der Blick, der sie alle auf einmal erfaßt und sie als gleichartig einstuft, nimmt ihnen weitgehend ihre eigene Geschichtlichkeit und macht sie zur »Landschaft«. Eine überwucherte Ruine am Rhein oder ein Dorf im Talwinkel sind insofern »Natur«, als die Gesamtansicht »eine Landschaft ergibt«, die ihrerseits einer ästhetischen Beschreibung entspringt. Worum es SPPF und BHS ging, war die Natur als Landschaft, die dem Blick auf das einzelne, vom offenen Raum umrahmte Objekt entsprach. Während es sich bei den »Naturdenkmälern« immer um ein einzelnes Objekt (einen Baum, einen Felsen, eine Ruine, einen Turm) und nicht um eine Landschaft handelte, konnten paradoxerweise nur diese dreidimensional eingegrenzten Objekte von den staatlichen Behörden als erhaltenswert eingestuft werden.55 Das »Naturdenkmal« war damit in gewisser Weise jene Einheit, die strategisch in die Verwaltungsnomenklaturen vordringen und dort für den Schutz größerer landschaftlicher Räume wirksam werden sollte. Daher stellte das erste französische Gesetz zum Schutz von Naturdenkmälern aus dem Jahre 1906 die SPPF nicht zufrieden, denn es sah 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nicht vor, daß auch die um die Naturdenkmäler herum liegenden Räume geschützt werden sollten;56 die preußische Kulturbehörde hingegen führte im gleichen Jahr die Kategorie »Teile der Landschaft« ein.57 Es schien daher, daß allein die Kunst in der Lage wäre, die verschiedenen Raumbezeichnungen zu einem stabilen Ganzen der Natur als Landschaft zu verschmelzen. Felsen, Schluchten und Flüsse wurden schon immer von den Dichtern besungen und in Literatur und Landschaftsmalerei verherrlicht. Die um die Jahrhundertwende verschwindenden Landschaften waren eben jene, denen Eichendorff, Lorrain oder Mahler-Müller ein bleibendes Denkmal gesetzt hatten. Die Arbeit von SPPF und BHS stützte sich weitgehend auf ein Begriffsrepertoire zur Bezeichnung des Ästhetischen (»das Schöne«), welches Attribute wie »schön«, »malerisch«, »erfrischend«, »erhaben«, »hervorragend« umfaßte.58 Die Dichter lieferten die Syntax, mit der sich die Gefühlsregungen angesichts landschaftlicher Schönheit ausdrücken ließen59 und der die Wahrnehmungsschemata der Landschaftsmaler zugrundelagen.60 Es ist kein Zufall, daß die erste Aktion für den Landschaftsschutz in Frankreich von den Malern der Schule von Barbizon ausging, die gegen die Zerstörung des Waldes von Fontainebleau protestierten. Diese Landschaft hatten sie durch ihre bildlichen Darstellungen und eine Ausflugskultur mitgeprägt, die sie mit dem gebildeten Pariser Bürgertum der Mitte des 19. Jahrhunderts teilten.61 Auch an anderer Stelle offenbaren sich die engen Verbindungen zwischen Landschaftsmalerei und ›realer Landschaft‹. So nahm Schultze-Naumburgs Theorie des Landschaftsschutzes ausdrücklich sein Lehrbuch der Malerei zur Grundlage,62 während sich die »Association des Peintres de Montagnes«, die durch ihren Vorsitzenden im Vorstand der SPPF vertreten war, bereits vor der Gründung der SPPF für den Naturschutz eingesetzt hatte. Die Landschaften, für deren Erhalt sie kämpfte, waren in ihren Worten »pittoresk«, d.h. sie eigneten sich zur bildlichen Darstellung. Die Landschaft war hier zugleich das Produkt künstlerischer Tätigkeit (ein Gemälde) und das Produkt des alltäglichen Vorgangs des Sehens (das ›reale Ding‹), oder, wie Cros-Mayrevieille es ausdrückte, »das Original der gemalten Landschaft«.63 5. Eine nicht intendierte Ästhetik Untersucht man das Schrifttum der Naturschutzbewegung anhand der Verbandszeitschriften von SPPF und BHS oder theoretischer Darstellungen wie den Werken von Conwentz oder de Clermont,64 so wird überall das Bemühen um eine dreifache »Erweiterung des nationalen Erbes«65 offenbar. Zugleich zeigt sich der Wunsch, die Landschaft als Natur in dieses Erbe zu integrieren. So ergab sich erstens eine typologische Erweiterung, 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die nicht mehr nur die schönen Künste, sondern auch die als Volkskunst begriffenen Alltagsgegenstände einbezog; zweitens eine chronologische Erweiterung, die alle bis in die Gegenwart geschaffenen Objekte zum nationalen Erbe erklärte; sowie drittens eine geographische Erweiterung, die nicht mehr nur das Einzelobjekt, sondern alle in einer räumlichen Einheit befindlichen Objekte berücksichtigte. Die Übertragung von Kategorien der Malkunst auf die Wahrnehmung realer Landschaften, die die Musealisierung der Natur einleitete, läßt sich anhand des Begriffs »Denkmal« analysieren, der zum einen als das Produkt eines bewußten Aktes zur Schaffung eines dreidimensionalen Objekts und zum anderen als Resultat eines Aktes des Bezeugens verstanden wurde. Das »Naturdenkmal« ist in diesem Sinne eindeutig das Ergebnis eines Bewahrungsstrebens.66 Sicherlich finden sich Beispiele dafür, wie die Natur oder Landschaft durch räumliche Erweiterung eines »absichtlichen Monuments« Denkmalcharakter erhält; zum Beispiel ein Wald oder ein Gebirgszug in der Umgebung einer Gedenksäule oder -statue, die an ein wichtiges politisches Ereignis erinnern soll.67 Aber die Natur bleibt hier Umgebung, Peripherie; sie wird gewissermaßen fremdbestimmt zum Denkmal - als Dekor von etwas anderem, von dem sie aufgrund seiner »monumentalen« Qualität, seiner beeindruckenden räumlichen Ausdehnung einverleibt wird. Das »Naturdenkmal« hingegen gehört zur Kategorie der historischen Denkmäler, die ihren Wert durch ihr Alter erhalten, und nicht zur Kategorie der Denkmäler stricto sensu, deren »Wert auf dem bewußten Erinnern beruht«, wie die klassische Typologie von Alois Riegl besagt.68 Riegl erläutert: »Bezüglich des Alterswertes läßt sich das fundamentale ästhetische Gesetz unserer Epoche folgendermaßen formulieren: Von der Hand des Menschen verlangen wir, daß sie vollendete und geschlossene Werke vollbringt, die Symbole der Gesetze der Schöpfung sind. Von der Natur hingegen erwarten wir, daß sie diese Werke im Lauf der Zeit zersetzt, als Symbol des ebenfalls notwendigen Gesetzes des Verfalls.«69 Jedes Objekt ist daher einem doppelten, widersprüchlichen »Willen« unterworfen: dem menschlichen Willen zur Schaffung eines Werkes einerseits und dem zersetzenden Wirken der Natur andererseits, d.h. der »unausweichliche[n] Vernichtung aller menschlichen Unternehmungen« durch die Zeit. Für Riegl liegt die »ästhetische Effizienz« des Denkmals daher genau in den »Spuren des Zerfalls«.70 Versteht man diese Kategorien ebenso als Elemente eines ästhetischen Urteils, wird man zu dem Schluß kommen, daß dieses Urteil auf der Fähigkeit der betreffenden Personen beruht, in den betrachteten Objekten die ihre Erscheinung bestimmende Intention zu erkennen.71 Was also bewertet wird, ist das stabilisierte Resultat eines »Willensgleichgewichts«: 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Das Feld, der Bauernhof werden sowohl als das Ergebnis gemeinsamer als auch voneinander unabhängiger Anstrengungen der Natur und des Bauern betrachtet, da letzterer eine alltägliche Arbeit ausführt, die von der Tradition festgelegt und mit einem ›instinktiven‹ Wissen assoziiert wird; die grünüberwucherte gotische Ruine ist in diesem Sinn sowohl das Produkt der Schaffenskraft des religiösen Menschen als auch das Werk der Natur, die wieder die von Menschenhand geformte Materie in Besitz nimmt;72 der Fels entsteht durch das unaufhörliche Einwirken der Natur auf die geologische Welt. Das menschliche Handeln trägt also nur zur Entstehung eines in die Landschaft passenden Objektes bei, wenn es einer schwachen Intentionalität entspringt: In der Tradition verankerte, gewohnheitsmäßige Handlungen stören dieses Gleichgewicht nicht, während innovatives Tun, das eine starke Intentionalität besitzt, das Gleichgewicht zerstören würde. Die Ruine kann daher gerade insofern zum »Naturdenkmal« werden, als sie den Niedergang der menschlichen Geschichtlichkeit, ja ihre Nichtigkeit verkörpert. Das Arrangement verschiedenartiger Objekte in einer Landschaft erfordert in gewisser Weise das Anhalten der menschlichen Geschichte:73 Die Landschaften werden zu künstlerischen Formen, die auf einer »unbeabsichtigten Ästhetik«74 beruhen.

6. Eine Ikonographie der Nation Eines der Hauptprobleme, mit denen sich die SPPF und der BHS konfrontiert sahen, war die Auswahl der schützenswerten Landschaften, da diese ein geschultes Auge erforderte. Sehr rasch wurde offensichtlich, daß es zur Entwicklung einer Ästhetik der Landschaft einer Fülle von Bildmaterial bedurfte. Die Mitglieder der beiden Verbände wurden daher bald aufgefordert, Lithographien, private Photographien und Postkarten zu sammeln. Daraus konnte langfristig eine ikonographische Dokumentation der Nation erstellt werden, die insbesondere für jene sozialen Schichten als Lehrmaterial Verwendung finden sollte, welche für die Ästhetik der Landschaft am wenigsten empfänglich waren. Kurzfristig wurde den örtlichen Verbänden und Einzelmitgliedern zur Aufgabe gemacht, den verantwortlichen nationalen Instanzen lokale Fälle von Landschaftszerstörung zur Kenntnis zu bringen. Dies geschah dadurch, daß die gesammelten Bilddokumente wieder als Anschauungsmaterial im ganzen Land verschickt wurden. Auf diese Weise sollte der Widerspruch zwischen einer zentralen nationalen Organisation und der notwendigen direkten Inaugenscheinnahme der Fälle überwunden werden. Die Photographie spielte bei der Produktion und Verbreitung der Bilder eine wichtige Rolle.75 Zum Teil durch den 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

zunehmenden Fremdenverkehr bedingt, entstanden insbesondere Regeln für die Motivauswahl und die Darstellungsperspektive (die Produktion von Klischees im doppelten Sinne des Wortes).76 Die Photographie erlaubte damit einer stetig wachsenden Öffentlichkeit, die rapiden Veränderungen der Landschaft wahrzunehmen, indem sie den vorherigen und späteren Zustand einander gegenüberstellte und damit unweigerlich die allgemeine Wahrnehmung der kollektiven Zeit beeinflußte.77 Durch die Demonstration von Beispiel und Gegenbeispiel stellte sie ein wirksames pädagogisches Instrument zur Geschmacksbildung und Entwicklung einer ästhetischen Sensibilität dar und ermöglichte einen weitgehenden Verzicht auf verbale Ausfuhrungen zum Beleg der Existenz einer »schönen Landschaft«.78 Sehr bald gelangten SPPF und BHS zu der Auffassung, daß man den Respekt vor der Natur bereits im Kindesalter fördern müsse, um ihn dauerhaft in der Bevölkerung zu verankern. So schlugen die Verbände vor, in den Klassenzimmern Landschaftsbilder aufzuhängen und häufig auszutauschen, um das Interesse der Kinder wachzuhalten; auf dem Gelände der Schulen sollten botanische Gärten angelegt werden. Die Schüler sollten zudem verstärkt zu körperlicher Betätigung »im Freien«, insbesondere zu Spaziergängen, angehalten werden. Diese Empfehlung ging einher mit der Kritik am traditionellen Turnunterricht, der nichts mit dem Leben zu tun habe und damit keine echte Entfaltung ermögliche. Überdies wurde die Ausbildung des Lehrkörpers in bezug auf »Heimatliebe« und »Naturempfinden« als unzureichend beurteilt.79 In Frankreich entsprachen solche Vorschläge weitgehend den offiziellen, vom Bildungssystem vermittelten Bildern und Vorstellungen (»représentations«) der Natur. Erinnert sei nur an das wichtigste Schulbuch jener Zeit, »Le Tour de France de deux enfants« (»Zwei Kinder wandern durch Frankreich«) von G. Bruno, welches die Geschichte von zwei Kindern erzählt, die auf ihrer Reise keine künstliche Welt (die der Fabriken und Waren), sondern die Welt der Natur, der Wunder der Schöpfung durchmessen.80 Vidal de la Blache wandte sich in diesem Sinne im Jahre 1905 in einer Rede an Gymnasiasten und ermunterte sie dazu, während ihrer Sommerferien den Boden (das Gebiet) Frankreichs zu erkunden. Er begründete dies damit, daß durch »den Kontakt mit diesem und durch seinen Anblick Eindrücke und Bilder wachgerufen werden, in denen die Idee des Vaterlands Gestalt annimmt«.81 Bekannt ist auch, welchen Zulauf im Deutschen Reich die »Wandervogel«-Bewegung fand.82 Diese Begeisterung für Wanderungen und Exkursionen, die der kollektiven Aneignung von Landschaften dienten, kannte in Frankreich keine Entsprechung; ihre Ursprünge sind vermutlich teilweise in der späten nationalen Einigung Deutschlands zu suchen. Das Wandern hat einen Symbolwert, der auf den Doppelcharakter des von ihm durchmessenen Raums zurückzuführen ist. Denn der Wande161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

rer befindet sich in einer paradoxen Situation, die zugleich ›Entheimatlichung‹ und Erkennen des Selbst ist.83 Unter der Vielzahl von Landschaften, die von SPPF und BHS als schützenswert erklärt wurden, lassen sich idealtypisch zwei Kategorien unterscheiden, die gemäß den Kriterien der klassischen Ästhetik als »malerisch« bzw. »erhaben« bezeichnet wurden - eine Unterscheidung, die verschiedene Grade der Auflösung der Geschichtlichkeit widerspiegelt. Die malerische (»pittoresque«) Landschaft, die »bezaubernd«, »entzückend« oder »hübsch« ist, verweist auf die Fiktion einer ewigen, ursprünglichen Gemeinschaft, auf eine »Exotik des Inneren«, wie Michel de Certeau es formulierte.84 Die Natur ist hier die Natur des ›Selbst‹, die Natur eines Raumes, insofern er die typischsten Züge der darin lebenden Gemeinschaft aufweist. Die erhabene (»sublime«) Landschaft hingegen ist »wunderbar«, »grandios« oder »majestätisch«. Durch das Fehlen jeder geschichtlichen Entwicklung nähert sich die Natur hier einer natura naturans an, was die diskrete Präsenz einer Ruine in der Landschaft nicht ausschließt. Solche Landschaften scheinen leichter universalisierbar zu sein als malerische Landschaften. Viele Beobachter haben auf die Verherrlichung des Nationalcharakters durch »dichterische Räume« hingewiesen.85 Angesichts des Desinteresses der regionalen Amts- und Würdenträger sahen sich SPPF und BHS trotz der Einflußmöglichkeiten, die sie sich in der öffentlichen Administration erschlossen hatten, gezwungen, die gebildeten Bevölkerungskreise in ihren Ländern um Unterstützung zu bitten. Doch dieser Appell an die »staatsbürgerliche« oder »patriotische« Verantwortung implizierte gleichzeitig auch einen Appell an eine universale gebildete Öffentlichkeit. Die nationale Mobilisierung zum Schutz der Natur trug somit bereits die Anlagen zu ihrer eigenen Dekontextualisierung in sich, da sie sich auf universelle Kategorien stützte und bereits die Grundlagen eines - damals noch nicht so bezeichneten - »Menschheitserbes« legte. Ich danke Pascale Laborier und Jean-Philippe Heurtin für ihre Geduld bei der Korrektur dieses Beitrags.

Anmerkungen 1 J. Brunhes, Les limites de notre cage, zit. nach M.-C. Robic, Géographie et écologie végétale: le tournant de la Belle Epoque, in: Ders. (Hg.), Du milieu à l'environnement. Pratiques et représentations du rapport homme/nature depuis la Renaissance, Paris 1992, S. 160. 2 Zum Wandel der modernen Geschichtsschreibung siehe R. Koselleck, Fortschritt, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon, Bd. 2, Stuttgart

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1975, S. 3 5 1 - 4 2 3 ; Ders., ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹. Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: Ders. u. P. Widmer ( H g . ) , Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, Stuttgart 1980, S. 2 1 4 - 2 3 0 . 3 Α Micoud, Les lieux exemplaires: des lieux pour faire croire à de nouveaux espaces, in: Ders., Des Hauts Lieux. La construction sociale de l'exemplarité, Paris 1 9 9 1 , S. 5 3 - 6 3 . 4 Siehe F. Cachin, Le paysage du peintre, in: P. Nora ( H g . ) , Les lieux de mémoire, Bd. 2 / I: La Nation, Paris 1986, S. 4 3 5 - 4 8 6 ; M. Roncayolo, Le paysage du savant, in: ebd., S. 487-528. 5 S. Kern, The Culture of Time and Space 1 8 8 0 - 1 9 1 8 , Cambridge 1983. 6 Siehe K.-G. Wey, Umweltpolitik in Deutschland. Kurze Geschichte des Umweltschutzes in Deutschland seit 1900, Opladen 1982; Y. Luginbuehl, Paysages. Textes et représentations du siècle des Lumières à nos jours, Paris 1989. 7 T. Gasnier, Le local. Une et divisible, in: Nora, Les lieux, Bd. 3/II, Paris 1992, S. 4 6 3 - 5 2 5 ; R. Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Brunner, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 5 8 2 - 6 7 1 . 8 Der BHS umfaßte im Jahre 1908 etwa 65 Verbände. Geschäftsstelle Berlin, Der Deutsche Bund Heimatschutz und seine Landesvereine, in: Gesellschaft der Freunde des deutschen Heimatschutzes ( H g . ) , Der Deutsche Heimatschutz. Ein Rückblick und Ausblick, München 1930, S. 1 8 7 - 2 0 4 . 9 C. Beauquier, La France divisée en régions, Toulouse 1901. 10 I. Lefort, La lettre et l'esprit. Géographie scolaire et géographie savante en France, Paris 1992, S. 189f. 11 V. Berdoulay, La formation de l'Ecole française de géographie ( 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ) , Paris 1 9 8 1 , S. 2 9 . Seit der Niederlage von 1870 galt die territoriale Struktur Deutschlands (und sein »Geist«) in Frankreich als Vorbild (C. Digeon, La crise allemande de la pensée française ( 1 8 7 0 - 1 9 1 4 ) , Paris 1959, S. 88ff.). 12 A.-M. Thiesse, Ecrire la France. Le mouvement littéraire régionaliste de langue française entre la Belle Epoque et la Liberation, Paris 1 9 9 1 , S. 63. 13 P. Claval u. E. Juillard, Région et régionalisation dans la géographie française, Paris 1967, S. 12. Vidal de la Blache schrieb dazu: »Das Charakteristische an dem Begriff ›pays‹ liegt darin, daß er sich sowohl auf die Bewohner als auch auf den Boden bezieht. Diese vom Volk instinktiv empfundene Verknüpfung wird durch die wissenschaftliche Forschung deutlicher und strukturierter.« (zit. nach Lefort, La lettre, S. 176). 14 Siehe J.-C. Chamboredon, Cartes, désignations territoriales, sens commun géographique: les ›noms de pays‹ de Lucien Gallois, in: Etudes rurales, 1988, S. 9. 15 Das »künstliche« Departement als Zielscheibe der Kritik (siehe D. Nordman u. J. Revel, La formation de l'espace français, in: A. Burguiere u. J . Revel ( H g . ) , Histoire de la France. L'espace français, Paris 1989, S. 3 3 - 1 6 9 , insb. S. 116-151) kennt keine deutsche Entsprechung. Siehe T. Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986. 16 Siehe K. Pfaffen ( H g . ) , Das Wesen der Landschaft, Darmstadt 1973, sowie J.E. Preston, All Possible Worlds. Α History of Geographical Ideas, Indianapolis 1972, S. 229ff. 17 F. Ratzel, Über Naturschilderune, München 1906. 18 Die »matrie« im Sinne von »petite patrie« bezeichnet in erster Linie eine räumliche Kategorie. Sie verweist nicht auf die weibliche Bildwelt der Staatssymbolik. Vgl. hierzu M. Agulhon, Marianne au pouvoir. L'imagerie et la symbolique républicaine de 1880 à 1914, Paris 1989; T. Sandkühler u. H.-G. Schmidt, ›Geistige Mütterlichkeit‹ als nationaler Mythos im Deutschen Kaiserreich, in: J . Link u. W. Wülflng ( H g . ) , Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1 9 9 1 , S. 2 3 7 - 2 5 5 .

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19 Zum Versuch der Einführung dieses neuen Vokabulars von M. Faure, Les félibrages de Paris. Α propos de la petite patrie (1897), Neuabdruck in: Ders., Pour la terre natale. Pages historiques et littéraires, Paris 1907. 20 E. Weber, La fin des terroirs. La modernisation de la France. 1870-19 15, Paris 1983, S. 77f. [frz. Übersetzung von Peasants into Frenchmen, Cambridge 1976. Die kursiven Passagen erscheinen im Original in Französisch, Anm. der Übers.]. 21 C. Beauquier, Séance d'ouverture (Auszüge), in: Le Ier Congrès international pour la protection des paysages, Paris 1910, S. 10. 22 Siehe G. Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969. 23 Schultze-Naumburgs Werke erschienen gesammelt in den »Kulturarbeiten«. Siehe insb. P. Schnitze-Naumburg, Hausbau. Einführende Gedanken zu den Kulturarbeiten, München 1907 (Kulturarbeiten 1); Ders., Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen, I. Teil, München 1915 (Kulturarbeiten 7); Ders., Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen, III. Teil, München 1916 (Kulturarbeiten 9). 24 A.-M. Thiesse, Ecrire, S. 21f. Zu den Vorstellungen über das architektonische Erbe: G. Jeannot, Ce que les associations donnent à voir du patrimoine architectural, in: Les Annales de la recherche urbaine 42, 1989, S. 27-35. 25 W. Brückner, Histoire de la Volkskunde. Tentative d'une approche à Pusage des Français, in: I. Chiva u. U. Jeggle (Hg.), Ethnologie en miroir. La France et les pays de langue allemande, o.O. 1987, S. 223-247. 26 Adolphe Joannes, der Herausgeber der »Guides Joannes«, war Gründungsmitglied der SPPF. 27 Beispielsweise der bahnbrechende Artikel von E. Rudorff, Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur (1880), abgedruckt in: Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1, 1910, S. 7-21. 28 K.D. Barkin, The Controversy over German Industrialisation 1890-1902, Chicago 1970. 29 J. Pitié, L'homme et son espace. L'exode rural en France du XVIème à nos jours, Paris 1987. 30 Die Auflösung der ländlichen Strukturen, die durch die Industrialisierung und die Technisierung der Landwirtschaft bedingt war, hatte einen Bevölkerungsrückgang zur Folge, der als ›Aderlaß‹ für die Nation empfunden wurde. 31 D. Lindentaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des »Neuen Kurs« bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890-1914), Teil 1, Wiesbaden 1967 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 52). 32 E. Ruhorff, Der Schutz der landschaftlichen Natur und der geschichtlichen Denkmäler, Berlin 1892. 33 H. Sohnrey (Hg.), Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, Leipzig 1900, der unter anderem Beiträge von Schultze-Naumburg und Mielke enthält. 34 R. Mielke, Der Einzelne und seine Kunst, Beiträge zu einer Ökonomie der Kunst, Leipzig 1901. 35 Ders., Das deutsche Dorf, Leipzig 1907. 36 Im Jahre 1906 lautete das Thema ihres Pariser Kongresses »Rückkehr aufs Land und Raumordnung im Zusammenhang mit der Dezentralisierung der Verwaltung«, im Jahre 1907 »Rückkehr aufs Land« und 1908 »Rückkehr zur Scholle«. 37 Die deutsche Zeitschrift »Das Land« war kein Organ des »Bundes der Landwirte«, sondern eine Publikation zur Förderung der »kulturellen Erneuerung«, die sich an das ländliche Bildungsbürgertum wandte. Ebenso unterschieden sich die »Société Française

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d'Emulation Agricole contre l'Abandon des Campagnes« (»Französische Gesellschaft für landwirtschaftlichen Wettbewerb zur Bekämpfung der Landflucht«), die 1902 gegründet wurde und den Anzeiger »L'Emulation Agricole« herausgab oder die 1905 gegründete »Ligue Française contre la Désertion des Campagnes« (»Französische Liga zur Bekämpfung der Landflucht«), deren Ehrenvorsitzender Frédéric Mistral war und die die Zeitschrift »Vie rurale« veröffentlichte, von den bäuerlichen Organisationen und berufsständischen Vereinigungen. Zu dieser Thematik siehe K. Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1971, S. 77, und P. Barral, Les agrariens français de Méline à Pisani, in: Cahiers de la Fondation nationale des Sciences Politiques 164, Paris 1968. 38 Ders., La terre, in: J.-F. Sirinelli (Hg.), Histoire des droites en France, Bd. 3: Sensibilités, Paris 1992, S. 51. 39 H. Bausinger, Volkskunde ou l'ethnologie allemande, Paris 1993, S. 20. 40 J. Méline, Le retour à la terre et la surproduction industrielle, Paris 1905, S. 204 (dt. Die Rückkehr zur Scholle und die industrielle Überproduktion, Berlin 1906). 41 R.R. Brettell u. C.B. Brettell, Les peintres et le paysan au XIXème siècle, Genf 1983, S. 130. 42 Der »Bodenroman« wird auch »roman champètre« oder »roman rural« genannt. Sein berühmtester Vertreter war René Bazin, der 1889 »La terre qui meurt« (dt. »Landflucht«) veröffentlichte. 43 P. Zimmermann, Der Bauernroman. Antifeudalismus, Konservatismus, Faschismus, Stuttgart 1975. 44 Zu den Unterschieden zwischen der Heimatbewegung und dem autonomistischen Regionalismus siehe W. Lipp, Heimatbewegung, Regionalismus, Pfade aus der Moderne?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27, 1986, S. 331355. 45 P. Schultze-Naumburg, Begrüßung, Bericht über die Jahresversammlung des Bundes Heimatschutz in Goslar am 12.-14. Juni 1905, Halle 1906, S. 1ff. Wie A. Confino bemerkt, ist das Lokale auch immer gleichzeitig eine Metapher für die Nation (A. Confino, The Nation as a Local Metaphor: Heimat, National Memory and the German Empire, 1871-1918, in: History & Memory 1, 1993, S. 42-86). 46 Thiesse, Ecrire, S. 2-45. 47 J. Lahor, Allocution (Auszüge), in: Allocutions prononcés à l'occasion de la Fêtce de l'Arbre célébrée le 14 juin 1903, in: Société des Amis des Arbres et Société pour la Protection des Paysages, Annecy 1903, S. 7-20, S. 7f. 48 Die Verbindung zwischen Hygiene, Ästhetik und Moral wurde von John Ruskin hergestellt, auf den sich die Mitglieder von SPPF und BHS immer wieder beriefen. Die Grundsätze einer öffentlichen Politik der »ästhetischen Hygiene« wurden während des Premier Congrès d'Art Public erörtert, der 1898 in Brüssel stattfand. Siehe die Zeitschrift »L'Art Public«, 1897-1898. 49 Vgl. C. Applegate, Localism and the German Bourgeoisie. The ›Heimat‹ Movement in the Rhenish Palatinate before 1913, in: D. Blackbourn u. R. Evans (Hg.), The German Bourgeoisie: Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London 1991, S. 237f. 50 »Zu diesem Gegenstand wird die Landschaft nur, wenn Anklage gegen sie erhoben wird.« Siehe M. Roncayolo, Le paysage du savant, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/I, S. 525. 51 B. Latour, Nous n'avons jamais été modernes. Essai d'anthropologie symétrique, Paris 1991. 52 Das bezeichnendste Beispiel hierfür war der Botaniker Conwentz, der bereits im Auftrag der schwedischen Regierung Studien durchgeführt hatte, bevor er die Leitung der preußischen Behörde übernahm, die mit dem Schutz von Naturdenkmälern betraut war.

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53 J. Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft ( 1 9 6 3 ) , in: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1980, S. 141-190. 54 Siehe die Debatte über die Annahme der gemeinsamen Resolutionen, in: Le Ier Congrès, 1910, S. 136. 55 Der französische Begriff »monument de la nature« wurde zum ersten Mal von Alexander Humboldt verwendet, der damit einen Baum im Regenwald des Amazonasgebiets bezeichnete. Er definierte außerdem in seinem Werk »Kosmos« die »Landschaft« als ästhetischen Auszug aus der Natur. Siehe H. Noack, Naturgemälde und Naturerkenntnis. Alexander von Humboldts »Kosmos« in problemgeschichtlicher Rückschau, in: K. Müller-Vollmer ( H g . ) , Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, Frankfurt/M. 1976, S. 4 7 - 7 0 . 56 Siehe M. Faure, Rapport officiel, Senat, Nr. 84, 1910, S. 19. 57 Siehe H. Conwentz, Bericht über die Staatliche Naturdenkmalpflege in Preußen im Jahre 1906 vom Herausgeber, Berlin 1907 (Beiträge zur Naturdenkmalpflege 1). 58 Die entsprechenden französischen Adjektive lauten: »charmant«, »sublime«, »joli«, »gentil«, »magnifique«, »grandiose«, »pittoresque«. 59 J.D. Hunt, Gardens and the Picturesque. Studies in the History of Landscape Architecture, Cambridge 1992, S. 188. 60 Allerdings bedürfte es einer Sozialgeschichte des Geschmacks und der Verbreitung der üblichen Arten kulturellen Konsums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (beispielsweise durch die Zeitschriften »Die Gartenlaube« oder »L'Art Pittoresque«), um exakt den Ursprung und die Wandlungen dieses ästhetischen Repertoires zu ermitteln. Vgl. J. Hermand, Die literarische Formenwelt des Biedermeiers, Gießen 1958. 61 Siehe N. Green, The Spectacle of Nature. Landscape and Bourgeois Culture in Nineteenth-Century France, Manchester 1990; B. Kalaora, Les salons verts: parcours de la ville à la forêt, in: M. Anselme ( H g . ) , Tant qu'il y aura des arbres. Pratique et politique de la nature. 1870-1960, Paris 1981, S. 8 5 - 1 0 9 . 62 P. Schultze-Naumburg, Das Studium und die Ziele der Malerei. Ein Vademecum für Studierende, Leipzig 1900. 63 F. Cros-Mayrevieille, De la protection des monuments historiques et artistiques des sites et des paysages, Paris 1907. 64 H. Conwentz, Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Denkschrift dem Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, Berlin 1904; R. de Clermont, De la protection des monuments du passe, des paysages et des sites, Beilage zum Bulletin de l'Association Littéraire et Artistique, 1905. 65 Der Ausdruck stammt von F. Choay, L'allégorie du patrimoine, Paris 1992, S. 12. 66 J. Hulenkampff, Notiz über die Begriffe ›Monument‹ und ›Lebenswelt‹, in: A. Assmann u. D. Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991, S. 26f. 67 L. Tittel, Monumentaldenkmäler von 1871 bis 1918 in Deutschland. Ein Beitrag zum Thema Denkmal und Landschaft, in: E. Mai u. S. Waetzoldt ( H g . ) , Kunstverwaltung, Bauund Denkmalpolitik im Kaiserreich, Berlin 1981, S. 2 1 5 - 2 7 5 . 68 A. Riegl, Le culte moderne des monuments, Paris 1984, S. 86 (dt. Der moderne Denkmalskultus, sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903). Riegl spricht von den Denkmälern, die bewußt zur Erinnerung an ein Ereignis errichtet wurden und in jener Zeit äußerst zahlreich waren. 69 Ebd., S. 66. 70 Ebd., S. 68. 71 Dieses Verständnis erlaubt es, von der Landschaft als ideologische oder symbolische Vorstellung zur Landschaft als Produkt einer visuellen Tätigkeit zu gelangen, mittels der die Menschen unter verschiedenartigen Objekten jene aussuchen, die in das als ›Landschaft‹

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bezeichnete Arrangement passen, und jene ignorieren, die dieses Arrangement aufzulösen drohen. Ein vergleichbares Vorgehen in der Malerei erläutert S. Alpers, L'art de dépeindre, La peinture hollandaise au XVIIème siècle, Paris 1990, die die Tätigkeit des Sehens hervorhebt (»picturing«). 72 G. Simmel, Die Ruine ( 1 9 1 1 ) , in: Ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin 1986, S. 118-124. 73 Dieses Verschwinden der Geschichdichkeit, der Akteure (der Bauer, der Grundbesitzer) und der Ereignisse (das Gut des Grundbesitzers oder das bestellte Feld, die Gegenstand einer Entwicklung sein könnten) bestätigt die Arbeiten von J . Barrel, der die Entwicklung von Constables Malerei mitverfolgt. J. Barrell, The Dark Side of the Landscape. The Rural Poor in English Painting 1 7 3 0 - 1 8 4 0 , Cambridge 1980. 74 Der Begriff wurde geprägt von I. Chiva u. F. Dubost, L'architecture sans architecte: une esthétique involontaire?, in: Etudes rurales 117, 1990, S. 110. 75 Die »Gesellschaft zur Förderung der Amateurphotographie« war bereits seit der Gründung des »Bund Heimatschutz« in diesem Verband vertreten. 76 T. Neumann, Sozialeeschichte der Photographie, Neuwied 1966. 77 Zu den Zusammenhängen zwischen Photographie und der kollektiven Wahrnehmung der Zeit vgl. D M . Lowe, History of Bourgeois Perception, Chicago 1982, S. 38f. 78 Dieses Bildmaterial, das von Schultze-Naumburg für seine zahlreichen öffentlichen Vorträge entwickelt wurde, wurde in der Zeitschrift »Der Kunstwart«, im Anzeiger des BHS und in den »Kulturarbeiten« abgedruckt. In Frankreich wurde diese Verfahrensweise durch den Schweizer G. de Montenach bekannt (G. de Montenach, Propagande esthétique et sociale. La formation du goût dans Part et dans la vie, Freiburg 1914). 79 H. Conwentz, Die Heimatkunde in der Schule, Berlin 1904; A. Mellerio u.a., L'art et l'Ecole, Paris 1907. 80 D. Maingueneau, Les livres d'école de la république 1870-1914. Discours et Ideologie, Paris 1979, S. 276. 81 Zitiert von V. Berdoulay, La formation de l'Ecole française de géographie ( 1 8 7 0 1914), Paris 1981, S. 86. 82 Siehe J. Wolschke-Buhlmann, Auf der Suche nach Arkadien. Zu Landschaftsidealen und Formen der Naturaneignung in der Jugendbewegung und ihrer Bedeutung für die Landschaftspflcge, München 1990 (Arbeiten zur sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung 11). 83 Siehe F. Spicker, Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1 9 1 0 - 1 9 3 3 , Berlin 1976. 84 M. de Certeau, La beauté du mort, in: Ders., La culture au pluriel, Paris 1974, S. 5 5 - 9 4 , S. 59. 85 Siehe z.B. A.D. Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986. Ein Beispiel liefert P. Morgan, From a Death to a View: The Hunt for the Welsh Past in the Romantic Pcriod, in: E. Hobsbawm u. T. Ranger ( H g . ) , The Invention of Tradition, Cambridge 1989, S. 8 6 - 1 0 0 .

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PETER REICHEL

Steine des Anstoßes Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen

In der Auseinandersetzung mit der jüngeren, aber nicht mehr jüngsten Vergangenheit tritt neben die Aneignung schriftlicher Zeugnisse offenbar in wachsendem Maße der räumlich und visuell erlebbare Erinnerungsort1 und die künstlerische Manifestation und Symbolisierung im Denkmal. Hier steht allerdings nicht der künstlerische oder kulturgeschichtliche Wert der Denkmäler zur Diskussion, auch nicht ihr Wert für eine wie auch immer verstandene ästhetische und politische Erziehung, sondern ihr historischer Erinnerungs- und Identifikationswert, der mit jenem eng verknüpft ist. Denkmäler und Erinnerungsorte verweisen nicht nur auf ein konkretes Ereignis, eine Person oder eine Gruppe. Sie machen auch Deutungs- und Identifikationsangebote an den Besucher und Betrachter, beispielsweise indem gewaltsam getötete Menschen als vorbildliche Helden, Märtyrer oder namenlose Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft dargestellt werden.2 Denkmäler sind also für den Betrachter deutungsbedürftig und identifikationsfähig. Er muß sich ihnen gegenüber so oder so verhalten, sofern sie nicht allmählich bedeutungslos und damit auf eine bestimmte Weise unsichtbar werden. Robert Musil meinte spöttisch, daß das ins Stadtbild integrierte und gleichsam auf seine Alltagsrolle reduzierte Denkmal »unsichtbar« sei, gegen jede »Aufmerksamkeit imprägniert«.3 Und ein zeitgenössischer Künstler variierte einmal ein bekanntes Adorno-Zitat, wonach seit Auschwitz kein Denkmal mehr wahrhaftig sein könne. Verbraucht erschienen ihm alle ästhetisch-politischen Ausdrucksformen - nicht nur das vaterländische Pathos, die monumentale Machtdekoration, die sakrale Aura um herausragende Persönlichkeiten und heroische Ereignisse, verbraucht, weil durch verbrecherische Regime desavouiert.4 Gleichwohl sind Denkmäler seit einigen Jahren wieder gefragt, werden errichtet oder umgestaltet und oft - kaum überraschend - kontrovers aufgenommen. Denkmalsetzungen machen Schlagzeilen. Denkmalpflege ist vielerorts zum Politikum geworden. Ob es nun - was allein den

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Komplex ›Nationalsozialismus‹ betrifft - um die Neue Wache als neuer nationaler Gedenkstätte des vereinten Deutschland in Berlin geht, das Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtorbahnhof oder die »Topographie des Terrors« in Berlin, das Denkmal für Walter Benjamin im katalanischen Portbou oder die Umgestaltung der KZ-Gedenkstätten in der früheren DDR, die Auseinandersetzungen sind zumeist heftig und langwierig. Das ist nicht neu, aber doch bemerkenswert. Entstehung, Sturz und Veränderung von Denkmälern haben schon in der Vergangenheit immer wieder starke Beachtung gefunden. Die öffentliche Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten und Denkmälern läßt ein ganzes Repertoire an, wenn man so sagen darf, pflegerischen und unpfleglichen Umgangsformen erkennen: Zerstörung und Umnutzung, Konservierung und Kommentierung, Restauration und Inszenierung. Bau und Nutzung, Zerstörung und Veränderung von Denkmälern und Gedenkstätten sind demnach ein wichtiger Bereich symbolischer Politik und der durch sie beeinflußten kollektiven Gedächtniskultur. Ihre Träger und Akteure wollen dabei ein zeit- und gruppenspezifisches oder gruppenübergreifendes Geschichtsbild festschreiben und den Erinnerungsdiskurs entweder zentralisieren oder umgekehrt gerade lokalhistorisch fixieren. Zudemritualisierenund verstetigen sie ihn in der regelmäßigen Wiederkehr von Gedenkfeiern und unter Ausnutzung spezifischer Zeitorte. Denkmäler und Gedenkstätten mögen weniger aussagen über die historischen Persönlichkeiten und Ereignisse, die vergegenwärtigt werden sollen, und mehr über die Interessen, Absichten und Geschichtsdeutungen der Denkmalsetzer. Gleichwohl - oder gerade deshalb - sind sie aufschlußreiche kulturelle Zeichen, Zeugnisse einer doppelten historischen Zeit: mittelbar für die Zeit und das historische Thema, dem sie gewidmet sind, unmittelbar für die Rezeptions- und Deutungsgeschichte eines historischen Ereignisses, einer Epoche, einer Persönlichkeit. Denkmäler und Erinnerungsorte, die der Erinnerung an den Nationalsozialismus dienen, aber auch seiner verzerrten Wahrnehmung oder dem Verdrängen überhaupt, sind insoweit unentbehrliche Dokumente für die Historiographie deutscher Vergangenheitsbewältigung. 1. Die Entsorgung der NS-Architektur am Beispiel Nürnberg Der schwierige Umgang mit der NS-Architektur soll im folgenden am Beispiel der Stadt Nürnberg dargestellt werden.5 Zusammen mit München und Berlin steht Nürnberg wie keine andere Stadt in einer unauflöslichen Verbindung mit dem Nationalsozialismus, und das gleich dreifach: als Stadt 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der Reichsparteitage, als Stadt der Nürnberger Gesetze und als Stadt der dreizehn Nürnberger Prozesse. Daß Nürnberg immer wieder mit seiner NS-Vergangenheit konfrontiert worden ist, hat allerdings auch mit seinem Umgang mit dem steinernen Erbe aus jener Zeit zu tun, mit dem Reichsparteitagsgelände und seinen bizarren Baubeständen, teils unfertigen Monumentalbauten (Kongreßhalle, Großes Stadion, Märzfeld), teils vollendeten (Zeppelintribüne) und teils zerstörten Gebäuden (Luitpoldhalle).6 Während der private und gewerbliche Baubestand Nürnbergs zu über neunzig Prozent zerstört oder beschädigt worden war, blieb das Reichsparteitagsgelände von den Bomben weitgehend verschont. Bis weit in die siebziger Jahre hat sich die Stadt nach Kräften bemüht, den realhistorischen Zusammenhang zwischen Nürnberg, den Reichsparteitagen und dem Nationalsozialismus - als Bewegung wie als Regime unkenntlich werden zu lassen. Am liebsten hätte man den Nationalsozialismus überhaupt vergessen gemacht und Nürnberg von diesem Image befreit. Zwar verfielen die Ruinen, wurden umfunktioniert, weitergenutzt oder teilweise gesprengt, doch Gras wollte über diese monströsen ›Worte aus Stein‹ nicht wachsen. Teile des vormaligen SA- und nachmaligen Kriegsgefangenenlagers wurden beispielsweise nach Kriegsende von den Amerikanern zur Internierung von führenden NSDAP- und SS-Mitgliedern benutzt, andere durch die UN-Flüchtlingsorganisation als Lager für Displaced persons. Später wurde daraus eine Wohnsiedlung für Flüchtlinge und Heimatvertriebene. Zeitweilig befand sich auf dem Gelände auch ein Sammellager für Ausländer. Als dieses Lager 1960 schließlich aufgelöst wurde, standen für den nun angestrebten Auf- und Ausbau der Trabantenstadt Langwasser die seinerzeit errichteten elf (von 24 geplanten) Märzfeldtürme im Weg. Die Stadt wollte daraus Platten für die Montage von Fertighäusern gewinnen. Die Katholische Kirche hätte es lieber gesehen, wenn aus den Trümmern der Türme ein Kirchturm gebaut worden wäre, getreu dem geschichtsverfälschenden Motto »Der Sieg des Kreuzes über das Hakenkreuz«. Aus dem Trümmerschutt baute man schließlich einen Lärmschutzwall an der heutigen KarlSchönleben-Straße. Die Sprengung der Märzfeldtürme geriet zu einer spektakulären Aktion. Eine nachhaltige Debatte über Nürnberg und den Nationalsozialismus löste sie allerdings nicht aus. Man schien erleichtert, daß ein weiteres Stück Vergangenheit unsichtbar geworden war: »Das Märzfeld streift seine Vergangenheit ab«, kommentierten die »Nürnberger Nachrichten«.7 Unsichtbar wurde auch, daß hier eine große Zahl sowjetischer Kriegsgefangener ums Leben gekommen war und daß man vom Bahnhof Märzfeld aus die jüdischen Einwohner Nürnbergs deportiert hatte. 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Aufschlußreich für den unsicheren Umgang mit der NS-Vergangenheit ist auch die Nutzungsgeschichte der Kongreßhalle, ein zwar unvollendeter, aber gleichwohl ungewöhnlich stabiler, hufeisenförmiger Rundbau. Der Plan, den Hauptbahnhof an diese Stelle zu verlegen, wurde rasch verworfen. Viel sinnvoller und einträglicher erschien den Stadtvätern die Nutzung als Ausstellungs- und Kongreßhalle. 1949 fand in der monumentalen Ruine die Deutsche Bauausstellung statt, ein Jahr später feierte Nürnberg hier seinen 900. Geburtstag. Zu den Attraktionen zählte ein Freiluftcafe im oberen Stockwerk. In den fünfziger Jahren hielten die oberschlesische und die sudetendeutsche Landsmannschaft ihre Versammlungen in der Kongreßhalle ab. Daneben diente sie Volksfesten und Zirkusveranstaltungen. Mittlerweile hatte die Stadt zum Erhalt des Gebäudes eine runde Million Mark investiert, und man dachte über Konzepte einer langfristigen kommerziellen Nutzung nach. Zunächst stand der Plan zur Diskussion, die Kongreßhalle zu einem großen Fußballstadion umzubauen. Der Nürnberger Fußballclub feierte wieder einmal große Erfolge, Länderspiele und große Einnahmen winkten. Mit den Vorarbeiten beauftragte man einen mit Monumentalbauten bestens vertrauten Fachmann, den ehemaligen NSArchitekten und Erbauer des Berliner Olympiastadions, Werner March. Doch dieser Plan wurde genauso wenig Wirklichkeit wie die Absicht, aus der Ruine ein Autokino oder ein Altenheim zu machen. Über Jahre diente sie dann verschiedenen Mietern als Lagerhaus und den Nürnberger Symphonikern als Übungsraum. Später entstand daraus im südlichen Seitentrakt ein »Serenadenhof«, der für Konzert- und Theateraufführungen genutzt wird. Die Stadt erwirtschaftet aus diesem »Felsklotz« - so ein städtischer Baureferent - nicht unerhebliche Mieteinnahmen, denen allerdings beachtliche Instandsetzungskosten gegenüberstehen. 1987 machten Nürnberger Geschäftsleute von sich reden, die mit Millioneninvestitionen aus der Kongreßhalle ein Erlebniszentrum machen wollten. Die Stadt versprach sich davon einen Beitrag zur »Entmythologisierung« des Bauwerks, wogegen eine Bürgerinitiative protestierte. Ihrer Konzeption nach wäre die Kongreßhalle teilweise in ein Mahnmal umgewandelt worden. Auch das Landesamt für Denkmalschutz in München erhob Einspruch und erklärte die Kongreßhalle zu einem »der wichtigsten Zeugnisse der Gigantomanie des Nationalsozialismus«, unverzichtbar als »Mahnmal einer für die heutige Generation unvorstellbar gewordenen Staatsidee«. Mit dem Denkmalschutzgesetz von 1973 waren alle bayerischen NS-Bauten unter Denkmalschutz gestellt worden. Die Stadtspitze mußte die lukrative Idee mit dem Freizeitcenter schließlich fallen lassen. Auch das Zeppelinfeld brachte die Stadt immer wieder in Verlegenheit. Da es mit seiner Tribüne vielfältig nutzbar ist, fanden hier die meisten 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Massenveranstaltungen während der Reichsparteitage statt. 1945 veranstalteten die Amerikaner auf dem Zeppelinfeld eine ihrer Siegesparaden. Anschließend sprengten sie das vergoldete Hakenkreuz samt Lorbeerkranz von der Haupttribüne. Schon 1946 wurden die traditionsreichen Autorennen auf dem Norisring wieder aufgenommen. Freiluftveranstaltungen vielfältiger Art kamen hinzu: politische und religiöse Großveranstaltungen ebenso wie politisches Theater und Rock-Konzerte. Die US-Armee nutzte die Zeppelinwiese als Sportgelände, die Squash- und Tennisspieler üben hier bis heute. Wegen Baufälligkeit mußte bereits 1967 die Säulengalerie weggesprengt werden. Hätte man damit bis 1973 gewartet, stünde sie vermutlich noch. Die Instandsetzung, gar Wiederherstellung der Tribünenanlage (mit Kosten von drei Millionen Mark) erschien damals aber unvertretbar und auch unerwünscht. Lieber wollte man »wieder ein Stück des Erbes nationalsozialistischer Vergangenheit niederreißen«. Nürnberg, so hieß es offenbar unbekümmert um die Nähe zum NS-Jargon, sei bemüht, »die Erinnerung an seine Vergangenheit als Stadt der Reichsparteitage auszumerzen« .8 Erst 1983 bewilligte die Stadt eine runde halbe Million Mark für die Restaurierung der Reste der Zeppelintribüne. Die Novellierung des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes hatte dies möglich gemacht. Eine Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Ausstellung »Faszination und Gewalt« zum fünfzigsten Jahrestag der »Machtergreifung« mußte sich allerdings zunächst mit achtzigtausend Mark begnügen. Zusammen mit den 1989 aufgestellten und über das gesamte, unübersichtlich weitläufige Gelände verteilten Informationstürmen wurden nun erstmals lokal- und nationalhistorische Zusammenhänge für die jährlich über einhunderttausend Besucher erkennbar. Der plakative und didaktische Gestus (»Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«) erinnert indes ein wenig an die antifaschistischen Spruchweisheiten östlicher Gedenkstätten. Ein umfassendes, integriertes und langfristig angelegtes Konzept ist allerdings bis heute Desiderat geblieben. Einen Schritt in diese Richtung wollte wohl Nürnbergs Oberbürgermeister Urschlechter tun, als er auf die Idee kam, Anfang der neunziger Jahre auf dem Gelände um den Dutzendteich eine Bundesgartenschau auszurichten. Hitlers »Große Straße« später US-Feldflugplatz - wäre in eine »Friedensallee« verwandelt worden. Aus der Zeppelintribüne hätte man eine große Blumenarena gemacht und aus der Kongreßhalle ein »einzigartiges Großgewächshaus«: der Monumentalbau als »Plantopolis« oder »Ökopolis«.9 Doch der Plan fand im Stadtrat keine Mehrheit. Ebensowenig Zustimmung bekam das Konzept der Nürnberger Kulturreferentin Karla Fohrbeck, die 1989 ihr Amt antrat. Nach ihren Vorstellungen sollte das Reichsparteitagsgelände in einen »europäischen Friedensort« 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

verwandelt, Nürnberg zur internationalen »Wächterstadt« erhoben und zu einem zentralen Ort der »freiwilligen Versöhnung« umgestaltet werden. Für ihr »europäisches Gesamtkunstwerk, das Geist, Seele, Körper und Kopf umfaßt«, waren verschiedene Elemente vorgesehen: panzerglasgeschützte Tafeln mit Titeln wie »Einsicht«, »Umkehr«, »Vergebung« und »Versöhnung« sowie Texte aus der Bibel und der geistig-literarischen Tradition Europas - ein »Friedenshain« und eine »Friedensallee« und Gedenksteine für die Opfer, während auf der Führerkanzel, wo einst Hitler gestanden hatte, die Skulptur »Bruder Eichmann« von Alfred Hrdlicka aufgestellt werden sollte.10 Anfangs wurde das Konzept durchaus beifällig aufgenommen, zumal erstmals eine Gesamtkonzeption offeriert wurde. Doch schon bald überwogen die Bedenken. Die ganzheitliche Konzeption, so wurde argumentiert, abstrahiere von den historisch-politischen Zusammenhängen und reduziere den Nationalsozialismus auf eine religiöse Dimension. Zudem könne man einen Schauplatz der Täter und ihrer Gefolgsleute schwerlich in einen Erinnerungsort für die Opfer umwandeln. So ist das weitläufige Reichsparteitagsgelände eine bizarre Landschaft geblieben: monumentales Freilichtmuseum und Gedenkstätte, Gewerbegebiet und Ort von allerlei Großveranstaltungen, Spielwiese, Sport-, Zeltund Parkplatz. Jedenfalls ein Gelände der Ungleichzeitigkeiten, gegensätzlichen Nutzungen und denkwürdigen Impressionen, die gelegentlich auch Dokumentarfilmer inspirieren: Auf der Führerkanzel posiert ein kurzgeschorener Jüngling mit Hitlergruß, während einige hundert Meter weiter im Serenadenhof ein junger Operntenor für den abendlichen Auftritt übt. Drumherum auf den verlassenen und verwahrlosten Plätzen achtlos abgestellter Zivilisationsmüll. Und vor dem Eingang zur ständigen Ausstellung »Faszination und Gewalt« ist kunstvoll der Militärschrott der Antikriegsobjekte »Overkill I und II« des Hannoveraner Künstlers Hans Jürgen Breuste aufgetürmt. In einem Telefonhäuschen fordert ein Aufkleber der »Jungen Nationaldemokraten«: »Kein Wahlrecht für Ausländer!« Ein zweiter ist dagegen gesetzt: »Fuck off, Nazi Skins!« Auf dem Trödelmarkt am S-Bahnhof Dutzendteich wird jüngste und jüngere deutsche Vergangenheit verramscht: Militaria der Wehrmacht und der Volksarmee. Der gehobene Kunstgeschmack darf sich derweil an einer Skulptureninstallation erfreuen, die der Bildhauer Karl Prantl aus den Granitplatten der »Großen Straße« gefertigt und in der Nürnberger Kunsthalle ausgestellt hat. Die Platten, die einst aufgerauht waren, um dem Marschtritt der Wehrmacht-Kolonnen Halt und Widerhall zu geben, sind geschliffen und geglättet, gleichsam zu Edelsteinen verwandelt. »Damit wird Geschichte pervertiert«, schrieb Hermann Glaser, denn »in den Steinbrüchen, aus denen die nun ästhetisierten Produkte stammen ..., mußten KZ-Opfer arbeiten. Was soll da das Geschwätz vom Granit als ›Element der Urnatur‹; 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

es geht um die Aufmarschstraße, nicht um den Gang zu den Müttern.«11 Die SPD-Rathausfraktion hätte die Steine gern erworben und wieder benutzt - für die geplante »Friedensallee« in der Siedlung Langwasser im Anschluß an Speers »Große Straße«. 2. Denkmäler und Erinnerungsorte: Die Inszenierung der Erinnerung Stein des Anstoßes war und ist allerdings nicht nur das architektonische Erbe der NS-Zeit, ebenso sind es auch die zu Gedenkstätten umgewandelten Orte der NS-Gewaltverbrechen. In der ersten Phase waren es vor allem die Sieger und die überlebenden Opfer, die Denkmäler bauten. Unweit vom Brandenburger Tor errichteten die Sowjets das einzige Siegesdenkmal einer Besatzungsmacht in Deutschland. Die Briten und überlebende jüdische Gefangene stellten in Bergen-Belsen ein Denkmal für die Toten des Konzentrationslagers auf In Stukenbrock/Bielefeld, in Dachau und in Flossenbürg (Oberpfalz) gestalteten ehemalige Häftlinge Grabanlagen und Denkmäler. Daß Flossenbürg und Stukenbrock so früh zu Gedenkstätten umgewandelt wurden, hat nicht verhindern können, daß hier später teilweise einschneidende Korrekturen vorgenommen wurden. In Stukenbrock errichteten befreite Häftlinge bereits im April 1945 einen zehn Meter hohen Obelisk. Er trug auf drei Tafeln in russischer, englischer und deutscher Sprache die Inschrift: »Hier ruhen die in der/ faschistischen Gefangenschaft/zu Tode gequälten 65 000 russischen Soldaten/ Ruhet in Frieden Kameraden/1941-1945.« Anfang der sechziger Jahre wurde ein neues Ehrenmal errichtet. Aus den im Lager verhungerten, an Seuchen und Krankheiten zugrunde gegangenen oder ermordeten russischen Kriegsgefangenen hatte man - unverfänglichere - »sowjetische Kriegstote« gemacht, von denen es nur noch hieß, daß sie »fern ihrer Heimat starben«. Die Ermordung der Rotarmisten verflüchtigt sich dabei im Pathos einer allgemeinen Friedensformel: »Gedenkt ihres Leidens und Sterbens/und sorget Ihr, die ihr noch im Leben/steht, daß Friede bleibt, Friede/zwischen den Menschen, Friede zwischen/ den Völkern.« Zwar spricht ein 1982 von der Gemeinde aufgestellter Gedenkstein von »Kriegsgefangenen«, die im Lager umkamen, im Ganzen ist aber die Tendenz nicht zu übersehen, die Vergangenheit des Lagers unter dem Einfluß des antikommunistischen Zeitgeistes umzudeuten. So ließ die Landesregierung in den fünfziger Jahren den roten Stern und die rote Fahne auf dem Obelisken durch ein orthodoxes Kreuz ersetzen. Und die Gemeinde zögerte nicht, 42 ermordete russische Offiziere vom Gemeinde- auf den Kriegsgräberfriedhof zu verlegen und den für die Toten errichteten Gedenkstein 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

durch ein Denkmal für die Vertriebenen und Flüchtlinge aus den früheren deutschen Ostgebieten auszutauschen.12 Nach Kräften umgedeutet hat man die Vergangenheit auch auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, wo im Mai 1949 gegenüber dem Krematorium das große Mahnmal der Stadt für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung eingeweiht wurde. Einen konkreten historischen Bezug lassen jedenfalls nur die Jahreszahlen 1933-1945 über den 105 Urnen erkennen, die hier mit Aschenresten aus verschiedenen Vernichtungs- und Konzentrationslagern in einem monumentalen Betonrahmen in fünfzehn Reihen übereinander aufgestellt sind. Die Mahnworte lösen den historischen Bezug ins allgemein Menschliche auf. Durch unklare Bezüge und unbestimmtes Pathos wird die Aussage undeutlich, beschränkt sich auf eine allgemeine memento mori-Paraphrase: »Gedenkt unserer Not bedenkt unsern Tod/Den Menschen sei Bruder der Mensch/Unrecht brachte uns den Tod/Lebende erkennt Eure Pflicht.« Auch dieser Erinnerungsort schweigt sich über die höchst kontroverse Vorgeschichte des Denkmals aus. Ursprünglich wollten die Verfolgtenorganisationen vor dem Rathaus ein Denkmal für die NS-Opfer errichten. Doch das ging den Stadtvätern zu weit, selbst denen unter ihnen, die gerade aus dem Exil zurückgekehrt waren und doch selbst zu den Opfern des NS-Regimes gehörten. Erst nach langen Auseinandersetzungen einigte man sich darauf, das Mahnmal auf den cityfernen Ohlsdorfer Friedhof zu stellen. Die zweite Phase - im wesentlichen identisch mit den fünfziger Jahren war eine Zeit der Geschichtsumdeutung oder überhaupt verweigerten Vergangenheitsbewältigung. Denkmalsgeschichtlich sind auch diese Jahre von Belang. Da ist zum einen der Versuch, Ruinenkirchen als Denkmale für die Bombenopfer zu bewahren - so geschehen in Berlin mit der Gedächtnis-Kirche, in Darmstadt mit der Ruine am Kapellplatz, mit der Frauenkirche in Dresden, mit St. Aegidien in Hannover und St. Nikolai in Hamburg. Das war gewiß auch der Versuch, die deutsche Katastrophe religiös zu deuten, sie mit der christlichen Leidens- und Hoffnungsgeschichte zu verknüpfen. Neben den Bombenopfern sind es die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, denen zu jener Zeit besondere denkmalpflegerische Fürsorge galt, zumal den Toten mit dem »Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge« eine tatkräftige Lobby zur Verfügung stand. Vermehrt wurden nun Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler gebaut. Sie lehnten sich nicht selten an die Denkmäler für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs an, die die Weimarer Republik zahlreich aufgestellt hatte, wohl nicht zuletzt in der Hoffnung, damit die soldatischen Traditionsvereine symbolisch integrieren zu können. In den fünfziger Jahren ging das Soldatengedenken und die nicht nur politisch, sondern auch in den Massenmedien 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

filmisch und literarisch betriebene Wehrmachtsrehabilitation mit dem Aufbau der Bundeswehr einher. Als dritte und vierte Gruppe müssen schließlich und nicht zuletzt die Denkmäler für den Widerstand sowie die ersten Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern genannt werden. Sie entstanden zunächst vor allem in der damaligen DDR. Die Bundesrepublik begann damit teilweise erheblich später. Bereits 1952 wurde in der ehemaligen Strafanstalt Plötzensee vom Berliner Senat eine »Gedenkstätte für die Opfer der Hitlerdiktatur« errichtet. Hier starben zwischen 1933 und 1945 etwa dreitausend Menschen verschiedener Nationalitäten, unter ihnen zahlreiche prominente und weniger bekannte Mitglieder von Widerstandsorganisationen wie der »Roten Kapelle«, der jüdisch-kommunistischen »Gruppe Baum«, des »Kreisauer Kreises« und die meisten Verschwörer des 20. Juli. Die Gedenkstätte besteht aus einem Dokumenten- und dem Hinrichtungsraum. Davor befinden sich eine auffällig große Urne mit Erde aus verschiedenen Konzentrationslagern, ein Holzkreuz und eine langgestreckte Mauer, zu der drei Stufen hinauffuhren. Hier finden alljährlich am 20. Juli die Gedenkveranstaltung und Kranzniederlegung zur Erinnerung an das gescheiterte Stauffenberg-Attentat statt. Die Inschrift tritt niemandem zu nahe. Sie unterscheidet verschiedene Opfer- und Tätergruppen nicht und bietet so den passenden Rahmen für namenloses, allgemeines, gruppenübergreifendes Erinnerungszeremoniell. Unsichtbar, weil bei der Grundsteinlegung eingemauert, bleibt der ungleich differenziertere und aussagekräftigere Urkundentext: »An dieser Stelle sind in den Jahren der Hitlerdiktatur / von 1933 bis 1945 Hunderte von Menschen / wegen ihres Kampfes gegen die Diktatur / für Menschenrechte und politische Freiheit durch / Justizmord ums Leben gekommen. Unter diesen / befanden sich Angehörige aller Gesellschaftsschichten / und fast aller Nationen. / Berlin ehrt durch diese Gedenkstätte / die Millionen Opfer des Dritten Reiches, die / wegen ihrer politischen Überzeugung, ihres / religiösen Bekenntnisses oder ihrer rassischen / Abstammung diffamiert, mißhandelt, / ihrer Freiheit beraubt oder ermordet worden sind.«13 Um symbolische Geschichtsdeutung ging es auch bei der Umwandlung der früheren Konzentrationslager in Gedenkstätten. Dazu sollen hier zwei Beispiele betrachtet werden: Buchenwald und Bergen-Belsen. In Buchenwald wurden zwischen 1937 und 1945 mehr als fünfzigtausend Menschen aus über dreißig Ländern ermordet, verhungerten oder starben an Krankheiten.14 Wie in anderen Ländern wurden auch hier die Gefangenen zur Arbeit in Rüstungsbetrieben gezwungen (Junkers, Krupp, BMW, Borsig, Gustloff-Werke u.a.). Auch hier herrschte der menschenverachtende 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Grundsatz »Vernichtung durch Arbeit«. Auch hier wurden Gefangene Opfer von medizinischen Experimenten. Nach der Befreiung am 19. April 1945 leisteten die etwa 21 000 Häftlinge den berühmten »Schwur von Buchenwald«, der zum Kampf gegen die Naziverbrecher aufrief, die internationale Solidarität aller Antifaschisten und eine neue demokratische, freiheitliche und friedliche Weltordnung forderte. Der späteren DDR kam das sehr gelegen. Sie machte aus dem Konzentrationslager ihre wichtigste »Nationale Mahn- und Gedenkstätte« und benutzte diese hinfort als antifaschistisches Einheits-, Widerstands- und Befreiungsdenkmal, um ihren nationalen Ursprung und internationalen Anspruch sichtbar zu machen. So gehören zu den auffälligen Elementen der weitläufigen Gedenkstättenanlage die »Straße der Nationen«, der 55 Meter hohe Glockenturm und das von Fritz Cremer gestaltete Buchenwald-Denkmal: ein Kind und zehn Männer - keine ausgemergelten, vom Tode gezeichneten Gestalten vielmehr eine Gruppe in kämpferischer Pose, mit Fahnenbanner und Gewehr, Schwurhand und geballter Faust - die Opfer als Kämpfer, als Sieger. Und da war nicht zuletzt das am 40. Jahrestag der Lagerbefreiung neu eröffnete Museum, das - den SED-Richtlinien »antifaschistischer und antikapitalistischer Erziehungsarbeit« folgend - trotz eines unverkennbaren Bemühens um Sachlichkeit, die verbale und visuelle Erinnerung an Arbeiterklasse, Kommunistische Partei und Thälmann in den Mittelpunkt stellte. Mit diesem Bild waren die Massengräber aus der Zeit des sowjetischen Speziallagers (1945-50) mit geschätzten 6 000 bis 13 000 Toten, die 1984 erstmals entdeckt worden waren, nicht zu vereinbaren. Inzwischen liegen Empfehlungen einer von Eberhard Jäckel geleiteten Historiker-Kommission vor, nach denen die verschiedenen Phasen der Lagergeschichte in drei Ausstellungen dokumentiert werden sollen, wobei die letzte der Aufarbeitung der antifaschistischen DDR-Vergangenheitsbewältigung vorbehalten ist.15 Auch die beiden in Norddeutschland gelegenen früheren Konzentrationslager, Bergen-Belsen bei Celle und Neuengamme bei Hamburg, wurden erst ab Mitte der sechziger Jahre zu Gedenkstätten umgewandelt. Ein erster Anfang war in Bergen-Belsen bereits 1945/46 gemacht worden. Die überlebenden jüdischen Opfer hatten ein Mahnmal aufgestellt, und auf Anordnung der britischen Militärregierung wurden eine Inschriftenmauer und ein Obelisk errichtet. Ein Dokumentenhaus mit kleiner Ausstellung zur Geschichte des Lagers kam jedoch erst 1966 hinzu, nachdem das weitläufige Gelände 1959/61 eine erste Neugestaltung erfahren hatte.16 1982 wurde die Gedenkmauer um eine Inschrift für die ermordeten Sinti ergänzt, auf der im übrigen immer noch - in lateinischer und deutscher Sprache - der allen Opfern gewidmete Text steht: »criminibus lassata de 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

clementia vindex/succurit misero tandem hominum generi« (»Gottes Güte, von den Verbrechen ermüdet, kam endlich dem unglücklichen Menschengeschlecht als Retter zu Hilfe«). Demgegenüber heißt es auf dem Stein des jüdischen Mahnmals sehr viel präziser und unübersehbar in kritischer geschichtspolitischer Absicht: »Israel und die Welt sollen an die 30 000 Juden erinnern, die im Konzentrationslager von Bergen-Belsen durch die Hand der mörderischen Nazis vernichtet wurden. Erde, verdecke nicht das Blut, das auf Dir vergossen wurde.« Aber eben dies geschah. Immer wieder und auf verschiedene Weise. So offerierte das Informationsblatt für den Landkreis Celle, »Sehenswertes auf einen Blick«, Mitte der achtziger Jahre u.a. zwar den Gedenkstein für den populären Heimatdichter Hermann Löns auf dem Wietzer Berg und den »historischen Fachwerkbau« der einstigen Celler Synagoge, die - so konnte man ohne Angabe von Gründen erfahren - »am 9.11.1938 demoliert« wurde. Einen Hinweis auf die KZ-Gedenkstätte suchte man aber vergeblich. Ähnlich legen auch die zweitausend Bergener Bürger Wert darauf, daß es auf den Hinweisschildern zu den Massengräbern nur heißt: »Gedenkstätte Belsen«. Wie Dachau versteht sich auch Bergen als »Stadt mit Tradition«, eine Tradition, in der Gewaltverbrechen nicht vorkommen (dürfen). Im übrigen, so heißt es, habe man schließlich in den sechziger Jahren die »Sühnekirche vom kostbaren Blut« gebaut. Und der mit der Neugestaltung der Parkanlage beauftragte Gartenbauarchitekt hatte sich mit den Bergener Bürgern nicht von ungefähr zum Ziel gesetzt: »Es muß uns gelingen, die Sensation Belsen einzugraben.« So entstand an diesem Ort ein schmucker Heidepark-Friedhof, in gesunder Luft, mit gepflegten Wegen, Wacholder und Birken. Dort, wo das bürokratisch organisierte Inferno des unsagbar qualvollen Massensterbens herrschte, wo die in vierzehn Massengräbern verscharrten Überreste von funfzigtausend Menschen liegen und abseits, noch versteckter, sich eine weitere Massengrabstätte mit den Gebeinen von funfzigtausend sowjetischen Kriegsgefangenen befindet, die hier 1941/42 elendig ums Leben kamen. Bergen-Belsen, das ist der Ort einer bizarren, nur schwer verständlichen Erinnerungslandschaft. Idyllisch-friedliche Gegenwart und nahezu unsichtbar gewordene extrem unfriedliche Vergangenheit. Ein Erinnerungsort umgeben von Naturpark und militärischem Übungsgelände. Ein Ort, an dem es vorkommen kann, daß man Menschen von einem Grab her singen hört »O Haupt voll Blut und Wunden« und ihr Gesang plötzlich im Lärm des Gefechtsschießens vom nahen NATO-Truppenübungsplatz verstummt. Ein Ort schließlich, an dem in jenem forschen Gedenkjahr 1985 Kohl und Reagan vor der Weltöffentlichkeit einen Teil ihrer umstrittenen symbolischen Aussöhnung inszenierten und wenig später auf einem Friedhof im unweit gelegenen Hameln eine weitere Totenehrung stattfand, die auch mit Bergen-Belsen 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

zu tun hatte, aber keine kritische Beachtung fand: Neonazis und eine NPD-«Initiative zur Erhaltung der Hingerichteten-Gräber« ehrten den von den Engländern zum Tode verurteilten ehemaligen Auschwitz- und letzten Lagerkommandanten von Bergen-Belsen, Josef Kramer, und seine Helfershelfer mit Kranz, schwarz-weiß-roter Schleife, Hitlergruß und der ersten Strophe des Deutschlandliedes. Doch in Bergen-Belsen wird das Widersinnige und Unverständliche nicht zur Sprache gebracht, werden den Besuchern keine schmerzhaften Imaginationen abverlangt. Auch hier herrscht Betroffenheits-Betriebsamkeit, wird die Geschichte des Konzentrationslagers übersichtlich und mit museumspädagogischem Aufputz in schwelgender Bilderfülle vorgeführt, in Vergrößerungen und Verkleinerungen, im Puppenstubenmodell, auf Video und im Film oder auch mal in verfehlter Metaphorik. So konnte man bei einer um Anschaulichkeit bemühten Führung erfahren, daß die SS seinerzeit »die Menschen in den Waggons wie Stangenspargel zusammengepfercht« habe.17 In der vierten, Ende der sechziger Jahre beginnenden Phase hielt man sich im Denkmal- und auch im Gedenkstättenbau zunächst auffällig zurück. Eine vielleicht überraschende Feststellung, denn durch die Anstöße der achtundsechziger Bewegung wurde ja die wissenschaftliche, ästhetischkulturelle und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus thematisch wie formal differenzierter, breiter und intensiver als zuvor geführt. Doch das traditionelle Denkmal schien überholt. Oskar Negt und Alexander Kluge stellten 1972 die rhetorische Frage, ob Denkmäler nicht doppelt hergestellt werden müßten; »das eine Denkmal, um einen bestimmten - möglicherweise Verzerrungen und Irrtümer enthaltenden geschichtlichen Stand festzuhalten; das andere, damit es von den Menschen im weiteren Verlauf deformiert, verändert, korrigiert werden kann«.18 Dieser Gedanke ist später verschiedentlich aufgenommen worden, so in Hrdlickas bis heute umstrittenem und unvollendetem Antikriegs-Gegendenkmal und in der Stele von Jochen und Esther Gerz in HamburgHarburg, die durch eine kontinuierlich wachsende Zahl von Unterschriften allmählich im Erdboden versinken sollte, denn nichts - so heißt es - könne sich »auf Dauer an unserer Stelle gegen das Unrecht erheben«. Die Stele ist 1993 letztmalig abgesenkt worden und nun tasächlich im Erdboden verschwunden.19 Das berühmtere Beispiel ist das Hamburger Kriegerdenkmal, um das der Streit bis heute anhält. Für manche Bundeswehrsoldaten und Mitglieder soldatischer Traditionsvereine ist dieser monumentale Denkmalblock ein »Symbol guten deutschen Soldatentums schlechthin«, der - in umlaufendem Relief - in Viererreihen marschierende kampfentschlossene Soldaten zeigt - unter dem Motto: »Deutschland muß leben, 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und wenn wir sterben müssen.« Anderen gilt er längst als Schandfleck. Übersehen kann man ihn kaum, zumal seitdem er immer wieder mit grellen Farben und Protest-Parolen (»Krieg dem imperialistischen Krieg«) von Denkmalgegnern bemalt wurde. Immer wieder mußte die Stadt das Denkmal säubern lassen, bisweilen gar mit Polizeieinsatz schützen, ein Denkmal, das sie zunächst gar nicht haben wollte und das laut alliiertem Kontrollratsbeschluß eigentlich längst hätte abgerissen sein müssen. So nimmt sich die Geschichte dieses Denkmals wie eine Realsatire aus. Schon in den zwanziger Jahren forderten die Traditionsvereine des 76. (Hanseatischen) Infanterieregiments zum Ruhme ihrer »Großtaten« auf den Schlachtfeldern Frankreichs und Belgiens (anno 1870/71 und 1914/ 18), für sie zugleich »Brückenpfeiler der Zukunft«, ein Kriegerdenkmal. Doch der Senat widersetzte sich. Erst unter den neuen Machtverhältnissen kam es zustande, 1936 wurde es eingeweiht. Nach dem Krieg war es dann das Hamburger Denkmalschutzamt, das die britischen Besatzungsoffiziere davon überzeugte, daß dieses Denkmal nicht militärischer oder gar nationalsozialistischer Art sei, sondern lediglich dem Totengedenken diene, was auch, aber ersichtlich nicht nur der Fall ist. Und es blieb stehen. Im Zuge der Remilitarisierung wurde es bald unentbehrlich, vorzugsweise für den Kameradschaftsbund jenes 76. Wehrmachts-Regiments, das die Tradition der alten Sechsundsiebziger fortsetzte. Ein erster Vorstoß der zuständigen Bezirksversammlung, die 1972 zumindest die Inschrift entfernen wollte, hatte keinen Erfolg. Im Gegenteil formierte sich nun eine rechtsextremistische »Bürgerinitiative zur Erhaltung des Ehrenmals am Dammtor«. Sie warb noch in den neunziger Jahren per Anzeigenaufruf um Spenden. Als das Denkmal Ende der siebziger Jahre Schauplatz einer Demonstration der »Aktionsfront Nationale Sozialisten« um Michael Kühnen wurde und die handgreiflichen Auseinandersetzungen um das Denkmal während der Anti-Kriegswoche 1980 und des Evangelischen Kirchentages 1981 zunahmen, wurde auch der Ruf nach einer wirkungsvollen Umgestaltung lauter. Die Kulturbehörde hätte gern das von den Nazis zerstörte und von Waldemar Otto frei rekonstruierte Heine-Denkmal von Hugo Lederer wieder aufgestellt. Es kam auf einen prominenteren Platz, den Rathausmarkt. Für das Dammtor-Denkmal wurde 1982 ein Wettbewerb ausgeschrieben. Den Auftrag erhielt der Bildhauer Alfred Hrdlicka, der selbst zur Jury gehört hatte. Es entstand ein mehrteiliges Werk. Der erste, 1985 eingeweihte Teil, »Feuersturm« genannt, setzte sich mit der im Volksmund so genannten Bombardierung Hamburgs auseinander: Eine brüchig wirkende schwarze Bronzewand, die eine ausgeglühte Hausfassade mit verkohlten Menschen(resten) visualisiert. Darüber, teils Symbol, teils statisches Element, ein Hakenkreuzteil, darunter »eine zerschmetterte Karyatide«, eine ehedem tragende weibliche Figur, und auf der anderen 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Seite in Marmor »ein herabstürzender Atlant - Bauelement und Mensch zugleich«.20 Anderthalb Jahre später konnte der zweite Teil eingeweiht werden: »Cap Arcona«, genannt nach jenem Schiff, mit dem die Nazis siebentausend KZ-Häftlinge aus Neuengamme auf die Ostsee brachten, wo es von britischen Bombern versenkt wurde. Auf einem Granitblock steht eine stärker oder schwächer herausgearbeitete, teils verzweifelt bewegte, teils schon leblose Figurengruppe in Marmor: Opfer, Flüchtende, Getroffene, Ertrinkende - »wie in einer Woge von Bombenfeuer und Wasser«.21 Um die weiteren Elemente dieses Ensembles entstand Streit. Hamburg ist nicht bereit, die dafür von Hrdlicka verlangten Mittel zusätzlich zur Verfügung zu stellen und beharrt darauf, daß er mit der vereinbarten Summe auskommen müsse. Währenddessen geht die kommentierende Auseinandersetzung mit dem unvollendeten Gegendenkmal vor Ort weiter. Es wird mit Zeichen und Sprüchen besprüht, gesäubert, wieder besprüht usw. Ganz anderer Art war die Anstößigkeit von Steinen in Berlin. Hier stieß man - wie auch beim Frankfurter Börneplatz - erst durch Grabungen spät auf die vielleicht empfindlichste Lücke im steinernen Gedächtnis der Stadt, das Gelände zwischen Gropius-Bau, der Anhalter Straße und der südlichen Wilhelmstraße. Nach 1945 verkam diese Trümmerwüste im Schatten der Mauer in Jahrzehnten zu einem Brachland. Hier hatte man kein früheres Juden-Ghetto eingeebnet und nicht die Geschichte einer verfolgten und ermordeten Minderheit vergessen. Zwar ist auch dieses verharmlosend »Prinz-Albrecht-Gelände« genannte Areal ein Ort der Opfer, noch mehr aber ist es ein Ort der Täter. Denn hier befand sich die Befehlszentrale des SS-Imperiums und seiner Gewaltverbrechen. Infolge der schweren Luftangriffe und der erbitterten Bodenkämpfe um das Machtzentrum des Dritten Reiches wurden alle Gebäude um den Prinz-Albrecht-Garten mehr oder weniger schwer in Mitleidenschaft gezogen. Sie wären wohl größtenteils zu retten gewesen. Die Karte der Gebäudeschäden von 1945 weist jedenfalls die meisten Bauten dieses Areals als wiederaufbaufähig aus. Gleichwohl wurden alle von den Nazis genutzten Bauten bis Mitte der fünfziger Jahre gesprengt oder abgetragen und das Gelände enttrümmert. Bevor man die NS-Geschichte dieses Erinnerungsortes wiederentdeckte, machte man sie erst einmal unsichtbar.22 Der Abriß der Ruine des Prinz-Albrecht-Palais im April 1949 wurde von der Öffentlichkeit ignoriert, während die von der DDR-Regierung wenig später verfugte Sprengung des Berliner Schlosses auf westlicher Seite empörte Reaktionen auslöste. Nachdem der Mauerbau im August 1961 neben dem politischen auch den räumlichen Zusammenhang der Stadt zerrissen hatte und 1962/63 das relativ gut erhaltene ehemalige Völkerkundemuseum weggesprengt worden war, waren von der ehedem fast vollständigen 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Blockrandbebauung nur noch der Martin-Gropius-Bau und Teile des Europa-Hauses übriggeblieben. Die historisch-architektonische Physiognomie dieses Areals war damit ausgelöscht. Das sollte allerdings nur die erste Phase historischer Spurentilgung sein. Die zweite überzog diese Fläche mit allerlei Umnutzungen bzw. Umnutzungsplänen. Auf einem »Autodrom« konnten sich Fahrlustige ohne Führerschein vergnügen. Das Bezirksamt Kreuzberg dachte zeitweilig daran, hier einen Hubschrauberlandeplatz anzulegen, während der Senat dieses Gebiet in anderer Weise verkehrsgerecht verplante. Für den Wettbewerb »Hauptstadt Berlin« entstand der noch bis in die frühen achtziger Jahre gültige Plan, die Kochstraße zur Schnellstraße auszubauen und über dieses Gelände Richtung Landwehrkanal zu fuhren. In jener Zeit verfiel das ungesicherte und ungeschützte Gebäude des ehemaligen Kunstgewerbemuseums. Im deutsch-deutschen Niemandsland an der Mauer waren die Voraussetzungen besonders günstig, daß aus diesem Gelände »ein Ort der nicht-angenommenen deutschen Geschichte« (W. Scheffler) wurde. Erst Ende der siebziger Jahre geriet es wieder ins öffentliche Bewußtsein. Dazu trugen die Restaurierung des Gropius-Baus, der Tunix-Kongreß, der engagierte Architektur-Historiker Dieter Hoffman-Axthelm und die Planer der Internationalen Bauausstellung je auf ihre Weise bei. 1980 forderten mehrere Organisationen, ein Mahnmal auf dem Gelände zu errichten. 1982 brachte die SPD-Fraktion einen Antrag im Abgeordnetenhaus ein, der empfahl, zusätzlich ein Dokumentenhaus und ein Museum einzurichten. Doch mit der Ausschreibung des Wettbewerbs im Sommer 1983 wurde ein neues Problem geschaffen. Die Teilnehmer sollten nämlich Gegensätzliches, d.h. »die geschichtliche Tiefe des Ortes« mit den Nutzungsansprüchen wie Parkgestaltung, Spielplatz und Bewegungsfläche in Übereinstimmung bringen. Der Verein »Aktives Museum« forderte für diesen Ort mehr Werkstattcharakter und ein internationales Begegnungszentrum. Anfang Mai 1985 veranstaltete er die spektakuläre Aktion »Nachgraben«, denn die Neugestaltung des Prinz-Albrecht-Geländes drohte durch andere Interessen überlagert und abgedrängt zu werden. Zwar hatte eine Jury im Mai 1984 einen Ersten Preis an den Entwurf der Architekten Jürgen Wenzel und Nikolaus Lang vergeben, den sie auch zur Ausführung empfahl. Danach sollte aus dem Gelände ein Gedenkhain mit geometrisch-streng angeordneter Baumbepflanzung entstehen und einer Art »Versiegelung« des Bodens mit eisernen Platten, in die Dokumente eingelassen werden sollten. Doch Ende 1984 hob der Regierende Bürgermeister Diepgen (CDU) die Jury-Entscheidung auf. Zuvor war bekannt geworden, daß die Bonner Regierung in Berlin ein Deutsches Historisches Museum errichten wolle und das Gelände dafür ein geeigneter Standort sei. 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Wohl auch mit Blick auf die 1987 bevorstehende 750-Jahr-Feier der Stadt empfahl der Senat eine provisorische Lösung. Die wachsende Unzufriedenheit mit der Senatspolitik führte Ende 1985 zur Gründung einer »Initiative zum Umgang mit dem Gestapo-Gelände«. Im Sommer 1986 begannen unter Leitung des Architekten Robert Frank die Ausgrabungen und Spurensicherungen. Dabei konnten u.a. die Fundamente der Kellergefängnisse in der ehemaligen Gestapozentrale freigelegt werden. Sie erhielten eine großflächige Überdachung. Für die historische Dokumentation wurde eine provisorische Ausstellungshalle errichtet: »Topographie des Terrors«. Zugleich mit der Offenlegung älterer Schichten wurde versucht, die jüngeren Spuren des nachträglichen Unsichtbarmachens zu erhalten. Damit sollte dieser Ort jenen Charakter bekommen, der ihm nach vorherrschender Auffassung allein angemessen ist: den Ausdruck einer »offenen Wunde«. Inzwischen kommen jährlich mehrere hunderttausend Menschen hierher, wohl auch, weil sie die attraktiven Ausstellungen im benachbarten GropiusBau besuchen. Das einstige Provisorium ist zur Dauereinrichtung geworden. Nach einem neuerlichen Wettbewerb ist die Um- und Neugestaltung dieses Geländes in Vorbereitung. 3. Schlußbetrachtung Mit Blick auf die vielen Denkmalsetzer, Geschichtswerkstätten, Ausgrabungsaktivitäten, Synagogenrestaurationen, alternativen Stadtrundfahrten, der Einrichtung von Dokumentationszentren und der Flut von Ausstellungen hat Karl Markus Michel spöttisch von einem bedenklichen Hang zur »Topolatrie« gesprochen.23 Wohl nicht ganz zu Unrecht. Götz Aly kritisierte die ausufernden Tendenzen der Dezentralisierung, Bürokratisierung und Kommerzialisierung in der deutschen Erinnerungskultur als »Bewältigungs-Kleinklein«.24 Polemische, aber ernst zu nehmende Kommentare. Sachlich und eingehend hat sich der amerikanische Historiker James E. Young mit der Frage auseinandergesetzt, wie Gedenkstätten das kollektive Erinnern organisieren. An zahlreichen Beispielen hat er dargelegt, daß »im Prozeß der Denkmalbildung selbst ein ›geschichtsrevisionistisches‹ Potential« liegt, dem wir nicht oder nur schwer »entrinnen können«.25 Sei es, daß - wie etwa in Majdanek und Auschwitz-Birkenau - die Todesrampe, verfallene Baracken und Krematorien, Berge von Brillen, Haaren und Koffern metonymisch an die Menschen erinnern, die hier ermordet wurden. Sie werden »Ikonen der Vernichtung«, zu Überresten, in denen die Vergangenheit repräsentiert wird, für viele Besucher aber unmittelbar präsent zu sein scheint. Deshalb wird diesen emotionsbeladenen Erinnerungsorten, die sich der Nachwelt durch schockierende Bildsze183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nen eingeprägt haben, die »Autorität einer unrekonstruierten Realität« zugeschrieben - nicht zuletzt von den überlebenden Opfern, die dazu neigen, aus ihnen unantastbare Kultstätten zu machen, unentbehrlich für ihre Opferidentität. Bei Gesprächen in Majdanek, Auschwitz, Yad Vashem oder Neuengamme bin ich immer wieder auf Unverständnis und schroffe Ablehnung gestoßen, wenn ich gefragt habe, ob die Gedenkstättenkonzeptionen mit ihrem so oder so stilisierten Holocaust- und Opfer-Täter-Bild nach Jahrzehnten nicht verändert werden - oder überhaupt variabel gehalten werden müßten. Schließlich hätte sich mit zunehmender Entfernung von der NS-Zeit auch unser diesbezügliches Bild verändert und unser kollektives Gedächtnis von Asymmetrien und Blickverengungen gelöst, zugunsten einer erweiterten, differenzierteren Betrachtungsweise, die lernt, widersprüchliche Ereignisse am selben Erinnerungsort zu tolerieren und in ein komplexes Geschichtsbild zu integrieren. Bedenklich erscheinen die Inszenierungen der Erinnerung am jeweiligen Erinnerungsort - unter Ausnutzung der Authentizität des Tatortes und der vermeintlichen Unmittelbarkeit der historischen Ereignisse - ja vor allem deshalb, weil die Visualisierung und Vergegenständlichung der Vergangenheit verschleiern, daß sie eben nicht die unvermittelte Geschichte selbst sind, sondern ein (re)konstruiertes, zudem politisch-normativ geprägtes Bild. Erinnerung - so Claude Lanzmann (»Shoah«) - dürfe nicht inszeniert, sie müsse im Kopf des jeweiligen Individuums evoziert werden: Auschwitz sei eine Realität, die jede Fiktion überträfe, die sich aber auch dem dokumentarischen und wissenschaftlich-analytischen Zugriff letztlich entziehe.26 Kritisiert wird aber auch die ästhetische Position, derzufolge Auschwitz nur abstrakt zu thematisieren ist. Von dem Unvergleichlichen - so heißt es in geradezu katechetischer Diktion - dürfe man sich kein Bild machen. Der Satz »Du sollst dir kein Bildnis machen« habe aber, wie der Historiker Adir Ophir meint, dieselbe Funktion wie das Gebot »Du sollst keinen anderen Holocaust haben neben mir«, denn beide Positionen liefen auf eine »Sakra lisierung des Holocaust« hinaus, machten ihn zu einer »Ersatzreligion für Assimilierte und Atheisten«.27 Auschwitz, so Saul Friedländer, ist der Fixpunkt einer Epoche, der uns nur »Mythen und Schatten« liefert, aber keine Informationen, die wir zu verständlichen Realitätsbildern zusammensetzen können. Von jener Vergangenheit könne man nur noch verschiedene Versionen konstruieren, weshalb es vor allem auf die prozessuale Dimension des kollektiven Gedächtnisses ankomme, also das Vergessen und Verdrängen, Erinnern, Verfälschen und Umdeuten. Zumal die NS-Zeit zwar die Geschichte aller geworden sei, aber für die verschiedenen Gruppen, für Opfer, Täter, Opfertäter und Zuschauer, für Juden und Nichtjuden, für Deutsche und 184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Nichtdeutsche, für Linke und Rechte, unterschiedliche identitätsstiftende Bedeutung habe.28 Entstehung, Kontinuität, Differenzierung und Wandel des kollektiven Gedächtnisses nennen wir heute Erinnerungskultur. In ihren Inhalten und Bildern, Formen und Funktionen konstituiert und integriert sie die Gesellschaft zu einem nicht unerheblichen Teil. Im Anschluß an Jan Assmann und Maurice Halbwachs läßt sich daher das kollektive Gedächtnis in mehrfacher Hinsicht bestimmen: 1. Durch seinen Raum- und Zeitbezug. Das individuelle wie kollektive Gedächtnis ist auf Strukturierung angewiesen, tendiert zur Periodisierung und zur Verräumlichung, weshalb Gedenktage oder ›Zeitorte‹, die hier nicht behandelt werden konnten, und Erinnerungsorte in ihr einen besonderen Rang einnehmen. 2. Durch seinen Bezug auf die Individualerfahrung. Träger des kollektiven Gedächtnisses ist eine Gesamtheit von Individuen, denn nur der einzelne Mensch hat Gedächtnis. Neben seiner körperlich-physiologischen Beschaffenheit ist das individuelle Gedächtnis aber durch seine soziale Bedingtheit charakterisiert. »Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen«, so Maurice Halbwachs, »deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.«29 3. Durch Gruppenbezug. Erinnerung entsteht durch Interaktion und Kommunikation mit anderen, ist also gruppenbezogen. Und insofern Gruppen als Gruppen für sich und gegenüber anderen bestehen, ist ihre mehr oder weniger unverwechselbare - Identität, mit spezifischen, auch widersprüchlichen und kontroversen Selbst- und Vergangenheitsbildern, ihr vielleicht wichtigstes Merkmal. Unter diesem Aspekt tritt vielleicht am deutlichsten hervor, worin das Problem des Nationalsozialismus als (internalisiertem) Fixpunkt des kollektiven Gedächtnisses der (West)Deutschen besteht: Die eigene, durch die NS-Gewaltverbrechen überschattete Geschichte wird eher negativ gesehen (und umgekehrt die Geschichten der fremden - Opfer eher positiv), weshalb die eigene, nationale Identitätsbildung außerordentlich erschwert wird. Die Geschichte der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung ist denn auch durchgängig durch dieses Spannungsverhältnis gekennzeichnet, wie durch die vielfältigen Versuche, es aufzulösen, von der Wiedergutmachung bis zur Historisierungsdebatte.30 Nach der sogenannten Wende von 1989/90 ist dabei ein neues Spannungsverhältnis hinzugekommen: Nun muß nämlich im neu entstandenen nationalen bzw. nationalgeschichtlichen Bezugsrahmen auch die in vierzig Jahren verfestigte deutsche Gedächtnisspaltung überwunden werden, müssen aber auch die verschiedenen Opfergruppen mit ihren um Anerkennung und Aufmerksamkeit konkurrierenden Erinnerungen integriert werden.31 185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

4. Durch Rekonstruktion und mediale Vermittlung. Da die Gegenwart, die morgen Vergangenheit ist, nicht als solche im kollektiven Gedächtnis bewahrt werden kann, ist sie auf bewußte, sinnlich wahrnehmbare und methodisch kontrollierte Rekonstruktion angewiesen, wofür vielfältige Verfahren zur Verfügung stehen und in einer differenzierten Erinnerungskultur auch genutzt werden: dokumentarische, wissenschaftlich-analytische, literarische, architektonische, öffentlich-kommunikative usw. 5. Durch Offenheit und Diskurs. Dieser Aspekt tritt in dem Maße in den Vordergrund, in dem die - jahrzehntelang dominierende - Frage, ob man sich an den Holocaust öffentlich erinnern soll und kann oder ihn besser beschweigt, an Schärfe und Bedeutung verliert und neue Fragen aufgeworfen werden. Es ist kein Zufall, daß Anstöße dazu vor allem von einer neuen Generation von Künstlern kommen. Sie kritisieren die traditionellen Denkmäler und Erinnerungsorte, weil sie die diskursive Erinnerung an die NSVergangenheit eher abgedrängt als ins aktuelle kollektive Bewußtsein hineingetragen hätten, und plädieren für Formen des Antidenkmals, die das diskursiv veränderliche Element der Erinnerung betonen und deshalb konzeptionell die Selbstreflexion und Selbstzerstörung des Denkmals einschließen. »Statt einer fixierten Figur« schreibt Young, könnte heute die Debatte über die NS-Vergangenheit selbst, »niemals entschieden, [sondern] geführt unter ständig neuen Bedingungen« zum neuen - postmodernen - Paradigma der Steine des Anstoßes werden.32 So gesehen ist bereits die hinter uns liegende Geschichte des Umgangs mit der NS-Architektur und den zur Erinnerung an die NS-Zeit gebauten Denkmälern und Gedenkstätten als Geschichte eines außerordentlich schwierigen Prozesses der kollektiven Erinnerung zu lesen.33

Anmerkungen 1 P. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; L. Niethammer, Orte kollektiven Gedächtnisses, in: Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NSRegimes, hg. v. Ministerium für Wiss., Forschung u. Kultur des Landes Brandenburg, Berlin 1992, S. 95ff. 2 Siehe dazu v.a. R. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: O. Marquard u. K. Stiele (Hg.), Identität, München 1979, S. 255ff. 3 Zitiert nach H.-E. Mittig, Das Denkmal, in: W. Busch (Hg.), Funk-Kolleg Kunst, Bd. 2, München 1987, S. 532. 4 E. Mai u. G. Schmirber (Hg.), Denkmal - Zeichen - Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, insab. S. 7ff., 19ff. 5 Für eine umfassendere Darstellung siehe P. Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995.

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6 Vgl. zum folgenden insb. E. Dietzfelbinger, Der Umgang der Stadt Nürnberg mit dem früheren Reichsparteitagsgelände, Nürnberg 1990. 7 Nürnberger Nachrichten, 26.4.1966, 12.4.1967. Die Sprengungen der Türme erfolgten im April 1966 und 1967. 8 Nürnberger Nachrichten. 17.5.1967 [Hervorheb. v. Verf.]. 9 Vgl. Dietzfelbinger, Umgang, S. 22f. 10 Vgl. Nürnberger Zeitung, 31.8.1990; die tageszeitung, 17.9.1990. 11 H. Glaser, Rolling Histories. Steine ins Rollen gebracht, in: Plärrer, Juli 1991 12 U. Puvogel, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Bonn 1987, S. 594ff.; B. Eichmann, Versteinert - verharmlost - vergessen. KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt M. 19862, S.53ff.; H. Diestelmeier, Versöhnung über den Gräbern Blumen für Stukenbrock, in: D. Garbe ( H g . ) , Die vergessenen KZs?, Bornheim-Merten 1983. 13 Puvogel, Gedenkstätten, S. 178. 14 Zum folgenden: K. Adam, Ο Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 12. 1 9 9 1 ; B. Eichmann, Der Alltag war Hunger, Folter und Sterben, in: Das Parlament 9, 21.2.1992; allgemein: P. Sonnet, Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus in der DDR, in: Puvogel, Gedenkstätten, S. 769ff. 15 G. Finn, Wieder einmal nichts gewußt. «Vergangenheitsbewältigung« in Buchenwald, in: Deutschland Archiv 2 3 / 2 , 1990, S. 1251ff. 16 Puvogel, Gedenkstätten, S. 393ff.; Eichmann, Alltag, S. 41 ff.; E. Kolb, Bergen-Belsen. Vom »Aufenthaltslager« zum Konzentrationslager 1943-1945, Göttingen 1986 2 ; BergenBelsen. Begleitheft zur Ausstellung, Hannover 1990. 17 W. Stenke, Hin Inferno des Sterbens. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, in: Frankfurter Rundschau, 20.4.1985; D. Strothmann, Heide drüber und mal ein Kreuz. Begegnungen in Bergen-Belsen, in: Die Zeit, 20.12.1985. 18 O. Negt u. A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. 1972, S. 4 5 1 . 19 Dazu V. Plagemann, Trauerarbeit. Neuere politische Monumente in Hamburg, in: Arbeit in Geschichte - Geschichte in Arbeit (Ausstellungskatalog), Hamburg 1988, S. 33ff. 20 So Hrdlicka über seine Skulptur. Zit. nach D. Schubert, Alfred Hrdlickas antifaschistisches Mahnmal in Hamburg, in: Mai u. Schmirber, Denkmal, S. 139. 21 Schubert, Mahnmal, S. 140. 22 Dazu vor allem: R. Rürup ( H g . ) : Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem »Prinz-Albrecht-Gelände«. Eine Dokumentation, Berlin 1989 7 ; Aktives Museum ( H g . ) , Zum Umgang mit einem Erbe, Berlin 1985; Ders. (Hg.), Dokumentation Offener Wettbewerb Berlin. Südliche Friedrichstadt. Gestaltung des Geländes des ehemaligen Prinz-Albrecht-Palais, Berlin 1987;Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), Der umschwiegene Ort, Berlin 1987. 23 Die Zeit, 11.9.1987. 24 Die tageszeitung, 20.11.1992. 25 J.E. Young, Beschreiben des Holocaust, Frankfurt/M. 1992, S. 266ff.; Ders., The Texture of Memory. Holocaust Memorials und Meanings, New Haven 1993; Ders., Die Textur der Erinnerung. Holocaust-Gedenkstätten, in: H. Loewy (Hg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens, Reinbek 1992, S. 213; R. Matz, Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken, Reinbek 1993; vgl. dazu M. Niroumand, Enter an American, Exit a Jew, in: die tageszeitung, 17.7.1993. 26 Vgl. M. Niroumand im Gespräch mit Claude Lanzmann, Hier ist kein Warum, in: die tageszeitung, 23.4.1992; Dies., Du solltst dir kein Bildnis machen, in: die tageszeitung, 12.11.1992. 27 A. Ophir, On Sanctifying the Holocaust: An Anti-Theological Treatise, in: Tikkun 2, 1992, S. 61 ff. Siehe auch Niroumand, Bildnis.

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28 S. Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1984, S. 82f.; Briefwechsel zwischen M. Broszat und S. Friedländer, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 36, 1988, S. 339-372. Vgl. dazu auch Young, Die Textur der Erinnerung, in: Loewy, Holocaust, S. 21 3ff. 29 M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 1985, S. 121; vgl. auch J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 35ff. 30 M. Zimmermann, Negativer Fixpunkt und Suche nach positiver Identität. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik, in: Loewy, Holocaust, S. 128ff. 31 L. Niethammer, Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen mit kollektivem Gedächtnis, in: Loewy, Holocaust, S. 21ff. 32 J.E. Young, Die Tradition des mea culpa, in: die tageszeitung, 15.3.1993. 33 Reichel, Politik.

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EMMANUEL TERRAY

Die unmögliche Erinnerung Die Herstellung eines künstlichen nationalen Gedächtnisses in der DDR und ihr Mißlingen

I. Eine Nation und ein Staat können schwerlich eine eigene Erinnerung entbehren, da diese ihr Recht auf Existenz begründet und ihren Zusammenhalt festigt. Das Alter kann bereits ein Mittel der Legitimation sein, denn das, was schon lange besteht, hat ein Recht auf Existenz, und dieses Recht wird mit der Dauer der Existenz immer offensichtlicher. In den sogenannten primitiven Gesellschaften werden viele Einrichtungen mit Hilfe der Formel »Wir handeln so, weil unsere Vorfahren so gehandelt haben« erklärt und gerechtfertigt. Auf diese Weise begründet das Handeln - vorausgesetzt, daß es auf eine genügend lange Tradition zurückblickt schließlich das Recht. Die Erinnerung an die Vergangenheit bietet den Lebenden eine ganze Palette von Identifikationsmöglichkeiten und sichert so die Einheit der Gemeinschaft. Die Freudsche Theorie der »Masse« ist bekannt: Jedes der sie konstituierenden Individuen identifiziert sich mit ein und derselben Person, mit ein und demselben Helden, der zumeist, aber nicht immer, ein Vaterersatz ist. Diese in einem Pol zusammenlaufenden Bezüge erzeugen einen Zustand von Gemeinschaft, der ein Aggregat isolierter Monaden in eine organische Totalität transformiert. Natürlich bleiben die Monaden isoliert und kommunizieren nur mittelbar über den Pol der Identifikation miteinander, doch sie bilden deshalb nicht weniger eine Wirklichkeit höherer Ordnung. Die Analyse Freuds begriff die Bewegung der Identifikation als synchron: Die Individuen beziehen sich auf eine zeitgenössische Persönlichkeit, die sie sehen und hören können. Doch der Gedankengang läßt sich weiterfuhren: Die Imagination kann an die Stelle der Sinne treten und die Vergangenheit an die Stelle der Gegenwart, wobei die der Vergangenheit entnommenen Identifikationspole biegsamer sind und sich leichter den Forderungen und den Bedürfnissen der Individuen anpassen lassen. Im 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

übrigen identifiziert man sich nicht nur mit Personen, auch Handlungen und außergewöhnliche Taten bieten die Möglichkeit zur Projektion. Der Identifikationsmechanismus garantiert auf diese Weise den affektiven Zusammenhalt der menschlichen Gemeinschaft, da er letztendlich auf den treibenden Kräften von Liebe und Verehrung beruht. Aber auch die Erinnerung kann zur geistigen oder intellektuellen Vereinigung der Staatsbürger beitragen, indem sie ihren Überzeugungen, ihrem Denken und ihrem Verhalten explizite Muster anbietet. Im Unterschied zur Identifikation vollzieht sich diese pädagogische Funktion im Bereich des Bewußten. Sicher setzt ihre Wirksamkeit auch ein Minimum an Identifikation voraus. Dennoch dürfen die beiden Vorgänge - die Identifikation und nennen wir es das ›Einprägen‹ - nicht miteinander verwechselt werden. Letzteres läßt sich noch bewußter steuern und modifizieren. Aufgrund ihrer verschiedenen Fähigkeiten erscheint die Erinnerung als ein den nationalen Gründungsprozeß wesentlich mitbestimmender Faktor. Deshalb stehe ich allen jenen Theorien skeptisch gegenüber, in denen behauptet wird, eine Nation könne durch einen Vertrag oder durch einen Entwurf, der auf die Gegenwart und die Zukunft beschränkt bleibt, geeint werden. So hat man namentlich in den Vereinigten Staaten und in Deutschland bisweilen an der Meinung festgehalten, daß die Verfassung die Rolle des Gründungspaktes allein, ohne Bezugnahme auf die zu nahe oder auch nur wenig schätzenswerte Vergangenheit, zu erfüllen vermöge. Diese Hypothese scheint mir durch die Erfahrung widerlegt: Es genügt zu sehen, wie schnell sich die Amerikaner dieser oder jener Sequenz ihrer Vergangenheit bemächtigt haben, um sie in Gründungsmythen umzuwandeln. Es genügt ebenso festzustellen, mit welcher Hartnäckigkeit die deutschen Historiker fortfahren, die Vergangenheit ihres Volkes zu ergründen. Darüber hinaus eignet sich die Vergangenheit aufgrund der Zwangsläufigkeit ihres Nicht-mehr-Seins in besonderem Maße dazu, die ihr übertragenen Funktionen zu erfüllen. Wenn die Erinnerung schweigt, ist es jedoch immer noch möglich, eine fiktive Vergangenheit zu schmieden, wie zahllose Beispiele von der »Franciade« Ronsards, die die französischen Ursprünge an den Trojanischen Krieg anbindet, bis zum polnischen »Sarmatismus«, vom lateinamerikanischen Indianertum bis zu den legendären Epen, auf die sich die jungen Staaten Afrikas berufen, zeigen. Ebenso ist es immer möglich, die Vergangenheit neu einzurichten, wenn sie mangelhaft ist. So hieß es schon in der antiken Philosophie: »Die Gegenwart ist Gegenwart, man kann nichts daran ändern, die Zukunft wird von der Gegenwart bestimmt, auch hieran kann man nichts ändern; die Vergangenheit jedoch, sie steht allen Veränderungen offen.« Entsprechend stellte sich auch nach der durch die UdSSR veranlaßten Gründung eines neuen Staates in der sowjetischen Besatzungszone das 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Problem, eine Abstammung und eine Erinnerung für diesen zu finden. Man suchte sie zunächst in der Tradition des Antifaschismus. Dieser Antifaschismus ging in die Selbstdefinition der DDR ein und fungierte während ihrer gesamten Geschichte in der Tat als wirksamstes Mittel für ihren Zusammenhalt. In den ersten Jahren wirkte dieses Bindemittel besonders gut, da die Entnazifizierung in der Bundesrepublik einen von außen, von den Alliierten auferlegten Prozeß darstellte. In dieser Hinsicht waren Ereignisse wie etwa die Affäre um den Staatssekretär Adenauers, Hans Globke, wahre Glücksfälle für die Ideologen der DDR. II. Trotzdem zeigte sich, daß die antifaschistische Tradition als Unterbau in der DDR-Gesellschaft nicht fest und nicht tief genug verankert war. Hierfür lassen sich eine Reihe von Gründen anführen. So besaß etwa die DDRFührung trotz aller Ansprüche nie das Monopol auf den Antifaschismus in Deutschland. Denn neben dem kommunistischen Widerstand existierten ja auch Gruppen wie die »Weiße Rose« und die Verschwörer des 20. Juli. Vor allem aber gab es die Sozialdemokratie, die einen ebenso schweren Tribut wie die Kommunistische Partei gezahlt hatte. Keine dieser Gruppen konnte von dem neuen Regime vernünftigerweise vereinnahmt werden. Zudem waren die Gründer der DDR, als sie den Antifaschismus zum Fundament des neuen Staates erhoben, gezwungen, die Fehler auszuradieren, die die deutsche KP im Laufe ihres Kampfes gegen Hitler begangen hatte. Sie mußten insbesondere das Sektierertum der Jahre 1930-1932 verschweigen, in denen der »Sozialfaschismus« - d.h. die Sozialdemokratie - als Hauptfeind betrachtet wurde und in denen die Partei die NSDAP im Kampf gegen die von den Sozialdemokraten Braun und Severing geführte preußische Regierung unterstützte. Eine weitere Folge der Antifaschismuskonzeption der DDR-Ideologen war die Ablehnung des neuen Staates, ›seinen‹ Anteil an der deutschen Verantwortung für die Vernichtung der Juden zu übernehmen. Entsprechend schloß sich die DDR auch nicht den Wiedergutmachungs-Zahlungen an, die die BRD an den Staat Israel leistete. Nicht nur unter den Überlebenden des Holocausts hinterließ dies den Eindruck, daß sich die DDR auf diese Weise sehr bequem ihrer materiellen und vor allem ihrer moralischen Schuld entledigte. Schließlich und vor allem betraf der Antifaschismus - trotz seiner Bedeutung - nur einen jungen und begrenzten Abschnitt der deutschen Geschichte, so daß er für die existentielle Legitimation eines Staates auf die Dauer nur eine sehr unzureichende Basis bilden konnte. Da sich der 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Antifaschismus im Laufe der Zeit von der gelebten Erfahrung in eine gelernte historische Erinnerung verwandelte, verlor er überdies allmählich seine einheitsstiftende Kraft. Daher begann man in der DDR-Führung, die historische Legitimation des Staates an anderer Stelle und in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit zu suchen. III. Eine erste Spur, eine erste Quelle der Erinnerung drängte sich dabei sofort auf: die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert. Diese teilte sich jedoch in zwei Etappen, nämlich in die Zeit des »gemeinsamen Stammes« der Sozialdemokratie bis 1914 und in die Zeit nach der »Spaltung« von SPD und KPD ab 1918. Doch auch eine Erbschaft dieser Art konnte die DDR aufgrund ihres engen ideologischen Rahmens nicht ohne weiteres annehmen. Daher war sie gezwungen, eine Auslese zu treffen, die zwangsläufig ein schiefes und manchmal widersprüchliches Bild entstehen ließ. So hatte beispielsweise Lenin schon vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges an scharfe Polemiken gegen die deutsche Sozialdemokratie verfaßt, wie etwa den Text »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«. Diese Polemiken entwerteten einen ganzen Teil des sozialdemokratischen Erbes und verhinderten so dessen Einbeziehung in das offizielle Geschichtsbild. Allein der alte August Bebel starb früh genug (1913), um sich ›aus der Klemme zu ziehen‹. Die Person Karl Liebknechts erschien dagegen nicht weiter problematisch. Anders verhielt es sich jedoch mit Rosa Luxemburg, die aufgrund ihrer andauernden Polemiken gegen Lenin und ihres sehr scharfen Urteils über die Russische Revolution Schwierigkeiten machte. Auch hatte sie den Blanquismus, den Avantgardismus und den Militarismus Lenins verurteilt. Doch das größte Problem war ihre Definition der Freiheit als die »Freiheit des Andersdenkenden«. Dadurch ließ sich ihr Andenken nur schwer in den Dienst des neuen Regimes stellen. So wurde sie zwar offiziell geehrt, aber doch mehr für ihren Tod als für ihre Taten und f3ür ihr Werk. Das Regime trieb einen distanzierenden Kult, in dem ihre wahre Person im Schatten blieb. Noch größere Probleme machte die folgende Generation der Führer der »Deutschen Kommunistischen Partei« in der Weimarer Republik, da die meisten ihrer herausragenden Persönlichkeiten - von Paul Levi bis zu Heinz Neumann - im Laufe der Zeit aus der Partei ausgeschlossen worden oder den verschiedenen Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen waren. Am Ende hielt man lediglich an Ernst Thälmann als Helden fest, dem ebenso bombastische wie geschwollene Hagiographien und Liturgien ge192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

widmet wurden. Leider hatte Thälmann jedoch bei vielen Zeitgenossen die Erinnerung eines fügsamen und farblosen Funktionärs des Parteiapparates hinterlassen. So berichtet Silone, wie Thälmann 1927 in Moskau bedenkenlos politische Thesen verwarf, die er vorher nicht einmal gelesen hatte. Zumindest eine geschichtliche Episode hätte der DDR jedoch eine heroische Sequenz liefern können: der spanische Bürgerkrieg, in dem die Kommunisten innerhalb der internationalen Brigaden eine herausragende Rolle spielten. Doch erschienen bald alle alten Brigadekämpfer durch die Abtrünnigkeit des Marschalls Tito 1948 in Stalins Augen, wie im Zuge einer Ansteckung, als verdächtige Gestalten. In den folgenden Jahren wurden daher Kommunisten wie Rajk in Ungarn, London in der Tschechoslowakei oder Marty und Tillon in Frankreich vor Gericht gestellt und teilweise zum Tode verurteilt. Auch die DDR entging dieser Säuberung nicht, zu deren bekanntesten Opfern Wilhelm Zaisser und Franz Dahlem zählten. Damit blieb auch der Zugriff auf den Mythos der Spanienkämpfer versperrt. IV. Das neue Regime versuchte entsprechend, seine Wurzeln tiefer, jenseits der Grenzen der Arbeiterbewegung, in der deutschen Geschichte anzusetzen. Dabei stieß es jedoch erneut auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Diese waren wiederum mit dem politischen Entwurf des Staates verknüpft, da die DDR zuallererst das Produkt des politischen Willens Stalins und seiner deutschen Gefolgsleute darstellte. Sie konnte daher weder als das ›natürliche‹ Produkt einer historischen Kontinuität noch als eine geographische Hinterlassenschaft präsentiert werden. Folglich mußte sie sich eine Erinnerung zurechtschmieden, die auch qualitativ ihrer Natur entsprach. Die Spreu mußte also vom Weizen getrennt werden. Dieser Prozeß ist natürlich nicht nur für die DDR spezifisch. Jede menschliche Gemeinschaft, die sich im Bruch mit der Vergangenheit konstituiert und den Anspruch auf eine Erneuerung des Denkens erhebt, steht vor dem gleichen Problem: Wie soll die Vergangenheit behandelt werden? Auch die jeweiligen Lösungen sind ihrer Form nach identisch: Die Vergangenheit wird in eine gute und eine schlechte eingeteilt. Auf der einen Seite stehen die Vorgänger, die uns ähneln, die uns ankündigen und deren Unzulänglichkeit auf der Tatsache beruht, daß sie uns nicht kannten; auf der anderen Seite alle die anderen, die in dem berühmten ›Mülleimer der Geschichte‹ landen. Ähnlich verfuhr beispielsweise auch die christliche Apologie im 2. und 3. Jahrhundert mit den antiken Philosophen, als sie Platon für sich vereinnahmte und Epikur verwarf In gleicher Weise berie193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

fen sich die französischen Kommunisten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auf Descartes, Diderot und Hugo, während sie die ihrer Meinung nach obskuren und reaktionären »Feinde« Pascal und Chateaubriand vehement ablehnten. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, daß die Ideologen der DDR zum gleichen Mittel griffen. Dieses Vorgehen warf allerdings in Deutschland wie überall eine Reihe von Problemen auf, galt es doch, einen Kompromiß zwischen zwei Unzulänglichkeiten zu finden: Entweder war man sehr anspruchsvoll in bezug auf die für einen positiven Helden erforderlichen Qualitäten, was jedoch zur Folge hatte, daß man nur für eine kleine Randzone der Vergangenheit die Verantwortung übernahm und dem Feind den größten Teil des Erbes überließ. Dies war etwa der Fall bei der offiziellen Ehrung von Thomas Münzer, Georg Forster und Karl Marx. Oder man war nachgiebiger, offener und toleranter, wobei jedoch auch den Nuancen, den Zweideutigkeiten und den Kompromissen Raum gewährt werden mußte. So berief man sich in der DDR ab 1980 auf Luther, obwohl dieser Schmähreden gegen die Bauern und gegen Münzer gehalten hatte. Eine zweite Schwierigkeit ergab sich aus der Existenz zweier deutscher Staaten, wozu sich die DDR früher oder später ausdrücklich bekannte. Dies führte zu einem gewissen Widerspruch, da sich die DDR als Erbin der Gesamtheit der deutschen Geschichte - in ihren positiven Aspekten ausgab und dennoch die Teilung Deutschlands verherrlichte. Es gelang den Führern der DDR daher auch nie, sich klar zu entscheiden, ob ihr Staat nun das Ganze verkörperte oder nur einen Teil. Ein Ausweg hätte darin liegen können - und die Versuchung diesen zu beschreiten war offensichtlich vorhanden - die regionale Erinnerung Ostdeutschlands in eine nationale Erinnerung umzuwandeln. Die Hindernisse eines solchen Unternehmens lagen jedoch auf der Hand. Denn die regionale Erinnerung betraf in erster Linie das äußerst ambivalente preußische Erbe: Preußen war zwar der Staat der Vernunft und der Aufklärung, aber es verkörperte zugleich Bürokratie und Militarismus. Daneben umfaßte die DDR aber auch Sachsen, dessen starkes Eigenbewußtsein ein Aufgehen des Landes in einem preußischen Ganzen schwer vorstellbar machte. So bereitete es dem DDR-Regime noch mehr Schwierigkeiten als seinen Verbündeten im Osten, Wurzeln zu schlagen. Die bloße Existenz seines Nachbarn im Westen, der Bundesrepublik, mußte alle Versuche, sich eine eigene Erinnerung zu schaffen, untergraben. Die Regierungen der Bundesrepublik haben in dieser Hinsicht eine viel geschicktere Politik betrieben. Auch wenn für sie die Einheit Deutschlands in der Praxis niemals ein primäres Ziel war, so bekannte man sich jedoch immer heftig und lautstark zu ihr. Indem sie sich zum Vertreter Gesamtdeutschlands erklärten, übernahmen sie zudem die Verantwortung für die Gesamtheit der deutschen 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Geschichte, auch für die dunkelsten Stellen. Diese Kohärenz ermöglichte es der Bundesrepublik, das gesamte Feld der Erinnerung zu beherrschen. Es war nicht zuletzt eine ›historische Schwäche‹, die zum Ende der DDR führte.

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Kult und Riten

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JAKOB VOGEL

Militärfeiern in Deutschland und Frankreich als Rituale der Nation (1871-1914)

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch das Aufkommen des »offiziellen Nationalismus«, der den nationalen Gedanken zu einer konstitutiven Ideologie der europäischen Staatenwelt erhob.1 Wie hier anhand der nationalen Militärfeiern in Deutschland und Frankreich zwischen 1870 und 1914 gezeigt werden soll,2 verband sich dieser Prozeß mit dem Aufstieg der Armee zu einem zentralen Symbol der Nation.3 Die regelmäßig abgehaltenen öffentlichen Truppenparaden entwickelten sich in dieser Zeit zu den wichtigsten Ritualen,4 mit denen die staatliche Führung nicht nur einen nationalen Kult um die Armee propagierte, sondern auch weitergehend die Nation als geeinte, kampfbereite Gemeinschaft zelebrierte. Ihre an die Emotionen des Publikums appellierende Inszenierung entwarf dabei das jeweilige offizielle Idealbild der wehrhaften Nation in ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Gliederung. Obwohl die Veranstaltungen die Bevölkerung weitgehend in die Rolle eines passiven Publikums drängten, »lähmte« das militärische Zeremoniell damit keineswegs, wie George L. Mosse es darstellt, »die Dynamik des nationalen Kults«.5 Vielmehr verkörperte sich gerade in der rituellen Gemeinschaft der Beteiligten jenes »geistige Prinzip«, das nach Ernest Renan erst den inneren Zusammenhalt einer Nation ermöglicht.6 1. Die Militärfeiern im nationalen Kult Deutschlands und Frankreichs Die Etablierung der regelmäßigen Militärfeiern im nationalen Kult Deutschlands und Frankreichs war in beiden Ländern mit der › Nationalisierung‹ der Armee verknüpft, die dabei zu einem zentralen Symbol der nationalen Gemeinschaft aufstieg. Dieser Prozeß konnte in Deutschland frühestens mit der Reichsgründung von 1871 beginnen, da erst jetzt das Militär eine nationale Institution darstellte, um die sich ein eigener nationaler Armeekult bildete. Dies geschah unter anderem durch die Erinnerung 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

an den Krieg von 1870/71, obwohl die gegen Frankreich eingesetzten Truppen noch die deutschen Einzelstaaten und nicht den erst in der Folge des Krieges gegründeten Nationalstaat vertreten hatten. Da jedoch der Krieg eine wichtige katalytische Funktion bei der Bildung des Deutschen Reiches besessen hatte, erhielt die Armee eine zentrale Position im offiziellen Gründungsmythos des Nationalstaats, der von der preußischen Führung und von den ›national‹ gesinnten Kreisen des Bürgertums verbreitet wurde.7 Am Berliner Hof ging man in der Überhöhung des militärischen Anteils an der nationalen Einigung soweit, daß der Ober-Ceremonienmeister Wilhelms I., Rudolf Graf Stillfried-Alcantra, erklärte, »die Natur, der eigentliche Ursprung des neuen Kaisertums« verlange, daß zukünftige Krönungsfeiern für deutsche Kaiser nur als »specifisch militärische« Veranstaltungen abgehalten werden dürften.8 Vor allem der Sedantag entwickelte sich in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1871 zum Anlaß der Verherrlichung der militärischen Einigung des Reiches.9 Mehr noch als der nie zum offiziellen Nationalfeiertag erhobene Sedantag stiegen jedoch die feierlichen Militärparaden, die der Kaiser alljährlich in einzelnen Regionen des Reiches abhielt, schon bald zu den wichtigsten nationalen Feierlichkeiten auf, die nicht nur von einem großen Publikum verfolgt, sondern auch in der Presse ausführlich gewürdigt wurden. Bis zum Ersten Weltkrieg blieben die »Kaiserparaden« die einzigen regelmäßig abgehaltenen Veranstaltungen, die den nationalen Kult nach einem weitgehend identischen Ritual im ganzen Reich verbreiteten. Nicht einmal der Kaisergeburtstag entfaltete eine vergleichbare Wirkung, da er sich etwa in Bayern nicht als offizieller Feiertag durchsetzte und auch im übrigen Reich kein einheitliches Zeremoniell entwickelte.10 Anlaß der Kaiserparaden waren die jährlichen Herbstmanöver, die den Kaiser seit 1876 auch außerhalb Preußens im wechselnden Rhythmus in zwei bis vier Regionen des Reiches führten, wo er in seiner Funktion als »Oberster Kriegsherr« die nach 1866 bzw. 1870/71 vereinheitlichte Ausbildung der dort stationierten Truppen inspizierte.11 Wilhelm I. setzte dabei eine Tradition fort, die er seit dem Beginn seiner Regentschaft in der preußischen Armee etabliert hatte, und übertrug sie ohne wesentliche Änderungen auf das Reich. Anders als in einigen Bereichen der staatlichen Repräsentation, in denen im neuen Reich ein eigenes Kaiserzeremoniell entwickelt wurde,12 stellte der nationale Armeekult somit keine Neuschöpfung dar, sondern knüpfte in Form und Inhalt an den Kult um das preußische Heer an, den Wilhelm I. in den sechziger Jahren in Zusammenhang mit den Heeresreformen ausgebaut hatte.13 Durch die Einbindung der feierlichen Paraden in die Ausbildung der Truppen bewahrten die Veranstaltungen eine starke militärische Prägung, obgleich sie durch ihren ritualisierten Ablauf und die große Beteiligung des nicht-militärischen 200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Publikums von Anfang an den Charakter öffentlicher Schauveranstaltungen der Armee besaßen. Die Manöverparaden, zu denen der Kaiser alljährlich ausgedehnte »Kaiserreisen« im Reich unternahm, stellten den Ausbildungsstand und die Kampfkraft der Truppen stellvertretend für die gesamte Nation in jedem Jahr nur einem regionalen Publikum vor.14 Der nationale Armeekult konstituierte sich als eine soziale Praxis erst über die Jahre hinweg um die Person des »Obersten Kriegsherrn«, der auf seinen Manöverreisen allmählich alle Regionen des Reiches besuchte. Die nationalisierende Wirkung dieser Reisen beschrieb die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« in ihrem Bericht von der Kaiserparade in Leipzig 1876: »Wenn dem Kaiser in den preußischen Provinzen lediglich eine Erneuerung althergebrachter und durch eine glorreiche Geschichte nur inniger gewordenen Anhänglichkeit entgegengebracht wird, so haben die Begrüßungen, welche ihm in den anderen deutschen Bundesländern zu Theil werden, den Charakter einer dem Deutschen Reiche, seiner wiedergewonnenen Einheit und seiner hoffnungsreichen Zukunft dargebrachten Huldigung.«15 Das von der preußischen Armee übernommene Paradezeremoniell wurde allerdings gemäß der bundesstaatlichen Verfassung der deutschen Armee leicht verändert. So inspizierte der Kaiser die Armeekorps der Bundesstaaten an der Seite des jeweiligen Landesfürsten, um seine Anerkennung der landesherrlichen Souveränität sichtbar darzustellen.16 Auch die von Wilhelm I. und seinem Enkel gepflegte Sitte, anläßlich der Paraden hohe Orden der Bundesstaaten bzw. Uniformen ihrer Regimenter zu tragen,17 drückte die Achtung des Kaisers gegenüber der bundesstaatlichen Ordnung des deutschen Nationalstaats aus. Die nationalen Militärfeiern präsentierten Monarchie und Armee so als einigendes Band des neuen deutschen Nationalstaats, ermöglichten aber zugleich der Bevölkerung in den einzelnen Regionen, sich mit ›ihren‹ Regimentern und ›ihrem‹ Landesftirsten zu identifizieren. Die regionale Gliederung des Reiches wurde damit nicht als Gegensatz, sondern vielmehr als die natürliche Grundlage der nationalen Einheit Deutschlands dargestellt. Anders als in Deutschland existierte in Frankreich bereits vor 1870 ein nationaler Armeekult. Dieser hatte allerdings keine stabile Form entwikkelt, da er aufgrund der häufig wechselnden politischen Verfassung des Landes immer wieder neuen Veränderungen unterworfen wurde. Einen prägenden Einfluß besaß dennoch der napoleonische Armeekult, der zu Beginn des Jahrhunderts von Napoleon I. um die kaiserliche Armee inszeniert worden war.18 Allerdings versuchte jede Regierung, die napoleonischen Formen im eigenen Sinne umzugestalten, indem sie leicht verändert und symbolisch umgedeutet wurden.19 Neben der politischen Instabilität, durch die das Militär immer wieder zum Spielball der politischen Auseinandersetzungen wurde, behinderten auch das Stellvertreter-System und die 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

damit verbundene Rekrutierung der Soldaten aus den meist bäuerlichen Unterschichten die Präsentation der Armee als Symbol der nationalen Einheit Frankreichs.20 Noch 1870 stellte Ernest Renan fest, daß nur in Preußen eine »Einheit von Armee und Nation« bestehe, da hier die gesamte Bevölkerung durch die allgemeine Wehrpflicht an der nationalen Verteidigung beteiligt sei.21 Ein wesentlicher Schritt zur ›Nationalisierung‹ der französischen Armee war deshalb die allmähliche Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht in den Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg.22 Erst die Verknüpfung von Nationalidee und Wehrgedanke, die dem Konzept des allgemeinen, nationalen Wehrdienstes zugrunde lag, ermöglichte es nun, die Armee als wirklich nationale Institution, als Verkörperung der »Nation in Waffen« zu propagieren. So präsentierte Staatspräsident Casimir-Perier 1894 die Truppen in einer Ansprache als »Bild der Nation«, während sein Vorgänger die Wehrpflichtarmee mit den Worten umschrieb: »Diese tapfere Armee, die die Nation selbst in ihrer männlichen Jugend ist ...«.23 Der nationale Armeekult der Dritten Republik entfaltete sich alljährlich beim Nationalfeiertag des 14. Juli, der seit 1881 in allen Garnisonen des Landes mit einer Militärparade begangen wurde.24 Zwar waren Militärparaden bereits vor 1870 ein übliches Element des staatlichen Kults, doch vergrößerte die Dritte Republik ihre Bedeutung dadurch, daß sie die Feierlichkeiten der Armee in das Zentrum der offiziellen Veranstaltungen des Nationalfeiertags stellte, wo sie nun alljährlich als »clou« des 14. Juli gefeiert wurden.25 Hinzu trat, daß die besonders aufwendig gestaltete Parade der Pariser Garnison auf dem Pferderennplatz von Longchamps der einzige offizielle Akt des ansonsten mit Volksfesten und anderen populären Vergnügungen begangenen Nationalfeiertags war, an dem die gesamte staatliche Elite der Republik teilnahm. Die Armee erhielt damit von der Dritten Republik die zentrale Stellung im nationalen Kult zugewiesen, die seit den Jahren der Restauration die katholische Kirche eingenommen hatte.26 Bereits die erste Feier des 14. Juli im Jahr 1880 offenbarte den zentralistischen Charakter der nationalen Militärfeiern in Frankreich. Ihr Hauptakt war die Parade der Pariser Garnison, an der neben dem Staatspräsidenten auch die Mitglieder der Regierung sowie beider Häuser des Parlaments teilnahmen. Die lokalen Paraden in den Garnisonsstädten, die in diesem Jahr noch zeitversetzt am 25. Juli stattfanden, reproduzierten das Pariser Vorbild, indem die Truppen vor den Bürgermeistern bzw. den ranghöheren staatlichen Beamten (etwa dem Präfekten) sowie den lokalen Eliten defilierten. Die in allen Garnisonsstädten identisch ablaufenden Paraden verbreiteten damit in ganz Frankreich ein einheitliches Ritual der wehrhaften Nation, durch das sich der Armeekult trotz der herausgehobenen Stellung 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der Hauptstadt Paris überall im Land als Teil der republikanischen Folklore des Nationalfeiertags etablierte. Mit ihrer zentralistischen und lokalen Doppelstruktur prägten die französischen Feierlichkeiten des 14. Juli eine nationale Feierkultur, die sich deutlich von den regionalen deutschen Kaiserparaden unterschied. Während in Deutschland in der Regel nur die großen Provinzhauptstädte den Schauplatz nationaler Militärfeiern bildeten, bei denen das feierliche Bekenntnis zur nationalen Armee jeweils stellvertretend für die gesamte Region ausgedrückt wurde, huldigte man in Frankreich im ganzen Land am gleichen Tag der republikanischen Armee. Trotz ihrer unterschiedlichen Form erlaubte es jedoch die breite geographische Verbreitung der Feierlichkeiten in beiden Ländern in gleicher Weise, auch außerhalb der Hauptstädte die Bevölkerung in den Armeekult einzubeziehen und so seine nationale Reichweite zu unterstreichen. Darüberhinaus besaßen die Feiern in Deutschland und Frankreich noch eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten, die die herausragende Stellung der Armee im nationalen Kult beider Länder unterstrichen. So waren die Militärfeiern jeweils die einzigen Veranstaltungen, die den nationalen Kult im ganzen Land nach einem identischen Ritual verbreiteten. Die Veranstaltungen präsentierten in beiden Ländern ohne Unterschied die Armee als Sinnbild der geordneten und gehorsamen Kampfgemeinschaft der Nation, die sich auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht als »Volk in Waffen« bzw. »nation en armes« (»Nation in Waffen«) verstand.27 Dabei bildeten die Feierlichkeiten einen privilegierten Schauplatz zur Demonstration der Leitbilder von Männlichkeit, Jugendlichkeit und Stärke, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Erscheinungsbild der Soldaten charakterisierten.28 Die Militärfeiern versuchten somit - entsprechend der von Emile Durkheim beschriebenen religiösen repräsentativen Riten (»rites représentatifs«)29 - periodisch zentrale Werte im kollektiven Bewußtsein wiederzubeleben, indem sie das Bekenntnis zur wehrhaften Nation mit dem Kult um die jugendliche Männlichkeit des Soldaten verbanden. 2. Rituale des Nationalstaates? Die in beiden Ländern propagierte Idee der »Nation in Waffen« erhielt jedoch durch ihre Verknüpfung mit der Repräsentation des Staates jeweils eine unterschiedliche Ausrichtung. So besaßen die deutschen Feiern einen starken monarchischen Charakter, während die französischen Paraden des 14. Juli die republikanische »nation en armes« zelebrierten. Zudem reflektierte die Gestaltung der Feiern die unterschiedliche Konstruktion des Nationalstaats, wobei insbesondere die verschiedene Bedeutung der Regio203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nen im Verband des Staates einen großen Einfluß auf ihre Inszenierung besaß. Insofern entwarfen die französischen Militärfeiern das Bild eines zentralistischen Nationalstaates, während die deutschen Veranstaltungen die föderative Struktur des Reiches berücksichtigten. Dennoch entsprach das in dem Feierritual vermittelte Bild nicht exakt der konstitutionellen Ordnung beider Länder. Dies erklärt sich teilweise aus dem ursprünglich militärischen Kontext des Zeremoniells. So führte die stärkere militärische Ausrichtung der Feiern in Deutschland dazu, daß die Vertreter des Reichstags keine herausgehobene Stellung im Zeremoniell erhielten, obwohl sie eine der wenigen wirklich nationalen Institutionen des Deutschen Reichs repräsentierten. Ihre französischen Parlamentskollegen wurden dagegen von Anfang an in die Inszenierung der Paraden des 14. Juli einbezogen. In ihrer Ausrichtung auf den Kaiser und die Fürsten erschienen die deutschen Militärfeiern daher auch als reine militärischmonarchische Veranstaltungen, denen jeder Bezug zu den konstitutionellen Elementen der Reichsverfassung fehlte. Der breite Spielraum, den die Inszenierung der Militärfeiern bei der Repräsentation des Staates gewährte, bot gleichzeitig die Chance, Personengruppen in den nationalen Armeekult einzubeziehen, die keine offizielle Position im institutionellen Gefüge des Staates einnahmen. Selbst offizielle Rangstufen konnten umgangen werden, solange dies von den Beteiligten toleriert wurde.30 Diese Flexibilität des Zeremoniells nutzte man in Deutschland und in Frankreich vor allem dazu, eine Reihe von Personen in die Repräsentation des Staates zu integrieren, die durch persönliche Beziehung bzw. durch ihre berufliche Stellung eng mit dem Staatsoberhaupt verbunden waren. Entsprechend der monarchischen Ausrichtung des deutschen Armeekults wurden daher auch die kaiserliche Familie, der Hof und die Hofgesellschaft in das Zeremoniell der Kaiserparaden einbezogen.31 Lediglich die Zahl und Zusammensetzung der dem Kaiser nahestehenden Personen variierte nach Ort und Zeitpunkt der Feierlichkeiten.32 In Frankreich führte die Offenheit des Zeremoniells dazu, daß der Staatspräsident bei den Paraden des 14. Juli in ähnlicher Weise von Untergebenen, persönlichen Freunden und Familienangehörigen umgeben wurde. Die Zusammensetzung dieses Kreises war äußerlich einer monarchischen Hofgesellschaft nicht unähnlich, auch wenn seine Größe bei weitem nicht die Dimensionen der kaiserlichen »Suite« in Deutschland annahm.33 In beiden Ländern waren überdies auch die Ehefrauen und weiblichen Angehörigen der staatlichen Würdenträger am Zeremoniell beteiligt, da dies den überkommenen höfischen Repräsentationsformen wie auch den Statusvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft entsprach. 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Eliten in beiden Ländern instrumentalisierten damit in durchaus vergleichbarer Weise die Militärfeiern zu ihrer eigenen Repräsentation. Dabei orientierten sie sich zwar an der institutionellen Ordnung des Staates, doch entstand jeweils ein spezifisches Bild des wehrhaften Nationalstaates, das teilweise auch überkommenen Traditionen der öffentlichen Repräsentation Rechnung trug. In Deutschland blieb der nationale Armeekult eine Domäne des monarchischen Staates, da das Recht des Kaisers auf die Repräsentation von Staat und Armee nicht in Frage gestellt wurde. In Frankreich nutzte die republikanische Staatselite in ähnlicher Weise alljährlich die Parade in der Hauptstadt, um öffentlich ihren Anspruch nach politischer und gesellschaftlicher Vorrangstellung zur Schau zu stellen. 3. Die Militärfeiern als Kristallisationspunkte einer militärisch-nationalen Öffentlichkeit Die Inszenierung der Militärfeiern beschränkte sich nicht allein darauf, die höchsten Repräsentanten des Staates und die ihnen nahe stehenden Personen hervorzuheben, sondern versuchte auch, die Bevölkerung in vielfältiger Weise in den Ablauf der Feiern einzubinden. Damit propagierte das Ritual der Feiern ein spezifisches Gesellschaftskonzept, das bestimmte Gruppen der Nation besonders stark mit der Armee und dem Armeekult verknüpfte. So offenbarte die Strukturierung der Zuschauer, die über die Verteilung der Wagen-, Tribünen- und Stehplätze vorgenommen wurde, die symbolischen Rangstufen, die zwischen den Repräsentanten des Staates, den höheren Gesellschaftskreisen (»la Société«) und der breiten Masse des Publikums gezogen wurden. Während ein begrenzter Kreis von Perso3nen dank persönlicher Beziehungen zum Militär bzw. zur staatlichen Elite oder aufgrund finanzieller Leistungen das militärische Zeremoniell von Tribünen aus verfolgen konnte, durfte die breite Bevölkerung in beiden Ländern das Geschehen nur vom Rand des weiträumig abgesperrten Paradefelds aus betrachten.54 Wie viele religiöse Rituale definierte damit das Zeremoniell der Militärfeiern ein spezifisches Terrain, das nur von einer begrenzten Gruppe von Personen betreten werden durfte, die als ›Initiierte‹ des Armeekults verstanden werden können.35 Die deutliche Trennung der gesellschaftlichen Elite von der breiten Bevölkerung wirkte in Deutschland und in Frankreich in ähnlicher Weise, obwohl die Verteilung der Tribünenplätze in beiden Ländern unterschiedlich organisiert war: Während man bei den Paraden in Frankreich Tribünenkarten ohne Bezahlung an die Behörden und die Mitglieder der »besseren Gesellschaft« verteilte,36 wurden sie in Deutschland von den meist 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

privaten Tribünenunternehmern zu hohen Preisen verkauft.37 Vorab kursierende Verkaufslisten und zum Teil ermäßigte Preise erlaubten es allerdings den Militärs, der Beamtenschaft und den Mitgliedern öffentlicher Institutionen, bevorzugt Tribünenplätze für die Kaiserparaden und andere Militärfeiern zu erwerben.38 Die finanzielle Auslese und die Privilegierung bestimmter Personenkreise führten dazu, daß sich die deutschen Tribünenzuschauer kaum von den französischen unterschieden: Reserveoffiziere, höhere Beamte, Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht, die in öffentlichen Ämtern und Positionen standen, viele mit Familie, dazu die Familienmitglieder der Soldaten bevölkerten die Tribünen in beiden Ländern.39 Trotz der unterschiedlichen Methode der Kartenverteilung war es somit die dem Staat und dem öffentlichen Leben verbundene gesellschaftliche Elite, die in beiden Ländern im Sinne der Veranstalter als eigentliches Publikum der Militärfeiern anzusehen ist. Die Zusammensetzung dieses Personenkreises war allerdings abhängig von den jeweiligen lokalen Umständen der Feiern. So führte etwa die regionale Konstruktion der Kaiserparaden in Deutschland dazu, daß die lokalen Eliten außerhalb der zum Schauplatz der Kaiserparaden erwählten großen Provinzhauptstädte weit weniger als in Frankreich in den Armeekult integriert wurden. Da die Städte ihre Einwohner beim Verkauf der Tribünenplätze deutlich bevorzugten und da die regionale Verwaltung einen Teil des Kartenkontingents beanspruchte, blieb den Bewohnern der übrigen Gemeinden nur die Möglichkeit, eine der auf dem freien Markt verfügbaren Tribünenkarten zu erwerben.40 In Frankreich erlaubte es die lokale Konstruktion der Militärfeiern dagegen den lokalen Eliten in weit größerem Maße, ihre enge Verbundenheit mit dem republikanischen Staat und der Armee zu demonstrieren.41 Neben dieser groben Differenzierung des Publikums wurden bestimmte gesellschaftliche Gruppen im Arrangement der Feiern besonders deutlich herausgehoben. Sie konstituierten für die staatliche Führung eine (engere) ›militärisch-nationale Öffentlichkeit‹,42 die als Bindeglied zwischen Armee und Nation fungieren sollte. Im deutschen Kaiserreich wurden in diesem Sinne von Anfang an die Kriegervereine in den nationalen Armeekult integriert. Man gestattete ihnen, mit Abordnungen an den kaiserlichen Manöverparaden der jeweiligen Region teilzunehmen, wo sie in der Nähe der Truppen aufgestellt wurden.43 Ihre Zulassung zu den Militärfeiern sollte die enge Beziehung demonstrieren, die die ehemaligen Soldaten nach offiziellem Verständnis auch über die aktive Dienstzeit hinaus mit »Kaiser und Vaterland« verband.44 Die Vereine waren ihrerseits bestrebt, in das offizielle Zeremoniell der Militärfeiern einbezogen zu werden, da sie dies als gesellschaftliche Aufwertung und als Anerkennung ihrer Verbundenheit mit Kaiser und Armee betrachteten. Die preußischen Behörden 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nutzten dieses Interesse der ehemaligen Soldaten dazu, ihren Einfluß auf das Kriegervereinswesen auszudehnen und vermeintlich »reichsfeindliche Tendenzen« zu unterdrücken, indem sie den Zugang zu den Militärfeiern reglementierten.45 Neben den Kriegervereinen wurde seit der Jahrhundertwende Schüler- und Jugendgruppen, insbesondere des 1911 ins Leben gerufenen »Jungdeutschland-Bunds«, gestattet, die Militärfeiern aus nächster Nähe mitzuerleben. Wie eine Broschüre des Bundes erläuterte, sollte der Besuch dieser Veranstaltungen dazu beitragen, »die ganze Jugend zu kraftvollen, vaterlandsliebenden, sittlich geläuterten Männern [sic!] heranzubilden«.46 In vergleichbarer Weise instrumentalisierten auch die französischen Behörden den nationalen Armeekult zur patriotischen Erziehung der männlichen Jugend, indem sie den seit der Jahrhundertwende immer zahlreicher werdenden Vereinen der militärischen Jugenderziehung (»sociétes de préparation militaire«) gestatteten, Abordnungen zu den Paraden des 14. Juli zu entsenden.47 Die Soldaten- und Veteranenvereine blieben dagegen lange Zeit von den offiziellen Veranstaltungen ausgeschlossen, obwohl sie immer wieder - auch mit Verweis auf die Privilegien der deutschen Kriegervereine - auf eine Beteiligung drängten.48 Der Grund für die Ablehnung von staatlicher Seite lag dabei in der Nähe der Vereine zur nationalpopulistischen Rechten, deren bonapartistische Ausrichtung viele der ehemaligen Soldaten teilten, die ihre militärische Karriere noch unter Napoleon III. begonnen hatten. Die besondere Hervorhebung sowohl der zukünftigen als auch der ehemaligen Soldaten im Ritual der Militärfeiern versinnbildlichte den umfassenden Anspruch der militärischen Gefolgschaft, den Staat und Nation in beiden Ländern an den (männlichen) Staatsbürger stellten. Von der Jugend an bis ins hohe Alter sollte er mit der Armee verbunden sein, der Nation dienen. Die Feierlichkeiten waren somit mehr als nur eine Zurschaustellung der aktiven Truppen. Neben dem Nationalstaat und seiner Spitze sollten alle der Armee nahestehenden Gruppen gefeiert werden, um so die Einheit der wehrhaften Nation zu beschwören. 4. Militärisches Ritual und nationale Begeisterung Ähnlich wie die meisten religiösen Zeremonien wurde das Zeremoniell der Militärfeiern durch eine ganze Reihe von Elementen belebt, die dem teilnehmenden Publikum eine emotionale Beteiligung am militärischen Ritual ermöglichen und so die Begeisterung für Armee und Nation schüren sollten.49 Die Klänge und der Rhythmus der Militärmusik, die bunten Uniformen der Soldaten, der inszenierte Auftritt der militärischen und 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

staatlichen Würdenträger, die strikte Choreographie der in großer Zahl defilierenden Truppen - all dies schuf die Atmosphäre einer theatralischen Masseninszenierung. Dies unterstrichen auch die Zeitgenossen, die die Militärfeiern üblicherweise als ein großes »militärisches Schauspiel« bzw. »spectacle militaire« beschrieben.50 Die Theatralik war zum Teil ein Nebenprodukt des militärischen Zeremoniells, das sich in den europäischen Armeen des 18. Jahrhunderts in weitgehend ähnlicher Form herausgebildet hatte und in ritualisierter Form den Kern der Feiern darstellte.51 Im nationalen Armeekult wurde das Zeremoniell jedoch durch eine ganze Reihe repräsentativer Elemente erweitert sowie mit Nationalsymbolen durchsetzt, die als äußerliche Zeichen die nationale Dimension der Feierlichkeiten hervorhoben. So begleiteten die Militärmusiker den Marsch der Soldaten mit der Nationalhymne, während ein Wald von Nationalfahnen Paradeterrain und Tribünen schmückte. Die Zuschauer und Beteiligten der Feiern umgab damit eine Atmosphäre, die nicht nur von militärischer, sondern auch von nationaler Symbolik erfüllt war. Um die Feiern trotz ihres repetitiven Charakters weiterhin für das Publikum attraktiv zu halten, verstärkte man in beiden Ländern im Laufe der Zeit noch die theatralischen Effekte des Zeremoniells. Damit konnte dessen Erstarrung vermieden werden, obwohl die Veränderungen gleichzeitig begrenzt bleiben mußten, um den rituellen Charakter der Feierlichkeiten nicht zu gefährden. In Deutschland war es Kaiser Wilhelm IL, der vielfach persönlich solche theatralisierenden Neuerungen initiierte, um die Militärfeiern verstärkt im Sinne des Kaiserkults zu instrumentalisieren. So beendete Wilhelm II. seit 1888 die Paraden mit einem feierlichen Einzug in die Garnisonsstadt, der sich jedes Mal zu einem »wahren Triumphzug« des Kaisers gestaltete.532 Auch die vom Kaiser aufgestellten neuen Truppenteile der Garde dienten der Repräsentation des Kaiserhauses, indem sie die Berliner Paraden mit ihren farbenprächtigen Uniformen noch prunkvoller erscheinen ließen.53 Auch in Frankreich verzichtete man nicht darauf, die theatralischen Effekte der Militärfeiern zu steigern. So führte man beispielsweise 1889 als besondere Attraktion der Pariser Paraden eine Schlußattacke der Kavallerie ein, bei der diese in einer Reihe gegen die Tribünen galoppierte, um dort abrupt zum Stehen zu kommen.54 Solche und ähnliche Neuerungen ließen die Parade in diesem Jahr für den Reporter des »Figaro« daher »besonders anziehend« erscheinen.55 In dieser Atmosphäre des militärisch-nationalen Spektakels blieb das Publikum nicht unbeteiligt. Es jubelte den vorbeiziehenden Soldaten zu und applaudierte besonders gelungenen Bewegungen der Truppen. Neben der Armee war das Staatsoberhaupt das wichtigste Objekt der allgemeinen Begeisterung. So berichten die Berliner Zeitungen davon, daß »laute 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Hurrahrufe« der Zuschauer die Ankunft des Kaisers auf dem Paradefeld verkündeten, während in Paris der Staatspräsident mit den Rufen »Es lebe der Präsident« (»Vive Carnot, Faure etc.«) empfangen wurde.56 Abschätzig sprach die sozialdemokratische Presse von »Hurrahpatrioten«, die bei den Kaiserparaden den »militärischen Klimbim« bejubelten, und von der französischen »Kanaille«, die sich »an dem Tschintara der Militärmusik und den bunten Uniformen« berausche.57 Der emotional aufgeladenen Atmosphäre konnten sich weder der deutsche Kaiser noch die französischen Präsidenten entziehen. So schwärmte Wilhelm II. in einem Brief an seinen Freund Philipp Eulenburg von dem »großen Tag«, an dem er erstmals in Berlin die »herrliche Parade« des Gardekorps abnahm,58 während der französische Präsident Casimir-Perier erklärte: »Das Spektakel, das ich gerade bewundern konnte, war mehr als ein Fest für die Augen, es war eine Freude für die Herzen. Ich danke allen, denen ich diese ermutigende Emotion zu verdanken habe.«59 Durch die Begeisterung, die das spektakuläre Zeremoniell allgemein hervorrief, wurden die Militärfeiern zu einem emotional aufgeladenen Ritual der nationalen Einheit und militärischen Stärke. Indem sie Publikum und Beteiligten ihre Zugehörigkeit zur wehrhaften Nation bestätigten, übernahmen sie eine gemeinschaftsstiftende Funktion analog zu den von Emile Durkheim beschriebenen religiösen Riten.60 Auch wenn die genauen symbolischen Bezüge und Inhalte des militärischen Rituals möglicherweise einigen Zuschauern verborgen blieben,61 so war doch die emotionale, nationalisierende Wirkung der Militärfeiern auf die Anwesenden unter den Zeitgenossen unbestritten. Entsprechend forderte Henri Baudrillart schon 1873 in einer Rede vor der Pariser Akademie die Veranstaltung von Militärparaden als Mittelpunkt des nationalen Kults: »Allein die Militärparade ... bietet ein eindruckvolles Spektakel, dem es nicht an Erhabenheit fehlt; es ist nicht allein der Glanz der Waffen und Uniformen oder die erstaunliche Kunst, derartige Massen in Bewegung zu setzen; etwas Größeres bewegt uns noch, ohne daß wir es bemerken: die Idee des Mutes, der Opferbereitschart, der Ordnung, einer moralischen Kraft, die sich nach innen Disziplin und nach außen Freiheit, Macht und bewaffnete Einheit des Vaterlandes nennt.«62 5. Militarisierung und Nation Die bedeutende Stellung, die die nationalen Militärfeiern in den europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg einnahmen, verweist darauf, daß der durch die Kriege von 1866 und 1870/71 ausgelöste »gesamteuropäische Militarisierungsprozeß« (Gerhard Ritter) zugleich als Prozeß der Nationalisierung der einzelnen Staaten aufgefaßt und gestaltet wurde.63 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Der Blick auf Frankreich und andere, hier nicht näher betrachtete Länder wie England oder Österreich-Ungarn64 relativiert dabei zumindest für den Bereich des offiziellen Nationalkults die These Hans-Ulrich Wehlers, daß die Militarisierung in Deutschland »besonders massiv« gewesen sei.65 Denn ebenso wie im deutschen Kaiserreich war die Armee auch in anderen europäischen Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts ein zentrales Symbol der nationalen Einheit und nahm entsprechend einen prominenten Platz in dem nationalen Kult ein. Die weit verbreitete, der Legitimation der allgemeinen Wehrpflicht dienende Konzeption des »Volks in Waffen« bzw. der »Nation in Waffen« unterstrich dabei das enge Band zwischen der Armee und der nationalen Gesellschaft, das in den nationalen Militärfeiern regelmäßig bekräftigt wurde.66 In diesem Sinne waren die spektakulären Kaiserparaden vor dem Ersten Weltkrieg nicht der Ausdruck eines besonderen deutschen Militarismus. Vielmehr müssen sie als ein zeittypisches Phänomen betrachtet werden, mit dessen Hilfe in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern ein folkloristisches Bild der »Nation in Waffen« propagiert wurde.67 Anmerkungen 1 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983, S. 8 0 - 1 0 3 . 2 Dieser Aufsatz basiert auf den Forschungen, die ich im Zusammenhang meiner Doktorarbeit über die nationalen Militär- und Kriegserinnerungsfeierlichkeiten in Deutschland und Frankreich zwischen 1871 und 1914 durchgeführt habe. Betrachtet werden hier jene militärischen Feiern, die über die rein militärische Dimension hinausgehend im Rahmen des nationalen Armeekults als öffentliche Feierlichkeiten inszeniert wurden. 3 Für die Entwicklung außerhalb der hier betrachteten Länder: M.-J. Lory, Le nationalisme et l'armée, in: Le nationalisme facteur belligène. Colloque des 4, 5, 6 mai 1 9 7 1 , Brüssel 1972, S. 285-302; J.M. MacKenzie ( H g . ) , Popular Imperialism and the Military 1850-1950, Manchester 1992. 4 Die Darstellung orientiert sich am Konzept des »politischen Rituals«, das von dem Politologen Murray Edelman und dem Soziologen Steven Lukes in Anlehnung an die Durkheimsche Theorie von Religion und Ritual erarbeitet wurde. Vgl. M. Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana 1964; S. Lukes, Political Ritual and Social Integration, in: Sociology 9, 1975, S. 2 8 9 - 3 0 8 ; E. Durkheim, Les formes élémentaires de la vie réligieuse. Le Systeme totémique en Australie, Paris 1960 4 [ND Paris 1990]. 5 G. L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Berlin 1976, S. 103, 110ff. Nach Mosse gelang den festlichen Veranstaltungen der wilhelminischen Ära »nie der Durchbruch zu echten Riten«, da sie das Volk nicht am Zeremoniell beteiligten (ebd., S. 114). Durch die offizielle Inszenierung konnten die Feiern außerdem »ihre Dynamik nicht mehr aus unerfüllten Wünschen und Sehnsüchten beziehen« (ebd., S. 110), so daß »die Kontinuität des nationalen Kults« durch die Reichsgründung »vor schwere Probleme« gestellt wurde.

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6 Ε. Renan, Qu'est-ce qu'une nation? Conference faite en Sorbonne, le 11 mars 1882, in: Ders., Oeuvres complètes, hg. v. H. Psichari, Bd. 1, Paris 1947 (zit. nach: Ders., Qu'estce qu'une nation? et autres essais politiques, hg. v. J . Roman, Paris 1992, S. 37-64, hier S. 6 3 f ) . 7 Dies zeigte etwa die von Anton v. Werner und anderen Malern in ihren Werken propagierte Interpretation der militärischen Reichseinigung. Vgl. E. Mai, Nationale Kunst Historienmalerei vor und nach 1870. Von der Romantik der Geschichte zu geschichtlicher Wirklichkeit, in: D. Bartmann ( H g . ) , Anton von Werner. Geschichte in Bildern, München 1993, S. 1 9 - 3 2 ; J. Grabowski, Leitbilder einer Nation. Zur Präsentation von Historien- und Schlachtengemälden in der Nationalgalerie, in: ebd., S. 9 1 - 1 0 0 . 8 R. Graf Stillfried-Alcantra, Die Attribute des neuen Deutschen Reiches, Berlin 1874 2 , S. 20. 9 F. Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt/M. 1990. Allerdings entspricht das von Schellack gezeichnete Bild der Entwicklung der Sedanfeiern bis zum Ersten Weltkrieg nicht den tatsächlichen Veränderungen, die im Reich seit dem Regierungsantritt Wilhelms II. zu beobachten sind. Statt der von Schellack beschriebenen Ausweitung der Feiern läßt sich vielmehr ein allmählicher Bedeutungsverlust des Sedantags nach 1888 feststellen. 10 Ebd., S. 2 3 - 2 5 , 48f.. 11 W. Deist, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, in: J . C. G. Röhl ( H g . ) , Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 17), S. 2 5 - 4 2 , hier: S. 26f. 12 G. Freytag, Neues und altes Kaiserceremoniell, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 15: Politische Aufsätze, Leipzig 1887, S. 5 2 1 - 5 3 0 [zuerst in: Im Neuen Reich 1871, Nr. 13]. 13 Der preußische Armeekult feierte vor 1870 nicht nur die aktiven Truppen nach den Siegen von 1864 und 1866, sondern entwickelte auch einen eigenen militärischen Traditionskult, in dessen Zentrum die Erinnerung an die sogenannten »Befreiungskriege« stand. Vgl. P. G. Thielen, »Viktoria hat heute Dienst am Tor...«. Die Selbstdarstellung Preußens beim Siegesfest 1866, in: M. Salewski u. J . Schröder ( H g . ) , Dienst für die Geschichte. Gedenkschrift für Walther Hubatsch, Göttingen 1985, S. 9 3 - 1 3 2 . Zu der aus Anlaß des fünfzigjährigen Jubiläums der Befreiungskriege in Berlin veranstalteten Feier siehe: Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, BPH Rep. 113 (2.2.12), Oberhofmarschall-Amt, 1616. 14 Ausgenommen von den regelmäßigen Kaiserparaden blieb bis 1891 Bayern, dessen zwei Armeekorps bis 1887 vom bayerischen König in Begleitung des deutschen Thronfolgers Friedrich Wilhelm inspiziert wurden. Eine weitere Ausnahme bildeten die Paraden der preußischen Garde, die jährlich Ende Mai und Anfang September in Berlin und Potsdam stattfanden und die enge Verbindung der Gardetruppen mit dem Hohenzollernhaus demonstrierten. 15 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 7.9.1876. Ähnlich auch: Leipziger Nachrichten, 6.9.1876, Dresdner Journal, 15.9.1882. 16 Dies geschah schon bei der ersten Parade, die Kaiser Wilhelm I. am 6.9.1876 in Leipzig zusammen mit dem sächsischen König abnahm (Leipziger Nachrichten, 7.9.1876). 17 Leipziger Nachrichten, 7.9.1876; Leipziger Neueste Nachrichten, 6.9.1903. 18 Die prägende Wirkung der napoleonischen Traditionen offenbarte sich etwa darin, daß die von Napoleon I. am 5. Dezember 1804 auf dem Pariser Marsfeld inszenierte Zeremonie der Verleihung neuer Feldzeichen (»aigles«) an die Armee von König Louis Philippe, der Zweiten Republik, Napoleons III. sowie der Dritten Republik kopiert wurde (Le Figaro, 13.7.1880). 19 Vgl. etwa die Inszenierung der Fahnenübergabe bei der Parade des 14. Juli 1880 (ebd., 15.7.1880). 20 R. Girardet, La Société militaire dans la France contemporaine ( 1 8 1 5 - 1 9 3 9 ) , Paris

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1953, S. 175ff.; Β. Schnapper, Le remplacement militaire en France. Quelques aspects politiques, économiques et sociaux du recrutement au XIXe siècle, Paris 1968, S. 2 8 0 - 2 8 8 ; W. Serman, Les officiers français dans la Nation ( 1 8 4 8 - 1 9 1 4 ) , Paris 1982, S. 6 5 - 7 3 . 21 E. Renan, La guerre entre la France et l'Allemagne, in: Revue des Deux Mondes, 15.9.1870 (zit. nach: Ders., Qu'est-ce qu'une nation?, S. 8 0 - 1 0 6 , hier S. 104). 22 Vgl. R. Challenger, The French Theory of the Nation in Arms. 1 8 6 6 - 1 9 3 9 , New York 1955, S. 10-90; F. Choisel, Du tirage au sort au service universel, in: Revue historique de l'Armée 2, 1 9 8 1 , S. 4 3 - 6 0 . Die »positiven« Auswirkungen der von der Dritten Republik unternommenen Anstrengungen, den Militärdienst »attraktiv« zu machen, auf das Bild der Armee in der Bevölkerung beschreibt: M. Auvray, Objecteurs, insoumis, déserteurs. Histoire des réfraetaircs en France, Paris 1983, S. 113ff. 23 La France militaire, 26.9.1893, 21.9.1894. Vgl. schon Le Figaro, 21.6.1876. 24 R. Sanson, La célébration de la fete nationale sous la Troisième République, phil. Diss., Paris (Sorbonne) 1970; C. Amalvi, Le 14-Juillet, in: P. Nora ( H g . ) , Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 4 2 1 - 4 7 2 ; J.-P. Bois, Histoire des 14 Juillet. 1 7 8 9 - 1 9 1 9 , Rennes 1991; Ders., L'armée et la fete nationale, 1 7 8 9 - 1 9 1 9 , in: Histoire, Economic et Société 10, 1991, S. 5 0 5 - 5 2 7 . 25 Bois, Histoire, S. 180. Die Veranstaltung derart militärisch geprägter Nationalfeicrn durch die Dritte Republik steht im Widerspruch zu der von George L. Mosse vertretenen These, daß sich in parlamentarischen Regimen »die Schaffung eines echten nationalen Kults als schwierig« erweise (Mosse, Nationalisierung, S. 148). In seiner kurzen Beschreibung der Feiern des französischen Nationalfeiertags (ebd., S. 149f.) verdrängt Mosse entsprechend seinem Argument der Unvereinbarkeit von Parlamentarismus und nationalem Kult die großen Militärparaden, die seit 1880 im Zentrum der Veranstaltungen des 14. Juli standen. 26 Vgl. zum nationalen Kult unter Napoleon III. etwa: Archives municipalcs Dijon, 1 I, 1/46; Archives Départementalcs Dijon, 20 M, 1304/2. Siehe auch: F. Waquet, Les fëtes royales sous la Restauration ou l'Ancien Regime retrouvé, Paris 1981 (Bibliothèque de la Société française d'Archéologic 14) S. 5, 132. 27 Der deutsche Ausdruck »Volk in Waffen« für die Umschreibung des Konzepts der »Nation in Waffen« verweist nicht auf einen völkischen Nationalismus, sondern auf die Prägung des Begriffs im Rahmen des preußischen Armeekultes vor 1870. So nannte Wilhelm I. in seiner Thronrede vom 12. Januar 1860 bereits die preußische Armee »das preußische Volk in Waffen«. Zit. nach: L. Hahn ( H g . ) , Das Heer und Das Vaterland. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk, Berlin 1883, S. 2. In ähnlicher Weise sprach man in Österreich von den »Völkern Österreich-Ungarns in Waffen«. Siehe A. Danzer u.a., Unter den Fahnen. Die Völker Österreich-Ungarns in Waffen, Wien 1889. 29 Durkheim, Les formes, S. 536. 28 Vgl. Μ Βοzοn, Les conscrits, Paris 1981. 30 In einzelnen Fällen konnte es zu ausgiebigen Diskussionen darüber kommen, ob die zeremoniellen Veränderungen die formellen und informellen Rangstufen in korrekter Weise berücksichtigten. Siehe dazu etwa das Beispiel Hamburgs, wo es zu einem Streit zwischen dem Bürgermeister und der Bürgerschaft um die korrekte Vertretung der Stadt bei den Paraden kam (T. von Elsner, Kaisertage. Die Hamburger und das Wilhelminische Deutschland im Spiegel öffentlicher Festkultur, Frankfurt/M. 1991, S. 4 0 8 - 4 1 2 ) . 31 In Berlin wurden bis zur Errichtung der Zuschauertribünen im Jahre 1905 auf dem Paradefeld sogar nur die Mitglieder der Hofgesellschaft zugelasssen, wo sie im Wagen die Parade verfolgten. Die Angehörigen der Hofgesellschaft, die einen militärischen Rang besaßen, sowie die Mitglieder der kaiserlichen Familie folgten dem Kaiser zu Pferd beim Abreiten der aufgestellten Truppen. 32 Am größten war die Beteiligung der Hofgesellschaft bei den Paraden in der Reichshauptstadt, an denen nicht nur die gesamte kaiserliche Familie und der Hof, sondern auch die beim Kaiser akkreditierten Diplomaten teilnahmen.

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33 Unter dem Staatspräsidenten Felix Faure wuchs dieser Personenkreis allerdings soweit an, daß sich der Präsident in der Presse den Beinamen »Le Président soleil« erwarb (E. Lem, La Présidence de Felix Faure. 1 8 9 5 - 1 8 9 9 , Chantonnay 1979, S. 12). 34 Die zeitgenössischen Quellen erlauben keine exakten Angaben über die Zahl der Zuschauer der Paraden. So schwanken etwa die Angaben für die Kaiserparade in Leipzig von 1876 zwischen 50 000 und 80 000 Personen (Leipziger Nachrichten, 8.9.1876; Kreuzzeitung, 8.9.1876), für die militärischen Feiern des 14. Juli in Paris zwischen über 100 0 0 0 Personen im Jahr 1905 (La France militaire, 16.7.1905) und 300 0 0 0 bis 400 000 im Jahr 1895 (Le Figaro, 14.7.1895). Die Anzahl der Tribünenplätze wurde 1876 für Leipzig mit 4 500 angegeben (Leipziger Nachrichten, 1.9.1876). Damit konnten hier wohl weniger als zehn Prozent der Zuschauer das Geschehen von der Tribüne aus verfolgen. Ein ähnliches Verhältnis zwischen Tribünenzuschauern und dem übrigen Publikum ergeben auch die Angaben über die im Jahr 1900 bei Chartres abgehaltene Parade: 5 000 Tribünenplätze standen hier 80 0 0 0 erwarteten Zuschauern gegenüber (La France militaire, 21.9.1900, 2 2 . / 23.9.1900). 35 Vgl. Durkheim, Les formes, S. 5 0 f f . , 543. 36 Die Verteilung der Karten organisierte in Paris das Büro des Staatspräsidenten und das Kriegsministerium. Ein gewisses Kontingent wurde zusätzlich an die Abgeordnetenkammer und den Senat weitergegeben, deren Mitgliedern einige Karten an ihre Wähler verteilten (Le Figaro, 13.7.1907, 12.7.1911). 37 Die Preise für Sitzplätze auf den Tribünen bei der Kaiserparade in Würzburg 1897 lagen beispielsweise zwischen vier und zehn Mark (S. Göbl, Die große Parade des Kgl. Bayer. II. Armee Corps in Würzburg am 1. September 1897 und die Würzburger Fürstentage vom 30. August bis 4. September 1897, Würzburg 1897, S. 4 0 ) . 38 Staatsarchiv Münster, Oberpräsident, 1294, passim; sowie: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, sächsisches Kriegsarchiv (D), 25338, Bl. 38; ebd., Generalkommando XII. Korps, 8545. 39 Die Quellenlage erlaubt in der Regel keine exakten zahlenmäßigen Angaben über die soziale Zusammensetzung der Tribünenbesucher und anderer Zuschauer. Daher wurden die allgemeinen Hinweise der Zeitungsberichte und Polizeiakten herangezogen, um ein genaueres Bild des Publikums der Militärfeiern zu erhalten. 40 Leipziger Nachrichten, 25.2.1876. 41 Vgl. etwa für die Paraden in Dijon: Le Bien Public, 15.7.1905, 15.7.1910. 42 Die Verwendung des ›Öffentlichkeits'-Begriffs erfolgt hier in Abgrenzung zu der von Jürgen Habermas eingeführten abstrakt-politischen Definition (J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1990 2 ). Im Zusammenhang der Herausbildung einer ›militärisch-nationalen Öffentlichkeit« soll hier konkreter der Kreis von Personen bezeichnet werden, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit von den staatlichen Organisatoren zu den Militärfeiern zugelassen wurden, an denen sie direkt als Zuschauer oder Beteiligte teilnahmen. Auf diese Weise schuf der nationale Armeekult mit seinen eingespielten Ritualen den weiten Kommunikationszusammenhang einer militärisch und national bestimmten ›Öffentlichkeit‹, der die jeweiligen Öffentlichkeit e n der einzelnen Feiern miteinander verband. 43 Siehe etwa die Berichte zu den Kaiserparaden in Breslau 1875 (Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 12.9.1875), in Leipzig 1876 (ebd., 7.9.1876), Merseburg 1876 (ebd., 10.9. 1876) und Kassel 1878 (ebd., 22.9.1878). 44 Vgl. etwa die Rede Kaiser Wilhelms IL vor den Berliner Kriegervereinen am 19.8.1895, zit. in: Vossische Zeitung, 20.8.1895 Mo. Siehe auch: Schacht, Die Mitgift des Reservisten, in: Militärwochenblatt 96 I, 1 9 1 1 , Sp. 1122-1124. 45 So führte die politische Beobachtung der Kriegervereine durch die Zivil- und Militärbehörden etwa dazu, daß 1891 siebzehn Vereine des Militär-Vereins-Verbandes aus Reuß a.L.,

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die nach Einschätzung der Behörden eine »partikularistische Haltung« einnahmen, von der Kaiserparade in Erfurt ausgeschlossen wurden (Bundesarchiv Potsdam, 09.01, Auswärtiges Amt, Nr. 28976, passim). 46 Jungdeutschland Gruppe Groß-Berlin (Hg.), Jungdeutschland-Bote für das Jahr 1914, Berlin 1913, S. 149. 47 La France militaire, 9.7.1910, 11.7.1911. 48 Le Vétéran, 20.3.1912. Lediglich 1880 und 1886 wurden einzelne Vereine zu den Paraden in Longchamps zugelassen (Le Figaro, 15.7.1880; Le Gaulois, 14.7.1886). 49 Vgl. Durkheim, Les formes, S. 547. 50 Vgl. z.B. Vossische Zeitung, 10.9.1888, 13.8.1889, 22.8.1891; Le Figaro, 15.7.1888, 15.7.1889, 15.7.1904. 51 Vgl. dazu: ebd., 15.7.1909. 52 Vgl. Vossische Zeitung, 1.9.1888, 10.9.1888, 22.5.1889. 53 Vgl. ebd., 13.8.1889, 1.9.1898; Braumüller, Geschichte des Königin Augusta GardeGrenadier-Regiments Nr. 4, Berlin 1901, S. 316ff. 54 Le Figaro, 15.7.1889. 55 Ebd.; vgl. auch La France militaire, 16.7.1911. 56 Berliner Tageblatt, 1.9.1900; Vossische Zeitung, 1.9.1896, 1.9.1900; Le Figaro, 15.7.1888; 15.7.1895, 15.7.1900. 57 Vorwärts, 4.9.1907, 21.4.1912. Trotz verbaler Angriffe des »Vorwärts« nahmen durchaus auch sozialdemokratische Arbeiter an den Paraden teil, wie etwa aus einer Notiz des Berichts der Dresdner Polizei über die Kaiserparade von 1882 ersichtlich wird (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Polizeidirektion Dresden, 899, Bl. 22). 58 Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, hg. v. J.C.G. Röhl, Bd. 1, Boppard 1976 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 52), S. 311. 59 La France militaire, 21.9.1894. 60 Durkheim, Les formes, S. 553. 61 Hierauf hat zu Recht Paul Veyne hingewiesen (P. Veyne, Propagande expression roi, ima3ge idole oracle, in: L'Homme 114, 1990, S. 7-26, hier S. 12, 21f.). 62 H. Baudrillart, Les fêtes publiques, Paris 1873. 63 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland, Bd. 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich 1890-1914, München 1960, S. 115. 64 Siehe z.B.: MacKenzie (Hg.), Popular Imperialism and the Military; I. Déak, Der K. (u.) K. Offizier. 1848-1918, Wien 1991. Für die Rolle, die das europäische Militärmodell beim Export des europäischen Nationalismus spielte, siehe die exzellente Studie von D.B. Rateon, Importing the European Army. The Introduction of European Military Techniques and Institutions into the Extra-European World 1600-1914, Chicago 1990. 65 H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 19886, (Deutsche Geschichte 9), S. 158. 66 Insofern muß Großbritannien in jener Zeit als ein gewisser Sonderfall in Europa betrachtet werden, da hier nicht wie etwa in Frankreich, Deutschland oder Österreich-Ungarn die aligemeine Wehrpflicht zur Grundlage der Rekrutierung der Friedensarmee erhoben wurde. Die zentrale Rolle des Militärs bei der Konstitution des britischen Kolonialreichs machte die Armee jedoch auch in Großbritannien zu einem entscheidenden Element im nationalen Kult (vgl. MacKenzie, Popular Imperialism). 67 Der Erste Weltkrieg hinterließ tiefe Spuren in dem nationalen Ritual der Militärfeiern, indem er das in der Friedenszeit vermittelte folkloristische Bild der Armee mit der grausamen Realität des Massenkrieges konfrontierte. Nun hielten die neue Waffentechnik und die graue Uniformität der modernen Armeen Einzug in das Zeremoniell der Paraden und erinnerten wieder verstärkt an die kriegerische Bestimmung der militärischen Rüstung.

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ANNETTE M A A S

Der Kult der toten Krieger Frankreich und Deutschland nach 1870/71

Der deutsch-französische Krieg veränderte nachhaltig vertraute Lebenswelten der beiden kriegführenden Nationen.1 Noch während des Krieges setzte eine schier unübersehbare und vielfältige Produktion patriotischer Literatur ein. Diese neue, sehr emotionale literarische Welt fand nach dem Krieg ihre Entsprechung in der markant veränderten realen Alltagswelt der Städte und des Landes. In einer nie dagewesenen Verbreitung bündelten nun Kriegerdenkmäler als neue patriotische Bezugs- und Orientierungspunkte das Kernstück des Erinnerungskultes, den ›Kult der toten Kriegen. Sowohl das Hochgefühl des Sieges und das Glücksgefühl der Erfüllung lang erhoffter nationaler Einigung in Deutschland als auch die tiefe Demütigung in der Niederlage, das traumatisch erlebte »schreckliche Jahr« und der schmerzhafte Verlust der »verlorenen Provinzen« Elsaß-Lothringen in Frankreich drückte sich in Erinnerungszeichen aus, die die militärische Leistung der Soldaten würdigten.2 Im Rückblick wurden die gefallenen Soldaten zu Helden und in ihrem Sterben für das Vaterland zu Vorbildern für die Lebenden. Ihr Tod auf dem Schlachtfeld galt der Nation und wurde nun nachträglich als Opfertod für das Deutsche Kaiserreich und für die französische Dritte Republik gedeutet. Die Nation gab im Gegenzug das Versprechen des Nichtvergessens, indem die Toten in das nationale Gedächtnis aufgenommen und kollektiv erinnert wurden. Mit Hilfe dieser nachträglichen Sinn- und Identitätsstiftung im Tod für das Vaterland sollten bestehende Grundwerte demonstrativ bekräftigt und kollektiv verpflichtende, staatstragende Zukunftsperspektiven abgeleitet werden. Das ›patriotische Heldentum‹ hatte seit der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen in seiner Annäherung an die Sphäre des Heiligen eine übernatürliche Identifikationsmöglichkeit geschaffen. Der Soldatentod und die Erinnerung daran konnten nun politisch instrumentalisiert werden.3 War seit jeher dem siegreich Gefallenen Anerkennung und Ehre gewiß, versuchte nun auch der Verlierer »kraft einer Inversionslogik« - der Interpretation eines Heldentums in der Niederlage - zur Identifikation mit der gedemütigten Nation aufzurufen.4 Der Grundstein für einen dauerhaften 215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Erinnerungskult wurde 1871 mit der Regelung der Soldatengräberpflege im Artikel 16 des Frankfurter Friedensvertrages gelegt. Die hierin festgelegte Gewährung des ewigen Ruherechts für Sammel- und Massengräber ermöglichte einerseits die Schaffung unantastbarer Orte nationalen Heldentums,5 andererseits implizierten Unterhalt und Pflege der Grabstellen eine organisierte Form des Gefallenenkultes.6 Durch eine regelmäßig wiederkehrende Aktualisierung des Gefallenenkultes in den Erinnerungsfeiern sollte überdies an symbolträchtigem Ort über die einmalige Denkmalseinweihung hinaus eine imaginäre ewige Verbindung der Toten zu den (Über-)Lebenden geschaffen werden. Die intensivste Form der Verpflichtung, der vorbildhaften, mit dem Leben bezahlten Vaterlandsliebe der Toten zumindest nachzueifern, sollte in Deutschland wie in Frankreich an den authentischen Orten des Todes, an den Gräbern der Gefallenen auf den Schlachtfeldern, erlebt werden: »... wir müssen vor allem unsere lieben Toten ehren, indem wir uns von ihrer unsterblichen Seele inspirieren lassen, indem wir das wertvolle Erbe der Gefühle zusammentragen, die ihr Opfer bestimmten, indem wir unseren Patriotismus in ihrem Blut tränken ... Sie fordern von uns, Frankreich zu lieben, nicht unseret-, sondern seinetwegen, uns in die genaue Einhaltung der Verfassung und der Gesetze zu fugen, uns in einem gemeinsamen Streben zu vereinen, um so dem Vaterland seine traditionelle Autorität und seine Größe wiederzugeben ...«. 7

Die für die Ewigkeit konzipierten Denkmäler gingen auf diese Weise eine Symbiose mit dem immer wieder aktualisierten und wiedererkennbaren Erinnerungskult ein. Dieser unterstellte den zu vermittelnden nationalen Stereotypen einen zeitlosen Charakter, obwohl sowohl die inhaltlichen Absichten der Erinnerungsreden als auch die Formensprache der Denkmäler in ihrem Gehalt und ihrer Rezeption im Laufe der Zeit deutlichen Modifikationen unterworfen waren.8 Die Rezeption des Krieges war in beiden Ländern von dem nicht gegensätzlicher zu denkenden Erlebnis des Sieges und der Niederlage bestimmt, doch dienten beide als entscheidende Bezugspunkte in der Akzentuierung des nationalen (Selbst-)Bewußtseins und der Festlegung auf Feindbilder. 1. Sinnstiftende Reichsgründung Berichteten Feldpostbriefe vom Kriegsschauplatz der Jahre 1870 und 1871 noch über unfaßbares Kriegsgrauen,9 so verblaßte, mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen, jede persönliche Erschütterung und Trauer. Der entscheidende Sieg bei Sedan und die Vollendung der langersehnten Einheit in der Gründung des Kaiserreiches überdeckten die Kriegsrealität in Deutschland dauerhaft und wiesen dem Kriegstod uneinge216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

schränkt Sinn zu. Das gewaltsame Sterben im Krieg wurde nun als Opfertod für die Nation interpretiert. Im Mythos der Reichsgründung wurde der tote Krieger zum Märtyrer der geeinten Nation. Die Psychologie des Sieges verklärte in der Erinnerung alles im Licht der nationalen Helden. Diesen wurde nachträglich freiwillige Opferbereitschaft und Vorbildfunktion zugewiesen, wie es an den Denkmalsinschriften abzulesen ist. Unter Bezugnahme auf die Befreiungskriege wurde die Widmung des Berliner Kreuzbergdenkmals, »Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung«, sinngemäß übernommen und der Gefallenen als »tapfere Söhne«, »gefallene Kameraden«, »Helden«, »Heldensöhne« gedacht.10 Die Verknüpfung des deutsch-französischen Krieges mit den Befreiungskriegen verstärkte die moralische und politische Instrumentalisierung des Todes für das Vaterland. Die Vorbildfunktion der Gefallenen ging als Appell, den Helden in Treue zu Kaiser und Reich in nichts nachzustehen, in die Erziehungskonzepte der nationalpädagogischen Literatur ein.11 Auf deutscher Seite wurde der siegreichen Vergangenheit vorrangig als einer kollektiven Erfahrung gedacht. Es stand nicht so sehr der einzelne Soldat im Mittelpunkt der Erinnerung, sondern der gemeinsame heldenhafte Kampf und der gemeinsam erstrittene Sieg. Hervorgehoben wurden die Geschlossenheit und Einmütigkeit im Regiment und in den Truppenverbänden, ebenso wie die Waffenbrüderschaft zwischen den Truppen des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten. Deren erste Erfolge von Weißenburg und Wörth wurden nun als Bewährungsprobe und als Vorboten der nationalen Einheit gedeutet. Diese Interpretationen waren in der populären Erinnerungsliteratur weit verbreitet12 und fanden ihre augenfällige Bestätigung in den zahlreichen Denkmälern, die von den verschiedenen Regimentern, Truppenteilen oder auch Armeeinheiten an den Orten des Geschehens errichtet wurden.13 Auch wurde in den meisten Fällen auf eine inschriftliche Namensliste der Gefallenen zugunsten einer kollektiven numerischen Nennung, unterteilt in Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, verzichtet. Der bewußt gewählte authentische Bezug auf die durch das Kriegsgeschehen und die Grabstellen der Gefallenen doppelt legitimierten Orte der Erinnerung der ehemaligen Schlachtfelder war als Erinnerungslandschaft schon von weitem erkennbar. Die für Deutschland so wichtigen Schlachtfelder vom August 1870 waren geographisch auf das annektierte Elsaß-Lothringen begrenzt. Diese Annexion wurde von den Zeitgenossen mit den großen Opfern des Krieges gerechtfertigt: »Draußen im Reichslande Elsaß-Lothringen, welches anno 1870/71 der Mutter Germania nach jahrhundert langer Zeit wieder zurückerrungen wurde durch deut217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sche Tapferkeit und Ausdauer, liegen Tausende deutscher Soldaten zur ewigen Ruhe gebettet; eine Feldwacht teurer Toten, zur ernsten Mahnung der lebenden Geschlechter, diese mit teuren unvergeßlichen Opfern errungene herrliche Siegesbeute, den leuchtendsten Juwel der neuen deutschen Kaiserkrone, zu hüten und wahren allezeit.«14 Vor dem Hintergrund des Legitimierungsdrucks der Annexion des frankophonen Metz wurden die lothringischen Schlachtfelder systematisch zu nationalen Wallfahrtsstätten ausgestaltet. Dabei war, auf allerhöchste Weisung hin, die Bewahrung des Schlachtfeldcharakters strikt zu beachten.15 Legionen von Erinnerungszeichen überzogen mit den Jahren aber auch ganz Deutschland, da jede Gemeinde am Glanz des Sieges teilhaben wollte.16 Aufgrund der Entfernung wurden die Gräber der im Westen Gefallenen meist nur einmal im Jahr besucht. Zentrale Stellvertreterfunktion übernahmen daher die Kriegerdenkmäler in der Garnison oder im öffentlichen Raum der Heimatstadt. Üblicherweise erinnerten sie an alle Gefallenen des Feldzuges 1870/71 und dienten als zentraler Veranstaltungsort patriotischer Feierlichkeiten. Repliken dieser Denkmäler wurden anläßlich der großen Kriegsjubiläen sogar auf den Schlachtfeldern errichtet.17 Umgekehrt fanden auch Denkmäler von dem ehemaligen Kriegsschauplatz als »Schlachtfeldsouvenir« den Weg ins Deutsche Reich. Die originalgetreue Nachbildung des Denkmals brachte symbolisch »die Felder der Ehre« in die vertraute Alltagswelt ein und ermöglichte trotz der großen Entfernung zu den Schlachtfeldern eine direkte und intensive Partizipation am nationalen Heldentum.18 Trotz dieser symbolischen Denkmalsvernetzung und der Einbindung der Schlachtfelder in Erinnerungskonzepte und patriotische Feierlichkeiten, auch weit entfernt vom Ort des eigentlichen Geschehens, wurde die emotional intensivste Form der imaginären Verbindung und der moralischen Verpflichtung der Lebenden zu den Toten in besonderer Weise an den Orten des Todes erlebt. Vor allem galt es, die Jugend auf Kaiser und Reich zu verpflichten. Schlachtfeldbesuche sollten daher als »Wanderstudien über Saatfelder, aus denen als herrlichste Frucht das deutsche Reich herausgewachsen ist, ... vornehmlich in dem Sinne wirken, daß jene denkwürdigen Plätze deutschen Waffenruhms fortan namentlich von der Jugend als Zielpunkt für Wallfahrten im vaterländischen Geiste ausersehen würden und im Herzen von Jungdeutschland endlich an Stelle des leider im deutschen Volke noch immer vorhandenen Erbübels des Parteienzwists allgemein wachrufen die Liebe und Treue zu Kaiser und Reich, Fürst und Vaterland, für welche Idole dereinst die stillen Schläfer in Wald und Feld bei Weißenburg und Wörth, bei Spichern und vor Metz ihr Herzblut vergossen haben!«19

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2. Heldentum in der Niederlage Während in Deutschland die siegreichen Helden die Rolle der Wegbereiter der nationalen Einigung übernahmen, mußte sich Frankreich dem Trauma des verlorenen Krieges stellen. Die Folgen der Niederlage lasteten schwer auf der jungen Republik. Zwangsläufig mußte die Erinnerung derart gestaltet werden, daß die Gefahr einer ständigen nationalen Zerreißprobe zumindest gemildert, wenn nicht gar gebannt werden konnte. Gleichermaßen wurde in Frankreich wie in Deutschland die Erinnerung an 1870/71 in Literatur und Denkmälern festgeschrieben. Die Niederlage wurde zum einen in einer nach 1871 entstehenden ›Bewältigungsliteratur‹ in nationalpädagogische Bahnen gelenkt,20 zum anderen in einer ›Bewältigungsikonographie‹ verarbeitet. Beide Formen dieser nationalen Trauerarbeit bedienten sich des - wenn auch vom Sieg ungekrönten - Heldentums der Verteidiger der Nation. Dem ›Helden in der Niederlage‹ wurde das gleiche Recht auf Unsterblichkeit zugesprochen wie dem siegreich Gefallenen. Mit Hilfe dieses Interpretationsmusters sollte die verlorene nationale Ehre wiederhergestellt, die tiefe Demütigung und der territoriale Verlust kompensiert werden.21 Zugleich kam der bedingungslosen Niederlage heilsame Läuterungsfunktion innerhalb der nationalen Geschichte zu. Auf dem Weg zu neuer nationaler Größe mußte diese schmerzvolle Etappe zwangsläufig passiert werden.22 Als Beispiel und Vorbild wurde auf die Geschichte des Kriegsgegners Preußen verwiesen. Die erfolgreiche Bewältigung der Niederlage von Jena in der Zeit der napoleonischen Kriege wurde auf die innere moralische Stärke und Geschlossenheit Preußens zurückgeführt. Für Frankreich sollte der Totenkult als integrative Kraft wirken: »Ebenso wie Preußen nach Jena den ›Tugendbund‹ schuf, eine Vereinigung, die die Deutschen in dem geheimen Streben der Revanche versammelte, hat der Kult der Toten von 1870 die Franzosen zu einer unauflöslichen Solidarität inspiriert. Die Geschichte wiederholt sich manchmal in ihren Ereignissen: auf die Niederlagen läßt sie häufig glorreiche Auferstehungen folgen und die gegensätzlichen Gründe, die die Völker in den Ruin stürzen, richten sie manchmal nach ihrem Sturz wieder auf.«23 So konnte der heldenhafte Kampf der Unterlegenen zu einem moralischen Triumph von bedingungsloser Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft für die Nation stilisiert werden. »Die Soldaten von 1870 waren in erster Linie Opfer des Patriotismus. Jeder von ihnen erscheint wie ein Beispiel von Opferbereitschaft und Hingabe an die Nation, Sie verkörpern diese Idee des Widerstandes, des verzweifelten Ringens, des Kampfes bis zum bitteren Ende gegen den Eindringling. Sie sind gestorben für das einzige Vaterland [sic! ] und nicht für die politischen Launen eines Königs. Herbeigeeilt aus allen Ecken des Landes, hastig bewaffnet, vielleicht unerfahren, aber umso verdienst 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

voller, zogen sie gegen den Feind, Anführer wie Soldaten, und schenkten im voraus ihr Leben, um zu kämpfen und die Ehre der Nation zu retten.«24 Für die militärische Niederlage wurden entsprechend die höchsten Ebenen der Kriegsführung verantwortlich gemacht, so daß der einzelne Soldat vom Vorwurf des Versagens und der Unfähigkeit frei war. Sein Mut, seine bedingungslose Treue und Opferbereitschaft bis zum Tod galten den Überlebenden als Vermächtnis. Sie waren nun in eine moralische Verantwortung eingebunden und standen zwangsläufig in der zukünftig einzulösenden Ehrenschuld, die »schlecht geschlossene Wunde« zu heilen, d.h. Frankreichs nationale Unversehrtheit und Einheit durch die Rückführung der verlorenen Provinzen wiederherzustellen.25 In Anknüpfung an legendäre authentische Kriegsepisoden wurde nationales Heldentum nachvollziehbar, jedoch nicht als betont kollektives Handeln wie auf deutscher Seite, sondern als individuelle Aktion. Daher standen weniger die großen Schlachten als ausgewählte überschaubare Episoden der Kämpfe und Widerstandsaktionen im Mittelpunkt der Erinnerung. Ihre militärischen oder zivilen Akteure waren meist namentlich bekannt und wurden sowohl in der Literatur als auch in den Denkmälern als nationale Helden verewigt. Im Vergleich zu Deutschland ist dabei ein stärkerer Grad an demokratischer Denkmalwürdigkeit festzustellen. Der einzelne Held der Nation tritt stärker in den Vordergrund, indem er in den Inschriften der Denkmäler nicht, wie auf deutscher Seite weit verbreitet, einfach kollektiv-numerisch nach Dienstgraden verzeichnet wurde, sondern meist namentlich in alphabetischer Reihenfolge genannt wurde.26 In Frankreich beschränkten sich die Orte der Erinnerung nicht auf die großen Schlachtfelder, auch wenn dort, bedingt durch die konsequente Praxis der Zusammenlegung der Gefallenen in Sammel- und Massengräbern, gewisse ›Kernplätze‹ des Heldentums entstanden. Die an patriotische Taten erinnernden Zeichen waren jedoch über weite Teile des vom Kriegsgeschehen betroffenen Landes verstreut. Damit war die Erinnerung an 1870/71 fast überall vor Ort präsent. Die ständige Bezugnahme auf ausschnitthafte, lokale oder regionale Ereignisse in der patriotischen LiteraXur und an den entsprechenden Denkmälern ließ so einen Zirkelschluß des Erinnerungskultes zu, da sich Ikonographie und Literatur wechselseitig illustrierten und tiefer in das kollektive Gedächtnis einprägten.27 Die frühen Erinnerungszeichen, die meist Grabmalfunktion übernahmen, spendeten in ihrer vertrauten Sepulkralikonographie zunächst Trost. Gleichzeitig konnten jedoch die religiösen Symbole hierbei national gedeutet werden. Der Märtyrertod der Helden wurde in die Nähe des Opfertodes Christi gerückt, die christliche Hoffnung auf Auferstehung wurde als Hoffnung gedeutet, daß Elsaß-Lothringen eines Tages wieder

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französisch würde.28 Zeitlich nur leicht versetzt zur Trauerikonographie zeichneten sich Ansätze einer ›Sublimierungsikonographie‹ ab, die den einfachen, namenlosen Soldaten als Synonym für den nationalen Helden in den Vordergrund rückte.29 Mit Merciés »Gloria Victis« (1874) begann eine Transformation der bis dahin überwiegend schlichten religiösen Formensprache. Sie ging allmählich über in eine säkularisierte Ikonographie, in der die Apotheose der Republik sehr plastisch an die Stelle der Heilsversprechungen der Kirche trat.30 Sowohl in der Literatur als auch in den Denkmälern zeichnete sich bald eine »Transfiguration der Niederlage« ab,31 eine Verlagerung des Erinnerungsschwerpunktes vom kollektiven zum individuellen Heldentum. Damit konnten nun auch die unbekannt gefallenen Soldaten in den ›Kult der toten Kriegen integriert werden. Ihren Gräbern kam dabei eine besondere Bedeutung zu. In der geheimnisvollen Leerstelle ihres unbekannten Namens implizierten sie für den Besucher eine gewisse psychologische Unsicherheit. Denn stand man vielleicht doch nicht am Grab eines Bekannten, Freundes oder Verwandten, so konnte man sich einer Sache gewiß sein: »Das ist das wahre Grab des Soldaten, des armen ›moblot‹ [familiäre Bezeichnung für die Angehörigen der »Gardes mobiles«, Anm. d. Hg.], der fern von seiner Heimat getötet wurde und unbekannt, anonym, so daß er nur die eine Tatsache bestätigt, daß es ein Franzose ist, der hier für sein Land gefallen ist.«32 Eine Sonderform nahm diese Heldenverehrung im annektierten Gebiet an. Alteingesessene Familien ›adoptierten‹ hier Grabstellen unbekannter französischer Soldaten.33 In einer intensiven Grabpflege, wie bei engen Familienangehörigen üblich, wurde so die tiefe Verbundenheit zur verlorenen nationalen Heimat ausgedrückt. Die Gefallenen galten damit auch als Garanten der Hoffnung und als Wächter bis zur Rückkehr der »verlorenen Provinzen«.34 Ausgehend vom namentlich bekannten, damit identifizierbaren Helden bis zu den in nationaler Pflichterfüllung und Treue unbekannt Gefallenen konnte sich das nationale Ideal eines integrativen anonymen Heldentums ganz im Sinne der republikanischen Tradition verfestigen. Denn potentiell konnte nun jeder Einzelne, unabhängig von Geschlecht und sozialer Stellung, unabhängig davon, ob sein patriotisches Handeln einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte, den nationalen Helden angehören. Heldentum wurde zur Sache eines jeden Franzosen35 und nicht, wie auf deutscher Seite, ausschließlich der männlich-militärischen Welt. Diesem »heroischen Pantheon« gehörte eine schier unübersehbare Zahl unterschiedlichster Nationalhelden und Nationalheldinnen an. Mit ihrem Handeln hatten sie die Nation gestärkt und waren im nationalen Gedächtnis unsterblich geworden.36 Ihre quantitativ nicht genau bestimmbare Anzahl ließ in einem 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

induktiven Schritt den qualitativen Sprung zur ›ewigen‹ und ›guten‹ Nation zu. Das imaginäre Defilee nationaler Helden der französischen Geschichte konnte daher über die Niederlage von 1870 hinweg ungebrochen fortgesetzt werden.37 So wurde das vom Sieg ungekrönte Heldentum als ein weiteres Glied in die Kette der Symbole der moralischen Unbesiegbarkeit und Unsterblichkeit der Nation eingebunden. Im ›Fegefeuer‹ der Niederlage war nationale Größe sichtbar und erfahrbar geworden - wie am Nationaldenkmal in Mars-la-Tour in Bronze gegossen: »Aufrecht in tiefer Trauer, aufrecht für den mutigen Kampf und für den Sieg, steht die französische Mutter, die gesegnete Frau, die ihre Leiden vergißt, um nur noch an die Ihren zu denken, an die vielgeliebten, die sie verloren hat, als jene noch in ihrem Frühling des Lebens standen, wie auch an die, die, jetzt noch klein, von ihr nun aufgezogen werden müssen. Das ist Frankreich, immer Königin und Herrscherin, das ist das geliebte Vaterland, nobel und gefaßt, das ist die sanfte Trösterin der Weinenden, das ist die große und heilige Märtyrerin, die bereits von dem Ruhm und der Apotheose der Ihren träumt.«38 3. Die Aktualisierung des ›Kultes der toten Krieger‹ Das Bemühen um historische Authentizität. In den Erinnerungsfeierlichkeiten sollte der Heldenmythos immer wieder neu mit der Gegenwart verknüpft werden, um so die nationale Integration periodisch zu bestätigen. Drei Bezugspunkte bestimmten diese Aktualisierungsabsicht: die Wahl des Ortes, des Zeitpunktes und die Präsenz von ehemaligen Kriegsteilnehmern. Die Veteranen ermöglichten einerseits in ihren Erlebnisberichten eine indirekte Teilnahme der Zuhörer am Kriegsgeschehen, andererseits verbanden sie in ihrer Person die Welt der Gefallenen mit derjenigen der Lebenden. Durch das optimale Zusammenspiel dieser drei Erinnerungskomponenten sollten die vergangenen Ereignisse von 1870/71 möglichst plastisch vergegenwärtigt werden. Der Versuch, die ›historische Wirklichkeit‹ nachzubilden, war jedoch stark selektiv. Hierin zeigt sich deutlich die bewußte Konstruktion und Instrumentalisierung der Erinnerung, die flexibel auf äußere Zwänge reagierte. Die Orte des Geschehens, meist durch Erinnerungszeichen markiert, bargen durch ihre Nähe zu den Toten die höchste emotionale Dichte. Befanden sie sich in einer Randlage zum nationalen Zentrum, wie z.B. die lothringischen Schlachtfelder für Frankreich, wurden in der Hauptstadt zusätzliche Orte der Erinnerung geschaffen.39 Die ›heiligen‹ Stätten wurden in einen immerwährenden Festtagskalender mit besonderer Betonung der lokalen und regionalen Gedenktage integriert, um die Erinnerung an die Hochzeiten nationalen Handelns wachzuhalten.40 Auf lokaler und

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regionaler Ebene wurde ein in sich geschlossener Erinnerungsrahmen geschaffen, der sich deutlich vom späteren französischen Nationalfeiertag unterschied. Die Schlachtengedenktage standen in einem engen lokalen Bezug entweder zur Örtlichkeit oder zu den handelnden Personen, so daß die Ausrichtung auf die Nation aus einem für die Bevölkerung vertrauten, überschaubaren Umfeld erfolgen konnte. Gleichzeitig schuf der zeitlose Gefallenenkult ein dauerhaftes, übergeordnetes nationales Identifikationsangebot. Auch in Deutschland übernahmen Schlachtengedenktage einerseits und Reichsgründungstag und Kaisergeburtstag in ihrer Anbindung an das Herrscherhaus andererseits unterschiedliche Funktionen nationaler Integration. Dies wird besonders dort deutlich, wo in Rücksichtnahme auf den spannungsgeladenen Grenzraum, wie in Metz, der Sedantag zunächst offiziell nicht gefeiert wurde.41 Kriegergräber auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Kriegsgegners nahmen im Erinnerungskult der beiden Länder eine Sonderstellung ein. Dieser Toten wurde üblicherweise Anfang November gedacht.42 Die enge, symbolisch äußerst bedeutsame Kombination von historischem Ort und Datum wurde somit aufgehoben, da der Gefallenenkult auf ein scheinbar neutrales Totengedenken mit religiöser Formensprache reduziert und entpolitisiert werden sollte. Doch selbst noch an den sehr einfach gehaltenen Inschriften der Kriegergräber war die ehrenvolle Anerkennung des Todes für das Vaterland präsent.43 Die nationale Interpretation trat zugunsten der religiösen zurück, die doppelte Lesbarkeit blieb aber immer vorhanden. Der Ritus der Erinnerung. Grabbesuche der ersten Jahre nach dem Kriege trugen überwiegend privaten Charakter. Doch mit der Gründung von Organisationen zur Pflege und zum Unterhalt der Kriegergräber, Grabdenkmäler und der Erinnerungszeichen, die über den Gestaltungsrahmen einfacher Grabmäler hinausgingen, verfestigte sich allmählich ein offizieller Ritus der Erinnerung.44 Die Haupterinnerungsfeierlichkeiten auf den Schlachtfeldern zogen dabei Jahr für Jahr Tausende von Besuchern an, abgesehen von den Schlachtfeldtouristen, die im Laufe des Jahres die nationalen Stätten besuchten.45 Auf deutscher Seite waren zunächst die militärischen Kreise die treibende Kraft bei den Initiativen zur Errichtung von Kriegerdenkmälern. Besonders aktiv waren die Veteranen, die sich in nächster Nähe der gefallenen »Heldenbrüder« wußten. Kollektive Anerkennung und Ehre des »Todes für das Vaterland« verdrängten individuelle Betroffenheit. Der Tod wurde entprivatisiert. Trauer und Schmerz sollten durch nationale Sinngebung kompensiert werden.46 223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

In Frankreich war es hingegen sehr viel schwerer, die Kriegserinnerung für die nationale Integration zu instrumentalisieren. Es mußten die Niederlage des Kaiserreiches und die enttäuschte Hoffnung, die in die »Defense Nationale« gesetzt worden war, in ein akzeptables nationales Trauerangebot umgesetzt werden. Diese Aufgabe wurde zunächst von nicht-militärischen Kreisen übernommen.47 In unzähligen privaten Initiativen wurde Trauer und Schmerz durch Rückzug auf den vertrauten religiös-kirchlichen Totenkult Ausdruck gegeben. Damit endete die Annahme der Niederlage und ihre Kompensierung zunächst am Horizont der eigenen überschaubaren lokalen oder regionalen Betroffenheit. Die nationale Referenz schwang jedoch immer unterschwellig mit. Mit zunehmendem zeitlichen und damit auch größerem emotionalen Abstand zu den Ereignissen, wie auch dank der erfolgreichen Umsetzung des »Heldentums in der Niederlage«, fügte sich diese ausschnitthaft begrenzte Kriegserinnerung in einen nun stärker in den Vordergrund tretenden nationalen Rahmen ein. Unterstützt wurde diese Tendenz durch die Tätigkeit der Jahrzehnte nach den Kriegsereignissen im Umfeld des Boulangismus gegründeten nationalen Erinnerungsorganisationen und Veteranenverbände.48 Ausgestaltet wurde der französische Erinnerungsritus, der in vielen Fällen von der katholischen Geistlichkeit initiiert war, mit Hilfe des vertrauten kirchlichen Totenkultes. Er orientierte sich an den Totenmessen, die noch während des Krieges oder anläßlich von Denkmalseinweihungen, Exhumierungen und Überführungen von Gebeinen in Sammel- und Massengräber für die Gefallenen gelesen wurden.49 Ihr abgeschlossen-singulärer Charakter wurde jedoch meist zugunsten jährlicher Gedenkmessen aufgehoben, die den Erinnerungskalender konstituierten.50 In die Erinnerungsmesse wurden Elemente der Totenmesse und des Begräbnisrituals übernommen. Die Hoffnung auf Auferstehung implizierte immer eine nationale Interpretation der Rückkehr der verlorenen Provinzen: »Stadt Metz, weine und verzweifele nicht; Du bist nicht für Frankreich gestorben, denn wie eines Tages Christus ruhmreich aus seinem Grab aufersteht, um unaufhörlich zu triumphieren, wirst auch Du irgendwann wieder für das Vaterland auferstehen. Befreit von Deinen Ketten und Deinen Feinden wirst Du dann, in der Erwartung des ewigen Hallelujas beim Sieger Christus, auf dieser Erde zusammen mit allen Deinen französischen Brüdern das Halleluja der Auferstehung für Frankreich singen.«51 Als symbolischer, emotional berührender Ersatz für die Särge der bereits bestatteten Gefallenen wurde bei den Erinnerungsmessen ein Katafalk in der schwarz ausstaffierten Kirche aufgestellt. An den Hauptorten der Erinnerung, wie Mars-la-Tour, zogen die Teilnehmer im Anschluß an die Gedenkmesse in einer patriotischen Prozession zum Denkmal. Der Trauer224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

zug wurde angeführt von der Geistlichkeit und dem Militär, ihnen folgten Vertreter der Verwaltung, Schulklassen und die Bevölkerung, nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen und Kinder. Am Denkmal nahmen die verschiedenen Gruppen die ihnen zugewiesenen Plätze ein. In unmittelbarer Nähe des Denkmals, das in den meisten Fällen ein Grabmal war, nahmen die Veteranen in dem durch die Toten sakralisierten Raum Aufstellung.52 Sie standen damit als Bindeglied zwischen den Toten und den Lebenden. Ihre suggestive Kraft sollte auf die in der Nähe aufgestellten Schulklassen wirken, deren Präsenz verdeutlichte, daß auf der jüngeren Generation alle Hoffnungen ruhten. Es folgten Predigten der Geistlichkeit, Ansprachen der Verwaltung und eines Ehrengastes sowie ein Segen für Kränze und Denkmal. Zum Abschluß erscholl die Trompetenfanfare. Selbst in sehr republikanisch gesinnten Gemeinden wurden nur selten die nationalen Helden ohne kirchlichen Beistand geehrt.53 Nationale Totenehrung und religiöser Totenkult schienen hier noch in Inhalt und äußerer Form untrennbar ineinander verwoben. Im Anschluß an diesen über die Jahre unveränderten offiziellen Teil der »patriotischen Pilgerfahrten« waren die Ehrengäste zum Ehrenwein und Festbankett geladen.54 Die übrigen Teilnehmer verbrachten den Nachmittag individuell in familiärer Atmosphäre mit Picknick und Schlachtfeldbesuch. Die gelockerte, volksfestartige Stimmung nach der Erinnungsfeier war für die deutsche Seite in diesem Ausmaß undenkbar und Zielscheibe scharfer Kritik. Die Erinnerung an die nationalen Helden sollte getragen, würdevoll und ernst sein. Das Militär trat als Träger des Erinnerungskultes auf und beeinflußte entscheidend den Gestaltungsrahmen selbst jener Feiern, die ursprünglich von ziviler Seite initiiert worden waren. Der ›Kult der toten Kriegen galt nicht nur den Helden, sondern auch der Inszenierung der militärisch-männlichen Welt. Als Wegbereiter der Reichsgründung bestätigten sich die militärischen Kreise immer wieder selbst und sahen sich als Garanten der Nation. Die Teilnahme von Vertretern der zivilen Verwaltung war dagegen nicht zwingend notwendig. In die Konzeption einer »Allgemeinen Jahresgedenkfeier« in Gravelotte am 15. August wurden daher auch Elemente eines Feldgottesdienstes übernommen. Dem Absingen von Chorälen und Chorvorträgen patriotischen Liedgutes folgte als Höhepunkt die Gedenkrede, die - üblicherweise von einem Militärgeistlichen gehalten - Predigtcharakter trug. Danach wurden die Nationalhymne, weitere Choräle und patriotische Lieder gesungen. Das anschließende Militärkonzert endete mit dem Zapfenstreich.55 Der religiös-patriotische Charakter derartiger Feierlichkeiten auf dem Schlachtfeld, dem ›Altar des Vaterlandess verstärkte die Verpflichtung der Anwesenden auf die Nation:

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»Mit dem Gedenken ist es heute nicht genug gethan, auch ernste Entschlüsse wollen wir mitnehmen von dieser geweihten Stätte. Wir geloben es im tiefsten Herzensgrund, nicht auszuruhen auf den Lorbeeren, die unser Heer erworben, nicht zu schwelgen in nationaler Selbstbespiegelung, sondern mit stiller Demuth, mit deutschem Ernst, mit hingebendem Opfersinn zu arbeiten an unseren großen nationalen Aufgaben, damit die Errungenschaften jener glorreichen Zeit uns nicht verloren gehen, sondern uns und den künftigen Generationen zu immer neuem Segen gereichen.«56 Entsprachen die frühen Grab- und Schlachtfeldbesuche deutscher Kriegsveteranen einem eher spontanen und individuellem Trauer- und Erinnerungsbedürfnis, so wurde dies schnell von Organisationen aufgegriffen und in ein übergeordnetes nationales ›Wunschkonzept‹ eingebunden und instrumentalisiert. Diese bewußte Steuerung durch das Militär trat dort klar erkennbar in den Vordergrund, wo ein nachlassendes Interesse der Öffentlichkeit verspürt wurde. Dies begann sich nach den großen Jubiläumsfeiern von 1895 abzuzeichnen. Hinzu kam eine schwächer werdende Integrationskraft der nun betagten Veteranen. Eine konzeptionelle Straffung der deutschen Erinnerungsfeierlichkeiten, umgesetzt in einen rigideren militärischen Rahmen sowie die deutlicher werdende inhaltliche Stoßrichtung auf innen- wie außenpolitische Feinde, sollte Abhilfe schaffen und die nationale Geschlossenheit stärken.57

4. Religion und Nation im ›Kult der toten Kriegen Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich war der Heldenmythos der toten Krieger ein wichtiger Kristallisationspunkt der nationalen Identitätsstiftung. Die Ableitung und Umsetzung des ›patriotischen Heldentums‹ der Gefallenen läßt entsprechend die Besonderheiten des jeweiligen Nationskonzeptes deutlich zutage treten. So zeigt sich etwa in der unterschiedlichen Betonung von Individualität und Kollektivität die Differenz zwischen dem republikanischen französischen und dem organischen deutschen Nationsverständnis. Die Instrumentalisierung des ›Kults der toten Kriegen zielte allerdings in beiden Ländern gleichermaßen auf die Hervorhebung der nationalen Stärke und Geschlossenheit. Die Nation war offensichtlich auf den Opfer tod, auf den Tod für das Vaterland angewiesen, der selbst den Dualismus von Sieg und Niederlage überdeckte, da so das altruistische Bedürfnis der Nächstenliebe und die religiöse Jenseitsbezogenheit von der Nation belegt werden konnte. In der suggestiven Kraft der Vorbildfunktion der Gefallenen und der damit verbundenen Verpflichtung der Lebenden sollte der überzeitliche Anspruch der Nation und eine langfristige Integration gesichert werden. 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die Formensprache der Kriegerdenkmäler bediente sich in beiden Ländern eines relativ übersichtlichen und weitgehend ähnlichen Symbolrepertoires. Unterschiede zwischen Siegern und Besiegten verwischten sich dabei ebenso durch die gemeinsame christliche Sepulkralikonographie wie durch die pathetisch-heroische Formensprache.58 Im Gegensatz hierzu spiegeln die Erinnerungsriten sehr viel deutlicher lokale, regionale und nationale Unterschiede wider. Die Umsetzung des Heldenmythos in den Erinnerungsriten lehnte sich dabei eng an vertraute religiöse Formen des Totengedenkens bzw. des Feldgottesdienstes an. Die sich hieraus ergebende emotionale Vertrautheit trug zur problemlosen Verschränkung von Religion und Nation bei. Ihre Beziehung stabilisierte sich nach einer mehr religiös akzentuierten Anfangsphase in einem ausgewogeneren Verhältnis, um sich dann zugunsten nationaler Inhalte und einer eindeutig nationalen Rezeption aufzulösen. Trotz der Institutionalisierung des Nationalfeiertags verlor jedoch auch der ›Kult der toten Kriegen nicht an Bedeutung, da er offensichtlich eine andere Ebene der nationalen Identität als der Nationalfeiertag erlebbar machte. Die ständige, wenn auch später auf die formale Gestaltung reduzierte Präsenz der Religion im nationalen Erinnerungskult zeigt, wie sehr die Konzeption der ›zeitlosen, ewigen‹ Nation der Religion bedurfte. Offenbar genügte in den Grenzsituationen des menschlichen Lebens die Nation nicht als alleiniges Heilsversprechen. Gerade die Verknüpfung mit vertrauten religiösen Strukturen, die eine gewisse emotionale Geborgenheit ermöglichen, ließen den patriotischen ›Kult der toten Kriegen selbst die einschneidende Erfahrung des Ersten Weltkrieges überdauern.

Anmerkungen 1 Der Aufsatz basiert auf Studien der Autorin im Rahmen ihrer Doktorarbeit über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der deutschen und französischen Kriegerdenkmäler auf den ehemaligen Schlachtfeldern des Krieges von 1870/71. 2 Neben den weit verbreiteten speziellen Schlachtfeldführern solltenÜberblicksdarstellungen zur Topographie und Ikonographie der Denkmäler als »ein weiteres, allgemeines und unvergängliches Denkmal, als Viatikum für die Mit- und Nachwelt« verstanden werden (F. Abshoff, Deutschlands Ruhm und Stolz. Unsere hervorragendsten vaterländischen Denkmäler in Wort und Bild, Berlin 1902, Vorwort; für Frankreich siehe C. de Lacroix, Les morts pour la patrie. Tombes militaires et monuments élevés à la mémoire des soldats tués pendant la guerre, Paris 1891, S. 8 ) . Die Errichtung von Denkmälern in Erinnerung an die Niederlage wurde auch von Zeitgenossen als französische Besonderheit wahrgenommen (E. Poiré, Les monuments nationaux en Allemagne, Paris 1908, S. IV). 3 Grundlegend: R. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätstiftungen der Überlebenden, in: Ο. Marquard u. K. Stierle (Hg.), Identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8 ) ,

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S. 255-275, hier S. 256ff. Vgl. auch A. Maas, Politische Ikonographie im deutsch-französischen Spannungsfeld. Die Kriegerdenkmäler von 1870/71 auf den Schlachtfeldern um Metz, in: R. Koselleck u. M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 195-222, hier S. 195. 4 Koselleck, Kriegerdenkmale, S. 263. 5 Zu den nationalen Ausführungen des Artikels 16 des Friedensvertrages, der die Vertragspartner verpflichtete, die Gräber der auf ihrem Territorium bestatteten Soldaten zu respektieren und zu unterhalten, für Frankreich: Journal Officiel, Gesetz v. 4. April 1873 (15.4.1873), für Elsaß-Lothringen: Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen 7, 2.1.1872. Vgl. auch M. Lurz, Architektur für die Ewigkeit und dauerndes Ruherecht. Überlegungen zu Gestalt und Aussage von Soldatenfriedhöfen, in: E. Mai u. G. Schmirber (Hg.), Denkmal-Zeichen-Monument. Skulptur im öffentlichen Raum heute, München 1989, S. 81-91, hier S. 89f. 6 Zur Ausbildung eines Erinnerungskultes am Beispiel der lothringischen Schlachtfelder siehe A. Maas, Kriegerdenkmäler und Gedenkfeiern um Metz. Formen und Funktionen kollektiver Erinnerung in einer Grenzregion (1870/71-1918), in: R. Hudemann u. R. Wittenbrock (Hg.), Stadtentwicklung im deutsch französisch-luxemburgischen Grenzraum, Saarbrücken 1991, S. 89-118, hier S. 91 ff. 7 Einweihungsrede des Marquis de Chambon am französischen Nationaldenkmal (2.11. 1875), zit. nach E. Badel, Mars-la-Touretson monument national, Mars-la-Tour 1897, S. 52 [Üb.d.Hg.]. In der Argumentation vergleichbar ist die Forderung der Metzer Zeitung v. 17.8.1875 nach Institutionalisierung des Erinnerungskultes: »... alljährlich an einem bestimmten Tag gemeinschaftlich auf die Schlachtfelder zu wandern und im Rückblick auf die Großtaten des Geschlechts von 1870 auf dem durch dessen Blut geweihten Boden das Gefühl wach zu rufen und zu kräftigen, in der Stunde der Gefahr es ihm gleichzutun an Vaterlandsliebe und Heldenmut.« 8 Maas, Kriegerdenkmäler, S. 98f., 104f. 9 So z.B. Wupperthaler Traktat-Gesellschaft (Hg.), Die Liebe ist stärker als der Tod. Zwei Briefe vom Schlachtfeld von Gravelotte, Barmen 1871. 10 Zu den Inschriften siehe Maas, Ikonographie, S. 216f., sowie Koselleck, Kriegerdenkmale, S. 262. An den Kriegerdenkmälern bei Weißenburg und Wörth findet sich häutiger als um Metz die vollständige Übernahme der Inschrift des Kreuzbergdenkmals, so z. B. am Denkmal des Infanterieregimentes Nr. 88 und des Pionierbataillons Nr. 5. 11 Siehe R. Wittenbrock u.a. (Hg.), Schule und Identitätsbildung in der Region SaarLor-Lux. Enseignement scolaire et formation d'identités collectives dans l'espace Sar-LorLux, Saarbrücken 1994. Zeitgenössisch: M. Dittrich, Deutsche Heldengräber im Reichsland. Wanderstudien über die Schlachtfelder von 1870 in Elsaß-Lothringen, Dresden 1895; H. Friedrich, Eine Fahrt nach Gravelotte, Berlin 1914 (Buchschatz für die deutsche Jugend 18); F. Hackmann, Eine Schülerferienreise nach den Schlachtfeldern Elsaß-Lothringens aus dem Kriege 1870-1871, Halle 1914. 12 So auch Dittrich, Heldengräber, S. 55. 13 Von den zahlreichen Regimentsdenkmälern auf den Schlachtfeldern um Metz und bei Weißenburg/Wörth seien stellvertretend erwähnt: das Erinnerungszeichen der Brigade Bredow bei Vionville, deren Todesritt in der patriotischen Dichtung von Ferdinand Freiligrath verewigt wurde, die Denkmäler des 1. Armeekorps/Noisseville, der 5. Division/Gorze, der 6. Infanteriebrigade/Gravelotte, der 18. Infanteriedivison/Veméville, und die beiden sehr aufwendigen Denkmäler der 3. Armee (II. bayerische, V. und VI. preuß. Armeekorps) bei Weißenburg und bei Wörth. 14 Ebd. 15 Vgl. Maas, Ikonographie, S. 198f. Zu den sich abzeichnenden unterschiedlichen inhaltlichen und ikonographischen Konzepten der Schlachtfelder um Metz und um Weißen-

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burg/Wörth siehe Dies., Monumenti di guerra di una regione di frontiera. I campi di battaglia intorno a Metz e a Weißenburg/Wörth 1870/71-1920, in: A. Ava u. E. Kolb (Hg.), Alsaria/ Lorena-Trento/Trieste, Bologna 1995, S. 323-343 (Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento, 41) (im Druck). 16 Einen Überblick vermittelt Abshoff, Ruhm und Stolz. 17 So errichtete 1896 das Garde-Grenadier-Regiment Nr. 3 auf dem Kasernhof in Berlin das aufwendige Denkmal eines Fahnenträgers, dessen Replik vier Jahre später auf dem Schlachtfeld von St. Privat eingeweiht wurde. Siehe hierzu Maas, Ikonographie, S. 215; Abb. des Berliner Denkmals bei M. Weinland, Kriegerdenkmäler in Berlin (1813/15 bis 1814/18), in: P. Bloch u.a. (Hg.), Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786-1914, Berlin 1990, S. 281-291, hier S. 290; vgl. auch R. Westheider, Krieg, Einheit und Denkmal. Beispiele politischer Symbolik in Minden-Ravensberg, in: J . Meynert u.a. (Hg.), Unter Pickelhaube und Zylinder. Das östliche Westfalen im Zeitalter des Wilhelminismus 1888 bis 1914, Bielefeld 1991, S. 487-502, hier S. 488f. 18 So im Falle des Kriegerdenkmals des Infanterieregiments Nr. 13, einer WestphaliaDarstellung, bei Colombey/Metz, siehe Maas, Ikonographie, S. 206. 19 Zit. nach Dittrich, Heldengräber, Vorwort 20 Vgl. M. Christadler, Zur nationalpädagogischen Funktion kollektiver Mythen. Die französische ›Bewältigungsliteratur‹ nach 1871, in: J . Link u. W. Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 199-211, hier S. 200ff.; siehe auch F. Roth, La guerre de 1870, Paris 1990, S. 689f. 21 Bereits schon 1982 grundlegend zur pädagogischen Umsetzung des Heldenmythos in der Dritten Republik: P. Gerbod, L'éthique héroïque en France (1870-1914), in: Revue Historique 544, 106, 1982, S. 409-429, hier S. 410ff. Wer den Heldenmythos in Frage stellte, wie Zola in »La débàcle«, wurde angegriffen, siehe Roth, Guerre, S.690f. 22 Christadler, Bewältigungsliteratur, S. 201. 23 Lacroix, Morts, S. 29 [Üb.d.Hg.]. Zum zwiespältigen Deutschlandbild in Frankreich nach 1870/71 siehe Roth, Guerre, S. 609ff. 24 Lacroix, Morts, S. 8 [Üb.d.Hg.]. 25 So u.a. die revanchistischen Ausführungen von G. Ducrocq, La blessure mal fermée. Notes d'un voyageur en Alsace-Lorrainc, Paris 1913, insb. S. 11f. und S. 53f. 26 Zur Demokratisierung des Totengedenkens siehe Koselleck, Kriegerdenkmale, S. 259. 27 So Lacroix, Morts, S. 11, 16ff. 28 Dies galt im Gegensatz zu der deutlichen politischen Aussage der französischen Denkmäler an der deutsch-französischen Grenze besonders für die Denkmäler der Annektierten, siehe Maas, Ikonographie, S. 211ff., und Dies., Kriegerdenkmäler, S. 92f. Sehr differenziert für Frankreich J. Hargrove, Souviens-toi, in: Monuments Historiques, L'architecture et la mort 123, 1982/83, S. 59-65, hier S. 60f., und Dies., Les monuments au tribut de la gloire, in: P.Viallaneix u. J . Ehrard (Hg.), La bataille, l'armée et la gloire 1745-1871. Actes du colloque international de Clermont-Ferrand, Clermont-Ferrand 1985, S. 561-574, hier S. 563f. 29 Vgl. Dies., Souviens-toi, S. 60 (mit Hinweis auf »Le Mobile« von A. Milkt 1872), und Dies., Monuments, S. 562. 30 Ebd., S. 563f. Die Parallelität beider Ausdrucksformen findet sich bereits in den zeitgenössischen Beschreibungen von Lacroix, Morts, S. 16ff. Abgesehen von einem weit verbreiteten Desinteresse der historischen Forschung an den Kriegerdenkmälern von 1870/ 71 in Frankreich, wird meist lediglich im Kontext der Forschungen über die Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkrieges sehr verallgemeinernd auf einen ikonographischen Wandel in der Zeit der Boulanger-Krise der achtziger Jahre hingewiesen. Die Forschung übersieht, daß es sich

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hierbei um die Verstärkung und Weiterentwicklung einer bereits wirksamen Tendenz handelte. Außerdem wird die Zahl der Denkmäler, die sich auf die Ereignisse von 1870/71 bezogen, meist unterschätzt. Tatsächlich waren bis 1880 von privater und kommunaler Seite 4 3 7 Denkmäler sowie von der französischen Regierung 25 Ossarien errichtet worden (Lacroix, Morts). So u.a. A. Prost, Les monuments aux morts. Culte républicain? Culte civique? Culte patriotique?, in: P. Nora ( H g . ) , Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 195-225, hier S. 196; auch M. Ragon, L'espace de la mort. Essai sur l'architecture, la décoration et l'urbanisme funéraires, Paris 1981, S. 125. Anders dagegen die Studien von J. Hargrove, Souviens-toi, und Dies., Les monuments, sowie das Kapitel ›commémoration et souvenir‹ bei Roth, Guerre, S. 680ff. 31 Ebd., S. 685-689. 32 Zit. nach Lacroix, Morts, S. 11 [ Ü b . d . H g . ] . Diese frühe Rezeption der Stellvertreterfunktion des unbekannten Soldaten findet nach dem ersten Weltkrieg ihren Höhe- und Endpunkt in der Schaffung des Grabmals des Unbekannten Soldaten (siehe hierzu V. Ackermann, Ceux qui sont pieusement morts pour la Patrie... Die Identität des Unbekannten Soldaten, in: Koselleck u. Jeismann, Totenkult, S. 281-314). 33 Vgl. B. Poirier, Le culte de souvenir en Lorraine ( 1 8 7 0 - 1 9 1 3 ) , in: Revue de Paris 5, 1919, S. 622-640, hier S. 625f. 34 »... diese elsässische Erde wird von unseren Toten bewacht; über ihren Gräbern sind zwei Worte eingraviert: ›Adhuc loquuntur‹ [sic] (sie reden noch); und wie ein Franzose sagte, der sein Land liebt: ›Sie reden von Frankreich! Laßt uns ihre Stimmen hören!‹.« Auszug aus La Charente v. 28.12.1883, zit. bei C.3 Staehling, Histoire contemporaine de Strasbourg et d'Alsacc (1830-1852), Paris 1884, S. 410f. 35 Siehe Gerbod, L'éthique héroïque, S. 422f. 36 Ebd., S. 418f. 37 Ebd., S. 420. 38 Badel, Mars-Ia-Tour, S. 64 [ Ü b . d . H g ] . 39 Ebd., S. 54. Vor der Jeanne d'Arc- und vor der Straßburg-Statue auf der Place de la Concorde in Paris versammelten sich zu bestimmten Erinnerungstagen die in der französischen Hauptstadt heimisch gewordenen Elsässer und Lothringer. 40 Von welcher Bedeutung die Identifikation mit historischen Daten war, zeigt die Schwierigkeit der deutschen Seite, einen Hauptgedenktag der Augustschlachten festzulegen. Wurde der 15. August willkürlich gewählt, als Tag zwischen den Schlachten, so waren doch die einzelnen Schlachtengedenktage des 14., 16. und 18. August weiterhin bei Denkmalseinweihungen und Erinnerungsfeiern ausschlaggebend (Maas, Kriegerdenkmäler, S. 95f.; vgl. auch die Jahresberichte der »Vereinigung zur Schmückung und fortdauernden Erhaltung der Kriegsgräber und Denkmäler bei Metz«, Metz 1891). Im lothringischen Grenzgebiet war die Erinnerung der Besiegten kontinuierlich über das Jahr verteilt und fest mit dem religiösen Kalender der Gemeinden verknüpft. Am Tag nach dem Patroziniumsfest wurde für die französischen Soldaten eine Messe gelesen (Poirier, Culte, S. 6 2 7 ) . 41 Maas, Kriegerdenkmäler, S. 100f. 42 Die Kriegergräber auf den Schlachtfeldern wurden für die Augustfeierlichkeiten geschmückt, es waren hier aber Auflagen bezüglich des Verbotes der Anbringung von Hoheitszeichen zu beachten. Zur Schmückung der deutschen Gräber zu Allerheiligen in Frankreich siehe u.a. Jahresberichte der Vereinigung (Anm. 4 0 ) , zum französischen Totengedenken am 1. November in Deutschland siehe Lacroix, Morts, S. 13f. Aus innen- wie außenpolitischen Gründen mußte auf massiven Druck aus Paris die für den 16. August 1875 geplante Einweihung des Nationaldenkmals in Mars-Ia-Tour auf den 2. November verschoben werden, siehe: Archives Départementales de Meurthe et Moselle, Nancy; 1M670: Korrepondenz zwischen Innenministerium und Präfekt, 1875.

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43 Die Erlaubnis zur Errichtung derartiger Erinnerungszeichen wurde nur mit der Auflage einer eindeutig religiösen Gestaltung erteilt. Eine nationale Lesart lag dennoch besonders bei den Erinnerungszeichen auf den Schlachtfeldern, die nun zum Staatsgebiet des ehemaligen Kriegsgegners gehörten, in den erlaubten lateinischen Inschriften nahe, so z.B. mit dem Satz »Dulce et decorum est pro patria mori« am Denkmal auf dem Friedhof der 25. großherzogl. hess. Infanteriedivision bei St. Privat; »Militibus Gallis hic interemptis die 6 augusti 1870 defuncti adhuc loquuntur, erexit patria maerens anno Domini 1873; Melius est nos mori in bello quam videre mala gentis nostrae et sanetorum« am französischen Denkmal fü3r die Kürassiere von Reichshofen bei Morsbronn. 44 Maas, Kriegerdenkmäler, S. 91ff. 45 Zahlenangaben ebd. 4 6 Zur persönlichen Trauer siehe auch Dies., Ikonographie, S. 217. Am Denkmal des Infanterieregimentes Nr. 72 bei Gorze/Metz senkt ein trauernder Veteran die Regimentsfahnc über die Namensliste der Gefallenen. Die pathetische Ehrerbietung läßt die Trauer zurücktreten, Abb. in: ebd., S. 202. 4 7 Die Initiative für die Grabdenkmäler französischer Gefallener in Deutschland ging jedoch von militärischen Kreisen aus. Im scheinbar entpolitisierten Raum religiöser Erinnerungszeichen und außerhalb der innerfranzösischen Diskussion verband das gemeinsame Schicksal der Kriegsgefangenschaft. Vgl. Lacroix, Morts, S. 13f. 48 Wie z.B. der »Souvenir Français« (1887) und die »Association des combattants de Gravelotte et de l'armée du Rhin« ( 1 8 8 8 ) ; vgl. Roth, Guerre, S. 691f. 4 9 Vgl. u.a. Inauguration du monument à la mémoire des soldats français morts à Sainte-Marie-Aux-Chènes le 18 aôut 1870, Saint-Nicolas 1872, S. 8ff. 50 So für Lothringen u.a. am 7. September in der Metzer Kathedrale, am 16. August in der Dorfkirche von Mars-la-Tour, am 3 1 . August in Dorfkirche von Noisseville, vgl. Maas, Kriegerdenkmäler, S. 92ff.; Badel, Mars-la-Tour, S. 47f. Gleiches gilt für die Schlachtfelder bei Weißenburg und Wörth. In Notre-Dame/Paris wurde jedes Jahr am 16. August eine Erinnerungsmesse gelesen. Zu einem großen literarischen Erfolg wurde Maurice Barrès' Roman »Colette Baudouche«, erschienen 1909, der die psychologische Bedeutung und starke Emotionalität der Metzer Erinnerungsmesse vom 7. September eindringlich beschreibt. 51 Zit. nach der Osterpredigt 1871 in der Kathedrale zu Metz, belegt bei A. Binz, Allocution prononcéc en l'église Notre-Dame de Paris à l'occasion du 25e anniversaire de la bataille de Gravelotte le 16 août 1895, Paris 1895, S. 7. 52 Siehe Maas, Kriegerdenkmäler, S. 97f.; Roth, Guerre, S. 6 9 3 . 53 Ebd., S. 692; So war auch das im Mai 1881 in Gegenwart von Gambetta eingeweihte Denkmal des Departements Lot jeden 1. November Zielpunkt eines Trauerzuges, siehe Lacroix, Morts, S. 23. Vgl. auch D.G. Troyansky, Monumental Politics. National History and Local Memory in French ›monuments aux morts‹ in the Departement of Aisne since 1870, in: French Historical Studies 1 5 / 1 , 1989, S. 121-141, hier S.131f. 54 Lacroix, Morts, S. 5 1 . 55 Vgl. Maas, Kriegerdenkmäler, S. 100ff. 56 So Militäroberpfarrer Wilhelm Bußler, Verfasser einschlägiger Schlachtfeldführer, anläßlich der Versammlung ost- und westpreußischer Veteranen am Denkmal des 1. Armeekorps, in: W. Bußler, Feldpredigten und Ansprachen in und um Metz während der Gedächtnistage vom 14.-18. August 1895, Metz 1895, S. 10-14, hier S. 13. 57 Vgl. Maas, Kriegerdenkmäler, S. 104f. 58 Vgl. Koselleck, Kriegerdenkmale, S. 263 und Ders., Einleitung, in: Ders. u. Jeismann, Totenkult, S. 9-20, hier S. 9f.

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AVNER BEN-AMOS

Der letzte Gang des großen Mannes* Die Staatsbegräbnisse in Frankreichs Dritter Republik

1. Einleitung Öffentliche Festtage, so behauptete Rousseau, seien eines der wirksamsten Mittel, um eine Nation zu schmieden.1 Zu solchen Anlässen kämen die Bürger zusammen und feierten sich selbst, ihre Einheit und Souveränität, ohne sich irgendwelcher theatralischer Mittel zu bedienen, die sie von ihren gemeinschaftlichen Bindungen ablenkten. Seit der Französischen Revolution, als seine Ideen zum ersten Mal umgesetzt wurden, erfuhr Rousseaus puristische Vision viele Veränderungen.2 Öffentliche Festtage jedoch blieben in Frankreich das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein wichtiges Element der republikanischen Erziehung, die eine vereinte Nation unter den Auspizien der Republik heranbilden wollte. Die Dritte Republik wich von dieser Tradition nicht ab, sie verstärkte sie eher noch mit offiziellen Feierlichkeiten wie dem Nationalfeiertag zur Erinnerung an den Sturm auf die Bastille (14. Juli), der Einweihung öffentlicher Denkmäler und den Empfängen ausländischer Herrscher.3 Von derartigen offiziellen Festtagen des Regimes unterschieden sich die Staatsbegräbnisse jedoch dadurch, daß sie zugleich auch persönliche Übergangsriten darstellten. Eine solche Verschmelzung von Persönlichem und Politischem war in einer Monarchie, in der königliche Geburtstage und Hochzeiten öffentlich und prachtvoll gefeiert wurden, ein normales Ereignis. Dies galt jedoch nicht für die Republik, in der die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts, zumindest theoretisch, von geringer Bedeutung und die Souveränität des Volkes entscheidend war. Das republikanische Staatsbegräbnis beinhaltete also eine duale Zeremonie, nämlich ein schmerzliches Ereignis und zugleich eine Apotheose des Verstorbenen und der Republik. Diese Dualität verlieh der Zeremonie ihre lang anhaltende Kraft: Einerseits behielt das Begräbnis seine emotional aufgeladene Atmosphäre, andererseits wurde die Persön* Aus dem Englischen übersetzt von Nora Bierich. Überarbeitet von Hannes Siegrist und Jakob Vogel.

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lichkeit und Biographie des Verstorbenen mit den verschiedenen Facetten der Republik identifiziert- Die Person, der die Ehre eines Staatsbegräbnisses zuteil wurde, gehörte einer neuen Kategorie republikanischer Helden an - den großen Männern. Um zu solch einer exemplarischen Figur aufzusteigen, mußte man einen substantiellen Beitrag zur Republik geleistet haben, sei es als Politiker, als militärischer Befehlshaber, oder - und das war in der Republik neu - als Intellektueller.4 Zwischen 1878 und 1940 finanzierte und organisierte die Dritte Republik 82 offizielle Begräbnisse. Die meisten dieser Zeremonien waren nur für ein begrenztes Publikum von Interesse, zwölf davon aber gerieten zu großen nationalen Ereignissen.5 Die Auswahl der mit dieser Ehre ausgezeichneten Personen wurde von der Regierung, dem Senat und der Deputiertenkammer diskutiert und führte zuweilen zu hitzigen Debatten. Die großen Begräbnisse zogen enorme Menschenmengen auf die Straßen von Paris. Die nationale und internationale Presse berichtete ausführlich darüber, und wochenlang standen die Trauerfeierlichkeiten im Zentrum des öffentlichen Interesses. Dieser Artikel stellt den Versuch dar, das republikanische Staatsbegräbnis zu analysieren und zu zeigen, wie ein persönlicher Übergangsritus zu einem öffentlichen Festtag umgestaltet wurde. Die Analyse basiert in erster Linie auf den zwölf großen Staatsbegräbnissen, die in ganz Frankreich gefeiert wurden. Jedoch werden sie hier nicht als losgelöste Ereignisse behandelt: Das analysierte Ereignis ist gleichsam das Modell eines idealtypischen Begräbnisses. Es besteht aus den bei jeder Zeremonie wiederholten Hauptschritten und betont somit die diesen Begräbnissen gemeinsamen Strukturen und Merkmale. Bevor wir uns jedoch den Begräbnissen zuwenden, soll kurz der allgemeine Mechanismus eines Übergangsritus erörtert und untersucht werden, wie die Republikaner diesen an die speziellen Bedürfnisse einer Staatszeremonie anpaßten. Die Struktur eines Übergangsritus. Wie der flämische Anthropologe Arnold Van Gennep in seiner berühmten Pionierstudie von 1908 feststellte, gehören Begräbnisse einer Klasse von Ritualen an, die Veränderungen von Zeit, Ort, Zustand, sozialer Position und Alter markieren.6 Solche Veränderungen stellen sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft eine Gefahr dar, da sie die existierende Ordnung potentiell außer Kraft setzen und mit der Möglichkeit von Chaos und Bruch konfrontieren. Übergangsriten sind daher notwendig, um solche Gefahren zu bannen und die schädlichen Auswirkungen dieser Störungen zu reduzieren. Van Gennep betont, daß alle diese Rituale die gleiche, aus drei Hauptphasen bestehende, zeremonielle Abfolge aufweisen: Trennung von der vorherigen Position; Übergang, während dessen das Subjekt zwischen zwei Positionen schwebt; und Inkorporation in die neue Position. Er merkt weiterhin an, 233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

daß im Falle eines Begräbnisses die erste Phase die einfachste ist, während die Riten der zweiten Phase »manchmal so langwierig und komplex sind, daß man ihnen eine gewisse Autonomie zugestehen muß«. Die Riten der dritten Phase, die den Toten ins Jenseits aufnehmen, »sind am stärksten ausgestaltet, und ihnen mißt man die größte Bedeutung bei«.7 Van Gennep hat den Begriff des Übergangsritus aufgrund seiner Untersuchungen von Stammesgesellschaften entwickelt. Die dreiteilige Struktur und die Charakteristika der einzelnen Phasen lassen sich jedoch auch bei den Staatsbegräbnissen der französischen Dritten Republik beobachten. Der Anthropologe Robert Hertz, ein Zeitgenosse Van Genneps, wies in einer anderen klassischen Studie noch genauer auf die soziale Bedeutung des Begräbnisses hin.8 Hertz behauptete, daß ein Tod weitaus mehr als das Verschwinden eines »physischen Individuums« bedeute. Die Zerstörung eines ihrer Angehörigen werde von der Gemeinschaft als ein Schlag gegen die soziale Ordnung empfunden. Er argumentierte weiter, daß das Bedürfnis, die dem sozialen Körper beigebrachte Wunde zu heilen und der toten Person eine neue soziale Rolle zu verleihen, jedes Begräbnis in eine duale Zeremonie verwandle, die sowohl den Verstorbenen als auch dessen Gesellschaft betreffe. Diese Dualität entspricht den von Van Gennep beschriebenen Phasen. Zuerst kommt es zur schmerzlichen Ablösung des Individuums von der Gesellschaft, dann, nach einer Zwischenphase, zu dessen Wiederherstellung auf einer höheren Stufe, mit der die Reetablierung der Gesellschaft einhergeht. Sowohl Van Gennep als auch Hertz betrachteten die Gesellschaft in funktionalistischer Manier als eine einfache, harmonische Entität, die den Übergangsritus schuf und den Status der Toten bestimmte. Sie erwogen dabei nicht die Möglichkeit, daß die Gesellschaft widersprüchlich und ihrerseits von der Zeremonie beeinflußt sein könnte. Trotzdem fuhren uns ihre Einsichten zu einem besseren Verständnis der Staatsbegräbnisse. 2. Die republikanische Ewigkeit Das republikanische Jenseits, in das die Seele des großen Mannes nach seinem Tod übersiedelte, war ein Produkt der Aufklärung. Diese entwickelte die Vorstellung, man könne durch die Achtung kommender Generationen Unsterblichkeit erlangen. In einem Brief an Falconet formulierte Diderot den Entwurf einer heiligen Nachwelt, die »das Jenseits des religiösen Mannes« ersetzen würde und deren Aufgabe darin bestünde, über die Verdienste der Bürger zu richten.9 Aufgrund der Annahme von einer linearen, fortschreitenden und kumulativen Zeit glaubte er, daß der wahre große Mann im Gedächtnis einer Gesellschaft überleben würde, die ihn zu 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

würdigen wüßte, während er von seinen Zeitgenossen stets mißverstanden und verfolgt werde. Die Belohnung und Würdigung des großen Mannes war also aufgeschoben und der aufgeklärten öffentlichen Meinung einer Zukunft anvertraut, die von anderen großen Männern geführt werden würde. Mit der Französischen Revolution schien diese Zukunft gekommen zu sein. Die Revolutionäre fühlten sich dazu berufen, die großen Männer der Vergangenheit mit ihren ambitionierten Erinnerungsorten wie dem Pantheon oder dem Musée des Monuments Français zu belohnen,10 die damit zu materiellen Manifestationen dieses Konzepts der säkularen Ewigkeit wurden. Doch die Bestattungen revolutionärer Führer wie Mirabeau und Marat im Pantheon zeigten, daß die Nachwelt für die Revolutionäre mehr und mehr zu einer Frage der Gegenwart statt der Zukunft wurde. Auguste Comtes Menschheitsreligion bildete einen weiteren Schritt bei der Ersetzung christlicher Ewigkeit durch ihr säkulares Gegenstück. Als Teil der Menschheit, dem unsterblichen höchsten Gegenstand, war sich danach jedes für seine Gesellschaft nützliche Individuum gewiß, »subjektive Unsterblichkeit« zu erlangen, d.h. für immer im Gedächtnis der folgenden Generationen fortzuleben. Auch die Dritte Republik, durch Positivisten wie Ferry und Gambetta gegründet, wurde zu einem solchen ewigen Wesen, indem sie sich mit der als unsterblich erachteten Nation identifizierte. Sie hatte daher die Aufgabe, das ewige Fortleben ihrer großen Männer in einer republikanischen Nachwelt zu garantieren. Diese doppelte Betonung von Menschheit und Nation schuf im republikanischen Diskurs eine Spannung zwischen universellen und partikularen Aspekten der Nachwelt. Da die Republik jedoch ihre Werte - sogar ihren Patriotismus - als universell betrachtete, konnte dieser Widerspruch gemildert werden. Durch den häufigen und fast automatischen Gebrauch des Ausdrucks »Nachwelt« (»postérité«) bei republikanischen Staatsbegräbnissen geriet diese zum Gemeinplatz. Doch können auch Gemeinplätze aufschlußreich sein, wenn sie Überzeugungen widerspiegeln, die fest in der Gesellschaft verankert sind. Der beunruhigenden Frage nach der Verortung der Toten wurde so eine zugleich besänftigende und vage Antwort zuteil: Sie lebten in der Nachwelt, d.h. im kollektiven Gedächtnis der Zukunft weiter. Die Funktion des Staatsbegräbnisses als Übergangsritus bestand darin, den sanften Transfer der großen Männer aus der Welt der Lebenden in die Nachwelt sicherzustellen. Diese Nachwelt war zugleich Teil der heiligen, ewigen Republik, die für sich in Anspruch nahm, als einziges Wesen das Gedächtnis der Toten für immer bewahren zu können. Mit dem Staatsbegräbnis ging der große Mann vom profanen ins heilige Reich über und erfuhr während der Zeremonie eine radikale Transformation. Um ins ewige Gedächtnis der Republik aufgenommen zu werden, das wie jedes andere 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Gedächtnis selektiv war, mußte er seine individuellen, vergänglichen Züge abstreifen, während die Züge, die mit dem unsterblichen Bild des Regimes in Einklang standen, hervorgehoben wurden. Nicht länger eine Person, wurde er zum Zeichen, das für die abstrakten und unsterblichen, in ihm materialisierten Werte der Republik stand. Dieser Vorgang dämpfte den Schlag, den der Tod einer bedeutenden Person der Republik versetzte, und machte das Ereignis zur Quelle der Macht, indem der Tote zum Ahnherrn wurde, der die Lebenden weiterhin mit seinem Beispiel erfüllte. Ein Übergangsritus, so der Soziologe Pierre Bourdieu, fuhrt nicht nur das Individuum von einem Zustand in den anderen, sondern schafft zugleich eine Trennungslinie zwischen denen, die den Ritus durchlaufen, und denen, die ihn nicht durchlauten.11 Ein Begräbnis ist demnach ein Ritus, der die Lebenden und die Toten trennt, indem er den Leichnam zu einer ordentlichen verstorbenen Person macht. Das Staatsbegräbnis aber, als eine besondere Form des Begräbnisses, unterschied dazu noch die, welche seiner für würdig empfunden wurden, vom Rest der Gesellschaft. Für gewöhnlich galt die Person, der eine derartige Ehre zuteil wurde, auch schon zu Lebzeiten als herausragende Figur. Das Staatsbegräbnis war der offizielle Akt, der sie weihte und ihr einen besonderen Status verlieh. Die Republik übernahm die Rolle des Türhüters der Nachwelt und verkündete sofort nach dem Tod ihr Urteil, das sich in der Entscheidung für oder gegen ein Staatsbegräbnis ausdrückte. Wer noch am Leben war, konnte auf das Überschreiten der Grenze hoffen, wer aber schon gestorben war, ohne diese Ehre zu erhalten, war von der Nachwelt ausgeschlossen - es sei denn, das Urteil wurde nachträglich revidiert. Dies war z.B. bei Emile Zola und Jean Jaurès der Fall, die einige Jahre nach ihrem Tod in das Pariser Pantheon überfuhrt wurden. So schuf man in der Nachwelt eine exklusive und einflußreiche Gemeinschaft großer Männer, die zunächst alle im Pantheon residieren sollten. Und obwohl die Dritte Republik dieses Monument nicht als einzige Residenz ihrer großen Männer behalten konnte, bewahrte sie sich doch die Vorstellung einer vereinten Ahnengemeinschaft, die sich auch nach dem Tod weiterhin um den republikanischen Staat sorgte und ihn inspirierte. Das Staatsbegräbnis übergab den Verstorbenen damit nicht nur dem Reich des kollektiven Gedächtnisses, sondern innerhalb dieses Reiches auch der Gemeinschaft großer Männer. Mit anderen Worten, der große Mann wurde ins Reich der Heiligen überfuhrt und selbst zu einer heiligen, unsterblichen Figur. Um diese komplexe Transformation leisten zu können, mußte die Zeremonie ein außerordentliches Ereignis darstellen. Diese Außerordentlichkeit wurde durch ihre theatralische Inszenierung erreicht, d.h. durch räumliche und zeitliche Arrangements, die dieses Schauspiel sowohl von den alltäglichen Aktivitäten auf der Straße als auch von ande236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ren, gewöhnlichen Begräbnissen unterschieden. In einer Zeit, in der, wie Baudelaire bemerkte, jedermann schwarz gekleidet war und permanent ein Begräbnis zu feiern schien,12 konnten sich Staatsbegräbnisse nur dadurch hervorheben, daß sie diesem alltäglichen Anblick besondere Züge verliehen. Ein theatralisches Element wird durch soziale Konventionen konstituiert und je nach sozialen Normen variiert,13 aber immer steht es im Gegensatz zum Weltlichen, so wie das Heilige immer im Gegensatz zum Profanen steht. Das Theatralische des Staatsbegräbnisses diente in erster Linie dazu, das Ereignis auf eine besondere Weise zu gestalten, die den Unterschied zum Alltag deutlich machte.14 Darüberhinaus verwandelte es die Zeremonie in ein sakrales Ereignis, welches den großen Mann, die Republik und die Nachwelt vereinte. Nach Raymond Firth ist »ein Begräbnisritus ein sozialer Ritus par excellence«: »Zwar ist sein scheinbares Objekt der Tote, aber nicht dem Toten nützt er, sondern den Lebenden.«15 Das Staatsbegräbnis war vor allem ein Übergangsritus für die Gesellschaft, die verschiedene Stufen durchlaufen mußte, um sich der neuen Situation anzupassen. Während die private Beerdigungsfeier für das einzelne trauernde Individuum ein Ritual einer Lebenskrise darstellte, ähnelte das Staatsbegräbnis in seinem öffentlichen Charakter den periodischen Übergangsriten, die alle Mitglieder einer Gemeinschaft einbezogen.16 Für die Menge war das Staatsbegräbnis ein Übergangsritus in Form einer mehrfachen Wallfahrt, nämlich zum Ort, an dem der große Mann feierlich aufgebahrt lag, zur Prozession und zum Grab. Die Wallfahrt bildete dabei einen Initiationsritus, bei dem der Pilger mit dem Heiligen in Berührung kam und eine innere Wandlung durchmachte.17 Das Staatsbegräbnis war also ein Ereignis, an dem zwei verschiedene Übergangsriten verschmolzen: der des großen Mannes und der jener, die an der Zeremonie teilnahmen. Diese zwei Aspekte des Ereignisses waren nicht voneinander zu trennen, da der Übergang beider Subjekte von einem Zustand in den anderen von ihrer gleichzeitigen Präsenz in der Zeremonie abhing. Der Leichnam des großen Mannes war natürlich der unmittelbare Grund für die Wallfahrt, aber der große Mann wiederum bedurfte einer großen Menge, die seinem Begräbnis beiwohnte. Das Ereignis mußte beeindruckend genug sein, damit er zum »Ahnen« werden konnte.18 Von welcher Perspektive aus man das Staatsbegräbnis auch betrachtete, es blieb eine Zeremonie, die nach einem vorbestimmten, jeden Handlungsabschnitt festlegenden Drehbuch durchgeführt wurde. Der Entwicklungsgang der Zeremonie glich einer Erzählung, in der mehrere Ereignisstränge so aufeinander folgten, daß sie eine kohärente Geschichte ergaben. Die Tatsache, daß der Ausgang der Geschichte schon im voraus bekannt war, führte zu einer Betonung des Wie und nicht des Was. Aus dem Erzählen 237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

wurde ein Wiedererzählen. Dieser teleologische Aspekt des Ereignisses machte es noch eindringlicher, da jede Episode zum unausweichlichen Ende führte. Doch wurde es dadurch auchriskanter.Wäre der gewöhnliche Ablauf der Handlung aus irgendeinem Grund gestört worden, hätte das Begräbnis als Fehlschlag gegolten. Das erklärt, warum die Opposition immer wieder versuchte, die Zeremonie zu unterbrechen, und warum die Behörden mit strengen Maßnahmen jegliche Störung verhindern wollten.

3. Die Phasen des Begräbnisses Im folgenden sollen die Höhepunkte des Staatsbegräbnisses, das die Struktur einer Zeremonie hat, dargestellt werden. Die Abfolge der Zeremonie entspricht dabei den von Van Gennep beschriebenen Phasen eines Übergangsritus und ist in drei Abschnitte unterteilt. Die Phasen des Begräbnisses sind nicht austauschbar, sie folgen einander gemäß der inneren Logik der Zeremonie. Die Aneignung des Körpers des großen Mannes. Ein toter Körper ist ein vieldeutiges Objekt. Er ist ein Ding, eine leblose Substanz, aber auch eine Person mit Spuren des Lebens. Er ist ein verfallendes Objekt und wird als unrein erachtet, und doch hält man ihn zugleich für heilig. Er gehört zu einem Individuum, und doch symbolisiert er zuweilen die gesamte Gesellschaft. Er ist präsent und doch abwesend.19 Vor allem ist der Leichnam das wichtigste Element des Begräbnisses, einer Zeremonie, deren Ziel unter anderem darin besteht, für den Leichnam so zu sorgen, daß alle diese unangenehmen Widersprüche aufgelöst werden. Ein Begräbnis ohne Leichnam widerspricht sich selbst, so daß dieser, wenn er nicht gefunden wird, stets durch ein materielles Objekt, z.B. ein Kenotaph, ersetzt wird, um die durch die doppelte Absenz hervorgerufene Angst zu mildern. Die Schilderung eines Staatsbegräbnisses erzählt daher zugleich auch von der Transformation eines Leichnams in ein bedeutungsvolles Objekt. Jeder Tod eines großen Mannes stellte die Republikaner vor die drängende und unmittelbare Frage, wem sein Leichnam gehöre: der Familie oder der Republik? Aufgrund ihrer individualistischen Haltung respektierte die Regierung zuerst den Wunsch der toten Person. So räumte das Gesetz von 1887 über den Modus von Begräbnissen, das zur Durchführung staatlicher Begräbnisse ermutigen sollte, den im Testament festgelegten Wünschen des Verstorbenen über die Form seines Begräbnisses Priorität ein.20 Dieser Respekt vor dem letzten Willen des Individuums wurde im November 1929 auf die Probe gestellt, als die Republikaner erfuhren, daß Georges 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Clemenceau, der jeden Pomp verabscheuende Freidenker, in seinem Testament ein offizielles Begräbnis untersagt hatte. Tardieus Regierung, die dieses Testament nicht ignorieren konnte, zugleich jedoch das Andenken an den »alten Tiger«, den »Vater des Sieges« im Ersten Weltkrieg feiern wollte, fand einen Weg, um beides zu vereinbaren. Clemenceaus Begräbnis in seinem kleinen Heimatdorf in der Vendée war ein privates Ereignis. Aber ein paar Tage danach organisierte die Regierung zu seinem Andenken eine große offizielle Parade der Kriegsveteranen vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten im Triumphbogen. In Fällen, bei denen es entweder kein Testament oder aber keine Instruktionen bezüglich des Begräbnisses gab, mußte die Familie mit der Regierung über das Verfahren der Zeremonie verhandeln. In der Regel stellte sich die Regierung dabei nicht gegen den ausdrücklichen Wunsch der Familie. Zuweilen übte sie jedoch starken Druck auf die Hinterbliebenen aus, um sie in ihrem Sinne zu beeinflußen. Der Tod Gambettas stellte ein herausragendes Beispiel eines solchen Falles dar. Während die Regierung ihn in Paris zu begraben wünschte, wollte sein Vater ihn in Nizza zur letzten Ruhe betten. Victor Hugo beschrieb diese Situation als einen unlösbaren Konflikt zwischen dem Vaterland und der Familie.21 Die Regierung bestand in solchen Fällen darauf, daß die Republik den großen Mann belohnen und den Bürgern ein gutes Beispiel geben müßte. Bestand die Familie auf ihrer Entscheidung, wurde dies als egoistisch betrachtet. Der große Mann hatte zwar das Recht darauf, ein privates Leben zu fuhren, nach seinem Tod aber wurde er von der republikanischen Öffentlichkeit in Beschlag genommen. Offiziell wurde der Republik das Besitzrecht über den Körper des großen Mannes durch einen Passus des Bestattungsgesetzes verliehen, der besagte, daß der Staat die Begräbniskosten übernehme. Mit der Bezahlung ›kaufte‹ der Staat der Familie den Körper ab, die im Moment der Zustimmung zum Staatsbegräbnis ihre Rechte abtrat. Die Bedeutung des symbolischen Kaufs wurde deutlich, als Marschall MacMahon, der den Körper von Adolphe Thiers gleichsam konfiszieren wollte, auf der Bezahlung für das Begräbnis bestand, damit diese Aktion nicht als ein Bruch der Konventionen erschien.22 Nach der Regelung des Gesetzes konnte die Familie zwar noch durch ihren Vertreter im Begräbniskomitee Einfluß auf die Planung der Zeremonie ausüben, doch war ihre Macht dabei ziemlich begrenzt. Der Abgeordnete Edouard Lockroy, Hugos Schwiegersohn, der die Verlängerung der Prozessionsroute wünschte, beschwerte sich deshalb beispielsweise darüber, daß das Komitee seine Vorschläge nicht beachtete.23 Der große Mann war bereits ein Staatsbesitz und damit der Staatsraison unterworfen.

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Trennung: Die Aufbahrung. Nachdem die Regierung den legalen Prozeß der Aneignung des Körpers beendet hatte, konnte der große Mann aus dem privaten Bereich seines Hauses, in dem für gewöhnlich in der ersten Zeit nach dem Tod die Familie die Totenwache hielt, in den öffentlichen Bereich überfuhrt werden. Der erste Akt des Staatsbegräbnisses fand dann an dem öffentlichen Ort statt, an dem der große Mann aufgebahrt lag. Dort erfolgte die Trennung, und dort nahm die Öffentlichkeit von ihm Abschied. Nach welchen Kriterien aber wählte man diesen Ort? Da in dieser Etappe der Zeremonie der Leichnam bereits der Republik gehörte, bestimmten für gewöhnlich die Veranstalter den Ort entsprechend der Funktion und des öffentlichen Images des Verstorbenen. Aristide Briand und Louis Barthou, beide Außenminister, wurden im Ministerium am Quai d'Orsay aufgebahrt, Marschall Joffre in der Militärakademie und Louis Pasteur im Institut Pasteur. Bei bestimmten außergewöhnlich großen Männern aber hielten sich die Veranstalter nicht an diese Tradition. Gambetta und Jaurès waren, als sie starben, bloße Abgeordnete. Dennoch wurden sie im Palais Bourbon der Bevölkerung präsentiert. Diese Ehre war gewöhnlich den Präsidenten der Kammer, wie Auguste Bourdeau, vorbehalten. Raymond Poincaré, der, wenn er sich nicht dagegen ausgesprochen hätte, im Pantheon bestattet worden wäre, wurde dort wenigstens aufgebahrt. Die höchste Ehre aber wurde Victor Hugo und Marschall Foch zuteil, deren Särge man unter dem Triumphbogen aufstellte. Es gab eine Wechselbeziehung zwischen dem Gebäude und dem großen Mann, der dort lag. Das Gebäude verwies auf die Verdienste des Verstorbenen und auf den besonderen Beitrag, den er dem Vaterland und der Menschheit geleistet hatte. Der Körper seinerseits verlieh dem Gebäude, bei dem es sich zuweilen um ein nüchternes Ministerium handelte, eine heilige Dimension. Aber sogar wenn der Leichnam in einem eindrucksvollen Monument aufgebahrt lag, wie dem Panthéon oder dem Triumphbogen, erhöhte die Präsenz des illustren Toten noch dessen Wert als Nationalsymbol.24 Die Stätte der Aufbahrung wurde gewöhnlich prächtig dekoriert, so daß sie der theatralischen Bestattungsdekoration ähnelte, die in Frankreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingeführt worden, und die, laut Michel Vovelle, »ein gemeinsamer und untrennbarer Ausdruck der barokken Sensibilität für den Tod und der Machtbestätigung der Elite zur Zeit des monarchischen Absolutismus« gewesen war.25 Diese Sensibilität verschwand nicht mit dem Barockzeitalter, sondern wandelte sich in eine romantische Sensibilität, die die Dekoration der Staatsbegräbnisse bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus prägte. Diese Dekoration war überdies der Ausdruck der Macht des zentralisierten Staates, der für die Zere240 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

monie bedeutendes Material und große Menschenmassen mobilisieren konnte. Sie sollte an diesem Punkt des Begräbnisses eine Atmosphäre schaffen, die das Vorüberziehen am Leichnam zu einer eindrucksvollen Erfahrung werden ließ. Der Leichnam lag gewöhnlich in einem abgeschlossenen Raum aufgebahrt, der eine vollständige Umgestaltung des Schauplatzes und die Kontrolle über die eintretenden Gruppen erlaubte. Bei der Aufbahrung Gambettas wurde z.B. der Festsaal der Deputiertenkammer in einen »Totensaal« verwandelt. Beteiligt war eine Reihe berühmter Künstler wie Charles Garnier, Jules und Emile Bastien-Lepage, Bonnat, Becker, Falguière und Chaplin, die unter der Leitung von Antonin Proust, dem Minister für Kunst im Kabinett Gambettas, arbeiteten. Der durch die üppige Dekoration erzeugte Effekt wurde in der Presse als »eindrucksvoll« und »meisterhaft« beschrieben.26 Solange der Leichnam zuhause aufgebahrt wurde, blieb die Anzahl der Besucher begrenzt. Die öffentliche Aufbahrung hingegen war für die Massen bestimmt und zog meist beachtliche Mengen an. Bei populären großen Männern, wie Gambetta, Präsident Felix Faure und Marschall Joffre, defilierte täglich eine Menge von etwa fünfzigtausend Personen an dem Leichnam vorüber.27 Zu Fochs Aufbahrung am Triumphbogen kamen ungefähr eine Million Menschen.28 Auch der am selben Ort präsentierte Leichnam von Victor Hugo lockte eine etwa gleich große Menge an. Natürlich ließ dieser Menschenstrom nicht den flüchtigsten Moment von Intimität mit dem Leichnam des großen Mannes zu. Dennoch nahm die pädagogische Wirkung der Zeremonie mit der Größe der Menge nicht ab, sondern wahrscheinlich eher zu. Victor Hugo soll, tief gerührt vor dem Katafalk Gambettas stehend, zu seinem kleinen Enkel gesagt haben: »Frankreich, mein Kind, hat gerade einen großen Bürger verloren.«29 Übergang: Die Prozession. Die mittlere Phase eines Übergangsritus ist, laut Victor Turner, durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet, die sie als Schwellenabschnitt von den beiden anderen Phasen des Ritus unterscheiden. Das Subjekt durchläuft in diesem Abschnitt »ein kulturelles Reich, das wenige oder keines der Attribute des vergangenen oder kommenden Zustands besitzt«,30 und befindet sich daher in einer ungewissen Position, die es zugleich zu einem heiligen und gefährlichen Wesen macht. Gewöhnlich erfahrt es einen Wandlungsprozeß, der sein normales soziales Selbst verwandelt und seinen außergewöhnlichen Zustand unterstreicht. Während dieser Phase herrscht unter den Teilnehmern eine Stimmung der »communitas«, d.h. einer Aufhebung der normalen sozialen Struktur mit ihrer rigiden Hierarchie und der Schaffung eines speziellen Bundes, der auf einer gleichen, undifferenzierten und direkten Beziehung basiert. Zwar 241 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

formulierte Turner diese Beobachtungen aufgrund seiner Studien über afrikanische Stammesgesellschaften, doch scheinen sie, mit den nötigen Modifikationen, auch für die Staatsbegräbnisse der Dritten Republik zu gelten. Während der Prozession vollzog sich die symbolische Transformation des großen Mannes von einem toten menschlichen Wesen in einen für immer im nationalen Gedächtnis fortlebenden Ahnen. Die Prozession verband die beiden Pole der Zeremonie, nämlich den der Trauer während der Aufbahrung und den der Apotheose im Moment der Beisetzung, als der Leichnam zuweilen neben anderen großen Männern begraben wurde. Theoretisch konnte ein Begräbnis auch ohne eine öffentliche Prozession stattfinden, da es genügte, den Sarg nur an diesen beiden Polen zu präsentieren. Doch die Reise des Körpers durch die prachtvoll ausgestatteten und von Menschenmengen umsäumten Straßen besaß an sich schon Bedeutung. Der Sarg wurde zu einem mobilen heiligen Schrein, der getragen wurde, um für einen Augenblick mit den Zuschauern in Berührung zu kommen, die ihrerseits ihren gewohnten Platz verlassen hatten und zur Prozession herangereist waren. Es handelte sich um zwei Pilgerfahrten die sich entlang der Straße begegneten - derer, die den Sarg begleiteten und der zuschauenden Menge. Bei Jaurès' Bestattung im Pantheon etwa zogen es die Organisatoren vor, den Leichnam vom Bahnhof, zu dem er von Albi aus gebracht worden war, zum Palais Bourbon zu tragen, um ihn dort aufzubahren und von dort aus feierlich zum Pantheon weiter zu geleiten. Die Inszenierung einer Prozession ist, wie Mary Ryan bemerkt, der Produktion eines Textes vergleichbar, dem ein besonderes Vokabular und eine bestimmte Syntax eigen ist.31 Im Gegensatz zu den von Ryan untersuchten amerikanischen Paraden hatte die Leichenprozession einen einzigen Urheber, nämlich das Bestattungskomitee, das an die Regeln des Protokolls gebunden war. Zwei streng hierarchisch strukturierte Institutionen prägten und benutzten das Ritual der Leichenprozession besonders häufig: die Kirche und die Armee. Die Prozessionen bei Staatsbegräbnissen enthielten daher Elemente, die sowohl militärischen Paraden als auch katholischen Prozessionen entliehen waren. Diese Verknüpfung ließ eine einzigartige republikanische Prozession entstehen, die sich aus vier Hauptteilen zusammensetzte: die Einheiten der Armee an Anfang und Ende; der Leichenwagen und die Familie, die das heilige Zentrum bildeten; der offizielle Teil mit Repräsentanten des Staates, der Armee und der Kirche; und der nicht offizielle Teil, der aus den Mitgliedern verschiedener Vereinigungen und Organisationen bestand. Diese Teile, die selbst aus mehreren, sich nacheinander durch den Raum bewegenden Segmenten bestanden, ›erzählten‹ den Zuschauern die vielschichtige ›Geschichte‹ des Staates. Die 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

formale Struktur wurde durch die Marschordnung und die relative Bedeutung eines jeden Segments repräsentiert. Den wichtigsten Teil der Prozession bildeten die Leichenwagen und die Familie, denen für gewöhnlich militärische Einheiten vorausmarschierten. Während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Leichnam zuweilen noch in einem offenen Sarg zum Friedhof getragen worden,32 aber allgemein tendierte man bei Begräbnissen der Oberschicht dazu, ihn den Blicken zu entziehen. So wurde der Sarg gegen Ende des Jahrhunderts geschlossen33 und verschwand im 19. Jahrhundert in einem prächtigen Leichenwagen ganz aus dem Blick. Bei den Staatsbegräbnissen der Dritten Republik bis zum Ersten Weltkrieg war es Brauch, einen pompösen Leichenwagen zu benutzen, der von sechs reich geschmückten Pferden gezogen wurde und mit Kränzen bedeckt war, so daß der Verstorbene - und die Zuschauer - durch mehrere Hüllen ›geschützt‹ waren. Diesbezüglich gab es keinen Unterschied zwischen religiösen und zivilen Begräbnissen. Der beim Begräbnis von Thiers verwandte Leichenwagen, wegen seiner die christlichen Tugenden repräsentierenden vier allegorischen Statuen als »Leichenwagen der Allegorien« bekannt, wurde, nachdem man die Statuen entfernt hatte, auch bei dem zivilen Begräbnis von Louis Blanc benutzt. In der Zeit zwischen den Weltkriegen verbreitete sich der zuvor nur bei einigen Staatsbegräbnissen hoher Militärs übliche Brauch, den Sarg auf einer mit der Trikolore bedeckten Lafette zu transportieren. Die einfache Lafette war damit nicht nur der »prädestinierte Altar« militärischer Größen wie Foch,34 sondern auch der von Zivilisten, wie des Ex-Präsidenten Poincaré. Der Sarg spielte dabei dieselbe Rolle wie die Heiligenfigur bei katholischen Prozessionen. »Die Gläubigen übertragen im Moment des Übergangs ihre gemeinschaftlichen Gefühle« auf diesen mobilen Brennpunkt.35 Obwohl der Leichenwagen nicht wie eine Heiligenfigur emporgehoben werden konnte, war seine Heiligkeit doch durch die Isolierung von den anderen Teilen der Prozession betont. Er war nur von den Sargträgern umgeben, die als symbolische Wächter fungierten und für gewöhnlich gemeinsam vom Staat und der Familie ausgewählt wurden. Sargträger zu sein, galt als eine große Ehre,36 und die Auserwählten waren bedeutende öffentliche Personen - Politiker, Gelehrte, Armee-Offiziere - die in einer Beziehung zu dem großen Mann standen. Die enge Familie hingegen vermied es im allgemeinen, an dem ihr zugewiesenen Platz gleich hinter dem Leichenwagen zu gehen, und fuhr entweder direkt zum Friedhof oder folgte in einer Kutsche. Den Zuschauern erschien diese Abwesenheit natürlich, nicht nur weil der lange Marsch für die Witwe oder die Kinder physisch beschwerlich war, sondern auch weil ihre Anwesenheit bei diesem öffentlichen Ereignis überflüssig erschien. 243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Den größten Raum in der Prozession nahm der inoffizielle Teil ein, in dem die Leute ihre Trauer unmittelbar, ohne Bezugnahme auf die Staatsorgane, ausdrücken konnten. Er bestand aus verschiedenen Delegationen, die sich im voraus bei den Organisatoren der Zeremonie eintragen mußten. Sie wurden in Gruppen zusammengefaßt und bekamen einen bestimmten Platz in der Prozession zugewiesen. Die Skala der Organisationen, welche Delegationen entsandten, war breit und spiegelte die diversen Gruppen der republikanischen Gemeinschaft wider, die das Rückgrat des Regimes bildeten. Bei Hugos Begräbnis z.B. fanden sich im inoffiziellen Teil Delegationen von Arbeiterverbänden, von politischen, künstlerischen und wissenschaflichen Gesellschaften, von Gruppen der Freidenker und Freimaurerlogen, von Schulen, Universitäten und pädagogischen Institutionen, von Turn- und Schießvereinen, von militärischen und patriotischen Verbänden, von Gemeinden der Provinz sowie von verschiedenen ausländischen Organisationen. Nach dem Ersten Weltkrieg behielt der inoffizelle Teil zwar seine Bedeutung bei, aber er setzte sich aus anderen Elementen zusammen. Abgesehen von Jaurès' Bestattung im Pantheon, bei der man an der alten Tradition festhielt, umfaßte er nun bei den meisten Staatsbegräbnissen Delegationen verschiedener Kriegsveteranenverbände. Diese Veränderung bedeutet nicht unbedingt, daß die alte republikanische Gemeinschaft ausgestorben war. Vielmehr schien sie neue Formen der Organisation gefunden zu haben.37 Die Delegationen unterschieden sich - und konkurrierten zuweilen durch die Größe und Pracht der Kränze, die sie in der Prozession mitführten. Die Aufschriften auf den Kränzen, die Banner und die Fahnen dienten darüber hinaus der Identifikation der einzelnen Gruppen. Zusammen verliehen sie dem Ereignis seine besondere Farbe - die einer sozialistischen, patriotischen oder künstlerischen Demonstration. Aber die Teilnahme an der Prozession war für diese Volksorganisationen mehr als bloß ein Mittel, um für sich in der Öffentlichkeit zu werben. Ihre Teilnahme an der Prozession zeichnete sie als aktive Bürger aus, die eine Bürgerpflicht erfüllten und die Trauer ihrer besonderen Vereinigung und des Landes zum Ausdruck brachten. Einfache Leute wurden dadurch, daß sie neben den Autoritäten feierlich dem Sarg folgten, diesen ebenbürtig. Wenn es eines der Attribute der Macht ist, sichtbar im Zentrum zu stehen,38 dann teilten die Leute diese Macht für einen kurzen Moment mit den Staatsbeamten. Oder wie es Charles Péguy bei einem anderen zeremoniellen Ereignis ausdrückte: »Vor allem waren es die Leute, die vorüberzogen und vorbeimarschierten, die man vorüberziehen und vorbeimarschieren sah, und die sich selbst vorüberziehen und vorbeimarschieren sahen.«39 In der Tat gab es keinen Unterschied zwischen den auf dem Bürgersteig stehenden Zuschauern und den Leuten auf der Straße, die verschiedene Teile der 244 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Öffentlichkeit repräsentierten. Sie spiegelten einander und erreichten so eine zeitweilige Umkehrung ihres Status, was dem Ereignis seine egalitäre Dimension verlieh. Inbesitznahme: Die Beisetzung und die Rede. Die dritte Phase des Begräbnisses, in der der Verstorbene in die Welt der Toten aufgenommen wurde, folgte gewöhnlich auf dem Friedhof oder in dem Monument, in dem sich das Grab befand. Nach einem letzten Bad in der Menge war der Tote bereit, sich zu den anderen illustren Ahnen der Republik zu gesellen, die bereits den gleichen Prozeß der Heiligwerdung durchlaufen hatten. Nach der Ehrenbezeigung durch die breite Menge, kam hier die Elite des Staates an die Reihe, ihm ihren Respekt zu erweisen. Somit war die Phase der Inbesitznahme im Gegensatz zum öffentlichen Charakter des Übergangs verhältnismäßig geschlossen. Sie begann mit einer für ein ausgewähltes Publikum bestimmten Zeremonie, setzte sich fort mit einer Militärparade, bei der die Soldaten vor dem Leichnam salutierten, und endete mit einem kleinen Begräbnis im Beisein der Familie, der Freunde und einiger Staatsbeamter. Die Inbesitznahme gestaltete sich, ob zivil oder religiös, von Natur aus als eine Abschiedszeremonie, bei der Chor- und Instrumentalmusik eine zentrale Rolle spielten. Der gesprochene Teil dagegen - die Rede - galt dem Eintritt des großen Mannes in die Gesellschaft der anderen großen Männer der Nation. Die erste offizielle Rede wurde für gewöhnlich im Anschluß an die Bekanntgabe des Todes des großen Mannes in der Deputiertenkammer gehalten, doch besaß sie viel weniger Gewicht als die Rede beim Begräbnis. Hier blieb das Publikum zwar begrenzt, aber man tat alles, um den Text in Zeitungen, manchmal sogar in speziellen Broschüren und auf Plakaten wiederzugeben. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Rede von Lautsprechern auch der nicht zur Zeremonie zugelassenen Menge und per Radio dem ganzen Land übermittelt. Die feierlichen Umstände verliehen der Rede besondere Autorität. Der Redner mußte daher auch, zuweilen nach heiklen Verhandlungen mit der Familie und verschiedenen politischen Abordnungen, vom Organisationskomitee sorgfältig ausgewählt werden. Die Rede war also ein »konstitutiver Diskurs«, wie Pierre Bourdieu es genannt hat, der seine Kraft primär aus seinen Rahmenbedingungen schöpfte.40 Da die Rede gegen Ende der Zeremonie stattfand, nahm sie in dieser eine einzigartige, duale Position ein und bildete sowohl einen integralen Bestandteil des Ereignisses als auch ein darüberhinausweisendes Element. »Ein Leben kann erst vom Tode her beurteilt werden«, sagt Solon,41 und wirklich war die Rede ein offizieller Versuch, für die Nachwelt die Bedeutung dieses Lebens festzulegen, das nicht mehr für sich selbst sprechen 245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

konnte. Aber dasselbe Diktum traf auch auf das Begräbnis zu, das der Redner zum Ende autoritativ zusammenfaßte. So schloß z.B. der Vizepräsident des Senats, Peyrat, seine Rede auf Gambetta mit den Worten: »Ihm ist seine Kompensation schon zuteil geworden. So wie ihn heute seine Zeitgenossen gepriesen haben, so wird er gewiß von der Geschichte gerühmt werden.«42 Die räumliche Stellung des Sprechers, nahe dem Katafalk und mit dem Gesicht zum Publikum, bezeichnete seine symbolische Rolle. Er war ein Mittler zwischen der Republik und dem großen Mann, zwischen den Lebenden und den Toten. Dabei repräsentierte er jeweils die einen vor den anderen und war so für die Gemeinschaft gleichzeitig Mitglied und ein Außenseiter. Dem großen Mann gegenüber drückte der Sprecher die Dankbarkeit des Regimes aus; dem Publikum gegenüber war er der Sprecher des Verstorbenen, welcher der Nation seine Wünsche übermittelte. Der Redner konnte diese Schlüsselposition nur aufgrund seiner eigenen Autorität, z.B. als Premierminister oder Präsident der Kammer, einnehmen. Zuweilen wurde die Aufgabe unter mehreren öffentlichen Personen aufgeteilt, wobei jeder Redner über einen anderen Aspekt aus dem Leben des großen Mannes sprach. Bei Hugos Begräbnis gab es beispielsweise nicht weniger als neunzehn Redner, die als Vertreter der verschiedenen politischen und künstlerischen Organisationen, die den Dichter für sich in Anspruch nahmen, die vielfältigen Facetten seines Lebens beschrieben. Nie aber produzierte dieser Chor eine Polyphonie im Sinne Bakhtins.43 Die Redner gaben, aus verschiedenen Perspektiven, die offizielle Version des Lebens des großen Mannes wieder, konstituierten dabei jedoch ein kohärentes Ganzes. Solch ein einheitlicher Blick war typisch für dieses Genre, das eine zentrale Stellung in der rhetorischen Tradition des Westens einnahm.44 Diejenigen, die es praktizierten, verfolgten dabei oft einen pädagogischen Diskurs, in dem das Leben des Verstorbenen im Kontext eines größeren, religiösen oder säkularen Plans als bedeutsam und vorbildhaft dargestellt werden sollte. Als die katholische Begräbnisrede im 18. Jahrhundert an Bedeutung verlor, wurde sie durch die akademische Eloge ersetzt, die die Person des großen Mannes in den Vordergrund stellte und weniger an den Moment des Todes geknüpft war.45 Diejenigen, die im 19. Jahrhundert die republikanische Begräbnisrede entwickelten, waren sowohl mit den klassischen Modellen des Genres46 als auch mit den jüngeren Elogen vertraut und schufen eine einzigartige Form des Diskurses, die Elemente beider Traditionen verband. Der Redner beschrieb gewöhnlich ein paralleles Vorwärtsschreiten - das des großen Mannes und das der Republik, die beide, ungeachtet ihrer Gegner, erfolgreich alle Hindernisse überwanden. Es handelte sich dabei um einen antizipierenden und teleologischen Diskurs, 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

in dem die Samen einer unvermeidlichen Zukunft bereits in der Vergangenheit zu erkennen waren. Die individuellen Züge des großen Mannes und alle umstrittenen Episoden seines Lebens wurden stillschweigend übergangen, wohingegen man seine öffentliche Karriere, die als Ausdruck der republikanischen Werte galt, unterstrich. In der Rede liefen also drei unterschiedliche Erzählstränge zusammen: der der Republik, der des Lebens des großen Mannes und der des Begräbnisses. Jeder dieser drei Stränge entfaltete sich auf einer anderen Ebene und mit einem anderen Tempo. Der Redner hatte zu zeigen, wie sie alle zu einem harmonischen Ganzen zusammenfanden, das zu einer mächtigen Manifestation der für Gedenkfeiern typischen »Logik des Gleichen« geriet.47 Durch die Identifikation mit dem großen Mann, den sie gerade gepriesen hatte, verlieh sich die Republik etwas von seinem Prestige.

4. Das Staatsbegräbnis und die Einheit der Nation Ein Ritual dient, wie James Fernandez anmerkt, der Schaffung einer konsenslosen Solidarität. Es kann »zwischen Teilnehmern, denen es auf kultureller Ebene - der ideologischen Ebene von Glauben, Grundprinzipien und der Interpretation von Symbolen - tatsächlich an Konsens fehlt, Integration auf der sozialen Interaktionsebene bewirken«.48 Dies läßt sich durch die Vieldeutigkeit der in einem Ritual präsenten Symbole erklären, die es Menschen ermöglicht, zusammenzukommen und zusammen zu agieren, ungeachtet dessen, daß sie nicht exakt das Gleiche denken mögen.49 Beim Staatsbegräbnis kam die Menge zusammen, um die Prozession zu sehen und so die Transformation des großen Mannes zum Ahnen zu vollziehen. Aber eine noch unmittelbarere und nicht weniger entscheidende Folge dieser Zusammenkunft war das in dieser Phase erzeugte Gefühl der Einheit. Die Zeitung »La République Française« drückte diese Empfindungen nach Hugos Bestattung im Pantheon in einem aufschlußreichen Passus aus: »Wer dieser großartigen Prozession zusah, die zur Melodie der Nationalhymne vorbeimarschierte, für den hatten soziale Klassen oder politische Parteien keinen Bestand mehr; zu bestimmten Zeiten verschwinden die Streitigkeiten. Die freiwillige Absenz von Aufrührern und Oppositionellen, die sich gewöhnlich weder von Tod noch Ehre abschrecken lassen, unterstrich noch diese Einheit der französischen Demokratie. Es entsprach Victor Hugo, zum letzten Mal als Sammelpunkt aller Patrioten zu dienen und zu beweisen, daß das moderne Frankreich seine vorübergehende Uneinigkeit vergessen hatte und in gemeinsamer Bewunderung für ihn vereint war. Warum sind sie so selten, diese Tage der Eintracht, auf die die Sonne des Föderationsfests zu leuchten scheint?«50 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

In den Berichten der republikanischen Presse wurden die Staatsbegräbnisse immer wieder als ein Moment beschrieben, in dem politische Machenschaften verschwanden und die grundlegende Einheit Frankreichs zu Tage trat. Der Wunsch, die politische Sphäre zu transzendieren, in der man nur auf Zwietracht und selbstsüchtiges Interesse traf, war Teil des republikanischen Bemühens, sich durch die Gleichsetzung des Regimes mit der Nation zu legitimieren. Während die Republik seit der Französischen Revolution mit Parteipolitik assoziiert und als provisorische Form der Regierung betrachtet wurde, galt die Nation als ewige Macht, die sowohl die Geschichte als auch das Territorium Frankreichs einte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg wurden politische Machenschaften weiterhin allgemein abgelehnt. So machten die Kriegsveteranen geltend, daß die enormen Opfer ihrer Kameraden nur mit dem Verschwinden alter Streitigkeiten einen Sinn bekommen könnten. Das Staatsbegräbnis eignete sich besonders gut dazu, die Republik und die Nation zu verschmelzen, da einerseits der Tod die Macht besaß, die Lebenden zu einen, und die Zeremonie andererseits die Aufmerksamkeit des Landes fesseln konnte. Die Republik, die das Begräbnis zu Ehren eines ihrer großen Männer ausrichtete, konnte somit dessen Werte mit denen der Nation identifizieren, welche bei der Zeremonie in Gestalt der vielgestaltigen Masse präsent war. Für die Republikaner stellten derartige Massenveranstaltungen außerhalb des nationalen Kultes eine Art Plebiszit dar, das sie sonst als undemokratisch ablehnten. Doch hatte eine solche »Abstimmung mit den Füßen« auch ihre Grenzen, da sie ein Stück weit den Willen des Volkes zeigte, auch wenn sie die staatliche Politik nicht direkt beeinflussen konnte. Der Versuch, durch das Ritual der Staatsbegräbnisse die politischen Divergenzen zu negieren, war daher auch für die Republikaner nur eine stillschweigende Anerkennung der Bedeutung derartiger Konflikte. Nach dem kurzen Moment der Euphorie während des Begräbnisses ging die Politik wieder ihren gewöhnlichen Gang, zuweilen sogar - als Folge des Begräbnisses - mit noch größerer Heftigkeit. Für den Erhalt seiner Einheit aber mußte das Land an die Existenz einer Sphäre gemahnt werden, zu der gewöhnliche Politik keinen Zugang haben sollte und in der die gesamte Nation durch die zivilen Werte der Republik vereint war. Alle paar Jahre wurde die Politik so außer Kraft gesetzt, wenn der Tod eines besonders beliebten großen Mannes dem Regime eine Möglichkeit gab, das Erlebnis eines großen Staatsbegräbnisses zu wiederholen. Natürlich ließ sich der Zeitpunkt des Todes nicht planen, doch die Verteilung dieser Begräbnisse über die gesamte Dauer der Dritten Republik hinweg zeigt, daß die Republikaner ein ständiges Bedürfnis nach solchen Erlebnissen hatten. Wichtiger als die besondere Identität des großen Mannes war seine Fähigkeit, als Totempfahl zu dienen, der die Werte der Republik repräsentierte 248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und die Menschen um sich versammelte. Das Begräbnis übergab ihn dem kollektiven Gedächtnis der Nation als einen ›zweidimensionalen‹, in Ehren gehaltenen Ahnen. Wichtiger waren jedoch die staatsbürgerlichen Werte, mit denen er durch seinen öffentlichen Tod zu diesem Gedächtnis beitrug.

Anmerkungen 1 J.-J. Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, Paris 1990, S. 167-174; siehe auch Ders., Lettre à M. d'Alembert sur son article Genève, Paris 1967. Zu Rousseaus Sichtweise des Festes siehe J. Starobinski, Jean-Jacques Rousseau: La transparence et Pobstacle, Paris 1971, S. 116-121. 2 Zu öffentlichen Festtagen der französischen Revolution siehe M. Ozouf, La fête révolutionnairc 1789-1799, Paris 1976; J. Ehrard u. P. Viallaneix, Les fêtes de la Révolution, Paris 1977. 3 C. Rearick, Festivals in Modern France. The Experience of the Third Republic, in: Journal of Contemporary History 12, 1977, S. 435-460; C. Amalvi, Le 14-Juillet, in: P. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 421-472. 4 Zu den Besonderheiten der Figur des großen Mannes siehe M. Ozouf, Le Panthéon, in: Nora, Les lieux, Bd. 1, S. 139-166; J.-C. Bonnet, La naissance du Panthéon, in: Poétique 33, 1978, S. 46-65; C. Charte, La naissance des »intellectuels«, Paris 1990. 5 Die großen Staatsbegräbnisse der Dritten Republik waren die von Leon Gambetta (1883), Victor Hugo (1885), Sadi Carnot (1894), Louis Pasteur (1895), Felix Faure (1899), Emile Zola (1908), Rouget de Lisle (1915), dem Unbekannten Soldaten (1920), Jean Jaurès (1924), Marschall Foch (1929), Marschall Joffre (1931), Raymond Poincaré (1934). 6 A. van Gennep, The Rites of Passage, Chicago 1960. 7 Ebd., S. 146. 8 R. Hertz, Contribution à une êtude sur la représentation collective de la mort, in: Ders., Sociologie religicuse et folklore, Paris 1970, S. 1-93. 9 Zitiert bei J.-C. Bonnet, Les morts illustres, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/III: La Nation, Paris 1986, S. 220. Siehe auch C. Lefort, Mort de l'immortalité?, in: Le temps de la réflexion 3, 1982, S. 171-201. 10 Siehe Ozouf, Le Pantheon, sowie D. Poulot, Alexandre Lenoir et les musées des Monuments français, in: Nora, Les lieux, Bd. 2/II: La Nation, Paris 1986, S. 497-531. 11 P. Bourdieu, Les rites comme actes d'institution, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 43, 1982. 12 C. Baudelaire, Salon de 1846, in: Ders., Oeuvres complètes, Paris 1974, S. 260. 13 Siehe E. Burns, Theatricality. Α Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972. 14 E. Goffman, Frame Analysis, New York 1974. 15 Zit. nach T.J. Scheff, Catharsis in Healing, Ritual, and Drama, Berkeley 1979, S. 113. 16 Zur Unterscheidung von Lebenskrisen- und periodischen Übergangsriten siehe V. Turner, Liminality and the Performative Genres, in: J.J. MacAloon (Hg.), Rite, Drama, Festival, Spectacle. Rehearsals Toward a Theory of Cultural Performances, Philadelphia 1984, S. 21. 17 V. Turner, Pilgrimages as Social Processes, in: Ders., Dramas, Fields and Metaphors, Ithaca 1974, S. 166-230.

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18 Zum Zusammenspiel zwischen moderner Gesellschaft und ihren großen öffentlichen Ereignissen siehe D. Handelman, Models and Mirrors. Towards an Anthropology of Public Events, Cambridge 1990, S. 49-58. 19 Siehe L.-V. Thomas, Anthropologie de la mort, Paris 1975, S. 260-267; Ders., Rites de mort, Paris 1985, S. 141-153, 186-188; M. Douglas, Purity and Danger, Harmondsworth 1970, S. 137-153. 20 Siehe EM. Acomb, The French Laie Laws 1879-1889, New York 1967, S. 204ff. 21 Siehe Hugos Brief an Mme. Edmond Adam, die auf seiten des Vaters Gambettas stand: »Sie hatten recht, Madame; und ich auch. Sie waren für die Familie; ich war fur's Vaterland.« (in: V. Hugo, Oeuvres complètes, Bd. 4: Correspondance 1874-1885, Paris 1952, S. 82). 22 Adolphe Thiers war der republikanische Präsidentschaftskandidat bei den entscheidenden Wahlen im Oktober 1877. Als er während der Wahlkampagne starb, versuchte der konservative Präsident MacMahon für ihn ein Staatsbegräbnis zu organisieren, um ein Umfunktionieren des Ereignisses in eine republikanische Demonstration zu verhindern. Die Witwe, die die Kontrolle über die Zeremonie wünschte, wies MacMahons Angebot ab, so daß das Begräbnis schließlich als ein nicht offizielles Ereignis gefeiert wurde. 23 Gil Blas, 31.5.1885. 24 Zur komplexen symbolischen Beziehung zwischen einem Monument und dem Körper eines dort begrabenen großen Mannes siehe A. Ben-Amos, Monuments and Memory in French Nationalism, in: History and Memory 5, 1993, S. 50-81. 25 M. Vovelle, La mort et l'Occident, Paris 1983, S. 337. 26 Le Voltaire, 6.1.1883. 27 Siehe zu Schätzungen der Größe der Menge bei Gambettas Begräbnis: Le Gaulois, 5.1.1883; bei Faure: Archives de la Préfecture de Police, BA, 1072; bei Joffre: Le Journal, 6.1.1931; bei Doumer: Le Temps, 12.5.1932. 28 Archives de la Préfecture de Police, BA, 1627. 29 Le Voltaire, 6.1.1883. 30 V. Turner, The Ritual Process, Structure and Anti-Structure, Ithaca 1977, S. 94. 31 M. Ryan, The American Parade. Representations of the Nineteenth-Century Social Order, in: L. Hunt (HR.), The New Cultural History, Berkeley 1989, S. 131-153. 32 Besonders üblich war dieser Brauch im südlichen Teil Frankreichs. Siehe M. Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle, Paris 1978, S. 82-87. 33 Vovelle, Mort, S. 333ff. 34 Le Figaro, 27.3.1929. 35 R. DaMatta, Carnival in Multiple Planes, in: MacAloon, Rite, Drama, S. 217. 36 Siehe A. van Gennep, Manuel de folclore français contemporain, Bd. 1/II, Paris 1946, S. 747f. 37 Siehe A. Prost, Les anciens combattants et la Société francaise, Bd. 2: Sociologie, Paris 1977. 38 C. Geertz, Centers, Kings, and Charisma. Reflections on the Symbolics of Power, in: J . Ben-David u. T.N. Clark (Hg.), Culture and its Creators, Chicago 1977; Ders., Negara, the Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton 1980. 39 C. Péguy, Oeuvres en prose, Bd. 1, Paris 1959, S. 815. 40 P. Bourdieu, Le langage autorisé. Note sur les conditions sociales de l'efficacité du discours rituel, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 1975, S. 183-190. 41 Zitiert bei S.C. Humphreys, Death and Time, in: S.C. Humphreys u. H. King (Hg.), Mortality and Immortality. The Anthropology and Archeology of Death, London 1981, S. 262. 42 La République Française, 7.1.1883. 43 M. Bakhtin, Problems of Dostoevsky's Poetics, Minneapolis 1984.

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44 Siehe N. Loraux, L'invention d'Athènes. Histoire de Poraison funèbre dans la »cité classiquc«, Paris 1982. 45 Bonnet, Les morts illustres, S. 217-241; Ders., Naissance du Pantheon. 46 P. Barral, Les fondateurs de la Troisième République, Paris 1968, S. 16-20. 47 M. Ozouf, Peut-on commémorer la Révolution française?, in: Le Débat 26, 1983, S. 162. 48 Zitiert bei D, Kertzer, The Role of Ritual in Political Change, in: M.J. Aronoff (Hg.), Political Anthropology, Bd. 2: Culture and Political Change, New Brunswick 1983, S. 63. 49 Zu der rituellen Symbolen und Botschaften inhärenten Vieldeutigkeit siehe S. Moore u. B. Myerhoff, Introduction. Secular Ritual. Forms and Meanings, in: Dies. (Hg.), Secular Ritual, Assen 1977, S. 18. 50 La République Française, 4.6.1885.

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VOLKER ACKERMANN

Staatsbegräbnisse in Deutschland von Wilhelm I. bis Willy Brandt Die Bezeichnung ›Staatsbegräbnis‹ für die Gesamtheit aller vom höchsten Repräsentanten des Staates angeordneten Trauerfeierlichkeiten für einen oder mehrere Verstorbene etablierte sich in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre.1 Bis dahin existierten verschiedene Ausdrücke wie etwa »Allerhöchstes Leichenbegängnis« im Kaiserreich oder »Beerdigung auf Reichskosten« in der Weimarer Republik. Als übergreifende Bezeichnung soll hier ›Staatsbegräbnis‹ beibehalten werden. Von 1871 bis 1994 gab es in Deutschland 139 Staatsbegräbnisse für einen oder mehrere Verstorbene: 4 im Kaiserreich, 4 in der Weimarer Republik, 71 im Dritten Reich, 22 in der DDR und 38 in der Bundesrepublik, davon bereits 5 nach der Wiedervereinigung (s. Anlage). Eine Tendenz zur ›Demokratisierung‹ der Ehrungsfahigkeit zeigte sich erstmals in der Weimarer Republik. Drei Politiker wurden mit staatlichen Ehren zu Grabe getragen: die Außenminister Walther Rathenau und Gustav Stresemann sowie der Reichspräsident Friedrich Ebert. Außerdem gab es eine offizielle Totenfeier für dreizehn Arbeiter der Krupp-Werke in Essen, die im März 1923 von französischen Besatzungstruppen erschossen worden waren. Das nationalsozialistische Deutschland erweiterte den Kreis ehrungsfähiger Personen: Inhaber staatlicher oder militärischer Führungspositionen zählte der Staat ebenso zu sich wie Architekten, Unternehmer, einen Verleger, einen Ingenieur und sogar einen Abt; hinzu kamen Opfer von Attentaten, Unfällen und Morden. Von den 71 Totenfeiern entfielen 33 auf Militärs, 38 auf Funktionäre des Staates und der Partei, Opfer von Verkehrsunglücken, Kriegshandlungen und Attentaten. Man hat die zahlreichen Staatsbegräbnisse geradezu ein »Charakteristikum« des nationalsozialistischen Deutschland genannt.2 Über diese höchste Form der Auszeichnung Verstorbener kursierten sogar Flüsterwitze.3 Der Grund für die hohe Zahl war jedoch nicht der Zweite Weltkrieg, denn nur 5 von 71 ›Staatstoten‹ starben bei Kriegshandlungen. Zwar wurden 17 Militärs im Laufe des Krieges geehrt, jedoch starben nur 4 von ihnen im aktiven Dienst. Die größte Gruppe setzte sich aus 42 Personen zusammen, die an Altersschwäche oder an Krankheit starben; 14 Personen kamen durch 252 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Unfälle ums Leben, 8 durch Attentat oder Mord und 2 durch Selbstmord, ob freiwillig wie bei Ernst Udet oder erzwungen wie bei Erwin Rommel. In den beiden deutschen Staaten nach 1945 blieb die ›Demokratisierung‹ weitgehend auf das politische Establishment beschränkt. Geehrt wurden vor allem die Gründergestalten wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Carlo Schmid in der Bundesrepublik, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht in der DDR. Das Zentral-Komitee der SED ordnete für Opfer von Unglücksfällen großen Ausmaßes oder Katastrophen Staatstrauer an und ehrte auch Schriftsteller wie Bertolt Brecht die erste DDR-Staatstrauer überhaupt -, Arnold Zweig und mit Anna Seghers erstmals auch eine Frau. Johannes R. Becher, der 1958 mit einem Trauerstaatsakt geehrte Dichter der DDR-Nationalhymne, war seit 1954 Minister für Kultur, hatte also anders als die Vorgenannten ein staatliches Amt inne. Ehrungsfähig waren und sind in der Bundesrepublik alle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich um das deutsche Volk »hervorragend verdient gemacht haben«.4 I. Die Ehrenbezeigungen gegenüber prominenten verstorbenen Verwaltern staatlicher Ämter werden hier als ein Identifikationsangebot interpretiert, das die politischen Repräsentanten gegenüber der gesamten ›Nation‹ aufstellen. Sie identifizieren bestimmte herausragende Persönlichkeiten in so hohem Maße mit dem Staat, daß sie ihren Tod als Identitätsverlust deuten. Sie münzen ihn in einen Gewinn um, indem sie den Verstorbenen durch ein Staatsbegräbnis in das kollektive Gedächtnis der Nation einziehen lassen. Die politischen Repräsentanten setzen bedeutungsvolle Marksteine in die deutsche Geschichte, beschwören die Einheit und Einigkeit aller Staatsbürger und versuchen, ihrer Definition des ›Nationalen‹ einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu geben. In ritualisierter Form betreiben sie so ›politics of death‹. Ein Ritual ist eine formale, weitgehend festgelegte Folge von Handlungen, in der religiöse oder weltanschauliche Grundüberzeugungen und Werte durch zweckorientiertes soziales Handeln aktualisiert werden. Riten der Passage, der Trauer und der Beerdigung binden Menschen in eine Gemeinschaft von kurzer Dauer ein.5 Diese Gemeinschaft ist bei Staatsbegräbnissen die gesamte Nation. Sie soll durch die symbolische Repräsentationskraft des Rituals in das Gemeinschaftsgefühl der Trauer hineingebunden werden. Seit der Gründung des deutschen Nationalstaates wurden Staatsbegräbnisse in der Absicht inszeniert, die Bürger zur Identifikation mit dem Staat 253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

aufzufordern. Sie appellierten an die Nation nicht nur als »gedachte Gemeinschaft« (Benedict Anderson), sondern auch als Solidar- und Überlebensgemeinschaft. Ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im nationalsozialistischen Deutschland oder in der Bundesrepublik und in der DDR - stets stand die Trauergemeinde unter dem offiziellen Appell zur Einheit und Einigkeit. Daher spielte in allen Presseberichten, Reden und sonstigen Handlungen um den Tod eines ›großen Mannes‹ herum das Motiv der Einheit der Nation eine bedeutende Rolle. II. Der im Jahre 1888 verstorbene erste deutsche Kaiser Wilhelm I. erschien in den Nachrufen als Herrscher, der jenseits aller Klassen, Parteien und Sonderinteressen als Symbol der Nationaleinheit die staatliche Gemeinschaft in seiner Person verkörpert habe. »Einmütig aber, jede Parteiung von sich weisend, steht das deutsche Volk an der Bahre seines großen Kaisers«, behauptete die »National-Zeitung« am 9. März, und die »Berliner-Börsen-Zeitung« sah »gleichsam ein ganzes Volk von trauernden Hinterbliebenen«. Am gleichen Tag schrieb der »Württembergische StaatsAnzeiger«, daß die gemeinsame Trauer die Herzen einige und den Blick auf das Vaterland richte; der »unermeßliche Verlust« müsse das »Band zwischen dem Kaiserhaus und dem deutschen Volk fester knüpfen«. Die Länder Bayern, Sachsen, Württemberg, Hamburg und Bremen ordneten Landes- und Heerestrauer an. Die »erste, so bittere Kaisertrauer«, meldete die »Kölnische Zeitung« am 17. März, »hat das deutsche Volk aller Stämme nur noch fester und inniger aneinandergeschlossen«. Selbst aus dem siebzehn Jahre zuvor annektierten Elsaß-Lothringen trafen Beileidsbeweise von Vereinen und Privatpersonen ein.6 Diese Kundgebungen galten offiziell als Bestätigung der Ansicht, die gemeinsame Trauer sei stärker als der deutsche Partikularismus. Schon vor 1888 hatte Bismarck das Kaisertum von 1871 als ein »werbendes Element für Einheit und Zentralisation« bezeichnet.7 Die Totenfeier für Wilhelm I. konnte aber nur dann als Indiz für die erfolgreiche Nationalisierung der Deutschen im Kaiserreich interpretiert werden, wenn man bestehende soziale Spannungen im Innern der Gesellschaft leugnete. So verschleierte etwa das Gerede der ›Verbundenheit‹ von Fürst und Volk, der ›wiedergefundenen Einheit‹, der Integration und Versöhnung aller Deutschen, daß im Jahre 1888 die Sozialdemokraten als ›Reichsfeinde‹ durch das Sozialistengesetz bereits seit zehn Jahren aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Das Motiv der Einheit der Nation zog sich auch durch die vier Totenfeiern der Weimarer Republik, die der Staatsführung die Gelegenheit boten, 254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

für den republikanischen Gedanken zu demonstrieren. Das Staatsbegräbnis für den am 24. Juni 1922 von rechtsextremistischen ehemaligen Offizieren ermordeten Außenminister Walther Rathenau brachte eine für die fragmentierte politische Kultur der Weimarer Republik ungewöhnliche Konstellation zustande. Für kurze Zeit bildete sich aus sonst einander feindlich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Gruppen und Parteien eine Trauergemeinschaft, noch dazu für einen Mann, der durch seine Politik des Ausgleichs mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs keinesfalls populär war.8 Eine Identifikationsfigur für die politische Linke konnte der langjährige Direktor der Allgemeinen Elektrizitäts-Werke zumindest nicht darstellen. Dennoch rief die SPD zu einer »machtvollen Kundgebung des Proletariats« im Berliner Lustgarten auf.9 Die ehemaligen ›Reichsfeinde‹ des Kaiserreiches sollten ihre Bereitschaft demonstrieren, das Deutsche Reich in der Staatsform der Republik gegen die politische Gefahr von rechts zu verteidigen. Eventuelle Zweifel der Parteimitglieder und der Wählerschaft zerstreuend, erklärte der »Vorwärts«, die »sozialistischen Massen« der Arbeiterschaft könnten Rathenau ehren, denn ihr Feind sei nicht der einzelne Kapitalist, sondern das System des Kapitalismus.10 »Der Leiter eines der größten kapitalistischen Unternehmen der Welt war getötet worden«, schrieb der Sozialdemokrat Friedrich Stampfer später in seinen Memoiren, »kommunistische Arbeiter weinten an seinem Grabe und fluchten seinen Mördern«.11 Knapp ein Jahr später wurden für die dreizehn von französischen Besatzungssoldaten erschossenen Krupp-Arbeiter im ganzen Reich Trauerfeiern abgehalten, die »das Gefühl des Zusammenstehens des ganzen deutschen Volkes in diesem Verteidigungskampf« verstärkten, wie der »Lagebericht Deutschland« vom 23. April 1923 meldete.12 Reichskanzler Cuno wollte keine Parteien und keinen Unterschied der Klassen mehr gelten lassen und forderte »alle Stände und Berufe« auf, sich in einer Trauer und Treue zu vereinigen. Den Wettstreit der Parteien akzeptierte er nur noch, wenn er darin bestand, »zu einen, zu tragen, zu opfern«.13 Das Motiv des festen Zusammenschlusses, der wiedergefundenen Einheit der Nation am Sarg des oder der Toten erweiterte sich zur Forderung, für die Dauer des »großen Abwehrkampfes« alle gesellschaftlichen Unterschiede im außenpolitischen Interesse aufzuheben. Die Erfahrung mangelnder Einigkeit und die Hoffnung, diese zumindest für eine kurze Zeit wiederherstellen zu können, prägte auch die Arbeit des Reichskunstwarts Edwin Redslob, der alle Staatsbegräbnisse der Weimarer Republik inszenierte. Redslob sprach der Totenfeier für Friedrich Ebert, dem ersten Präsidenten der deutschen Republik, geradezu eine »heilsame Wirkung« zu. Er sah in dieser Feier »voll Tragik und Schmerz« einen »Appell« an die Deutschen, sich »im Herzen eins zu fühlen« in der 255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Liebe zu Deutschland, das durch die »Tragik seines Entwicklungsweges für unser Gefühl geheiligt« werde.14 Der Reichskunstwart schätzte die Bedeutung von Staatsbegräbnissen für die politische Festkultur Deutschlands recht hoch ein, denn er erkannte darin eine Möglichkeit, die Deutschen emotional an die Republik zu binden, indem er diese in eine sakrale Aura rückte. Allerdings mußte er eingestehen, daß die Repräsentation des Reiches aufgrund der hohen Zahl von Staatsbegräbnissen oft mit »ungeheurem Ernst« verbunden gewesen sei. Diese Tatsache blieb auch für die weitere Geschichte des deutschen Nationalstaats, und besonders in der Bundesrepublik, von Bedeutung, da es viel häufiger traurige oder ernste als freudige Ereignisse waren, aus deren Anlaß der Staat an die Emotionen seiner Bürger appellierte. Immer wieder, so Redslob bereits 1926, hätten gerade tragische Anlässe den Gedanken der Einigkeit des Volkes allen zum Bewußtsein gebracht und den »Reichsgedanken« im deutschen Volk verankert. Aus diesem Grund wertete der Reichskunstwart Staatsbegräbnisse sogar zu »geschichtlichen Ereignissen« auf.15 Im nationalsozialistischen Deutschland setzte die Propaganda die Einheit der Deutschen als ›Volksgemeinschaft‹ immer schon voraus; der Tod eines oder mehrerer ›Volksgenossen‹ stiftete also nicht symbolisch die Einheit der Deutschen, sondern bekräftigte sie. Für die Opfer des Attentats auf Hitler im Bürgerbräukeller fand am 11. November 1939 vor der Feldherrnhalle in München ein Staatsakt statt. In den »Meldungen aus dem Reich« des Sicherheitsdienstes hieß es, das Attentat habe im deutschen Volk das Gefühl der »Zusammengehörigkeit« stark befestigt. Die »Liebe zum Führer« sei noch mehr gewachsen und die Einstellung zum Krieg sei positiver geworden.16 Der »Völkische Beobachter« sah den Sinn dieses Attentates darin, daß sich das deutsche Volk »enger denn je« zusammenschließen und im Vertrauen auf den »Führer« als eine »auf Tod und Leben verschworene fanatische Gemeinschaft« in Erscheinung treten solle.17 In der Zeit nach 1945 bekam die Nation als »gedachte Gemeinschaft« durch die Teilung Deutschlands eine besondere Aktualität. Das erste und einzige ›gesamtdeutsche‹ Staatsbegräbnis fand eineinhalb Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer statt. Im Steinkohlenbergwerk »Karl Marx« in Zwickau hatte am 22. Februar 1960 ein Schlagwetter-Unglück 123 Bergleuten das Leben gekostet. Die DDR zelebrierte ein Staatsbegräbnis, an dem sich auch die Bundesrepublik so beteiligte, wie es in der Zeit des Kalten Krieges möglich war. Am Tag der Beisetzung flaggten alle öffentlichen Gebäude im Bundesgebiet und alle westdeutschen Bergwerke halbmast, und der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen sprach im Rundfunk von 72 Millionen Deutschen, die von dem Unglück »zutiefst betroffen« seien. Wem die Einheit des deutschen Volkes im Laufe der Jahre zu 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

einer »bloßen Formel« geworden sei, der habe sie in der gemeinsamen Trauer um die Toten »unmittelbar erfahren« können.18 III. Zweifellos kann kollektive Trauer nicht nur am Ort des Geschehens vom einzelnen authentisch erlebt werden. Formulierungen wie »zutiefst betroffen« und »unmittelbar erfahren« suggerieren, daß die Staatsbürger das Identifikationsangebot der politischen Repräsentanten tatsächlich angenommen haben. Allerdings bezogen und beziehen Staatsbegräbnisse ihre Wirkung zu einem großen Teil eben daraus, daß sie ›vermittelte‹ Ereignisse sind, also Medienereignisse. Die nationale Botschaft von oben, von Staat und Eliten, gelangt durch Massenmedien als Instrumente der Sofortintegration nach unten. Nicht jedes der 139 Staatsbegräbnisse vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik wurde im gleichen Maße als Medienereignis inszeniert. Singuläre und ausdrücklich aus dem Alltag herausgehobene Ereignisse waren, um nur zwei Beispiele anzuführen, die Totenfeiern für Wilhelm I. und Konrad Adenauer. Beim Tod des ersten deutschen Kaisers strömten so viele Beweise der Anteilnahme und Trauer aus allen Teilen der Welt nach Berlin, daß die »National-Zeitung« am 12. März 1888 überwältigt feststellte, etwas auch nur entfernt Ähnliches habe die Geschichte nicht zu verzeichnen. Trauernd und tief bewegt umgebe der »ganze Erdkreis« die Bahre, da erstmals in der Weltgeschichte die Erde durch das neue Kommunikationsmittel des Telegrafen zu einer großen »Gemeinde« vereinigt worden sei. Die Teilnahme am Tod eines Monarchen in dieser Ausdehnung, verkündete Bismarck am 19. März im Reichstag, sei etwas in der Geschichte »schwerlich Dagewesenes«. Gewiß habe der Tod großer Männer wie Napoleon I., Peter der Große und Ludwig XIV. in weiten Kreisen Aufsehen erregt, aber so »hochgefürstet« sei noch kein Monarch gewesen, »daß alle Völker der Erde, ohne Ausnahme, ihm beim Hintritt ihre Sympathie, ihre Theilnahme, ihre Trauer am Sarge zu erkennen gegeben haben«.19 Ahnlich stark war die weltweite Anteilnahme am Tod des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik. Adenauer starb am 19. April 1967; mit einem großen Echo auf diese Nachricht im In- und Ausland konnte gerechnet werden. Die tatsächliche Reaktion übertraf diese Erwartung in einem Maße, die Kardinal Frings beim Pontifikal-Requiem im Kölner Dom zu dem Eingeständnis veranlaßte, niemand sei auf das gefaßt gewesen, was in den letzten Tagen geschah: Das Volk defilierte in »Scharen« an der Leiche vorbei, eine »halbe Welt« geriet in Bewegung und »führende Männer« kamen nach Bonn und Köln, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.20 257 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Mehr als hundert Botschafter, zwanzig Außenminister, fünfzehn Staatspräsidenten und Regierungschefs, darunter die Präsidenten Frankreichs, der USA und Israels nahmen an Adenauers Begräbnis teil, das vom Fernsehen in neunzehn Länder übertragen wurde. Heinrich Böll kritisierte diese Totenfeier als ein »Schau- und Schauerstück personifizierter Machtüberheblichkeit«, als ein »pompöses Pontifikalrequiem« und als ein »churchillistisch inszeniertes Staatsbegräbnis«.21 Der langjährige und wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittene Staatssekretär und Vertraute Adenauers, Hans Globke, hatte sich bei der Ausarbeitung des Rituals von einem 1965 gedrehten Film über Churchills Überführung auf der Themse dazu inspirieren lassen, Adenauers Sarg auf einem Schiff von Köln nach Rhöndorf zu transportieren. Die politischen Repräsentanten interpretierten die weltweite Anteilnahme am Tod eines ›großen Mannes‹ als Anerkennung des Ranges und Einflusses, den sich Deutschland in der Welt erworben hatte. Vergleiche mit vergangenen Großereignissen sollten das aktuelle ›unerhörte Ereignis‹ im Glanze unüberbietbarer Superlative erstrahlen lassen. Neue Kommunikationsmittel wie der Telegraf im Kaiserreich, Radio und Wochenschau in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus sowie das Fernsehen in Bundesrepublik und DDR machten Staatsbegräbnisse zu Medienereignissen. Die Staatsakte für den Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer und für den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder, beide Opfer eines terroristischen Anschlags, wurden live vom Fernsehen übertragen und verstärkten so die offizielle Absicht, die Totenehrung mit einer staatsbürgerlichen Lektion zu verbinden und zur Verteidigung der Demokratie gegen den Terrorismus aufzurufen. Dabei kamen sich zwei Interessen entgegen: die Regierung wollte die Teilnahme des Volkes an ihren öffentlichen Selbstenthüllungen garantieren, die zu großen Teilen ereignisfixierte Presse ein ›unerhörtes Ereignis‹ berichten. Die Medien unterstützten und potenzierten die Absicht der politischen Repräsentanten bei der Inszenierung solcher Feiern. Sie meldeten die offiziellen Aufrufe zur Einheit und Einigkeit sowie deren Vollzug durch die Trauergemeinde. Staatsbegräbnisse setzten einen für Mediengesellschaften typischen Mechanismus in Gang.22 Die Nachricht von der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy im November 1963 wurde so schnell verbreitet und rief so viele spontane Reaktionen der Anteilnahme hervor, daß Ernst Jünger einen »eruptiven Ausbruch von Weltsympathie« verzeichnete.23 Daß die Bedeutung eines verstorbenen ›großen Mannes‹ in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Aufwand stehen kann, der in den Medien getrieben wird, hat auch Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Bei der Nachricht von der Erkrankung eines mächtigen Staatsmanns« durchschaut.24 258 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

IV. ›Große Männer‹ wurden oft so dargestellt, als seien sie mit mythischem Glanz umgeben, aus dem Alltag herausgehoben und dem Volk entrückt. Reden und Rituale ließen das Irrationale als ein wichtiges Merkmal des Politischen erscheinen. So nannte etwa Jacob Burckhardt den im Jahre 1887 neunzigjährigen ersten deutschen Kaiser ein »Mysterium unserer Tage«.25 Die »Illustrirte Zeitung« schrieb von dem zu Grabe getragenen »Helden«, mit dem die Zeitepoche des 19. Jahrhunderts bestattet werde.26 Auch in der ersten deutschen Republik bediente sich die politische Rede nicht selten der Mystifizierungen. Als »Märtyrer seiner Überzeugung und seiner idealen vaterländischen Gedanken und Bestrebungen« wurde Walther Rathenau vom Vizepräsidenten des Reichstags bezeichnet.27 Die dreizehn von französischen Soldaten erschossenen Krupp-Arbeiter nannte Reichskanzler Cuno »Kämpfer«, die im »freien deutschen Opferwillen« gefallen und als »Märtyrer« ein Symbol des »gemeinsamen deutschen Schicksals« seien.28 Friedrich Ebert habe in seiner Amtszeit die »schwere Last... für uns getragen«, spielte der Reichstagspräsident Paul Löbe auf das christliche Leidensmotiv an.29 Bei Stresemanns Tod wurde der später so genannte »Stresemann-Mythos« inszeniert, also die Legende vom Vorkämpfer der europäischen Integration und der nachbarschaftlichen Versöhnung.30 Stresemann hatte für seine Politik des Ausgleichs mit Frankreich 1926 gemeinsam mit dem französischen Außenminister Briand den Friedensnobelpreis erhalten. Sein oberstes politisches Ziel allerdings war die Erneuerung der deutschen Hegemonie in Europa. Die Verständigung mit Frankreich und der Eintritt in den Völkerbund sollte den Einfluß des westlichen Nachbarn zurückdrängen und freies Spiel für die friedliche Korrektur der Ostgrenzen schaffen. Vor allem die Nationalsozialisten erwiesen sich als professionelle Mythenschöpfer. Opfer von Verkehrsunfällen wurden zu »Märtyrern« erklärt, die durch ihren Tod einen »Beitrag« zum Freiheitskampf des deutschen Volkes geleistet hätten. Das erste große Staatsbegräbnis des ›Dritten Reiches‹ für Paul von Hindenburg feierte nicht den zweimaligen Reichspräsidenten der Weimarer Republik, sondern den Sieger der Schlacht von Tannenberg und den Mann, der Hitler die Macht übergeben hatte. Hindenburg, der von 1847 bis 1934 lebte, wurde als »Symbol des deutschen Schicksals« bezeichnet, als »Brücke« und »Bindeglied« zwischen Vergangenheit und Gegenwart; der »Kreislauf eines wunderbaren Lebens« habe sich sinnvoll geschlossen. Mit der »großen« Vergangenheit waren die Einigungskriege von 1864, 1866, 1870/71 und die Schlacht bei Tannenberg von 1914 gemeint. Obwohl das eigentliche Verdienst am Sieg über die russische Armee dem General Hoffmann zukam und nicht Hindenburg, 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der während der Schlacht im Bett gelegen und geschlafen hatte, verklärten die Nationalsozialisten den greisen »Vater des Vaterlandes« zum »Symbol deutscher Pflichterfüllung«, der als zweimaliger Reichspräsident des Deutschen Reiches schließlich auch in Friedenszeiten »der nationale Mythos des deutschen Volkes« geworden sei.31 Die Nationalsozialisten nutzten die durch Hindenburg verkörperte legitimierende Kraft der Tradition, um ihre »Revolution« als »Bund« der alten mit der neuen Generation darzustellen. Bei der offiziellen Totenfeier im Tannenberg-Denkmal stilisierte Hitler das Jahr 1933 zum mythischen Ereignis. Er präsentierte Hindenburg, der sich auf Drängen seiner Ratgeber schließlich dazu durchgerungen hatte, den »böhmischen Gefreiten« zum Reichskanzler zu ernennen, als alles entscheidenden Akteur, der aufgrund der »wundersamen Fügungen einer rätselhaften weisen Vorsehung« das »Tor der deutschen Erneuerung« geöffnet habe.32 Als Reichspräsident sei der Generalfeldmarschall zum »Schirmherr der nationalsozialistischen Revolution« geworden; einem »mystischen Bogen gleich« spanne sich sein Leben von der Revolution 1848 bis zur »nationalen Erhebung« 1933, dem »Wunder dieser neuen Auferstehung«. Hitler krönte seine mythische Rede, indem er dem gläubigen Christen evangelischer Konfession nachrief: »Toter Feldherr, geh' nun ein in Walhall!«33 V. Staatsbegräbnisse wurden bis auf wenige Ausnahmen stets im Raum bürgerlicher Öffentlichkeit, in geschlossenen Repräsentationsräumen und auf der Straße zelebriert. Über den Kreis der offiziell Eingeladenen hinaus legten die politischen Repräsentanten Wert auf die Beteiligung der Bevölkerung, in der sie eine Zustimmung zu der Politik erblickten, die der Verstorbene verkörpert hatte. Staatsbegräbnisse präsentierten der Nation einen sich im Dienst der res publica verzehrenden Politiker.34 Der FDPPolitiker Erich Mende äußerte in einem Gespräch mit seinem Parteifreund Thomas Dehler kurz vor dessen Tod den Gedanken, die Öffentlichkeit müsse von Zeit zu Zeit erfahren, daß Politik nicht nur »Undank« sei. Offizielle Totenehrungen setzten immer auch auf die Akzeptanz und Folgebereitschaft großer Teile der Bevölkerung; sie sollten mehr sein als nur eine Prärogative der politischen Repräsentanten, mit der allenfalls Schaulustige am Ort des Geschehens motiviert werden konnten. Ein Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich auch bei Staatsbegräbnissen: die Öffentlichkeit war männlich dominiert. Nur drei Frauen waren ehrungsfähig, nämlich die Kaiserinnen Augusta und Viktoria sowie die Schriftstellerin Anna Seghers. Politiker, Soldaten und Geistliche besetz260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ten den öffentlichen Raum, Männer redeten über Männer und bezeichneten sie als »groß«, als »Vater« und als »Patriarchen«. Der Frau, die sich verschleiert oder mit Tränen in den Augen zeigte, wurde die Rolle eines Familienmitgliedes zugewiesen, das Emotionen wie Mitleid und Trauer ansprechen konnte. Darüberhinaus sollte die öffentlich trauernde Ehefrau, Tochter oder Mutter den Konsens von privater Trauer und staatlicher Repräsentation signalisieren. Die Erfahrung, daß der Staat sich notfalls über die Wünsche der Angehörigen hinwegsetzen konnte und seinem Repräsentationsbedürfnis den Vorrang einräumte, veranlaßte z.B. den Bundespräsidenten Heuss dazu, die Form seiner Beisetzung detailliert festzulegen und den Anteil des Staates an dieser auf das absolut notwendige Minimum zu begrenzen.35 Staatsbegräbnisse bekräftigten noch eine weitere Trennungslinie, die nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Akteuren und Zuschauern verlief. Die Handlungsebene der politischen Repräsentanten und die Handlungsebene der Staatsbürger waren deutlich voneinander geschieden. Zu einem Staatsbegräbnis gehörten meist Aufbahrung und Defilee, religiöse oder politische Trauerfeier, militärischer Trauerkondukt, militärisches Abschiedszeremoniell, Beisetzung mit militärischen Ehren sowie gelegentlich ein Kondolenzdefilee. Einen neuen Stil staatlicher Repräsentation ermöglichte erstmals die Totenfeier für Friedrich Ebert. Neu daran war, daß der Trauerkondukt, der vom Palais des Reichspräsidenten zum Reichstag führte und von dort zum Potsdamer Bahnhof, nicht mehr nur für die Repräsentanten reserviert war, sondern jedem offenstand, der sich anschließen wollte. Damit war die Trennung zwischen beiden Handlungsebenen aufgehoben, die Distanz von politischen Repräsentanten und Staatsbürgern durch diese Form der Partizipation symbolisch überwunden. Das Volk, das die Verfassung der Weimarer Republik als Subjekt bezeichnete, trat auch als Subjekt der Feier auf, so daß der neue Stil der republikanischen Totenfeier etatistische und plebiszitäre Elemente verband. Diese Tradition wurde später nicht mehr weitergeführt. Die Nationalsozialisten trennten Kondukt und Bevölkerung strikt voneinander und brachten die vielbeschworene Einheit von Führung und Gefolgschaft rituell nicht zum Ausdruck. Die Aktion der Masse beschränkte sich auf das Defilee und das bloße Zuschauen. In der Bundesrepublik und in der DDR hat sich daran nichts geändert, selbst nicht bei solchen Totenfeiern, die keine Staatsbegräbnisse waren, aber dennoch viele Menschen mobilisierten. Als im Jahre 1952 der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher starb, wurde seine Leiche per Auto von Bonn nach Hannover überfuhrt, wobei den ganzen Weg entlang trauernde deutsche Staatsbürger Spalier standen. Carlo Schmid konnte sich dieses »Trauerspalier der Namenlosen« nur dadurch erklären, daß das deutsche Volk in dem Verstorbenen den »Mentor« sah.36 261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Der spätere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Kühn bewunderte die spontane Anteilnahme der Bevölkerung, die »Verehrung« und »Liebe« der »Hunderttausende«, die »geduldig und schweigend« auf »ihren Kurt« gewartet hätten, die »Männer von Kohle und Stahl mit ihren Frauen und Kindern«.37 Staatliche Repräsentation bei offiziellen oder offiziösen Totenfeiern reduzierte also die Kommunikation zwischen Regierung und Volk. Das Volk stand »stumm« und »ehrfürchtig« am Straßenrand oder defilierte mit Tränen in den Augen vor dem Sarg. Die stumme Teilnahme wurde, um es in einem paradoxen Ausdruck zu sagen, gleichsam als stillschweigende Akklamation gewertet; das Schweigen der Menge legitimierte den Geltungsanspruch politischer Herrschaft. Die weihevolle Stille verband das ›Nationale‹ mit der Aura des ›Unnahbaren‹ und ›Sakralen‹. Ein zentrales Wesensmerkmal der parlamentarischen Demokratie, die öffentliche Rede, blieb den Repräsentanten vorbehalten. VI. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik gab es bei Staatsbegräbnissen zwei Redetypen. Predigten waren bei Wilhelm I. und Friedrich III. die ausschließliche offizielle Form, den verstorbenen Summus Episcopus zu würdigen. In der ersten deutschen Republik war eine Predigt niemals Teil des Staatsaktes. Im ›Dritten Reich‹ wurden erst 1937 kirchliche und weltliche Feier strikt voneinander getrennt. Die politische Rede dominierte die Trauerfeierlichkeiten. Predigten gehörten in der DDR nicht zur staatlichen Repräsentation; in der Bundesrepublik dagegen konnten weltliche und geistliche Reden durchaus am selben Ort und unmittelbar aufeinander folgend gehalten werden. Jeder Nekrolog ist fragmentarisch und auf den momentanen Zweck ausgerichtet. Er ist eine Form der Gebrauchsprosa, vermittelt einen ersten, korrekturbedürftigen Eindruck und kann der Forderung nach Objektivität nicht genügen, zumal die Anwesenheit von Angehörigen des Toten bei der Trauerfeier Zensurbedingungen schafft. Die Skala möglicher Verhaltensweisen für den Redner reicht von Weglassungen, Beschönigungen und einseitigen Wertungen bis hin zur glatten Lüge. Liest man etwa die Nachrufe auf Ebert, so erkennt man unschwer die Versuche einer posthumen Wiedergutmachung und das Bemühen der sozialdemokratischen Presse, vergangene Konflikte nachträglich zu glätten und auf Spannungen und Zerwürfnisse mit dem als »Staatsmann« Bezeichneten lediglich anzuspielen. Die Nekrologe vermittelten auch eine bestimmte Interpretation der Revolution von 1918/19: Nur das Zusammen262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

gehen der Mehrheitssozialdemokratie unter Ebert mit dem kaiserlichen Offizierskorps und der alten Bürokratie und die dadurch mögliche militärische Niederwerfung der revolutionären Kräfte habe den Boden für die Errichtung einer parlamentarischen Republik bereitet und Deutschland vor dem Schicksal bewahrt, dem Bolschewismus anheimzufallen. Die historische Forschung hat inzwischen ergeben, daß die Chancen zur revolutionären Umgestaltung größer waren, aber nicht genutzt wurden.38 Als Meister im Verschweigen, Umdeuten und Verfälschen der Wahrheit erwiesen sich die Nationalsozialisten. Im Jahre 1936 hielt Hitler eine Rede beim Staatsbegräbnis für Wilhelm Gustloff, den bis dahin völlig unbekannten Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz, der von dem deutschen Juden David Frankfurter ermordet worden war. Hitler verstieg sich zu der Behauptung, die NS-Bewegung habe nie einen Gegner ermordet und nie ein Attentat verübt. Der zu dieser Zeit im Schweizer Exil lebende Thomas Mann notierte in seinem Tagebuch, Hitler sei ein »drolliges Staatsoberhaupt« und wertete seine Rede als einen wahren »Schreikrampf von Unsinn und Lüge«.39 Als sechs Jahre später Reinhard Heydrich, der Gestapo-Chef und Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, in einem pompösen Staatsbegräbnis von Prag nach Berlin überführt wurde und Himmler die Totenrede hielt, kommentierte Thomas Mann in einer seiner Rundfunkansprachen an »Deutsche Hörer«: »Zu Hause wird ihm [Heydrich] ein pomphaftes Staatsbegräbnis verordnet, und ein anderer Metzgermeister sagt ihm am Grabe nach, es sei eine reine Seele und ein Mensch von hohem Humanitätsgefühl gewesen. Das alles ist verrückt.«40 Die Erfahrung der bei zahlreichen Staatsbegräbnissen im NS-Deutschland getriebenen Propaganda veranlaßte die politischen Repräsentanten der Bundesrepublik zu einer deutlichen Distanzierung, indem sie zunächst den Begriff »Staatsbegräbnis« durch »Ehrenbegräbnis« ersetzen wollten. Auf die alte Bezeichnung griffen sie allerdings schon bald wieder zurück, ohne jedoch damit ein Ritual wiederbeleben zu wollen, das zwischen 1933 und 1945 ganz wesentlich zur nationalsozialistischen Selbstinszenierung gehört hatte. Der Satz »De mortuis nihil nisi bene« galt allerdings nach wie vor. Bei der offiziellen Würdigung des verstorbenen Alt-Bundeskanzlers Konrad Adenauer verfuhr Eugen Gerstenmaier auf eine Weise, die er künftigen Rednern bei ähnlichen Gelegenheiten als vorbildlich empfahl. Nicht »Beschönigung«, sondern »Takt« hielt er für geboten. Der Redner dürfe niemals etwas sagen, das von seinem eigenen »Wahrheitsbewußtsein« nicht gedeckt werde.41 Gerstenmaier hatte Adenauer einen »sensiblen Mann« von »tiefem Gefühl« genannt und ihn als »unentwegten Denker« gerühmt, den nur der »Kern der christlich-abendländischen Tradition« davor zurückgehalten habe, ein »Zyniker« zu werden.42 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

VII.

Die Nekrologe, die mit Hilfe der Medien ein großes Publikum erreichen, spiegeln das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der politischen Repräsentanten wider. Weil bei einem Staatsbegräbnis in aller Regel ein männliches Individuum im Zentrum der preisenden Rede steht, wird suggeriert, daß es die ›großen Männer‹ sind, die Geschichte machen.43 Bei Staatsbegräbnissen wird die Geschichte in diesem Sinne als Werk weniger von Gesamt- oder Massenkräften als vielmehr von individuell handelnden Menschen präsentiert. Jeder Redner bei einer Totenfeier ist bestrebt, den Anteil des Verstorbenen an der Geschichte zu maximieren. Geschichte und Politik erscheinen daher in offizieller Rede als Bereiche, in denen der einzelne nicht ein Agent anonymer Sachzwänge ist, sondern ein Gestalter und Veränderer von Strukturen. Beim Tod Wilhelms I. bezeichnete Bismarck etwa den »greisen Kaiser« als Vollender der nationalen Einheit, der ein starkes Königtum mit der nationalen Idee versöhnt, die »Nationalität des Volkes« konsolidiert und die »moralische Obmacht« in Europa errungen habe - seine eigene Rolle bei der Reichsgründung trat dagegen völlig in den Hintergrund.44 Der Kaiser wurde als Akteur präsentiert, obwohl seine tatsächlichen Machtchancen vergleichsweise gering gewesen waren. Auch in der Weimarer Republik wurden Rathenau, Ebert und Stresemann als Initialakteure dargestellt, als »Vorkämpfer und Verfechter der Demokratie«,45 als »Führer und Wegebereiter zu besseren Zeiten«.40 Der unerwartete und frühe Tod aller drei Politiker zerstörte Hoffnungen auf eine dauerhafte Stabilisierung der Republik - selbst der Tod war »AntiRepublikaner«.47 Rathenau und Ebert standen im Alter von 54 Jahren; der eine wurde ermordet, der andere unterzog sich nicht rechtzeitig einer Blinddarm-Operation. Stresemann erlag im Alter von 51 Jahren einem Schlaganfall. Die Erfahrung des frühzeitigen Todes von politischen Akteuren bestimmte die Erwartungshaltung gerade derjenigen Deutschen, die ein emotionales Verhältnis zur Republik gefunden hatten. Reichskunstwart Redslob stellte nach Stresemanns Begräbnis die skeptische Frage, was aus Deutschland werden solle, »wenn immer die Besten vor der Zeit uns genommen werden: Walther Rathenau, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann«.48 Es entsprach dem Selbstverständnis der politischen Repräsentanten als Elite, immer wieder »große Männer«, »Führerpersönlichkeiten« und die »Besten« zu rühmen. Das galt auch für die Nekrologe der Nationalsozialisten. Dem im Jahre 1942 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt, sprach Goebbels die Fähigkeit zu, »Geschichte« zu machen.49 Hitler sah in der Anteilnahme der Deutschen an diesem Todesfall geradezu eine Legitimati264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

on seiner Herrschaft; in einem Tischgespräch erklärte er, das deutsche Volk sei deshalb so tief erschüttert, weil es wolle, »daß die besten Köpfe fuhren«.50 Auch die Totenreden der DDR rückten die Rolle der Massen in der Geschichte kaum ins Zentrum der preisenden Rede. Über Wilhelm Pieck hieß es, er habe die Arbeiterklasse zum »bestimmenden Faktor« der Gesellschaft gemacht. Folgt man Walter Ulbrichts Totenrede über Otto Grotewohl, so hatte der Verstorbene aus der »Zeit des Faschismus« gelernt, daß nur die »geeinte Arbeiterklasse Imperialismus und Militarismus überwinden« könne.51 Personenkult war damit nicht ausgeschlossen. Pieck und Grotewohl wurden als »Vater des Vaterlandes« und als »Patriarchen« gerühmt und zu den »Besten« des deutschen Volkes gezählt. In der Bundesrepublik wurden beim Staatsbegräbnis für Adenauer gleich zwei Kronzeugen für das offizielle Geschichts- und Politikverständnis angeführt: Leopold von Ranke mit dem Wort, daß »große Männer« ihre Zeiten nicht schaffen, aber auch nicht von ihnen geschaffen werden, und Max Weber mit seinem Diktum von Leidenschaft und Augenmaß als den entscheidenden psychologischen Qualitäten des Politikers.52 Allerdings stehen Ranke und Weber mit ihren Arbeiten gerade nicht für das Motto »Männer machen Geschichte«. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten der Totenreden, daß beide Anschauungen von der Rolle des Individuums in der Geschichte unvermittelt nebeneinander stehen können. Das zeigt z. B. das Staatsbegräbnis für den im Oktober 1992 verstorbenen Willy Brandt. Die Überzeugung des Alt-Bundeskanzlers wurde zustimmend wiedergegeben, derzufolge es vor allem die Menschen selbst seien, die ihre Verhältnisse ändern könnten. Bundespräsident Richard von Weizsäcker nannte ihn einen »Großen« und eine »geschichtliche Gestalt unseres Jahrhunderts«, der die deutsche Geschichte »auf sich« genommen habe. Er habe eine Epoche geprägt, er habe die Deutschen mit sich selbst versöhnt, und er habe das Verhältnis der Deutschen zur Welt wie auch der Welt zu Deutschland verändert.53 Der Tod und die Beisetzung Willy Brandts riefen in der Bevölkerung viele spontane Reaktionen hervor. Wie sehr dabei ›Nation‹ und ›Emotion‹ zusammengebracht wurden, zeigen Leserbriefe an das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, in denen dem Verstorbenen »Humanität«, »Vertrauen« und »Zuversicht« nachgerühmt wurden; der »jungen Generation« und dem »kleinen Mann« sei er ein Vorbild gewesen. Auch wurde die Befürchtung geäußert, jetzt werde es »noch kälter« in Deutschland.54 In den offiziellen Reden wurde die »Wärme« von Brandts »nimmermüder Menschlichkeit« hervorgehoben. Seine Autorität und Glaubwürdigkeit seien nicht an sein Amt, sondern an seine Person gebunden gewesen. In einer Zeit, in der viel von »Politikverdrossenheit« gerade auch der Jugend 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die Rede war, erschien der von keiner NS-Vergangenheit belastete Brandt als glaubwürdiger Politiker, der Macht und Moral in seiner Person verbinden konnte. Er war eine Identifikationsfigur für alle ›guten‹ Traditionen der deutschen Nation, für das ›andere‹ republikanische, soziale und europäische Deutschland. Offensichtlich tragen Staatsbegräbnisse einem Bedürfnis nach Personalisierung von Politik Rechnung. Das Angebot zur Identifikation der Regierten mit den Regierenden soll an Attraktivität gewinnen, wenn diese als Akteure präsentiert werden, die durch ihre Handlungen etwas verändern und gestalten. Dies ist gerade die Voraussetzung für ihre Ehrungswürdigkeit, die in der oft den Nekrolog beschließenden Formel »Er hat sich um unser Volk verdient gemacht« ausgedrückt wird. Nur auf diese Weise kann der Tod eines Politikers als Identitätsverlust oder als schwerer Verlust an politischer Substanz interpretiert werden.

VIII. Bei Staatsbegräbnissen wurden die Politiker oft als ›große Männer‹ und vereinzelt sogar als ›mythische Gestalten‹ präsentiert, während genuin demokratische oder republikanische Identifikationsangebote eher selten gemacht wurden. In der Weimarer Republik hätte es nahegelegen, auf die errungene Demokratisierung hinzuweisen, wenn die soziale Herkunft der Verstorbenen das zuließ. So schrieb die »Vossische Zeitung« am 4. März 1925 über Eberts Begräbnis, zum ersten Mal habe auf deutscher Erde ein Leben, das in einer Bürgerwiege begann, im Staatssarge unter der Reichsflagge geendet. Zu Stresemann bemerkte die »Frankfurter Zeitung« am 7. Oktober 1929, daß es in dem alten, von Stresemann selbst so lange verherrlichten Kaiserreich, undenkbar gewesen wäre, den »Sohn eines Bierwirts« so zu Grabe zu tragen. In den offiziellen Nekrologen allerdings war die durch die Republik errungene Gleichheit aller Staatsbürger kein Thema oder wurde nur beiläufig erwähnt. Reichskanzler Luther sprach von Eberts Herkunft »aus der breiten Masse des Volkes, der zu entstammen er sich stets mit Stolz rühmte«, lobte aber vor allem die Bemühungen des Reichspräsidenten um das »Hineinwachsen des Staatsgedankens in die gesamte Arbeiterschaft«.55 Dem parteilosen, der Deutschen Volks-Partei nahestehenden Luther galt die »nationale Gesinnung« Eberts und sein Anteil am Wiederaufstieg Deutschlands zu einer »geachteten Stellung« weitaus mehr als dessen Herkunft aus den »einfachen Schichten des Volkes«.56 Auch Stresemann wurde im offiziellen Nekrolog als ein Mann präsentiert, der sich »aus eigener Kraft emporgearbeitet« hatte und alles, 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

was er erreichte, nur sich selbst verdankte.57 Die erfolgreiche Karriere des Reichskanzlers und Außenministers wurde also nicht mit der Chancengleichheit begründet, sondern mit seiner eigenen Leistung. Demokratisierung als die Errungenschaft der Republik blieb aus dem Grund deutlich hinter ›Überparteilichkeit‹ und ›Patriotismus‹ zurück, weil die politischen Repräsentanten der Weimarer Republik aus der Defensive argumentierten. Sie mußten der politischen Rechten das Monopol auf den ›wahren‹ Patriotismus bestreiten. Aus diesem Grund machten sie ein Identifikationsangebot, das Demokratie und Republik nicht in einen Gegensatz zu Vaterland und Nation brachte, sondern im Gegenteil als zusammengehörig darstellte. Ins Feld geführt wurden etwa bei Rathenaus Totenfeier »sittliches Empfinden« und »vaterländisches Gefühl« der Deutschen, das »sittliche Prinzip der Nation« und der »nationale Gedanke« als der notwendigen Grundlage der Demokratie, der nicht nur einer Partei oder einer Bewegung angehöre, sondern allen deutschen Staatsbürgern, ungeachtet ihrer Rasse und ihres Glaubens.58 Stresemann wurde als »treuer« und »glühender Deutscher«, als »leidenschaftlicher Patriot« von »echter Vaterlandsliebe« bezeichnet. Der ehemalige Monarchist habe unsentimental und mit klarem politischem Sinn die Notwendigkeit erkannt, auf der Grundlage der Weimarer Verfassung das Vaterland aufzubauen. Stresemann habe sich aufgrund »echter Vaterlandsliebe« für die Republik entschieden und nach Inflation und Ruhrbesetzung in nur sechs Jahren erreicht, daß Deutschland, nachdem es »von der Gemeinschaft der übrigen Kulturvölker ausgeschlossen werden sollte«, als Großmacht anerkannt, im Völkerbund angesehen und im Kreis der Nationen gleichberechtigt sei.59 Spezifisch republikanische Qualitäten wurden nicht oder nur in der Negation der Werte des Kaiserreiches genannt. Was dagegen profiliert vorgetragen wurde, waren zwei Typisierungen, die seitdem immer wieder bei Staatsbegräbnissen eine Rolle spielen: der »Staatsmann« und der »Führer«. Rathenau wurde als »ein wirklicher Staatsmann, Führer der Nation« bezeichnet, Ebert als ein »Führer unseres Volkes und Staates in schwerster Zeit«. In ihm sei erstmals das »neue demokratische Führertum« Gestalt geworden, schrieb die »Berliner Volks-Zeitung« am 5. März 1925. Stresemann wurde von seiner Partei als »Führer« apostrophiert, weil er alle Kräfte des deutschen Volkes zusammengefaßt und den Wiederaufstieg der Nation ermöglicht habe. Der sozialdemokratische Reichskanzler Müller rühmte Stresemanns »Führernatur«; er sei ein großer »Staatsmann und Führer« gewesen. Nach solchen werde zwar oft gerufen, die Parteien würden ihnen dann aber nur widerstrebend folgen. Einen Verstorbenen als »Kämpfer« und »Führer« zu typisieren, gehört seit der Weimarer Republik zu den Topoi politischer Nekrologe, die je nach Regierungssystem verschieden interpretiert wurden. Dies scheint eine über soziale Differenzierungen und 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

kulturelle Unterschiede hinweg universalisierbare Form zu sein, denn auch Willy Brandt wurde vom spanischen Ministerpräsidenten als ein »Staatsmann«, »politischer Führer« und »Kämpfer für den Frieden« bezeichnet. IX. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik hat sich die Ahnengalerie deutscher Politiker mit ›mythischen Gestalten, ›Märtyrern‹ und ›Opfern‹, mit ›Kämpfern‹, ›Führern‹ und ›Staatsmännern‹ bevölkert, während explizit als Demokraten bezeichnete Personen selten zu finden sind. Identifikationsangebote, die sich nicht mehr am klassischen Nationalstaat orientierten, wurden erstmals bei Stresemanns Totenfeier gemacht: Der Außenpolitiker, so Reichskanzler Müller im Reichstag, habe den Wiederaufstieg Deutschlands mit demjenigen Europas gekoppelt und damit der »Menschheit« gedient.60 38 Jahre später wurde Adenauer besonders deswegen gepriesen, weil er dem souveränen Nationalstaat »entschieden abgesagt« und die Einigung Europas betrieben habe.61 Die Trias »deutscher Patriot, Europäer und Weltbürger« - zuletzt auf Willy Brandt bezogen - scheint in der Bundesrepublik zum nicht mehr überbietbaren Panegyrikus [Lobrede] avanciert zu sein. Diese Trias entspricht den politischen Aufgaben, die sich die Bundesregierung nach 1989 gestellt hat: die Einigung Deutschlands im Innern, die Einigung Europas und die »Mitverantwortung in der Welt«.62 Die Staatsbegräbnisse der Bundesrepublik haben sich damit, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung der pervertierten nationalsozialistischen ›politics of death‹, vom klassischen Nationalstaatsdenken gelöst und bieten zunehmend Identifikationsangebote, die über den deutschen Nationalstaat hinausweisen.

Anhang: Staatsbegräbnisse in Deutschland (1888-1992) Weimarer Republik

Kaiserreich 1888 16.03. 18.06. 1890 11.01. 1901 08.08.

Wilhelm I. Friedrich III. Augusta Viktoria

1922 27.06. Walther Rathenau 1923 10.04. Dreizehn Arbeiter der Krupp-Werke Essen 1925 04.03. Friedrich Ebert 1929 06.10. Gustav Stresemann

268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

›Drittes Reich‹ 1933 06.02. 14.09. 16.09. 1934 24.01. 25.01. 10.04. 07.08. 24.10. 12.12. 1935 07.02. 09.03. 26.10. 1936 12.02. 03.06. 06.06. 30.12. 1937 22.03. 18.04. 17.06. 22.06. 22.12. 1938 04.10. 17.11. 1939 03.02. 19.02. 27.03. 23.05. 02.07. 25.08. 26.09. 11.11. 1940 30.08. 15.10. 1941 01.02.

Hans Maikowski Zehn SA-Männer Reinhold Muchow Paul Ludwig Troost Hannes Miebach Karl von Einem Paul von Beneckendorff und Hindenburg Alexander von Kluck Gustav Zunkel Wilhelm Freiherr Marschall von Bieberstein Hans Schemm Wilhelm Loeper Wilhelm Gustloff Karl Litzmann Walther Wever Hans von Seeckt Felix Graf von Bothmer Max von Gallwitz Matrosen des Panzerschiffs »Deutschland« Alban Schachleiter Erich Ludendorff Alfred Krauss Ernst vom Rath Otto Eberhardt Hubert Klausner Gerhard Wagner Friedrich Graf von der Schulenburg Wilhelm Knochenhauer Oskar Freiherr von Watter Werner Freiherr von Fritsch Opfer des Attentats im Bürgerbräukeller Paul Nipkow Adolf von Trotha Franz Gürtner

20.02. Hermann Knebel 06.09. Hugo Bruckmann 23.09. Eugen Ritter von Schobert 21.11. Ernst Udet 28.11. Werner Mölders 14.12. Eduard Freiherr von Böhm-Ermolli 16.12. Hans Kerrl 1942 08.01. Walter Borbet 22.02. August Diehn 23.01. Walter von Reichenau 04.02. Hans Georg Hofmann 12.02. Fritz Todt 21.05. Friedrich Karl von Lossberg 22.05. Carl Röver 09.06. Reinhard Heydrich 21.06. Adolf Hühnlein 05.07. German Bestelmeyer 10.08. Hermann von der Lieth-Thomsen 25.08. Carl-August Freiherr von Gablenz 07.11. Ludwig Siebert 11.12. Hans Posse 1943 13.02. Kurt Haase 09.03. Opfer des Bombenangriffs auf Paris 29.03. Hans Adolf von Moltke 07.05. Viktor Lutze 13.05. Walter Graf von Brockdorff-Ahlefeldt 1944 17.04. Adolf Wagner 26.04. Hans Hube 21.06. Johann Heinrich Böhmcker 01.07. Eduard Dietl 03.10. Josef Bürckel 07.10. Rudolf Schmundt 11.10. Helmut Lent 18.10. Erwin Rommel 15.11. Walter Nowotny

269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Deutsche Demokratische Republik 1956 1957 1958 1960

1961 1964 1965 1966 1967

18.08. 30.12. 15.10. 27.02. 29.03. 10.09. 26.03. 23.09. 14.02. 06.12. 28.03. 17.07.

Bertolt Brecht Otto Nuschke Johannes R. Becher 49 Bergleute in Zwickau Ernst Melsheimer Wilhelm Pieck Heinrich Rau Otto Grotewohl Bruno Leuschner Erich Apel August Bach Otto Nagel

1968 1969 1971 1973

02.12. 27.02. 28.01. 07.08. 19.09. 1978 09.03.

1979 08.12. 1981 21.04. 22.05. 1983 08.06.

Arnold Zweig Johannes Dieckmann Hermann Matern Walter Ulbricht Georg Ewald Werner Lambert / Paul Markowski / Arnim Ernst / HansJoachim Spremberg Friedrich Ebert Gerhard Grüneberg Erich Correns Anna Seghers

Bundesrepublik Deutschland 1954 19.01. Hermann HöpkerAschoff 02.11. Hermann Ehlers 1955 17.12. Robert Tillmanns 1958 22.10. Josef Wintrich 1960 03.03. Hermann Lindrath 03.08. Max Becker 1961 13.05. Jakob Kaiser 1963 17.12. Theodor Heuss 19.12. Erich Ollenhauer 1964 19.11. Heinrich von Brentano 1967 24.02. Fritz Erler 04.04. Fritz Schäffer 25.04. Konrad Adenauer 25.07. Thomas Dehler 09.08. Paul Löbe 1968 03.09. Hans Lenz 1970 25.08. Ernst Lemmer 1972 18.05. Theodor Blank 13.04. Heinrich Lübke 1975 02.12. Heinrich Storch

1976 12.07. Gustav Heinemann 16.08. Paul Lücke 1977 13.04. Siegfried Buback/ Wolfgang Göbel/ Georg Wurster 11.05. Ludwig Erhard 25.10. Hanns-Martin Schleyer 1979 09.08. Hermann Schmitt Vockenhausen 15.12. Carlo Schmid 1980 11.06. Lauritz Lauritzen 1982 02.04. Walter Hallstein 1986 22.03. Eugen Gerstenmaier 1988 08.01. Wolfgang Zeidler 28.03. Kurt Georg Kiesinger 1990 12.01. Gerhard Schröder 25.01. Herbert Wehner 1991 10.04. Detlev Karsten Rohwedder 1992 04.06. Karl Carstens 17.10. Willy Brandt

270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Anmerkungen 1 V. Ackermann, Nationale Totenfeiern in Deutschland. Von Wilhelm I. bis Franz Josef Strauß. Eine Studie zur politischen Semiotik, Stuttgart 1990; siehe auch Ders., Die funerale Signatur. Zur Zeichensprache bei nationalen Totenfeiern in Deutschland, erscheint in: H.G. Soeffher u. T. Lau ( H g . ) , Zeichen und Zeit, Berlin 1995. 2 M . Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Bd. 2, Würzburg 1963, S. 1883. 3 G. Wagner, Die Fahne ist mehr als der Tod. Roman einer Generation, Hamburg 1958, S. 237, zitiert einen solchen Witz: Ein kleiner Junge rettet Goebbels vor dem Ertrinken und soll dafür belohnt werden. Er will weder eine goldene Uhr, noch eine Eisenbahn, noch ein Segelboot, sondern ein Staatsbegräbnis. Auf die erstaunte Frage des Propagandaministers gibt er zur Antwort: »Det is so, Herr Reichsminister, wenn det mein Vata erfährt, det ick Ihnen aus et Wasser jezogen ha, haut der mir tot!« 4 Anordnung über Staatsbegräbnisse und Staatsakte, in: Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 2 3 , 8.6.1966, S. 337. 5 H.G. Soeffner, Emblematische und symbolische Formen der Orientierung, in: Ders., Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989, S. 181f. 6 So die Kaiserin-Witwe in einem Dankschreiben an den Statthalter der Reichslande vom 28.3.1888; zit. nach Deutscher Geschichtskalender 1 8 8 8 / 1 , S. 155. 7 Zit. nach E. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, München 1969, S. 14. 8 H. Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden 1962, S. 356. 9 Vorwärts, 25.6.1922, 27.6.1922. 10 Vorwärts, 25.6.1922. 11 F. Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, Offenbach 1947, S. 286f. 12 Lageberichte Deutschland, Archiv des Auswärtigen Amtes, Po. 5, Bd. 1. 13 In Memoriam. Den Opfern des französischen Militarismus in Essen, Berlin 1923, S. 13. 14 E. Redslob, Staatliche Feiern der Reichsregierung, in: Gebrauchsgraphik 2, 1925, S. 5 1 - 5 9 , hier S. 56. 15 Ders., Die künstlerische Formgebung des Reichs, Berlin 1926, S. 356. 16 Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945, hg. ν. Η. Bobcrach, Herrsching 1984, Bd. 2, S. 459. 17 Völkischer Beobachter, Münchener Ausgabe, 11.11.1939. 18 E. Lemmer, zit. nach Der Wegweiser 4, 29.2./5.3.1960, S. 50. 19 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 102, S. 1388. 20 Zit. nach Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 4 3 , 26.4. 1967, S. 362. 21 H. Böll, Über Willy Brandt, in: Ders., Neue politische und literarische Schriften, Köln 1973, S. 249. 22 H M , Enzensberger, Die Anatomie einer Wochenschau, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 12, 1957, S. 2 6 5 - 2 7 8 . Enzensberger rechnet Staatsbegräbnisse in Wochenschauen zu den von ihm so genannten Typ »Großer Bahnhof« oder »Hut ab vor der Obrigkeit«. Als Beispiele nennt er die Beisetzung der Königin Viktoria in England und das Staatsbegräbnis für den Chef der Witteisbacher. 23 E. Jünger, Maxima - Minima. Adnoten zum »Arbeiter«, Stuttgart 1983, S. 41. 24 »Wenn der unentbehrliche Mann hustet / Wanken die Reiche / Wenn der unentbehrliche Mann stirbt / Schaut sich die Welt um wie eine Mutter, die keine / Milch für ihr Kind

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hat / Kehrte der unentbehrliche Mann eine Woche nach seinem Tode zurück / Fände sich im ganzen Reich für ihn nicht mehr die Stelle eines Portiers.« (B. Brecht, Werke. Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, Berlin 1988, S. 123). 25 Jacob Burckhardt an Friedrich von Prcen, in: J. Burckhardt, Briefe, hg. v. F. Kaphahn, Leipzig 1938, S. 513. 26 Illustrirte Zeitung, 24.3.1888, S. 293. 27 Verhandlungen des Reichstages, 1. Wahlperiode, Bd. 356, S. 8104. 28 In Memoriam, S. 11 f. 29 So Löbe über Ebert nach Wolff's Telegraphisches Büro, 4.3.1925. 30 H. Schulze, Wir sind, was wir geworden sind. Vom Nutzen der Geschichte für die deutsche Gegenwart, München 1987, S. 127ff. 31 Deutsches Nachrichten-Büro, 7.8.1934. 32 Verhandlungen des Reichstags, 8. Wahlperiode, 6.8.1934, S. 37. 33 Ebd., S. 38. 34 Zit. nach Bulletin der Bundesregierung 79/80, 1967, S. 9. 35 T. Heuss, Anweisungen und Wünsche zur Formgebung meiner Beerdigung, in: Ders., Politik durch Kultur 1949-1959. Katalog zur Ausstellung, o.O. 1984, S. 180f. 36 C. Schmid, Politik und Geist, Stuttgart 1961, S. 243. 37 H. Kühn, Aufbau und Bewährung. Die Jahre 1945-1978, Hamburg 1981, S. 275. 38 H.A. Winkler, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 276ff. 39 T. Mann, Tagebücher 1935/36, hg. v. P. de Mendelssohn, Frankfurt/M. 19782, S. 256. 40 Zit. nach Ders., Essays, hg. ν. Η. Kurzke, Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, S. 269f. 41 E. Gerstenmaier, Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M. 1981, S. 401f. 42 Zit. nach Bulletin der Bundesregierung 43, 26.4.1967, S. 359f. 43 H. v. Treitschke, Die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Vorbemerkung bei Übernahme der Rcdaction der Historischen Zeitschrift, in: Ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 4, Leipzig 1897, S. 447-451, hier S. 449. Der Satz »Männer machen Geschichte« wird meist Heinrich von Treitschke zugeschrieben, der ihn aber in dieser Form nicht gesagt hat. Treitschke hatte im Jahre 1896 die »Männer der Tat« als die »eigentlich bewegenden Kräften der Geschichte« bezeichnet und als Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung die veränderte Lage des deutschen Kaiserreiches nach dem Tod Wilhelms I. und nach dem Sturz Bismarcks angeführt. 44 Bismarck über Wilhelm L, in: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 102, S. 1385f. 45 Ebd., 1. Wahlperiode, Bd. 356, S. 8103. 46 Kardorff über Stresemann, in: ebd., 4. Wahlperiode, Bd. 426, S. 3254. 47 F. Stern, Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 274. 48 E. Redslob, Von Weimar nach Europa. Erlebtes und Durchdachtes, Berlin 1972, S. 199. 49 J. Goebbels, Tagebücher aus den Jahren 1942-43, hg. v. L.P. Lochner, Zürich 1948, S. 78. 50 H. Picker (Hg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, München 19834, S. 112. 51 Neues Deutschland, 11.9.1960, 24.9.1964. 52 Bulletin der Bundesregierung 43, 26.4.1967, S. 361. 53 Zit. nach ebd. 114, 1992, S. 1049f. 54 Der Spiegel 44, 1992, S. 7. 55 Wolff's Telegraphisches Büro, 4.3.1925.

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Ebd. Verhandlungen des Reichstages, 4. Wahlperiode, Bd. 426, S. 3251ff. Ebd., 1. Wahlperiode, Bd. 356, S. 8103ff. Ebd., 4. Wahlperiode, Bd. 426, S. 3251ff. Ebd., S. 3252. Bulletin der Bundesregierung 43, 26.4.1967, S. 360. Ebd. 114, 20.10.1992, S. 1953.

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MARC ABÉLÈS

Die Inszenierung der republikanischen Nation durch François Mitterrand* Der Anthropologe, der das Funktionieren seiner eigenen Gesellschaft untersucht, kommt nicht darum herum, nach den Repräsentationsformen zu fragen, durch die versucht wird, ein kohärentes Bild eines besonderen Territoriums, einer gemeinsamen Geschichte, einer anerkannten Staatsgewalt, kurz, einer Nation mit ihren Grenzen, ihrem Zentrum und ihren symbolträchtigen Orten zu vermitteln. Dabei kommt der Figur des Staatspräsidenten eine maßgebliche Rolle zu.1 Im folgenden richte ich das Augenmerk auf die verschiedenen institutionellen Veränderungen, die Frankreich mit der Entstehung der Fünften Republik erlebte, und auf die bis heute wirksamen weit älteren Formen der Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Gesellschaft, die vor allem auf die monarchischen Traditionen der staatlichen Repräsentation zurückverweisen. 1. Das Präsidenten-Schauspiel Als General de Gaulle zu Beginn der Fünften Republik ein Präsidialregime errichtete, rückte er eine Institution in den Mittelpunkt der politischen Szene, die bis zu diesem Zeitpunkt eher eine protokollarische Funktion besessen hatte. Während der Dritten und der Vierten Republik war der Präsident auf eine untergeordnete Rolle festgelegt gewesen. Selbst einer starken Persönlichkeit wie Vincent Auriol gelang es nicht, der Stellung des Präsidenten mehr Gewicht zu verleihen, obwohl er hinter den Kulissen in den diversen Regierungskrisen seiner Amtszeit einen nicht zu unterschätzenden Einfluß besaß. Das gaullistische Projekt bestand genau darin, dieser Schwäche der Exekutive abzuhelfen. Es ging darum, den Präsidenten zur großen ordnenden Kraft der nationalen Politik zu erheben und ihn nach innen wie nach außen zur wahren Inkarnation Frankreichs zu machen. Wie viele Kommentare zur Verfassung der Fünften Republik zeigen, war man * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate und Jakob Vogel.

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lange der Meinung, de Gaulle habe sich eine Präsidentschaft nach Maß geschneidert. Der Mann des 18. Juni konnte keine andere Rolle als die des obersten Herrschers seines eigenen Landes anstreben. Wie man weiß, kamen die schärfsten Angriffe gegen die Allmacht des Präsidenten damals von einem Oppositionspolitiker namens François Mitterrand. Nach und nach gewöhnten sich die Franzosen jedoch an die Vorstellung, einen starken Präsidenten zu haben. In den sechziger Jahren attackierte man noch polemisch die »persönliche Herrschaft«; der »Canard enchainé« hatte seine Freude an den Intrigen »des Hofes«. Die Analogie zwischen dem Ancien régime und der gaullistischen Präsidentschaft war weit verbreitet. Gleichzeitig setzte sich allerdings der Gedanke durch, daß es im Rahmen der parlamentarischen Parteiendemokratie keine Alternative zu dieser Regierungsform gäbe. Die Ereignisse von 1968 bestätigten diese Beobachtung. Die Proteste der Achtundsechziger richteten sich gegen die bestehende Gesellschaft und Kultur und gegen die bürgerlichen Formen der Politik, nicht aber gegen die Stellung des Präsidenten als solche. De Gaulle wurde in erster Linie als letzes Bollwerk der Bourgeoisie angesehen, doch bildete die Rückkehr zum vorhergehenden Parlamentarismus auch für die extreme Linke dieser Zeit keine attraktivere Alternative. Die Position des Präsidenten blieb 1968 relativ unangefochten. Obwohl de Gaulle selbst durch die Ereignisse so stark angeschlagen war, daß er im folgenden Jahr sein Amt abgeben mußte, konnten seine Nachfolger die Macht des Präsidenten noch weiter festigen. Pompidou, über dem immer der Schatten des Generals schwebte, und nach ihm Giscard d'Estaing waren bemüht, die herausgehobene Stellung ihres Amtes zu unterstreichen, indem sie vor allem die Außenpolitik auch weiterhin als eigene Domäne des Staatsoberhauptes beanspruchten. Die weltweite Identifikation des Staatspräsidenten mit Frankreich entsprechend der gaullistischen Tradition hat sich zu einem großen Teil infolge der intensiven weltweiten Repräsentationstätigkeit der Präsidenten durchgesetzt. Diese Aktivitäten konnten die Franzosen ständig in den Medien verfolgen. Obwohl die Außenpolitik unbestreitbar die Art und Weise beeinflußte, in der die Leute das Bild des Präsidenten internalisierten, konnte sie jedoch dieses Bild auch beeinträchtigen. Die Präsidentschaft von Giscard d'Estaing ist in dieser Hinsicht besonders aufschlußreich. Die Anfänge der Amtszeit Giscards waren vielversprechend. Er bot das Schauspiel eines jungen und dynamischen Präsidenten, der bereit war, die alten Strukturen aufzubrechen und die französische Gesellschaft zu modernisieren. Wenn er vor dem Elyséepalast am Steuer seines eigenen Autos vorfuhr, erweckte er den Anschein, das Protokoll zu vereinfachen und sich den ›normalen‹ Franzosen annähern zu wollen. Gleichzeitig wurde er jedoch sehr schnell durch die Probleme der Innenpolitik und durch ständi275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ge Reisen von einer Hauptstadt in die andere absorbiert. Nach und nach entwickelte sich das Bild Giscards in eine gefährliche Richtung: Der moderne Präsident wich dem Gast der Großen dieser Welt, dem Liebhaber von Ehrungen und sogar von Geschenken.2 Am Ende seiner Amtszeit wurde der Nachfolger Pompidous oft mit einem Monarchen des Ancien régime verglichen. Noch einmal war es nicht das Amt des Präsidenten, sondern der Amtsinhaber, der angegriffen wurde. Die Präsidentialherrschaft erwies sich daher auch für das 1981 gewählte neue Staatsoberhaupt als sehr solide. Dabei handelte es sich um niemand anderen als um den verbissensten Verächter des Regimes in seinen Anfängen: François Mitterrand. Die Untersuchung der Inszenierung der Nation während Mitterrands Amtsperiode ist äußerst aufschlußreich. Über ihre anekdotischen Aspekte hinaus gibt sie eine Fülle von Hinweisen über die Vorstellungen und Repräsentationen, die die Macht und den ›politischen Körper‹ der französischen Gesellschaft umgeben. Dieser ›politische Körper‹ ist die eine und unteilbare Republik, so wie sie sich mit zahlreichen Veränderungen und Schwierigkeiten im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte herausgebildet hat. Seit seinem Machtantritt verstand sich Mitterrand als die Inkarnation dieser republikanischen Nation. Er unternahm daher auch alle Anstrengungen, dem Verhältnis, das den Staatspräsidenten mit dem politischen Körpen verbinden sollte, sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Ein wichtiger Leitfaden, um Mitterrands Handlungsweise und - was uns hier besonders interessiert - die Repräsentation, die er dieser Handlungsweise gegeben hat, zu verstehen, ist der Gedanke, der Präsident aller Franzosen sein zu müssen. Als Mitterrand 1981 an die Macht kam, besaß er die Reputation eines ewigen Oppositionellen, eines Wortführers der Linken, der nicht aufhörte, die sich ablösenden Regierungen der Fünften Republik anzugreifen. Die öffentliche Meinung stand noch unter dem Schock des Sieges der Opposition. Angesichts der Erfahrung der Volksfront glaubten viele, daß sich eine Regierung der Linken nicht lange halten könnte. Die Frage der Dauer erschien daher zunehmend als ein Leitmotiv des Mitterrandismus. Präsident aller Franzosen zu sein und lange Zeit zu regieren, waren die Hauptbestandteile der präsidialen Repräsentation seit 1981, die sich auch in der Darstellung des Verhältnisses von Präsident und Nation niederschlugen. Es ist nicht beabsichtigt, hier eine Beschreibung der verschiedenen Veränderungen dieser Inszenierungen zu liefern. Statt dessen sollen die wichtigsten Requisiten des Mitterrandschen ›Bühnenbildes‹ benannt und die Veränderungen dessen nachgezeichnet werden, was der Öffentlichkeit zu sehen und zu hören gegeben wurde. In der Repräsentationsarbeit des Präsidenten erscheinen uns zwei Kategorien essentiell: der Raum und die Zeit. In der Untersuchung geht es also vor allem um die Behandlung, die 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

diese beiden Kategorien im Diskurs und in den Handlungen des Präsidenten erfuhren. 2. Der Mitterrandsche Raum Schon bevor der Kandidat Mitterrand an die Macht kam, präsentierte er sich als Mann eines Territoriums. Das Plakat für seine Wahlkampagne zeigt ihn, wie er vor einem Dorf im tiefen Frankreich mit dem Slogan »Die ruhige Kraft« (»la force tranquille«) posiert. Damit veranschaulichte er seine Verbundenheit mit dem Land, mit dem dörflichen Raum. Das für das Photo ausgewählte Dorf befindet sich im Departement Nièvre, das Mitterrand bis zu seinem Amtsantritt mehr als dreißig Jahre in der Nationalversammlung vertreten hatte. Paradox war allerdings, daß gleichzeitig der gesamte Wahlkampf der Linken auf dem Thema des Wandels aufgebaut wurde. Die Sozialisten wandten sich damit hauptsächlich an die städtische Bevölkerung, und zwar vor allem an die Arbeiter und die Mittelschichten. Das ländliche Frankreich war dagegen in der Mehrheit empfänglicher für den Diskurs der Rechten, so daß Jacques Chirac als ehemaliger Landwirtschaftsminister im bäuerlichen Milieu sehr populär blieb. Es ist in diesem Zusammenhang später gesagt worden, daß sich Mitterrand als eine Persönlichkeit darstellen ließ, die Sicherheit ausstrahlte, während das Programm der Sozialisten und deren Allianz mit den Kommunisten die potentiellen Wähler der Linken eher hatte beunruhigen müssen. War dieses Vorgehen ein rein opportunistischer Schritt, wie die Kritiker behaupteten? Daß diese Interpretation nur zum Teil stimmt, zeigte sich in der Folgezeit in der Art und Weise, in der Mitterrand als Präsident das Image seiner tiefen Verbundenheit mit dem Land kultivierte. So gehörte es zu seinen ersten Gesten, seine Freunde aus der Nièvre und die lokalen Amtsträger (Bürgermeister, »conseillers généraux«) in den Elysée-Palast einzuladen. Während der beiden Amtsperioden hörte er nicht auf, durch öffentliche Zeichen wie durch diskretere Maßnahmen unter Beweis zu stellen, daß ihm die Verbindung mit ›seinem‹ Departement besonders am Herzen lag. Außer offiziellen Reisen, die Gelegenheit zur Eröffnung öffentlicher Einrichtungen oder zur Erinnerung an Ereignisse und bekannte lokale Persönlichkeiten lieferten,3 erlaubten ihm private Exkursionen in die Provinz, vielfältige lokale Verbindungen zu unterhalten. Wie er in einer seiner Reden bemerkte, ist die Nièvre für ihn eine »Wahlheimat« im doppelten Wortsinn.4 Mitterrand, der Mann der Treue, der Beschwörer der heimatlichen Scholle und der Verwurzelung - diese Darstellung wurde auch wegen der literarischen Referenzen gewählt. Die Vorlieben des Präsidenten für 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Schriftsteller, die sich ebenfalls dem Land verbunden fühlen, wie Jacques Chardonne, seine Faszination für symbolträchtige Orte wie Vezelay, stellte ihn in die Tradition des ländlichen Frankreichs. Damit orientierte er sich in gewisser Hinsicht mehr an jenem Frankreich, das von dem Nationalisten Barrès besungen worden war, als dem, das die sozialistischen Führer seit Jaurès bewundern. Daß Mitterrand durch seine Erziehung und durch die Anfänge seines politischen Engagements einer barrèsschen Vision Frankreichs näher war, kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in seinem Diskurs nationalistische Themen kaum auftauchten. Statt des Wortes »Nation« bevorzugte der Präsident das des »Landes« (»pays«). »Land« ist hierbei ein sehr vielschichtiger Ausdruck, da er sowohl eine globale Einheit meint, also Frankreich in seiner Gesamtheit, als auch die einzelnen, abgegrenzten Territorien. Auf dem Land zu sagen, »ich bin aus der Gegend« (»je suis du pays«), bedeutet, die Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft zu reklamieren. Bei seinen Fernsehauftritten, in denen er sich an die Bevölkerung wandte, sprach er die Franzosen in der Regel mit »meine lieben Mitbürger« (»mes chers compatriotes«) an. Auch hier wählte er eine familiärere Ausdrucksweise als das von de Gaulle bevorzugte »Franzosen, Französinnen«. Die Idee der Heimat hatte hier den Vorrang vor dem Konzept der Nation, so als ob der Präsident die Idee einer gemeinsamen Geschichte, einer geteilten Verbundenheit mit dem Boden eher unterstreichen wollte, als nach de Gaulles Art ein ewiges Frankreich zu rühmen, das seine Inkarnation in den außergewöhnlichen Persönlichkeiten findet. Man sieht, wie sich hier das Bild eines familiären Frankreich abzeichnet, eines bestimmten Landes mit seiner geographischen Vielfalt und einer Bevölkerung, die in ihren jeweiligen Regionen verankert ist: nicht ein idealisiertes, bäuerliches Frankreich, sondern eines, dessen Geschichte Vielfalt und Offenheit ausdrückt. Dieses Konzept bestimmte die Inszenierung von zahlreichen Reisen des Präsidenten. Im Gegensatz zu Giscard, der die Absicht hatte, mittels der Medien Frankreich direkt ins Auge zu schauen, bevorzugte Mitterrand ein konkreteres Verhältnis zum Land. Der Präsident unterhielt vielfältige, zum Teil auch informelle Beziehungen mit den lokalen Amtsträgern, die nicht im Rampenlicht standen. Diese Nähe zur öffentiichen Meinung ermöglichte ihm einen wertvollen Austausch außerhalb der offiziellen Kanäle. Bei seinen Reisen innerhalb Frankreichs nutzte der Staatschef zudem bestimmte Etappen dazu, wichtige politische Botschaften zu äußern, deren häufig kleine, manchmal rätselhafte Andeutungen eine große innenpolitische Bedeutung erhalten konnten. So provozierte er, kurz vor seiner zweiten »Kohabitation« als sozialistischer Präsident mit einer konservativen Mehrheit im Abgeordnetenhaus, durch seinen Besuch in Fréjus, dessen Bürgermeister niemand anderes als der 278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Führer der konservativen Republikanischen Partei, François Leotard, war, die Kommentare und die Spekulationen über Leotards künftiges politisches Schicksal. Einige Bemerkungen, die Mitterrand bei dieser Gelegenheit fallenließ, gaben zu Mutmaßungen Anlaß, ob sie nicht sogar auf eine Ernennung Leotards zum Premierminister hinwiesen. Man könnte eine Vielzahl von Beispielen dieser Art zitieren, in denen die Wortwahl des Präsidenten bewußt zweideutig und ankündigend wirken sollte. Das lokale Umfeld bildete dabei einen Kontext, in dem sich der Präsident familiär geben konnte. So sprach er mit Léotard in dessen Rathaus anders, als er es im Elysée-Palast getan hätte. Es konnte aber auch vorkommen, daß er den Journalisten gegenüber vertrauliche Äußerungen wagte, die sorgfältig dosiert und dazu bestimmt waren, weitergegeben zu werden. Dennoch blieben sie genügend informell, um ohne Konsequenzen dementiert werden zu können. Während der ersten Kohabitation mit der Regierung Chirac machte Mitterrand viel Gebrauch von diesen Reisen in die Provinz. Eines großen Teils seiner innenpolitischen Macht beraubt, mußte er um jeden Preis auf der nationalen politischen Bühne präsent bleiben. Die offiziellen Reisen boten die Gelegenheit, diese Präsenz zu unterstreichen. Er hörte dabei nicht auf, seine Rolle als Schiedsrichter in der nationalen Debatte zu betonen, und ließ den Premierminister Jacques Chirac im Gegensatz dazu als einen Parteimann erscheinen, der seine Position vor allem dazu nutzte, die Präsidentschartswahlen zu gewinnen. Die Gegner des Präsidenten brauchten lange, um sich der Bedeutung dieser Strategie bewußt zu werden. Mitterrand war auf diese Weise nicht offizieller Kandidat für seine eigene Nachfolge. Indem er die Frage seiner Kandidatur offen ließ, konnte er sich als ein über den alltäglichen politischen Querelen schwebender Präsident präsentieren, der im Herzen seines Landes an dessen Harmonie und Eintracht arbeitete. Bei der Rückeroberung der Macht im Rahmen der Kohabitation nutzte Mitterrand beispielsweise während der Studentenproteste Ende 1986, die Chirac und seine Regierung in eine schwierige innenpolitische Situation brachten, eine Reise nach Auxerre und die Ehrung des in der Stadt geborenen Gründers des laizistischen Schulsystems, Paul Bert, dazu, die Regierung vor einem harten Vorgehen zu warnen und die Notwendigkeit von mehr Toleranz im Umgang mit den Studenten zu unterstreichen. Damit trat der Präsident einmal mehr als Träger der einzig wahren Legitimität und als Beschützer einer Bevölkerungsgruppe auf, deren Rechte und Forderungen von der Regierung besser respektiert bzw. berücksichtigt werden sollten. Der Bezug auf das Land, der sich bereits in den Wahlplakaten des Kandidaten Mitterrand manifestierte, bildete ein wichtiges Element in dem Bild, das er nach und nach von seiner Beziehung zu der Nation entwarf. 279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Dabei erwies sich das in dem Plakat von 1989 präsentierte Image eines unerschütterlichen, hauptsächlich ländlichen Frankreich sogar als kompatibel mit der allgemeinen Wahrnehmung der Immigrantenfrage, die in der zweiten Hälfte der ersten Amtszeit eine immer größere Bedeutung erhielt. Mitterrand machte sich zum Verfechter eines Landes, das die Unterschiede integriert und gleichzeitig die kulturellen Besonderheiten respektiert. Die Wahl seines Lieblingsgegners auf der Rechten, Le Pen, verdeutlicht diese Konzeption. Der Gegensatz zwischen »zwei Frankreichs« - eines offenen, Unterschiede respektierenden und eines kalten, fremdenfeindlichen rückte dadurch in den Vordergrund. Viele Jugendliche folgten der Mitterrandschen Darstellung. So entstand das Schlagwort der »Generation Mitterrand«, das einen der Schwerpunkte des Präsidentschaftswahlkampfes von 1988 ausmachte. Von der »force tranquille« zur »génération Mitterrand« schien sich das Interesse vom Land in die Vorstädte (»banlieues«) zu verlagern. Der zweite Präsidentschaftswahlkampf war daher stark auf die Probleme der Jugendlichen in den Banlieues ausgerichtet. Zu einem der eindrücklichsten Momente des Vorwahlkampfes geriet der Auftritt des vor allem unter Jugendlichen populären Sängers Renaud, der sich an den Präsidenten wandte und Mitterrand aufforderte, nicht aufzugeben: »Tonton, laisse pas béton!«5 »Béton« ist natürlich die Umkehrung von »tomber« (fallenlassen), doch spielt es auch auf das betonierte Universum der Vorstädte an. Die Frage der Banlieues und die Notwendigkeit einer großangelegten Stadtpolitik waren entsprechend die immer wiederkehrenden Themen der zweiten Amtsperiode. Mitterrand umgab sich mit Architekten und Stadtplanern wie Roland Castro, die direkt mit den Maßnahmen, die in den Vorstädten durchgeführt wurden, betraut waren. Der Präsident hielt dennoch an dem Slogan vom »tiefen Frankreich« (»France profonde«), aus dem die »ruhige Kraft« kam, fest. Er begab sich weiter gerne in die Provinz und zögerte selbst in einer schwierigen Phase vor den Parlamentswahlen 1993 nicht, das territoriale Argument erneut aufzugreifen. So entschloß sich Mitterrand nach sorgfältiger Überlegung, im Fernsehen eine Art Bilanz seiner bisherigen Amtszeit zu ziehen. In der Sendung, die auf dem dritten, regionalen Fernsehkanal ausgestrahlt wurde, antwortete er auf die Fragen von Zuschauern, die aus unterschiedlichen sozialen Schichten und aus verschiedenen Regionen Frankreichs ausgewählt worden waren. Dabei erinnerte er einen Zuschauer an seine Herkunft aus der Charente, unterstrich, daß er gut mit den Problemen des Straßenbaus in Zentralfrankreich vertraut sei, da er diese Fragen als Abgeordneter der Nièvre behandelt habe, und betonte, daß er auch an anderen Orten des Landes gute Freunde besitze. Der Auftritt wurde allerdings vor. den Beobachtern allgemein als wenig überzeugend eingestuft. Einmal mehr 280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

entschied sich der Präsident dafür, ein Frankreich der Regionen in Szene zu setzen, als deren authentischer Vertreter und erstrangiger Interpret er auftrat. Wie de Gaulle betonte auch Mitterrand, daß er sich das Ziel gesetzt habe, das Land zu versöhnen. Allerdings hatte de Gaulle dies im Sinne eines idealen Frankreichs und einer großen Vision verstanden. Die Versicherung, daß Frankreich zu einer großen Nation berufen sei, sollte nach seiner Vorstellung die Bürger mitreißen. Für Mitterrand ging es dagegen weniger um das Ideal einer Nation als um die faßbare räumliche Realität eines Landes, dessen Bewohner ein Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit verbinden sollte. Die Legitimität des gewählten Präsidenten mußte sich daher auf seine Fähigkeit gründen, diese Gemeinsamkeit zu repräsentieren und die Bedrohung des Auseinanderbrechens zu bannen. »Präsident aller Franzosen« zu sein, bedeutete in einer Zeit, in der die Unterschiede und Besonderheiten von allen Seiten her klar hervortraten, die Fähigkeit, eine grundlegendere Einheit zu bewahren. Die versöhnende Funktion des Präsidenten erscheint in der populären Symbolik in dem wohlwollenden Spitznamen »Onkelchen« (»Tonton«). Was auch immer der tatsächliche Ursprung dieses Spitznamens ist,6 die Tatsache, daß er einen derartigen Erfolg in der Öffentlichkeit hatte, ist für sich genommen schon aufschlußreich. »Tonton«, das ist der Onkel, der auf seine Neffen acht gibt, jedoch nicht dieselbe Autoritätsrolle wie der Vater besitzt. Der Onkel wird nicht gefürchtet, er ist seinen Neffen nah. Wenn er sich durchsetzt, dann durch seine Großzügigkeit. Er kann zuhören und Gefallen erweisen. Er ist eine sympathische, vertraute Person. In der Verwandschaftsskala ist der Onkel positiv besetzt. Mitterrand hat dieses Bild in bewundernswerter Weise zu kultivieren gewußt. Weit davon entfernt, ein ›Landesvater‹ zu sein, hat der Präsident sich als ein Ruhe ausstrahlender Beschützer dargestellt. Am Finde der ersten Amtszeit löste jedoch ein neues Image nach und nach das des »Tonton« ab. Mitterrand wurde »Gott« (»dieu«). Diese Veränderung markiert den Eintritt in die Ewigkeit. Sie ist mit einem ganzen Bündel von Selbstdarstellungen verbunden, die im Zusammenhang mit der Zeit stehen und die einen weiteren wesentlichen Bestandteil der Inszenierung der republikanischen Nation bilden. 3. Die Mitterrandsche Zeit Als Mitterrand 1981 an die Macht kam, stand der Wechsel auf der Tagesordnung. Dieser wurde von der gesamten linken Wählerschaft erwartet, insbesondere aber von denen befürchtet, die in dem Programm der Ver281 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

staatlichungen eine gefährliche Bedrohung der bestehenden wirtsc haftlichen und sozialen Ordnung sahen. Mit ihren programmatischen Aussagen griffen die Sozialisten den Kapitalismus und den Einfluß der Monopole auf die französische Gesellschaft sehr direkt an. Da sich die Linke als Vertreterin der sozialen Gerechtigkeit verstand, galten die ersten gesetzgeberischen Maßnahmen der Amtsperiode daher auch den Arbeitern. Abgesehen von sozialen Forderungen tauchte ein neues Schlagwort auf: »Das Leben ändern!« In der Euphorie des Sieges stellte man sich nicht nur eine bessere Gesellschaft vor, sondern meinte auch, daß sich das tägliche Leben des einzelnen verändern würde. Damit stand das Thema der Wende im Rampenlicht: Die Politik kann die Gesellschaft umgestalten und sogar das Leben verändern. Obwohl der Wechsel zu dieser Zeit im Mitterrandschen Diskurs allgegenwärtig war, zeigte sich der Präsident darum bemüht, als Inkarnation der Dauerhaftigkeit zu erscheinen. Er respektierte peinlich genau die Institutionen der Fünften Republik wie auch die Aufgaben des Präsidentenamtes. Seit seiner ›Inthronisation‹ inszenierte Mitterrand den Präsidenten als Monarchen. Im Gegensatz zu Giscard d'Estaing erschien es ihm unmöglich, den Eindruck von Einfachheit oder Nähe zu vermitteln. So wäre er nie am Steuer des eigenen Wagens zum Elysée-Palast gefahren, als ob er morgens in ein normales Büro ginge. Mitterrand achtete mit großer Sorgfalt auf die Einhaltung des Protokolls, das die Person des Präsidenten umgeben sollte. Seine Haltung, seine Gestik, die undurchdringliche Maske, die er sich entwarf, dies alles diente dazu, die Beobachter zu beeindrukken. Die erste öffentliche Darstellung der präsidentiellen Majestät war der Aufstieg zum Pantheon in Paris, ein feierliches Ritual, das dem Sieg des neuen Präsidenten gewidmet war. Gefolgt von seiner nächsten Umgebung und an der Spitze einer riesigen Menge erreichte er den Tempel der Republik unter den Klängen der Neunten Sinfonie von Beethoven. Er ging allein in die Krypta des Gebäudes und erwies den großen Gestalten der Republik und der Linken seine Ehre, indem er eine Rose auf ihre Gräber legte. Dieses Zeremoniell, das vom Fernsehen übertragen wurde, war in hohem Maße symbolisch, da es den Neugewählten in die republikanische Geschichte eintreten ließ. Mitterrand erschien am Ende als Erbe dieser Geschichte, als Fortsetzer einer Ahnenreihe. Gleichzeitig stellte der Abstieg in die Krypta eine Reise in das Reich der Toten dar. Der Präsident ließ die Alltäglichkeiten der Gegenwart hinter sich, um der Ewigkeit zu begegnen. Die Episode des Pantheon offenbarte die doppelte Natur des Präsidenten, der Frankreich repräsentiert: eine in der Gegenwart Tatkraft und Führungsstärke zeigende Persönlichkeit und gleichzeitig die Inkarnation des politischen Systems und seiner Dauerhaftigkeit. So konkretisierte sich 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die doppelte Gestalt des Präsidenten schon von seinem ersten Amtstag an im Ritual des Panthéon.7 Von diesem Zeitpunkt an war die Bühne für die Mitterrandsche Selbstdarstellung errichtet. Denn auch wenn sich Mitterrand als Interpret der Kräfte des Wandels verstand, betrachtete er sich doch nicht weniger als Mann der langen Dauer. Sein Hauptthema nach dem Wechsel war daher die soziale Ungleichheit, ein altes Thema der republikanischen Linken. Die Aufgabe des Präsidenten sah er darin, den von der Macht des Geldes verursachten Ungerechtigkeiten ein Ende zu bereiten und somit die Mission der Gründungsväter des Sozialismus zu Ende zu führen. Das bedeutete jedoch nicht, daß er den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel setzen wollte, indem er den Konflikt innerhalb des sozialen Körpers schürte. Zunehmend pendelte sich daher der Mitterrandsche Diskurs zwischen den Postulaten »Gerechtigkeit« und »Zusammenhalt« ein. Nach dem Regierungswechsel von 1988 wurde die soziale Gerechtigkeit als ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Konsens dargestellt. Die sozialen Reformen hatten auch die Problematik des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu berücksichtigen. Wir wollen hier nicht in die Debatte über den politischen Inhalt des Mitterrandismus einsteigen. Bleiben wir bei seiner Inszenierung. Hier zeigt sich, daß sich das Bild der präsidentiellen Beständigkeit auch in seiner Haltung gegenüber dem historischen Erbe behauptete. Der Präsident hat sich den Monumenten und den Orten, die einen Teil der nationalen Erinnerung in sich tragen, stets sehr verbunden gezeigt. Seine Liebe zu den Landschaften und der Geographie ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. In den Texten, die er in Form von Notizbüchern vor 1981 schrieb, erinnerte Mitterrand gerne daran, daß Frankreich das Produkt eines langen historischen Prozesses ist, dem es seine Geographie und die sozialen Beziehungen verdankt. Die Aufmerksamkeit, die er den Landschaften widmete, bezeugt seine Neigung, in ihnen eine Spur der Vergangenheit zu lesen - die Erinnerung an bedeutende Ereignisse.8 Dabei ging es ihm darum, das Gewicht der Beständigkeiten abzuwägen und daraus Lehren für künftige Veränderungen zu ziehen. Die Mitterrandsche Geographie war eng mit der Geschichte verbunden, da sie am besten die nationale Erinnerung Frankreichs widerspiegelte: »Die Geographie ist meine liebste und meine älteste Begleitung - mit Frankreich in Rosa und Deutschland in Grün auf den Karten meiner Kindheit. Das langsame Gefälle des Ventoux zur Ebene von Carpentras, den Kegel des Beuvray, die Loire, von Saint Benoit überstrahlt, der Felsen von Solutré, die Einsamkeit des Aigoual sind für mich wichtigere Bezugspunkte als das Datum einer Parlamentswahl.«9 Der Präsident hat immer eine besondere Verbundenheit mit dem französischen Kulturerbe gezeigt. Letzteres beschränkte sich für ihn nicht auf Orte 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und Monumente, es umfaßte auch die großen beispielhaften Gestalten, die das Land geprägt haben. Ihnen Ehre zu erweisen, betrachtete Mitterrand als eine absolute Notwendigkeit. So wurde unter den Auspizien des Präsidenten die Kontinuität und die nationale Einheit patriotisch und pädagogisch inszeniert. Die Präsidentschaft Mitterrands eröffnete daher auch eine neue Ära von Gedenkfeiern. Seit dem Tag nach der Wahl von 1981, seit der Zeremonie im Pantheon war das Ziel der Erinnerungspädagogik abgesteckt. Als guter republikanischer Abgeordneter kannte Mitterrand den Einfluß von Ritualen und Symbolen auf seine Mitbürger. Sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene gierte man nach Erinnerungstafeln, Statuen und verschiedenen Denkmälern, die an Berühmtheiten der Vergangenheit erinnerten. Der Präsident huldigte dieser Tradition bei seinen Reisen in die Provinz und in noch spektakulärerer Weise bei großen nationalen Zeremonien. So wurden während seiner beiden Amtsperioden die sterblichen Überreste einer ganzen Reihe illustrer Männer in das Pantheon überfuhrt. Abbé Grégoire, René Cassin, Jean Monnet, die auf diese Weise geehrt wurden, verkörpern jeder für sich fundamentale Werte, die für Mitterrand mit wichtigen Momenten der nationalen Geschichte verbunden sind. Die öffentliche Hommage für sie sollte daher den Franzosen eine Botschaft übermitteln. So bedeutete die Überführung von Cassin in gewisser Weise eine Ehrung der Menschenrechte, während die Zeremonie für Jean Monnet eine Verbeugung vor Europa darstellte. Der Präsident knüpfte hier an eine pädagogische Tradition an, die schon die frühe Dritte Republik mit den Begräbnisfeiern von Victor Hugo und Jaurès entwickelt hatte.10 Indes haben diese Zeremonien unter Mitterrand nicht jenen epischen Atem, der noch unter de Gaulle die Überführung der sterblichen Überreste von Jean Moulin ins Pantheon und die emotionsgeladene Rede Andre Malrauxs begleitete. Der große Arrangeur der Mitterrandschen Zeremonien war Jack Lang, Minister für Kultur und nationales Erbe, der nicht nur für die Kultur sondern auch für die »großen Arbeiten« (»grands travaux«) und für die Zweihundertjahrfeier der Revolution (»Bicentenaire«) zuständig war. Diese Ausdehnung des Aufgabenbereichs von Jack Lang war charakteristisch für die wachsende Bedeutung, die vom Präsidenten der Kultur zugedacht wurde. Im Rahmen der kommemorativen Aktivitäten nahm das »Bicentenaire« einen entscheidenden Platz ein, da es der Französischen Revolution einen besonderen retrospektiven Sinn geben sollte, der das Schauspiel, das dem Volk geboten wurde, bestimmte. Wir wollen hier nicht näher auf die Debatten unter den Politikern, Historikern und Intellektuellen eingehen, die um die Frage nach dem Stellenwert der Erinnerung in der Innenpolitik kreisten. Für die Erinnerung an 1789 gab es einen breiten Konsens. 1792 hätte dagegen bedeutet, 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der Republik, Valmy und den Soldaten des »Jahres II« zu huldigen, die in den Revolutionskriegen siegreich gegen die feindlichen Eindringlinge gekämpft hatten. Zugleich hätte es aber auch bedeutet, an die dunklen Stunden der Schreckensherrschaft zu erinnern, gegenüber denen der Präsident Frankreich ein Schauspiel der Öffnung und der Toleranz bieten wollte. 1989 markierte daher den Höhepunkt des Mitterrandismus und seiner Inszenierung. Paris erlebte am 14. Juli gleichzeitig das Gipfeltreffen der wichtigsten Industrieländer im neu errichteten Arche de la Defense, die Eröffnung der Opera Bastille und den von Jean-Paul Goude organisierten großen Festumzug auf den Champs-Elysees. Nichts wurde ausgelassen, um aus dieser Feier ein in der ganzen Welt beachtetes Ereignis zu machen. Das Thema der Menschenrechte beherrschte alle öffentlichen Auftritte. Alles war so, als ob die Welt durch eine Rückkehr zu den Ursprüngen wieder zurechtgerückt werden sollte. Die Erklärung der Menschenrechte erschien wie ein geheiligter Bezugspunkt, aus dem neue Kraft geschöpft werden konnte. Das Defilee von Goude wurde in diesem Sinn auch als eine extreme Mischung der Kulturen begriffen, als ein Zusammentreffen von Geschichte und höchster Modernität. Damit war man weit weg von den traditionellen Erinnerungsfeiern, so daß einige nicht zögerten, die Inszenierung als Ausdruck eines schlechten Geschmacks zu bezeichnen. Andere, darunter der Präsident und seine Umgebung, sahen hierin im Gegenteil den Triumph der Kreativität. In diesem Sinne präsentierte sich Frankreich auch 1992 aus Anlaß der Feiern zur Erinnerung an die Enteckung Amerikas auf der Weltausstellung in Sevilla mit einem architektonisch gewagten Ausstellungsbau. Die künstlerische Verantwortung für den französischen Pavillon trug niemand anderes als Régis Debray, ein ehemaliger Berater des Elysée. Bei der Planung seiner großen Bauvorhaben war Mitterrand immer sehr darauf bedacht, diesen Bauwerken, die die Erinnerung an die Mitterrandsche Ära aufrecht erhalten sollten, seinen sehr persönlichen Stempel aufzudrücken. Bewußtsein für die Geschichte und Sorge um die Zukunft gingen Hand in Hand: Die ideale Synthese war das erneuerte Museum. In dieser Hinsicht hatte der ebenfalls vom Präsidenten betriebene Umbau des Louvre paradigmatische Funktion. Die Wahl des Architekten Pei und die Errichtung einer Glaspyramide im Innenhof bezeugte das ausgeprägte Bedürfnis Mitterrands, das nationale Erbe aufzuwerten, ihm aber zugleich einen neuen Charakter zu geben, indem er Neuschöpfung und Konservierung nebeneinander stellte. Im Fall des Baus der umstrittenen Großen Bibliothek zeigte sich das gleiche Prinzip. Welches traditionellere Monument gäbe es als die alte Bibliothèque Nationale! War es nötig, um sie funktioneller zu gestalten, für eine architektonische Variante zu optieren, die mit den klassischen Normen der Konservierung von Büchern brach?

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Auch hier zögerte der Präsident nicht, überkommene Vorstellungen umzustoßen. Nach und nach wurde so die Kultur das wirkliche Epizentrum der zweiten Amtszeit von François Mitterrand. Die immer wichtigere Rolle von Jack Lang in der Regierung - er vereinte am Ende das Kultur- und das Erziehungsministerium unter seiner Leitung - machte den großen Stellenwert deutlich, den der Staatspräsident dem kulturellen Einsatz zumaß. Die doppelte Thematik des Erbes und der Kreation war auf diese Weise allgegenwärtig. Indem beide Dimensionen gleichermaßen betont wurden, gelang nun, was die erste Amtsperiode in einem ganz anderen Bereich versucht hatte: Man propagierte einen Wandel der Gesellschaft, der sich in die Kontinuität der nationalen, republikanischen Tradition einfügte. In der Kulturpolitik fanden sich die Ziele der Transformation und der langen Dauer miteinander versöhnt, die im Bereich der Wirtschaftspolitik nur schwer harmonisiert werden konnten. Darüber hinaus bot die Kultur die Chance, das Dreigestirn Gegenwart/Vergangenheit/Zukunft zu inszenieren. Kein Aspekt des Schauspiels wurde dabei außer acht gelassen. Dem Präsidenten gelang es so, ein Bild Frankreichs zu entwerfen, das die Tradition mit der notwendigen Vorbereitung auf eine Zukunft verknüpfte, in der das Land vor allem im wirtschaftlichen Bereich keine Vormachtstellung mehr beanspruchen können würde. Trotz einer schwierigen ökonomischen Situation, trotz eines internationalen Umfeldes, das durch den Zusammenbruch der kommunistischen Länder des Ostens durcheinandergeraten ist, bleibt Frankreich am Beginn der neunziger Jahre sehr auf seine Identität bedacht. Es ist immer noch das Land der »Orte der Erinnerung« (»lieux de mémoire«), und der Erfolg, den das Geschichtswerk gleichen Namens hat, ist symptomatisch für die Verbundenheit mit der Darstellung des Territoriums, der Gesellschaft und der Zeit, zu deren Herold sich Mitterrand gemacht hat. Im Lichte dieser Selbstdarstellung kann man die Tragweite einer Maxime ermessen, die der Präsident gerne wiederholte: »Man muß der Zeit Zeit lassen.« Diese Formulierung verweist auf eine politische Strategie und Taktik, mit der Mitterrand darauf abzielte, die Kontrolle über das innenpolitische Spiel zu behalten, indem er Gegnern wie Partnern seinen eigenen Rhythmus auferlegte. Dabei bewies er immer wieder seine Fähigkeit, die Zeit als einen unwiderstehlichen Alliierten zu benutzen. »Der Zeit Zeit lassen« bedeutet aber auch, sich der Macht der Geschichte zu beugen. In einem seiner Bücher erinnerte sich der künftige Präsident an eine Beobachtung bei einem Angelausflug mit seinem Vater: »Auf den ersten Blick passierte dort nichts. Die Stunden wiederholten sich von Tag zu Tag, ebenso die Tage, mal etwas länger, mal etwas kürzer, und in gleicher Weise taten es die Jahreszeiten. Aber wenn man näher hinsah, mit Augen, die sich 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

durch das viele Sehen nicht erschöpften, sondern öffneten, merkte man, daß sich in jedem Augenblick alles änderte. Nichts änderte sich, und alles änderte sich. Was für ein Problem!«11 Entwicklungen - so der Gedanke können nur eintreten, wenn sie in der Dauerhaftigkeit wurzeln. 4. Frankreich und Europa Ein entscheidendes Problem für einen Politiker, vor allem wenn er sich als fortschrittlich versteht, liegt darin, ein gewisses historisches Beharrungsvermögen zu akzeptieren und die darin liegenden Potentiale zu entfalten. Dabei kann der Politiker leicht eine Niederlage erleiden, wenn sein Zukunftsprojekt nicht mit den Bildern übereinzustimmen scheint, die sich die Gesellschaft von sich selber zu machen pflegt. Einen Mißerfolg dieser Art erlebte Mitterrand mit dem Projekt der europäischen Einigung, das eines der großen Vorhaben seiner zweiten Amtszeit darstellte. Die Wiederbelebung Europas nach der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages von 1987 führte zur Schaffung des gemeinsamen Marktes. Die in dem Vertrag vorgesehene Stärkung der Institutionen und der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft stieß jedoch in einem erheblichen Teil der öffentlichen Meinung Frankreichs auf großen Widerstand. Daß das Ergebnis der französischen Volksabstimmung so enttäuschend ausfiel, obwohl Mitterrand die Kampagne für Maastricht so vehement unterstützt hatte, machte die Kluft zwischen dem Präsidenten und den Bürgern deutlich. Auch auf der Ebene der Inszenierung besaß das Europa-Schauspiel für die Franzosen nicht die gleiche Attraktivität wie das ihrer eigenen nationalen Identität. Anfang der neunziger Jahre zögerte der Präsident jedoch nicht, auch öffentlich für Europa Flagge zu zeigen. Seine Fernsehansprachen fanden von nun an vor dem Hintergrund französischer und europäischer Fahnen statt. Die Überführung Jean Monnets in das Pantheon wies in die gleiche Richtung. Dennoch blieb das Unternehmen wenig überzeugend. Dabei war weniger der Mitterrandsche Diskurs als die Fähigkeit Europas umstritten, ein kohärentes und überzeugendes symbolisches Angebot zu produzieren. Das symbolische Defizit der Gemeinschaft ist die Folge einer Geschichte, deren Gewicht von dem Präsidenten offensichtlich unterschätzt wurde. Mitterrand nahm so die Perspektive eines Zeitbeschleunigers ein, getrieben von der Idee, seine Spuren in der europäischen Geschichte zu hinterlassen. Dennoch vertrug sich das europäische Thema am Ende nur schwer mit der Inszenierung der republikanischen Nation, die der Staatschef vorher so gut ausgestaltet hatte. François Mitterrand, Präsident für mehr als ein Jahrzehnt, hat das politische Leben Frankreichs dauerhaft geprägt. Obwohl er ein scharfer Kritiker 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

der Fünften Republik war, bevor er in die oberste Funktion gelangte, fügte sich Mitterrand in die Kontinuität seiner Vorgänger ein. Die Ausübung der Präsidentschaft erlaubte es ihm, die Initiative zu großen politischen Entscheidungen zu ergreifen und sich zur lebendigen Inkarnation einer kollektiven Selbstdarstellung der Nation und der Republik zu stilisieren. Die Inszenierung der französischen Nation vollzog sich dabei über die Massenkommunikation, aber auch über die Verwendung von vielfältigen Ritualen und Symbolen, wie etwa der jährlichen Pilgerfahrt nach Solutré.12 Vom Dorf der »ruhigen Kraft« zum multiethnischen Frankreich der »Generation Mitterrand« hat der Präsident das Bild der französischen Gesellschaft entscheidend verändert, indem er neben der unmittelbaren Gegenwart auch die lange Dauer artikulierte und die Kultur zu einem wesentlichen Mittel seiner Politik werden ließ.

Anmerkungen 1 Die folgenden Analysen bauen auf weiterreichenden Forschungen über die präsidcntiellen Praktiken im zeitgenössischen Frankreich auf, mit denen ich seit einigen Jahren befaßt bin. Vgl. u. a. M. Abélès, Anthropologie de l'Etat, Paris 1990, S. 128-167. 2 Die Affäre um die Diamanten, die er von Bokassa bekam, beeinträchtigte das Bild Giscards und geriet für ihn im Präsidentschaftswahlkampf von 1981 zu einer großen politischen Belastung. 3 Vgl. M. Abélès, Inauguration en gare de Nevers, pèlerinage à Solutré, in: Les Temps Modernes 4 8 8 , 1986/87, S. 7 5 - 9 7 . Es fanden insgesamt 20 offizielle Reisen in die Nièvre während des ersten Septennats statt (Vgl. P. Pavier u. M. Martin-Rolland, La décennie Mitterrand. Les ruptures, Paris 1990, S. 5 5 5 ) . 4 »Die Nièvre bleibt für mich im doppelten Wortsinn ein Wahlort. Aber ich bevorzuge die Bedeutung der Wahl des Herzens, der Freundschaft und der Dankbarkeit, die ich der Bevölkerung schulde, und auch der Treue im Laufe der Zeit.« (Rede in Nevers im Februar 1986). 5 Die Übersetzung lautet etwa: »Onkelchen laß uns nicht fallen!« Renaud verwendet dabei bewußt den populären Spitznamen »tonton« für Mitterrand. Die Umkehrung »béton« für »tomber« entspricht einem im Jugendslang gebräuchlichen Stilmittel [Anm. d. Ü b . ] . 6 »Tonton« war das Codewort, das dem Präsidenten von den Geheimdiensten gegeben wurde. Der »Canard enchainé« und die anderen Medien machten diesen Spitznamen populär. 7 Wir beziehen uns hier auf die klassische Analyse von E. Kantorawitz, Les deux corps du roi, Paris 1990. 8 M. Abélès, Les lieux du président, in: A. Micoud (Hg.), Des Hauts Lieux. La cons:ruction sociale de l'exemplarité, Paris 1991. 9 F. Mitterrand, La paille et le grain, Paris 1976. 10 Vgl. vor allem den Beitrag von Avner Ben-Amos in diesem Band. 11 F. Mitterrand, L'abeille et l'architecte, Paris 1978, S. 4 9 . 12 Vgl. Abélès, Inauguration.

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Körper und Bewegung

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WOLFGANG KASCHUBA

Die Nation als Körper Zur symbolischen Konstruktion ›nationaler‹ Alltagswelt

Die nachfolgenden Überlegungen entstanden unmittelbar aus den Diskussionen der in diesem Band dokumentierten Tagung. Es handelt sich also um einen recht ›freihändigen‹ Versuch, anhand einiger Aspekte der deutschen und der französischen Geschichte die »Konstruktion des Nationalen« einmal schärfer als einen kulturellen Prozeß zu beleuchten: als einen Prozeß, bei dem ›physische‹ Imaginationen und Repräsentationen der Nation eine wesentliche Rolle spielen. Dabei geht es um nationale Verkörperungs-Strategien im wörtlichen Sinne, um symbolische Praktiken, deren geschichtliche wie gegenwärtige Bedeutungen, wie mir scheint, wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen die Forschung bislang geschenkt hat. I. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist zunächst die generelle Frage, wie nationales Denken in europäischen Gesellschaften historisch verankert wurde, wie es im 19. Jahrhundert vor allem gelang, dessen abstrakte Ideen und Werte erfolgreich in ›reale‹, also quellenmäßig dokumentierte und analytisch nachvollziehbare Denk- und Handlungsformen der Zeitgenossen umzusetzen. Auf diese Frage gab der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson1 in seiner Betrachtung über die Nation als »gedachte Gemeinschaft« vor einigen Jahren bereits erste Antworten. In einer eleganten Studie legte er dar, welche kulturellen und ideologischen Diskurse im Gefolge der Aufklärung bei der »Erfindung der Nation« Pate standen und wie ihr der suggestive Verweis auf das vorgeblich Gemeinsame in Sprache und Bildung, in Volks- und Staatsidee dann ihre besondere »Plausibilität« und »Legitimität« verlieh. Mit diesen beiden Stichworten ist ein ethisch-moralischer Begründungszusammenhang angesprochen, der im Zeitalter vor dem ›klassischen‹ Nationalismus lediglich für die Idee des dynastischen Reichs und vor allem für jene der Religion gegolten und deren besondere Aura ausgemacht hatte. 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Mit Blick auf die ideologische Legitimationsbasis weist Anderson somit zu Recht darauf hin, daß die Konstruktion nationaler Identität auch deshalb reüssierte, weil sie als Transformations- bzw. als Ablösungsprozeß religiöser Identitätskonstruktionen auf den Weg gebracht wurde. In Anlehnung an Max Weber argumentiert er, daß jener »Entzauberung der Welt« im Zuge der Profanisierung von Weltbildern im späten 18. und im 19. Jahrhundert zugleich neue »Verzauberungsstrategien« gegenüber standen, die ihrerseits wiederum mythische Qualitäten entwickeln konnten und unter denen der Nationalismus eine prominente Rolle einnahm. Allerdings gibt diese Darlegung des historischen Konstruktions- und Legitimationskonzepts »Nation« noch keine hinreichende Erklärung dafür, weshalb die Vorstellung nationaler Identität so rasch zu einer universellen und scheinbar unverzichtbaren Selbstzuschreibung, quasi zu unserer zweiten Natur werden konnte. Im europäischen Rahmen jedenfalls bekam die Nationalität bald eine fast anthropologisch zu nennende Statur, und dies eben nicht nur in den Augen ihre Konstrukteure, den politischen und Bildungseliten, sondern auch ›im Volk‹. Mein Eindruck ist, daß sich diese Anthropologisierung während des 19. Jahrhunderts in dem Maße vollzog, wie Facetten der Alltagskultur allmählich eine gleichsam nationalistische Imprägnierung erfuhren, wie ideologische Konstruktion und kulturelle Praxis zu kollektiven wie individuellen Mustern nationalen Lebens‹ verschmolzen. Erst dann vermochte die Vorstellung der Nation tatsächlich ihre vergesellschaftende Wirkung zu entfalten. Erst dann wurde sie zur verbindlichen Konsensformel und zur ›legitimen Praxis‹ in jenem doppelten Sinne von sozialer Verbreitung und von kultureller Anerkennung, wie wir das aus der europäischen Geschichte kennen. Indem sich ›nationales Denken‹ so zu einer sozial und emotional gestaltbaren Praxis entwickelte, vermochte es tatsächlich ›Identität‹ zu stiften: Es entwarf feste politische und räumliche Horizonte und vermittelte Wertund Gefühlsorientierungen, die integrativ wirkten, da sie Sicherheit, Bindung und Gemeinschaft versprachen. Auf diese Weise zum gesellschaftlichen Konsens erhoben und als normative Setzung bestätigt, ließ sich das nationale Prinzip‹ nicht mehr diskutieren und nicht mehr hinterfragen. Zugespitzt formuliert: Wie im Geltungsbereich der Religion bedurfte es kultureller, ja kultischer Elemente, um die nationale Teleologie wirksam werden zu lassen. Und wie dort führte deren Nicht-Praktizieren auch hier zur Ausgrenzung, zur Exkommunikation aus der Gemeinschaft. Solch eine ›Fundamentalisierung‹ des nationalen Bekenntnisses gelang allerdings nur, weil der ideologische Großhorizont der Nation auch auf kleinere, lebensweltliche Horizontausschnitte rückprojiziert wurde. Das große nationale Bekenntnis ließ sich in kleinen Alltagsgesten demonstrativ292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

bekenntnishaft nachvollziehen: durch die Lektüre patriotischer Bücher und Journale, durch Kaiserporträts und Kokarden im Wohnzimmer, durch Mitgliedschaft im Kriegerverein und Teilnahme an Nationalfeiern. Lokale ›Heimatwelten‹ dekorierten ihre Kulissen nunmehr verstärkt mit nationalen Symbolen - in Deutschland wie in Frankreich besonders nach dem Krieg von 1870/71; hier als Ausdruck neu gewonnener, dort als Ausdruck wiederzugewinnender Größe. Zwar ließe sich der Nationalismus somit als selbstreferentielles System konstruieren und beschreiben, als Idee und als ideologisches Konzept vermochte er jedoch noch nicht Alltagspraxis zu werden. Als Wertekonstruktion bedurfte er vielmehr zusätzlicher Medien und Vehikel, die diese politisch-ideologische Botschaft in soziale und kulturelle Identitätsbegriffe ›übersetzten‹, die den Transfer etwa in Begriffe von Ethnie und Mentalität, von Sprache und Bildung, von Tradition und Region bewerkstelligten. Jener als »Nationalisierung der Massen«2 apostrophierte historische Vorgang setzte eine ›kulturelle Nationalisierung‹ des Alltags und der Lebenswelten voraus. II. Für diesen Zweck nun bieten die Formen und Medien einer ›Verkörperung der Nation‹ damals wie heute geradezu ideale Umsetzungsmöglichkeiten an. Sport und Spielveranstaltungen, Tanzfiguren und Gymnastikformationen, Trauerzüge und Gedenkfeiern, nationale Aufmärsche und republikanische Demonstrationen modellieren in plastischer Form jene »Imagination der Nation«. Sie liefern das nationale Imago, das »lebende Bild« zum nationalen Gedanken, verleihen dem Nationalen seine Physis, sie ›verkörpern‹ die Nation im buchstäblichen Sinn. Mit Blick auf das kulturelle Gefüge der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stellen sie vor allem geradezu ideale Strategien der Popularisierung des Nationalen dar, über die es gelingt, den Einflußbereich des klassischen Eliten-Nationalismus auf ›das Volk‹ auszuweiten. Dabei läßt sich einerseits eine Strategie der Traditionsbildung ausmachen, die in vieler Hinsicht als Folklorisierung oder Ethnisierung zu beschreiben wäre. Aus populären oder neu popularisierten Beständen an Musik, Tracht und Tanz wird im 19. Jahrhundert ein Ensemble ›nationaler Volkskultur‹ entworfen, gleich »lebenden Bildern«, in deren Inszenierungen sich Tradition und Gegenwart, Landschaft und Gesellschaft, »Heimat« und Nation ›authentisch‹ verbinden. So jedenfalls wollen sich die zahllosen Aufzüge und Feste der Heimat-, Geschichts- und Schützenvereine in Deutschland und entsprechender republikanischer oder regionaler Organi293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sationen in Frankreich verstanden wissen. Andererseits werfen bereits die modernen Konzepte ›nationaler Massenkultur‹ ihre Schatten voraus. Turnen und Gymnastik dienen neben Freizeitsport- und Gesundheitszwecken auch der Präsentation des in seiner Disziplin machtvollen »nationalen Körpers«. Dieser Körper präsentiert sich nun immer wieder bei Aufmärschen, bei schulischen Militärübungen, beim Spalierstehen an Festen und Gedenktagen. Der einzelne und das Spezifische gehen dort im Gemeinsamen auf und finden in diesem Gefühl der Übereinstimmung wiederum ihre eigene Bestätigung und Überhöhung. Zugleich wird am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich, daß diese Integrationsstrategie der nationalen »Bewegung« auch deshalb so erfolgreich wirkt, weil sie als symbolische Form nationaler Selbstdarstellung gewissermaßen zum internationalen Wettbewerb wird. In dieser Zeit gerät der europäische Diskurs der »Vaterländer« ganz allgemein zu einer Konkurrenz nationaler Repräsentationsformen, die ›das Eigene‹ formen und modellieren, indem sie es vom ›Anderen‹ abgrenzen, es ›dem Fremden‹ gegenüberstellen. In vielen Bereichen findet bekanntlich ein regelrechter symbolischer Wettbewerb der Nationen statt, die mit Bauwerken und Denkmälern, mit Wirtschafts- und Kunstmessen in die internationale Arena treten, um bei der Leistungsschau der Moderne zu repräsentieren. Daß Körperkultur und Sport als Medien nationaler Selbstdarstellung dabei immer weiter in den Vordergrund rücken, ist naheliegend. Denn die »Verkörperung der Nation« verbindet automatisch beides: den Entwurf eigener Formen, die nationale und vor allem auch ethnisch unterlegte Wir-Gefühle von innen heraus verkörpern sollen, und die Orientierung an übergreifenden internationalen Regeln solcher Selbstdarstellung, die Vergleichbarkeit und Abgrenzung erst möglich machen. Einerseits entwickeln sich Sportpraxen und Sportregeln also immer deutlicher entlang national übergreifender Muster; sie schaffen - wie Rugby, Tennis, Leichtathletik, Fußball - direkte Möglichkeiten zum Leistungsvergleich und Länderwettkampf und bilden so ein Modell des ritualisierten Konflikts. Zum anderen bieten sie Formationen kollektiver Bewegung und kollektiver Gestik an, in denen sich nationale Gemeinschaftsgefühle als physisch und sinnlich erfahrbare Wirklichkeit zu konstituieren vermögen: Sportheroen und Mannschaften, Wettkämpfe und Länderspiele, aber auch Aufmärsche und Trauerzüge vermitteln das Gefühl einer ›Nation zum Anfassen‹, schaffen ihr eine psychophysische Form.

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III. Betrachtet man die jüngere Geschichte Deutschlands und Frankreichs unter dieser Perspektive, so entsteht der Eindruck, als ob in beiden Ländern - bedingt auch durch historische Verbundenheit wie Konfrontation durchaus ähnliche Entwicklungen und Verläufe aufzufinden sind. Vor allem zwei Zäsuren, zwei qualitativ neue Etappen der sportlichen und körperkulturellen Nationalisierung scheinen auffällige Parallelen aufzuweisen: zum einen die 1880er, zum anderen die 1920er Jahre. In den 1880er Jahren läßt sich in der Dritten Republik wie im Deutschen Kaiserreich deutlich die Entwicklung eines alltäglichen Patriotismus‹ beobachten, der in vieler Hinsicht sportliche, pädagogische wie militärische Formen annimmt. Das wird hier wie dort sichtbar etwa in der Rekrutenschulung, aber auch in der schulischen »Gymnastik fürs Vaterland«, in der politischen Pädagogik, in der nationalen Fest- und Feierkultur oder in den Sport- und Wandervereinen. 1898 wird auf dem 9. Deutschen Turnfest in Hamburg nicht zufällig ein »Germania-Festspiel« aufgeführt. Es ist jener »Marschtritt« der Riegen, der Garden, der Kompanien, der nun zunehmend den dramaturgischen Rhythmus nationaler Selbstdarstellungen bestimmt und die Inszenierungen des öffentlichen Lebens prägt. Man könnte hier von einer ›Zivilisierung des Militärischen‹ sprechen, von einer Umund Einarbeitung militärischer Disziplinmodelle in die Zivilgesellschaft, die vorübergehend vielleicht sogar glaubte, mit dieser Demonstration innerer ›Ordnung‹ und ›Stärke‹ den äußeren Konflikt, den Krieg, künftig eher vermeiden zu können. Demgegenüber scheinen die Entwicklungen in den 1920er Jahren fast unter umgekehrten Vorzeichen zu stehen, eher auf eine ›Militarisierung des Zivilen‹ hinzudeuten. Den Mythos von der nationalen »Gemeinschaft im Schützengraben« fortsetzend, nehmen innernationale wie internationale Konflikte zunehmend militärische Gestalt an. Man denke an den systematischen Aufbau paramilitärischer politischer Verbände, an bewaffnet ausgetragene soziale Konflikte im Kampf um die Straße wie um die Republik oder an die unmittelbaren militärischen Konfrontationen im Gefolge der Umsetzung des Versailler Vertrags. Politik und Öffentlichkeit erscheinen hier insgesamt deutlich stärker militarisiert, wobei das ›Nationale‹ nun auch zu einem offenen inneren Bruchpunkt geworden ist, an dem sich die Fronten gegenüberstehen: rechts gegen links. Diese innere Spaltung, das Infragestellen des nationalen Konsensus, vermag jedoch die Wirkungsmächtigkeit der nationalen Selbstinszenierung offensichtlich nur wenig zu dämpfen. Denn zugleich gelingt eine neue ›Sentimentalisierung‹ des Nationalen, die sich aus dem Verweis auf das »nationale Schicksal« speist, auf die Wechselfälle von Sieg und Niederlage, 295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

von Niedergang und Aufstieg, von innerer Bestimmung und äußerem Feind. Nirgendwo wird dieses Gefühl der »Schicksalsgemeinschaft« mehr verdichtet als bei den Einweihungen nationaler Denkmäler, bei den Ehrungen der Toten des Ersten Weltkriegs, beim Aufmarsch der Veteranenverbände und bei den Kundgebungen anläßlich nationaler Gedenktage. Denn sie vermitteln in Stimmung, in Geste, in der Körpererfahrung ein spezifisches Gemeinschaftserlebnis, dessen emotionale Wirkung mehr über die Sprache der Körper als über die Sprache der Redner vermittelt zu werden scheint und das mehr Bild als Begriff ist. Hier erscheint ›Volk‹ als ethnisch gewachsene und durch Geschichte verbundene Gemeinschaft, in Deutschland bereits auch als »rassische Einheit« konturiert, die ihre besondere, fast archaische Konstitution gerade bei diesen Anlässen zu beweisen scheint. Dabei erzielen die kulturellen Formen offenbar eine tiefe psychologische Wirkung, denn die Haltungen und Gesten nationaler Bewegung inszenieren sich selbst als Verweis auf historische Ursprünge, als Facetten der Geschichte, die bricolageartig3 zusammengesetzt ›Geschichtlichkeit‹ verkörpern. Nicht zufällig reklamiert alles, was sich in der Zwischenkriegszeit in Fest und Theater, in Sport und Militär, in Jugendkultur und Erziehung als »nationaler Stil« geriert, ausdrücklich diesen Traditionsbezug für sich. Auch die deutsche Jugendbewegung oder Pfadfindergruppen schmücken sich mit Zitaten aus dem Germanenmythos. Es wäre gewiß keine unwichtige Aufgabe einer Historischen Anthropologie, diese Inanspruchnahme von Traditionen populärer Spielund Festkultur einmal genauer zu untersuchen und ihre zeitgenössische Wirkung als kulturelle Legitimationsstrategie zu entziffern. IV. All diese Motive sind zugleich spezifische Kodierungen einer Männerkultur. Indem man sich auf vermeintliche Traditionen einer vormodernen Krieger- und Spielkultur bezieht, schafft man sich neue symbolische Ausdrucksformen von Stolz und Ergriffenheit, von Stärke und Gemeinschaft, die gleichwohl die Patina des Alten, des Archaischen versprechen. Zum ›Gesamtkunstwerk‹ gestaltet sich diese nationale Bewegungskultur schließlich durch die Beigabe von nationalen Liedern und Märschen, von nationalen Gedichten und Reden, von Sprechchören und Parolen, also durch die Einbeziehung von visuellen wie akustischen, von optischen wie rhythmischen Elementen. In diesem Sinne lebt sich nationale Einstellung immer stärker in ästhetischer Praxis aus. Die Verkörperung der Nation geht Hand in Hand mit der Ästhetisierung des Politischen. Bei Aufmärschen und Paraden, in Demon296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

strationen und Festzügen, bei Sportfesten und Länderspielen gelingt eine »Nationalisierung der Massen« vor allem über jene szenischen Formen, deren Bauprinzip Siegfried Kracauer als das »Ornament der Masse« charakterisiert hat.4 Es sind Konfigurationen des Nationalen, Gemeinschaft verkörpernde Bilder, bei denen man in Analogie zu Pierre Noras nationalen »lieux de mémoire«5 von »figures de mémoire« (»Figuren der Erinnerung«) sprechen könnte. Denn diese spezifische ›Verkörperung‹ wirkt gleichsam als emphatische Verbindung von Sinnstiftung und von Sinnlichkeit. Ähnlich wie das Theater schafft sie ein eigenes mimetisches Erlebnis und prägt sich als nationaler Bilderkode in das kollektive Gedächtnis ein. Dies scheint eine ganz besondere Qualität dieser ›physischen‹ Repräsentationsformen des Nationalen auszumachen. Es darf daher auch nicht vergessen werden, welch entscheidende Rolle dabei die Kunst und die Medien nicht erst in diesem, sondern bereits im 19. Jahrhundert spielen. Denkmal und Bild, Lied und Text, dann Foto und später Film prägen einen spezifischen nationalen Bilderkode des Pathetischen, des Erhabenen, des Feierlichen. Solche Gesten und Szenen werden dann im kollektiven Bildgedächtnis als Signaturen ›nationaler Haltung‹ gespeichert. Die Darstellungen des Hambacher Festzuges von 1832, Adolph Menzels Bild der »Aufbahrung der Märzgefallenen« von 1848, die Gemälde der Kaiserkrönung in Versailles, die ›klassischen‹ Szenenfotos der politischen Demonstrationen der 1920er Jahre, Leni Riefenstahls braune Bewegungsfilme wie auch die Bilder der großen nationalen Siege im internationalen Sportgeschehen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sind Teile einer langen Galerie ›deutscher Bilder‹, in denen nationaler Geist und nationaler Körper vereint scheinen. Frankreich hat seine Galerie nationaler Bewegungsbilder dank der Delacroix, Daumier und Lecomte womöglich noch dichter behängt. Es scheint mir wichtig, eine Ikonologie dieser nationalen Bild- und Körpersprache noch genauer ins Auge zu fassen, als dies bislang - vereinzelt etwa in der Kunstgeschichte - geschehen ist. Nicht nur, um Bilder der Vergangenheit dekodieren und in ihrer historischen Deutung besser verstehen zu können, sondern vor allem auch, weil dieser Bilderkode der nationalen Gesten und Haltungen eben auch heute noch Gefühle nationaler Ergriffenheit auszulösen vermag, weil er damit zitierfähig bleibt und in der politischen Öffentlichkeit nach wie vor zur Selbstinszenierung und zur Legitimierung ›vor der Geschichte‹ benutzt wird.

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v. Nun wäre es jedoch einseitig und falsch, diese Produktion und Verankerung nationaler Körperbilder und Gefühle allein als die erfolgreiche Umsetzung eines ideologischen Konzepts ›von oben‹ zu betrachten. Die ›Konstruktion des Nationalen‹ meint zwar primär politische Macht- und Herrschaftsstrategien, die über die ›Nationalerziehung‹ in Schule, Militär und patriotischem Feierritual systematisch in die Köpfe wie die Körper eingepflanzt wurden. Dennoch bleibt auch danach zu fragen, welche Bereitschaft, welche Disposition in den Gesellschaften und ihren verschiedenen sozialen Gruppen vorhanden war (und ist), diese Botschaften und Haltungsmodelle so bereitwillig aufzunehmen und zu einem Stück eigener Identität zu machen. Daß auch Sport und Körperkultur in diesem Gewöhnungs- und Aneignungsprozeß eine gewichtige Rolle gespielt haben und daß sie entsprechende Dispositionen befördern konnten, indem sie einen gleichsam spielerischen Zugang zur Nationalisierung von Identitätskonstruktionen ermöglichten, liegt auf der Hand. Die einschlägigen Beispiele etwa aus der Pädagogik und der Körperkultur gibt es bereits sehr früh. Sie beginnen hierzulande spätestens mit Friedrich Ludwig Jahn und seiner »Deutschen Turnkunst«.6 Aber auch der moderne Sport bekennt schon im 19. Jahrhundert nationale Farbe: Im Jahre 1894 fragt ein Professor Koch aus Braunschweig im Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele: »Sind Fußball und Tennis deutsche Spiele?«7 Der Professor verneint dies zwar, hält sie jedoch angesichts des gefestigten Nationalbewußtseins der deutschen Jugend für eher ungefährlich. Auch die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen luden bereits 1896 offiziell zum »Wettkampf der Nationen« ein - ein Bild, das sich im modernen Sportgeschehen bzw. im Sportjournalismus dann weiter verbreitete und ausdifferenzierte. Der »Länderkampf«, die »Fußballschlacht« sprechen völlig selbstverständlich den Jargon des Nationalismus. In den letzten hundert Jahren haben Sport und Körperkultur viel dazu beigetragen, nationales Bewußtsein zu generieren und damit zugleich jenes Bild vom ›Anderen‹ mit zu entwerfen und das Wort wie das Bild vom Konkurrenten, vom Gegner, vom Feind zu veralltäglichen. Kritische Beobachter wie Roland Barthes8 haben an Beispielen wie der Tour de France, des Fußballs oder des Boxens anschaulich beschrieben, wie besonders in den Zeiten vor den beiden Weltkriegen in den nationalen Öffentlichkeiten immer wieder jenes Wechselspiel zwischen dem Sportheros und dem Kriegsheros als den Trägern nationaler Epen und Mythen zu beobachten ist. 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

So war und ist der Schritt von der spielerisch erzeugten Gruppenidentität zur nationalistischen Identifikation stets ein kurzer und verführerischer. Der nationale Horizont überhöht Sport und Spiel und liefert zusätzliche Motivationen und Reize, indem er das Wettkampf- und Konkurrenzprinzip dramatisch übersteigert. Damit rückt er die Akteure weiter nach vorn in den Lichtkegel des Idols, und dem Publikum verspricht er Teilhabe an solcher Größe und nationale Selbstvergewisserung im Gefühl der Gemeinschaft. Was demgegenüber jene andere Tradition bewirkt hat, die der Sport ebenfalls verkörpert - jenes gegen Konkurrenz und Kampf wirkende spielerische Element, die sozialisierende Wirkung sportlicher Praxis, die Internationalisierung regionaler und nationaler Sportkulturen, die schichtübergreifende Einleitung ›interkultureller‹ Prozesse -, auch dies darf andererseits nicht vergessen werden. Auch hier wäre vieles noch genauer aufzuarbeiten, von älteren Traditionen des populären Spiels oder des Arbeitersports bis hin zur ›wilden‹ Sportszene unserer Tage. So könnte am Ende vielleicht dies als pauschales Resümee stehen: Wohl war der Sport stets und vielfältig für nationalistische Zwecke brauchbar, doch ließ er sich dafür nicht immer und nicht überall mißbrauchen.

Anmerkungen 1 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Sprcad of Nationalism London 1983, S. 80-103. 2 G. L. Mosse, Nationalisierung der Massen, Frankfurt/M. 1993. 3 Bricolage, frz. für »Bastelarbeit«. Der Begriff wurde durch den Anthropologen C. LeviStrauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1991 8 , S. 29-48, in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt [Anm. des Hg.]. 4 S. Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays (1920-1931), Frankfurt/M. 1963. 5 P. Nora, Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984-92. 6 F. L. Jahn, Die deutsche Turnkunst, o.O. 1816. 7 Prof, Dr. Koch, Sind Fußball und Lawn Tennis deutsche Spiele?, in: Jahrbuch für Volksund Jugendspiele 3, 1894, S. 58-62. 8 R. Barthes, Die Tour de France als Epos, in: G. Hortleder (Hg.), Sport-Eros-Tod, Frankfurt/M. 1986, S. 25-36; Ders., Die Welt, in der man catcht, in: Ebd. 37-47.

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PIERRE ARNAUD / ANDRÉ GOUNOT

Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879-1889) Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte

Bis in die achtziger Jahre hinein fand die Frage nach der Entstehung, Verbreitung und Bedeutung der verschiedenen Formen körperlicher Aktivitäten in der französischen Geschichtswissenschaft kein Interesse. Daß angelsächsische Historiker wie Theodore Zeldin und Eugen Weber in ihren Untersuchungen über die französische Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts dem Sport eine gewisse Bedeutung beimaßen,1 wurde von der Historikerzunft in Frankreich nicht registriert oder mit wohlwollendem Desinteresse als Abweichung vom Themenspektrum der französischen Geschichtswissenschaften wahrgenommen. Dies mag überraschen, gehörte es doch zu den Grundanliegen der »Annales«-Schule, mentale Strukturen und alltägliche Handlungen in die historische Betrachtung einzubeziehen. So plädierte Lucien Febvre für eine Geschichte, die der Vielfältigkeit menschlicher Ausdrucksformen gerecht wird: »Als Wissenschaft vom Menschen schließt die Geschichtswissenschaft in ihren Forschungen keine der Funktionen und keine der Äußerungen des menschlichen Lebens aus.«2 Marc Bloch vertrat die Ansicht, die Ausklammerung der Geschichte des Körpers und der Körperlichkeit sei Symptom einer Geschichtsschreibung, welche die Wirklichkeit nur begrenzt erfasse: »Eine Geschichte, die diesen Namen eher verdient als die zaghaften Versuche, auf die uns heute unsere Mittel beschränken, hätte ihren Platz beim Ablauf der Wechselfälle des menschlichen Körpers.«3 Trotz solcher Forderungen wurden die historischen Erscheinungsformen körperlicher Aktivitäten lange Zeit von den französischen Historikern nicht genutzt, um gesellschaftliche Körperbilder und Wertorientierungen oder auch Bedürfnisse und Identifikationen sozialer Gruppen herauszuarbeiten. Bezeichnenderweise stammt die erste umfassende sozialhistorische Studie zum französischen Sport von einem britischen Historiker.4 In den achtziger Jahren rückte die Sportgeschichte stärker in das Blickfeld der Sportwissenschaft, die den Schwerpunkt auf die politischen und sozialen 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Funktionen der Gymnastik- und Sportbewegungen in der Zeit zwischen 1870 und 1914 legte.5 Inzwischen wird der Sportgeschichte aber auch unter den französischen Fachhistorikern mehr Aufmerksamkeit gewidmet.6 Vielleicht läßt sich dies als eine Hinwendung der französischen Sozialgeschichte zum Konkreten und Alltäglichen, als Annäherung an die Historische Anthropologie und somit als ihre Rückkehr zu den Konzeptionen der Gründer der »Annales«-Schule, Marc Bloch und Lucien Febvre,7 interpretieren. Auch mag das neue Interesse am Vereins- und Geselligkeitswesen eine Rolle gespielt haben.8 Schon 1937 machten die Turn- und Sportvereine 25 Prozent der in Frankreich registrierten Vereine aus.9 Die in Frankreich entstandenen Arbeiten zur Sportgeschichte sind bisher in Deutschland wenig beachtet worden.10 Da dies wahrscheinlich nicht nur mit sprachlichen Barrieren, sondern auch mit einem zu geringen Informationsfluß zusammenhängt, soll der vorliegende Beitrag nicht zuletzt Hinweise auf die vorhandene Literatur zur französischen Sportgeschichte liefern. Zentrales Thema der Untersuchung ist die republikanische Politik im Bereich der Leibeserziehung und der Wehrertüchtigung im Frankreich der 1880er Jahre. Zunächst werden die politischen Vorstellungen und Maßnahmen dargestellt, die sich auf das Bildungs- und das Vereinswesen bezogen. Ein zweiter Abschnitt beleuchtet dann an Hand der Nationalfeiern in Lyon Funktionen und Bedeutungen von öffentlichen Festveranstaltungen, in deren Rahmen gymnastische und sportliche Darbietungen eine wesentliche Rolle spielten. Lyon dient hier als Beispiel für den Beitrag, den die Provinzstädte bei der Propagierung und Umsetzung der republikanischen Politik leisteten. Es ist bemerkenswert, daß die städtischen Behörden in Lyon Projekte der Republikaner häufig sogar früher verwirklichten, als dies auf nationaler Ebene geschah.11 Im behandelten Zeitraum etablierte sich das republikanische System definitiv.312 1879 eroberten die Republikaner die Mehrheit im französischen Senat, nachdem sie bei den Wahlen von 1876 schon die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer errungen hatten. Die Regierungsgewalt lag nunmehr vollständig in ihren Händen. Damit gilt 1879 allgemein als Beginn der Dritten Republik. Zehn Jahre später fand dagegen die erste tiefgehende politische Krise des parlamentarischen Systems mit dem Scheitern der boulangistischen Agitation ihr Ende. Die Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Französischen Revolution verliehen der Republik daher 1889 in gewisser Weise eine neue symbolische Weihe. Das Jahrzehnt zwischen diesen beiden Eckdaten war durch eine beispiellose Politik der Massenmobilisierung gekennzeichnet, in der die Leibeserziehung eine wichtige Rolle spielte. Am 27. Januar 1880 wurde die Gymnastik als Pflichtfach an den Schulen eingeführt.13 Der Erlaß ging den republikanischen Schulgesetzen Jules Ferrys14 voraus; zugleich zählte er, 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ebenso wie die Einrichtung von Schulbataillonen und die Förderung der Gymnastik- und Wehrvereine,15 zu den staatlichen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht16 ergriffen wurden. Die republikanischen Zeitungen, die pädagogischen Fachzeitschriften und die Publikationsorgane der Gymnastikbewegung unterstützten diese Politik. Zieht man darüber hinaus das Engagement der republikanisch und national orientierten Ligen (»Ligue de l'Enseignement«, »Ligue des Patriotes« oder »Unions Patriotiques«) in Betracht, verdichtet sich der Eindruck, daß die Republikaner große Anstrengungen unternahmen, um die französische Jugend zu gewinnen. Es sind »Wörter und Ideen, die die republikanische Doktrin ausmachen«, stellt C. Nicollet fest, und er fügt hinzu, daß »diese Ideen Praktiken und Realitäten geworden sind«.17 Die Vermittlung der republikanischen Ideologie hat somit zu einer Verinnerlichung von Werten und Einstellungen, von Verhaltens- und Sprachformen geführt. Hierzu bedurfte es insbesondere in der Anfangszeit der Dritten Republik einer politischen Pädagogik, die den Worten und Diskursen durch adäquate Bewegungsformen Ausdruck verleihen sowie Verstand und Gefühl, Worte und Handlungen in Einklang bringen konnte. Die jungen Franzosen mußten ihren Körper neu erfahren; die Gymnastik sollte auf den Habitus des einzelnen in ähnlicher Weise wirken wie die französische Normsprache auf die verschiedenen Dialekte. Ähnlich wie die Sprachpolitik gehörten die Bestrebungen, in die Körperpraxis der Franzosen einzugreifen, zu den Aspekten der kulturellen »Nationalisierung der Massen«,18 welche die »einige und unteilbare Republik« als Verkörperung der nationalen Gemeinschaft zementieren sollten. Im folgenden wird zunächst das praktische und theoretische Instrumentarium genauer herausgearbeitet, das eingesetzt wurde, um die nationale Einheit mit Hilfe gemeinsamer Werte und Formen der Körperkultur zu stärken. Der französische Diskurs über Leibeserziehung, anschließend geschildert, glich in mancher Beziehung dem deutschen;19 denn die Vorstellungen über Gymnastik hier ähnelten denen über Turnen dort. Im Schlußkapitel wird dieser Aspekt aufgegriffen, um einige Anregungen zur vergleichenden Untersuchung beider Länder zu geben. 1. Staatliche Maßnahmen und ihre Hintergründe Die Schulgymnastik. Unter dem Eindruck der Niederlage von Sedan verwiesen die Republikaner immer wieder auf die Bedeutung, die Gymnastik und militärische Ausbildung im Rahmen der Erziehung der Franzosen zu patriotischen, verantwortungsbewußten und kampffähigen Staatsbürgern bekommen sollten. Besonders eindringlich formulierte dies Léon Gam302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

betta, der als geistiger Vater des republikanischen Wehrgedankens gelten kann.20 Die Vorstellungen von der geistigen, körperlichen und moralischen Erziehung wurden von den Republikanern an den Kult um die »patrie« (»Vaterland«) geknüpft, der über ein enges revanchistisches Denken hinausging. An die Schule wurden damit Aufgaben herangetragen, die nur mit Hilfe weiterer erzieherischer Institutionen außerhalb von ihr zu erreichen waren. Frankreich sollte sich einer von den republikanischen Werten geleiteten Pädagogik verschreiben. Dieser Gedanke geht auch aus den Ansprachen von Jules Ferry hervor, die sich mit der Frage der Einführung der Gymnastik als Schulpflichtfach beschäftigten. In seiner Funktion als Bildungsminister betonte Ferry, daß es notwendig sei, der Jugend frühzeitig die republikanischen Werte nahezubringen: »Wir müssen schon dem kleinen Kind immer wieder erklären, daß es eine Nation ohne Pflichterfüllung nicht geben kann ... [Um] die Aufmerksamkeit der Kinder auf militärische Angelegenheiten zu lenken, formen wir sie in einem Alter, in dem ihnen noch jede Art von Bewegung Spaß macht, in dem alle Eindrücke noch auf sie wirken und ihre Spuren hinterlassen«.21 Ferry argumentierte ebenso wie Gambetta im Sinne der Konzeption der integralen Erziehung, die den Republikanern am Herzen lag: »Die Universität erkennt genau wie Sie, daß die Probleme der nationalen Erziehung in einem Land wie Frankreich nicht allein durch die intellektuelle und moralische Ausbildung gelöst werden können; die Körperkultur muß das ihre dazutun. Deshalb wurde die Gymnastik per Gesetz zum Pflichtfach gemacht.«22 Jules Ferry ging davon aus, daß die neuen Gesetze Frankreich innerhalb von zehn Jahren »männliche, vernünftige, geistig und körperlich gesunde Nachkommen« beschert haben würden.23 Die integrale Erziehungskonzeption rechtfertigte sich nicht zuletzt aus militärpolitischen Erwägungen, Der Gymnastikunterricht sollte einen Ausgleich zu den geistigen Fächern bilden und wesentlich »zur Wirksamkeit unserer Militärgesetze« beitragen.24 Dabei ging es nicht nur um die körperliche Ertüchtigung, sondern auch um die Aneignung von Disziplin, deren Bedeutung für den republikanischen bzw. nationalen Zusammenhalt Jules Ferry hervorhob: »Es wurde viel darüber gesprochen und geschrieben, daß keine Übereinkunft von militärischem und republikanischem Geist möglich sei. Meine Herren, das ist eine Beleidigung sowohl für den militärischen als auch für den nationalen Geist (langer Beifall). Der militärische Geist hat zwei Bestandteile: den Geist der Disziplin und den Geist der Aufopferung. Kann eine Republik auf Disziplin verzichten? Eine Republik ohne Disziplin ... wäre nichts als eine lose Staubflocke, die der erste Hauch von innen oder außen in alle vier Windrichtungen zerstreuen würde (langanhaltender Applaus).«25 303 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Die Gymnastik wurde vor allem deshalb zu einem wichtigen politischen Projekt für die Republikaner, weil sie in das pädagogische Gesamtkonzept paßte, diziplinierend wirkte und die Militärgesetze umzusetzen half. Die Schulbataillone. Das Dekret vom 6. Juli 1882 zur Gründung von Schulbataillonen (»bataillons scolaires«) vervollständigte das Gesetz über die Einführung der Gymnastik an den Schulen vom 27. Januar 1880. Allerdings wurde die Einrichtung eines Schulbataillons nicht für obligatorisch erklärt, sondern blieb der Entscheidung der jeweiligen Schuldirektion überlassen.26 Die »Bataillons scolaires« sollten die Schüler durch militärische Übungen und Marschieren in Uniformen frühzeitig mit den Aufgaben des Soldaten vertraut machen. Das Sprachrohr der Republikaner in Lyon, die Tageszeitung »Lyon Républicain«, begrüßte diese Neuerung: »Wir können unsere Zustimmung zu dieser Innovation gar nicht genug betonen; sie wird unserem Militärwesen sicherlich außerordentlich nützlich sein und außerdem helfen, die Unabhängigkeit und Sicherheit unseres geliebten Vaterlandes gegen alle, die es bedrohen, machtvoll zu verteidigen.«27 Die städtische Obrigkeit teilte diese Ansicht voll und ganz.28 Von 1882 an nahmen die Schulbataillone jährlich mit einer Parade an den Feiern zum 14. Juli teil, bei denen »die kleinen Soldaten begeisterten Beifall ernteten ... Vorne marschierten die Hornbläser der Kompanie, hinter ihnen eine Abordnung der Schulbataillone, am Ende die Lehrer. Auf beiden Seiten des Platzes waren Schüler der Schulbataillone in Zweierreihen aufgestellt ... Zweihundert Soldaten trugen die gleiche Uniform, dreihundert waren mit Schulgewehren bewaffnet... Das Schulbataillon führte die Bewegungen mit einer Gleichmäßigkeit und Präzision aus, die es nahelegt, daß diese Übungen den jungen Leuten gefallen und daß sie fröhlich und fast ohne es zu bemerken den Beruf des Soldaten erlernen.«29 Jahr für Jahr beschwor A.Gailleton,30 der Bürgermeister von Lyon, bei diesen Veranstaltungen den republikanischen Geist: »Ihr jungen Leute mögt diese Zeremonie tief im Herzen bewahren! Lernt am Beispiel eurer Vorfahren, Ehre und Fahne treu zu bleiben! Erinnert Euch stets daran, daß es die erste Pflicht des französischen Bürgers ist, der Stimme des Vaterlandes zu folgen, wenn es seine Kinder ruft. Vergeßt nicht, daß die Republik große Hoffnungen in Euch setzt.«31 Die wachsende Kritik an den pseudo-militärischen Schulbataillonen, die als »Wahlspielzeug« oder »patriotisches Spielzeug« verspottet wurden, führte allerdings ab 1888/89 zur sukzessiven Abschaffung dieser Einrichtungen.32 Teile der aufgelösten »jugendlichen Armee« gingen jedoch in den Gymnastik- und Wehrvereinen auf, deren Zahl sich inzwischen in ganz Frankreich vervielfacht hatte.33 304 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

2. Das Netz der Vereine Die Führungskräfte der Gymnastikbewegung glaubten, daß eine Fortsetzung des patriotischen und vormilitärischen Erziehungswerks im außerschulischen Bereich erforderlich sei und hierfür die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden müßten. So erklärte beispielsweise Louis Parant, der sich dieser Aufgabe in Bourg en Bresse widmete: »Der Gymnastikunterricht, dem viel zu wenig Zeit zur Verfügung steht (eine Stunde in der Woche), darf sich auf keinen Fall mit dem Unterricht der Vereinsabteilung überschneiden, die die Schulbataillone ersetzen wird. Die beiden Unterrichtsformen müssen sich gegenseitig ergänzen; sie müssen mit Bedacht koordiniert werden. Der Gymnastikverein, der den Schüler am Schultor empfängt, wird die vorhandenen Grundlagen erweitern und entwickeln; er wird den jungen Mann bis zum Beginn seiner militärischen Laufbahn begleiten.«34 Zwischen 1884 und 1891 entstanden in den Gymnastik- und Wehrvereinen die Abteilungen für Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren (»pupilles«). Ihre Gründung wurde von der republikanischen Regierung durch die Lockerung der Vereinsgesetze gefördert. Indem die Republik der Gymnastikbewegung einen bevorzugten Platz einräumte, begünstigte sie ein Zusammengehen von öffentlicher Autorität und privater Initiative. Die nationale Mobilisierung stützte sich auf eine Vielzahl von lokalen Organisationen. Sie sahen ihre Aufgabe darin, die Bürger in das System der republikanischen Werte einzugliedern: »So wie es zu den Aufgaben einer Regierung gehört, nützliche Dinge zu verordnen, so ist es die Aufgabe der Bürger, diese in die Praxis umzusetzen. Allzu oft hat sich gezeigt, daß der Staat allein nichts erreichen kann und daß seine besten Reformvorschläge lebloses Papier bleiben, wenn sie nicht mit Hilfe privater Initiative zum Leben erweckt werden.«35 Die Gymnastik- und Wehrvereine sollten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen und den einzelnen in eine Gruppe integrieren bzw. assimilieren. Dabei zählte die einzelne Handlung weniger als die von ihr verkörperten republikanischen Werte: Bürgergeist, Patriotismus, Freiheit, Gleichheit, Solidarität - aber auch Disziplin und Autorität. Die Persönlichkeit der jungen Vereinsmitglieder sollte unter pädagogischer Anleitung und durch praktische Erfahrungen geformt werden. Ziel war ein starkes Gemeinschaftsbewußtsein.36 Das Vereinsleben sollte physische und moralische Erziehung miteinander verbinden. Der Gymnastikverein bildete eine Instanz zwischen Familie und Vaterland. Aufnahme- und Ausschlußriten, Protektion und Patenschaft waren Teil einer von Ordnung und Disziplin geprägten Sozialisation, durch 305 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die jedes Mitglied nicht nur seine Persönlichkeit entfalten, sondern auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und schließlich zur Nation entwickeln sollte. Das Tragen der Uniform, der Respekt vor der Fahne und die gemeinsamen Übungen waren Symbole einer ›geschlossenen‹ Gemeinschaft. Nach außen hatten die Mitglieder den Auftrag, als »Athleten der Republik« in öffentlichkeitswirksamen Wettbewerben und Vorführungen den Massen als Vorbild zu dienen. Sie verkörperten das Idealbild der »ergebenen Bürger, die bereit sind, die höchsten Opfer zu bringen, wenn es darum geht, für Freiheit und Ruhm des Vaterlandes zu kämpfen«, wie Paul Bert vor der Abgeordnetenkammer erklärte. Er fügte hinzu, daß weitere politische Anstrengungen erforderlich seien, um eine derartige Opferbereitschaft des Volkes zu schaffen: »Es bleibt noch viel zu tun, um die Herzen zu entflammen, um die Schriften und Lieder hervorzubringen, welche überall das patriotische Feuer entfachen werden, ohne das eine Nation weder ihre Selbstbestimmung noch eine gesicherte Existenz finden kann.«37 Mit Mitteln, die auf die Emotionen der Bevölkerung zielten, wollte die republikanische Regierung so ein in Geist und Körper verankertes nationales Bewußtsein herstellen und dieses vertiefen. Für die Realisierung dieses Vorhabens erschien neben der Einbindung der Jugendlichen in erzieherisch wirkende Vereine die Ausarbeitung einer politischen Pädagogik der Festveranstaltungen und Gedenkfeiern notwendig.

3. Nationalfeier und politische Pädagogik Die Zelebrierung des ersten Nationalfeiertages der Dritten Republik stand in Lyon unter günstigen Vorzeichen. Von der Bevölkerung wie auch vom Stadtrat gab es starken Zuspruch für die Ausrichtung einer Feier zu Ehren der Republik.38 Allerdings entsprach die Lyoner Eigeninitiative nicht den Vorstellungen der französischen Regierung. Der Stadtrat hatte 1879 festgestellt: »Jedes Regime feiert den Jahrestag seines Regierungsantritts und erklärt ihn zum nationalen Feiertag. Doch seit mehr als acht Jahren hat die republikanische Regierung eben dies nicht getan und macht auch jetzt keine Anstalten dazu, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung entsprechende Wünsche wiederholt ausgesprochen hat. Wenn uns das Recht zur Dekretierung einer Nationalfeier auch nicht zusteht, so liegt es doch im Rahmen unserer Möglichkeiten, eine von Obrigkeit oder Gemeinde organisierte Feier ins Leben zu rufen.«39 Gegen diesen Vorstoß intervenierte der für die Ausrichtung öffentlicher Feiern zuständige Innenminister persönlich. Er betonte, daß »Lyon seine Zuständigkeiten überschritten« habe: »Anordnung und Ausrichung öf306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

fentlicher Feiern sind Sache der Regierung.«40 Diese legte den 14. Juli als Nationalfeiertag fest. Begangen werden sollte er erstmals 1880. Die staatlichen Vorgaben für die Feierlichkeiten ließen lange auf sich warten.41 Auch die städtische Kommission, die mit der Planung des offiziellen Programms in Lyon beauftragt war, legte ihr Konzept erst am 1. Juli 1880 vor. Im großen und ganzen folgte es dem Programm, das schon den Feierlichkeiten des Zweiten Kaiserreiches am 15. August als Richtschnur gedient hatte. Der 14. Juli sollte mit einer Mischung von sportlichen und militärischen Darbietungen begangen werden: Spektakel zu Wasser, Fischerstechen, Regatten, gymnastische Vorführungen, Radrennen und Radartistik. Militärparaden, der Aufmarsch eines Kadettenbataillons und die rituelle Fahnenübergabe sollten der Bevölkerung von Lyon eine Armee vor Augen fuhren, auf die sie stolz sein konnte. Die Kommentare der meisten Zeitungen ließen keinen Zweifel am Erfolg der Feiern aufkommen. Im »Petit Lyonais« hieß es beispielsweise: »Lyon war großartig. Der erste Nationalfeiertag ist in unserer Stadt mit beispielloser Begeisterung aufgenommen worden - selbst die Älteren können sich an nichts Vergleichbares erinnern. Welch erstaunlicher Kontrast zu der verhaltenen Zustimmung, die die verordneten Feiern zum 15. August hervorgerufen haben! ... Wer würde nach diesem Tage noch die Behauptung wagen, unsere Nation sei nicht republikanisch gesinnt?«42 Der 14. Juli bot ein Fest mit vielen Gesichtern. Zunächst war es die Feier der Stadtverwaltung, die hier Gelegenheit fand, ihrer Unterstützung der Republik und der Ideale der Französischen Revolution Ausdruck zu verleihen. Zugleich aber handelte es sich um ein Fest der Arbeiter. Dies wurde durch die Verleihung der »Pleney-Preise« wie auch bei der Rede von Oustry, des Präfekten des Departement Rhone, deutlich: »Der Tag des Bastillesturms heiligt den vollendeten Fortschritt, die erkämpften Freiheiten, die nationale Souveränität, die bürgerliche und politische Gleichheit, die Herrschaft von Geist und Arbeit, welche auf den Ruinen der Privilegien und der wohlfeilen Lustbarkeiten errichtet wurden ... Indem sie ihre Ursprünge auf dieses heroische Datum zurückfuhrt, ... feiert diefranzösischeRepublik die politische Befreiung der Nation und die ökonomische Freiheit des Arbeiters gleichermaßen.«43 Der 14. Juli war aber auch die Feier der Sportvereine, welche die festliche Präsentation einer kräftigen und männlichen Jugend ermöglichten. Die katholische Zeitung »Le Nouvelliste« hatte nur Hohn für ein Ereignis übrig, mit dem die Republik »an ihre kriminellen Ursprünge« erinnere. Die Republik umgebe sich mit »königlichem Glanz«, doch sei dies »nichts als Maskerade«.44 Ziel des von den Sportvereinen in Szene gesetzten Spektakels sei es, die öffentliche Aufmerksamkeit von den wichtigen politischen Fragen abzulenken. Dabei waren die sportlichen Darbietungen dieses

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ersten Nationalfeiertags noch weit entfernt von der überschwenglichen Leidenschaft der Jahre nach 1882. Als sich 1889 die Französische Revolution zum hundertsten Mal jährte, hatte sich das politische und kulturelle Umfeld beträchtlich gewandelt. Die Hundertjahrfeier, die auf die Boulanger-Affäre folgte, wurde zu einer einzigartigen, spektakulären Gedenkfeier. Eine regelrechte Athletenarmee von 5000 Vereinsmitgliedern, darunter mehr als 2500 Gymnasten, nahm daran teil. Es gab 1889 keine Opposition, die den Erfolg der Feier hätte trüben können. In Lyon existierte nur ein einziger konfessioneller Gymnastikverein,45 der sich sogar an den Paraden und Wettbewerben des 14. Juli beteiligte. Die Kommentare der katholischen Zeitung zeichneten sich 1889 mehr durch Ironie als durch scharfe Gegnerschaft aus. Gefragt wurde, ob das hundertste Jahr des revolutionären Zeitalters Anlaß zum Feiern geben könne.46 Man unterließ jedoch Angriffe auf republikanische Institutionen und gab sich mit der Kritik an Personen (u. a. an dem Bürgermeister Gailleton und an den städtischen Notabein) zufrieden. Die ›Vereinnahmung‹ der Stadt durch die Vereine war mit größter Aufmerksamkeit vorbereitet worden. Aufmarschpläne und die für gymnastische Vorführungen, Regatten und Turniere gewählten Orte lassen ein pädagogisches Konzept erkennen. Die zentralen Festveranstaltungen, die Stadtteilfeste sowie die nationalen und lokalen Wettbewerbe verteilten sich auf die Stadt, vom Mittelpunkt bis zur Peripherie. Die Spiele waren öffentlich. Die sportlichen Spektakel fanden auf der Straße, auf Plätzen und auf dem Wasser, d.h. an Orten ohne spezifische sportliche Zweckbestimmung statt, um die Bevölkerung direkt zu erreichen. In einer gleichsam ökumenischen Versammlung wurden Offizielle, Teilnehmer und Zuschauer zusammengeführt. Die offizielle Feier stützte sich auf ein emphatischpompöses Zeremoniell; in den traditionellen Feiern der Stadtviertel manifestierte sich dagegen eine Spontaneität, die bisweilen in zügellosen Ausbrüchen endete. Nur das republikanische Fest bot die Möglichkeit, sämtliche Gymnastikund Sportvereine Lyons gleichzeitig auftreten zu sehen, denn alle anderen Formen sportlicher Darbietung folgten ihrem eigenen Terminplan. Man kann bei den Feierlichkeiten des 14. Juli von Spielen des Gedenkens sprechen, die in Abstimmung mit dem republikanischen Kalender veranstaltet wurden. Im Mittelpunkt stand nicht der Wettbewerb, sondern die symbolische Funktion. Die Feier war in erster Linie republikanisch. Es ging um Politik, nicht um Sport. Die Gymnastik- und Wehrvereine waren offizielle Werkzeuge der republikanischen Ideologie und Propaganda und trugen zur politischen Selbstinszenierung der Republik bei. Paraden, Fahnenübergabe, Marseillaise und 308 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

gymnastische Vorführungen fungierten als kriegerische Symbole der Volkssouveränität und nationalen Stärke. Es sollte eine Einheit vorgeführt werden, die trotz aller sozialen und politischen Differenzen Bestand hatte. Die Inszenierung einer solchen »idealen Gesellschaft« appellierte an die Vorstellungskraft des einzelnen und zielte auf die emotionale Anteilnahme der Zuschauer. Zusätzlich gewährleisteten die Gymnastik- und Wehrvereine, in denen sich vorwiegend Arbeiter und kleine Angestellte organisierten, die Teilnahme der Volksmassen an den Feiern des 14. Juli. Die Verbundenheit der Bevölkerung mit der Republik mußte jedoch unaufhörlich durch gezielte Aktivitäten gefördert und aufrecht erhalten werden. Dafür bedurfte es ständiger Appelle an Einheit, Brüderlichkeit, Solidarität und Demokratie. Paraden und Gruppenvorführungen verstärkten Reichweite und Wirkung der Reden. Der wehrbereite Gymnast sollte die zum Körper gewordene Republik und damit das zeitgenössische Frankreich repräsentieren, das sich auf die revolutionäre Vergangenheit stützte und hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Politische Inszenierungen dieser Art beruhten auf einer Pädagogik, die an Gefühl und Verstand appellierte und aufgrund ihrer politischen Bedeutung von möglichst qualifizierten Persönlichkeiten vermittelt werden sollte. Die Verantwortlichen mußten »in höchstem Maße geeignet sein, Herausforderungen aller Art zu meistern«. »Sie müssen theoretisch und praktisch Kompetenz in allen die Gymnastik betreffenden Fragen vorweisen und die Übungen nicht nur selbst praktizieren, sondern auch anderen erläutern können. Sie müssen vorsichtig und zuvorkommend mit ihren Schülern umgehen, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer besitzen. Sie müssen stark und mutig sein, einen energischen, flexiblen Charakter haben. Als treue Hüter der Disziplin müssen sie in der Lage sein, sich Respekt zu verschaffen, ohne darüber jemals zu vergessen, daß die Disziplin eine freiwillige ist. Das Vorbild, welches sie geben, ist das einzig legitime Mittel des Zwangs. ... Sie verkünden die erhabenen Ziele unserer Vereine, sie werden vom Vaterland sprechen, von jenem Frankreich, das uns allen so teuer ist, von jenen Leiden, die hinter uns, und den Hoffnungen, die vor uns liegen. Schließlich werden sie an die Pflichten erinnern, die jeder Bürger sich selbst und seinem Vaterlande schuldig ist.«47 Dieses pädagogische Unterfangen berührte unmittelbar die (körper)kulturellen Grundlagen der französischen Gesellschaft. Die Gymnastik sollte dem, der sie betrieb, eine Würde verleihen, die sich positiv abhob »von jenen Gauklern, welche sich schädlichen Torheiten und grotesken Farcen hingeben. ... Die Stadträte verhöhnen die Würde ihrer Mitbürger, wenn sie diese armen Teufel in Lumpen dem Gespött der Menge ausliefern.«48 Der Gebrauch des eigenen Körpers sollte neu erlernt werden, um die Worte der republikanischen Propagandisten zu veranschaulichen und praktisch zu 309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

unterstützen. Die Bedeutung der Gymnastik ging über die Förderung der Hygiene und der körperlichen Gesundheit weit hinaus. Sie war Teil der Erziehung der Franzosen zu patriotischen, republikanisch gesinnten, disziplinierten und verantwortungsbewußten Bürgern. 4. Gymnastik, Turnen und Nationalismus in Frankreich und Deutschland Die beschriebene Bedeutung gymnastischer Darbietungen als öffentliche Ausdrucksformen, als Rückversicherung und zugleich als Vermittlungsinstrument republikanischer Werte drückt eine politisch-ideologische Funktionsbestimmung der Gymnastik in Frankreich aus, die nach 1871 von Repräsentanten des Staates und von aktiven Verfechtern des Republikanismus vorgenommen wurde, zu denen die Führungskräfte der Gymnastikbewegung auf nationaler, regionaler und lokaler Organisationsebene zählten. Ein konstitutives Element der Diskurse war die Beschwörung einer »republikanischen Essenz« der Gymnastik. Ihre zielgerichteten und vereinheitlichten Bewegungsformen sollten die gemeinsame Verpflichtung aller Bürger zum Dienst an der republikanischen Nation ebenso symbolisieren wie die Selbstverpflichtung des republikanischen Systems, den Bürgern über alle Klassenschranken hinweg gleiche Möglichkeiten körperlicher Betätigung zu bieten.49 Der Auffassung, daß die Gymnastik, wie sie sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im organisierten Vereinswesen herausbildete,50 für eine Funktionalisierung im Interesse des republikanischen Systems besonders geeignet wäre, entsprachen die von staatlicher Seite unternommenen Anstrengungen, diese Form der Leibesübungen zu etablieren. Die Bevorzugung der standardisierten und disziplinierenden Gymnastik an den Schulen sowie die Förderung der seit 1873 in der »Union des Sociétés de Gymnastique de France« (USGF) organisierten Gymnastikbewegung durch Regierung und republiktreue Stadtverwaltungen ging dabei mit der Diskriminierung anderer Körperpraktiken einher.51 Die Verankerung der Gymnastik im Schulprogramm erwies sich allerdings, unter anderem aufgrund ihrer geringen Verbreitung in der französischen Gesellschaft, zunächst als schwierig. Noch hatte sich die Gymnastik gegenüber anderen, weniger zielgerichteten und daher aus Regierungsperspektive ›illegitimen‹ Formen der Körperkultur, wie ζ. Β. den traditionellen Spielen mit lokalem oder regionalem Charakter, nicht als die dominierende Körperpraxis durchgesetzt. Auch gab es in der Gymnastik selbst durchaus unterschiedliche Übungs- und Darstellungsformen. Besonders die akrobatische Variante, bei der Geschick und Risikofreude des einzelnen in Szene gesetzt wurden, war recht populär.52 Der Zusammenhang von Gymnastik 310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und nationaler bzw. republikanischer Gesinnung ergab sich nicht zwingend aus der körperkulturellen Praxis der Gymnastik, sondern war vielmehr eine ideologisch motivierte Konstruktion, in deren Rahmen eine bestimmte Form der Leibesübungen zum Sinnbild republikanischer Grundeigenschaften und nationalen Zusammenhalts stilisiert wurde. Die Vermittlung des republikanischen Habitus griff auf die Vorstellung von gleichgeformten Körpern und daher wiederum nicht zufällig auf die Gleichförmigkeit der Bewegungen zurück, die in den kollektiven Übungsformen der Gymnastik vermittelt wurde. In Anlehnung an Henning Eichbergs »Trialektik« der Körperkultur53 läßt sich hierin ein bestimmtes Modell der nationalen Identitätsbildung erkennen, nämlich das Modell des »Integrationsnationalismus ..., der Gleichheit und nationalpädagogische Integration prioritiert im Gleichschritt nationaler Gymnastik«.54 Ähnlich wie in Frankreich war auch in Deutschland die schulische Leibeserziehung nicht darauf ausgerichtet, eine Vielfalt von Bewegungsformen anzubieten und damit die Entdeckung und Aneignung individueller Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers zu fördern. Die Unterrichtspraxis bestimmten vielmehr einseitige, auf Disziplin und Gehorsam ausgerichtete Turnübungen. Daß sich im Kaiserreich das von Adolf Spieß entwickelte System des Schulturnens durchsetzte,55 erklärt sich unter anderem aus der von ihm in den Vordergrund gestellten Funktion des Turnens für die Disziplinierung und Wehrertüchtigung der Jugend: Solche Inhalte der Leibeserziehung stimmten mit den Interessen des Obrigkeitsstaates überein und dienten der Umsetzung der Militärpolitik im Zeichen der allgemeinen Wehrpflicht. Allerdings war die Einführung der Leibeserziehung als Schulfach in beiden Ländern nicht nur Folge einer herrschaftskonformen Schulpolitik. In Frankreich ließen sich die betreffenden Schulgesetze erst umsetzen, als sich das Netz der Gymnastikvereine verdichtete und nicht zuletzt dank der öffentlichen Gymnastikfeste56 Bekanntheitsgrad und gesellschaftliche Akzeptanz der Gymnastik gewachsen waren.57 Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg des Spießschen Schulturnens in Deutschland war, daß seine turnerischen Konzeptionen auch von vielen Vereinen übernommen wurden58 und es somit zu einer Annäherung der Vorstellungen und Praxisformen der deutschen Turnbewegune an die staatliche Schulturnpolitik kam. Um deutsch-französische Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Verhältnis zwischen Gymnastik- bzw. Turnbewegung und staatlicher Politik zwischen 1870 und 1914 präzise ermitteln zu können, fehlt es in beiden Ländern noch an Grundlagenforschungen, auf denen eine vergleichende Analyse aufbauen könnte. In Frankreich wurde vor allem die republikanische Politik gegenüber den Leibesübungen untersucht. Eine umfassende Organisationsgeschichte der USGF liegt bisher nicht vor. In Deutschland 311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

standen hingegen die Turnbewegung und die größte Turnorganisation, die »Deutsche Turnerschaft« (DT), im Zentrum des Interesses.59 Auf der Grundlage der vorhandenen Literatur können hier nur einige vergleichende Bemerkungen folgen, die nicht auf einer systematischen Untersuchung beruhen und somit als Anregungen für weitere Forschungen zu verstehen sind. Die Gymnastikbewegung in Frankreich und die Turnbewegung in Deutschland betonten ihre patriotische Gesinnung und ihre Übereinstimmung mit den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, zu deren Konsolidierung sie einen aktiven Beitrag leisten wollten. Insofern liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Bewegungen darin, daß die eine für die republikanische Verfassung und für ein demokratisches Frankreich eintrat, während sich die andere ganz in den Dienst des autoritären Systems des Deutschen Kaiserreichs stellte. Dieser Unterschied in der politischen Orientierung kann allerdings auf weitgehende ideologische Gemeinsamkeiten zurückgeführt werden. Für beide Bewegungen galt der Dienst am Vaterland als höchster Wert, beide wurden auch in ihrer Anfangszeit von der Vorstellung geleitet, einen Beitrag zum Wiedererstarken des erniedrigten Vaterlandes leisten zu müssen. Dies galt angesichts der napoleonischen Fremdherrschaft für die von Friedrich Ludwig Jahn am Anfang des 19. Jahrhunderts begründete deutsche Turnbewegung60 ebenso wie für die französische Gymnastikbewegung nach der militärischen Niederlage Frankreichs von 1870. In der deutschen Turnbewegung bildete sich die deutsche Einheit als das wesentliche, die verschiedenen politischen Richtungen verbindende Anliegen heraus. Während es für die französische Gymnastikbewegung nach dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreiches nahelag, im Einklang mit der republikanischen Politik für die Wiederaufrichtung der Nation einzutreten, erfüllte sich die Forderung der deutschen Turnbewegung nach nationaler Einheit durch Bismarcks Politik mit der Gründung des Deutschen Reichs. Die 1868 in Coburg offiziell gegründete »Deutsche Turnerschaft«, die mit den liberalen und demokratischen Traditionen der deutschen Turnbewegung vollständig brach, sah nunmehr ihre Aufgabe darin, Bismarck, »dem Erfüller des Jahn'schen Hoffens auf die deutsche Einheit«,61 Hilfestellung bei der Errichtung der »Reichsnation« zu leisten.62 In den Diskursen, die sich auf die Gymnastikbewegung in Frankreich in den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik und auf die deutsche Turnbewegung im Kaiserreich bezogen, lassen sich in wesentlichen Punkten deutliche Gemeinsamkeiten feststellen. Dies gilt insbesondere für die militärische Vorbereitung der Jugend mit Hilfe systematischer Leibesübungen, das Erleben von Disziplin, Ordnungssinn und Gesetzestreue sowie für die Vorstellung, daß die Gymnastik bzw. das Turnen das nationale Zusammen312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

gehörigkeitsgefühl symbolisiere und zugleich stärke. Der Begriff der nationalen Einheit wurde inhaltlich allerdings ganz unterschiedlich gefüllt. Der Vorstellung von Gymnastik als Ausdruck republikanischer Haltung stand die Überzeugung der Führungskräfte der »Deutschen Turnerschaft« gegenüber, daß sich im Turnen deutsches Wesen und deutsche Tugenden Geltung verschaffen würden und daß das Turnen geeignet sei, das deutsche »Volkstum« zu fördern. Für die Gymnastikbewegung gehörten Nation und Republik zusammen, für die Turnbewegung waren »Volkstum« und »Deutschtum« die Leitmotive.63 Somit kamen die gegensätzlichen Auffassungen von Staatsnation und Kulturnation auch in der Gymnastik- und in der Turnbewegung zum Ausdruck. Die verschiedenen Bedeutungszuweisungen und Ideologisierungen standen im Widerspruch zu der Ähnlichkeit der Praxisformen der Gymnastik und des Turnens. Ein systematischer Vergleich der Inszenierungsmuster und Darbietungsformen auf den Verbandsfesten der USGF und den Turnfesten der DT würde mit großer Wahrscheinlichkeit einen hohen Grad an Übereinstimmung ermitteln. Dies betrifft den öffentlichen Charakter dieser Veranstaltungen, die geordneten Aufmärsche der Teilnehmer, die musikalische Untermalung, die Umrahmung durch politische Reden und auch die gemeinsamen Übungen der Gymnasten bzw. der Turner. Die verschiedenartigen Sinnzuweisungen an die Gymnastik- und Turnfeste fanden in unterschiedlichen Inhalten der Festankündigungen und der politischen Reden, in der Symbolik der Fahnen, der Festplakate oder auch der Orte ihren Niederschlag. So unterstrich beispielsweise das Verbandsfest der USGF 1892 in Nancy den Willen der Gymnastikbewegung, für die Rückkehr des nahegelegenen Elsaß-Lothringen zu Frankreich einzutreten.64 Mit besonderen symbolischen Bedeutungen war auch das 12. Deutsche Turnfest 1913 in Leipzig verknüpft.65 In der Entscheidung für diesen Festort drückte sich das Traditionsbewußtsein der DT wie auch das Anliegen aus, die Erinnerung an das nationale Ereignis der »Völkerschlacht« wachzuhalten: »Als sich die Turner 1908 in Frankfurt a. M. beimXI.Deutschen Turnfeste trennten, da sagte man überall: ›Auf Wiedersehen in Leipzig in fünf Jahren.‹ Man wollte überall, daß das 1913 abzuhaltende Turnfest - wenn die Regel von fünf Jahren Zwischenzeit eingehalten werden sollte, wie es seit 1898 geschehen ist - auf dem Boden stattfinden sollte, wo vor 50 Jahren schon die deutschen Turner zum denkwürdigen III. Deutschen Turnfeste zusammengeströmt waren und wo vor 100 Jahren die unvergeßliche Schlacht der Befreiung von hartem, übersattem Joche geschlagen worden war.«66

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Die »Deutsche Turnerschaft« konnte im Vergleich zur USGF auf eine längere Tradition zurückblicken und sich auf eine direktere Verbindung zwischen Nationalgeschichte und eigener Geschichte berufen. Schließlich war die Turnbewegung seit ihrer Entstehung ein bedeutender Teil der deutschen Nationalbewegung.67 Die Erinnerung an den Befreiungskrieg war zugleich eine Erinnerung an das Wirken der Turner in der Anfangsphase der Turnbewegung. Von der französischen Gymnastikbewegung, die erst nach 1871, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit dem Staat, politische Bedeutung erlangte, wurde vor allem die Erinnerung an die Französische Revolution wachgehalten und damit die Identifikation mit der Republik bekräftigt. Sicher hatte die Verbindung zwischen Turnbewegung und deutscher Einheit eine weitaus konkretere Grundlage als jene zwischen Gymnastik und republikanischen Werten, die nach der formalen Konstituierung der Republik hergestellt wurde. Daß aber das Turnen nicht so typisch ›deutsch‹ war, wie es seine Propagandisten darstellten, wird nicht zuletzt anhand der ähnlichen Praxisformen der republikanischem Gymnastik deutlich. Welchen Einfluß die Gymnastik- und die Turnbewegung auf das nationale Denken in Frankreich und in Deutschland ausgeübt haben, läßt sich nicht genau ermessen. Auch kann nicht aus den Äußerungen der Verbandsfunktionäre auf ein nationalpolitisches Anliegen sämtlicher Vereine geschlossen werden. Die Gründe, einen Gymnastik- oder Turnverein ins Leben zu rufen, waren vielfältig. Es sei hier nur an ein von Richard Holt angeführtes Beispiel erinnert. In Montpellier existierte 1909 ein Verein, der angeblich Gymnastik betrieb und sich wie viele andere Vereine »La Revanche« nannte. Es handelte sich dabei um einen getarnten Trinkerverein, der zuvor verboten worden war und nun, unter dem Deckmantel einer patriotischen und erzieherischen Funktionsbestimmung, jene Aktivitäten fortsetzte, die der Programmatik der Gymnastikbewegung gründlich widersprachen.68 Auch in jenen zahlreichen Vereinen, in denen ernsthaft Gymnastik oder Turnen betrieben wurde, hat sicher nicht jedes Mitglied seine Aktivität ausschließlich als Dienst am Vaterland oder als Wehrertüchtigung aufgefaßt. Dies gilt selbst für die Teilnahme an Gymnastik- und Turnfesten, die zwar als nationale Kundgebungen organisiert wurden, von den Gymnasten oder Turnern aber ganz anders verstanden werden konnten. Allein das gemeinsame Erlebnis einer Vereinsfahrt bedeutete sicherlich hierbei einen starken Anreiz für die Beteiligten. In den Vereinen konnten die Bedürfnisse nach körperlicher Betätigung oder auch nach sozialen Kontakten wahrgenommen und männliche Geselligkeitsformen gepflegt werden. Der kontinuierliche Mitgliederzuwachs der USGF und der DT zwischen 1870 und 1914 mag mit dem durch die 314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Industrialisierung hervorgerufenen Bedarf an neuen Organisationsformen, in denen Gruppen ihre Gemeinsamkeiten zum Ausdruck bringen konnten, in engem Zusammenhang stehen. Sicherlich wäre es besonders reizvoll, dies auf der Grundlage eines länderübergreifenden Vergleichs zu überprüfen. Am Beispiel einzelner Städte oder Regionen wäre herauszuarbeiten, unter welchen sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen und aufgrund welcher Sozialstrukturen sich in Deutschland vermehrt Turnvereine und in Frankreich Gymnastikvereine bildeten. Während die Einbeziehung sozialer Faktoren die Bedeutung der Ideologie für die Praxis des Turnens und der Gymnastik einschränkt, relativiert die Betrachtung der Gegenorganisationen zur USGF und zur DT den ideologischen Einfluß der bürgerlichen Gymnastik- bzw. Turnbewegung in Frankreich und Deutschland. Die katholische »Fédération Gymnique et Sportive des Patronages de France« (FGSPF) verstand sich zwar ebenso wie die USGF als patriotisch, lehnte aber das republikanische System ab.69 Der 1893 in Gera gegründete »Arbeiter-Turnerbund« (ATB) hielt der vaterländischen Gesinnung der »Deutschen Turnerschaft« das Ideal des proletarischen Internationalismus entgegen.70 Daß sich in Frankreich keine eigenständige Arbeiterturnbewegung bildete, hängt vor allem mit der Integrationskraft der USGF zusammen, die keine Klassenbarrieren aufbaute und deren republikanisch-laizistische Ausrichtung Berührungspunkte mit der von den Sozialisten verfolgten Politik aufwies.71 Die »Deutsche Turnerschaft« wandte sich hingegen im Rahmen ihres Kampfes gegen die sogenannten »Reichsfeinde« in besonderem Maße gegen die Sozialdemokraten. Die Gymnastikbewegung in Frankreich und die Turnbewegung in Deutschland bezeichneten sich jeweils als »unpolitisch«, traten aber für eine nationale Einheit ein, die den Vorstellungen der jeweiligen Staatsregierungen entsprach. Ihr Kampf gegen Organisationen, die nicht staatskonform waren (die katholische Turn- und Sportbewegung in Frankreich, die sozialdemokratische Arbeiterturnbewegung in Deutschland) weist sie als klare Bestandteile des »ideologischen Staatsapparats« aus.72 Als weitere übereinstimmende Merkmale der französischen Gymnastikbewegung und der deutschen Turnbewegung sind die militaristischen Tendenzen und die hohe Wertschätzung von Disziplin und Selbstdisziplin, Ordnung und Opferbereitschaft zu nennen. Beide Bewegungen reflektierten nicht nur die Militarisierung der Gesellschaften,73 sie trugen auch zu dieser bei und förderten so die Kriegsbereitschaft in ihren Ländern, indem sie das Ideal des ständig wehrbereiten Volkes propagierten und in der Praxis verfolgten. Damit vermittelten sie Vorstellungen, die von der Denkbarkeit, wenn nicht Unvermeidbarkeit kriegerischer Auseinandersetzungen ausgingen. Die spektakulärste und vermutlich auch öffentlichkeitswirksamste 315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Ausdrucksform der ideologischen Überzeugungen dieser Bewegungen waren die Gymnastik- und Turnfeste. Ihr konkreter Anteil an der emotionalen Verankerung des nationalen Bewußtseins innerhalb der Gesellschaften entzieht sich den Erkenntnismöglichkeiten historischer Untersuchungen. Jedoch ist davon auszugehen, daß derartige Veranstaltungen nicht nur die Überzeugung von der Legitimität nationalen Denkens förderten, sondern auch die Gefühle der Teilnehmer und Zuschauer ansprachen und nationale Identifikationen bekräftigten. Ebenso ist zu berücksichtigen, daß die Teilnehmer nicht nur zu einer als nationale Kundgebung inszenierten Festveranstaltung zusammentrafen, sondern auch als Mitglieder eines nationalen Verbandes auftraten. Dadurch wurde die nationale Gemeinschaft einmal mehr als eine Realität spürbar, die die Handlungen der Bevölkerung prägte.

Anmerkungen 1 T, Zeldin, Histoire des passions françaises (1848-1945), Bd. 3: Goût et corruption, Paris 1981; E. Weber, Pierre de Coubertin and the Introduction of Sport in France, in: Journal of Contemporary History 5, 1970, S. 3-26; Ders., Gymnastique et Sports en France à la fin du XIXe siècle: opium des classes?, in: A. Ehrenberg (Hg.), Aimez-vous les Stades? Les origines de la politique sportive en France, Paris 1980, S. 185-220. 2 L. Febvre, Vorwon, in: C. Morazé, Trois essais sur histoire et eulture, Paris 1948, S. VI. 3 M. Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt/Μ. 1982, S. 97. 4 R. Holt, Sport and Society in Modern France, London 1981. Diese Arbeit, die sich durch die differenzierte Betrachtung von politik- und alltagsgeschichtlichen Aspekten auszeichnet, ist auch heute noch, nachdem eine Reihe weiterer Untersuchungen zu diesem Thema vorliegen, als eine der wichtigsten und anspruchsvollsten Veröffentlichungen zur Geschichte des Sports in Frankreich anzusehen. 5 Zu verweisen ist hier vor allem auf zwei Sammelwerke: P. Arnaud u. J. Camy (Hg.), La naissance du mouvement sportif associatif en France, Lyon 1986; P. Arnaud (Hg.), Les athlètes de la République. Gvmnastique, sport et Iéologie républicaine, Toulouse 1987. 6 Vgl. insbesondere: G. Vigarello, Techniques d'hier et d'aujourd'hui. Une histoire culturelle du sport, Paris 1988; A. Wahl, Les archives du football. Sport et Société en France, Paris 1989; Vingtième Siècle-Revue d'histoire 26, 1990, Schwerpunktheft: Le football, sport du siècle; G. Laurans, Qu'est-ce qu'un champion? La compétition sportive en Languedoc au début du siècle, in: Annales E.S.C. 5, 1990, S. 1047-1089; R. Hubscher (Hg.), L'histoire en mouvements. Le sport dans la Société française (XIXe-XXe siècle), Paris 1992. 7 Vgl. Y. Lequin, Sozialgeschichte à la française, in: J . Kocka, Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Darmstadt 1989, S. 165-172; Ders., Histoire sociale, in: A. Burguière (Hg.), Dictionnaire des sciences historiques, Paris 1986, S. 640. 8 Vgl. insbesondere: M. Agulhon, Pénitents et Franc-Maçons de l'ancienne Provence, Paris 1968; Ders., Le cercle dans la France bourgeoise, 1810-1848. Etude d'une mutation de sociabilité, Paris 1977.

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9 V g l . B. Dumons u.a., Naissance du sport moderne, Lyon 1987, S. 34. Zur Herausbildung des Vereinssports vgl. Arnaud u. Camy, Naissance. 10 Weder die Ansätze noch die Forschungsergebnisse dieser Arbeiten haben einen erkennbaren Einfluß auf neuere sporthistorische Darstellungen in Deutschland ausgeübt. Auch die in unregelmäßigen Abständen durchgeführten deutsch-französischen Tagungen zur Sportgeschichte (1978 in Bad Godesberg, 1980 in Paris, 1985 in Karlsruhe, zuletzt 1992 in Montpellier) haben keine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Gemeinsame Forschungsprojekte sind nicht entstanden und vergleichende Untersuchungen zur Sportgeschichte der beiden Länder wurden bisher nicht realisiert. Immerhin steht jedoch die Veröffentlichung eines fundienen komparativen Beitrags zum Zusammenhang von Sport und Nationalismus in Frankreich und Großbritannien bevor: R. Holt, Sport, Militarism and the Unitary State in Britain and France before 1914, in: J . A. Mangan (Hg.), Sport and Nationalism, London 1995. 11 Vgl. P. Dujardin, Commémorer la Révolution Francaise, Lyon 1991. 12 M. Agulhon, La République. 1880 à nos jours, Paris 1990. 13 Die schulische Leibeserziehung wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich als »gymnastique« bezeichnet. Wir halten uns hier an die französische Begrifflichkeit. Dies betrifft ebenso die Übersetzung von »Sociétés de gymnastique« (Gymnastikvereine). Die Praxisformen der »gymnastique« ähnelten denen des Turnens in Deutschland. 14 Einführung des unentgeltlichen, obligatorischen und laizistischen Schulunterrichts durch die zwischen 1883 und 1886 verabschiedeten Schulgesetze. 15 In diesen Vereinen (»Sociétés conscriptives«) wurden Gymnastik, Schießen und militärische Übungen angeboten. Die meisten dieser Vereine waren, zusammen mit den reinen Gymnastikvereinen, der 1873 gegründeten »Union des Sociétés de Gymnastique de France« (USGF) angeschlossen. Der im folgenden verwendete Begriff »Gymnastikbewegung« bezieht sich auf diese nationale Organisation und die ihr angegliederten Vereine. Zur Gymnastikbewegung siehe Holt, Sport and Society; Arnaud u. Camy, Naissance; Arnaud, Athlètes. 16 Die allgemeine Wehrpflicht wurde in Frankreich mit dem Wehrgesetz von 1889 endgültig zur Grundlage der Rekrutierung der Armee gemacht. 17 C. Nicollet, L'idée républicaine en France, Paris 1982, S. 34. 18 G.L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den napoleonischcn Kriegen bis zum Dritten Reich, Berlin 1976. 19 Gemeint sind hiermit öffentliche Reden von Politikern und von Funktionären der Gymnastikbewegung wie auch schriftliche Beiträge in Fachzeitungen, Festschriften, Lehrbüchern für Leibesübungen usw. 20 »An dem Tag, an dem es selbstverständlich sein wird, daß wir kein größeres und dringenderes Werk zu vollenden haben, daß alle anderen Reformen vertagt werden müssen, daß wir nur eine Aufgabe haben, nämlich die, das Volk auszubilden, indem wir Erziehung und Wissenschaft in Gang bringen, an diesem Tag wird ein großer Schritt zu unserer Wiedergeburt vollzogen sein. Unser Handeln muß ein doppeltes Ziel vor Augen haben: Es muß gleichzeitig zur Entwicklung des Geistes und des Körpers beitragen ... dem Geist eines jeden Mannes muß ein gesunder Körper zur Verfügung stehen. Ich will erreichen, daß unsere Männer nicht nur denken, lesen und urteilen können, sondern auch handeln und kämpfen. Überall muß dem Lehrer ein Gymnastikleiter und ein militärischer Instruktor zur Seite gestellt werden, damit unsere Kinder, unsere Soldaten, unsere Mitbürger in die Lage versetzt werden, den Degen zu führen, ein Gewehr zu betätigen, lange Märsche zu ertragen, Nächte unter freiem Himmel zu verbringen und für das Vaterland tapfer alle Prüfungen zu bestehen«. Rede von Gambetta in Bordeaux, 2 6 . 6 . 1 8 7 1 , in: L. Gambetta, Discours ( 1 8 6 8 - 1 8 8 2 ) , Monaco 1949. 21 Rede Jules Ferrys am 3.6.1882 vor Vertretern der Gymnastikvereine in Reims. In: Bulletin Administratif de l'Instruction Publique [weiterhin zit. als BAIP] 4 9 5 , S. 4 2 6 .

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22 Ebd., S. 424. 23 J. Ferry, Exerciccs gymnastiques et militaires, in: BAIP 4 5 3 , 2 0 . 5 . 1 8 8 0 , S. 526. 24 Brief Jules Ferrvs an die Schulrektoren vom 27.9.1880, in: BAIP 290. 25 J. Ferry, Exercices gvmnastiques et militaires, in: BAIP 4 5 3 , S. 4 2 5 - 4 2 6 . 2 6 1886 waren insgesamt 146 Schulbataillone registriert. Vgl. A. Bourzac, Los bataillons scolaires en France. Naissance, développement, disparition, in: Arnaud, Athletes, S. 62. 27 Lyon Républicain, 10.7.1882. 28 »Die Schulbataillone werden eines Tages der Nation große Dienste erweisen. Sic sorgen frühzeitig dafür, daß glühende Verteidiger des Vaterlandes heranwachsen. Kinder, die von frühem Alter an in den Schulbataillonen betreut werden, können gar nicht anders, als sich nach vernünftigen Grundsätzen zu richten; die militärischen Übungen sind für sie ein würdiger Ersatz der kindlichen Spiele. Sie werden zu Männern mit hoher Moral und Bürgertugend erzogen. Wir müssen uns den glühenden Patriotismus unserer Väter von 1793 zum Vorbild nehmen und daran denken, Bürger heranzuziehen, die große Weitsicht, Mut und Opferbereitschaft haben. Wir müssen richtige Männer hervorbringen, gute Franzosen, und in ihnen den gefährlichen Keim der Verweichlichung, des Egoismus zerstören, mit einem Wort, ... wir müssen die Erinnerung wachhalten.« Beschluß des Stadtrats vom 14.12.1883, Stadtarchiv Lyon. 29 Lyon Républicain, 19.7.1884. 30 Dr. A. Gailleton, seit dem 4.9.1870 Mitglied des Wohlfahnsausschusses, wurde im August 1871 zum Stadtrat gewählt, zwischen 1881 und 1900 versah er das Amt des Bürgermeisters. F› war ein vehementer Verteidiger der »Bataillon scolaires« und lieferte das typische Beispiel einer städtischen Politik für die Einführung der Gymnastik in den Grundschulen. Nach 1889 mußte Gailleton seine Aktivitäten einschränken, weil ihm der Stadtrat seine Unterstützung entzog. Vgl. P. Arnaud, Le militaire, l'écolier, le gymnaste. Naissance de l'éducation phvsique en France ( 1 8 6 9 - 1 8 8 9 ) , Lyon 1991. 31 Le Proerès du Lyon, 15.7.1886. 32 Seit 1884 kamen selbst den leidenschaftlichsten Verteidigern der »Bataillons scolaires« Zweifel an deren Wirksamkeit im Rahmen einer patriotischen und republikanischen Politik. Die Zeitschrift der »Ligue des Patriotes« hielt die eingeleiteten Maßnahmen für unzureichend (Le Drapeau 3, 19.1.1884), der »Lyon Républicain« verstärkte noch seinen Optimismus, während die katholische Zeitung »Le Nouvelliste« scharfe Kritiken veröffentlichte. Die Grundschullehrer und die hohen Militärs machten sich über die Einrichtung lustig, die Schüler in kleine Soldaten verwandeln sollte. Nur Bürgermeister Gailleton versteifte sich (ohne Erfolg) darauf, die »Bataillons scolaires« beizubehalten. Vgl. Arnaud, Athlètes, S. 63-86. 33 Zum Wachstum der Wehrvereine vgl. die Beiträge in Kap. I von Arnaud, Athlètes. 34 L. Parant, Les bataillons scolaires et leur transformation en Société de gymnastique, Bourg 1 8 9 1 . Die im folgenden aus dieser Schrift entnommenen Zitate stammen von Funktionären der Gymnastikbewegung. 35 C. Laly, N'oublions pas et préparons l'avenir..., in: Parant, Bataillons, S. 66. 36 »Doch bloße Disziplin reicht nicht aus. Wichtiger als die Übereinstimmung der Handlungen ist die Einigkeit der Seelen: die Disziplin ist eine äußere Harmonie, die zu einer inneren, tieferen fuhren sollte. Mitglieder desselben Vereins, die der gleichen Satzung unterstehen, geben untereinander sicherlich mehr als nur körperliche Fähigkeiten weiter ... Der Geist der Geselligkeit, der Kameradschaft, der Eintracht, der Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses ist das oberste Ziel der gemeinsamen Ausbildung. Die einheitliche Übungsausführung ist zwar nur durch Disziplin möglich, sie ruft aber zugleich Solidarität hervor ... So verstanden, dient die Gymnastik nicht nur der Bildung des Körpers ..., sie ist auch moralische Erziehung.« E. Thouverez, Discipline et solidarité, in: Parant, Bataillons, S. 70f.

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37 Rede von Paul Bert, 28.1.1882, in: BAIP 477, S. 251. 38 Délibérations du Conseil Municipal Lyon [weiterhin zit. als: D.C.M.] 18.2.1879, 6.8.1879 und 1.9.1879. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Mit dem Gesetz vom 6.7.1880 wurde die Wahl des 14. Juli als Nationalfeiertag offiziell abgesegnet. Das Rundschreiben, das den Nationalfeiertag dekretierte, wurde erst am 12. Juli 1880 veröffentlicht und ließ den Gemeindeverwaltungen bei der Festlegung des Programms großen Spielraum. Diese wurden sogar autorisiert, das Programm den lokalen Gebräuchen anzupassen (was einem expliziten Rückgriff auf die Traditionen gleichkam). Vgl. C. Amalvi, Le 14-Juillet, in: P. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 421-472. 42 Le Petit Lvonnais, 15.7.1880. 43 Lvon-Républicain, 16.7.1880. 44 Le Nouvelliste, 15.7.1880. 45 Zu diesem Zeitpunkt steckte die katholische Gymnastik- und Sportbewegung noch in den Anfängen. Nach der 1903 erfolgten Konstituierung der »Fédération Gymnique et Sportive des Patronages de France« (FGSPF) wurde sie zu einem bedeutenden Gegengewicht zur bürgerlichen Gymnastik- und Sportbewegung. Zur katholischen Gymnastik- und Sportbewegung in Frankreich vgl. B. Dubreuil, La federation catholique et 3la République (18981914), in: Arnaud, Athletes, S. 205-222. 46 Le Nouvelliste, 1.1.1889 und 26.4.1889. 47 Λ. Leroy, Le moniteur, in: Parant, Bataillons, S. 58f. 48 D. Mamoz, De la gymnastique en France, Paris 1891. 49 Vgl. P. Chambat, Les muscles de Marianne - Gymnastique et bataillons scolaires dans la France des années 1880, in: Ehrenberg, Stades, S. 139-184. 50 Zur Entstehung von Gymnastikvereinen in Frankreich vgl. J.-C. Richez, Aux origines du mouvement gymnique dans la France de l'Est: culture du corps et culture politique, in: A. Wahl (Hg.), Des jeux et des sports, Metz 1986, S. 65-83. 51 Vgl. G. Andrieu, L'introduction des jeux dans les programmes scolaires à la fin du XIXe siècle en France: Reflet d'un changemement de Société, in: A. Gounot u.a. (Hg.), Welt der Spiele. Politische, soziale und pädagogische Aspekte. Proceedings zum 2. ISHPES-Kongreß, Bd.32,St. Augustin 1995 (im Druck). Der Titel dieses Beitrages ist irreführend: Andrieu zeigt auf, weshalb Bewegungsspiele vor 1914 keinen Eingang in die schulische Leibeserziehung fanden. 52 Vgl. J. Defrance, Se fortifier pour se soumettre?, in: C. Pociello (Hg.), Sports et Société. Approche socio-culturelle des pratiques, Paris 1981, S. 75-84; Ders., L'excellence corporelle, Paris 1987. 53 H. Eichberg, Der Körper als Idential. Zum historischen Materialismus der nationalen Frage, in: D. Blecking (Hg.), Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa, Dortmund 1991, S. 219-241. 54 Ebd., S. 240. 55 Vgl. H. Denk, Schulturnen: Leibesübungen im Dienste autoritärer Erziehung, in: H. Ueberhorst (Hg.), Geschichte der Leibesübungen, Band 3/I: Leibesübungen und Sport in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Berlin 1980, S. 337-346. 56 Zu den Gymnastikfesten der USGF vgl. Chambat, Muscles; Ders., Les vitrines de la République. Uniformes, défilés, drapeaux dans les fêtes de gymnastique en France, in: Arnaud, Athletes, S. 259-268. 57 Vgl. Arnaud, Militaire. 58 Denk, Schulturnen, S. 337.

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59 Intensiv untersucht wurde auch die Geschichte der Arbciter-Turn- und Sportbewegung. Vgl. H.-J. Teichler, Eine Literatur-Zusammenstellung zum Thema »Arbeitersport Körperkultur - Arbeiterkultur«, in: Sportwissenschaft 1985, S. 83-94. 60 Der erste öffentliche Turnplatz wurde 1811 von Jahn in der Berliner Hasenheide gegründet. 61 F. Goetz, Handbuch der Deutschen Turnerschaft, Hof 1896 5 S. 32, zit. nach L. Peiffer, Die Deutsche Turnerschaft. Ihre politische Stellung in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Ahrensburg 1976, S. 15. 62 H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , Göttingen 1980 4 S. 96. 63 Vgl. H.-G. John, Politik und Turnen. Die Deutsche Turnerschaft als nationale Bewegung im deutschen Kaiserreich von 1871-1914, Ahrensburg 1976. 64 Vgl. R. Joseph, Grandeur et décrépitude des fêtes nationales de gymnastique, Nancy 1892 (Nancy 1919), in: Arnaud, Athlètes, S. 2 3 3 - 2 4 8 . 65 Zur Symbolik dieses Turnfestes vgl. G. Pfister, Militarismus in der kollektiven Symbolik der Deutschen Turnerschaft am Beispiel des Leipziger Turnfestes von 1913, in: H. Becker ( H g . ) , Sport im Spannungsfeld von Krieg und Frieden, Clausthal-Zellerfeld 1985, S. 6 4 - 7 9 . 66 A. Mädig ( H g . ) , Das XII. Deutsche Turnfest in Wort und Bild, Leipzig 1913, S. 3. 67 Vgl. D. Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland ( 1 8 0 8 1847), München 1984. 68 Holt, Sport and Society, S. 86. 69 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte die FGSPF ca. 180 000 aktive Mitglieder. Die USGE hatte ca. 350 000 Mitglieder, davon war aber etwa die Hälfte als passive Mitglieder geführt. Vgl. Holt, Sport and Society, S. 196. 70 Zur vom ATB vor 1914 vertretenen Ideologie vgl. H. Timmermann, Geschichte und Struktur der Arbeitersportbewegung, Ahrensburg 1973. Der ATB erreichte allerdings nicht annähernd die Mitgliederzahlen der DT. Zum Vergleich: 1904 zählte der ATB knapp über 70 000 Mitglieder, im gleichen Jahr verzeichnete die DT annähernd 800 0 0 0 Mitglieder. Vgl. H. Dierker, Arbeitersport im Spannungsfeld der Zwanziger Jahre. Sportpolitik und Alltagserfahrungen auf internationaler, deutscher und Berliner Ebene, Essen 1990, S. 2 6 1 ; John, Politik, S. 9 1 . 71 Vgl. A. Gounot, Ein vergessener Aspekt des Sozialismus und des Kommunismus in Frankreich. Die Arbeitersportbewegung der Zwischenkriegszeit, Magisterarbeit, FU Berlin 1992, S. 19-30. 72 Entsprechend der Definition von L. Althusser, in: L. Althusser, Ideologie et appareil idéologique d'Etat (Notes pour une recherche), in: La Pensee. Revue du rationalisme moderne. Arts, Sciences, Philosophie 1 5 1 , 1970, S. 3-38. 73 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland, Bd. 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich 1890-1914, München 1960.

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JEAN-MICHEL FAURE

Nationalstaaten und Sport* Wie ist es zu erklären, daß ein englischer Zeitvertreib, der Sport, sich zu einem Modell für eine Vielzahl von Wettkampfformen entwickelt hat, die heute in aller Welt anerkannt und ausgeübt werden? Sucht man nach einer Antwort auf diese Frage, kommt den Thesen von Norbert Elias über den Prozeß der Zivilisation eine entscheidende Bedeutung zu.1 Nach Elias entstand in den westlichen Gesellschaften eine besondere Konfiguration von politischen Formen, Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und Affektregulierung. Um die Kohärenz und Bedeutung dieser Struktur zu verstehen, muß man sie im Zusammenhang mit dem Aufkommen der (National-)Staaten betrachten: Erst wenn der Staat das legitime Gewaltmonopol besitzt, können politische Auseinandersetzungen die Form eines friedlichen und geregelten Wettstreits annehmen, der die Machtverhältnisse in der Demokratie widerspiegelt. Parlamentarismus und Sport sind deshalb der gleichen historischen Konfiguration zuzurechnen. Die Sportregeln reproduzieren die Regeln einer politischen Praxis, die auf dem allgemeinen Wahlrecht und somit der Souveränität gleicher und freier Individuen beruht. Das setzt voraus, daß jegliche Anwendung von Gewalt, welche die Körper in Gefahr bringen würde, ausgeschlossen ist. Im Rahmen der sportlichen Auseinandersetzungen muß das eigene Verhalten beherrscht und kontrolliert werden. Sport läßt sich folglich als eine Kampfform begreifen, die das uneingeschränkte Vergnügen einer wirklichen Konfrontation verschafft, dabei jedoch jenes Risiko von Verletzung und Tod ausschaltet, das kriegerischen Auseinandersetzungen innewohnt. Dieser Ansatz von Elias erscheint zunächst verblüffend klar und eindeutig, er beruht jedoch auf einer Reihe von problematischen Annahmen. Wenn tatsächlich die Pazifizierung der Sitten die Existenz des Staates voraussetzen würde, bedeutete dies, daß es ohne Staat ständig kriegerische Konflikte gäbe. Um den Krieg aller gegen alle zu beenden, würden die Menschen daher eine gemeinsame Machtinstanz schaffen, die ihnen Schranken setzt und so das Fundament für das Zusammenleben legt. * Aus dem Französischen übersetzt von Peter Geble. Überarbeitet von Hannes Siegrist und Jakob Vogel.

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Gesellschaften ohne Regierung wären also gleichsam asoziale Gesellschaften, die aufgrund eines biologischen Determinismus ständig von Krieg bedroht sind. Aggressivität und Neigung zur Gewalt gehören zu den elementaren menschlichen Eigenschaften; diese Triebe sind jedoch formbar, da sie kodifiziert, ritualisiert und eingeschränkt werden können. Jede Gesellschaft sieht sich daher mit einem grundlegenden Problem konfrontiert, das sie lösen muß, wenn sie sich nicht selbst zerstören will: Sie muß die menschliche Aggressivität kanalisieren und regulieren, ihr ermöglichen, sich in sozial akzeptablen Formen auszudrücken. Dabei rufen die verschiedenen sozialen und institutionellen Formen der Kontrolle zwangsläufig neue Spannungen hervor. Immerhin gelingt es den Kontrollinstanzen, die aus kriegerischer Konfrontation erwachsende Erregung, eine mächtige Quelle der Lust, umzuformen oder abzuschaffen. Das Scheingefecht des Wettkampfes verringert auf diese Weise den durch die Unterdrückung der ursprünglichen Triebkräfte erzeugten Druck und macht ihn erträglich. Als kulturelles und historisches Phänomen gehört der Sport damit zur Sphäre der mimetischen Handlungen, welche die menschliche Seele von bedrängenden Leidenschaften befreien. In der Moderne erfüllt er die Funktion, die in der Antike nach Aristoteles der klassischen Tragödie zukam, nämlich »eine edle und abgeschlossene Handlung nachzuahmen ..., so daß mit Hilfe von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) eine Reinigung (katharsis) von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird«.2 Durch den Sport gelingt es, die auch in den abendländischen Gesellschaften vorhandene latente Gewalt zu beschönigen. Für Elias bedeutet jede Schwächung der Regulierungsinstanzen und des staatlichen Gewaltmonopols eine Regression, einen Rückschritt im Prozeß der Zivilisation, oder gar eine Rückkehr zum Naturzustand. Wie aber sind dann die zahllosen Gewaltausbrüche in der Geschichte der modernen Gesellschaften zu beurteilen, die mit einer Stärkung der staatlichen Strukturen einhergingen?3 Nach Elias sind sie das »Ergebnis des Fehlens einer effektiven Monopolisierung und Kontrolle der physischen Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen« oder Perversionen, die den zum Schutz des Lebens und zur Bewahrung des sozialen Friedens eingerichteten staatlichen Institutionen wesensfremd sind. Elias weist zwar zu Recht auf die engen Beziehungen zwischen Sport und Politik in den Nationalstaaten hin, doch erklärt seine Analyse diesen Zusammenhang nicht angemessen. Denn er betrachtet den Staat nur in seiner positiven Rolle als eine Instanz, deren Ziel darin besteht, das Leben der Völker zu verwalten, die Gesellschaft zu schützen und zu erhalten sowie den Frieden zu garantieren. Ausgeblendet wird, daß die Macht über das Leben nicht von der Macht über den Tod zu trennen ist. Das bezeugen die Weltkriege, die Kolonialkriege, die vielen regionalen Konflikte wie auch die kriegerischen Ereignisse der jüngsten 322 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Zeit.4 In modernen Gesellschaften dient Macht nicht nur dazu, das Leben zu verbessern und zu garantieren, sondern auch dazu, ganze Völker in den Tod zu treiben. Selbst die hochzivilisierten Gesellschaften sind ständig dem Krieg zugewandt. Deshalb muß die These von Elias modifiziert werden: Der Sport ist nur insofern ein legitimes Erziehungsinstrument für demokratische Gesellschaften, als er zur Formung eines friedfertigen Individuums beiträgt, das erstens dem auf Wettbewerb und Konflikt beruhenden Gesellschaftssystem angepaßt ist, zweitens zu Rivalitätsbeziehungen mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft fähig ist und drittens jederzeit für die kollektive Form der Konfrontation von Gesellschaften, den Krieg, mobilisierbar bleibt.5 Sporterziehung und Sportpolitik haben das Ziel, individuelle Verhaltensweisen zu korrigieren und zu disziplinieren sowie die Massen zu mobilisieren, zu sammeln und umzuformen. Diese Vorhabenrichtensich sowohl auf den Sportler als auch auf den Zuschauer. Einerseits müssen Formen zur Individualisierung des Sportlers hervorgebracht und legitimiert werden, andererseits geht es darum, durch ritualisierte Vorführungen körperlicher Höchstleistungen beim Zuschauer ein Bewußtsein der eigenen Identität und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft zu erzeugen. Die spezifische Konstruktion der nationalen Identitäten hängt dabei von der jeweiligen historischen Konfiguration ab. Deshalb waren die mit der Nation verbundenen Bilder und Vorstellungen in Großbritannien, Deutschland und Frankreich sehr verschieden. 1. Die Zeit der Stadien Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert orientierte sich die französische Bewegung für »Leibesübungen« an zwei unterschiedlichen Leitbildern: der »Gymnastik« und dem »Sport«.6 Die Gymnastikbewegung hatte die deutsche Turnbewegung zum Vorbild und übernahm auch das Motto »Liebe zum Vaterland durch Gymnastik«, das nach dem Krieg von 1870/ 71 eine eminent politische Bedeutung erhielt. Denn die Gymnasten versuchten die Nation zu mobilisieren, um die Revanche vorzubereiten. Mit ihren Namen bekundeten die Gymnastikvereine ganz unverhüllt ihre patriotische Mission, indem sie sich »La Française«, »La Patriote«, »Le Drapeau«, »La Sentinelle« oder »La Vaillante« nannten.7 Der Sport dagegen kam etwas später und auf einem anderen Weg nach Frankreich. Bei dieser attraktiven Freizeitbeschäftigung, die zunächst den Privilegierten der Welt vorbehalten war, stand England Pate. Sport und Gymnastik glichen einander jedoch insofern, als beide durch körperliche Übungen Freude an der Bewegung vermitteln und den Charakter bilden wollten. Sie 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

lehrten die Kunst der Selbstbeherrschung und ermunterten zum Wettkampf. Der einzige nennenswerte Unterschied bestand darin, daß sie nicht die gleichen Bevölkerungsgruppen ansprachen. Die Gymnastik war auf die Massen ausgerichtet und unterstützte die militärischen Vorbereitungen und nationalen Interessen. Ihr Ziel war es, ein autonomes Individuum zu schaffen, das seine Kräfte im Dienst des Staates frei einsetzt, d.h. den Bürger und Soldaten. Der Sport hingegen sprach die herrschenden Eliten an und legitimierte mit seiner Orientierung am Wettkampf die Idee der Rivalität. Er sollte ein Individuum hervorbringen, das in der Lage wäre, »sich selbst zu regieren, um die anderen zu regieren«; einen Bürger, der die Pflichten und die Kämpfe seiner Klasse auf sich nimmt.8 Die Gymnasien der Republik. Die Gymnastikvereine gehörten zur militarisierten Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als Anhängsel des Militärs schufen sie eine Verbindung zwischen Zivilisten und Soldaten, »zwischen der Nation, die kämpft, und der Nation, die kämpfen wird«.9 Die gymnastischen Übungen waren nicht von militärischen Drilltechniken abgeleitet, dazu gedacht, die körperlichen Anlagen und Fähigkeiten zu verbessern. Vielmehr sollten sie moralische Werte vermitteln. Nach Ehrenberg bekam die Armee nach der Französischen Revolution die Aufgabe, den für die Republik notwendigen Menschentyp zu schaffen: »Ein Individuum, das im Gefecht seinen Mann steht, ohne daß die Anwesenheit eines Anführers, der den Weg zeigt, nötig wäre.«10 Der Gymnast und der Soldat verkörperten gleichermaßen die Idee von Beherrschung und Bereitschaft. Sie waren beide verfügbar und gerüstet für den individuellen Existenzkampf und die Kämpfe zwischen den Völkern. »Kampfgeist« galt als ein legitimes und angemessenes Sozialverhalten und als Gegenpol zur »Gewalttätigkeit«, die, wie in offiziellen Reden immer wieder betont wurde, dem »Instinkt« der »Asozialen« und »Provokateure« entspringe. Die Unruhestifter träten in der barbarischen und atavistischen »Masse« auf, die als ein Zeichen der Entartung der Gesellschaft angesehen werden müsse. Gymnastische Übungen und Spiele waren nach Auffassung der Vertreter des Staates und des Militärs ein geeignetes Mittel, diese Gefahr zu bannen. Indem sich der Soldat den Spielregeln und den kodifizierten Zwängen des Spiels unterwerfe, lerne er, sich freiwillig zu disziplinieren. Die regelgeleitete Auseinandersetzung sei der richtige Weg, ein Zusammenleben zu gewährleisten. Die Armee verwaltete die kollektive Kraft, um die Schlagkraft der Nation zu erhöhen, lehnte den sportlichen Wettkampf aber ab, da dieser individualisiere und den Zusammenhalt der Gruppe in Frage stelle. Das militärische Reglement empfahl daher, die gymnastischen Übungen an den Fähigkeiten der Schwächsten auszurichten. 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Bei ihrem Vorhaben, die Massen zu ordnen und Staatsbürger zu formen, stützte sich die Armee auf die Gymnastikvereine, die ihre Arbeit an den gleichen Vorschriften und Grundsätzen ausrichteten wie das Militär. »Mit der Gymnastik durchdringt die Armee die Nation, die sich wiederum die Armee aneignet. Die militärischen Übungen sind ein moralischer Unterricht in Demokratie.«11 Der Gymnast war damit der kriegsbereite Staatsbürger, ein in Friedenszeiten mobilisierter Soldat.12 Diese Instrumentalisierung der Gymnastik durch den republikanischen Staat war für Frankreich typisch, da sie die Hegemonie des Zentralstaats unterstrich. In Großbritannien dagegen existierte keine vergleichbare staatliche Pädagogik. Das Turnen wurde dort - bis auf die Ausnahmesituation nach dem Burenkrieg - mit keinerlei militärischen Absichten verknüpft. Gymnastische Übungen galten in erster Linie als Frauensache, als Fitness-Übungen, die darauf abzielten, körperliches Wohlbefinden, Eleganz und Anmut zu steigern.13 Die englischen Kritiker des preußischen Drills wandten sich daher nicht nur gegen Jahn, sondern auch gegen die französische Gymnastikbewegung. George Mosse hat in seinem Werk über die »Nationalisierung der Massen« Jahns Vorstellungen herausgearbeitet und die Unterschiede zwischen den Körperkulturen in Deutschland und Frankreich hervorgehoben.14 Während sich in Frankreich eine Konzeption durchsetzte, die von einer relativen Autonomie von Körper und Geist ausging, beruhte in Deutschland die Erziehung auf der Anerkennung der Einheit von Körper und Geist. Nach Jahn und Eiselen bildeten »Lehre und Leben ... keinen Gegensatz«.15 Das Turnen und später der Sport gehörten damit zur »Kultur« im eigentlichen Wortsinn. Jahns politische Ästhetik offenbart sich dabei nicht nur in seiner Begeisterung für das griechische Schönheitsideal, sondern auch in seinem Interesse am Rituellen. Anders als in Frankreich, wo die Gymnastikfeste die Legitimität des Staates verkörperten, sollten die Jahnschen Turnfeiern durch die Inszenierung historischer Heldentaten die Vergangenheit vergegenwärtigen und wiederbeleben. Die Beschwörung der altnordischen Sagen, das Andenken an die heldenhaften Taten der Vorfahren und der Chorgesang dienten dazu, ein deutsches Nationalgefühl zu schaffen. Die Turner entwickelten die Überzeugung, daß sich das nationale Bewußtsein am besten in Symbolik und Liturgie der Feste ausdrücke. Ende des 19. Jahrhunderts wurden damit die Wettkämpfe der Turner zu einem Teil des nationalen Kultes. Die deutschen Turnvereine waren allerdings auf ihre Identität bedacht und bemühten sich lange, ihre Unabhängigkeit gegenüber der politischen Macht zu wahren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Nationalbewußtsein für die Turner noch untrennbar mit dem Gedanken der Freiheit und des individuellen Willens verbunden. Später proklamierte die »Deut325 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sche Turnerschaft« jedoch, daß die Freiheit kein Wert an sich sei, sondern nur durch die Einheit und den Zusammenhalt des Volkes existiere. Unter dem Einfluß von Neuendorff verband sich in dieser Weltanschauung ein mystischer Kult der Heimat mit den ästhetischen Idealen Jahns.16 Die Turner wie auch die 1901 gegründete Wandervogel-Bewegung »sahen das Ideal der Nation eher im nach innen gerichteten Denken als in bloßer äußerer Macht, in der Verkörperung des Schönen in der Natur und im menschlichen Körper. Beide Richtungen verbanden im Wandern die ewige deutsche Landschaft mit dem ewigen Geist der Nation.«17 Während sich die Gymnastikvereine in Frankreich der Erziehung der Massen widmeten, stellten die Turnvereine in Deutschland ein nationales Sammelbecken für die Mittelschichten dar, d.h. für alle Teile des von der Macht ausgeschlossenen Bürgertums. Nach Gebauer war der von den Turnern gebrauchte »Kultur«-Begriff daher auch »nicht der reine, edle Begriff, für den man ihn oft ausgibt«: »Er ist ein Kampfkonzept, geprägt vom Bürgertum in seiner Auseinandersetzung mit dem Adel und seiner entschiedenen Abgrenzung vom Modell der höfischen Gesellschaft. ... Mit Hilfe des Kulturbegriffs definiert sich das Bürgertum gegen den Adel, nämlich als diejenige Klasse, die Kultur und Bildung besitzt und die jene geistigen und moralischen Kräfte verwirklicht, die im deutschen Volk angelegt sind.«18 Diese kulturelle Dimension unterschied die deutsche Turnbewegung radikal von der staatlich dominierten französischen Gymnastik.19 Der ›englische‹ Sport. Nach 1920 verschwanden in Frankreich die Gymastikvereine und wurden rasch durch ein Netz von Sportklubs ersetzt. Der in den englischen Public Schools erfundene und von anglophilen Franzosen verbreitete »Sport« hatte zunächst wenig mit der Armee und dem Krieg zu tun, obwohl auch er von der prinzipiellen Frage ausging, wie sich individuelle Disziplin und kollektive Mobilisierung miteinander in Einklang bringen ließen. Die sportlichen Praktiken knüpften indes nicht einfach an militärische Sozialisationsformen an, da der Wettkampf nun zum eigentlichen Ziel der körperlichen Übungen erhoben wurde. Dieser erfüllte im Sport eine ähnliche Funktion wie die Schlacht im Krieg, erlaubte es, die Qualitäten des Kämpfers, seine Fähigkeiten und seine moralische Standfestigkeit richtig einzuschätzen. Das sportliche Aufeinandertreffen war aufschlußreich, da es die Tugenden sichtbar machte, die zur Ausübung von Macht notwendig waren: Kühnheit, Mut, Entschlossenheit, Siegeswillen und Achtung der Regeln. Mit dem Sport schuf sich das Bürgertum bzw. die herrschende Klasse einen »klassenspezifischen Körper«, der besonderen Gesundheits- und Hygienevorstellungen entsprach und die Fähigkeit zum Wettkampf be326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

saß.20 Der Sport führte zu umfassender Kampfbereitschaft, welche die herrschenden Klassen zuerst an sich selbst erprobten. Dabei wurde der Kampfgeist nicht als ein äußerliches Verhalten, sondern als innere Tugend angesehen, die auf alle Bereiche des sozialen Handelns übertragbar sei: auf das Geschäftsleben, die Menschenführung und den Krieg. Als Anhänger der Fortschritts- und Leistungsidee bemühten sich die Förderer des Sports, ihre Ideale zu verbreiten. Das Erziehungswerk des Sports galt indessen nicht dem ganzen Volk: »Vor dem Schwachsinnigen«, betonte P. de Coubertin, »muß man auf der Hut sein. Gestern noch beherrschte er die Zivilisation; es hieß, er sei die interessanteste Person und manrichteteden Sport wie auch alles andere nach ihm aus.«21 Der allgemeine Fortschritt erfordere die ständige Konfrontation. Das Leben gehöre denen, die kämpfen. Dieser von den englischen Public Schools übernommene Grundgedanke wurde in Frankreich insofern modifiziert, als staatliche Institutionen die Chancengleichheit als eine Voraussetzung des Wettkampfes sicherstellen sollten. In England dagegen berief man sich auf das Prinzip des freien Wettbewerbs. Jeder Sieg, ganz gleich auf welchem Feld, beweise die Überlegenheit der Briten und ihrer Gesellschaftsvision. Während die Franzosen ihrer politischen Kultur universelle Bedeutung beimaßen, behaupteten die Engländer, daß allein der Wettkampf die Hierarchie der Werte begründe. Die britische Herrschaft im Empire sei dadurch legitimiert, daß sie einer Ordnung entspringe, die England der ganzen Welt habe aufzwingen können. Eine Kricketmannschaft könne die im Namen des Empires geführten militärischen Schlachten symbolisch nachspielen, weil auf dem Feld der Ehre die gleichen Verhaltensweisen und -codes wie im Spiel gelten würden. Laut Sir Henry Newbolt ergab sich das Bewußtsein des Staatsbürgers nicht automatisch aus der Zugehörigkeit zu einer politischen Einheit, vielmehr mußte es im sportlichem Wettkampf erworben und verdient werden.22 Der Sport sei für alle da, meinte auch der Romanheld Tom Brown in seinen Erinnerungen an die Public School: »Er ist das kulturelle Erbe aller Briten, wie die Habeaskorpusakte und das Recht, sich vor einem Gericht verteidigen zu können.«23 Diese typisch britische Art des Sports hat sich in der Idee des »Fair play« niedergeschlagen. Generell meint der Begriff die Einhaltung der Regeln, er besitzt jedoch auch eine tiefere Bedeutung: »Fair play« verpflichtet dazu, niemals zu täuschen und das Spiel zu verweigern, welches das Leben vorschlägt. Die sportlichen Reglements können sich dabei durchaus ändern. Zu Beginn des Jahrhunderts bildete beispielsweise noch das »Hacking« die Grundlage des Rugby, was bedeutete, den nächstbesten Gegner unabhängig vom Verlauf des Spiels außer Gefecht zu setzen.24 Der männliche Mut, die oberste und hervorstechendste Tugend des Gentleman, schloß auch hier aus, sich davonzustehlen und dem Kampf aus dem 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Weg zu gehen. »Fair play« beruhte auf der treuen Befolgung dieses Grundsatzes. Der Begriff definierte damit ein regelrechtes Ethos, aufgrund dessen man das Leben in der Gesellschaft zu betrachten und zu praktizieren hatte. Diese Weltanschauung verbreitete sich weit über das Empire und den Machtbereich der britischen Monarchie hinaus und überdauerte alle politischen Veränderungen. Sie konnte selbst in Gesellschaften mit starken lokalen, regionalen oder nationalen Identitäten ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl begründen. So bildete sich zum Beispiel die Vorstellung einer eigenständigen walisischen Nation im Rugby-Spiel heraus, das in den Tälern der Bergbaugebiete von Wales betrieben wurde. Als 1905 die walisische Mannschaft das zuvor nie besiegte Neuseeland schlug, feierte man diesen Erfolg gleichzeitig als einen Triumph des britischen Empire und als die Geburt einer Nation: »Die Nationalität ist eine im kollektiven Gedächtnis gründende Gemeinschaft, daher drückt Rugby unseren Nationalcharakter aus. Die Namen der Spieler sind allen geläufig und helfen mit, unsere Traditionen zu bewahren. Mit Rugby hat Wales ein Spiel, das unendlich mehr Werte besitzt als die offiziellen Verfassungen, auf die sich die anderen Länder beziehen.«25 In Frankreich dagegen waren die zentralisierten Sportverbände in die staatlichen Strukturen integriert, so daß sich die Idee der Nation mit der des Staates vermengte.

2. Spiele für das Vaterland Der Gegensatz zwischen Gymnastik und Sport kam in der unterschiedlichen Zielsetzung dieser Körperpraktiken zum Ausdruck. Gymnastik zielte auf die Haltung, die Kondition und die Disziplin des einzelnen, Sport auf körperliche Höchstleistungen als sichtbares Zeichen der persönlichen Überlegenheit. In Wirklichkeit war der Unterschied jedoch nicht so groß, denn der Sport übernahm auch Körperübungen aus der Gymnastik. Deren Bedeutung veränderte sich allerdings aufgrund beständiger Perfektionierung sowie einer fast zwanghaft zu nennenden Fixierung auf das Training.26 An die Stelle von Methoden zur Dressur von Menschenmengen traten Techniken, welche die Individualisierung fördern sollten. Die Konzepte und Praktiken zur Mobilisierung der Massen verweisen somit auf unterschiedliche Prinzipien, obwohl in jedem Fall der Körper den Gegenstand der Disziplinierung bildete. Die Gymnastikvereine waren laut Eugen Weber Teil des Prozesses der Mobilisierung und Nationalisierung der Massen.27 Ihre Aufgabe beschränkte sich daher auch nicht auf die Erziehung für den Kriegsfall und den körperlichen Drill der Gymnasten. Diese 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sollten vielmehr die Tugenden, die ihnen durch die gymnastischen Übungen in Fleisch und Blut übergegangen waren, der Gesellschaft vermitteln, die Gemüter bewegen und so bei der Lenkung der Menschen mithelfen. Die Feste, die Wettkämpfe, die Aufzüge und die Paraden der Gymnasien dienten der Propagierung von Ideen sowie der Hebung von Moral und Sitten. Nach Paul Bert entwickelte sich bei diesen Festen »die ansteckende Sympathie, die die Herzen erwärmt, und der Glaube ans Vaterland«.28 Doch mußten die versammelten Menschen nicht mehr bekehrt werden. Die Darbietungen der Gymnasten wirkten somit wie magische Rituale, bei denen Gleiche Gleiches erzeugen. Die bloße Inszenierung der Symbole der Republik garantierte die Verbreitung des Patriotismus. Mona Ozouf hat in ihrer Studie über die Revolutionsfeste auf die pädagogische Funktion der großen Volksversammlungen im republikanischen Frankreich hingewiesen.29 Auch um 1900 war sich die Staatsführung der Macht der im Fest erzeugten Bilder sicher. Die Inszenierung sollte die Menschen prägen und ändern. So wurden die gymnastischen Darbietungen wie eine Liturgie aufgebaut. Sie gehörten zu den großen republikanischen Gottesdiensten, bei denen kein Symbol, weder vaterländische Gesänge und Fahnen noch Uniformen und Waffen, fehlen durfte. Die bei diesen Veranstaltungen gehaltenen Reden priesen die gymnastische Tugend und entwarfen das Bild einer befriedeten Gemeinschaft, die jedoch im Falle eines unvermeidlichen Konfliktes jederzeit mobilisierbar wäre. »Die Jugend verspürt das Bedürfnis zu handeln«, schrieb Ph. Tissié 1894. »Das Spiel für das Vaterland treibt sie in die Turnhallen ... Geben wir ihr die Kraft, denn die Kraft allein ist unabänderlich. Die Kraft der Worte gilt nur durch die Kraft der Taten ... Bereiten wir sie auf die künftigen Kämpfe vor.«30 Die Verfechter des Sports machten sich allerdings schon bald keine Illusionen mehr über die tatsächliche Wirkung solcher Massenveranstaltungen. Trotz aller Anstrengungen versprachen die großen Sportfeste nur selten athletische Höchstleistungen. Angesichts der Ausschreitungen des »Pöbels« in den Stadien verschärften die Kritiker ihren Ton und kündigten 1910 in der »Revue Olympique« eine tiefgreifende Änderung ihrer Taktik an: »Man hat sich angewöhnt, den Erfolg eines Festes an der Zahl der Anwesenden zu messen. Wie es bei den Bauern heißt: Solange noch einer da ist, sind wir zufrieden ... Das ist der größte Fehler. Eine zu große Teilnehmerzahl, bei der das nicht-sportliche Element überwiegt, schadet dem Sport ... Damit der Sport zum Mittelpunkt des ruhigen Vormittags wird und die dazu unentbehrliche Ruhe entsteht, müssen die Hast und die Masse, diese beiden Vampire der heutigen Zivilisation, daraus vertrieben werden.«31 329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Das versammelte Publikum galt also nach wie vor als »Masse«, d.h. aufgrund seiner Erscheinung und Ungehobeltheit als abstoßend und häßlich. Man sah in ihm ein Symbol des Aufruhrs und der Unordnung, eine Bedrohung, die eingedämmt, zurückgedrängt und beherrscht werden müsse. Die Förderer des Sports glaubten nicht mehr, daß die Zuschauer durch das Betrachten erbaulicher Aufführungen tugendhafter würden. Sie setzten nun ganz auf die sportliche Eigenbetätigung, da nur diese erzieherisch wirken, Werte einprägen und den neuen, zivilisierten Menschen bilden könne. Der »Voyeur« gehörte nicht in das Stadion, nur der »Aktive« konnte ein richtiger Zuschauer sein: »Der ideale Zuschauer ist der Kraft schöpfende sportsman, der seine eigenen Übungen unterbricht, um den Bewegungen eines geschickteren oder besser trainierten Kameraden zu folgen ... Wir würden uns wünschen, daß eine Sportstätte geschaffen würde, zu der nur der Zutritt hätte, der auch einige Übungen ausführt ... Das wäre ein Tempel der Erholung. Er diente als Beispiel. Nach und nach würde man sein Reglement übernehmen und das Wohltuende seines drakonischen Regiments loben.«32 Die gelungene Mobilisierung zielte somit in erster Linie auf die aktiven Sportler, auf deren Körper sie wirken und in deren Geist sie eindringen sollte. Sie vereinte die Individuen, verwandelte sie, vermehrte ihre Kräfte und bereitete sie auf ihre Bürgerpflichten vor. Die sportliche Betätigung vermochte somit, ein Zugehörigkeitsgefühl zu erzeugen und die nationale Gemeinschaft zu begründen. »Coubertin hat uns gezeigt, wie der junge Sportler im Mannesalter auf dem Gebiet des Lebenskampfes alle Gefühle und Höhepunkte, die er durchlebt hat, alle moralischen Siege, die er auf dem grünen Rasen, dem Schauplatz seiner schulischen Auseinandersetzungen, davongetragen hat, wiedergefunden hat. Auch hier tobt der Interessenstreit um eine Art Ball, den man beherzt festhalten muß, um ihn vor widerstreitenden Begehrlichkeiten in Sicherheit zu bringen! ... Ob wir wollen oder nicht, das Gesetz der nationalen Solidarität stellt uns alle in die Abhängigkeit von unseren Mitbürgern: Sie bilden die große Nationalmannschaft, in der wir alle notwendigerweise Mitspieler sind.«33 Im großen und ganzen blieb der Zuschauer eine lästige Randfigur, obwohl die zahlreichen eigens für ihn eingerichteten Spielstätten das Interesse bezeugen, das man ihm dennoch entgegenbrachte. Die um diese »Gärten der Leistung und Bäder der Abhärtung« versammelten Massen sollten eine besondere Kulisse für das Spektakel bilden, durch das man sie zu bekehren versuchte. Während sich der erbaute und aufgeklärte Zuschauer als aktiver Sportler betrachtete,34 verwechselten die Massen die Sportfeste jedoch mit Zirkusspielen. In den Stadien herrschte daher große Sorge um die allgemeine Sicherheit. Ihre Umfassungen wurden geschlossen und die Zuschauer-

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ränge in Blöcke unterteilt, damit sich die Menschen besser kontrollieren ließen.35 Das Problem, die Massen in die Sportlergemeinschaft einzugliedern, wurde so von der Frage nach der Eindämmung von Ausschreitungen überlagert. Es wäre allerdings falsch, dies als ein Eingeständnis von Ohnmacht oder als einen Verzicht zu interpretieren, die Massen zu erziehen und ihre Leidenschaften zu lenken. Vielmehr handelte es sich um eine Maßnahme, durch die man Zeit gewinnen wollte, um andere Lösungen zu finden. Doch bleibt die Versöhnung von Zuschauern und Sportlern ein bis heute ungelöstes Problem. Wie P. Rosanvallon unterstreicht, besteht in einer Demokratie die Daseinsberechtigung des Staates darin, die Nation zu bilden: »Das bedeutet auf alles Einfluß zu nehmen, was die sozialen Beziehungen spürbar beherrscht - um in der Vorstellung der Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu verankern, durch das fortan keine soziale Struktur mehr eine direkte Bedeutung besitzt.«56 Dem Sport kam bei diesem Vorhaben eine besonders hohe Bedeutung zu. 3. Die nationale Ordnung Mit jeder Generation wuchs die Bedeutung des Sports in der französischen Gesellschaft. Der Sportgedanke bemächtigte sich der traditionellen Spiele und strahlte auf neue Körperpraktiken ebenso aus wie auf alte, die aus anderen Zivilisationen und fremden Kulturen gekommen waren. 1967 wurde schließlich auch die alte Unterscheidung zwischen Sport und Leibeserziehung von staatlicher Seite aufgegeben und damit die Dominanz des Wettbewerbs- und Leistungsgedankens endgültig festgeschrieben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Schulkinder strenge Gemeinschaftsübungen ausführen müssen, die Gymnastikübungen der Armen. Fortan sollte die integrierte Leibeserziehung einen Beitrag zur Entwicklung der sportlichen Praxis leisten. Allerdings bekräftigte diese Reform nur einen bereits bestehenden Zustand, da sich der Sport Ende der sechziger Jahre in vollem Aufschwung befand. In den folgenden Jahrzehnten zeigte sich die Breite dieser Bewegung: 1967 gaben noch vierzig Prozent der Franzosen an, sich niemals sportlich betätigt zu haben; 1987 war dieser Wert nur noch halb so hoch. Die gewachsene Begeisterung für den Sport kann dabei nicht auf die Verlängerung der Schulzeit zurückgeführt werden, da schon 1967 über neunzig Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 22 Jahren angegeben hatten, sporrlich aktiv zu sein. Die Zunahme ging vielmehr vor allem auf eine Verhaltensänderung in der erwachsenen Bevölkerung zurück, insbesondere in der Altersgruppe der über Dreißigjährigen. Bei allen schichtund klassenspezifischen Unterschieden ist der Sport heute ein allgemeines 331 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

gesellschaftliches Phänomen. Die Franzosen treiben mehr und häufiger Sport, verbringen mehr Zeit ihres Lebens in Sporteinrichtungen und sind insgesamt leistungsfähiger geworden. Dieser Siegeszug des Sports kann nicht mit der Magie des Wortes oder der Alchimie des Spektakels erklärt werden. Die Ermahnungen, Sport zu treiben, hätten ohne die von den herrschenden Klassen geduldig und hartnäckig betriebene Organisationsarbeit wenig gefruchtet. Der Sport steht in Frankreich, wo er ein staatliches Anliegen ist, auf der Liste der politischen Prioritäten ganz oben. Es gibt keine sportliche Organisation, die nicht den staatlich verordneten Reglementierungen unterworfen wäre. Die Verbände sind verpflichtet, die Zulassung durch das aufsichtsführende Ministerium zu beantragen. Der Grad der Abhängigkeit der Verbandsinstanzen bleibt der Willkür der Behörden überlassen. Früher lag die Macht in den Händen des Verteidigungsministers, heute sind das Ministerium für Erziehung und der Staatssekretär für Jugend und Sport zuständig. Trotz dieser Veränderung auf der Aufsichtsebene besteht das Ziel der staatlichen Aktivitäten weiterhin darin, die Individuen in den Staat einzuordnen und in der Gesellschaft zu verankern. Um ihre Entscheidungen durchzusetzen, verfügen die staatlichen Instanzen über beachtliche Druckmittel. Nur sie haben das Recht, Genehmigungen für die Ausrichtung von Wettkämpfen zu erteilen. Sie wachen über den Bau und Betrieb der Sportstätten und weisen diese den Vereinen zu. Sie bestimmen über die Ausbildung, Prüfung und Titel der Betreuer, Sportlehrer und -funktionäre. Schließlich finanzieren sie die Arbeit der Sportvereine in erheblichem Ausmaß.37 Damit ist jedoch nur der allgemeine Rahmen des zentralisierten Systems beschrieben, nicht aber seine Funktionsweise, die eher von pragmatischen Eingriffen im Sportalltag abhängt. Die gründlichen, zielsicheren und häufig undurchschaubaren Einflußnahmen vor Ort sind das Werk eines kämpferischen Bekehrungsdranges, der seinen Erfolg an der Tat mißt. Das Bürgertum offenbart dabei seinen praktischen Sinn, seine Hartnäckigkeit und die besonderen Fähigkeiten, das gesellschaftliche Leben zu lenken und zu organisieren. 4. Die Kunst, Verhalten zu lenken und Menschen zu fuhren In seiner »Geschichte der französischen Leidenschaften« weist Theodore Zeldin auf die wichtige Rolle der herrschenden Schichten und Kreise bei der Organisation des Sports hin.38 In ganz Frankreich stehen an der Spitze der Klubs und Vereine Männer, die sich, vom Wunsch nach offiziellen Ehrungen und Auszeichnungen getrieben, für die öffentlichen Angelegenheiten einsetzen. Nach wie vor ist die Leitung der sporttreibenden Bevöl332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

kerung eine Klassenangelegenheit. In den Mannschaften des französischen Rugby-Verbands ist der Anteil der Arbeiter und Angestellten so hoch wie derjenige der privilegierten sozialen Schichten,39 in den Vorständen der Klubs ist die Vermischung der Klassen und Kulturen aber erheblich geringer. Die exklusive Welt der Vorstände steht in scharfem Kontrast zur demokratisierten Welt der Spieler. Auf der Leitungsebene dominieren Geschäftsleute (Industrielle, Großhändler, kleine Gewerbetreibende), Angehörige freier Berufe (Anwälte, Ärzte, Architekten, Notare) sowie politische Funktionsträger (Bürgermeister, Abgeordnete, Senatoren). Die einflußreichen Männer der Sportführung handeln mehr aus Pflichtgefühl und Überzeugung als aus Sorge um ihre Reputation. Ihre wohlüberlegten Interventionen vermehren weder ihr Vermögen, noch tragen sie wesentlich zur Stärkung ihrer Machtposition bei.40 Die von ihnen entworfenen Verfahren und Maßstäbe sollen vielmehr bestimmte Verhaltensweisen festlegen, vorschreiben und durchsetzen. Der Sportbetrieb durchdringt das gesamte Land. Kein Dorf, kein Marktflecken, keine Klein- oder Großstadt soll ohne Stadion, Klubs und Mannschaften bleiben. Diese fügen sich in eine hierarchische Struktur ein. Jede Ebene vereinigt Bevölkerungsgruppen, deren Fähigkeiten und Begabungen homogen sind. Diese sorgfältige Differenzierung hat nicht die Funktion, Chancengleichheit herzustellen. Sie soll vielmehr das sportliche Kräftemessen immer wieder aktualisieren. Die Konfrontation von Gleichen garantiert den Kampf und legitimiert das Prinzip unvermeidlicher Ungleichheit, die sich direkt am Tabellenplatz ablesen läßt. Der Kampf um die Meisterschaft, die Rangliste als Bilanz der Spielzeit sowie das System von Aufstieg und Abstieg machen den Wettkampf zu einer ständigen Einrichtung. Die erzielten Ergebnisse sind immer nur vorläufig, die errungene Position ist niemals endgültig. Der Sportbetrieb gliedert sich vom Bezirk bis zur nationalen Ebene vertikal und horizontal. Die Leistungen von Bezirksmannschaften wie auch von großen, um die französische Meisterschaft kämpfenden Klubs haben ihren Platz in einem großen gemeinsamen System. Wenn der Wechsel von Erfolg und Niederlage hochrangige Mannschaften innerhalb weniger Jahre in die Niederungen der Bezirksligen zurückwerfen kann, bedeutet dies jedoch nicht, daß mit diesem kollektiven Abstieg auch das Schicksal der Individuen besiegelt wäre. Die Logik des Systems besteht vielmehr darin, daß es Veränderungen, Umplazierungen und Karrieren hervorbringt. Der Platz eines jeden hängt einzig und allein von seinen Fähigkeiten, seinem Kampfgeist und seinem persönlichen Talent ab. Die im Training erworbenen Fähigkeiten und erzielten Leistungen bringt der Wettkampf ans Licht. In ihm wird jede Handlung mit größter Genauigkeit erfaßt, belohnt oder bestraft, um für jedermann sichtbar den 333 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Wert eines Individuums anzuzeigen, der sich wiederum auf sein Prestige und seine sozialen Beziehungen auswirkt. Der Wettkampf differenziert und ordnet die Individuen aufgrund ihrer sportlichen Leistungen und erzeugt damit ohne direkten Zwang Formen der Individualität, die der gesellschaftlichen Ordnung entsprechen. »Das Individuum«, so erinnert M. Foucault, »ist zweifellos dasfiktiveAtom einer ›ideologischen‹ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ›Disziplin‹ produziert worden ist.«41 Jede einzelne Sportart leistet einen Beitrag zu dem breit angelegten Regelsystem, das alle sportlichen Aktivitäten umfaßt. Nach den für das Rugby geltenden Grundsätzen des Amateursports müßten allein der Zufall und der Arbeitsmarkt die Verteilung der Aktiven in den Klubs regeln. Dies ist jedoch nicht der Fall, da tatsächlich so etwas wie ein Spielermarkt existiert, auf dem knappe und begehrte Güter wie das sportliche Können und das Talent der Aktiven gehandelt werden. Die häufigen Klubwechsel im Verlauf einer Sportlerkarriere sind kein Zufall, da die Überlegenheit der großen Klubs vielfach auf ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten beruht, talentierte Spieler zu engagieren. Der Markt wird dabei von jenen Klubs beherrscht, die über die größten Finanzmittel verfügen. Die Analyse der Herkunftsklubs von Spielern der obersten Rugby-Liga zeigt, daß 1981 weniger als zwanzig Prozent der Aktiven noch für ihren ursprünglichen Klub tätig waren. Jedes Jahr wechselt über ein Viertel aller Spieler Mannschaft und Lebensmittelpunkt.42 Den Vereinsleitungen und Geldgebern geht es darum, die besten Spieler zusammenzubringen, um leistungsstarke Mannschaften zu bilden. Geschäftsleute und Bankiers, Industrielle und Abgeordnete setzen alle Hebel in Bewegung, um talentierte Spieler zu gewinnen und in das lokale Umfeld einzubinden. Sie locken mit Arbeitsstellen und Pachtverträgen für Geschäfte, zinslosen Darlehen und zahlreichen Erleichterungen für Spieler, die sich selbständig machen wollen. Überdies werden den Spielern Wohnungen, Prämien sowie als »Verdienstausfall« bezeichnetefinanzielleEntschädigungen und versteckte Vergütungen angeboten.43 Das fördert die Vereinsbindung des Sportlers, dem umgekehrt bedingungsloser Einsatz für seine Mannschaft, Ernsthaftigkeit beim Training, Selbstlosigkeit, Mut, Opferbereitschaft und Disziplin abverlangt werden. Leistung und Loyalität lassen sich an den Ergebnissen messen. Mangelhafte Leistungen, Nachlässigkeiten und wiederholte Niederlagen werden daher von den leitenden Funktionären stigmatisiert und sanktioniert.44 Die soziale Einbindung in einen Klub oder in eine Mannschaft beruht aber auch auf der exklusiven Solidarität, die auf der gemeinsamen Teilhabe an den Werten des Wettkampfs gründet. Die Position und Rolle der Individuen, die Art und Weise ihrer Integration in die Gemeinschaft und 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die sozialen Bindungen untereinander werden primär durch die Leistung bestimmt. Wettkampf, Können, Kampfgeist und Rekorde sind die Leitbegriffe eines transparenten und dem Anschein nach völlig eindeutigen Projekts, welches das soziale Leben nach spezifischen Regeln ordnen will. Als Leitbilder und Identifikationsobjekte fungieren der Klub, die Mannschaft oder der Einzelgänger, der alles dem Streben nach Höchstleistung unterordnet. Der Sport stellt ständig soziale Beziehungen und Zugehörigkeitsgefuhle in Frage, die auf Nachbarschaftsbeziehungen, lokalen Solidaritäten und gesellschaftlichen Kämpfen beruhen. Das System des Sports gewinnt in der Gesellschaft an Bedeutung, indem seine Werte in alle Lebensbereiche eindringen.45

5. Die Sportfeste Als Maßstab für den Kampfgeist gelten die Wettkämpfe, die als organisierte Inszenierung der Konfrontation dienen und durch Mobilisierung der Zuschauermassen legitimiert werden. Der Wettkampf soll nicht bloß ein vergnügliches Schauspiel sein, sondern die Menschen zusammenführen, um sie zu erziehen. Diese Auffassung hat eine lange Tradition. Seit dem 18. Jahrhundert prangern die Eliten immer wieder die ›Spektakel‹ an, die das Volk ›abstumpfen‹ und die Passivität der ›faulen, unwissenden und leicht zu erregenden Massen‹ fördern. Die pädagogischen Sportfeste haben daher ihre Wurzeln auch in jener dirigistischen Tradition offizieller Feiern, welche die jakobinische Demokratie prägte. Ebenso wie die Feste der Französischen Revolution fordert auch das Sportfest eine Fortsetzung im Alltag. »Nach dem Fest sollen die Menschen aufgeklärter und glücklicher nach Hause gehen; was im übrigen auf das gleiche hinausläuft. Das bedeutet, daß das Fest kein Ende mehr hat; nicht so sehr, weil man auf das nächste wartet oder sich an das letzte erinnert, sondern durch die Disziplin, die es einführt, durch die sittlichen Verhaltensweisen, mit denen es bekannt macht, und durch das System der erteilten Auszeichnungen und Strafen.«46

Wettkämpfe haben verschiedenartige Funktionen und Bedeutungen. Sie sind Ausdruck der Disziplin und Mobilisierung, der Kontrolle des individuellen Verhaltens und der Verwandlung einer zusammengewürfelten ›Masse‹ in ein ›Volk‹. Die Sportbegegnungen finden häufig und in regelmäßigen Abständen statt und werden sorgfältig organisiert. Jedes Wochenende strömt die Bevölkerung in die Stadien, Turnhallen oder Schwimmhallen, um sich einer Freizeitbeschäftigung zu widmen, die keineswegs so harmlos ist, wie es den Anschein haben mag. Sie dient nämlich nicht nur dem Vergnügen und der Geselligkeit, sondern auch der Vorbereitung auf natio335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nale Wettkämpfe. Die Sportfeste bekommen damit eine Dimension, die sonst religiösen und politischen Ritualen vorbehalten ist. Sie brechen als wiederkehrende und kodierte Verhaltensweisen mit dem Alltag und den einheimischen Kulturen, inszenieren und repräsentieren symbolisch die Zusammengehörigkeit der nationalen Gemeinschaft.47 Jedes Jahr werden in groß inszenierten Massenveranstaltungen die Landesmeister bestimmt, die anschließend an den internationalen Turnieren teilnehmen. Als Repräsentanten der nationalen Sportverbände und des französischen Staates verkörpern diese ausgewählten Individuen Eigenschaften und Tugenden von Gesellschaft und Nation. Fahnen in den Nationalfarben, die patriotischen Gesänge wie auch die obligatorische Anwesenheit hoher politischer Würdenträger weisen auf die integrierenden Funktionen dieser großen sportlichen Zeremonien hin. In solchen herausgehobenen Augenblicken »wird sich die Gesellschaft ihrer selbst bewußt und setzt sich«, schreibt Emile Durkheim; »und die individuellen Schicksale ordnen sich entsprechend der kollektiven Normen.«48 Damit leisten diese Darbietungen einen Beitrag zur Herstellung einer Gemeinschaft, die sich in der ihre Einheit begründenden Institution, dem Staat, wiederentdeckt. Die allgemeine Mobilisierung der Massen wird jedoch erst durch eine systematische Organisation der sportlichen Praxis ermöglicht, die den Meister nicht mehr als Ausnahme erscheinen läßt. Seine Spitzenleistungen stellen lediglich graduelle Abweichungen in einem hierarchischen Leistungssystem dar, das all jene umfaßt, die das gleiche Spiel spielen. Dies erlaubt die Identifikation mit den Spitzenathleten, die in der jeweiligen Sportart mit der Masse der Aktiven durch die gemeinsame Sportkultur verbunden bleiben. Ihre Leistungen sind ein Element der kollektiven Vorstellungswelt und dienen als Beleg für das Vorhandensein spezifisch französischer Eigenschaften. Der nationale Stil im Sport beruht somit weniger auf den Besonderheiten des Spiels und der Lebensform als auf der Art und Weise, wie sich die Menschen ihre Praktiken und ihr kollektives Dasein erzählen und sich darin wiedererkennen.49 Der Sport bringt ein volkstümliches Nationalbewußtsein hervor, das zur Legitimierung der staatlichen Autorität beiträgt. Die Mobilisierung kann ihren Auftrag zur patriotischen Sammlung umso leichter erfüllen, als ihr die sportliche Praxis den Boden bereitet.50 Sie erzeugt eine streitbare Gesellschaft von Individuen, die für jede Form von Konfrontation mobilisierbar sind. Der Sport wirkt bei der Konstruktion einer Gesellschaft mit, in der sowohl der ständige und unerbittliche Kampf als auch der Rechtsstaat als legitime Werte angesehen werden.

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6. Schluß Der Krieg ist eine Angelegenheit des Staates, der dabei seine Souveränität unter Beweis stellt und sich auf die Nation beruft. Er mißt die Stärke und kollektive Macht des Staates an der Fähigkeit, ein Volk zu einen und zu mobilisieren. Dieser Gedanke geht bis auf die Französische Revolution zurück. Der Krieg sei nicht das Chaos, da er die Gemeinschaft zusammenschweiße und die Intensität der sozialen Bindungen unterstreiche. Hier soll jedoch nicht eine vergangene Blütezeit des Nationalismus beschworen, sondern in spezifischer Weise die gegenwärtige Krise der französischen Gesellschaft diskutiert werden, die sich am massiven Rückgang des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades und an der beständig wachsenden Zahl der NichtWähler, kurz: am allgemeinen Desinteresse an der öffentlichen Ordnung ablesen läßt. Manche Ideologen erklären diese Entwicklung mit dem Ende der großen kollektiven Mythen »Gott«, »Revolution« und »Nation« sowie dem Aufstieg einer neuen »Kultur des Narzißmus«.51 Im Winter des Jahres 1991 hat es allerdings nur einige Tage gebraucht, um diese atomisierte, fragmentierte und zersplitterte Gesellschaft für einen Krieg zu mobilisieren, der als ein neuer, im Namen der Zivilisation geführter Kreuzzug gerechtfertigt wurde. Der Golfkrieg hat die Einheit der Nation wiederhergestellt und ihr eine neue Stabilität verliehen. Nachdem der nationale Konsens erneut gefunden worden war, akzeptierte Frankreich ohne Widerspruch ein Leben unter dem Diktat des Militärs. Die militärische Kontrolle über die Medien wurde hingenommen, und die bei der Rückkehr der siegreichen Truppen organisierten Feierlichkeiten fanden breiten Anklang. Der Krieg ist auch in der heutigen Welt eine unleugbare Tatsache, deren zerstörerische Auswirkungen die westliche Öffentlichkeit offenbar nicht übermäßig beunruhigen. Der Krieg gehorcht seinen eigenen Gesetzen. Obwohl zahlreiche Metaphern52 gestatten, über Krieg und Sport in der gleichen Sprache zu sprechen, müssen beide Phänomene voneinander getrennt werden, da es sich um verschiedene Formen der Konfrontation handelt. Der Sport kodifiziert einen Leistungstest, dessen Ziel nicht die Vernichtung und Zerstörung des Gegners, sondern dessen Beherrschung ist. Es gibt in ihm keinen endgültigen Sieg, da der Kampf kein Ende hat. Die Vorstellungen von der Nähe des Sports und der Politik bzw. des Krieges, der nur eine andere Form der Politik darstelle, beruhen nicht nur auf der Überlagerung ihrer Diskurse, sondern auf der Struktur, Funktion und Bedeutung des Sports in der Gesellschaft.53 Der Sport kann nur solange, wie er als das eigentliche Ziel erscheint, jene sozialisierenden Funktionen erfüllen, die das gesellschaftliche System von ihm fordert. Somit ist es der Zweck des Wettkampfs, sein eigenes Fortbe337 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

stehen zu sichern. Die Inszenierung des Konflikts wird zum legitimen Modell für das gesellschaftliche Leben und zu einem regelrechten Laboratorium, aus dem die Normen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen. Der Sport repräsentiert den Idealtyp eines Marktes mit vollkommener Konkurrenz, in den die Demokratie nicht korrigierend eingreift. Allein in diesem Bereich ist daher auch der Einsatz von Gewalt legitim. Als ein wichtiges Medium der Sozialisation konstruiert der Sport die Formen einer agonistischen Individualität, auf der die Mechanismen zur Mobilisierung der Nationen beruhen. Er ersetzt dabei nicht den Krieg und bietet auch keine friedliche Alternative zum Kampf der Waffen. Obwohl er nicht die Bedingungen für den Krieg schafft, macht er diesen dennoch möglich, indem er die großen Konflikte als eine unumgängliche Notwendigkeit der Geschichte erscheinen läßt. »Es ist unerheblich, ob der Kriegszustand wirklich erklärt wird«, stellt eine Romanfigur von George Orwell fest. »Alles, was notwendig ist, ist, daß der Kriegszustand existiert.«54

Anmerkungen 1 N. Elias, Quest for Excitement, London 1987. 2 Zit. nach Ders. u. E. Dunning, Sport et civilisation, Paris 1994, S. 83. 3 Ebd., Kap. 1. 4 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 163. 5 Zur Beantwortung dieser Frage beziehe ich mich weitgehend auf A. Ehrenberg ( H g . ) , Aimez-vous les Stades?, Paris 1980. Ehrenberg formuliert das Problem im übrigen selbst sehr deutlich in seinem Buch: Ders., Le corps militaire, Paris 1983. 6 E. Weber, Gymnastique et sport en France à la fin du 19ème siècle: Opium des classes?, in: Ehrenberg, Stades, S. 185-220. 7 Die Lieder, die bei den Umzügen der Turnvereine gesungen wurden, lassen keinerlei Zweifel über die Ziele dieser Bewegung aufkommen: »Frankreich, sieh Dir die Parade an! -3 Dieses bartlose Männerbataillon - Gen Westen, zum deutschen Rhein! - Ihre Chirons ertönen stolz - Stolze Herausforderungen im Raum - Vorwärts, auf und alle Achtung! Hier kommt die Revanche!« (Le drapeau, 12.7.1884.) 8 R. Holt, Aspects of the Social History of Sport in France 1870-1914, London 1980. 9 P. Chambat, Les muscles de Marianne, in: Ehrenberg, Stades, S. 139-185. 10 Ehrenberg, Corps militaire. 11 Zitiert nach Chambat, Muscles, S. 166f. 12 Der Auftrag der Armee beschränkte sich dabei keineswegs auf die Zeit des Wehrdienstes, da die Militärinstrukteure auch den Kern des Leitungspersonals der schulischen Einrichtungen und der zivilen Vereine bildeten. 13 P. Macintosh, Physical Education in England since 1800, London 1968. 14 G.L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976. Siehe auch: T. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in

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Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: H. Boockmann ( H g . ) , Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972. 15 F.L. Jahn u. E. Eiselen, Die Deutsche Turnkunst, Berlin 1816. 16 E. Neuendorff, Die Deutsche Turnerschaft 1 8 6 0 - 1 9 3 6 , Berlin 1936. 17 Mosse, Nationalisierung, S. 159. 18 G. Gebauer, Die Stellung des Spitzensports in Kultur und Gesellschaft. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich, MS Berlin, April 1993. 19 Elias stellte daher auch nicht grundlos die deutsche Kultur der französischen Zivilisation gegenüber, indem er sie als zwei historische Konfigurationen bezeichnete, in deren Rahmen die beiden Nationen ihre jeweilige Identität aufbauten. 20 Foucault, Sexualität, S. 151. 21 Zit. nach Ehrenberg, Corps militaire, S. 146. 22 »Die ganze Schule schweigt und hält den Atem an, heute abend gilt's: 10 Punkte brauchen wir und den Sieg im Match./Auf tiefem Boden, bei gleißendem Licht/eine Stunde spielen, ohne daß ein Spieler schlapp macht./Nicht aus Freude über den ›Blazer und das Wappen‹,/schon gar nicht in der egoistischen Hoffnung, für einen Augenblick/ganz toll dazustehen,/sondern nur um den Schlag des Kapitäns auf der Schulter zu verspüren:/›Stürmt los, Jungs! Stürmt los und macht das Spiel!‹/Der Wüstensand ist von Blut ganz durchtränkt,/ Das Blut des englischen Karrees, das sich hat niedermetzeln lassen./Das Maschinengewehr hat Ladehemmung, der Oberst ist tot,/ Und das Regiment ist ganz blind von Staub und Rauch./ Der Fluß des Todes ist über die Ufer getreten,/England ist weit, und Ehre ist nur ein Wort./ Aber da, eine Schülerstimme richtet die Truppe wieder auf:/›Stürmt los, Jungs! Stürmt los und macht das Spiel!‹/Das sind die Worte, die Jahr für Jahr,/Solange die Schule eine Rolle spielt,/Alle Schüler zu hören bekommen./Keiner, der sie hört, wagt es, sie zu vergessen,/Alle halten sie in ihrem frohgemuten Geist lebendig,/Ihr ganzes Leben lang, leuchtend wie Fackeln./Und wenn sie fallen, rufen sie der nachrückenden Armee zu:/›Stürmt los, Jungs! Stürmt los und macht das Spiel!‹« (H. Newbolt, Polen Old and New, London 1901, S. 78f.) 23 T. Hughes, Tom Brown's Schooldays, London 1857, S. 2 8 8 - 3 0 8 . 24 K. Sheard u. E. Dunning, Barbarians and Gentlemen, New York 1979. 25 Zit. nach G. Williams, Images and Identity in Wales 1890-1914, in: J.A. Mangan u. F. Cass ( H g . ) , Pleasure, Profit and Proselytism, London 1988. 26 G. Vigarello, Le corps redressé, Paris 1968. 27 Weber, Gymnastique. 28 P. Bert, De l'éducation civique, Paris 1973, S. 18. 29 M. Ozouf, La fête révolutionnaire, Paris 1976. 30 Ph. Tissié, La fatigue et Pentraînement physique, Paris 1894, S. 84f. 31 Revue Olympique, Februar 1910, S. 27f. 32 O. V., Pour que le sport puisse enrayer la névrose universelle, in: Revue Olympique, Oktober 1910, S. 154f. 33 E. Seillière, Un artisan de l'énergie française, Paris 1917, S. 22f. 34 G. Rozet, La defense etl'illustrationde la race française, Paris 1911. 35 Faure-Dujarric, L'organisation materielle d'une Société sportive, Paris 1924, S. 180-185. 36 P. Rosanvallon, L'État en France de 1789 à nos jours, Paris 1990. 37 Die professionellen Fußballklubs sind ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß dem Sport über die verschiedensten Kanäle von staatlichen Macht- und Verwaltungsinstanzen finanzielle Mittel zugeteilt werden. Die achtzehn Klubs der Oberliga, die im Prinzip gemeinnützige Vereine sind wie die kleinsten Dorfklubs, profitieren alljährlich von enormen Subventionen. Dennoch haben die 4 0 0 Millionen Francs, die sie allein 1989 an Subventionen erhielten, nicht verhindern können, daß ein Rekorddefizit von mehr als einer Milliarde Francs entstanden ist.

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Es ist wahrscheinlich, daß der Umfang dieser Krise und die Aussicht auf ein einheitliches Statut für die europäischen Fußballklubs tiefgreifende Veränderungen in der Leitung des französischen Fußballs herbeiführen werden. Die Gemeinden werden dennoch nicht auf ein ›Mäzenatentum‹ verzichten, das sie als direkte politische Investition ansehen. 38 Th. Zeldin, France. 1 8 4 8 - 1 9 4 5 , 2 Bde., Oxford 1973 u. 1977. 39 Eine Zusammenfassung dieser Untersuchungen findet sich bei J.-M. Faure, Sport, cultures et classes sociales, These de doctorat d'État, Nantes 1987. 41,4% der Rugby-Spieler waren Arbeiter oder Angestellte. Damit sind sie ebenso zahlreich wie die Gewerbetreibenden aus Handel und Industrie, die freien Berufe und die leitenden Angestellten - was ganz und gar nicht der Fall ist bei Sportarten wie Tennis, Ski, Bergsteigen, Segeln und Straßenrennen, die nach wie vor sehr stark sozial geprägt sind. Dennoch zeigt sich selbst im Fall des Rugby, daß Angehörige der freien Berufe überproportional vertreten sind. 40 HL. Dreyfus u. P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S. 255. 41 M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S. 255. 42 Während unserer Untersuchungen im Jahre 1981 waren beim französischen RugbyVerband etwas weniger als 80 000 Mitglieder eingeschrieben. Am Ende des Jahres hatte die für Spielertransfers zuständige Kommission 26 231 Anträge behandelt, von denen 60% die Klubs der Oberliga betrafen und 30% die Regionalklubs. Das heißt, daß der nur auf lokaler Ebene gespielte Rugbysport der ganz kleinen Vereine einer völlig anderen Sphäre angehört. 43 Das Verfahren ist einfach, effizient und gefahrlos. Dem Spieler wird ein zinsloses Darlehen gewährt, damit er sich selbstständig machen kann. Allmonatlich muß der Spieler einen beim Klub-Notar hinterlegten Wechsel einlösen, um seine Schulden zurückzuzahlen. Abgesehen von dem unwahrscheinlichen Fall, daß der Spieler die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuscht, werden am Ende eines jeden Monats die Wechsel als tatsächlich eingelöst betrachtet. Dem Spieler wird jedoch schlicht und einfach die laufende Rückzahlung erlassen. 44 Immer wieder erinnern die Vorstandsmitglieder an ihre eigene Untadeligkeit und kritisieren die Sorglosigkeit der Spieler. Entsprechend repräsentativ sind die Äußerungen eines Klubpräsidenten, der nach dem Ausscheiden seines Vereins aus den Spielen um die französische Meisterschaft meinte: »Wir haben einen Vorstand, der sich zerreißt, anders gesagt, der am Klubleben teilnimmt, indem er seine Brieftasche immer bereitwillig aufhält. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Wir helfen den Spielern so gut es geht, wir suchen ihnen und ihren Frauen Arbeit. Wir lassen alle unsere Beziehungen spielen. Und was gibt man uns dafür? Nichts, absolut nichts. Keinerlei gefühlsmäßige Anerkennung. Kein Herz, keine Lust, sich auf dem Feld zu schlagen. Es ist erbärmlich und entmutigend« (Faure, Sport, S. 625). 45 Ders., Ordre et désordre des Stades, Paris 1992. Die kleinen Klubs und die Vereine, deren Bekanntheitsgrad an den Bezirksgrenzen endet, zeichnen sich durch eine starke Rekrutierung aus den einfacheren Bevölkerungsschichten aus. Die Praktiken des Sports bekommen hier ihren besonderen Akzent durch ihre Einbettung im lokalen Leben von Dörfern, Marktflecken, Siedlungen und Stadtvierteln. Im Konzert des Wettkampfs, des »Fair play« und der Höchstleistungen halten sie immer einen gewissen Abstand zu den legitimen Normen. Die volkstümlichen Praktiken des Sports bekräftigen Solidaritäten und soziale Zugehörigkeiten, was der Logik des institutionalisierten Sports teilweise zuwiderläuft. Die Verflechtungen in der Familie sowie unter Verwandten, Freunden und Kollegen gehen in die rein sportlichen Beziehungen ein und unterlaufen die Legitimität des Könnens und der körperlichen Überlegenheit. Das Sportsystem sieht sich somit den sozialen Integrationsformen untergeordnet, die sich durch gemeinschaftliche und freiwillige Riten ausdrücken und der Ethik des Sports und den asketischen Normen des Wettkampfs widersprechen. Wenn eine Mannschaft in der Hierarchie aufsteigt, nehmen die rein sportlichen Zwänge und Verpflich-

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tungen jedoch zu, die soziale Rekrutierung erweitert sich und die Zahl der Arbeiter nimmt ab. Das sportliche Können allein bestimmt dann über die Aufnahme in die Vereine. 46 Ozouf, Pete, S. 326ff. Diese Gedanken und insbesondere die Behauptung, die Sportveranstaltungen stellten politische Anlässe dar, sind bereits von Ehrenberg in einem bemerkenswerten Artikel vorgebracht worden (A. Ehrenberg, Des jardins de bravoure et des piscines roboratrices, in: Les Temps modernes, Februar 1979). 47 »Die Riten«, schreibt Durkheim, »sind vor allem die Mittel, mit denen sich die Gruppe periodisch erneuert ... Wesentlich ist, daß die Individuen vereint sind, daß die gemeinsamen Eindrücke gefühlt und durch gemeinsame Handlungen ausgedrückt werden« (E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 520). Siehe auch die verschiedenen Artikel in der Nummer »Rituels contemporains« in der Zeitschrift Terrain 8, 1987. 48 E. Balibar u. I. Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Berlin 1990. 49 Zit. in:Ch.Bromberger, Pour une ethnologie du spectacle sportif: Les matchs de football à Marseille, Turin et Naples, in: Terrain 8, 1987. 50 Bei Umfragen wird hinreichend deutlich, daß die Masse der Zuschauer in den Stadien hauptsächlich von Leuten gebildet wird, die selbst eine sportliche Vergangenheit haben. Dies gilt für den Fußball, die wichtigste Sportart der unteren Schichten, und für das Tennis, die dominierende Sportart der oberen Schichten. Wenn man die Befragten auffordert, die zehn größten französischen Meister zu nennen, geben 80% den Meistern aus den Sportarten den Vorzug, die sie selbst praktiziert haben. Während sich jedoch die unteren Schichten an diese Regel halten und ihre Wahl damit vor allem auf Fußballer und Radfahrer begrenzen, ist die Wahl in den oberen Schichten gestreuter, wobei Meister mit internationalen Auszeichnungen bevorzugt werden. So vergessen sie niemals G. Charpentier und M. Cerdan, beide BoxWeltmeister, selten erwähnt von den Arbeitern, die R. Poulidor und R. Vietto vorziehen, zwei Radrennfahrer, denen es niemals gelang, eine Tour de France zu gewinnen (vgl. Faure, Ordre). 51 Vgl. u.a. C. Lasch, The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York 1978. 52 Metaphorische Reden dieser Art sind in diesem Jahrhundert immer wieder gehalten worden. So trifft man vor dem Ersten Weltkrieg im Agathon auf junge Leute aus guten Familien, die erklären, »der Sport [habe] ihnen den Geschmack auf Blut gegeben ... und der Krieg [sei] keine dumme, grausame und hassenswerte Angelegenheit. Er ist ganz einfach Sport, und zwar richtiger« (Weber, Gymnastique, S. 210). Und erst jüngst, während des Golfkriegs, erklärte R Domenech, der Trainer des Profi-Klubs von Lyon: »Ich habe meinen Spielern gesagt, sie müßten aggressiver sein, um ihr Spielfeld zu verteidigen. Man darf die Überlegenheit des Feindes nicht akzeptieren. Zu behaupten, man würde den Gegner gern mögen, ist die totale Heuchelei. Es sind Feinde,... man muß sie hassen, um sie beherrschen zu können« (Liberation, 4.2.1991). 53 Eine analoge Argumentation findet sich in Max Webers religionssoziologischen Untersuchungen. Siehe C. Colliot-Thélène, Max Weber et l'histoire, Paris 1990. 54 G. Orwell, 1984, Paris 1970, S. 135.

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ALFRED WAHL

Fußball und Nation in Frankreich und Deutschland* 1. Einleitung Das deutsche und das französische Fernsehen präsentieren regelmäßig längst klassisch gewordene Bilder: Nach einem immer gleichen Ritual stellen sich die Fußballspieler in Habachtstellung nebeneinander auf, dahinter sieht man eine Reihe von wichtigen Persönlichkeiten und schließlich im Hintergrund die Menge, die sich erhoben hat, während die Nationalhymne ertönt. Obschon hier keine patriotische Zeremonie aus Anlaß einer Gedenkveranstaltung stattfindet, macht dieser rituelle Akt, der jeder internationalen Fußballbegegnung vorangeht, doch deutlich, daß die Nation und das Vaterland auch bei dem folgenden Match eine Rolle spielen. Anders als im Turnen war das im Sport, und folglich auch im Fußball, nicht immer so. Der Turnvater Jahn begründete Anfang des 19. Jahrhunderts ein nationales, patriotisch-deutsches Turnen. Diese Idee verbreitete sich nach Ost-Mitteleuropa, wo die »Sokols«1 auftauchten, und fand auch in Frankreich Beachtung. Nach 1871 wurde die französische Niederlage auf die bessere physische und moralische Verfassung der preußischen, aus der Schule Jahns hervorgegangenen Soldaten zurückgeführt. So beeilte sich auch die Dritte Republik, das Turnen in einem militärischen und patriotischen Kontext zu fördern.2 Die englische Sportbewegung entwikkelte sich dagegen ursprünglich in einem völlig anderen sozialen und ideologischen Umfeld. In den britischen Colleges, und damit im Zentrum der aristokratischen und großbürgerlichen Jugend, sollte der Sport Adelstugenden wie Großzügigkeit und den Respekt für den Gegner (das berühmte »Fair play«) sowie typisch bürgerliche Werte wie Eigeninitiative, Verantwortungsbewußtsein, Kreativität, Wettbewerbsgeist und Siegeswillen fördern. Für die Zuschauer, die ihn zunächst nur widerwillig akzeptierten, sollte der Fußball daher auch als eine Lektion in allen diesen Tugenden wirken3.3 * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate und Jakob Vogel.

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2. Länderspiele Deutschland - Frankreich Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt der Fußball durch die Begegnungen zunächst zwischen benachbarten Dörfern und dann zwischen verschiedenen Clubs eine neue Dimension, da die Identifikation der Spieler und Zuschauer mit ›ihrem‹ Club und der Wille, sich gegenüber den anderen durchzusetzen, den Lokalpatriotismus und Lokalchauvinismus schürte. Die Ausrichtung internationaler Begegnungen, die mit der Verbreitung des Fußballs und des damit zusammenhängenden Spektakels verbunden war, begründete die heute so offenkundige Verbindung von Fußball und Nation. Vor dem Ersten Weltkrieg fanden noch keine Begegnungen zwischen deutschen und französischen Nationalmannschaften statt, da die politischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich alle Bereiche des öffentlichen Lebens betrafen. Daher zogen es die französischen Fußballvereinigungen vor, Spiele gegen die Schweiz oder gegen Belgien zu organisieren.4 Als die »Süddeutsche Fußballunion« 1894 vorschlug, ein Spiel gegen eine Pariser Auswahl in Straßburg auszutragen, wurde seitens des französischen Sportverbandes »Union desSociétésfrançaises des sports athlétiques« (USFSA) die Devise ausgegeben: »Wenn tatsächlich ein Fußballspiel in Straßburg stattfinden soll, muß sicher sein, daß wir gewinnen.«5 Schon vor 1914 wurden die französischen Sportler, die im Ausland auftraten, zu Botschaftern ihres Landes stilisiert, indem die Sportpresse ihre Niederlagen als nationale Niederlagen darstellte. Im Ersten Weltkrieg verstärkte sich die Verbindung von Nation und Sportmannschaft. Die Fußballer erhielten den Status von Musterkämpfern, Patrioten par excellence, die gegen die Deutschen aufgehetzt wurden. Das »Comité français interfédéral pour la propagation des sports« wollte die Nationalauswahl in eine kleine »Nation« umformen und eine Tournee mit Spielen in neutralen Ländern wie Spanien und Lateinamerika veranstalten, um auf diesem Weg der Nation zu dienen. Doch dieser Vorschlag kam offensichtlich zu früh. Die Militärs konnten dem Projekt keinen Sinn abgewinnen und lehnten die Freistellung der Auswahlspieler ab. So kämpften diese weiter in den Schützengräben statt im Stadion. Georges Hebert hatte schon geschrieben, daß der Krieg alles in allem nichts anderes als ein Sport sei, ein Wettkampf zwischen zwei Nationen.6 Ähnlich dachte De Coubertin. Nach 1918 bezog der Fußball daher auch eine Zeitlang die Gefallenen des Kriegs in seine sportlichen Feiern und Veranstaltungen mit ein. Als 1932 die Mannschaft von Cannes nach dem Gewinn derfranzösischenMeisterschaft in ihre Stadt zurückkehrte, machte der Umzug vor dem Kriegerdenkmal halt, um dem Vaterland und den 343 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Toten die Ehre zu erweisen. Parallel dazu verboten die nationalen Sportorganisationen jede Begegnung mit deutschen Mannschaften.7 Der elsässische Fußball geriet dadurch in eine besonders prekäre Lage. Da die elsässischen Mannschaften vor 1918 mit deutschen Spielern angetreten waren und an einer deutschen Meisterschaft teilgenommen hatten, waren sie Angriffen ausgesetzt, die die Pariser Fachpresse weiter anheizte. Die Zeitung »L'Auto« etwa sprach sich gegen Begegnungen zwischen Pariser und elsässischen Mannschaften aus, damit nicht gegen die »boches« [Schimpfwort für die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg, Anm. d. Üb.] gespielt werden müsse.8 Die Stimmung schlug jedoch schnell um, nicht zuletzt weil diese Art von Begegnungen fortan die Gelegenheit zu patriotischen Verbrüderungen mit den Elsässern boten. Im März 1919 eröffnete der berühmte Zeichner Hansi9 ein Spiel zwischen einer Pariser Mannschaft und einer elsässischen Auswahl, um so die Wiedervereinigung Frankreichs mit dem Elsaß zu versinnbildlichen. Ebenso herrschte im Januar 1920, als der FC Cette eine Mannschaft aus Straßburg empfing, rund um das Stadion eine Atmosphäre patriotischer Begeisterung. Der elsässische Fußball verfiel so der patriotischen Hochstimmung, die in den Jahren 1918 bis 1923 in Frankreich herrschte. Ein Antigermanismus war bei den offiziellen Reden in den Stadien an der Tagesordnung. In gewissen elsässischen Kreisen hätte man dagegen gerne wieder Verbindungen zum deutschen Fußball geknüpft. Einige argumentierten, daß das Elsaß eine Brücke zwischen den Kulturen bilden könne. Doch der Widerstand war zu stark. Diejenigen, die daran festhielten, daß der Fußball eine versöhnende Rolle spielen sollte, ließen jedoch nicht locker, obwohl sie wußten, daß die Nationalisten wahrscheinlich Zwischenfälle provozieren würden, wenn eine deutsche Mannschaft französisches Terrain beträte. Als schließlich eine erste Begegnung zwischen einer Straßburger und einer deutschen Mannschaft verabredet worden war, sagte der Präfekt sie auf Druck der nationalen Vereinigung der Frontkämpfer (»Union Nationale des Combattants«) wieder ab. Nach dem Ersten Weltkrieg war es Mussolini, der die Instrumentalisierung des Fußballs für nationale Zwecke erstmals offiziell wieder aufnahm, indem er die italienische Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft von 1934 in ein Kommando im Dienst der Nation umfunktionierte.10 Deutschfranzösische Begegnungen fanden erst seit 1931 statt. Weitere folgten 1933, 1935 und 1937. Während dieser Zeit, aber auch in den Jahren nach dem Krieg, bis über die fünfziger Jahre hinaus, hatten diese Begegnungen stets einen besonderen, meist angespannten Charakter, der eng an die Geschichte der Beziehungen der beiden Länder gekoppelt war. So hielten sich die nationalen Leidenschaften beim Spiel von 1931 in Grenzen, da dieses im Kontext des Geistes der Locarno-Verträge stattfand. Nichtsdesto344 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

weniger verurteilte die kommunistische Zeitung »Humanité« die Begegnung als »super-chauvinistisches Spiel mit außersportlichen Zwecken«.11 1933 sollten die Begegnungen mit Frankreich nach dem Willen Hitlers »in möglichst großer Aufmachung« stattfinden, um das Bild einer selbstbewußten, aber friedlichen Nation zu vermitteln.12 Beim Spiel in Stuttgart von 1937 wurde die französische Mannschaft von den sportlichen und vor allem staatlichen Autoritäten des Dritten Reiches außergewöhnlich aufmerksam empfangen. Der Grund dafür lag in der damaligen nationalsozialistischen Politik gegenüber Frankreich. So spielte etwa zur Genugtuung der anwesenden französischen Journalisten, die besonders zuvorkommend behandelt wurden, die Militärkapelle im Stadion den bekannten französischen Marsch »Sambre et Meuse«. Ihre schmeichelhaften Artikel waren daher auch ganz im Sinne der Nazis. Glaubten die Journalisten wirklich, daß die Nationalsozialisten plötzlich den alten ›Sportsgeist‹ wiederbeleben wollten? Es scheint eher, als ob die Bewunderung für das Naziregime und dessen sportliche Inszenierungen einen Moment lang ihr gewöhnliches nationalistisches Gebaren zurücktreten ließ. Mit der Verbreitung des Radios und später des Fernsehens intensivierte sich nach 1945 das nationale Erscheinungsbild des Fußballs noch weiter. Dennoch führte ein neues Bewußtsein dazu, daß das erste Spiel zwischen Deutschland und Frankreich bereits 1952 ausgetragen wurde. Bei der Gelegenheit veröffentlichten einige Zeitungen das Foto eines ehemaligen Deportierten, der zu dem Spiel in Sträflingskleidung gekommen war, um seine Mißbilligung gegenüber der Begegnung zum Ausdruck zu bringen. Die deutsche Seite übte sich dagegen in Zurückhaltung. Um jede nationalistische Versuchung zu bannen, beschlossen beide Verbände, auf das Abspielen der Nationalhymnen vor dem Spiel zu verzichten. Die Spieler und das Publikum erkannten die Bedeutung des Ereignisses, so daß die Begegnung in einer ernsten Atmosphäre verlief. Mit dem Spiel in Hannover von 1954 normalisierten sich auch die Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich. Dabei wirkte sich die Annäherung zwischen den beiden Staaten auf den Fußball aus, da die Sportlerkreise gezwungen waren, ihren natürlichen Hang zum Nationalismus zu bremsen, um die öffentliche Meinung und die Politik nicht gegen sich aufzubringen. Als 1967 allerdings eine schwache französische Elf von einer siegessicheren deutschen Mannschaft geschlagen wurde, gab dies dem deutschen Nationalstolz erneut Auftrieb. Der Trainer Helmut Schön kommentierte nun geringschätzig: »Es gibt kaum Lehren aus einem Spiel zu ziehen, in dem der Gegner so schwach war.«13 Der ambivalente Charakter der Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich wurde noch 1975 und 1976 deutlich, als der französische Club AS St. Etienne zweimal hintereinander 345 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

im Europacup, einmal im Halbfinale und einmal im Finale, von Bayern München geschlagen wurde. Dieser deutsche Verein verkörperte in den Augen der Anhänger von St. Etienne alle negativen Eigenschaften des Nachbarlandes. Als Reaktion auf die als ungerecht empfundene Niederlage von 1976 solidarisierte sich ganz Sport-Frankreich mit den über die Champs-Elysees defilierenden Spielern aus St. Etienne. Man sah in ihnen die Helden der Nation, die sich gegen einen inhumanen Gegner gut geschlagen hatten. Auch die 1980er Jahre liefern Beispiele dafür, daß die Geschichte weiter ihren Schatten über die großen Auseinandersetzungen, etwa bei den Weltmeisterschaften von 1982 und 1986, warf. Einige Reminiszenzen reichen aus, um die nationalistisch aufgeladene Atmosphäre dieser Jahre zu illustrieren. Der »Miroir des Sports« erwähnte beispielsweise, daß das französische Publikum, ohne zu zögern die Marseillaise mitgesungen habe, was vorher in einem französischen Stadion noch nie vorgekommen sei.14 Das Halbfinale der Weltmeisterschaft von 1982, in dem Deutschland und Frankreich gegeneinander antraten, wurde von einer außergewöhnlich brutalen Aktion des deutschen Torhüters Schumacher überschattet, die vom Schiedsrichter nicht geahndet wurde. Schumacher und mit ihm Deutschland wurden zur Zielscheibe des Zorns der französischen Fernsehzuschauer und Zeitungsleser. Die Zeitung »L'Equipe« benutzte den bezeichnenden Ausdruck »finstere Bestie« (»brute épaisse«), um im Geist der Franzosen die Erinnerung an andere Brutalitäten der Deutschen wachzurufen.15 Auf diese Weise werden die Fußballnationalmannschaften immer wieder mit den jeweiligen - tatsächlichen oder unterstellten - nationalen Eigenschaften der beiden Länder identifiziert. Die Journalisten übertragen dabei die Stereotype, die den Franzosen traditionell zugeschriebenen werden, auf die Spieler: Wagemut, Courage, Begeisterung, verbunden mit der sprichwörtlichen Disziplinlosigkeit. Schon in den 1920er Jahren verglichen Gabriel Hanot und Maurice Pfefferkorn die französische Mannschaft mit den Truppen des Vercingetorix oder den Rittern von Crézy: Sie seien impulsiv, draufgängerisch und wankelmütig, schnell zu entmutigen, manchmal dilettantisch.16 Die deutsche Mannschaft wurde dagegen von den französischen Sportjournalisten zu einem soliden, robusten und disziplinierten Block stilisiert. Obwohl mangels deutsch-französischer Begegnungen der jenseits des Rheins gespielte Fußball nur wenig bekannt war, wurde er dennoch in der üblichen Art und Weise karikiert. In »Lectures pour tous« veröffentlichte Georges Rozet den Brief eines Frontsoldaten von 1917, in dem es hieß: »Andere erlitten noch grausamere Demütigungen; sie mußten mit deutschen Bällen, die man in den Ruinen von Noyon gefunden hatte, spielen; 346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die derben Lederbälle, die 300 Gramm schwerer waren als das reguläre Gewicht, ließen unsere Köpfe und unsere Füße schmerzen.«17 3. Sportjournalisten, Zuschauer und Spieler Die von den Zuschauern im Stadion ausgedrückten Gefühle übertragen sich von einer Generation auf die nächste. Dennoch stellt sich die Frage, auf welche Weise sich die Internalisierung der Vorurteile vollzieht. Es gibt die Hohepriester des Sports, die die nationale Leidenschaft anfachen und manipulieren, indem sie mit Hilfe eines spezifischen Vokabulars und besonderer Formulierungen dem sportlichen Ereignis zusätzlich Dramatik verleihen. Begonnen hat dies damit, daß Henri Desgranges am 3. August 1914 seinen Leitartikel über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in »L'Auto« mit »Das große Match« betitelte. Doch die Journalisten, die die Macht besitzen, die Spiele hinterher zu beschreiben und zu analysieren, sind nicht unbedingt die Vollstrecker einer bewußten Politik der Manipulation der Massen. Sie sind vielmehr Sportbegeisterte, die sich nach den Erwartungen ihrer Zuhörer und Leser richten, die ihrerseits nichts anderes wollen, als von den mündlichen und schriftlichen Reportagen mitgerissen werden. Jemand wie Georges Briquet konnte im Radio »Vive la France!« rufen, als die Franzosen bei der Weltmeisterschaft von 1958 ein Tor gegen Brasilien schossen, da er damit einen zurückhaltenden und authentischen Patriotismus ausdrückte, der weder chauvinistisch noch fanatisch wirkte. Obwohl die Kommentatoren in den Medien die nationale Gemeinschaft heraufbeschwören, tragen sie jedoch im allgemeinen eher zur Entpolitisierung bei. Sie gehen über soziale Unterschiede hinweg, um das nationale Engagement zu stärken. Das führt dazu, daß sie auf Erinnerungen zurückgreifen, in denen Deutschland als schwarze Bestie erscheint, daß sie Mythen verfestigen und symbolhafte Begebenheiten in Erinnerung rufen, um die Nationalmannschaft als eine Gemeinschaft erscheinen zu lassen, in der ein allgemeiner Konsens herrscht. Dem entspricht die offenkundige Einigkeit der Anhänger auf den Rängen. Die allmähliche Herausbildung nationaler Blocks von Fußballanhängern traf aber auch in denrivalisierendenLagern auf Widerstand. So bemühten sich die Matadoren der Spielberichterstattung immer, einige Elemente des ›alten Sportsgeistes‹ zu bewahren und »Fair play«, Freundschaft und brüderliche Auseinandersetzung zu betonen. Dennoch geschieht es meistens ohne Überzeugung, wenn ein französischer Journalist schreibt oder sagt, daß die Franzosen nicht um jeden Preis gewinnen müßten, auch wenn ihnen Fehler untersagt seien. 347 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Der Arbeitersport versuchte, gegen den im Fußball herrschenden Nationalismus zu kämpfen und pries den Internationalismus, der sein Ziel darin sah, die Solidarität der Arbeiter über die Grenzen hinweg zu pflegen. Zwischen 1924 und 1925, d.h. noch vor der Trennung der sozialdemokratischen und der kommunistischen Sportbewegung in Deutschland im Jahr 1928, absolvierten die Arbeiterfußballer 146 internationale Freundschaftsspiele, obwohl in jener Zeit der nicht in den großen nationalen Verbänden organisierte Arbeitersport von jedem internationalen Wettkampf ausgeschlossen war. Es gab verschiedene Begegnungen zwischen deutschen und elsässischen Arbeitersportvereinen. 1924 trug eine Pariser Auswahl ein Hin- und Rückspiel mit einer Dresdner Mannschaft aus. Bei diesen Gelegenheiten verbrüderten sich Spieler und Zuschauer im Namen des proletarischen Internationalismus. Die Berichte über die Spiele betonten denn auch die völlige Abwesenheit jeder Form von Chauvinismus und Nationalismus. Die Offiziellen und Journalisten warfen dem Arbeitersport indessen einen unheilvollen Einfluß auf den brüderlichen Geist des Sports vor. Der Arbeitersport verschwand 1933 in Deutschland und konnte sich in Frankreich nie durchsetzen, so daß er kein Gegengewicht zu dem Einfluß des Chauvinismus mehr ausüben konnte. Zwar forderten noch in den 1970er Jahren die französischen Sozialisten die Kommunisten auf, gemeinsam den herrschenden Geist im Fußball zu verurteilen, doch stoppten sie ihre Kampagne nach 1981. 18 Daneben hätte aber auch die Eingliederung von Spielern aus anderen Ländern in die deutschen oder französischen Mannschaften dem Prozeß der Identifikation mit der Nation entgegenwirken können. So nahmen schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die französischen und in geringerem Ausmaß auch die deutschen Trainer eine Reihe eingebürgerter Einwanderer in die Mannschaften auf, weil diese die besseren Spieler waren. In den 1950er Jahren gehörten zeitweise fünf oder sechs Spieler der französischen Auswahl an, die ursprünglich aus Italien und Polen stammten. Konnten diese Spieler in den Augen der Zuschauer glaubhaft behaupten, die Nation zu verkörpern? Die Frage muß bejaht werden, da in jener Zeit die überwältigende Mehrheit der Einwanderer danach strebte, sich zu assimilieren und ganz in der französischen Bevölkerung aufzugehen. Die Aussage von Raymond Kopa, eines Spielers polnischer Herkunft, ist hierfür typisch: »Ich war immer sehr bewegt und sehr stolz, ein französischer Fußballspieler zu sein, das Trikot der französischen Mannschaft zu tragen ... Ich hatte immer den Ehrgeiz, mein Bestes zu geben und die Farben meines Vaterlandes bis zur Grenze meiner physischen und intellektuellen Fähigkeiten zu verteidigen.«19 Dies ist eine Reaktion auf die Erwartung des Publikums, das sich nicht vorstellen kann, daß es bei den Spielern unterschiedliche Gefühle und 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Loyalitäten gibt. In letzter Zeit haben sich die Vorstellungen über die Integration der Einwanderer jedoch geändert. Das Aufkommen des »Rechts auf das Anderssein«, der Wille der Einwanderer, ihre ursprünglichen kulturellen Werte zu bewahren, wirken der Mobilisierung nationaler Gefühle gegenüber den Fußballern entgegen. Der eingebürgerte Franzose und internationale Klassespieler Susic nutzte seine doppelte Nationalität dazu, beim Spiel Jugoslawien-Frankreich im November 1988 für die jugoslawische Mannschaft anzutreten. Ironischerweise schoß er das entscheidende Tor, das Frankreich den Weg zur Weltmeisterschaft verbaute. Die Fußballwelt empfand dies als Verstoß gegen die bis dahin selbstverständliche Gewohnheit, daß ein französischer Spieler es als seine Pflicht ansah, die nationalen Farben zu verteidigen. Nach der vorübergehenden Annexion durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg wurde die nationale Frage im Elsaß nach 1945 erneut zum Problem. Um die lokalen Sensibilitäten nicht zu verletzen, erlaubten die französischen Behörden zwar deutschsprachige Zeitungen, doch mußten die Sportseiten in jedem Fall in Französisch verfaßt werden. Man glaubte offensichtlich, auf diese Weise die Assimilation vor allem der Jugendlichen in die nationale Gemeinschaft Frankreichs vorantreiben zu können. Die Maßnahme zahlte sich aus. Die Jugend begeisterte sich für die Spiele der französischen Nationalmannschaft und ließ sich von ihren Siegen mitreißen. Von den ersten deutsch-französischen Begegnungen an trugen gerade die Elsässer zur feindseligen Atmosphäre gegenüber der deutschen Mannschaft bei. Eine gegenläufige Tendenz zeigte sich, als das deutsche Fernsehen in den 1970er Jahren die Region mit Reportagen über erstklassige Spiele der deutschen Bundesliga zu überfluten begann. Die Elsässer wurden auf diese Weise zu großen Bewunderern des deutschen Fußballs, der gleichsam zu einem Markenprodukt wurde. Von daher entwickelten sich komplexe und sich widersprechende Empfindungen, die aber die gefühlsmäßige Bindung an die französische Nationalmannschaft nicht in Frage stellten. Die Objektivität wich in der Regel dem Nationalgefühl. 4. Ritualisierung des Krieges und Liturgie des Länderspiels Zu entschlüsseln bleibt nun noch die Art und Weise, in der sich die nationale Gemeinschaft bei internationalen Begegnungen um den Fußball bildet. Bei diesen Gelegenheiten entsteht der Eindruck, daß man einer regelrechten Mobilmachung gegen die zum Feind gewordene gegnerische Mannschaft beiwohnt. Die Mobilisierung gelingt umso leichter, als die 349 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Sprache des Spiels militärisch ist: Die Spieler greifen an, verteidigen, gehen in die Offensive, kämpfen, verlieren oder gewinnen. Die Presse findet nichts dabei, die Spieler aufzufordern, auf dem Platz Krieg zu führen. Schon 1924 forderte »L'Auto« von den französischen Spielern: »Schlagt Euch wie die Frontkämpfer und triumphiert wie sie!« Die Mannschaft wurde auf diese Weise zu einem Kriegskommando. Dieser Krieg wird jedoch beschönigt. Die Ritualisierung verstärkt den emotionalen Charakter der Spiele, der sich in dem Rückgriff auf die nationalen Symbole, wie Fahnen, Hymnen oder die Trikottarben der Spieler, ausdrückt. Die Konfrontation bleibt symbolisch, da ein negatives Resultat lediglich zu einer großen Enttäuschung fuhrt. Das Engagement für die Nation verfugt über einen Auslöser: die Emotion. Die Rolle der Gefühle wurde von zwei großen Fußballjournalisten, Gabriel Hanot und Henri Delaunay, treffend beschrieben. Der erste beobachtete während einer internationalen Begegnung, wie sich die Franzosen in ihrem gemeinsamen Glauben und ihrer Hoffnung vereinigten. Sie würden nur noch Franzosen sehen, sich am Erfolg freuen und bei einer Niederlage zutiefst deprimiert sein.20 Der zweite drückt es noch klarer aus: »Wenn im Ausland, selbst in einem befreundeten Land, elf Männer in blauem Trikot, weißer Hose und roten Strümpfen auf den Platz laufen und damit gewissermaßen lebendige Trikoloren darstellen, fühlen die Franzosen, die der Veranstaltung beiwohnen, wie ihr Herz von einer tiefen Emotion überwältigt wird. Die Marseillaise, die in diesem Moment ertönt, ergreift einen selbst dann in merkwürdiger Weise, wenn sie fehlerhaft und in einer Langsamkeit gespielt wird, die zum Verzweifeln ist. Man muß diese bewegenden Minuten schon oft erlebt haben, um sie beschreiben und analysieren zu können. Zwar ist der Sport nur ein Spiel, doch die Nerven der Franzosen sind aufs äußerste gespannt und vibrieren bei dem geringsten Zusammenstoß auf dem Platz, bei der geringsten Chance, bei dem geringsten Schußversuch.«21 So vermittelt das Spiel der Menge ein Identitätsgefühl, indem es den Menschen ein spontanes Empfinden der Zugehörigkeit zur gleichen Gemeinschaft vermittelt. Besonders deutlich ist dieses Phänomen in einem Stadion zu bemerken, in dem die Menge dicht gedrängt ist und ihren begeisterten Elan gemeinsam ausdrückt. In einem Bericht des europäischen Parlaments wurde festgehalten, daß die Gemeinschaft ihre Gefühle auf die Mannschaft projiziere und auf diese alle Siegeshoffnungen, aber auch die persönlichen Frustrationen und Aggressionen übertrage.22 Es kommt zu einer ›heiligen Allianz‹, in der die kulturellen Unterschiede und Klassengegensätze für die Zeit des Spiels verschwinden, während sich eine einzige Kultur und einträchtige Gemeinschaft bildet. Die nationale Leidenschaft für den Sport übergreift die sozialen Schichten, geradeso wie es der Nationalismus tut. Diese Stadiongemeinschaften sind sicherlich eph350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

emer, und ihre Gefühle manifestieren sich daher ebenso schubweise wie das nationalistische Fieber. Bei der Entstehung einer solchen vereinten nationalen Gemeinschaf3t kommt der Erinnerung an sportliche Ereignisse eine wichtige Rolle zu. Auf der Tribüne entstehen zwischen den Zuschauern, die sich zwar nicht kennen, aber dieselben Emotionen teilen, ganz spontan affektive Bindungen. Sie teilen die Erinnerung an Ereignisse, die, rasch verklärt, zu Mythen und so zu Referenzpunkten der Sportkultur, zu einem gemeinsamen Erbe werden. Die Jugendlichen erfahren dabei von den früheren Heldentaten der Nationalmannschaft. Ohne dabeigewesen zu sein, sind die jungen Fußballfans daher auch heute wie selbstverständlich in der Lage, sich über die Leistungen Kopas und Fontaines an der Weltmeisterschaft von 1958 auszulassen. Wie alles, was mit Patriotismus und Nationalismus zusammenhängt, weisen auch die internationalen Fußballbegegnungen große Ähnlichkeiten mit religiösen Phänomenen auf. Das Spiel befriedigt emotionale Bedürfnisse, die früher von religiösen Zeremonien gestillt wurden. Alles folgt einer Liturgie: das Auflaufen und Aufstellen der Spieler auf dem Platz, das Ritual der Nationalhymne, die Übergabe der Fahnen usw. In diesen Momenten bilden Spieler und Zuschauer gleichsam eine religiöse Gemeinschaft, die sich in einem Tempel versammelt hat. Diese religiöse Einheit ist tatsächlich das solideste Fundament einer Nation, deren Angehörige sich für dieselbe Sache begeistern.

Anmerkungen 1 Bei den »Sokols« handelte es sich um eine 1862 gegründete tschechisch-nationalistische Turnvereinigung, die auch in Polen und Jugoslawien Nachahmer fand [Anm. d. Üb.]. 2 Siehe hierzu mit weiteren Angaben den Artikel von P. Arnaud u. A. Gounot in diesem Band. 3 Γ. Mason, Association Football and English Society. 1865-1914, Brighton 1980. Zur englischen Sportbewegung vgl. auch den Beitrag von J.-M. Faure in diesem Band. 4 Zwischen 1904 und 1970 hat Frankreich insgesamt 330 internationale Begegnungen absolviert, aber davon nur 11 gegen Deutschland. In der gleichen Zeit wurden 58 Begegnun­ gen zwischen Frankreich und Belgien und 28 zwischen Frankreich und England ausgetragen. 5 A. Wahl, Gymnastique, sports et militarisme après 1870, in: P. Levillain u. R. Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses conséquences, Colloque historique francoallemand, 1984/1985, Bonn 1990 (Pariser Historische Studien 29), S. 506f. 6 G. Hebert, La eulture virile et les devoirs physiques de l'officier combattant, Paris 1918, S. 104 (zit. nach M. Caillat, L'idéologie du sport en France, Paris 1989, S. 33). 7 A. Wahl, Les origines de la F.I.F.A., 1904-1930, in: P. Arnaud u. A. Wahl (Hg.), Sports et relations internationales 1890-1970. Actes du colloque de Metz 1993 (erscheint Ende 1995).

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8 Ders., Pour une histoire régionale du football, in: A. Rauch (Hg.), Sports et loisirs en Alsace, Straßburg 1994, S. 9-13. 9 Der elsässische Zeichner Hansi war schon vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Symbolfigur des profranzösischen Widerstands der Elsässer gegen die deutsche Annexion aufgestiegen [Anm. d. Üb.]. 10 P. Milza, Le football Italien. Une histoire à l'échelle du siècle, in: Vingtième siècle AprilJuni 1990, S. 49-58. 11 L'Humanité, 16.3.1931. 12 Der Generalsekretär des DFB erklärte bei diesem Anlaß: »Die Regierung hat uns gesagt: Dieses Spiel muß in möglichst großer Aufmachung stattfinden.« Vgl. M. Barreaud u. A. Colzy, Les rencontres de football France-Allemagne de leur origine à 1970: déroulement, environnement et pereeption, erscheint in: Arnaud u. Wahl, Sports et relations. 13 Vgl. hierzu und zum folgenden ebd. 14 Le Miroir des Sports, 19.3.1935. 15 L'Equipe, 10.-11.7.1982. 16 A. Wahl, Les Archives du football, Paris 1989, S. 159fT. 17 Ebd. 18 A. Gounot, Le Rassemblement international des sportifs contre le fascisme et la guerre, Paris 1994, erscheint in: Arnaud u. Wahl, Sports et relations. 19 A. Wahl, R. Kopa: Une vedette en football, un mythe, in: Sport-Histoire 2, 1988, S. 83-96. 20 Le Miroir des sports, 14.4.1922. 21 Le Miroir des Sports, 29.6.1922. Vgl. auch: Wahl, Archives, S. 222. 22 Europäisches Parlament, Documents de séance, A2, 215/87, 12.11.1987 [Larive, (Yesica)].

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INGE BAXMANN

Der Körper der Nation 1. Die Traumarbeit der Kultur: Strategien nationaler Akkulturation im Zeitalter der Massen Mit der industrialisierten Moderne vollzog sich eine grundlegende Veränderung des politischen Raums. Die Masse wurde zum Topos für die Artikulation der Erfahrung der Desintegration in der modernen Gesellschaft. Im »Ornament der Masse« des Stadions oder in den Menschenornamenten der Revue fand Siegfried Kracauer in den zwanziger Jahren die Pathologie der modernen Kultursituation versinnbildlicht, einer Ordnung ohne Zentrum, die auf nichts außerhalb ihrer selbst verweise.1 In den zeitgenössischen Diskursen wurde die Kontrolle der Massenbewegungen und -beweglichkeit zum Problem moderner Politik. Zwei komplementäre Repräsentationen der Masse bestimmten diese Diskurse: das Bild der Fusion im sozialen Körper und das des Krieges aller gegen alle. Die Fusion der Individuen im Körper der Masse evozierte gleichermaßen die kommunitäre Vision des Festes wie des Aufruhrs und des Krieges. In der Masse begegnete man einem kollektiven politischen Subjekt, das durch die Vorherrschaft des Unbewußten charakterisiert ist. Die Wahrnehmungsbedingungen der Massen zu berücksichtigen, bedeutete - so lehrte es die Massenforschung von Le Bon bis Freud -, die Kontinuität mythischer mentaler Strukturen und die Bedeutung kollektiver Repräsentationen zu erkennen.2 Die Masse sei auf bildhafte Vorstellungen fixiert, die sich auch durch Gefühle oder Verhaltensweisen objektivieren ließen. Die Formung der Masse mit Hilfe kollektiver Repräsentationen wurde so zur Voraussetzung für politisches Handeln in der Moderne. Damit ergab sich ein neues Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik: die ästhetische Gestaltung des Politischen wurde zur Bedingung für seine Erfahrbarkeit. Die Traumarbeit der Kultur findet ihren Ausdruck in kollektiven Bildern und Mythen, die politische Zusammenhänge zu Narrationen und Bildern verdichten und mittels derer die destruktiven Energien der Massen in gemeinschaftsstiftende Kräfte umzuformen sind. Carl Schmitt etwa behauptete 1926, daß seit dem 19. Jahrhundert die Kritik an der vertragsgesellschaftlichen Vorstellung von Politik ihr Gegenkonzept im Mythos finde, vor allem

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jedoch im Mythos der Nation, der besonders geeignet sei, die Homogenisierung der staatlichen Gemeinschaft zu leisten.3 Die Nation erschien so als Ausgangspunkt für die Aufgabe, der Bewegung der Gesellschaft ein Ziel und der formlos erscheinenden Masse Gestalt zu geben. Ohne emotional besetzte Bindungen kann keine Gesellschaft existieren. Im Ersatz für den mit der Säkularisierung verbundenen Verlust eines die Gesellschaft transzendierenden und damit vereinheitlichenden Prinzips produziert sie daher ihr eigenes transzendentes Ziel. So wird beispielsweise die ›Nation‹ zu ihrem eigenen idealisierten Selbstbild, das die Mitglieder der Gesellschaft im Hinblick auf ein gemeinsames Ideal bzw. Projekt miteinander verbindet. Diese idealisierten Selbstrepräsentationen konstituieren erst jene »gedachte Gemeinschaft«, die reale Bindungen und kollektives Handeln hervorbringt.4 Die Herstellung der nationalen Gestalt wurde dadurch zur Aufgabe moderner Politik im Zeitalter der Massen. Die nationale Akkulturation der Massen zielte darauf ab, das Nationale im Tiefenraum der Gesellschaft zu verankern. Sie rekurrierte vor allem auf das Bild des Körpers und auf Körperpraktiken, wobei Material aus ganz heterogenen Traditionen zur Inszenierung des »fait national« (»Nationalen«) zusammengebunden wurde. Die Körpererfahrung bildet traditionell ein grundlegendes Deutungsschema für die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gesellschaften. Sie ist symbolischer Ausdruck der Vorstellungen einer Gesellschaft von ihren Ursprüngen, Bindungen, Gefährdungen und kollektiven Sehnsüchten, aber auch ihrer Freund- und Feindbilder. Körperbilder und Körpererfahrungen stellen ein grundlegendes Wahrnehmungsraster für die Deutung politischer Situationen dar.5 Maurice Barrès beklagte beispielsweise in Erinnerung an die französische Niederlage von 1870/71 »den von ElsaßLothringen amputierten Körper Frankreichs« und forderte die Regeneration des nationalen Körpers über einen »Kult der Erde und der Toten«.6 Die Konstruktion der imaginären Topographie des nationalen Körpers ist zugleich eine Aktualisierung einer traditionellen Metapher. Im kollektiven Imaginären westlicher Kulturtradition läßt sich die Deutung von politischer und nationaler Gemeinschaft als Körper bis zu Platon und Aristoteles zurückverfolgen. Sie findet ihren ethischen und transzendenten Bezug vor allem in der Analogie zum mystischen Körper des christlichen Gottes und der Vorstellung einer Fusion im Leib Christi.7 Die nationale Gemeinschaft ist als Erfahrung organischer Einswerdung konzipiert, als Auflösung individueller Identität im lebendigen Körper der Gemeinschaft, die dem individuellen Leben eine zusätzliche Sinndimension im Hinblick auf ein übergeordnetes Ganzes verleiht. Der Transfer der ursprünglich christlichen Vorstellung von »Patria« als »Vaterland« der 354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Christen8 in den politischen Bereich und damit zur Bezeichnung der nationalen, territorialen Einheit erfolgte in Frankreich mit der absoluten Monarchie als jener Entwicklungsphase der Moderne, die den französischen Nationalstaat hervorbrachte. Während sich die Aktualisierung der Körpermetaphorik im Frankreich des 20. Jahrhunderts weitgehend auf das Rousseausche Verständnis des contrat social und die Republik bezog,9 wurde die Herstellung des nationalen Körpers in Deutschland als Problem und zu lösende Aufgabe angesehen. »Das deutsche Volk muß sich bereithalten ..., es muß sich seinen politischen Körper, der jetzt verstümmelt ist, erst noch bilden.«10 In beiden Ländern war die Traumatisierung durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, das Bild des verstümmelten Körpers, entscheidend für die Aktualisierung der überkommenen Metapher. Die Fotos verstümmelter Körper führten in symbolischer Verdichtung die realen und imaginären Verletzungen der nationalen Gemeinschaft vor Augen. Die »Wiederherstellung« und »Regeneration« des nationalen Körpers stand in Deutschland wie in Frankreich im Mittelpunkt linker und rechter politischer Diskurse. Angesichts der Russischen Revolution erhoffte sich Ernst Bloch auch eine sozialistische Lösung für Deutschland, die einem »Regenerieren des gesamten deutschen Volkskörpers« und einer Rückkehr zu seinen deutschen Wurzeln gleichkomme.11 2. Die Inszenierung einer Metapher Seit der Jahrhundertwende wurden Sport und Körperkultur zum privilegierten Ort der Entwicklung neuer Repräsentationsformen der Nation. Gleichzeitig boten sie die Chance des Erlebens nationaler Gemeinschaft und bildeten den Ansatzpunkt für Strategien sozialer Homogenisierung.12 Neue nationale Akkulturationstaktiken trafen auf neue kollektive mentale Dispositionen.13 Der Körper wurde zur Einschreibfläche politischer Diskurse, die den nationalen Habitus im Körper verankerten. Der gesunde, sportlich und gymnastisch durchtrainierte Körper ist Symbol der ›Regeneration‹ und Ganzheit der nationalen Gemeinschaft. Er ist zugleich Ausdruck der zusammen mit der Körpererziehung internalisierten kollektiven Werte, die ihn zur Darstellung des kollektiven nationalen Körpers befähigen.14 Der Sportler bzw. der Gymnast war die Inkarnation realer oder vermeintlich nationaler Tugenden bzw. Stereotype. Diese Zuschreibungen bildeten eine Bedingung für die über den Sport erfolgende nationale Kommunion und Identifikation. Bis heute ist dies Voraussetzung für die symbolische Aufladung sportlicher Wettkämpfe und Begegnungen zur Inszenierung des Nationalen. 355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Grundlage für diese Verkörperung des Nationalen war folglich die Formung des individuellen Körpers. Sie konfrontierte jedoch mit analogen Problemen der Formung des kollektiven Körpers, nämlich mit der Frage nach dem ethischen Bezug für die Körperbildung angesichts einer durch die Vielfalt von Kulturen, Werten und Perspektiven charakterisierten modernen Lebenswelt. Die moderne Erfahrung einer gleichzeitigen Verfügbarkeit verschiedener Kulturen wurde mit Hilfe von Fotographie und Film zur Alltagserfahrung. Die verschiedensten Formen des Exotismus und Primitivismus trugen bei zur Entwicklung kulturrelativistischer Haltungen bis in den Alltag hinein.15 Das Paradox oder auch die spezifische Logik dieser Verkörperung der Nation besteht zum einen darin, daß man in beiden Ländern das Material zur Konstruktion des Nationalen aus gemeinsamen Traditionen schöpfte, wozu insbesondere das Repertoire christlicher Liturgie und die von Fichte über Jahn entwickelten Theorien und Praktiken der Körperkultur gehörten. Eine wesentliche Motivation für die Herstellung des nationalen Körpers bezog man aus der gemeinsamen Abgrenzung gegenüber der ›ethnologischen Herausforderungs der Konfrontation mit nichteuropäischen Kulturen. Die Nationalisierung des Körpers war so durch die Erfahrung grundlegender kultureller Differenz entscheidend motiviert. Ihre Abgrenzung erfolgte vor dem Hintergrund einer wachsenden Präsenz nichteuropäischer Kulturen, die eine starke Faszination ausübten.16 Damit war das abstrakte universalistische Konzept des Humanismus in die Krise geraten: die Pluralität und radikale Heterogenität der Kulturen und damit die Erfahrung der Auflösung des einheitlichen Konzepts ›des Menschen‹ in die Diversität des Menschlichen erforderte neue Strategien der Verarbeitung dieser Differenzerfahrung. Gerade angesichts des durch die Präsenz nichteuropäischer Kulturen in die Krise geratenen westlichen Modells nationaler Gemeinschaft, das von der Einswerdung im kollektiven Körper durch Ausgrenzung des Heterogenen ausging, wurde dieses über die Fiktion einer nationalen Substanz anthropologisch unterfüttert. Die Konstruktion einer solchen Substanz, die im Körper ihren Ausdruck finden soll, ist Teil jener erfundenen Traditionen, die der Selbstversicherung der nationalen Gemeinschaft dienten. Überkommene Ängste vor »fremden Massen«, die die europäische und nationale Kulturordnung gefährden, vor »Vermischung« bzw. »métissage« wurden aktiviert. Die Suche nach Erkenntnis der elementaren Bindungen von Nationen implizierte auch die Frage nach physiologischen Unterschieden zwischen Kollektiven, die als Schlüssel zu kulturellen Distinktionen betrachtet wurden. Als das bedeutendste physiologische Unterscheidungsmerkmal wurde 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die Rasse angesehen. Die Rassediskussion war Teil einer Neuaufmischung anthropologischer Wissensbestände seit der Jahrhundertwende, wobei der Rassebegriff ganz unterschiedlich verwendet wurde. Den einen ging es um die Suche nach regionalen und nationalen Gemeinsamkeiten, den anderen um »Wiederherstellung« eines »reinen«, »ursprünglichen« Typus. Die Suche nach anthropologischen Fundierungen für die nationale Gemeinschaft erfolgte damit zunächst in Abgrenzung zu nichteuropäischen Kulturen. Die »Regeneration der Rasse« war ein Ziel der Sport- und Gymnastikbewegung in Deutschland und Frankreich seit der Jahrhundertwende. Den Körper zum Ausdruck der anthropologischen Essenz nationaler Gemeinschaft zu formen bzw. diese ›wiederherzustellen‹, erforderte indes eine ›Reinigung‹ von »fremden Bewegungsgewohnheiten«, die als Regeneration des ursprünglichen Zustands ausgegeben wurde.17 Daß die Entwicklung nationalspezifischer Bewegungscodes auf ethnologischen Studien bei den sogenannten Naturvölkern gründete, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. So beklagte Georges Hebert den Verlust eines transzendenten Ordnungsprinzips. Er kritisierte die traditionell militärische Ausrichtung der Körperkultur im Namen seiner »natürlichen Gymnastik« (»gymnastique naturelle«), die großen Einfluß auf die französische Gymnastikszene ausübte. Aus seinen ethnologischen Studien der Bewegungen ›Primitiver‹ leitete er ein neues Körperideal ab, das er als Ausdruck einer wiederzufindenden »Finalität der Natur« verstand und das er durch den Bezug auf ein transzendentes Ideal europäisieren und nationalisieren wollte.18 »La patrie« (»das Vaterland«) sei besonders geeignet, der Körpererziehung die Orientierung auf die Gemeinschaft zu sichern. Die Suche nach anthropologischen Fundierungen des Nationalen, nach einer natürlich-biologischen Substanz nationaler Gemeinschaft, bediente sich des Arsenals zeitgenössischer medizinischer Rasse- und Hygienediskurse, die mit der Ausdrucksforschung und der Fotografie eine interessante Symbiose zur Erstellung der ästhetischen Codes einer nationalen Physis einging. Seit der Jahrhundertwende entsprachen die in Deutschland wie in Frankreich stets mit zahlreichen Fotos dokumentarisch ›belegten‹ Klassifizierungsversuche19 offenbar einem kollektiven Bedürfnis nach Orientierung in einer sozial heterogenen, nicht mehr klar differenzierten und damit unübersichtlich gewordenen Lebenswelt. Das Prinzip dieser Form von Kontingenzbewältigung ließ sich auf die Ebene der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft übertragen. Die entwickelten ästhetischen Codes wurden zur Grundlage für die Etablierung rassischer und nationaler Besonderheiten und damit für jene Ausgrenzungsprozeduren aus der nationalen Gemeinschaft, die im Nationalsozialismus bis zur letzten Konsequenz geführt wurden. Für die Konstruktion nationaler Traditionen wurden die Themen und 357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Motive eines ›Kulturkampfes‹ belebt, in dem sich ein in der nordischen Mythologie verwurzeltes deutsches Wesen und die griechisch-lateinische Zivilisation gegenüberstanden, die selbst noch in Körperbau und Physiognomik erkennbar seien. Die neuen technischen Medien zogen tiefgreifende Veränderungen des politischen Raums nach sich und gaben neue Bedingungen vor für die Verankerung des Nationalen im Tiefenraum der Gesellschaft. Sie ermöglichten die Inszenierung von Authentizität, das präsentische Erleben der nationalen Gemeinschaft und bestätigten damit die Existenz jenes imaginären Konstrukts, das sie feierten. Der Film bot neue Bedingungen für die Traumarbeit der Kultur. Er implizierte die Möglichkeit, die visuelle Erfahrung des Traums und des Tagtraums als eine kollektive Erfahrung in Szene zu setzen und damit das kollektive Imaginäre auf eine historisch nie dagewesene Weise zu formen und zu homogenisieren. Das Bild oder der Mythos der nationalen Gemeinschaft ließ sich in technisch herstellbare und massenhaft reproduzierbare Bilder überführen. So ist beispielsweise im deutschen Film der zwanziger Jahre gleichsam ein Bildarchiv für die Inszenierung des nationalen Körpers, das Repertoire nationaler Symbolik und Ursprungsmythen auszumachen. Körperkulturfilme wie »Wege zu Kraft und Schönheit« lieferten einen besonderen Beitrag zur Fiktion einer natürlichen anthropologischen Substanz als Fundierung der nationalen Gemeinschaft. Der gesunde, schöne Körper wurde hier zum Symbol der »Regeneration« des nationalen Kollektivs.20 In beiden Ländern wurde die Metapher des nationalen Körpers als authentisch erfahrbare Realität inszeniert. Im Zeitalter der Massen mußte die Begründung des Nationalen tiefer gehen, um auch jene Schichten zu erreichen, die sich tendenziell einer gesellschaftlichen Ordnung widersetzen. Nach den Ergebnissen der Massenforschung besitzt jede Masse einen spezifischen Eigenrhythmus.21 Vor allem dem Repertoire der christlichen Liturgie entnommene überkommene Verkörperungstechniken wurden mit den neuen technischen Medien zur Inszenierung des nationalen Körpers zusammengebunden. Das Material chorischer Massenaufführungen wie Allegorien, lebende Bilder, Fahnenweihen, Paraden, Festzüge, Massenformationen und -reigen (»mouvements d'ensemble«) war in beiden Ländern seit langem verbreitet. In Frankreich griff man zur Inszenierung des nationalen Körpers auf die seit der Französischen Revolution etablierte nationale Festkultur zurück. Die »Fêtes gymniques«22 formten die Massen mittels chorischer Bewegung zum Spiegel eines idealisierten Selbstbildes der Nation. Die über gemeinsame Bewegung harmonisch orchestrierten Körper schrieben den nationalen Körper in den öffentlichen Raum. Diese chorische Bewegung reaktivierte seit der Jahrhundertwende vor allem ein Modell für die Ordnung beweglicher Massen in westlicher Kultur358 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

tradition: die christliche Liturgie. Den liturgischen Verfahren der Herstellung des kollektiven Körpers nachempfundene Inszenierungen sowie die Orchestrierung der vielfältigen Elemente der Nation zum kollektiven nationalen Körper durch Gymnastikvorführungen waren feste Bestandteile der politischen Inszenierungen in beiden Ländern. Gymnastische Spiele und Übungen fanden Eingang in politische Selbstdarstellungen. Sie zeigen als Gegenbild zu den ›asozialen‹, gewalttätigen Massen die Bestätigung der Formbarkeit, der Harmonisierung und Orchestrierung der bewegten, heterogenen Massen zum kollektiven nationalen Körper. Die politische Soziabilität wird mimetisch angeeignet. Die rhythmischen Bewegungsmuster der Prozessionen oder die Gestik der Zeremonien sind in diesem Sinne Identifikationsrituale, die über die kollektiven Gesänge, Tänze, Sprech- und Bewegungschöre, die einen gemeinsamen Rhythmus induzieren, die politischen Affekte in den Körper einschreiben. Die neuen technischen Medien ebneten den Weg für diese Rückkehr zu liturgischen Formen in der Moderne. So ermöglichten das Mikrofon und die neue Tonverstärkungs- und Übertragungstechnik die Ausdehnung der Stimme über den öffentlichen Raum und damit die gleichzeitige Massenpräsenz. Der - für heutige Ohren - in Anbetracht der Mängel in der Übertragungstechnik oft schlicht pathetisch anmutende Stil politischer Redner und Rundfunkkommentatoren übte auf die Zeitgenossen eine tiefe Wirkung aus, die überlieferte Verkörperungstechniken wie die ›Anrufung‹ in alten Kulturen und liturgischen Traditionen unter den Bedingungen der Moderne wiederbelebte. Auch die Stimme gehörte zu den Techniken der Einschreibung der gedachten nationalen Gemeinschaft in den Körper. Die rhythmisch stark akzentuierten Phrasierungen, Stimmhebungen und -Senkungen der politischen Redner aktualisierten ebenso wie die Inszenierung von Antworten der Massen über die agitatorische Wechselrede und die Orchestrierung der Stimmen des Publikums das politische Modell der antiken Polis bzw. der christlichen Liturgie unter den Bedingungen der technisierten Moderne. Dies war verbunden mit einer entsprechenden Rauminszenierung, die die Menge zu einem einheitlichen Körper formte, um die Fiktion des ›einen‹ Körpers zu schaffen, zu dem man spricht und der mit ›einer Stimme‹ wie ›ein Mann‹ antwortet. Die Konstruktion des Nationalen über eine Inszenierung der Metapher des nationalen Körpers erfolgte in Deutschland wie in Frankreich über die Kombination heterogener Diskurse und Inszenierungspraktiken. Die Stile der Erfindung des nationalen Körpers waren jedoch unterschiedlich. Auf der Grundlage der gemeinsamen Verankerung in der christlichen Denktradition von Gemeinschaft und der Suche nach anthropologischen Fundierungen der nationalen Gemeinschaft erfolgte die Aktualisierung des Repertoires christlicher Liturgie vor dem Hintergrund unterschiedlicher 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Traditionen politischer Sinnbildung. Während in Frankreich die Metapher des nationalen Körpers untrennbar mit dem Konzept der Republik verknüpft und lediglich durch anthropologische Konzepte ergänzt wurde, bedeutete die Weimarer Republik für Deutschland eine Krise der politischen Repräsentation, die nur oberflächlich mit romantischen Staatskonzepten gefüllt wurde. Diese Leerstelle besetzten die konstruierten anthropologischen Fundierungen. Die Herstellung des kollektiven nationalen Körpers über rhythmische Bewegung nahm die christliche Liturgie und ihre Organologie des Körpers wieder auf, die in den Vorschriften für die Prozessionen, ihrer Kodifizierung von Bewegung und Rhythmus und in den liturgischen Beschreibungen des Körpers zu finden sind. Sie war die Säkularisierung der überkommenen Formel christlicher Gemeinschaft: »Wir sind alle die Glieder eines großen Körpers«. Die Körper werden Teil einer politischen Choreographie, die die soziale Synchronisierung über die Synchronisierung von Bewegung, Rhythmus, Stimme und Atmung ins Unbewußte einschreibt. Eine Metakommunikation über rhythmische Vibrationen, die über die Herstellung körperlicher Resonanzen den unbewußten Wunsch auf die soziale Ordnung lenkt, ist die Bedingung für den identifikatorischen Prozeß bei den Teilnehmern. Darüber werden politische Affekte ausgelöst und jene kollektiven Verhaltensstile modelliert, die die Fiktion der nationalen Gemeinschaft zur erlebten Wirklichkeit machen. Die Verhaltensdisposition einer ekstatischen Einstellung wird hergestellt, die den Übergang zur Sakralisierung des Nationalen selbst bedingen. 3. Die nationale Gemeinschaft: Eine nicht hintergehbare und problematische Sehnsucht Das Dilemma einer solchen Verkörperung der Nation, die das christliche Bild der Gemeinschaft als einer Fusion im Körper Gottes aufnimmt, besteht darin, daß diese Gestaltung des Nationalen angesichts des Verlustes von ethischen und transzendenten Fundierungen der nationalen Gemeinschaft zugleich eine Tradition der Vorstellung von Gemeinschaft weiterträgt, die letztlich auf der Ausgrenzung des Heterogenen beruht.23 Die säkularisierte Version der christlichen Patria, die die nationale Gemeinschaft als Kommunion konzipierte, suchte ihre Fundierungen in imaginären Konstrukten, die sich auf eine substanzialistisch interpretierte Anthropologie stützten. Der Rekurs auf die Metaphysik des Volkes und der Nation ist Ausdruck eines grundsätzlichen Problems des Politischen in der Moderne angesichts des Verlusts eines die Gesellschaft transzendierenden und damit als Ge360 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

meinschaft konstituierenden Prinzips. Diese Leerstelle wird mit Projektionen gefüllt, die eine heterogene Gesellschaft als nationale Gemeinschaft vorstellbar machen. Exemplarisch für die Bebilderung dieses Traums der Nation sind die Filme Leni Riefenstahls, die die bereits in den zwanziger Jahren entwickelten Elemente zu einer neuen Synthese zusammen führte.24 Schon die Legendenfilme der zwanziger Jahre (»Die Nibelungen«, »Der müde Tod«) verfügten über eine elaborierte Körpersprache, deren Charaktertypologien sich des Zeichenarsenals des Rassismus bedienten und sakrale Verhaltensdispositionen aufgriffen, indem sie christlich-religiöse Narrationselemente und nationale Symbolik mit germanischer Mythologie zusammenbanden. Riefenstahls Filme inszenierten die imaginären Wurzeln der nationalen Gemeinschaft, indem sie auf die Symbolik des gesunden, schönen Körpers rekurrierten. Der Olympiafilm beispielsweise war gespeist aus einem spezifisch europäischen Imaginären der Gemeinschaft. Damit griff sie auf die gleichen Traditionslinien zurück, an die schon die Konstruktion des nationalen Körpers seit der Jahrhundertwende anknüpfte. Die Körper der Sportler wurden den antiken Statuen entsprechend in Szene gesetzt. Die Kamerafahrten, die Bilder von Ruinen, Säulen und Plastiken des Parthenon assoziierten eine direkte Linie zur griechischen Antike. Diese wird in der westlichen Kultur als eine Gemeinschaftskultur wahrgenommen, die auf der Einheit von Körperlichkeit, natürlichen Lebensformen und Staat beruht. Auch der Film »Triumph des Willens« über den Reichsparteitag von 1934 demonstrierte die Formbarkeit der Massen zur kollektiven nationalen Gestalt. Die Zusammenführung der synchronisierten Bewegung der in überschaubare Gruppen aufgeteilten Massen zum kollektiven Körper wurde durch die besondere Kameraperspektive er fahrbar. Der »Volkskörper« fand sein transzendentes Prinzip im Führer, der die Bewegung der Gesellschaft bündelte und ihr eine Richtung gab. Der Faschismus schuf so ein Bild des nationalen Körpers, das Ängste vor Desintegration abzuwehren vermochte. In dieser Hinsicht ist er nur die Extremform eines grundsätzlichen Problems des Nationalen in der Moderne. Seine Behauptung einer anthropologischen Substanz der nationalen Gemeinschaft und ihrer naturwüchsigen Bindungen machte die Metapher des nationalen Körpers zur Grundlage für eine Politik der Ausgrenzung, die angesichts der fiktiven Substanz dieser Gemeinschaft letztlich auf ästhetischen Codes beruhte und zu immer ausgedehnteren ›Reinigungsritualen‹ des kollektiven Körpers führte, bis hin zu realen Verfahren der Ausgrenzung des ›Nicht-Zugehörigen‹ und zur industriell betriebenen physischen Vernichtung. Die Verfahren der »politischen Hygiene« des Faschismus waren die Umsetzung der Rassehygienediskurse in politische Praxis. Rassediskurse wurden mit politischer 361 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Metaphorik verwoben - zwecks Konstruktion der nationalen Gemeinschaft in einer als Bios interpretierten nationalen Physis. Auch dies wurde schon in den zwanziger Jahren vorbereitet. So heißt es im »Flugblatt aus Deutschlands Erneuerung«: »Die Rassehygiene ist so klug geworden, die ›heimlichen‹ Krankheiten offen vor aller Welt zu erörtern. Unsere politische Hygiene, die sehr im argen liegt, darf sich der entsprechenden Nutzanwendung nicht verschließen. Den eigentlichen Krankheitsherd im nationalen Körper Großdeutschlands bildet der Einfluß des Judentums. Das gegenwärtige starke äußerliche Hervortreten des Judentums an den leitenden Stellen des Reiches läßt lediglich auch die Arglosen das Krankheitsbild deutlicher erkennen; die Krankheit selbst wütet schon jahrzehntelang im Körper. Ohne sie - das kann man mit aller Schärfe behaupten und die Geschichte wird es nachweisen - wäre der Zusammenbruch Deutschlands nicht erfolgt.«25 In dieser Logik wurde die Zerstörung des sogenannten fremden Körpers zur Voraussetzung für die Wiederherstellung und Gesundung des nationalen Körpers. Es ist eine Logik des Todes, die letztlich auf die Selbstzerstörung der nationalen Gemeinschaft hinausläuft. Angesichts dieser traumatischen Erfahrung ist die Gegenposition einer rationalistischen Kritik, die auf Entritualisierung und Desymbolisierung drängt und das Universale gegenüber dem Nationalen propagiert, verständlich. Die kollektiven mentalen Bedürfnisse, die die faschistische Version der Nation für sich zu nutzen wußte, lassen sich indes mit dem Bewußtsein um ihre Verstrickung in Mord und Völkermord nicht aus der Welt schaffen. Die Faszination des Konzepts der nationalen Gemeinschaft, die kollektive Sehnsüchte und Energien zu binden vermag, umschrieb schon Fustel de Coulanges: »Was die Nationen unterscheidet, ist weder die Rasse noch die Sprache. Die Menschen fühlen in ihren Herzen, daß sie ein Volk sind, wenn sie eine Gemeinschaft der Ideen, der Interessen, der Gefühle, der Erinnerungen und der Hoffnungen besitzen. Denn genau das macht das Vaterland aus ... Das Vaterland ist das, was man liebt.«26 Die nationale Gemeinschaft und deren Verkörperung bleibt eine offene Frage moderner Politik. Nationaler Zusammenhalt, nationale Identität ist nur eine Form, in der die grundlegende Bedeutung des Imaginären für das Soziale, für den Zusammenhalt von Gesellschaften zum Ausdruck kommt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und kollektives Handeln beruhen auf dieser Traumarbeit. Die Frage nach dem Umgang mit diesen kollektiven Sehnsüchten und Verhaltensdispositionen zielt folglich darauf ab, diese Träume und Bilder der Logik der Gegenidentifikation zu entziehen. Nationale Gemeinschaft wäre dann als ein offenes und unabschließbares Projekt zu konzipieren, das auf keiner metaphysischen Fundierung beruht. Im Bewußtsein des imaginären Status einer solchen nationalen Gemeinschaft 362 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

wärein das Heterogene und die Differenz keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung. Die Rolle des Ästhetischen läge dann darin, Denkformen und Wahrnehmungsweisen jenseits überkommener Ein- und Ausgrenzungsmechanismen zu entwickeln. Angesichts der Erfahrung nationaler und ethnischer Konflikte im ausgehenden 20. Jahrhundert wird die Entwickllung politischer Strategien besonders wichtig, die die im Traum von der nationalen Gemeinschaft gebundenen kollektiven Bedürfnisse, ihr gemeinschafts- und handlungsmobilisierendes Potential nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance erkennen.

Anmerkungen 1 Vgl. S. Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1963, S. 52 (zuerst in: Frankfurter Zeitung, 9./10.6.1927). 2 Vgl. G. Le Bon, Psychologie des Foules, Paris 190611; S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, London 1947. 3 Vgl. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des modernen Parlamentarismus, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, 1, 19262, S. 89. 4 In Anlehnung an Benedict Anderson wollen wir Nation als gedachte Gemeinschaft verstehen, für die die Fiktion einer gemeinsamen Herkunft und Entwicklung entscheidend ist (vgl, B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983, S. 15). Walker Connor betont den weitgehend unbewußten Charakter dieser kollektiven Überzeugung von einem gemeinsamen Ursprung (vgl. W. Connor, The Nation and its Myth, in: International Journal of Comparative Sociology 3/1-2, 1992, S. 49). 5 Vgl. H. Stein (Hg.), Maps from the Mind. Readings in Psychogeography, Oklahoma 1989, S. 182. 6 Vgl. M. B. Barrès, Roman de l'énergie nationale, zit. nach: P. Fougeyrollas, La Nation. Essor et déclin des Societés modernes, Paris 1987, S. 112. 7 In der Genesis ist das mythische Jerusalem Ort der Realisierung des Traums von einer neuen christlichen Gemeinschaft, der Ort, »in dem alles zu einem Leib wird«. 8 Vgl. E. H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. Α Study in Medieval Political Theology, Princeton/New Jersey 1957, S. 234, 268. 9 Vgl. A. Meyer, Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsageschichte, Bd. 13, Bonn 1969, S. 142. 10 O. Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, Jena 1931 3 , S. 78. Seine Aktualisierung der Metapher des nationalen Körpers erfolgte in expliziter Abgrenzung vom Modell des Contrat Social und unter Bezug auf die Körpermetaphorik der romantischen Staatstheorie. So heißt es beim Staatsrechtler Adam Müller: »Di3eser Körper, dessen innige gewaltige Verbindung wir in jedem wahren Lebens-Moment am unmittelbarsten fühlen, bleibt das nächste und schönste Muster aller Vereinigungen und Körperschaften, zu denen unsere ganze Lage unaufhörlich hin drängt.« (Zit. nach: Meyer, Metaphorik, S. 156). 11 E. Bloch, Vom Geist der Utopie, München 1918, in: Ders., Gesamtausgabe. Ergänzungsband, Frankfurt/M. 1978, S. 296f. 12 So propagierte Fritz Winther die Gymnastik als Mittel sozialer und nationaler Integra-

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tion: »Diese einigende Kraft hat die Körperbildung mit anderen Gattungen der Erziehung gemeinsam. Eines aber hat das Streben zum Ganzen voraus: als rhythmische Plastik kann sie die ganze Nation durchdringen. Die Plastik, durch ihre tiefverzweigten Nerven in unseren Kulturbestrebungen als Sport, Erziehung für Körper und Geist, kann gesellschaftliche Gegensätze ausgleichen.« (F. Winther, Körperbildung als Kunst und Pflicht, München 1914, S. 76.) 13 Sport und Politik seien Residuen sakraler und ekstatischer Verhaltensdispositionen in der modernen Massengesellschaft, behauptete in den zwanziger Jahren der Kulturanthropologe Leopold Ziegler: »Unverkennbar treten heute Politik und Sport mit dem Anspruch auf, einer bis ins Mark profanierten Menschheit die letzte Möglichkeit zu bieten, dem instinktiven Begehr nach umschichtig erregten und gelösten Seelenzuständen zu willfahren; Politik und Sport allein versprechen in zwölfter Stunde das drohende Schicksal von ihr abzuwenden, im tödlichen Gleichmaß grauer Alltäglichkeit allmählich zu ersticken, zu verkommen.« (L. Ziegler, Zwischen Mensch und Wirtschaft, Darmstadt 1927, S. 316.) 14 Die Formung des Körpers zum Ausdruck der nationalen Gemeinschaft geht in Deutschland und Frankreich auf die Aufklärung und deren Bestimmung der Körpererziehung als Teil einer moralischen und patriotischen Erziehung zurück, die zugleich der militärischen Ausbildung diente. Die Aufklärung erfand zugleich die auf die Verinnerlichung der sozialen Ordnung abzielende Disziplin und die Moralisierung des Körpers. Sie machte den Körper zur Einschreibfläche nationaler Diskurse. So bestimmte beispielsweise Fichte die Gymnastik als ein Instrument moralischer Bildung, deren Ziel die nationale Gemeinschaft darstelle. Von Fichte inspiriert, betrieb Jahn die Nationalisierung des Körpers als »deutsches Turnen«, Ausdruck deutschen Volkstums in Abgrenzung zur (mit Frankreich identifizierten) »griechisch-römischen Gymnastik«. Jahn beeinflußte die französische Gymnastik über Amoros. Die die militärischen Übungen betonende Methode von Amoros erhielt den Namen »méthode française«. 15 Ein Beispiel dafür ist das »Negern«, das im Deutschland der zwanziger Jahre in Mode kam. Auf »Negerbällen« versuchte man sich, als Schwarzer geschminkt und verkleidet, im schwarzen Bewegungsstil des Jazz, um Zugang zum eigenen Dionysischen zu finden. Die mimetische Aneignung eines fremden Lebensgefühls und Bewegungsstils setzt auch als ästhetische Attitüde doch eines voraus: das Bewußtsein von der Relativität und Verfügbarkeit kultureller Identitäten. 16 Bewegung als Ausdruck einer im Unbewußten verwurzelten nationalen Gemeinschaft und die Frage nach nationalspezifischen Bewegungsstilen als Ausdruck nationaler Spezifika der Kollektivpsyche wurde in beiden Ländern proklamiert. Dies läßt sich am Beispiel des Tanzes belegen. So zog Rudolf von Laban die Traditionslinie einer spezifisch europäischen Weise der Herstellung des kollektiven Körpers über chorische Bewegung bis zur Französischen Revolution. Er verstand die Bewegungschöre und den damit hergestellten kollektiven Körper in Abgrenzung zu »fremden Bewegungsstilen«. Insbesondere in den Modetänzen äußere sich der »Einbruch fremdrassiger Bewegungsgewohnheiten«. (R. v. Laban, Der Laientanz in kultureller und pädagogischer Bedeutung. Vortrag gehalten auf dem Internationalen Tänzerkongreß, 21.6.1930). Ganz ähnlich hieß es bei Jean d'Udine: »Il faut que la gesticulation naturelle d'une époque ou d'une race, que son sens plastique inné, que ses plaisirs moteurs inspirent les recherches artistiques de mouvement corporel.« (J. d'Udine, Qu'est-ce que la danse?, Paris 1921, S. 192f). 17 Seit der Jahrhundertwende erfolgte die Festschreibung eines nationalen Bewegungskanons, sie griff3 in Deutschland auf die seit der Aufklärung und insbesondere bei Fichte etablierten Überlegungen zu einer nationalen Bewegungskultur zurück und verengte diese auf das Konzept einer die Substanz der nationalen Gemeinschaft zum Ausdruck bringenden »Deutschen Gymnastik«: »Dieser Kampf [der deutschen Gymnastik, I.B.] richtete sich gegen Vordringen und Verbreitung undeutscher Bewegungsformen, die entweder aus fremden

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Bewegungskulturen übernommen wurden oder dem Streben nach einer rein verstandesmäßigen allgemeinen Körperschulung entsprangen. Nirgends aber tritt die Verschiedenheit der Menschen und Völker so unmittelbar und eindrucksvoll zutage wie gerade in der Bewegung. Den deutschen Menschen kennzeichnet gegenüber dem Franzosen, Italiener oder Slawen eine ruhige, verhaltene, aber doch bestimmte Art der Bewegung, die Ausdruck der leibseelisch-geistigen Besonderheit seines Volkstums ist. In dieser Bewegungsart hat er von alters her sein Leben und seine Kämpfe geführt, seine Aufzüge und Tänze gestaltet und seine körperlichen Übungen betrieben.« (F. Hilker, Deutsche Gymnastik, Leipzig 1935, S. 17). 18 »Vitesse, adresse, énergie« seien die Merkmale des »homme fort, sain et beau« (zit. nach: J. Ullman, De la Gymnastique aux Sports modernes. Histoires des doctrines de l'éducation physique, Paris 1965, S. 361ff.). 19 Ein bekanntes Beispiel für derartige Klassifizierungsversuche ist das Buch von E. Kretzschmer, Körperbau und Charakter, Leipzig 1921, das eine Massenauflage erreichte. Die Ausweitung der Sozialphysiognomie auf die Unterscheidung von Rassen und Nationen erfolgte bereits seit der Jahrhundertwende, wobei der hierdurch gestützte Antisemitismus auch in Frankreich bis in die intellektuelle Elite hinein zum üblichen Repertoire von Vorurteilen gehörte. Nicht zuletzt die Karikaturen mit ihren Judenklischees zeugen von Popularität dieser Stereotype. 20 S. Kracauer, From Caligari to Hitler. Α Psychological History of the German Film, Princeton 1947. 21 So bei Sighele und Rossi. Vgl. J. vanGinneken,3Crowds and Politics, Amsterdam 1984, S. 74. 22 Vgl. A. Ehrenberg, La communion athlétique, in: Traverses 2 1 / 2 2 , 1981, S. 181f.; sowie P. Chambat, La messe républicaine, in: ebd., S. 198f., 203. 23 So zeigt Jean-Luc Nancy, daß diese westliche Tradition des Denkens von Gemeinschaft, die auf dem Ideal der immanenten und transparenten Kommunion der Mitglieder der Gemeinschaft beruht, letztlich auf der Auslöschung der Differenz und der totalitären Ausgrenzung des Anderen und Heterogenen beruht. (Vgl. J. L3. Nancy, La communauté desouverée, Paris 1986.) Vgl. auch: D. Caroll, Community after Devastation. Culture, Politics, and the »Public Space«, in: M. Poster (Hg.), Politics, Theory, and Contemporary Culture, New York 1993, S. 159f. 24 L. Riefenstahl, Memoiren, München 1987; D. B. Hinton, The Films of Leni Riefenstahl, Metuchen 1991. 25 W. Liek, Der Anteil des Judentums an dem Zusammenbruch Deutschlands, in: Flugblatt Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk, München 1919, S. 1. 26 F. de Coulanges, Réponse à Mommsen, zit. nach: C. Rivière, Les liturgies politiques, Paris 1988, S. 96 [Übers. d. H g . ] .

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DANIELLE TARTAKOWSKY

Das Eigene und das Fremde* ›Nationale Muster‹ der Demonstrationskultur im Frankreich der Zwischenkriegszeit

1. Die Entstehung einer französischen Demonstrationskultur Die sich zu Beginn der 1880er Jahre konstituierende französische Arbeiterbewegung wurde von einer »national-populären Kultur« (Gramsci) geprägt, durch die sie einer Reihe widersprüchlicher Einflüsse unterworfen war. Diese national-populäre Kultur hatte sich im revolutionären Prozeß des vorangehenden Jahrhunderts herausgebildet und wurde von einer Vielzahl von Gedenk- und Symbolpraktiken begleitet. Dank der Entwicklung der parlamentarischen Demokratie erreichte die Arbeiterbewegung in Frankreich zwar schnelle Erfolge, doch gelang es ihr aufgrund der frühzeitigen Integration der unteren Volksschichten in den Nationalstaat nur mit Mühe, im politischen Leben des Landes eine gewisse Autonomie zu erlangen. Das Übermaß an Symbolik, mit dem sie konfrontiert war, machte die Bildung eigener identitätsstiftender Traditionen zugleich schwieriger als anderswo. Von diesen Verhältnissen war auch die Demonstrationskultur geprägt, die in Frankreich in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende »erfunden« wurde.1 Bei den Straßendemonstrationen (unabhängig davon, ob sie nun auf die Arbeiterbewegung zurückgehen oder nicht) lassen sich in Frankreich vier Grundmodelle unterscheiden, die unter bezug auf die damals herrschenden Praktiken als »Ruf zu den Waffen«, »Petitionsdemonstration«, »Aufruhrdemonstration« und »Prozessionsdemonstration« bezeichnet werden sollen. Die Prozessionsdemonstrationen, zu denen um die Jahrhundertwende in erster Linie die jährlichen Umzüge in Erinnerung an den KommuneAufstand zur »Mauer der Föderierten« auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise sowie die Umzüge zum 1. Mai2 zählten, wurden weitgehend toleriert. Sie waren für die Demonstranten wie für die Ordnungskräfte * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate und Jakob Vogel.

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Anlässe, die Modalitäten bei der physischen Besetzung des Raumes sowie die Autrechterhaltung der Ordnung einzuüben. Zugleich boten sie für die Protestierenden die Gelegenheit, identitätsstiftende Demonstrationsriten zu entwickeln. Entsprechend ist der guesdistische Vorschlag, aus dem 1. Mai einen internationalen Kampftag zugunsten des Achtstundentages zu machen, nicht nur als eine Folge der allgemeinen Forderungen der Arbeiterbewegung zu verstehen. Vielmehr war er auch als Antwort auf das spezifische Problem der Identitätsstiftung in der französischen Arbeiterbewegung gedacht. Die Guesdisten orientierten sich dabei an den Praktiken der Republikaner, an deren Mobilisierungsstrategien und pädagogischem Impetus. Dies ging jedoch nicht ohne Probleme vor sich. So bekräftigten die Guesdisten ihre Forderung, die sie sicherlich nicht zufällig 1889 zeitgleich mit der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution formulierten, indem sie sich äußerlich entschieden von den Praktiken der regierenden Opportunisten absetzten, die eine politische Autonomie der französischen Arbeiterbewegung ablehnten. »Überlassen wir den 14. Juli den Opportunisten, allen Stützen der kapitalistischen Ordnung, allen Mördern der Arbeiterklasse«, schrieb Jules Delmorès 1891, »das Fest der Arbeiter beider Welten, das Fest der Sozialisten, die eine umfassende soziale Erneuerung wollen, ist der 1. Mai.«3 Der ausdrückliche Bezug auf die republikanische Kultur, die man zu Fall bringen wollte, schloß bei den sozialistischen Demonstrationen jedoch nicht aus, daß Formen des bürgerlichen Umzuges aufgenommen und gleichzeitig verändert wurden. Vor allem aber setzten sich die Arbeiterdemonstrationen wegen des verbreiteten Antiklerikalismus von dem Modell der religiösen Prozession ab, das in anderen Länderen Europas vorherrschend war. Das zeigte sich etwa in der Ordnung der Umzüge, die die für die Prozession typische Hierarchie umkehrte, und darin, daß kaum Banner, sondern Fahnen benutzt wurden.4 In der Karikatur und bis zu einem gewissen Grade auch in der Realität erschien die Arbeiterdemonstration damit als ein Rückgriff auf ein Bild des Aufruhrs, wie es etwa von Delacroix gemalt worden war.5 Eine Reihe von Besonderheiten der Arbeiterumzüge gingen jedoch explizit auf das Bemühen zurück, sich von den Praktiken der herrschenden Republikaner abzusetzen. Die offiziellen Feierlichkeiten, deren rituelle Formen sich in den Jahren um 1880 etablierten, boten den zur Passivität verurteilten Massen ein Schauspiel der staatlichen Institutionen, das etwa bei den offiziellen Reisen des Staatspräsidenten, bei militärischen Paraden oder Vorbeimärschen der Schulkinder in Szene gesetzt wurde. Die Arbeiterbewegung distanzierte sich in ihren Demonstrationen von einem solchen Modell und lehnte kategorisch alles ab, was an die offiziellen Repräsentationsformen erinnerte: Uniform, Gleichschritt und die geometrische 367 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Anordnung der Umzüge.6 Die Arbeiterorganisationen bestimmten zwar so gut wie möglich die Abfolge der Gruppen, aber im Inneren des Umzuges herrschte keinerlei Ordnung, da die meisten Teilnehmer im Spazierschritt Ringen. Daneben zeigte man sich bemüht, den Klassencharakter dieser Umzüge zu unterstreichen. Zu diesem Zwecke griff man auf die bekannte Symbolik der Arbeiterbewegung zurück.7 Der Klassencharakter kam ebenfalls, ohne daß hierzu besondere Direktiven bestanden, in der Kleidung der Demonstranten zum Ausdruck. Während die deutschen Sozialdemokraten, die im Rahmen des Kampfes für die Erlangung des allgemeinen Wahlrechts »demonstrieren lernten«,8 Wert darauf legten, dabei ihre Sonntagskleider zu tragen, um als »Bürger« aufzutreten, marschierten die französischen Arbeiter in Arbeits- oder zumindest in Alltagskleidung, um sich so von den Riten und dem politischen Habitus eines Bürgertums zu distanzieren, das seine Rechte nicht mehr erkämpfen mußte.9 2. Der Rückgriff auf ausländische Modelle in der Zwischenkriegszeit Nach dem Ersten Weltkrieg unterlagen die Straßendemonstrationen sehr unterschiedlichen Einflüssen. Einzelne Gruppen versuchten dabei, die Demonstrationsformen bis hin zur Haltung der Demonstranten unter Anlehnung an die in anderen Ländern gebräuchlichen Modelle zu verändern. Diese Versuche werden im folgenden zunächst kurz vorgestellt, bevor dann die Ursachen ihrer begrenzten Wirkung erklärt werden sollen. Dabei beschränken wir uns auf die Darstellung der Maßnahmen, die darauf abzielten, die Haltung der Demonstranten zu verändern, und lassen die politisch-strategischen Fragen beiseite. Zu einem ersten, noch begrenzten Versuch zur Veränderung der üblichen Demonstrationsformen kam es 1919, als sozialistische Abgeordnete die Legalisierung der Demonstrationen befürworteten und forderten, daß die Polizei die Demonstrationszüge begleiten sollte, statt sie zu unterdrükken.10 Sie nahmen dabei ausdrücklich und wiederholt Bezug auf englische, deutsche und belgische Vorbilder, um zu beweisen, daß eine liberale Haltung gegenüber den Umzügen nicht nur möglich sei, sondern daß dadurch gleichzeitig auch eine wirkliche Garantie für Ordnung und Sicherheit gegeben werde. Der zweite Versuch fiel zeitlich mit dem Sieg des »Kartells der Linken« zusammen. Er ging beinahe gleichzeitig von Ligen der extremen Rechten und der Kommunistischen Partei aus, die sich paramilitärische Ordnungskräfte in Uniform zulegten. Wenige Jahre nach Ende des Krieges, im 368 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Bewußtsein der Unterstützung durch ehemalige Frontkämpfer, die dabei den Rahmen bilden sollten, stützte sich die extreme Rechte jedoch ausdrücklich auf das italienische Modell, während die Kommunisten eher das deutsche Modell zum Vorbild nahmen. Die nationalistische »Ligue des Patriotes« war die erste, die diesen Weg einschlug. Pierre Taittinger, der den Auftrag erhielt, die Jugendsektion der Vereinigung neu zu organisieren, gründete als »Stoßtruppe« die »Patriotische Jugend« (JP).11 Die Studenten, die in ihre Reihen aufgenommen werden wollten, mußten auf einen militärischen Rang verzichten und angeben, ob sie ein Auto oder Waffen besaßen und »ob sie bereit waren, im Falle eines Aufstandes zu marschieren, an großen Kundgebungen teilzunehmen oder ob sie es vorzögen, zu einer mobilen Truppe zu gehören, die für kleinere Angelegenheiten einsetzbar ist, oder Plakate zu kleben«.12 Im September 1926 kam es zu einer weiteren Neuorganisation. Die Mitglieder, die nahe beieinander wohnten, wurden nun zu »Mannschaften« zusammengeschlossen und bildeten künftig die Basis der Organisation. Sie setzten sich dann zu »Sektionen«, »Hundertschaften«, »Gruppen«, »Arrondissements« und »Sektoren« zusammen. Die Hundertschaften, »wirkliche Befehlsstaffeln«, wurden jeweils von einem Chef und einem Adjutanten geführt. Nach Möglichkeit wurden hierfür ehemalige Offiziere oder Unteroffiziere gewählt, die am Krieg teilgenommen hatten. Die Hundertschaften differenzierten sich wiederum in drei Typen, nämlich »die Stoßhundertschaften, die fähig sind, beim ersten Signal den Kampf zu beginnen, die Kernhundertschaften und die Reservehundertschaften«.13 Ähnlich legte sich auch die extrem-nationalistische Vereinigung »Die Rutenbündel« (»Le Faisceau«) von Georges Valois im Juni 1926 einen »Spezialdienst« zu, um die Ordnung in den Versammlungen zu gewährleisten. Zwei Trupps von etwa zwanzig Legionären, die mit Lederpeitschen und Pfeffer (den sie eventuellen Angreifern ins Gesicht werfen konnten) bewaffnet waren, hatten den Auftrag, die Gegendemonstranten zu isolieren, ihnen die Hosen herunterzuziehen und sie auszupeitschen. Dabei lehnten sie sich ausdrücklich an das faschistische Modell an.14 Im Dezember 1927 wurde entschieden, nur Kriegsteilnehmer als Mitglieder von »Le Faisceau« zuzulassen. Die jungen Leute wurden in den »Blauen Garden« neu zusammengesetzt. Sie hatten den Auftrag, Ordnungsdienste zu leisten und die Verbindung zwischen den Stoßtrupps zu sichern. Schließlich mußten sie im Notfall auf die Straße gehen, um die Versammlungen der Vereinigung zu schützen oder »die durch extreme Elemente gestörte öffentliche Ordnung zu verteidigen«.15 Die Mitglieder dieser Stoßtruppen wurden alle mit einem Stock und einer Uniform ausgestattet, in Khaki bei den JP und in Blau bei den Mitgliedern der »Blauen Garden«. Der beachtliche Wagenpark, den sie der 369 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

sozialen Herkunft ihrer Kader und eines Teils ihrer Anhänger zu verdanken hatten, trug dazu bei, das modernistische Bild dieser Gruppen zu unterstreichen. Auch die wenig später von dem Oberst de la Roque gegrün dete Vereinigung »Das Feuerkreuz« (»Le Croix de Feu«) lehnte sich an das Vorbild der anderen beiden Gruppen an. Die Kommunistische Partei befürwortete ebenfalls seit ihrer Bolschewisierung die Bildung von »Kampftruppen«, die jedoch den Auftrag hatten, die Demonstranten gegen etwaige faschistische Angriffe zu schützen. Dabei orientierten sie sich an dem Modell der deutschen Kommunisten, Der Kongreß von Clichy schrieb dieses Prinzip fest, doch erst Anfang 1926 wurde auf Initiative der kommunistischen Veteranenvereinigung »Revolutionäre Vereinigung der ehemaligen Kämpfer« (ARAC) die Umsetzung ernsthaft in Angriff genommen. Ihr nationaler Rat traf im Januar einen Beschluß über die Schaffung eines Ordnungsdienstes, der den Auftrag hatte, »die Versammlungen und die öffentlichen Demonstrationen zu schützen«.16 Diese sogenannten »Antifaschistischen Verteidigungsgruppen« (GDA) bezogen sich ausdrücklich auf das Beispiel der JP und auf das der belgischen und deutschen kommunistischen Parteien.17 Sie gaben sich nach deren Vorbild eine paramilitärische Struktur und trugen Uniformen, die aus einem khakifarbenen Leinenhemd, einer mit den Insignien der ARAC versehenen Baskenmütze und einem Stock bestand. Diese Uniform kostete die Mitglieder sechzig Francs, die in mehreren Raten zahlbar waren.18 Die (rein theoretische) Organisationsstruktur der GDA ging auf eine Manie für geometrische Formen zurück, die sich auch bei ähnlichen Gruppierungen der außerparlamentarischen Rechten findet. Die Basistrupps bestanden aus fünf Männern und einem Chef. Drei Trupps bildeten eine Gruppe und drei Gruppen eine Untersektion, die zusammen also 57 Männer (sic) sowie einen Chef umfaßten. Drei Untersektionen bildeten ihrerseits eine Abteilung von 177 Männern, einem Chef und zwei Verbindungsagenten. Die insgesamt sieben Abteilungen sollten, wenn möglich, von einer »Gruppe von Frauen, die in der Lage sind, als Krankenschwestern zu fungieren«, unterstützt werden19 und »insgeheim« eine Untersektion von ausländischen Kämpfern gründen. Die unter 25 Jahre alten Aktivisten wurden in Gruppen der »Jungen Garden« (JGA) zusammengefaßt.20 Die Sozialisten erlagen der gleichen Faszination wie die Kommunisten. Sie luden zwei Bataillone der Arbeitergarde (»Garde ouvrière«) aus dem Bergarbeitervorort Borinage zu einem Fest ein, das sie 1927 in Lille organisierten. Die in Hundertschaften von 113 Mann unterteilten Milizen, deren Mitglieder sich hauptsächlich aus der sozialistischen »Jungen Garde« rekrutierten, waren 2 000 Mann stark; sie defilierten in Viererreihen und trugen mit den Insignien der Partei geschmückte Baskenmützen. Neben 370 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

einer Armbinde mit der in schwarzen Buchstaben aufgedruckten Inschrift »Arbeitergarde« gehörten ein mit Eisen beschlagener Stock und ein Brotbeutel zu ihrer Ausrüstung. An ihrer Spitze marschierten Männer, die 150 rote Fahnen, Trompeten und Fanfaren mit sich führten.21 Die Sozialisten unterschieden sich jedoch von den vorher erwähnten Verbänden dadurch, daß sie zu vermeiden versuchten, daß diese »Hundertschaften« gegen die öffentliche Ordnung verstießen. Stattdessen beschränkten die Gruppen sich auf identitätsstiftende Umzüge in dem von ihnen beherrschten Gebiet. Die sozialistische Föderation des Departement Seine, die ihre Jugendgruppen beauftragte, eine »Junge Garde« zu gründen, legte daher auch Wert darauf, daß keine Uniformen getragen wurden, und forderte dazu auf, »sich in der Öffentlichkeit nur durch eine Armbinde kenntlich zu machen und ihre Anhänger nicht als Garde von Galeerensträflingen zu verkleiden«.22 Diese zurückhaltende Einstellung änderte sich jedoch 1931. Die Jugendtruppen der Sozialisten führten nun ebenfalls eine Uniform ein, die sie von ähnlichen Gruppen in Nordeuropa übernahmen.23 Erstmals trafen sie nun in der Hauptstadt uniformiert mit einer Baskenmütze mit drei Pfeilen, einem blauen Hemd, einer roten Krawatte, einem Ledergürtel, einer khakifarbenen Reiterhose und Stiefeln auf. Gegenüber allen anderen französischen Organisationen, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Uniformen als Nebensächlichkeiten abgelegt hatten oder sie ausschließlich bei identitätsstiftenden Veranstaltungen anzogen, wirkte dies unzeitgemäß. Der dritte Rückgriff auf ein ausländisches Modell der Demonstrationskultur ergab sich während der Krise der dreißiger Jahre. Die von Fleurant Agricola gegründete »Landwirtschaftliche Partei«, die »Konföderierten« und dann die »Unitarier« führten in Frankreich die »Märsche« auf Paris oder auf die Präfekturen ein, von denen sie behaupteten, daß sie sich an den Umzügen österreichischer Bauern und an angelsächsischen Mustern orientierten.24 Gleichzeitig strebten neue Gruppen nach Uniformen. So kreierte Dorgères 1935 die grünen Hemden. Inspiriert wurde er dabei von dem Ordnungsdienst, der von einem Leutnant aus Colmar gegründet worden war, wo der deutsche Einfluß natürlich größer war als anderswo. Wie P. Burrin gezeigt hat, bürgerte sich auch das Symbol der geballten Faust, das den deutschen Antifaschisten abgeschaut war, in dieser Zeit in Frankreich ein.25 3. Die begrenzte Wirkung ausländischer Vorbilder Die verschiedenen hier angeführten Versuche, unter Rückgriff auf ausländische Muster die Formen der französischen Demonstrationskultur zu verändern, hatten jedoch eher eine Breiten- als eine Dauerwirkung. Die »De371 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

monstrationsmärsche« der 1930er Jahre waren als Ausdruck einer politischen Stadtkultur zwar zunächst etwas fremd, doch widersprachen sie letztlich nicht der herrschenden politischen Kultur. Daher setzten sie sich für eine gewisse Zeit ohne Widerstände - von dem der Ordnungskräfte abgesehen - durch. Mit der Volksfront und ihrer neuen politischen Kultur verschwanden diese Märsche jedoch wieder, um in den sechziger Jahren in einem völlig veränderten Kontext erneut aufzutauchen. Die sozialistische Initiative von 1919 zeigte demgegenüber keinerlei Wirkung, da sie in völligem Widerspruch zum politischen System Frankreichs stand. Frankreich unterschied sich von den Ländern, auf deren Beispiel sich die Sozialisten beriefen, dadurch, daß es das allgemeine Wahlrecht zu einem Zeitpunkt eingeführt hatte, als weder die Arbeiterbewegung noch »Demonstrationen« im zeitgenössischen Verständnis des Begriffes existierten.26 Denn anders als in Frankreich waren Straßendemonstrationen in Deutschland oder in Belgien ein Instrument, das zur Durchsetzung von Wahlrechtsreformen gebraucht wurde.27 In Großbritannien wurden sie dagegen als ein Mittel zur Artikulation der Arbeiterforderungen zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als es das allgemeine Wahlrecht noch nicht gab. Wie hätten jedoch hier die Regeln ausgesehen, wenn es wie in Frankreich das allgemeine Wahlrecht und die demokratischen Errungenschaften gegeben hätte, dank derer jeder seinen Forderungen Ausdruck verleihen und somit individuell ›manifestieren‹ konnte und sollte? Konnten kollektive Aktionen und direkte Demokratie eine Errungenschaft bewahren, die in einem politischen System begründet lag, das auf einer individuellen Vorstellung der Ausübung der Rechte und Pflichten des Bürgers beruhte? Hier lag ein struktureller Unterschied zwischen Frankreich und den anderen Ländern, der dazu führte, daß die Demonstrationen ihren Status einer ›prekären Freiheit‹ behielten. Dies erklärt zudem, daß es in erster Linie die außerparlamentarischen Organisationen und die gegen das politische System gewandten Gruppierungen waren, die nach ausländischen Modellen der Demonstrationskultur suchten. So die Sozialisten 1919 am Vorabend der Spaltung von Tours und die Organisationen, die aus der Krise der Nachkriegszeit und der Krise der dreißiger Jahre hervorgingen. Die sozialistischen Jugendgruppen bildeten demgegenüber eine Ausnahme, mit der wir uns im folgenden noch genauer auseinandersetzen werden. Die Bildung paramilitärischer Einheiten stieß bei allen politischen Gruppierungen auf Widerstände - selbst bei der monarchistischen »Action française«, deren außerparlamentarischer Charakter unbestreitbar ist. »Man beginnt nicht damit, die Uniformen auszuwählen, sondern damit, die Menschen zu begeistern«, erklärte einer ihrer Vertreter und fuhr fort: »Die schriftlichen, kleidungsmäßigen und rednerischen Kundgebungen sind 372 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nicht ungefährlich. Sie treffen den Gegner und zwingen ihn, sich darauf einzustellen.«28 Die Trennungslinie zwischen Anhängern und Gegnern solcher Einheiten verlief also weniger zwischen der Rechten und der Linken als zwischen den Organisationen, die etwa zeitgleich mit dem von ihnen bekämpften parlamentarischen System entstanden waren und denen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatten. Dabei wird abermals der begrenzte Einfluß deutlich, den die ebenfalls nach 1918 entstandenen ausländischen Modelle auf die französische Demonstrationskultur ausübten. Es zeigt sich im übrigen, daß der hier skizzierte Positionsunterschied nicht nur zwischen einzelnen Organisationen, sondern auch zwischen den Generationen innerhalb einer Organisation existierte. Die alte sozialistische Garde mißtraute den kulturellen Neuerungen, die von den sozialistischen Jugendgruppen eingeführt wurden, um so mehr, als diese bald von Richtungsstreitigkeiten begleitet wurden.29 Die von Dorgères für die Einführung der grünen Hemden vorgebrachten Argumente zeugen von ähnlichen Divergenzen innerhalb seiner Organisation: »Bilger hat mich überzeugt, daß, wenn man den bäuerlichen Jugendgruppen auf diese Weise eine Uniform gibt, diese unter ihnen einen Zusammenhalt, eine Disziplin und einen Stolz schafft, der raschen Fortschritt erlaubt. In der Bretagne und in der Normandie hatten mich bereits einige junge Bauern gefragt, ob ich es nicht für nützlich hielte, daß sie ein grünes Hemd trügen. Damals bin ich allerdings noch vor den Einwänden zurückgewichen, die die älteren Landwirte mir gegenüber äußerten.«30 Er schlug daher vor, das Experiment in einem Departement des Westens zu versuchen, »um zu sehen, ob sich unsere Mentalität mit dem Tragen des grünen Hemdes verträgt«. Bevor er diese Pläne jedoch endgültig umsetzte, hob er noch einmal die Ansicht eines Bauern aus dem Department Orne hervor, nach der das Tragen der grünen Hemden bei den Demonstrationen die »Bande der Freundschaft und Einheit« festigen würde.31 Die Zurückhaltung der Kommunistischen Partei gegen die Uniformierung der Demonstranten hatte dagegen ihre Ursache weniger in Generationskonflikten. Das Tragen von Uniformen, das im Politbüro durch Thorez verteidigt wurde, während Doriot eine einfache Baskenmütze vorzog, bereitete zahlreichen Anhängern Probleme, da sie hierin Anzeichen für eine Militarisierung der Partei sahen.32 Die Führer der GDA mußten daher auch regelmäßig ihren Antimilitarismus beteuern.33 Der Ordnungsdienst der Partei ging ebenfalls auf Distanz zu solchen Plänen, indem er deutlich zum Ausdruck brachte, daß er sich in keiner Weise von ihnen betroffen fühle. Der erste Vorbeimarsch einer uniformierten GDA-Hundertschaft an der »Mauer der Föderierten« am 30. Mai 1926 stieß insbesondere bei einigen Führern der Anarchisten auf Kritik. Sie hielten die Zurschaustellung der »alten Kämpfer in lächerlicher Kleidung« für eine »Maskerade« 373 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

und drängten daher auf einen Bruch mit den Kommunisten.34 Die anarchistisch-kommunistische Union schlug entsprechend im Mai 1927 vor, künftig in den Reihen der Sozialisten zu marschieren, »wo man den GDA, die versuchen würden die Demonstrationen zu stören, den Schädel einschlagen« könnte.35 Der Kongreß der Anarcho-Syndikalisten erklärte im darauffolgenden Jahr, daß die »revolutionären Syndikalisten, direkte Abkömmlinge der von Thiers und Gallifet erschossenen Vorortarbeiter, nicht ohne Verletzung ihres Stolzes akzeptieren könnten«, zwischen zwei Reihen von roten Garden »vor dem bolschewistische Generalstab vorbeizumarschieren«.36 Das Tragen der Uniform, die geometrische Anordnung der Teilnehmer und der Gleichschritt wurden jedoch trotz solcher Widerstände von fast allen Gruppierungen beibehalten. Die Gelegenheiten für derartige Aufmärsche waren bei den Rechten das Fest zu Ehren von Jeanne d'Arc sowie die feierliche »Mobilmachung« der »Croix de Feu«. Die politische Linke trat ihrerseits in ähnlicher Weise bei den jährlichen Vorbeimärschen an der »Mauer der Föderierten«, bei den identitätsstiftenden Umzügen der Sozialisten in den von ihnen beherrschten Städten sowie bei den Feiern zum 1. Mai auf Auch die Durchsetzung der erhobenen Faust als Kampfsymbol der extremen Linken verlief nach dem gleichen Muster. Entsprechend ihrer ursprünglichen Bedeutung im deutschen Kontext setzte sich die erhobene Faust auch in Frankreich als spezifisches Symbol antifaschistischer und unitarischer Demonstrationen durch. Dabei spielte sie zunächst und vor allem bei den Prozessionsdemonstrationen der Linken eine Rolle. Diese Geste konnte zwar auch als Drohgebärde verwendet werden,37 häufiger aber hatte sie einen gleichsam liturgischen Aspekt. Entsprechend tauchte sie bei den Demonstrationen üblicherweise in stark emotionsbeladenen Momenten auf: etwa bei der Schweigeminute vor dem Pantheon am 30. Juli 1934, oder in dem Augenblick, als am 14. Juli 1935 in Dijon die Internationale ertönte, und sehr oft während des Verlesens des antifaschistischen Eides bei den am gleichen Tag in zahlreichen Städten Frankreichs abgehaltenen Veranstaltungen. Die Kinonachrichten der Jahre 1934 und 1935 bezeugen, daß die Demonstranten dabei ein klares Bewußtsein von der theatralischen Dimension ihrer Geste hatten: Die Fäuste erhoben sich vor und für die Kamera, während sie viel seltener auf den Bildern erschienen, bei denen die Demonstranten von hinten oder im Profil gefilmt wurden. Die paramilitärischen Einheiten der späten zwanziger und dreißiger Jahre hatten eine soziologisch eng umgrenzte Rekrutierungsbasis und wenig Gelegenheit, öffentlich aufzutreten. Außerhalb von Paris warer. sie nur sehr gering verbreitet.38 Die ARAC etwa erklärte, daß sie bei Demonstrationen in der Pariser Region 1 500 Mann aufstellen könnte, wenn ihr 374 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die Pollizei davon mindestens 400 zur Verfügung stellte. Die Verbreitung der GDA in der Provinz war noch lückenhafter. Bis 1928 waren sie bei den meisten bedeutenden Demonstrationen der Pariser Gegend anwesend, traten aber wesentlich seltener in Roubaix, Lille, Tours, Saint-Etienne, Metz, Varangeville, Lyon, Bourges oder Bordeaux auf. Darüber hinaus blieben die Einheiten der Arbeiterbewegung nur kurzlebig.39 So wurde das Prinzip der GDA im Rahmen der Neubestimmung des politischen Kurses, der 1928 von der Kommunistischen Internationale festgelegt worden war, in Frage gestellt. Die Kommunistische Partei erinnerte daher 1929 daran, daß diese »von den Massen getrennten« Gruppen in einer Periode des Kampfes gegen den Faschismus konzipiert worden seien, »um als Barriere zwischen Demonstranten und der Polizei zu dienen, die Arbeiter zur Ruhe, zur Vorsicht und nicht zum physischen Kampf mit der Polizei aufzufordern«. Die veränderte Haltung der Behörden veranlaßte die KP deshalb, das Prinzip einer solchen spezialisierten Organisation, die ihre Distanz zu den Massen durch das Tragen von Uniformen betonte, zu verwerfen. Stattdessen plädierte man nun für die Organisation einer kollektiven Selbstverteidigung, »die es jedem Demonstranten erlaubt, als Mitglied der Kampforganisation betrachtet zu werden, die damit einen unmittelbaren Massencharakter trägt«.40 Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb allerdings begrenzt. Das gleiche Phänomen ließ sich 1933 beobachten, als die sozialistischen Jugendgruppen in Paris die »Jungen Garden« gründeten, um den Faschismus besser bekämpfen zu können. Sie stießen bald auf ähnliche Schwierigkeiten wie früher die GDA. Ihre Führer mußten daran erinnern, daß das Schließen der Reihen nicht bedeutete, lediglich »eine schöne Uniform anzuziehen und in Umzügen jeder Art mitzumarschieren«. Stattdessen befahlen sie den Mitgliedern, als Kader der »Arbeitermilizen aufzutreten, die leider noch nicht existieren«.41 Marceau Pivert gründete 1934 außerdem noch die Gruppe »Immer bereit zu dienen«(TPPS), die sich als eine »aktive« Selbstverteidigungstruppe verstand. Uniformen jeder Art wurden von ihr allerdings abgelehnt, da dadurch die Mitglieder sofort zu erkennen gewesen wären und jeder Überraschungseffekt verloren gegangen wäre. Die Volksfront verbot schließlich alle Ligen und verschmolz die Klassenkultur mit der republikanischen Kultur zu einem Konglomerat, das seine Kraft aus der im 19. Jahrhundert entstandenen national-populären Kultur schöpfte.42 Sie schob damit allen Versuchen, einzelne im Ausland gebräuchliche Demonstrationsformen nach Frankreich zu importieren, einen Riegel vor. Lediglich die geballte Faust konnte sich durchsetzen, da sie sich in den gewerkschaftlichen Siegesumzügen eingebürgert hatte. Dies ist auch in den Filmen der Demonstrationen zu erkennen, in denen die geballte Faust nun sehr viel spontaner und unabhängig vom Kamerawinkel 375 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

auftauchte. Die neue Regierung ermöglichte es überdies den Demonstranten, die bislang üblicherweise ihre Arbeitskleidung getragen hatten, bei Umzügen zur Unterstützung der Regierung häufiger in Festtagskleidung aufzutreten und damit eine Eitelkeit zur Schau zu stellen, die bis dahin als nicht schicklich betrachtet wurde. Dies bestätigte die Versöhnung von proletarischen und bürgerlichen Ritualen als Ausdruck einer neuen Akzeptanz der Politik. Der Rückgriff auf ausländische Demonstrationsformen war daher besonders wichtig für die Organisationen, die aufgrund ihres außerparlamentarischen Charakters oder ihrer regimefeindlichen Haltung Ausdrucksforrnen suchen mußten, die außerhalb der herrschenden, im parlamentarischen System entstandenen politischen Kultur lagen. Diese Organisationen hörten auf, die Politik im Sinne der Republikaner des 19. Jahrhunderts als einen Akt der Erziehung des Individuums zu verstehen.43 Stattdessen setzten sie auf kollektive Mobilisierungsformen, die ihre Anhänger erfaßten und als Gruppe konstituierten. Auf diese Weise trugen sie zur Erneuerung der politischen Kultur im Europa der Nachkriegszeit bei. Ihre Straßendemonstrationen, in denen man einen neuen Ausdruck des ›MassenzeitaIters‹ erblickte, erhoben keinen Anspruch mehr, sich in das politische System einzuschalten, um es zu stärken oder zu transformieren. Vielmehr antworteten sie auf dessen Krise, indem sie sich an seine Stelle zu setzen versuchten. Die Demonstrationen sollten damit den Charakter eines bloßen Anhängsels der Politik verlieren, um zu einem konstitutiven Element der politischen und sozialen Auseinandersetzungen zu werden. In den Krisenzeiten bzw. Schwächeperioden des politischen Systems griffen die Organisationen daher auf ausländische Modelle zurück, um die Demonstrationsformen den von ihnen verfolgten Zielen besser anzupassen. Die Stabilität des politischen Systems und das Gewicht einer fest verwurzelten politischen Kultur ließen jedoch in Frankreich derartige Versuche nie über ein Anfangsstadium hinausgelangen. Das trifft insbesondere für die Arbeiterbewegung zu, die sich gegenüber Versuchen einer Militarisierung ihrer kulturellen Praktiken schwerer zugänglich zeigte als die politische Rechte. Immerhin griff auch sie dann und wann auf ausländische Modelle zurück, wenn sie diese für erfolgversprechend hielt. Die proletarischen Paraden der Kommunisten und - in der Regel lokal begrenzt - auch der Sozialisten verstanden sich als Spiegelbild ihrer militärischen Vorbilder, denen sie gleichzeitig Paroli bieten wollten. Sie schufen damit die Grundlage einer proletarischen Kampfkultur nach deutschem Vorbild. Dies zeigte sich auch in dem Ruf »Es lebe die Rote Armee«, der manchmal beim Vorbeimarsch der GDA ertönte.44 Die national-populäre Kultur und der fundamentale Antimilitarismus der Arbeiterkultur, die paradoxerweise beide durch den Ersten Weltkrieg gefestigt worden waren, 376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

führten jedoch dazu, daß dieses Phänomen - dessen europäische Dimension bekannt ist - in Frankreich nur marginal blieb.45 4. Epilog Am 14. Juli 1946 nahmen 2 200 Arbeiter der staatlichen Rüstungsindustrie am militärischen Umzug in Paris teil. Sie marschierten an der Spitze der Infanterietruppen in blauer Arbeitskleidung und im Gleichschritt. Vor ihnen lief eine Arbeiterin, die eine »Tricolore« trug. Die Arbeiterpresse hob die Anwesenheit der Arbeiter bei der offiziellen Parade des Nationalfeiertags ohne besonderen Kommentar hervor. Aufgrund ihrer Außenseiterposition gegenüber dem zu diesem Zeitpunkt herrschenden Dreiparteiensystem konnte die christlich-soziale Zeitung »Monde ouvrier« schreiben,46 was sonst in der Presse nicht zu lesen war: »Zum ersten Mal sind in Frankreich 2 200 Arbeiter zwischen dem Musikkorps und einer Abteilung der republikanischen Garde im Gleichschritt marschiert.«47 Der Artikel hob dann ihre »stolze Haltung« hervor, fuhr aber fort: »Dennoch: Was würden die Tausenden von Arbeitern, die seit 100 Jahren durch die Kugeln der Garde gefallen sind, um der Arbeiterklasse menschlichere Lebensbedingungen zu verschaffen, zu diesem Schauspiel gesagt haben? Man kam auch nicht umhin, in diesem Defilee den Hauch von schon im Ausland Gesehenen zu finden, der Beklemmungen hervorruft.« Dies alles ereignete sich zwei Jahre nachdem die Widerstandsbewegung Vichy und die Besatzungsmacht besiegt hatte und damit zu einem Zeitpunkt, als die Armee noch ein zusammengewürfelter Haufen unterschiedlichster Formationen war. Die ausländischen Modelle konnten eben nur die Hindernisse überwinden, die der »nationale Widerstand« nicht hatte besiegen können.

Anmerkungen 1 E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Zum »Gebunsdatum« der Demonstration, die sich vom Aufruhr unterscheidet, vgl. V. Robert, Cortèges et manifestations à Lyon (1848-1914), 2 Bde., phil. Diss., Universite Lumière-Lyon II 1990. 2 Diese gehörten auch zur Petitionsdemonstration, wenn sie von einer »Warnung« begleitet waren. Sie konnten überdies zu »Aufruhrdemonstrationen« werden, wenn sie sich vor allem in der Hauptstadt an von Behörden aufgestellten Verboten stießen. 3 J. Delmorès, Le Premier Mai historique, Paris 1891, S. 8. Es lohnt, der Formulierung von Demorès ein Zitat von Andrea Costas von 1893 gegenüberzustellen: »Die Katholiken haben Ostern, die Arbeiter werden ihr Ostern haben.« (zit. nach: J. Droz, Histoire générale du soaalisme, 1875-1918, Paris 1974, S. 561).

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4 Zur weit größeren Bedeutung der Banner in Italien siehe das Werk: Un altra Italia nelle bandiere dei lavoratori, hg. v. Centro Studi Piero Gobetti, Istituto Storico della Resisten za in Piemonte, Turin 1982. 5 P. Favre, Fixer l'événement? La représentation des manifestations dans la peinture au début du XXe siècle, in: Ders., Idéologies, partis politiques et groupes sociaux. Pour Georges Lavau, Paris 1989, S. 381-399. 6 Das hatte auch zur Folge, daß am 14. Juli häufig Feiern auf dem Lande organisiert wurden, damit man die Signalhörner der Truppenparaden nicht hörte. 7 E. Hobsbawm, The Transformation of Labour Rituals, in: Ders., Worlds of Labour, London 1984. 8 Als die Deutschen demonstrieren lernten, hg. v. Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, Tübingen 1986. 9 Es gab allerdings Ausnahmen im Zusammenhang mit Totenehrungen. 10 Vgl. Journal Oftkiel, Débats parlementaires. Chambre des députés, 6.5.1919, S. 2199ff.; L'Humanité, 6.4.1919. 11 La Liberté, 17.4.1925; der Artikel trägt die Signatur von Xavier de Hautecloeque. 12 Archives Nationales (im folgenden AN), F7 13231, Ligue des Patriotes, Bericht v. 20.3.1925. 13 AN, F7 13233, JP, Bericht v. September 1926. 14 Ebd., 9.6.1926. 15 Ebd., Bericht v. 13.12.1927. 16 Le Militant Rouge, in: Pierre Lucas, Α propos du conseil national de PARAC 4, Paris 1926. 17 AN, F7 13013, Seine, Bericht v. 16.3.1926. 18 AN,3F713179, ARAC, Bericht v. 15.9.1926, Versammlung der GDA des 11. und 20. Arrondissements und der östlichen Vororte. Philippon gab bekannt, daß in Paris 700 Uniformen verteilt wurden, beklagte aber, daß die Bezahlung auf sich warten ließ. Der Stundenlohn eines Bauarbeiters lag 1926 bei 3 Francs 48 und der eines Schlossers bei 4 Francs 65. 19 AN, F7 13179, ARAC, Bericht v. 15.9.1926, Versammlung der GDA des 11. und 20. Arrondissements. AN, F7 13283, 1. Mai 1927. Diese Krankenschwestern marschierten in der Spitzengruppe mit den GDA. 20 AN, F7 13179, ARAC, Bericht v. 15.9.1926, Versammlung der GDA des 11. und 20. Arrondissements. 21 Le Populaire, 21.8.1927, Eröffnung des Gewerkschaftshauses in Lille. 22 Zit. nach C. Delporte, Les jeunesses socialistes dans l'entre-deux-guerre, in: Le Mouvement social 157, S. 50. 23 Parti socialiste SFIO, Fédération de la Seine, congrès fédéral, 30.4.1934, Rechen schaftsbericht; gemischter Nationaler Kongreß der JS. Der Bericht bezieht sich explizit auf die belgischen JGS. 24 La Voix de la Terre, 30.11.1932: »25 000 österreichische Bauern haben sich in Wien versammelt. Bald werden es 40 000 Bauern in Paris sein.« 25 P. Burrin, Poings levés et bras tendus, la contagion des symboles au temps du Front populaire, in: Vingtième siècle 11, 1986, S. 5-20. 26 Vgl. Anm. 1. 27 Vgl. Anm. 7. 28 AN, F7 13198, Bericht von Pujovor3dem 12. Kongreß der Action Française, 25. 11. 1925. 29 E. Nadaud, Le nouveau militarisme socialiste, in: Le mouvement social 153, S. 9-32. 30 Le Progres agricole de l'Ouest, 16.6.1935. 31 Le Progres agricole de l'Ouest, 23.6.1935.

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32 IRM, IML, Rolle 22, Politbüro v. 12.5.1926. 33 AN, F7 13322, Mauer der Föderierten, Bericht v. 26.5.1926. AN, F7 13179, ARAC, Bericht v. 5.6.1926. 34 AN, F7 13322, Mauer der Föderierten, Bericht ν. 18.5.1926. 35 AN, F7 13061, Anarchisten, Bericht v. 31.5.1927. 36 AN, F7 13322, Mauer der Föderierten, Bericht der l'AIT-CGTSR, erste Regionalversammlung, Mai 1927. 37 Le Peuple, 15. Juli 1935; die Demonstranten marschierten in Nizza mit erhobener Faust, aber ohne Rufe vor dem Gebäude des »L'Eclaireur«, einer gegnerischen Zeitung, vorbei. 38 Die starke Verbreitung solcher Phänomene unter den nordfranzösischen Sozialisten erklärt sich durch die geografische Lage dieser Region, die sie besonders durchlässig für die Kulturmuster Nordwesteuropas machte. 39 Auf der Rechten verschwanden die Gruppen erst mit den Maßnahmen, die die Volksfrontregierung gegen sie in Gang setzte. 40 IRM, IML, Rolle 45, Thesen zur Selbstverteidigung, ohne Datum, Ende 1934. 41 Parti socialiste SFIO, Rechenschaftsbericht, gemischer nationaler Rat der JS, April 1934: »Die junge sozialistische Garde«. 42 D. Tartakowsky, Front populaire et renouvellement des cultures politiques, in: Le Mouvement social 153, S. 3-7. 43 D. Tartakowsky, Les premiers communistes français, Paris 1980, S. 23-50. 44 AN, F7 14975, antimilitaristische Versammlungen und Demonstrationen, Vorbeimarsch der ARAC in Saint Denis, 11.11.1926. 45 J. M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany, Bloomington 1977; H. Gruber, Red Vienna, Oxford 1991. Mit einem ähnlichen Befund siehe auch: D. Cardon u. J.-P. Heurtin, Tenir les rangs, in: P. Favre (Hg.), La manifestation, Paris 1990, S. 144-147. 46 Der »Monde ouvrier« war die Zeitung einer linken christlichen Organisation. 47 Monde ouvrier, 20.-26.7.1946.

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Rückblicke und Ausblicke

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EMMANUEL TERRAY

Das Wirkliche und das Mögliche* Handeln und Identität, Nation und Emotion aus der Perspektive des Anthropologen

Aus dem Blickwinkel des Anthropologen möchte ich in der Rückschau auf die Tagung zwei Punkte besonders hervorheben. Der erste betrifft die Debatte zwischen Historikern und Anthropologen; der zweite berührt die bewußten oder unbewußten Gründe für die Wahl unseres Themas »Nation und Emotion«. 1. Historiker und Anthropologen Das ›Wirkliche‹ und das ›Mögliche‹ Was den ersten Punkt angeht, so wurden in unserer Debatte einmal mehr die klassischen Gegensätze deutlich, die die Auseinandersetzung zwischen Historikern und Anthropologen für gewöhnlich prägen. Zugespitzt ausgedrückt: Die Historiker sind auf die Fakten bedacht und suchen nach einer Wahrheit; die Anthropologen bemühen sich dagegen um das Verstehen, indem sie nach den Bedeutungen fragen. So neigen die Anthropologen stets dazu, die Historiker des Positivismus zu verdächtigen, während die Historiker dazu tendieren, die Anthropologen des Subjektivismus und Relativismus zu bezichtigen. Meiner Ansicht nach sind die Gegensätze und die Spannungen, die sich daraus ergeben, fruchtbar und nützlich, weil sie uns erlauben, uns gegenseitig zu kontrollieren. Nichts wäre hingegen schlimmer, als die Perspektiven in der Art eines seichten Ökumenismus einander anzunähern. Dies würde nur zu einer Konfusion, zu einer ›Nacht, in der alle Katzen grau sind‹, führen. Aus meiner anthropologischen Sicht hat mich die Bedeutung, die viele Historiker der Kategorie der Realität zumessen, erstaunt. Der Historiker bemüht sich, das zu rekonstruieren, was tatsächlich stattgefunden hat, um * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate.

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es zu erklären und zu interpretieren. Vor Hypothetischem oder Spekulativem schreckt er jedoch zurück. Er interessiert sich für das, was war, und nicht für das, was hätte sein können. Im Gegensatz dazu sieht es der Anthropologe als seine Aufgabe an, angesichts eines bestimmten Problems - sei es das der sozialen Reproduktion oder das der Garantie von Gesetz und Ordnung - das Spektrum aller in Frage kommenden Lösungen zu rekonstruieren und in der Art denkbarer Varianten eines Transformationsprozesses aufzureihen. Die Zahl der Varianten ist jedoch keineswegs beliebig. Vielmehr ergibt sie sich aus einem begrenzten Inventar logischer Möglichkeiten. Es ist gerade dieses Inventar der Möglichkeiten, auf das es uns als Anthropologen in erster Linie ankommt, da sich hier die Flexibilität und die Kreativität des menschlichen Geistes zeigt. Die Beantwortung der Frage, warum sich unter diesen oder jenen Umständen eine bestimmte Möglichkeit und nicht eine andere durchgesetzt hat, überlassen wir gerne den Historikern. In seiner großen Untersuchung über »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« konstruiert Claude Lévi-Strauss anhand einiger ausgewählter Fälle verschiedene Formen von Verbindungen - den eingeschränkten Tausch, die patrilaterale Heirat, den generalisierten Tausch - und ordnet sie zu einem einzigartigen und kohärenten System.1 Die Frage, warum sich in einer bestimmten Gesellschaft bestimmte Formen des Tausches durchgesetzt haben, stellt er nicht. Die unterschiedlichen Perspektiven der Historiker und der Anthropologen bestehen also darin, daß sich der Historiker eher mit dem Wirklichen und der Anthropologe eher mit dem Möglichen befaßt. Deshalb kann der Anthropologe die Historiker an die Bedeutung der Kontingenz erinnern und sie vor allem davor warnen, das jeweils Gewesene mit dem Unausweichlichen zu verwechseln. Umgekehrt sollten sich die Anthropologen darüber im klaren sein, daß ihr Zugang bei der Untersuchung eines konkreten Falls notwendigerweise dem des Historikers sehr ähnlich ist; denn die Verschiedenheit des Ortes und die Verschiedenheit der Zeit - das ist hier deutlich geworden - sind keine fundamental unterschiedlichen Kategorien. 2. Nation und Ethnie Während der Tagung wurden eine ganze Reihe von Begriffen verwendet, die uns Anthropologen sehr vertraut sind: das Ritual, die Begräbnisfeiern, der Totenkult. Fast scheint es, als vollzöge sich in den Sozialwissenschaften, die sich mit modernen Gesellschaften befassen, eine Art allgemeiner Anthropologisierung. Es sei hier nur an die von den Historikern begründete 384 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

»Historische Anthropologie« erinnert, deren Ziele allerdings nur sehr ungemau definiert sind. Als Anthropologe sollte ich mich über diese Tendenz freuen, als Bürger beunruhigt sie mich eher. Wir haben auf unserer Tagung über Ethnien, Kulturen und Nationen nachgedacht. Ein Punkt sollte in diesem Zusammenhang, vor allem mit Blick auf ein breiteres Publikum, noch einmal besonders hervorgehoben werdien. Die gesamte Entwicklung der Anthropologie, insbesondere der Afrikanistik, läuft seit zwanzig Jahren darauf hinaus, die ›Ethnie‹ zu dekonstruieren, ihr den scheinbar natürlichen und wesenhaften Charakter zu nehmen.2 Die ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit ist keine naturhafte Gegebenheit. Sie beruht vielmehr auf historischen Prozessen und ist wandlungsfahig und veränderbar. Sie ist eine Form der Selbstidentifikation und damit eine Art Selbstdarstellung, ein Bild, das man von sich selbst entwirft. Damit gehört sie in den Bereich des Imaginären. Schließlich hat sie einen strategischen, instrumenteilen Charakter und ist an bestimmte Ziele gebunden. Analoges gilt für die Nation. Sofern man keine rein politische und kontraktuelle Definition von der Nation zugrunde legt, die mir kaum haltbar zu sein schiene, muß man zugestehen, daß zwischen der Ethnie und der Nation kein Wesensunterschied besteht. Die Ethnie ist in gewissem Sinne die Nation der anderen, vor allem dann, wenn sie arm und unterentwickelt ist. Die drei Begriffe, die hier für die Ethnie als maßgeblich angesehen wurden, gelten in gleicher Weise für die Nation: Geschichte, Selbstdarstellung, Strategie. Doch selbstverständlich hat das Artifizielle seine Grenze. Die Nation beinhaltet immer sowohl etwas Ererbtes als auch etwas Konstruiertes, wobei die Konstruktion gegenüber dem Ererbten nie gänzlich indifferent sein kann. Es bleibt die Frage, wo der Hauptaspekt liegt. Anders ausgedrückt: Man sollte den Erfindungsreichtum, die Fähigkeit, Gemeinschaften neu zu begründen, nicht unterschätzen. Um es mit Malraux auszudrücken: »Es gibt [bei der Zugehörigkeit zur Nation] ein Gefühl der Unausweichlichkeit und eine Betonung des Willensaktes. Jedesmal, wenn die Unausweichlichkeit über den Willensakt siegt, werde ich mißtrauisch.«3 Ich teile dieses Mißtrauen aus politischen und wissenschaftlichen Gründen. In den Begriffen der Ethnie und der Nation, so wie sie in der Politik und in den Medien gebraucht werden, steckt die Tendenz, sie als etwas Natürliches und Wesenhaftes anzunehmen. Die Ethnie oder die Nation - definiert als Verbindung kultureller Gegebenheiten - wird nach dem Modell von Tier- oder Pflanzenarten gedacht, die am besten durch die Elimination von Hybriden rein gehalten werden sollten. Auf diese Weise wird die Ethnie zu einem bevorzugten Instrument der Einteilung und der Ausschließung. 385 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Der Rückzug auf sich selbst im Schoße der Nation oder der Ethnie kann leicht die Illusion von Sicherheit und Intimität liefern. Doch sollte man sich dabei Freuds Warnung aus »Unbehagen in der Kultur« ins Gedächtnis rufen: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.«4 Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es daher, Verzerrungen und Deformationen der Begriffe Ethnie und Nation zu widersprechen. Diese Wachsamkeit ist umso wichtiger, als die Anthropologisierung der Sozialwissenschaften, von der oben die Rede war, nicht nur eine einfache Modeerscheinung ist. 3. Identität und Handeln Als ich in Berlin ankam, lautete das Thema der ersten Arbeitsgruppe, an der ich teilnahm, »Die Identität«. Seitdem ist kein Monat vergangen, ohne daß nicht in Frankreich oder in Deutschland eine Tagung mit diesem oder einem ähnlichen Thema stattgefunden hat. Dieses neue wissenschaftliche Interesse spiegelt eine Entwicklung der alltäglichen Realität wider. Es ist unübersehbar, daß seit einigen Jahren das Nationale wieder zunehmend an Bedeutung gewinnt, sich die Politik ethnisiert und sich Gemeinschaften bilden, die danach trachten, zu Mediatoren zwischen dem Staat und den Individuen zu werden. Wir hören jeden Tag von »ethnischen Säuberungen«, und in unseren Zeitungen stehen nicht mehr Parteien oder Klassen, sondern Völker - Serben, Kroaten, Slowaken, Bosnier - in den Schlagzeilen. Die wachsende Bedeutung des Problems der Identität ist eine Folge dessen, was man gewöhnlich den Zusammenbruch der Ideologien und der Blöcke, die diese Ideologien zementierten, nennt. Das ist eine banale These, deren Folgen jedoch nicht mehr zu übersehen sind. Die historische Epoche meiner Generation war auf politischer Ebene von der Konfrontation der Blöcke und auf intellektueller Ebene von der Auseinandersetzung der Ideologien geprägt. Nun kann man den Ideologien ohne Zweifel vieles vorwerfen, ihren utopischen Charakter, ihren Manichäismus, ihre Blindheit und ihre mörderischen Folgen, doch diese Ideologien stellten ihre Reflexionen und ihre Handlungen in einen universellen Rahmen. Sie strebten jenseits von Rassenunterschieden und nationalen Grenzen nach einem für alle Menschen gültigen Ideal. Sie erhoben den Internationalismus zu einem Wert. Dies gilt nicht nur für die marxistische, sondern auch für die liberale Ideologie. Für jemanden wie Stefan Zweig war Kosmopolitismus ein Wert, und der Zusammenbruch dieses Wertes trieb ihn, der in Berlin und Wien ebenso zu Hause war wie in Paris und London, 1943 in den Selbstmord. 386 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Das. Ideal, das von diesen Ideologien angestrebt wurde, war rational. Es ging darum, die Natur, den Zufall, das Gegebene hinter eine logische, rationvale Organisation des sozialen Lebens zurücktreten zu lassen. Dabei ist es zweifellos unabdingbar, die Perversionen und die verheerenden Auswiirkungen deutlich zu machen, die diesen Ideologien inhärent sind. Ebenso sollte man sich die Kritik Burkes an jeder Form des sozialen Konstruktivismus und dessen vermessenen und hybriden Charakter ins Gedächtnis rufen. Was bleibt, ist jedoch, daß diese Ideologien davon ausgingen, daß der Mensch nicht nur ein von der Natur determiniertes Wesein, sondern ein gesellschaftliches Produkt, eine gesellschaftliche Konstruktion ist. Der Mensch definierte sich nicht über das, was er war, sondern was er aus sich und den anderen machte. Daher beschäftigte man sich weniger mit der Identität, dem Sein, sondern mit dem Handeln. In demselben Zusammenhang kann man sich fragen, ob der Zusammenbruch der Ideologien nicht auch einen Rückzug des Universellen gegenüber dem Partikularen, dem einzelnen oder dem Unterschied und schließlich auch einen Rückzug der Vernunft zugunsten der Leidenschaften, der Emotionen oder der Triebe bedeutet. Der Zusammenbruch der Ideologien und der Blöcke vermindert die Teilung der Welt undfördertderen Homogenität. Demokratie und Marktwirtschaft sind zu allgemeingültigen Werten geworden, doch diese Vereinheitlichung spielt sich auf einem primitiven Niveau ab und führt zu einem Zustand, den Hobbes den »Krieg aller gegen alle« nannte. Welche Institutionen und Kräfte sind heute noch transnational geblieben? Der Sport zählt, nach dem, was wir hier gehört haben, nicht dazu. Er ist ein Ort der Konfrontation und nicht der Gemeinschaftlichkeit oder des Zusammenschlusses. Es bleibt also zum einen der Bereich des Geldes, da ökonomische Organisationen immerhin als multinational bezeichnet werden können. Aber dieser Multinationalismus lebt vom Wettbewerb und ist seinem Wesen nach nicht konfliktmindernd; nicht umsonst spricht man vom »Wirtschaftskrieg«, um die hier herrschenden Verhältnisse zu kennzeichnen. Zum anderen sind hier vor allem die Religionen zu nennen, insbesondere die zwei großen Konfessionen, der Katholizismus und der Islam. Die Kirche und die »Umma« sind die beiden letzten großen Internationalen der Welt. Tschenstochau, Lourdes, Compostela oder Mekka sind die letzten Orte internationaler Verschmelzung in der heutigen Zeit. Bedauerlicherweise ist nicht gewährleistet, daß diese Art des Internationalismus mit Vernunft, Toleranz und Aufklärung verbunden ist. Viel zu oft betreibt er den Zusammenschluß im Fanatismus und trägt auf diese Weise zum Triumph des Primitivismus, zu jener Rückkehr zum Elementaren bei, die mir das Ende dieses Jahrhunderts zu kennzeichnen scheint. Festhalten läßt sich, daß sich die Anthropologie und die anderen Sozial387 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Wissenschaften immer zwischen Polen bewegen, die sich symmetrisch und gegensätzlich zueinander verhalten: dem des Unterschieds und dem der Identität. Ausgehend von den offensichtlichen Ähnlichkeiten öffnet sich der Blick für die unzähligen Unterschiede: Menschen wie wir, die einen Körper wie wir haben, schlafen, essen, sprechen, arbeiten, lieben und leiden wie wir, werden dann zu Personen, deren Handeln von einer ganz anderen Logik bestimmt wird und deren Leidenschaften von ganz anderen, uns gänzlich fremden Dingen bewegt werden. Umgekehrt kann man, ausgehend von fremden Bräuchen, bizarren Diskursen, exotischen Schauspielen, zum Wesen des Menschen gelangen, den seit Tausenden von Jahren dieselben Fragen über die Zeit, das Leiden, und den Tod beschäftigen. Diese beiden Pole sind in meinen Augen konstitutiv für die Sozialwissenschaften. Es wäre sinnlos, einen von ihnen ausschließen zu wollen - auch wenn von der Bedeutung her einmal der eine und einmal der andere Zugang dominiert. Es bleibt zu hoffen, daß zumindest die Wissenschaftsgemeinschaft in dieser Epoche des Wiederaufkeimens des Nationalismus und der »ethnischen Säuberungen« daran erinnert, daß es nur ein Menschengeschlecht gibt, deren Variationen nicht nur koexistieren können, sondern auch miteinander sprechen und sich verstehen müssen.

Anmerkungen 1 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandschaft, Frankfurt/M. 1981. 2 Siehe z.B. J.-L. Amselle u. E. M'Bokolo (Hg.), Au coeur de l'ethnie. Ethnies, tribalisme et Etat en Afrique, Paris 1985. 3 Λ. Malraux, La condition humaine, Paris 1984, S. 139. 4 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, zit. nach: Ders., Studienausgabe, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 1974, S. 243.

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JÜRGEN KOCKA

Faszination und Kritik Bemerkungen aus der Perspektive eines Sozialhistorikers

I. Historiker finden es bisweilen schwierig, die große Anziehungskraft zu erklären, die das Nationale auf viele Menschen ausübt. Sie tun sich schwer, die erstaunliche Überlebenskraft nationaler Identifikationen über lange Zeiträume hinweg begreiflich zu machen. Auch das Verstehen nationalistischer Leidenschaften fällt post-nationalistischen Historikern häufig nicht leicht. Diese Konferenz hat viele Bausteine geliefert, diese Erklärungs- und Verständnisprobleme zu lösen. Es ging um die Verankerung des Nationalen im »Tiefenraum der Gesellschaft« (Inge Baxmann). Es ging um die nationale Durchdringung und Prägung des sozialen und kulturellen Lebens, um die nationale Dimension von Erfahrungen und Erwartungen, um den Zusammenhang zwischen Nationalem und Ästhetischem. Es ging um die Strategien dieser Verankerung und Durchdringung, wobei rituelle und symbolische Praktiken im Vordergrund standen. Die überraschendsten gedanklichen Verbindungen wurden hergestellt. Befunde wurden zusammengedacht, die sonst nicht in Verbindung gebracht werden. Nation und Tanz etwa, Natur als Erinnerung, die Nation als intergenerationeller Zusammenhang. Dies war anregend, es gab Überraschungen, man lernte - als Historiker - viel. II. Historiker, die sich mit Nation und Nationalismus beschäftigen, interessieren sich besonders für Veränderungen in der Zeit und unterscheiden zwischen Phasen. So hat Heinrich August Winkler mit vielen anderen das Kriterium der gesellschaftlich-politischen Funktionen des Nationalismus in den Vordergrund gestellt, um zwischen einer eher »linken« emanzipatorischen, traditionskritischen Phase des Nationalismus (in Deutschland bis in 389 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

die 1870er/80er Jahre) und einer eher »rechten« reaktiven, antidemokratischen und antiliberalen Phase des Nationalismus - vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs - zu unterscheiden, wobei vielleicht zusätzlich eine dritte Phase des gebremsten, sich nicht absolut setzenden Nationalismus im »erwachsenen« Nationalstaat heute unterschieden werden kann.1 Historiker arbeiten gern mit Typologien. So etwa hat Theodor Schieder zwischen drei Typen europäischer nationaler Bewegungen unterschieden: solchen des Westens, die sich auf der Grundlage vorweg gesicherter Territorialstaaten entwickeln konnten; einem mitteleuropäischen Typ von Nationalbewegungen, die den Nationalstaat durch Zusammenfügung kleinerer Einheiten herstellen mußten und sich schon deshalb zu ihrer Begründung nicht auf Staat und Verfassung, sondern auf Sprache, Geschichte, Kultur und Volk berufen mußten; schließlich einem osteuropäischen Typ von Nationalbewegungen, die sich durch den Angriff auf und die Zerstörung von übernationalen Hegemonialreichen verwirklichten.2 Weder die genaue Identifikation von Entwicklungsphasen noch der typologische Vergleich standen hier jedoch im Vordergrund. Sicher, es gab einige Periodisierungsversuche: so wurde etwa die gewichtige Zäsur des Ersten Weltkriegs deutlich herausgearbeitet. Es gab auch einige deutschfranzösische Vergleiche, die an Schieders Typologie erinnerten und sie bestätigten. Aber im ganzen war der systematisch-kontrastive Vergleich von Phasen und Fällen nicht zentral für die Diskussion. Sofern man verglich, traten vor allem Ähnlichkeiten hervor. Wie stellt man sich dazu? Haben Historiker die Unterschiede zwischen den Phasen und den Ländern überschätzt? Sollten sie sich im Licht der kulturhistorischen Sichtweisen korrigieren? Oder tendieren umgekehrt die kulturhistorischen und kulturanthropologischen Forschungsansätze allzu sehr dazu, von den konkreten Kontexten der Ökonomie und des Rechts zu abstrahieren? Diese Fragen wird man erst präziser verfolgen können, wenn die herkömmlichen Ansätze sozial- und politikhistorischer Herkunft und die neueren Ansätze kulturgeschichtlich-anthropologischer Art enger verknüpft werden, als dies auf der Konferenz gelang. Ein gewisses Nebeneinander der Ansätze ist gegenwärtig zu beobachten, doch wird dies nicht das letzte Wort sein können.

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III. Die Historikergeneration, der ich angehöre, hat das Phänomen des Nationalen durchaus bearbeitet, aber eher distanziert und kritisch. Die Erwartung einer post-nationalen Zukunft und die Orientierung an universellen Normen spielten dabei eine Rolle. Die kritische Grundhaltung öffnete die Augen für die ausgrenzenden, diffamierenden, gewaltsamen und vernichtenden Folgen, die mit dem Nationalen verbunden sein können, wie es nicht erst in der Zeit der Weltkriege offenkundig geworden ist. Möglicherweise war diese Haltung unter Historikern in Deutschland besonders ausgeprägt, da hier die Perversionen des Nationalismus besonders eindringlich erlebt worden waren. Irre ich mich, wenn ich konstatiere, daß diese grundsätzlich kritische Haltung gegenüber dem Nationalen auf dieser Konferenz nicht dominant war? Sicherlich war man von der unkritischen Affirmation, gar Verherrlichung des Nationalen, weit entfernt. Der Tenor vieler Beiträge und Diskussionsbemerkungen wandte sich gegen jede Substantialisierung der nationalen Zugehörigkeit. Deren Künstlichkeit wurde außerordentlich deutlich. Insofern herrschte durchaus ein kritischer Umgang mit dem Phänomen des Nationalen vor. Aber anderseits haben die Diskussionen die Faszination des Nationalen zurückgeholt. Bisweilen erlaubte man es sich, in den rekonstruierten Inszenierungen zu schwelgen. Es gehörte zu den Stärken vieler Beiträge, etwas von dem Zauber verständlich zu machen, den die nationale Symbolik auf die Zeitgenossen ausgeübt hat. Aber ich habe den Eindruck, daß die andere Seite des ambivalenten Phänomens nicht in gleicher Eindringlichkeit rekonstruiert wurde: die Bösartigkeit des Nationalen, die Verunglimpfung, Verachtung und Vernichtung des (der) Fremden, die mit ihm verbunden sein konnten und können. Das Nationale, der Nationalismus, die nationale Affirmation hat verschiedene Funktionen, die der Integration und der Sinnstiftung, aber auch die der Ausgrenzung und der gewaltsamen Homogenisierung. Auf dieser Konferenz ist die Funktion der Sinnstiftung und damit der Integration sehr betont worden. Stellt dies eine gewisse Einseitigkeit dar? Wenn ja, hängt sie mit dem kulturanthropologischen Ansatz als solchen zusammen? Oder eher mit dem heutigen Zeitgeist? Es wurde z.B. betont, daß der nationale Totenkult eine »Gegengabe der Nation« für das Opfer des individuellen Lebens darstellte, eine Gegengabe, die natürlich nur noch der Erinnerung der toten Soldaten und damit den Hinterbliebenen zugute kommen konnte, eine Gegengabe, die dem großen Opfer des Lebens, dem Tod auf dem Schlachtfeld, Sinn gäbe und Erinnerung freisetze. Aber gibt es nicht auch ideologische oder gar verloge391 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

ne Sinnzuschreibungen? Ist solche Erinnerung nicht immer sehr selektiv, beschönigend und trotz aller Trauer harmonisierend? Folgt nicht aus den Grundprinzipien kritischer Wissenschaft, daß man dies herausarbeitet? Es wurde viel über Mythen gesprochen. Aber wenn man als Wissenschaftler von Mythen redet, dann soll man die Mythenkritik nicht aussparen, man soll sagen, in welcher Weise Mythen selektiv sind, was sie abblenden und weglassen; man soll sagen, daß sie sich gegen die Überprüfung im Diskurs sperren und gegen Argumente wie gegen Evidenz immun sind; man soll klar zwischen ihrem Realitätsgehalt und ihrer Verzerrungsleistung unterscheiden; man soll nicht mythisch über Mythen sprechen, sondern wissenschaftlich, d.h. im Geist der Aufklärung. Wenn Emmanuel Terray recht hat, daß Patriotismus ohne Mythen nicht zu haben ist, dann möchte ich zugleich über den Preis diskutieren, der dafür zu zahlen ist. IV. Kritische Historiker haben bei der Analyse des extremen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts lange seinen manipulativen Charakter überzeichnet und ihn allzu sehr als Produkt von Herrschaft verstanden - »von oben« indoktriniert, verbreitet und als Mittel »sekundärer Integration« bewußt eingesetzt. Sofern es der Korrektur solcher älterer Ansätze noch bedarf, trugen die Diskussionen dieser Konferenz dazu bei. Sie haben die starken Einflußnahmen gezeigt, die von den gesellschaftlichen Milieus und ihren Erfahrungen ausgingen. Ein Wechselverhältnis zwischen »unten« und »oben« ist erkennbar geworden, z.B. im Kult um die Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts. Ob der Begriff des »Aushandelns« dieses Wechselverhältnis wirklich trifft, mag dahingestellt bleiben. Doch die Kategorie der »sozialen und kulturellen Praxis« erweist sich hier doch als äußerst brauchbar und im Prinzip geeignet, die nötige Verbindung zwischen Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte ebenso wie die wünschenswerte Verbindung zwischen Diskurs- und Strukturgeschichte zu leisten.

Anmerkungen 1 H.A. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: Geschichte und Gesellschaft 4, 1978, S. 5-28. 2 T. Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in: Historische Zeitschrift 202, 1966, S. 58-81.

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JEAN-FRANÇOIS SIRINELLI

Politische Kultur und nationale Emotionen* 1. Politische Kultur Lange Zeit haben sich die Historiker bei der Untersuchung des Nationalgeruhls vornehmlich auf die politischen Ideen und Theorien konzentriert. Für die Analyse der zwei oder drei Wendejahrzehnte zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden daher in Frankreich immer wieder Maurice Barrès und Charles Maurras herangezogen. Aus der Distanz betrachtet, wirft dieser Zugriff jedoch mehr Probleme auf, als er zu lösen vermag. Der Wissenschaftler rekonstruiert dabei in erster Linie ein von Intellektuellen entworfenes ideologisches Gebäude. Doch werden die Erwartungshorizonte der Völker allein von solchen ideologischen Gebäuden bestimmt?1 Die Antwort ist natürlich negativ. Die Kultur der politischen Kräfte eines Landes ist ein bunt zusammengesetztes Ensemble, das sich auch aus anderen Quellen speist. In diesem Zusammenhang kann sich der Begriff der politischen Kultur, der sich unter französischen Historikern einzubürgern beginnt, als besonders wertvoll erweisen. Dieser Begriff könnte nicht nur eines der Fermente für die Wiederbelebung der politischen Geschichte in Frankreich sein, sondern er liefert auch einen möglichen Zugang zu dem Verhältnis von »Nation und Emotion«.2 Unter »politischer Kultur« soll hier »eine Art Code und ein Ensemble von Referenzen« verstanden werden, »die sich in einer Partei oder weitaus diffuser in einer Familie oder einer politischen Tradition herausbilden«.3 Ein solcher Begriff ist für eine Untersuchung des Nationalgefühls deshalb wertvoll, weil er es erlaubt, jene emotionale Bindung an die Nation auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen zu analysieren. Da ist zuerst die Ebene des Nationalstaats, die einen historischen wie geopolitischen Zugriff verlangt, indem man fragt, auf welche Weise sich der Nationalstaat konstituiert hat und welche Beziehung er zu anderen Nationalstaaten unterhält. Daneben gibt es die Ebene der Repräsentation. Wie nahmen die Zeitgenossen den Nationalstaat wahr? Welche politische, soziale, konfessionelle, * Aus dem Französischen übersetzt von Jörg Requate.

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ethnische und regionale Varianten wies diese Wahrnehmung auf? Auch hier öffnen sich zwei Ebenen: wie die Nation ist, und wie sie sein sollte. Denn eine Nation ist nicht nur konstruiert, sondern sie muß auch weiterhin an ihrer Konstruktion arbeiten, indem sie sich immer wieder darstellt und inszeniert, aber auch indem man sie sich vorstellt und ihre Inszenierung wahrnimmt. Der oben definierte Begriff der politischen Kultur ist bei der Betrachtung solcher Probleme der Repräsentation der Nation äußerst fruchtbar, da er es erlaubt, Brücken zwischen dem politischen und dem sozio-kulturellen Bereich zu schlagen, die im historischen Zugriff bislang weitgehend getrennt behandelt wurden. Das gilt jedoch nur insoweit, als man nicht denselben methodischen Irrtum begeht, der der politischen Ideengeschichte stark geschadet hat. Dieser Irrtum bestand darin, daß die Ideen häufig nur für sich, ohne Berücksichtigung des jeweiligen historischen Kontextes untersucht worden waren. Für die politische Kultur wäre diese Vernachlässigung umso verhängnisvoller, als die jeweiligen politischen Kulturen in weiten Teilen durch die Geschichte geprägt wurden und diese Prägung in hohem Maße weiter behalten. In besonderem Maße gilt dies für die Zeit zwischen 1870 und 1962 in Frankreich, in der die Kriege tiefe Spuren »im materiellen Bereich, in der städtischen Topographie, dem Kalender, der kollektiven Vorstellungswelt, der Erinnerung« hinterlassen und damit »ebenso viele Elemente der nationalen Identität« geschaffen haben.4 Am Anfang dieser Periode war die republikanische Kultur von den Auswirkungen des Krieges von 1870/71 geprägt und bildete so eine Art Humus, auf dem die ›Emotionen‹ des Fin de Siècle gediehen.5 Am Ende dieser Periode waren die großen ›Emotionen‹ für die nach den Welt- und den Kolonialkriegen geborenen Generationen dagegen nicht mehr an die Probleme von Krieg und Frieden gebunden, so daß Frankreich zum Beispiel die pazifistischen Wellen, die West-Deutschland in den Jahren zwischen 1970 und 1980 erreichten, nicht kannte. 2. Ideologien und kollektive Emotionen Eine der Schwierigkeiten der Erforschung der politischen Kulturen besteht darin festzustellen, wie sie sich mit den oben erwähnten politischen Ideen verbinden. Im Hinblick auf das hier betrachtete Thema kommt aber noch ein anderes Problem hinzu: Nähren sich die Ideologien von den großen kollektiven Emotionen, oder tragen sie nur dazu bei, diese zu verändern und zu verstärken? Die Antwort auf diese Frage tendiert ohne Zweifel je nach historischer Situation stärker in die eine oder in die andere Richtung. Die »Action française« wurde zum Beispiel von einer Reihe von Grundsät394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

zen getragen, die auf den Überlegungen von Charles Maurras beruhten, die aber ohne eine Untersuchung des historischen Kontextes, des Desasters von 1870 und den daraus resultierenden nationalistischen ›Emotionen‹, nicht verstanden werden können. Aus dieser Perspektive wird deutlich, daß der Weg über die politischen Ideen allein das Problem verkürzt, da er einen Teil der historischen Wirklichkeit ausblendet. Dagegen erlaubt die Ebene der politischen Kulturen einen sehr viel umfassenderen Zugang, insbesondere wenn das Gewicht der Vergangenheit und die prägende Wirkung der Erinnerung in Rechnung gestellt werden. Die Vorstellung, die eine nationale Gemeinschaft - oder ein Teil von ihr - von der Vergangenheit hat, ist in der Tat essentiell. Denn diese Vergangenheit, die durch das Prisma einer zwangsläufig verzerrenden Erinnerung gesehen wird, lastet auch auf der Wahrnehmung, die die nationale Gemeinschaft von ihrer Gegenwart hat, und auf der Vorstellung, die sie sich von ihrer Zukunft macht.

Anmerkungen 1 Zu der Bedeutung des Begriffes ›Erwartungshorizont‹ vgl. J.-F. Sirinelli u. E. Vigne, Des droits et du politique, in: J.-F. Sirinelli (Hg.), Histoire des droites en France, Bd. 1, Paris 1992, S. XXXVI. 2 Vgl. etwa Ders., Le retour du politique, in: Ecrire l'histoire du temps présent, Paris 1993. 3 Präziser für die konstitutiven Elemente einer politischen Kultur vgl. Ders., Histoire, Bd. 2, S. III. 4 R. Rémond, Mémoires des guerres, in: P. den Boer u. W. Frijhoff (Hg.), Lieux de mémoire et identités nationales, Amsterdam 1993, S. 265-279, hier S. 270. 5 J. El Gammal, La Guerre de 1870-1871 dans la mémoire des droites, in: Sirinelli, Histoire, Bd. 2, S. 471-504.

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ALLAN MITCHELL

Nationalfeiertage im Vergleich: Deutschland, Frankreich und die USA Gibt es einen europäischen Typus des Rituals? Aus einer transatlantischen Perspektive ist diese grundlegende Frage eher zu bejahen. Wenn ein Amerikaner versucht, die nationalen Mythen Frankreichs und Deutschlands zu vergleichen, überwiegen gerade im Gegensatz zu den USA eindeutig die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Entstehung der jeweiligen Nationalfeiertage im 19. Jahrhundert und ihre weitere Entwicklung im 20. Jahrhundert betrachtet. Die amerikanischen Traditionen zeichnen sich nämlich hier durch eine lang anhaltende und relativ ungestörte Beharrlichkeit aus. Seit mehr als zwei Jahrhunderten feiert der Durchschnittsamerikaner seine Nationalfeste zwar nicht ohne Leidenschaft, aber meist ohne Skrupel, genau wie seine Vorfahren und genau wie seine Enkelkinder. Erinnert sei hier nur an den 4. Juli und das Thanksgivingfest. I. Man kann durchaus von einer amerikanischen Revolution im Jahre 1776 sprechen. Die gemeinsamen Züge der fast zeitgleichen Umwälzungen in Amerika und Frankreich werden in angesehenen wissenschaftlichen Werken sogar ausdrücklich betont.1 Trotzdem feiert der Durchschnittsamerikaner am 4. Juli doch keineswegs einen siegreichen Klassenkampf, sondern einen gelungenen Unabhängigkeitskrieg. Dieser nationale Feiertag wird vom Volk unbeirrt als »Unabhängigkeitstag« (»Independence Day«) bezeichnet. Wenn überhaupt eine echte historische Erinnerung dabei wachgerufen wird, dann ist nur noch von der Unabhängigkeitserklärung die Rede. Und wer, abgesehen von einigen Tories im ausgehenden 18. Jahrhundert, soll etwas dagegen haben, daß die Vereinigten Staaten von Amerika unabhängig sind? Nur zweimal in der erstaunlich kontinuierlichen Geschichte der USA sind die damit verbundenen Rituale der »Stars and Stripes« am 4. Juli ernsthaft in Frage gestellt worden. So war der Bürgerkrieg der 1860er Jahre eine dramatische Zerreißprobe, als im Lande

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gleichzeitig zwei Fahnen wehten und Männer in auffallend unterschiedlichen Uniformen gegeneinander kämpften. Der eindeutige Sieg der Nordstaaten bedeutete aber selbst in den Südstaaten eine Fortsetzung der alten Symbolik und der üblichen Art des Feierns. Genau ein Jahrhundert später tobte der Vietnam-Krieg, der in ganz anderer Weise drohte, das amerikanische Volk und sein nationales Selbstverständnis zu spalten. Bekanntlich nahm die lebhafte Protestbewegung gegen das amerikanische Engagement in Südostasien den 4. Juli zum Anlaß, zu großen Demonstrationen gegen den verhaßten Krieg aufzurufen; mit der unverblümten Absicht, die traditionell öffentlich veranstalteten Feierlichkeiten zu stören und vereiteln. Mit dem ruhmlosen Ende des Krieges flaute auch die Trotzwelle ab, so daß sie lediglich als eine vorübergehende, wenn auch noch durchaus problematische Episode im nationalen Gedächtnis der Amerikaner haften blieb. Nach wie vor wird der 4. Juli daher im wahrsten Sinne vom ganzen Volk als Nationalfeiertag zelebriert, an dem alle Mitbürger recht unbekümmert teilnehmen können.2 Ahnlich ist es mit dem Thanksgivingfest. Nach dem amerikanischen Mythos liegt der Ursprung dieses großen Nationalfeiertags, der das viel bescheidenere europäische Erntedankfest an Bedeutung weit übertrifft, in den Jahren nach der Ankunft der ersten Siedler aus England im frühen 17. Jahrhundert. Doch eigentlich hat er sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts als Nationalfeier eingebürgert. Es wurde und wird an diesem Tag gefeiert, daß Menschen unterschiedlicher Herkunft in der Neuen Welt eine gemeinsame Heimat gefunden haben, »das Land der Freien und die Heimat der Mutigen«, wie es in der amerikanischen Nationalhymne heißt. Das ganze Volk soll an diesem Tag seinen Dank dafür ausdrücken, daß alle »Boatpeople« - von den ersten Puritanern bis zu den letzten Vietnamesen - das große Glück haben, Amerikaner zu sein. Dabei wird allerdings unwillkürlich einiges gern übersehen oder verdrängt. So denkt man selten an die Uramerikaner, die Indianerstämme, die vertrieben wurden, um Platz für die Eindringlinge zu schaffen. Vielmehr bildet man sich ein, daß ursprünglich auch sie wohlgesinnt am prachtvoll beladenen Festmahlstisch dabei waren. Gleichfalls wird die Armut im Lande verdrängt. Die opulenten Abendessen, die an diesem Tage im späten November überall in den Vereinigten Staaten stattfinden, werden kaum durch Gedanken an die Obdachlosen der Großstädte getrübt, weil man annimmt, sie würden wenigstens für diese Feststunden von Kirchen und Wohlfahrtsstellen angemessen versorgt. Das gemeinsame Thanksgiving-Erlebnis der überwiegenden Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ist also ein gesegnetes Zusammensein mit Verwandten und Freunden, das jährlich eine harmonische, seit mehreren Generationen bestehende Volkstradition ununterbrochen und ungeniert fortsetzt.3 397 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

II. Ganz anders in Europa. Was die modernen Nationalstaaten des alten Kontinents gemeinsam haben - und dies sieht man besonders im Kontrast zu Amerika - ist, daß die Kontinuität ihrer Geschichte immer wieder unterbrochen wurde. Folglich sind ihre politischen Mythen und Rituale relativ kurzlebig. Das Zelebrieren von Nationalfeiertagen blieb daher in Deutschland und in Frankreich nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch später immer wieder umstritten und äußerst problematisch. Im deutschen Kaiserreich nach 1870 mußte man ganz neue Feierlichkeiten einführen, weil die ›verspätete Nation‹ bis dahin keine gemeinsamen Feste vorzuzeigen hatte (allenfalls könnte man hier die konfuse nationale Symbolik des Wartburgfestes vom Jahre 1817 erwähnen). So wurden der Sedantag und in zweiter Linie der Kaisergeburtstag plötzlich zu Nationalfeiern hochstilisiert. Diese waren aber nicht nach jedermanns Geschmack. Ein deutscher Katholik konnte sich in den 1870er Jahren an diesen Festen ebensowenig wirklich freuen wie ein Sozialist in den 1880er Jahren; von den zahlreichen Elsässern und Polen ganz zu schweigen. In den gutbürgerlichen Kreisen, vor allem in Preußen, kam die Kriegs- und Kaiserverehrung vielleicht gut an, außerhalb dieser Gruppen aber weniger. Mit der Revolution von 1918 mußte dann alles sprunghaft umgedeutet werden, einschließlich der Fahnen und Mythen. Eine große Schwäche der Weimarer Republik war daher auch das Fehlen von Nationalfeiertagen, an denen alle freudig teilnehmen konnten. Sedan und Kaiser waren nicht mehr gefragt, und der 9. November 1918 (geschweige denn 1923) bot keinen Ersatz.4 Wovon Weimar zu wenig hatte, gab es in der NS-Zeit zu viel. Nicht nur der Führergeburtstag am 20. April, sondern auch etliche andere historische Momente der Parteigeschichte wurden als Festlichkeiten der nationalen Erhebung ausgerufen. Es wurde in Nazi-Deutschland ständig marschiert, wenn auch manchmal widerwillig. Nach der Niederlage und der Auflösung des Dritten Reiches im Jahre 1945 wurden auch die bisherigen Nationalfeiertage aufgehoben, so daß wenigstens in dieser Beziehung sicher von einer ›Stunde Null‹ die Rede sein kann. Es reicht hier wohl, zwei Beispiele des problematischen Charakters der deutschen Nationalfeiertage in der Nachkriegszeit zu erwähnen. Zum einen fällt der Streit um den 20. Juli 1944 auf, der sich nur schwerlich für eine solche nationale Feier eignet, weil das deutsche Volk niemals seine Unschlüssigkeit zu überwinden vermag, ob es sich bei dem Attentat auf Hitler um eine Heldentat oder um Hochverrat handelte. Nicht weniger fragwürdig scheint der neueste Versuch, aus dem 3. Oktober einen Feiertag für das ganze Volk zu machen. Denn weder wird diese Feier in den alten und in den neuen Bundesländern mit ungehemmtem Enthusiasmus aufge398 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

nommen. Noch kann sie auf beiden Seiten der nunmehr unsichtbaren Mauer die gleiche Bedeutung besitzen.5 Die Deutschen tun sich also mit nationalen Ritualen denkbar schwer. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hat Deutschland ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und sieht sich infolgedessen immer wieder gezwungen, die nationalen Feiern, Mythen und Rituale an die neuen politischen Gegebenheiten anzupassen bzw. mit einer neuen nationalen Mythosbildung anzufangen. III. Frankreichs Uhren gehen bekanntlich anders, jedoch in einem vergleichbaren Tempo wie in Deutschland. Man irrt, wenn man annimmt, daß die französische Geschichte viel glücklicher als die deutsche gewesen ist und daß Frankreich eher zu dem amerikanischen als zu dem deutschen Typus neigt. Auch dort ist nämlich ein häufiger Bruch der stets umstrittenen nationalen Traditionen zu beobachten, der die Franzosen oftmals dazu zwang, neue Riten und Mythen zu erfinden. Zweifellos ist es ein Grundfehler, in der Deutung der französischen Geschichte zu meinen, daß Frankreich, weil es selbst keinen Nationalsozialismus hervorbrachte, eine ungebrochenere gemeinsame nationale Erfahrung als Deutschland gehabt hätte. Sicherlich nicht, denn in dieser Hinsicht sind sich Frankreich und Deutschland ähnlicher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie sind durchaus vergleichbar und verdienen es, von der komparativen Geschichtswissenschaft nebeneinander behandelt zu werden. Betrachtet man die Nationalfeiertage Frankreichs, ist natürlich als erster der 14. Juli 1789 zu erwähnen. Offiziell wurde dieses Fest aber erst von der Dritten Republik im Jahre 1880 eingeführt. Auch ging dies nicht ohne heftige Auseinandersetzungen vor sich. Während einige Franzosen an diesem Tag des Sieges von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gedachten, erinnerten sich andere an Klassenkampf, Guillotine und Terror. Wie die Bastille, bleibt auch die Marseillaise von dubioser Symbolik: »Möge ein unreines Blut unsere Äcker tränken!« Aber wessen Blut war das eigentlich? Deutsches, aristokratisches, oder einfach das Blut irgendwelcher Feinde? Nicht jeder hat sich freiwillig dem aggressiven Text der französischen Nationalhymne angepaßt oder den Aufstieg der politischen Linken anstandslos als historischen Fortschritt gedeutet.6 Nicht anders erging es während der Dritten Republik sämtlichen religiösen Feiertagen. Allerheiligen war im späten 19. Jahrhundert von den französischen Antiklerikalen, die nach und nach die politische Oberhand gewannen, strikt abgelehnt und verunglimpft worden. Dies war Ausdruck der 399 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

in keiner Weise harmonisch verlaufenden Trennung von Staat und Kirche, die sich im Jahre 1905 in der Folge der Dreyfus-Affäre vollzog und eine tiefe Kluft in der Nation offenbarte.7 Ebenso kann man die bekanntesten Schlüsselereignisse der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts aneinanderreihen: 1815, 1830, 1848, 1851, 1870, 1873, 1877 und so weiter bis 1914. Keines dieser Daten eignete sich ohne weiteres für eine Nationalfeier. Stattdessen kam es mit jeder neuen politischen Führung auch zu neuen öffentlichen Symbolen und Riten. Auch im 20. Jahrhundert ist Frankreichs Schicksal nicht weniger stürmisch gewesen. Man denke etwa an die tiefe Krise des Ersten Weltkrieges, die nur provisorisch und unzureichend von der Parole der »heiligen Einheit« (»union sacrée«) überdeckt wurde, oder an die danach wieder aufflammenden politischen Schwierigkeiten der späten Dritten Republik, die Ausschreitungen der 1930er Jahre, das mißglückte Experiment der Volksfront und den militärischen Zusammenbruch im Juni 1940. In dieser ganzen Zeit konnte von einem einheitlichen Nationalbewußtsein keine Rede sein, noch weniger aber während der bitteren Demütigung der Kriegsjahre, des Vichy-Regimes und der deutschen Besatzung. Anders als die Deutschen, aber kaum weniger traumatisch, erlebten die Franzosen damit einen drastischen Bruch in ihrer Geschichte.8 Das Jahr 1945 brachte zwar einen »traurigen Sieg« (Maurice Agulhon), aber man muß sich fragen: Warum diese Tristesse? Und die Antwort lautet: Weil das französische Volk nicht nur an Sieg, sondern auch an Niederlage, nicht nur an die Resistance, sondern auch an die Kollaboration denken mußte. Deshalb bleibt die »Liberation« ein zweideutiger und etwas grauer Anlaß, dessen Feierlichkeiten unter der Fünften Republik nie ohne Schattenseiten über die Bühne gehen. Außerdem muß man die peinliche Frage stellen, ob ein solcher Nationalfeiertag überhaupt noch zum neuen, vereinten Europa mit seinem deutsch-französischen Kern paßt. IV. Man darf wohl davon ausgehen, daß nationale Rituale eine gewisse soziale Funktion haben, da sie gefeiert werden, um die unbewältigten emotionellen Spaltungen einer Gesellschaft zu überwinden und die tiefsten historischen Wunden zu heilen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist dies weitgehend gelungen, weil dort eine ungebrochene Tradition von Na-tionalfeiern wie dem 4. Juli und Thanksgiving fortbesteht. Zwar gibt es schwierige und höchst irritierende soziale Probleme in den USA, sie werden aber üblicherweise bei solchen Volksfesten nicht ausgetragen, so daß ein nationaler Mythos bei diesen Gelegenheiten bestärkt werden kann. 400 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7

Dagegen vermitteln Frankreich und Deutschland ein wesentlich anderes Bild. In beiden Ländern sind die Nationalfeiertage vielfach emotionell belastet und heftig umstritten gewesen, weil sie oft nicht zur Versöhnung von nationalen Konflikten beitrugen, sondern diese im Gegenteil eher aufwühlten. Eine Besserung dieser Lage zeichnet sich weder in Deutschland noch in Frankreich ab. Deshalb wäre man vermutlich auf beiden Seiten des Rheins besser beraten, eine gemeinsame Zukunft anstelle der zerstrittenen Vergangenheit hervorzuheben und einen Europatag einzuführen. Hierfür müßte man sich aber erst einmal auf ein Datum einigen.

Anmerkungen 1 Siehe vor allem R.R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. Α Political History of Europe and America, 1760-1800, 2 Bde., Princeton 1959-1964. 2 Vgl. J.O. Robertson, American Myth, American Reality, New York 1980, S. 54-71; J. Bodnar, Remaking America. Public Memory, Commemoration, and Patriotism in the Twentieth Century, Princeton 1992, S. 32f., 83ff., 95f., 221-244. 3 Vgl. ] . 0 . Robertson, American Myth, S. 9-18; J. Siskind, The Invention of Thanksgiving. Α Ritual of American Nationality, in: Critique of Anthropology 12, 1992, S. 167-191. 4 Siehe G. Birk, Der Tag von Sedan. Intentionen, Resonanz und Widerstand (18711895), in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 25, 1982, S. 95-110. 5 Man sollte auch den 21. April 1950 als Gründungstag der ehemaligen DDR nicht übersehen. Dazu R. Döhring, Nationalfeiertag und sozialistisches Geschichtsbewußtsein, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 31, 1989, S. 595-604. 6 Vgl. R. Sanson, Les 14 juillet. Fête et conscience nationale, 1789-1975, Paris 1976; C. Rearick, Entertainment and Festivity in Turn-of-the-Century France, New Haven 1985, S. 3-24; P. Ory, La république en fête. Les 14 juillet, in: Annales historiques de la Révolution Française 52, 1980, S. 443-461; H.-G. Haupt, Von der Revolution zum Staatsfeiertag, in: Journal für Geschichte 2, 1988, S. 18-27. 7 Siehe A. Mitchell, Victors and Vanquished. The German Influence on Army and Church in France after 1870, Chapel Hill 1984, S. 220-243. 8 Vgl. R.O. Paxton, Vichy France. Old Guard and New Order. 1940-1944, New York 1975, S. 330-383; P. Burrin, Vichy, in: P. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3/I: Les France, Paris 1992, S. 321-345.

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Autorinnen und Autoren Abélès, Marc, geb. 1950, Dr. habil., Directeur de Recherches am Centre National de Recherches Scientifique (CNRS), Direktor des Laboratoire d'anthropologie des institutions et des organisations sociales (LAIOS). Ackermann, Volker, geb. 1959, Priv.-Doz. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Agulhon, Maurice, geb. 1926, Professor am College de France, Lehrstuhl für Neuere Geschichte Frankreichs. Arnaud, Pierre, geb. 1942, Dr., Professor für Sportwissenschaften an der Universität Lyon I. Baxmann, Inge, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt Literaturwissenschaft, Berlin. Ben-Amos, Avner, geb. 1951, Dr., Dozent für Bildungsgeschichte an der Universität Tel-Aviv. Dann, Otto, geb. 1937, Prof Dr., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Köln. Faure, Jean-Michel, geb. 1936, Prof. Dr., Professor für Soziologie an der Universität Nantes. François, Etienne, geb. 1943, Prof. Dr., Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Paris I (Pantheon-Sorbonne), Direktor des Centre Marc Bloch (Centre Franco-Allemand de Recherches en Sciences Sociales) Berlin. Gounot, André, geb. 1963, wiss. Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaften, Arbeitsbereich Sporteeschichte, Freie Universität Berlin. Haupt, Heinz-Gerhard, geb. 1943, Prof. Dr., Professor für Neuere Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hoffmann, Stefan-Ludwig, geb. 1967, Doktorand an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld. Kaschuba Wolfgang, geb. 1950, Prof. Dr., Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin.

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Kocka, Jürgen, geb. 1941, Prof. Dr. Dr. hc, Professor für Geschichte der Industriellen Welt, Freie Universität Berlin, Leiter der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte, Freie Universität Berlin, Kommisarischer Leiter des Forschungsschwerpunktes Zeithistorische Studien, Potsdam. Krumeich, Gerd, geb. 1945, Prof. Dr. phil., Professor für die Geschichte des romanischen Westeuropa an der Universität Freiburg. Maas, Annette, geb. 1964, wiss. Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Mitchell, Allan, geb. 1933, Prof. Dr., Professor an der University of California, San Diego. Nora, Pierre, geb. 1931, Prof Dr., Directeur d'Etudes an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS), Paris. Reichel, Peter, geb. 1942, Prof Dr., Professor am Institut für Politische Wissenschaften, Universität Hamburg. Siegrist, Hannes, geb. 1947, Priv.-Doz. Dr., Privatdozent für Neuere Geschichte, Leiter der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte, Freie Universität Berlin. Sirinelli, Jean-François, geb. 1949, Prof Dr., Professor für Zeitgeschichte an der Universität Lille III. Tartakowsky, Danielle, geb. 1947, Dr. habil., Maître de Conferences für Zeitgeschichte an der Universität Paris I, Mitglied des Centre de Recherches d'Histoire des Mouvements Sociaux et du Syndicalisme. Terray, Emmanuel, geb. 1935, Prof. Dr., Directeur d'Etudes an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS), stellv. Direktor des Centre Marc Bloch (Centre Franco-Allemand de Recherches en Sciences Sociales), Berlin. Trom, Danny, geb. 1963, Doktorand am Institut d'Etudes Politiques, Paris. Vogel, Jakob, geb. 1963, wiss. Mitarbeiter an der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte, Freie Universität Berlin. Wahl, Alfred, geb. 1938, Prof Dr., Professor für Zeitgeschichte an der Universität Metz, Direktor des Centre de Recherche d'Histoire der Universität Metz.

404 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35773-7