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German Pages 333 [336] Year 2012
Narrativität als Begriff
Narratologia Contributions to Narrative Theory
Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert
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De Gruyter
Narrativität als Begriff Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung
Herausgegeben von Matthias Aumüller
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027836-1 e-ISBN 978-3-11-027851-4 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band versteht sich als Fortsetzung einer Reihe von Publikationen des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal. Im Anschluss an die Tagungsbände zu den Themen Narratology in the Age of Interdisciplinary Narrative Research (hg. von Sandra Heinen und Roy Sommer) und Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (hg. von Christian Klein und Matías Martínez) wird auch hier wieder die interdisziplinäre Problematik der Erzählforschung verhandelt. Während der erste Band nach Grenzen und disziplinärem Status der Narratologie fragte und der zweite sich dem Phänomenbereich jenseits des literarischen Erzählens widmete, stehen im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge die begrifflichen Grundlagen, mit denen die Einzeldisziplinen die verschiedenen Erscheinungsformen des Narrativen erfassen. Daneben gibt es viele weitere narratologische Publikationen, die sich im Ansatz ebenfalls mit begrifflichen Fragen befassen. Es fällt auf, dass, mit Ausnahme des o. g. Bandes Wirklichkeitserzählungen, die meisten dieser Publikationen von Literaturwissenschaftlern dominiert werden. Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, als das Thema in den Kernbereich der Literaturwissenschaft fällt, während es in anderen Disziplinen eher marginale Bedeutung hat. Selbst in der Linguistik spielt es keine Hauptrolle. Zugleich ist in der jüngeren Entwicklung viel von der interdisziplinären Bedeutung des Erzählens die Rede. Diesem Umstand versucht der vorliegende Band Rechnung zu tragen und versammelt Beiträge von Autoren unterschiedlicher institutioneller Herkunft bzw. mit verschiedenen fachlichen Schwerpunkten. Der vorliegende Band geht auf die Tagung Narration – Kognition – Text. Der Erzählbegriff in verschiedenen Disziplinen zurück, die das Zentrum für Erzählforschung (ZEF) am 4. und 5. Dezember 2009 an der Bergischen Universität Wuppertal mit Mitteln der Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität, des Rektorats und des Fachbereichs A der BU ausgerichtet hat. Für ihre großzügige und unbürokratische Unterstützung möchte ich an dieser Stelle diesen drei Institutionen und ihren verantwortlichen Repräsentanten meinen Dank aussprechen. Herzlich danken möchte ich auch den Mitgliedern des ZEF, die mit Rat und Tat bei der Organisation der Tagung und ihrer Durchführung mitgeholfen haben. Die
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Vorwort
Tagung tatkräftig vorbereitet und begleitet haben namentlich Stefanie Jansen, Eliane Picard, Antonius Weixler und Lukas Werner. Mein Dank gilt schließlich zwei anonymen Gutachtern für ihre lehrreichen Hinweise und den Herausgebern der Reihe Narratologia, die die Aufnahme in die Reihe ermöglichten. Wuppertal im Juli 2011
Matthias Aumüller
Inhaltsverzeichnis MATTHIAS AUMÜLLER Einleitung: Zur Theorie der Begriffsexplikation .......................................... 1 PHILOLOGISCH ORIENTIERTE ERZÄHLBEGRIFFE AXEL RÜTH Narrativität in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung.................... 21 KARL N. RENNER Rudimentäres Erzählen nicht-fiktionaler Ereignisse in fernsehjournalistischen Nachrichtenfilmen ............................................................... 47 BRITTA NEITZEL Erzählen und Spielen. Zur Bedeutung des Erzählbegriffs in den Game Studies................................................................................................. 109 JENS KIEFER Gattungsbezogene Unterschiede in der Inszenierung von Ereignishaftigkeit und der Zuschreibung von Relevanz im Kurzfilm...... 129 MATTHIAS AUMÜLLER Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe ..................................................... 141 VOLKMAR LEHMANN Narrativität aus linguistischer Sicht ................................................................ 169 TANJA ANSTATT Zur Ontogenese des narrativen Redetyps ..................................................... 185 ANTHROPOLOGISCH ORIENTIERTE ERZÄHLBEGRIFFE MICHAEL SCHÖDLBAUER Unter-/Brechungen in der ‚talking cure‘ ....................................................... 205
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Inhaltsverzeichnis
INGA RÖMER Narrativität als philosophischer Begriff. Zu Funktionen und Grenzen eines Paradigmas ............................................................................................... 233 IVONNE KÜSTERS Narrationen als Repräsentationen sozialer Prozesse. Erzählungen als empirische Daten in der Soziologie ............................................................... 259 KATI HANNKEN-ILLJES Geschichten und Gegengeschichten – Erzählen im Strafrecht ................. 281 NORBERT GROEBEN & URSULA CHRISTMANN Narration in der Psychologie........................................................................... 299 Biobibliographische Angaben ......................................................................... 323
MATTHIAS AUMÜLLER (Wuppertal)
Einleitung Zur Theorie der Begriffsexplikation Wenn Vertreter aus verschiedenen Fachrichtungen zusammenkommen, um über ein sie alle angehendes Phänomen zu diskutieren, dann besteht zunächst ein Konsens darüber, dass es sich um ein identisches Phänomen handelt. Das Ziel interdisziplinärer Arbeit liegt darin, ein Forschungsgebiet, das sich eben durch die Identität des fraglichen Phänomens definiert, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erhellen. Idealerweise ist dann das Gebiet gut ausgeleuchtet, es ist alles klar, es gibt keine offenen Fragen mehr. Leider ist nichts ideal. Um im Bild zu bleiben: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die unterschiedlichen Perspektiven gehen nicht bruchlos ineinander über. Es werden nicht nur Fragen gelöst; es stellen sich immer wieder neue Fragen. Die Dynamik interdisziplinärer Forschung besteht nicht nur in fortlaufender Vervollständigung des Wissensgebiets, sondern auch in wechselseitiger Störung. Diese Behauptung, die ich nicht beweisen kann, verdiente eine sorgfältige Studie, und mir scheint, das Gebiet der Erzählforschung in ihrem weitesten Sinne böte einer solchen Studie reiche Nahrung.1 Wenn nun dieser Eindruck richtig ist und die Verwirrung in der interdisziplinären Erzählforschung so groß ist, dass der Erkenntnisfortschritt in Zweifel steht, gibt es eine Möglichkeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Diese Möglichkeit besteht darin, an die Wurzeln des Problems zu gehen und sich über die gemeinsamen begrifflichen Grundlagen zu verständigen. Damit ist eine Verständigung über solche Fragen gemeint wie: Worüber reden wir eigentlich? Und: Wie reden wir darüber? – Man braucht nur eine (meist von Literaturwissenschaftlern verfasste) beliebige Einfüh_____________ 1
Nur ein Beleg: „Wie kaum ein anderer Terminus trägt Erzählung zur Verwirrung im literaturwissenschaftlichen Diskurs bei. Die Vieldeutigkeit des Terminus ist in den letzten Jahrzehnten vor allem auch darauf zurückzuführen, daß die literaturtheoretische Terminologie interdisziplinär (z. B. Linguistik, Kulturanthropologie) und international geprägt ist, obwohl die verschiedenen nationalen Begriffstraditionen nicht ohne weiteres in eine andere Sprache übertragen werden können“ (Schmeling & Walstra 1997, 517).
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rung in die Erzähltheorie aufzuschlagen und findet einen Abschnitt über die begrifflichen Grundlagen. Es ist also keineswegs so, dass diese nicht reflektiert würden. Im Rahmen einer Einführung kann man diese Reflexion allerdings nicht allzu weit treiben, da man ansonsten Gefahr liefe, das Phänomen und den Forschungsstand aus dem Blick zu verlieren. Die Einleitung in den vorliegenden Band will nun nicht diese Aufgabe übernehmen und den interdisziplinären Begriff des Erzählens analysieren, sondern geht noch einen weiteren Schritt zurück und skizziert die Voraussetzungen, von denen die Klärung der begrifflichen Grundlagen im Bereich der Erzählforschung ausgehen kann. Die einzelnen Beiträge des Bandes lassen sich dann als exemplarische Verwendungsweisen des Erzählbegriffes verstehen, die eine Grundlage für die weitergehende Analyse im interdisziplinären Zusammenhang abgeben könnten. Fangen wir beim Einfachsten und Konsensfähigsten an! Zunächst begegnet einem, der sich anschickt, die Erzählforschung zur Kenntnis zu nehmen, eine Fülle von Wörtern, die ungefähr dasselbe zu bezeichnen, mindestens aber verschiedene Eigenschaften desselben Phänomens herauszugreifen scheinen: „Erzählen“, „Erzählung“, „Narrativ“, „Geschichte“, „Ereignissequenz“, „Zustandswechsel“ usw. Wenn auch diese Ausdrücke keine Synonyme sind, stehen sie doch zumindest in einem engen Zusammenhang zueinander. Wir haben es aber nicht nur mit Ausdrücken zu tun, sondern auch mit Gegenständen, auf die sich die Ausdrücke beziehen. Unter den Gegenständen kann man mehrere Arten voneinander unterscheiden, z. B. konkrete von abstrakten Gegenständen. Auf konkrete Gegenstände, etwa auf ein Blatt Papier, kann man zeigen, auf abstrakte wie Bescheidenheit nicht. Die Gegenstände, mit denen es die Erzählforschung zu tun hat, scheinen nun an beiden Gegenstandsarten Anteil zu haben, denn sie liegen immer in einer konkreten Realisation vor: z. B. als gedruckter Text. Diese Eigenschaft aber, so notwendig sie ist, scheint jedoch kaum wesentlich für die eigentlichen Gegenstände der Erzählforschung zu sein, denn worauf es ankommt, sind bestimmte – narratologisch relevante – Aspekte der Bedeutung, die die Texte haben; diese „abstrakte“ Seite einer Erzählung besteht darin, dass sie ein Werk ist, das unterschiedlich realisiert sein kann. – Warum nun die Anführungszeichen bei „abstrakt“? Sie sollen darauf hinweisen, dass einzelne Werke als solche zwar nicht das o. g. Kriterium für konkrete Gegenstände erfüllen, aber doch auch keine abstrakten Gegenstände sind, da ein einzelnes (= konkretes) Werk ein Einzelding im logischen Sinne ist und nicht – wie es für abstrakte Gegenstände typisch
Einleitung
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ist – der Exemplifikation in dem Sinne bedarf, dass es als Verallgemeinerung empirischer Sachverhalte aufgefasst werden könnte.2 In der Erzählforschung geht es auch um solche einzelne Werke, in der Erzähltheorie aber geht es um das ihnen Gemeinsame und um das, was sie, die Werke, zu (konkreten) Gegenständen der Erzählforschung macht, bzw. darum, inwiefern sie zu den Gegenständen der Erzählforschung zählen. Von den konkreten Gegenständen wird also abstrahiert, und somit geht es in der Erzähltheorie tatsächlich um abstrakte Gegenstände – um Begriffe.3 In der Umgangssprache bedient man sich der Begriffe bedarfsorientiert. Je nach Kommunikationsziel erweitert man Begriffe, benutzt sie im übertragenen Sinn usw. Auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen ist das der Fall, und gerade die Flexibilität der Begriffsverwendung kann wohl auch für Kreativität in der Forschung sorgen. Mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ist jedoch auch eine andere Funktion von Begriffen verknüpft, die mit der zuerst genannten Funktion in Konflikt steht: Mit Hilfe von Begriffen bestimmt man Unterschiede und Gemeinsamkeiten von verschiedenen Gegenständen, und je schärfer (unflexibler) die Grenzen der Begriffe sind, desto präziser ist der Gegenstandsbereich erfasst. Die umgangssprachlichen Begriffe bilden zwar stets den Ausgangspunkt, aber sie werden für wissenschaftliche Zwecke modifiziert. Die wissenschaftliche Modifikation eines Begriffs beinhaltet zumeist die Einengung und Festlegung desselben auf eine klar umrissene Gruppe von Gegenständen, die sich durch für diese Gruppe spezifische Eigenschaften auszeichnen. Für dieses Vorgehen sind mindestens zwei Leitlinien denkbar: (a) Die Modifikation folgt der Vorstellung, dass die Umgangssprache im Kern vernünftig sei, und versucht, mit Beispielen aus dem sprachlichen Erfahrungsbereich des jeweiligen Autors Belege für einen gegebenen Modifikationsvorschlag anzuführen; (b) Die Modifikation erfolgt nach Maßgabe der Ziele, die man erreichen möchte, und orientiert sich nicht primär an sprachlichen Intuitionen, sondern z. B. an der Koordination mit anderen Begriffen. Während (b) gewissermaßen strategisch ist, könnte man (a) als apophantisch charakterisieren (i. d. S., dass etwas aufgezeigt wird mit der Konsequenz, dass es wahr oder falsch sein kann). So gegensätzlich beide Vorgehensweisen sind, es wäre ein Fehler, sich für eine allein zu entscheiden. Ohne Rücksicht auf sprachliche Intuitionen, die eine Mehrheit mutmaßlich teilt, wird sich ein Wissenschaftler bald nur noch mit sich selbst unterhalten; aber Intuitionen allein führen – das zeigt, denke ich, die Er_____________ 2 3
Man sieht, hier wird es rasch diffizil. Um den Unterschied zu verdeutlichen, habe ich im Zusammenhang mit Werken von „Realisierung“ gesprochen, denn sie sind keine Begriffe. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Weimar 1997.
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fahrung – zu keinem Konsens, denn sie sind dann doch zu unterschiedlich. Wie man in einem geistes- oder kulturwissenschaftlichen Zusammenhang mit Begriffen umgeht, ist eine empirische Frage. Wie man mit Begriffen in diesem Zusammenhang gemäß einem wissenschaftlichen Ethos, das sich auf Transparenz, Verständlichkeit und Überprüfbarkeit gründet, umgehen sollte, ist zwar jedem irgendwie bekannt, aber längst nicht jedem klar. Im Folgenden sollen einige weitere Überlegungen angestellt werden, die im wissenschaftlichen Umgang mit Begriffen grundlegend sind. Wenn ich oben vorläufig von zwei Weisen der „Modifikation“ von Begriffen gesprochen habe, so kommt der Unterschied ungefähr dem zwischen der „feststellenden“ und der „festsetzenden“ Definition gleich.4 Eine Definition ist eine Äquivalenzrelation zwischen zwei Ausdrücken (dem Definiendum und dem Definiens), der gemäß die beiden Ausdrücke substituierbar sind und für die weitere Anforderungen spezifiziert werden können (z. B. soll das Definiens das Definiendum erklären können). Feststellend ist eine Definition, wenn sie einen vorgegebenen Begriff in einem bestimmten Kontext rekonstruiert; festsetzend, wenn sie einen neuen Begriff in einen bestimmten Kontext einführt (unabhängig davon, ob auch ein neuer Ausdruck gewählt wird oder aber ein alter). Ein Beispiel: Gérard Genette (1972) hat den Begriff der Fokalisierung in die Erzähltheorie eingeführt. Allerdings hat er ihn nicht explizit definiert, sondern nur umschrieben, was er damit meint, und ihn auf Erzähltexte angewendet. Hätte er ihn mit Hilfe einer expliziten festsetzenden Definition eingeführt, wäre ihm vielleicht die Mehrdeutigkeit aufgefallen, die ihm in seiner Umschreibung unterlaufen ist. Bei der Rekonstruktion von Genettes Begriff der Fokalisierung nämlich gelangt man mit Hilfe einer feststellenden Definition zu dem Ergebnis, dass Genette dem Begriff mehr als nur einen Sinn zugeordnet hat und dass die dem Begriff zugeschriebenen Komponenten miteinander konfligieren.5 In einem weiteren Schritt kann man das Problem zu beheben versuchen und zwar mittels einer „regulierenden“ Definition, die die Mehrdeutigkeit oder Vagheit des ursprünglichen Begriffs reduziert (vgl. Pawłowski 1980, 24 f.). Wie man an diesem kurzen Beispiel sehen kann, ist diese Vorgehensweise gute wissenschaftliche Praxis. Meistens geschieht dies jedoch mehr oder weniger intuitiv. Die dabei entstehenden Reibungsverluste könnte man sich ersparen, wenn man begriffsbestimmende Operationen auf der Basis einiger weniger Konventionen und Unterscheidungen durchführte und dadurch transparenter machte. Eine Unterscheidung scheint mir im _____________ 4 5
Vgl. Pawłowski 1980. Vgl. Kablitz 1988 u. Niederhoff 2001.
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Hinblick darauf besonders wichtig zu sein: die Unterscheidung zwischen Real- und Nominaldefinition. Während eine Nominaldefinition nach Pawłowski (1980, 29) eine reine „terminologische Festlegung“ ist, deren Gültigkeit allein von der Akzeptanz ihrer Nutzer abhängt, ist die Realdefinition eine „empirische Verallgemeinerung“ von Eigenschaften, die den Gegenständen, die unter den Begriff fallen, zukommen. In der Regel, so scheint mir, sind die Autoren in der Erzähltheorie auf Realdefinitionen aus; die Argumente, mit denen solche Definitionen angefochten werden, stützen sich erst recht auf (vermeintliche) empirische Daten. Es fragt sich allerdings, ob Realdefinitionen das geeignete Mittel sind: Der Grund liegt darin, dass wir es in der Erzähltheorie mit abstrakten Gegenständen zu tun haben, deren Eigenschaften nicht empirisch erkannt werden können; denn „abstrakte Gegenstände sind solche, die wir nur durch Rekurs auf den sprachlichen Ausdruck identifizieren können“ (Tugendhat & Wolf 1983, 141). Konflikte zwischen Definitionen in der Erzähltheorie lassen sich nicht mit Hinweis auf diese oder jene Erzählung entscheiden, weil die entsprechenden Phänomene, die als Beleg angeführt werden, nicht nur abhängig sind von den Begriffen, mit denen wir sie erfassen, sondern mit diesen Begriffen identisch sind. Die Kriterien, nach denen sich konkurrierende Definitionen beurteilen lassen, muss man demnach woanders suchen als nur in den Eigenschaften von Werken, die wir für Erzählungen halten. Solche Kriterien sind also nicht im oben erwähnten Sinne apophantisch, sondern strategisch: Es kommen dafür Effizienz, Plausibilität und Adäquatheit in Betracht. Der gegenwärtige Zustand der Erzähltheorie könnte damit zusammenhängen, dass vielen Autoren in den Diskussionen um Begriffe als leitendes Muster so etwas wie eine Realdefinition vorschwebt: Man will das Wesen einer Erzählung oder der Erzählung schlechthin erfassen und vergleicht verschiedene Einzelphänomene, die man für exemplarisch hält, im Hinblick auf ihre gemeinsamen Eigenschaften. Ist dieser Prozess abgeschlossen, kann man – im Idealfall – notwendige Bedingungen formulieren, die ein Gegenstand erfüllen muss, um zur Klasse der Erzählungen zu gehören. Schließlich muss man prüfen, welche dieser notwendigen Bedingungen spezifisch für die Klasse der Erzählungen sind (welche also für alle und nur diese Gegenstände gelten) und kann damit eine hinreichende Bedingung angeben, die dafür sorgt, dass man eindeutig entscheiden kann, ob etwas eine Erzählung ist oder nicht. Man spricht auch von der „Extension“ des Begriffs, die man durch die Aufzählung der Gegenstände erhält, die unter den Begriff fallen, und seiner „Intension“, die aus den Eigenschaften der Gegenstände besteht, die mit dem Begriff erfasst werden
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(vgl. Pawłowski 1980, 53).6 Das Problem bei dieser Vorgehensweise ist jedoch, dass immer neue Exemplare hervorgezaubert werden, die – aus welchen Gründen auch immer – für Erzählungen (oder auch nur für erzählend) gehalten werden und berücksichtigt werden müssen. Der Begriff wird immer unspezifischer. Ist es erst einmal so weit gekommen, lässt sich von einer Definition längst nicht mehr sprechen. Spätestens wenn es ums Erzählen geht, hat sich bereits ein anderer Begriff, zumindest eine andere Begriffsart in die Diskussion eingeschlichen.7 Realdefinitionen im erzähltheoretischen Zusammenhang können sich aus dem genannten Grund nicht von der Umgangssprache lösen, und die entsprechenden Diskussionen werden sich immer im Kreise drehen. Man sollte sich daher von diesem Verfahren verabschieden. Dies kann man aber nur, wenn man sich über die Voraussetzungen dieses Verfahrens klar wird. Das Verfahren nun, das den Bedürfnissen der Erzähltheorie näher kommt als die Definition, aber mit ihr hinreichend verwandt ist, ist die seit Carnap (1947/56) sog. Explikation. Die Explikation enthält feststellende und festsetzende Komponenten, erfordert aber keine Bedeutungsgleichheit von Explikat und Explikandum im Sinne einer logischen Äquivalenz wie eine formal korrekte Definition.8 Explikationen sind daher enger verwandt mit regulierenden Definitionen, unterscheiden sich aber nach Pawłowski (1980, 184) von diesen erstens durch (von mir sog.) strategische Kriterien und zweitens „durch die Einführung in ein bestimmtes Begriffssystem“. _____________ 6
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Wie hinter allen Termini, die hier benutzt werden, steckt auch hinter diesem Paar eine regalmeterbreite Tradition. Carnap (1947/56) etwa bestimmt die Intensionsgleichheit danach, ob mit logischer Notwendigkeit dieselbe Extension vorliegt: Zwei mathematische Ausdrücke links und rechts einer Gleichung sind danach extensions- und intensionsgleich, denn die in einer Gleichung gegenübergestellten ausgedrückten Begriffe haben notwendigerweise dieselbe Extension; zwei (angeblich) extensionsgleiche Ausdrücke wie „Lebewesen mit Herz“ und „Lebewesen mit Niere“ dagegen nicht. Man könnte diesen Zusammenhang auch anders formulieren: Wenn ich die beiden Hälften des mathematischen Ausdrucks „7=4+3“ verstehe, dann verstehe ich auch, dass sie dieselbe Extension besitzen, dasselbe bedeuten und damit denselben Begriff ausdrücken, unabhängig von der unterschiedlichen Notation; demgegenüber ist die Ko-Extensionalität der Begriffe Lebewesen mit Herz bzw. mit Niere (angeblich) eine empirische Frage. „Angeblich“, weil man ja auch der Meinung sein könnte, dass sich die Bedeutung von „mit Herz“ ändert, sobald man ein Lebewesen mit Herz, aber ohne Niere hat. – Dies nur als kleine Illustration der Problematik, die sich hinter diesen alles andere als unstrittigen Termini verbirgt. Sie soll zeigen, dass es keineswegs ausgemacht ist, wie man die Identität von Begriffen aufzufassen hat. Ein Typenbegriff oder auch ein Begriff mit einer Bedeutungsfamilie. Vgl. Pawłowski 1980, 106-113 u. 199-242. „Generally speaking, it is not required that an explicatum have, as nearly as possible, the same meaning as the explicandum; it should, however, correspond to the explicandum in such a way that it can be used instead of the latter“ (Carnap 1947/56, 8).
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Dieses Verfahren hat längst Eingang in die Literaturwissenschaft und auch in die Erzähltheorie gefunden.9 Meiner Ansicht nach lohnt es sich aber, das Verfahren selbst, wenigstens im Ansatz, vorzustellen und zu überdenken. Denn recht besehen, ist eine sachgerechte Explikation eine sehr aufwendige Angelegenheit, die eher auf Buchlänge hinausläuft als auf Lemma-Länge.10 Das Ziel von Explikationen besteht darin, einen geläufigen, aber unpräzisen Begriff durch einen neuen genaueren Begriff zu ersetzen. Eine Explikation besteht in der Carnaps Modell ergänzenden und geisteswissenschaftliche Zusammenhänge berücksichtigenden Fassung von Pawłowski (1980) aus drei Schritten: Nach der Wahl des Explikandums bedarf es zunächst einer Vorverständigung über den gewählten Ausdruck. Je nachdem, wie sorgfältig diese Vorverständigung ausfällt, beinhaltet sie mindestens die Festlegung eines ungefähren Sinnbereichs, auf den es ankommt. Mehrdeutigkeit und Vagheit sind zwei Gründe, warum Begriffe unpräzise sein können. Man wird also eine erste Eingrenzung vornehmen, indem man sich auf eine der vorgefundenen Möglichkeiten festlegt. Dies erfordert eine gründliche Bestandsaufnahme der Verwendungskontexte, in denen das Explikandum vorkommt. Je sorgfältiger man hier vorgeht und je vollständiger die Rekonstruktion der verschiedenen Intensionen des Explikandums auf der Basis früherer Verwendungsweisen ausfällt, desto besser ist die Ausgangslage für den zweiten Schritt, in dem es um die Herstellung des Explikats geht. Denn im Unterschied zu Definitionen müssen Explikationen an die wissenschaftliche Tradition anschließen und beziehen gerade daraus einen Teil ihrer Legitimierung. Aus diesem Grunde lässt sich eine erste Anforderung an glückende Explikationen stellen: Das Explikat muss dem Explikandum ähnlich sein. Je ähnlicher es ist, also je mehr es an Merkmalen konserviert und je mehr es damit dem traditionellen Verständnis des Ausdrucks entspricht, desto höher wird seine Akzeptanz sein. Im einfachsten Fall eliminiert eine Explikation die Mehrdeutigkeit des Explikandums und konserviert eine bestimmte Intension. Damit wäre einer zweiten Bedingung Genüge getan, nämlich der Einfachheit. Das Explikat wird durch die Eliminierung überflüssiger, abseitiger und damit störender Intensionen einfacher und erhöht dadurch ebenfalls seine allgemeine Akzeptanz. Damit verbunden ist eine dritte Bedingung, der zufolge das Explikat präziser sein soll als das Explikandum; sie entspricht dem ursprünglichen Ziel von Explikationen. Ist die Vorverständigung über den Sinnbereich abgeschlossen, erfolgt also die _____________ 9 10
Vgl. etwa Fricke et al. (Hrsg.) 1997-2003 und Hühn et al. (Hrsg.) 2009. Ein buchlanges Beispiel ist die Explikation des Begriffs des impliziten Autors von Kindt & Müller 2006, ein weiteres Beispiel, bei dem auch viel Wert auf die Koordination mit Nachbarbegriffen gelegt wird, ist die Explikation des Begriffs der Parabel von Zymner 1991. Vgl. die von Harald Fricke und Gottfried Gabriel herausgegebene Reihe explicatio.
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Herstellung des Explikats durch eine Präzisierung. Wie diese Präzisierung im Einzelnen aussieht, ist nirgends festgelegt.11 Wie aus dem obigen Zitat von Carnap (Anm. 8) hervorgeht, ist keine vollständige semantische Entsprechung mit einem Teil des Explikandums erforderlich, denn sonst handelte es sich um eine, wie es vorhin genannt wurde, apophantische Vorgehensweise, die auf einen einzigen „richtigen“ Sinn abzielt. Stattdessen ist das Charakteristikum von Explikationen, dass sie strategisch ausgerichtet sind und ihr Erfolg sich nicht zuletzt danach bemisst, was man mit den Explikaten jeweils erreicht. Daraus ergibt sich eine vierte Forderung an Explikationen, nämlich die der Nützlichkeit, die in Pawłowskis (1980, 166) Hierarchie an erster Stelle steht. Aus der hervorgehobenen Stellung der Nützlichkeitsbedingung wiederum erklärt sich, warum die Forderung nach Präzision relativ ist. Ein Explikat kann auch dann (in einem gegebenen Zusammenhang) gute Dienste leisten, wenn es nicht vollständig definiert ist. Aus der Nützlichkeitsbedingung ergibt sich ferner der abschließende dritte Schritt einer Explikation, nämlich die Einführung in ein Begriffssystem, in dem das Explikat eine bestimmte Stelle einnehmen soll und in dem es bestimmte Funktionen übernimmt. Zwar gehört dies bereits zur Vorverständigung, die sich bestimmt auch von den gewünschten Aufgaben des Explikats leiten lässt; aber man kann ja nicht alles auf einmal machen. Auf den verbleibenden Seiten möchte ich anhand der in den Beiträgen dieses Bandes aufgeworfenen Fragen einige Aspekte des skizzierten Explikationsverfahrens mit Bezug auf den Erzählbegriff selbst vertiefen. In Anknüpfung an den zuletzt genannten Punkt muss man zunächst konstatieren, dass dieser Begriff in einem interdisziplinären Kontext gewissermaßen als Basisbegriff für das gesamte Gebiet gelten soll. Seine Aufgabe besteht dann vor allem darin, das Gegenstandsgebiet zu konstituieren. Disziplinspezifische Erfordernisse können dementsprechend keine Rolle spielen. Das führt zu einer weiten Extension und einer schmalen Intension des Begriffs. Dies wiederum bedingt, dass der Begriff für die Arbeit in den einzelnen Disziplinen relativ wertlos ist. Das Residuum des Erzählbegriffs hat – das wird nach Lektüre der Beiträge hier, aber auch in anderen zeitgenössischen Publikationen rasch deutlich – mit dem umgangssprachlichen Begriff nur noch wenig gemein, und man kann wohl annehmen, dass die allgemeine Tendenz, statt vom Begriff des Erzählens von _____________ 11
Pawłowski (1980, 150, 163) empfiehlt partielle Definitionen, die „entweder nur hinreichende oder nur notwendige Bedingungen“ spezifizieren. Dabei handelt es sich um Definitionen, die prinzipiell Ergänzungen erlauben und damit der fortschreitenden wissenschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen können sollen. Eine andere Möglichkeit besteht in sog. flexiblen Definitionen, die in die Reihe notwendiger Bedingungen alternative Bedingungen aufnehmen (vgl. Fricke 1981, 146).
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Narrativität zu sprechen, sich nicht nur dem Einfluss angloamerikanischer und französischer Theorieimpulse verdankt, sondern auch dem Umstand, dass damit letztlich etwas anderes gemeint ist: nämlich eine Geschichte zu – wie es in diesem Zusammenhang mit einem Anglizismus heißt – repräsentieren. Die strukturalistische Vorstellung nämlich, dass verschiedene Medien identische Geschichten hervorbringen können, machte es nötig, ein entsprechend neutrales Verb zu finden. Diese Überlegung verdeutlicht einen Aspekt, der in den obigen Ausführungen unberücksichtigt geblieben ist. Eine Explikation kann auch in terminologischer Hinsicht eine Modifikation herbeiführen und sollte dies vielleicht auch, um künftig Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Der Ausdruck „Narrativität“ wäre also kein Synonym mehr für das „Erzählerische“, sondern ein Explikat, in dem mindestens das Merkmal der Sprachlichkeit eliminiert wäre. (Trotzdem werden die beiden Ausdrücke oder Ausdrucksvarianten ständig synonym verwendet, sei es aus stilistischen Gründen, sei es aus Gründen begrifflicher Laxheit.) Damit ist übrigens nicht gesagt, dass eine Geschichte repräsentieren das einzige Explikat von Narrativität sei. Im Gegenteil, es gibt eine Fülle von Vorschlägen. Angenommen aber, man würde sich auf dieses genannte Explikat im Rahmen der Vorverständigung einigen, dann bliebe die Aufgabe, es zu präzisieren. Dem interdisziplinären Anspruch gemäß müsste es all die Gegenstände in seine Extension aufnehmen, die sich dadurch auszeichnen, eine Geschichte zu repräsentieren. Kandidaten wären nicht nur dokumentarische TV-Nachrichtenbeiträge, die vom Moderator als „Geschichte“ angekündigt werden, sondern neben den vielen unproblematischen Fällen auch Geschichten, die z. B. von Gemälden „repräsentiert“ werden, etwa wenn sie einen Ausschnitt aus einer bekannten Sage oder ein Bibel-Motiv abbilden. Ist die Extension des Begriffs, eine Geschichte anzudeuten, eine Teilmenge der Extension des Begriffs, eine Geschichte zu repräsentieren? Repräsentiert ein Gemälde eine Geschichte schon dann, wenn es einen einzigen Ausschnitt darstellt? Gibt es mit Bezug auf diese Frage relevante Unterschiede zwischen den dargestellten Ausschnitten: etwa zwischen einer Darstellung des toten verlassenen Jesus und einer Darstellung, auf der ihm eine Lanze in den Leib gerammt wird (ganz zu schweigen von solchen Abbildungen, auf denen offenbar nicht-simultan gemeinte Sacheverhalte simultan dargestellt sind)? Wie gesagt, diese Fragen lassen sich nicht mit Hinweis auf den Sprachgebrauch entscheiden. Es kommt darauf an, welche definitorischen Eigenschaften man in die Intension des Explikats aufnehmen will. Und dies wiederum ist abhängig von den Zwecken des Explikats. Wenn der Zweck des gegenwärtigen Beispiels darin besteht, alle möglichen Kandi-
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daten zu integrieren, dann müsste man die eben gestellten Fragen bejahen: „eine Geschichte zu repräsentieren“ heißt auch, sie bloß anzudeuten. Entsprechendes müsste unter der gegebenen Voraussetzung von dem anderen Bestandteil des Explikats (Geschichte) gesagt werden. Das könnte dazu führen, diesen durch das Merkmal Ereignis zu ersetzen, und man hätte das Ergebnis, dass die Disposition, ein Ereignis anzudeuten, bereits der Zuschreibung von Narrativität genügen könnte. Damit wäre jeder erhobene Zeigefinger narrativ, sofern man davon ausgeht, dass er eine Reaktion auf ein vorangegangenes Ereignis darstellt und dieses damit signalisiert. Selbst wenn jemand so weit gehen wollte und sich dazu bekennte, dass das ja in gewissem Sinn so sei, stellen sich weitere Fragen: wie sich dieses interdisziplinäre weite Verständnis zu den disziplinspezifischen Begriffen verhält; was der Gegenbegriff wäre; welchen Nutzen der Begriff über die angestrebte Allgemeinheit hinaus haben könnte? Man kann an diesem Beispiel ganz gut sehen, dass die unterschiedlichen Anforderungen, die an Explikationen gestellt werden, miteinander in Konflikt geraten können. Denn unter der Bedingung der Präzision versteht man gewöhnlich die Einengung der Extension, nicht ihre Ausweitung (vgl. Pawłowski 1980, 171). Was aber in der interdisziplinären Diskussion geschieht, ist das genaue Gegenteil. Vielleicht ist es zu einfach, Präzision allein an der Extension eines Begriffs festzumachen. Präzise ist ein Begriff auch dann, wenn er eine maximale Extension hat, die von den Extensionen anderer Begriffe (etwa einem Gegenbegriff) scharf getrennt ist. Allerdings genügt das Beispiel auch dieser Anforderung nicht. Selbst die Nützlichkeit des Beispiel-Explikats steht in Frage, da mit seiner Hilfe kaum irgendwelche Probleme gelöst werden können. Daraus folgt, dass die explikatorische Arbeit in die Disziplinen verlegt und dass dem dritten Schritt – der Einführung in ein Begriffssystem – viel stärkere Beachtung geschenkt werden muss. Häufig gehen aber die interdisziplinären Wunschvorstellungen und die fachspezifischen Anforderungen durcheinander. Wie lassen sich die verschiedenen Begriffssysteme charakterisieren? Im Journalismus ist die Unterscheidung zwischen Erzählen und Berichten fundamental: hier subjektives Erzählen, dort das angestrebte objektive Berichten, für das die Faktizität des Berichteten entscheidend ist. Karl N. Renner versucht in seinem mit reichhaltigem Datenmaterial ausgestatteten Beitrag für diesen Band, diese Unterscheidung zu konservieren und mit dem strukturalistischen Sujet-Begriff Lotmanscher Prägung zu explizieren. Das Resultat seiner explorativen Studie enthält den Vorschlag, dass die journalistische Unterscheidung zwischen Berichten und Erzählen nicht nur stilistisch, sondern auch semantisch motiviert sei. Nach Renners Ergebnis liegt der Unterschied in der Konfiguration von Ordnungssätzen
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begründet: Während erzählenden Medienbeiträgen eine hohe Anzahl von Ordnungssätzen zugrunde liege, kämen berichtende Medienbeiträge mit einer geringen Anzahl von Ordnungssätzen aus. Dieser Umstand könne auch erklären, warum Berichte in der Regel transparenter wirken. Die Gegenüberstellung von Erzählung und Bericht greift Kati Hannken-Illjes in ihrer linguistischen Studie über Erzählen im Strafverfahren kritisch auf. Ausgangspunkt in Strafverfahren sind Ermittlungsprotokolle, die man als Berichte klassifizieren könnte. Ihnen lassen sich Erzählungen gegenüberstellen, die z. B. Zeugen vor Gericht produzieren. Hannken-Illjes schlägt vor, diese Unterscheidung mit einem komparativen Begriff von Narrativität zu erfassen, den die beiden Textsorten in unterschiedlichem Grade aufweisen. Die Angemessenheit dieser Ersetzung bemisst sich nach den Ansprüchen, die mit ihr erfüllt werden sollen: Wenn man auf die Gemeinsamkeiten von Polizeibericht und Zeugenaussage, etwa im Sinne ihrer epistemischen in Abhängigkeit von ihren narrativen Qualitäten, abzielt, empfiehlt sich letzterer Begriff; hebt man auf den unterschiedlichen institutionellen Status der beiden Textsorten ab, ersterer. Hannken-Illjes benennt mit „Verargumentierung“ und „Fragmentierung“ zwei weitere Eigenschaften des Erzählens im Strafverfahren, die zwar eng mit den Erfordernissen vor Gericht verknüpft sind, sich möglicherweise aber auch dem Umstand verdanken, dass die Grundlage hier wie auch in anderen Beiträgen dieses Bandes das mündliche Erzählen bildet. Mündliches Erzählen in Alltagssituationen ist häufig zweckgebunden und daher stets bezogen auf die Aufgabe der Sachverhaltsdarstellung. Erzählbegriffe, die in diesen Kontexten geprägt werden, neigen dazu, die damit verknüpfte kognitive Komponente aufzunehmen. Auch in zwei weiteren Beiträgen ist das Ausgangsphänomen, um das es geht, mündliches Erzählen. Michael Schödlbauers Überlegungen zum Erzählen in der Psychotherapie und Ivonne Küsters’ Beitrag zum Erzählbegriff und seiner Funktion in der qualitativen Datenerhebung in der Soziologie haben gemein, dass dieses Ausgangsphänomen in eine Gesprächssituation eingebettet ist und nicht zuletzt durch diese seine charakteristischen Eigenschaften bezieht. Schödlbauer spricht, um dies deutlich zu machen, von „Ko-Narration“ als Grundzug der psychotherapeutischen Grundsituation, Küsters von den „Zugzwängen“, die das Erzählen im narrativen Interview prägen. Diese Abhängigkeit besteht auch in anderen Alltagskontexten, auch vor Gericht. Während der Therapeut und der Interviewer eher als Stichwortgeber fungieren, sind die an einem Strafverfahren beteiligten Personen z. T. konkurrierende Erzähler. Durch die Komponente der Interaktion erhält die Beziehung zwischen erzählter Geschichte und Erzähldiskurs in diesen Fällen ein völlig anderes Profil als
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in literarischen Erzählungen, die der narratologischen Theoriebildung üblicherweise zugrunde liegen. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, dass die mündlichen Erzählungen auf verschiedene Weise protokolliert und aufgezeichnet werden. Es wäre eine lohnende Aufgabe interdisziplinärer Erzählforschung, diese verschiedenen Kontexte zu systematisieren. Denn außer der kognitiv-referentiellen Komponente kommt noch eine weitere kognitive Komponente ins Spiel: das Erinnern. Die Überlegungen der Psychologen Ursula Christmann und Norbert Groeben einerseits und der Philosophin Inga Römer andererseits haben es demgegenüber jeweils nur mit dem kognitiven bzw. epistemologisch relevanten Korrelat von Erzählungen zu tun. Römer rekonstruiert im Ausgang von der Philosophie Paul Ricœurs verschiedene Verwendungskontexte des Begriffs der Narrativität, wobei sie narrative von pränarrativen Strukturen unterscheidet und auf die Vorzüge eines solchermaßen Heterogenes synthetisierenden, Verschiedenartiges integrierenden Begriffs hinweist. Ähnlich gelagert wie in der philosophischen Hermeneutik ist die Problemkonstellation in der Psychologie, die nach Groeben & Christmann in einen natur- und in einen kulturwissenschaftlichen Komplex zerfällt. Dies hat fachspezifische Gründe, insofern die Psychologie eine empirisch-quantitative sowie eine hermeneutisch-qualitative Fachtradition hat. Einerseits wird auf der Basis von kontrollierten Experimenten untersucht, welche kognitiven Prozesse (Erzähl-)Textverstehen ermöglichen; andererseits geht es Vertretern der sog. Narrativen Psychologie, die eher in der hermeneutischen Tradition stehen, um die narrative Verfasstheit der Alltagserfahrung. Groeben & Christmann versuchen, diese beiden Traditionen zusammenzuführen, indem sie auf gemeinsame Annahmen der beiden Forschungsrichtungen hinweisen, z. B. auf die empirisch nachgewiesene kognitive Konstruktivität der Wahrnehmung, wobei die Autoren davon ausgehen, dass sich der konstruktive Charakter der Wahrnehmung durch eine narrative Struktur auszeichnet. Ein Zusammenhang zwischen psychologischen und philosophischen Ansätzen besteht schließlich auch in der Frage nach der Bedeutung des Erzählens für die Herstellung von persönlicher Identität. Versucht man an dieser Stelle innezuhalten, um die bisherigen Verwendungskontexte und Begriffssysteme zu überblicken, so erhält man ein Bild, auf dem sich die verschiedenen Bereiche überlagern. Die Unterscheidung von Erzählen und Berichten mag auf den ersten Blick stilistisch markiert sein, motiviert und begründet wird sie nicht selten auch durch epistemische Ansprüche, die der Autor eines Berichts bzw. einer Erzählung erhebt. Eine analoge Problematik findet sich auch in historiographischen Texten, wie Axel Rüth ausführt. Hier geht es, allerdings in Koordi-
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nation mit anderen Begriffen (Handlung, Kausalität, Ereignis vs. Struktur), um den speziellen Charakter historischer Erkenntnisansprüche. Diese epistemischen Ansprüche sind etwas anderes als die kognitiven Aspekte, die oftmals mit dem Erzählen in Verbindung gebracht werden, vor allem mit dem Erzählen als gleichsam natürlichem Phänomen, das das Leben eines jeden Menschen begleitet. In diesem Kontext hat Erzählen einerseits viel mit Hypothesenbilden zu tun (etwa im Hinblick auf die Frage nach dem Selbst). Hier besteht eine klärungsbedürftige Frage m. E. darin, inwiefern diese beiden Aspekte eigentlich zusammenhängen oder ob damit nicht doch zwei sehr unterschiedliche Kompetenzen des Menschen gemeint sind. Andererseits geht es um die Frage danach, ob und, wenn ja, in welchem Maß die Erfahrung von Welt narrativ (vor)strukturiert ist. Dass Kognition im Allgemeinen wie z. B. Erinnerung im Besonderen nicht nur analytisch bzw. bottom up vorgeht, sondern auch synthetisch, top down, ist die eine Sache; eine andere ist, ob die Syntheseleistungen menschlicher Kognition strukturidentisch sind mit Erzählungen. Diese Fragen sind außerordentlich interessant und bergen noch viel Differenzierungspotential, wenn mein Eindruck richtig ist und der Erzählbegriff hier häufig eine Platzhalterfunktion einnimmt. Beurteilte man diese Fragen im Rahmen einer Begriffsexplikation, so wären sie wohl unter die Anforderung nach Präzision zu fassen. Im Folgenden möchte ich eine Überlegung zur Forderung nach Nützlichkeit anfügen. Wenn sich die Einführung eines Explikats in erster Linie durch seine Nützlichkeit rechtfertigen lassen soll, so stellt sich die Frage, was darunter im Einzelnen zu verstehen ist. Während man sich über den definitorischen Anteil an einer Explikation gut informieren kann, fallen die Ausführungen zum Postulat der Nützlichkeit eher dürftig aus. Zunächst ist festzustellen, dass die spezielle Nützlichkeit sich von derjenigen der anderen Anforderungen an ein Explikat unterscheidet: Einfachheit, Präzision und Ähnlichkeit mit dem Explikandum sind ebenfalls nützlich. Die spezielle Nützlichkeit oder Fruchtbarkeit aber ist etwas davon zu Unterscheidendes. Idealisierend gesagt, ergibt sie sich aus der Zahl der Problemlösungen, die das Explikat ermöglicht. Davon zu unterscheiden sind weitere Möglichkeiten, die Nützlichkeitsforderung zu charakterisieren: Nützlich ist ein Terminus auch dann, wenn er treffende Beobachtungen und Fragen zu formulieren hilft und wenn er andere Begriffe ergänzt. M. a. W.: Die Nützlichkeit eines Explikats ist eine Funktion seines heuristischen Potentials in Kombination mit seiner systematischen Qualität. Setzte man nur auf seinen heuristischen Wert, bliebe das wissenschaftliche Ziel, eine kohärente Theorie über einen Gegenstandsbereich zu formulieren, unberücksichtigt. Sofern eine solche aber noch erwünscht ist, kommt man nicht umhin, Nützlichkeit unter Rückgriff auf Systematizität zu charakterisieren.
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Ein illustratives Beispiel mit Blick auf diese Anforderung ist Volkmar Lehmanns Text, in dem zunächst Mikro- von Makronarrativität gesondert wird. Mikronarrative Redepassagen unterscheidet er von sprechzeitbezogenen, omnitemporalen und atemporalen Passagen, womit der fragliche Begriff mit anderen koordiniert wird. Die entscheidende Eigenschaft von narrativen Redepassagen ist nun nach Lehmann, dass sie dank episodischer Verben ein „unikales Zeitnetz“ bilden. Damit bietet Lehmann einen systematisierenden Vorschlag, Narrativität im Sinne einer Situationsenthebung zu verstehen. Tanja Anstatts Studie schließt direkt an Lehmanns Theorie an und dokumentiert das Ergebnis ihrer Anwendung auf ein Korpus von Nacherzählungen einer Bildergeschichte durch Kinder verschiedenen Alters. Sie weist den Zusammenhang von Erzählen und kognitiven Kompetenzen in der Sprachentwicklung auf, wonach die Erzeugung von Erzählungen die Fähigkeit zur Lösung vom Sprechzeitpunkt voraussetzt. Hierin zeigt sich der andere Bestandteil der Nützlichkeitsbedingung: das heuristische Potential der getroffenen begrifflichen Unterscheidungen. Von all diesen Verwendungskontexten zu unterscheiden sind zu guter Letzt jene, die in einer im weitesten Sinne kunstwissenschaftlichen Tradition stehen. Literarische und filmische Erzählungen werden zum einen unter der Prämisse untersucht, dass ihre spezifisch narrativen Eigenschaften ihre ästhetische Bedeutung mitkonstituiert, zum andern aber auch mit der schwächeren Voraussetzung, dass die begrifflichen Differenzierungen der Erzähltheorie als Heuristik benutzt werden, also als eine von mehreren Möglichkeiten, ästhetisch interessante Beobachtungen anzustellen. Zu diesem Schluss kommt Britta Neitzel in ihrer Abhandlung zum Begriffsstreit in den Game Studies mit Bezug auf die Frage, als was Computerspiele zu begreifen sind. Etwas anders geht Jens Kiefer vor. Er benutzt eine der Varianten des Erzählbegriffs – erzählerische Relevanz –, um verschiedene Arten von Kurzfilmen voneinander zu unterscheiden. In beiden Fällen verbinden sich heuristische und systematische Aspekte auf verschiedene Weise. Neitzel benutzt eine Systematik für heuristische Zwecke, Kiefer stellt eine Systematik her. Kurz vor Ende dieser Einleitung ist wohl deutlich geworden: Die Vielfalt dessen, was man mit dem Begriffsspektrum Erzählen/Narrativität zu erfassen versucht, ist immens. Es ist klar, dass damit keineswegs immer dasselbe gemeint ist (weshalb auf ein Sachregister auch verzichtet wurde), ganz zu schweigen von den jeweils unterschiedlichen Zielen, an die man mit seiner Hilfe zu gelangen versucht. Sich dies im Einzelnen bewusst zu machen ist das eigentlich Interessante am interdisziplinären Nachdenken über dieses schillernde begriffliche Spektrum. Zu fragen ist, ob es dabei bleiben soll. Eine Disziplinen übergreifende, allgemeine Erzähltheorie
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müsste die Komplexität etwas reduzieren. In erster Linie hieße das, die auch in diesem Band häufig als Synonyme verwendeten Vokabeln begrifflich zu differenzieren: Geschichte, Erzählung, Erzähldiskurs, Narration, (Master-)Narrativ, Diegesis usw. Es stehen mit diesen Beispielen genug Ausdrücke zur Verfügung, deren Unterscheidung systematische Lücken schließen könnte. * Bei der Lektüre mehrerer Beiträge nacheinander mag der Eindruck entstehen, dass sie nicht nur begrifflich, sondern auch methodisch divergieren.12 Einige Beiträge sind stärker analytisch-vergleichend ausgerichtet als andere, die eher exemplarische Analysen auf der Basis eines bestimmten Begriffs sind; die einen diskutieren unterschiedliche Begriffe, die anderen legen sich auf einen Begriff fest und wenden ihn fallbezogen an. Dies lässt sich durch die verschiedenen Personalstile erklären. Es hängt aber auch mit den Traditionen der unterschiedlichen Disziplinen zusammen. In den wenigsten nimmt Narrativität bzw. das Narrative (verstanden als Begriff, der alles abdeckt, was mit „Erzählung“, „Erzählen“ und „Erzähltem“ gemeint sein kann) einen zentralen Platz ein, und daher gibt es in diesen Disziplinen gar keinen Bedarf für kontroverse Alternativen in der Frage nach seiner Konzeptualisierung. Dennoch fällt es schwer, die Beiträge aufgrund ihrer unterschiedlichen Akzentsetzung in zwei entsprechende Rubriken einzuteilen. Der eine oder andere Beitrag mag ein guter Kandidat für jeweils eine dieser Rubriken sein, viele andere aber bewegen sich diesseits und jenseits der Demarkationslinie, die zwischen diesen Rubriken verläuft. Damit demonstriert schon die Gliederung der Beiträge die Problematik, die die Beiträge selbst jeweils auf ihre Weise verhandeln: Wie parzelliere ich, um eine Ordnung herzustellen und Komplexität zu reduzieren, einen Bereich mit verschiedenen Gegenständen, damit ihre Gemeinsamkeiten sichtbar werden? Und welche Grenzziehung des Gegenstandsbereichs ermöglicht eine vollständige Einteilung, die allen Gegenständen gerecht wird? Es wäre bestimmt unverfänglicher, sich auf die Macht des Alphabets zu stützen und die Beiträge auf diese neutrale Weise getreu den Anfangsbuchstaben ihrer Verfasser aufeinander folgen zu lassen. Ein Band wie dieser hat aber nicht nur die Möglichkeit, sondern vielleicht sogar die Pflicht, systematische Vorschläge zu machen. Die hier gewählte Unterscheidung zwischen philologisch und anthropologisch orientierten Erzählbegrif_____________ 12
Den Anstoß für die anschließenden Überlegungen verdanke ich einem der anonymen Gutachter.
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fen stellt einen Versuch dar, die vielfältigen Verwendungskontexte von Erzählbegriffen zu zwei Gruppen zusammenzufassen. Ein philologisch orientiertes Profil weisen Erzählbegriffe auf, die bloß bestimmte Textund andere Symbolisierungsformen (Filme, Computerspiele) zu erfassen versuchen; demgegenüber haben ein anthropologisches Profil solche Erzählbegriffe, die darüber hinaus die Bedeutung des Erzählens für das Personsein in sich aufnehmen. Charakteristischerweise – aber nicht notwendigerweise – sind der Gegenstand von anthropologisch orientierten Erzählbegriffen mündliche Erzählungen. Hinzu kommt, wie oben schon angedeutet, nicht selten eine kognitive Komponente: Anthropologisch orientierte Erzählbegriffe zeichnen sich durch die implizite Annahme aus, dass Erzählen nicht nur ein Wiedergeben von etwas ist (einer Geschichte, einer Begebenheit), sondern auch ein Erkennen oder ein Konstruieren in einem anspruchsvollen Sinn.13 Letztlich geht es bei der Bestimmung dessen, was Erzählungen ausmacht, also bei der Konzeptualisierung des Narrativen, immer auch um das Verhältnis von Erzählen und Erzähltem, und anthropologisch orientierte Erzählbegriffe implizieren einen kognitiven impact des Erzählens auf das Erzählte, während philologisch orientierte Erzählbegriffe in dieser Hinsicht neutral sind. Die Untersuchungsperspektive, die sich mit anthropologisch orientierten Erzählbegriffen verbindet, ist auf die Bedeutung des Erzählens für das Menschsein ausgerichtet. Erzählen ist danach nicht nur eine von vielen menschlichen Kompetenzen, sondern gehört insofern zur Grundausstattung des Menschseins, als Narrativität zum Strukturprinzip menschlicher Erfahrung erhoben wird. Diese These von der narrativen Verfasstheit menschlicher Weltwahrnehmung ist beispielhaft für diese erste Spielart anthropologischer Erzählbegriffe. Die zweite Spielart betrifft die Eigendynamik des Erzählens, der gemäß das Erzählen nicht nur eine kompositorische Funktion hat, indem Behauptungen über die erzählte Welt auf bestimmte Weise angeordnet werden, sondern auch eine kognitiv-konstruktive Funktion, indem jeder Erzählakt zusätzlich zu den Fakten, die er zum Gegenstand hat, etwas hinzufügt. Der entscheidende Gedanke ist hier, dass jede narrative Darstellung dadurch, dass sie narrativ ist, neue Informationen generiert, die über die Information des Dargestellten hinausgehen. „Kognitive Konstruktivität bedeutet, dass der Mensch bei der Verarbeitung von Welt nicht nur Informationen dekodiert, sondern _____________ 13
„Anspruchsvoll“ soll hier bedeuten, dass es nicht nur um Auswählen und Zusammenstellen von Elementen des Erzählten geht, sondern um ein Hinzutun von zusätzlichen Elementen, die sich aus dem Erzählen selbst speisen. Daher ist der geschichtslogische Erzählbegriff in der Rekonstruktion von Rüth (in diesem Band) nicht anthropologisch orientiert, auch wenn er vom „Erzählen als Erkenntnisoperation“ spricht.
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auch schafft […] gemäß narrativen Strukturen“, heißt es z. B. bei Groeben & Christmann (in diesem Band). Demgegenüber beschränken sich Untersuchungsperspektiven, die mit philologisch orientierten Erzählbegriffen verknüpft werden, auf die Beschreibung des Phänomens im Objektbereich unabhängig von der Frage, ob sich mit Narrativität zunächst bereichsfremd erscheinende Phänomene adäquat erfassen lassen. Ein illustratives Beispiel, an dem man sich den Unterschied klar machen kann, liefern die linguistischen Beiträge von Lehmann und Anstatt. Dort wird der Zusammenhang von Narrativität mit kognitiven Kompetenzen thematisiert, ohne dass beides miteinander identifiziert würde. Obwohl mündliche Erzählungen im Mittelpunkt stehen, ist der zugrunde liegende Erzählbegriff philologisch orientiert, weil er der Erfassung der Struktur sprachlicher Mittel dient. So gesehen, ist ein philologisch orientierter Ansatz eher auf die Eigenheiten der Narrativität im eigentlichen Sinne aus, während anthropologisch orientierte Ansätze der Begriffsbestimmung die Möglichkeiten seiner Übertragbarkeit auf noch nicht endgültig erforschte Phänomene, wie die menschliche Erfahrung zweifellos eines ist, ausloten. Die Einteilung in philologisch und anthropologisch orientierte Erzählbegriffe bezieht sich zunächst einmal nur auf die Beiträge dieses Bandes. Damit ist nicht gesagt, dass die einzelnen Autoren selbst nicht auch den jeweils anderen Begriff haben. Schon gar nicht lassen sich einzelne Disziplinen auf eine dieser Orientierungen festlegen. Unabhängig davon scheint mir aber, dass diese Einteilung zwei grob voneinander zu unterscheidenden Tendenzen Rechnung trägt und auch über diesen Band hinaus eine gewisse Geltung beanspruchen kann, Geltung wenigstens insoweit, als sich darüber diskutieren lässt, wie und ob man überhaupt diese teilweise doch sehr unterschiedlichen Vorstellungen, die man mit dem Narrativen bzw. mit Narrativität in Zusammenhang bringt, harmonisieren kann. Literatur Carnap, R. (1947/56). Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic. Chicago 1988. Fricke, H. (1981). Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München. Fricke, H. et al. (Hrsg.) (1997-2003). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bd. Berlin/New York. Genette, G. (1972). Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch. In Ders., Die Erzählung, 9-192. 2. Aufl. München 1998.
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Hühn, P. et al. (Hrsg.) (2009). Handbook of Narratology. Berlin/New York. Kablitz, A. (1988). Erzählperspektive – Point of View – Focalisation. Überlegungen zu einem Konzept der Erzähltheorie. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 98, 237-55. Kindt, T. & Müller, H.-H. (2006). The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin/New York. Niederhoff, B. (2001). Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz. Poetica 33, 1-21. Pawłowski, T. (1980). Begriffsbildung und Definition. Berlin. Schmeling, M. & Walstra, K. (1997). Erzählung1. In H. Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, 517-519. Berlin/New York. Tugendhat, E. & Wolf, U. (1983). Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart 1986. Weimar, K. (1997). Diegesis. In H. Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, 360-363. Berlin/New York. Zymner, R. (1991). Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn.
PHILOLOGISCH ORIENTIERTE ERZÄHLBEGRIFFE
AXEL RÜTH (Köln)
Narrativität in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung 1. Eine Problematik zwischen den Disziplinen Der Anteil des Erzählens an der wissenschaftlichen Erkenntnis von Geschichte und am wissenschaftlichen Schreiben über Geschichte wird in verschiedenen Disziplinen auf unterschiedliche Weise eingeschätzt. Stammten die frühesten Beiträge zunächst aus dem Bereich der Philosophie, so folgten bald darauf die ersten literaturwissenschaftlichen und schließlich geschichtswissenschaftlichen Beiträge.1 Dass das Verhältnis von Geschichte und Erzählung so heftig debattiert wird, erklärt sich durch den Anspruch einer grundsätzlichen Revision der historischen Erkenntnis, der mit dem Begriff der Erzählung einhergeht. Dessen polemisches Potential trat vollends mit dem Erscheinen von Hayden Whites Metahistory im Jahre 1973 zutage.2 Die Behauptung, historiographische Texte seien narrative Konstrukte, die keinen größeren Anspruch auf Wahrheit hätten als fiktional-literarische Erzählungen, rückte fiktionale Literatur und Geschichte in extreme Nähe zueinander und provozierte einigen Widerstand in der Geschichtswissenschaft.3 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie (oder Kalküls), dass die radikalen relativistischen Thesen Hayden Whites und anderer gerade zu einer Zeit aufkamen, als sich die Geschichtswissenschaft durch die Entwicklung neuer Forschungsparadigmen so weit wie nie zuvor vom Begriff der Literarizität entfernt zu haben glaubte.4 Die Abneigung gegen das Erzählen unter Historikern ging damals so weit, dass sich beispielsweise der französische Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie zu der Behauptung verstieg, _____________ 1
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Gallie 1964, Danto 1965, Mink 1965, Barthes 1967, Veyne 1990, Koselleck & Stempel 1973, Kocka & Nipperdey 1979, Koselleck, Lutz & Rüsen 1982, Quandt & Süssmuth 1982. Überblicksdarstellungen finden sich vielerorts, unter den neueren Publikationen siehe die einführenden Kapitel bei Jaeger 2009, Müller 2008, Kittstein 2006, Rüth 2005, Süßmann 2000, Scholz Williams 1989, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Daniel 2001, 430-443. White 1991. Zum Verhältnis von linguistic turn und Geschichtswissenschaft: Hanisch 1996. Iggers 1996, Daniel 2001.
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der Historiker von morgen werde „Programmierer sein oder nicht mehr sein“.5 Die Geschichtswissenschaft produzierte immer weniger politische narrative Ereignisgeschichte und brachte stattdessen, v. a. unter dem Einfluss der Soziologie, vermehrt Strukturgeschichten, Mentalitätsgeschichten und Wirtschaftsgeschichten hervor. Zu diesem Zeitpunkt galten die literarischen Ursprünge der eigenen Disziplin für die meisten Historiker als überwunden: Sie produzierten keine Erzählungen, sondern Wissen nach wissenschaftlichen Standards. Das Schreiben der Geschichte ist nach dieser auch heute noch unter Historiker weit verbreiteten Auffassung allein eine Frage des Stils und daher von sekundärer Bedeutung.6 Wissenschaftsgeschichtlich handelt es sich also um einen extrem konfliktfreudigen Zufall. Für die Geschichtswissenschaft bestand kein Anlass, auf Konfrontationskurs zu gehen, steht für sie Sprachlichkeit doch nicht im Zentrum ihrer methodischen Selbstreflexion. Die vom linguistic turn ergriffenen Philologien aber wurden zunehmend von der Überzeugung getragen, ein kritischer Begleitdiskurs für alle sprachlich verfassten Wissenschaften zu sein, auch und vor allem für die wahren Erzählungen der Geschichtswissenschaft.7 Dabei ist die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit historiographischen Texten in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. Abgesehen davon, dass historiographische Texte einen klassischen Gegenstand der Literaturwissenschaft darstellen, lassen sich etwa die Kategorien der literarischen Erzähltheorie an nicht-fiktionalen Textsorten erproben und der Austausch zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Diskursen über Geschichte erforschen. Aber auch für die Geschichtswissenschaft gibt es einen unbestreitbaren Nutzen: So verständlich es ist, dass aus ihrer Perspektive Forschung und Methode im Vordergrund stehen müssen, so evident ist auch die Tatsache, dass die textuelle Gestalt, in der Historiker ihre Ergebnisse vermitteln, eine implizite Geschichtstheorie enthält. Der französische Historiker Roger Chartier geht davon aus, dass „die Wahlen, die zwischen den verschiedenen möglichen Weisen, Geschichte zu schreiben – welche samt und sonders narrativer Art sind – getroffen werden, zu verschiedenen Erkenntnisweisen von verschieden gedachten historischen Realitäten“ führen.8 Konzepte, Fragestellungen, Überzeugungen (durchaus auch ideologisch-weltanschaulicher Art) beeinflussen sowohl das Forschen als auch das Schreiben von Historikern. Ein Historiker, der Geschichte als das _____________ 5 6 7 8
„[L]’historien de demain sera programmateur ou il ne sera pas“ (Le Roy Ladurie 1973, 13). Z. B. Evans 1997, 70 f. Besonders polemisch: Windshuttle 2000. Der Anspruch auf Erklärungshoheit der Literaturtheorie und die Defensivhaltung der Geschichtswissenschaft sind nicht zuletzt an Publikationstiteln ablesbar: Whites Metahistory und Evans’ In Defence of History sprechen eine deutliche Sprache. Chartier 1992, 36.
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Ergebnis der Handlungen der ‚großen Männer‘ betrachtet, wird auch sein Material dementsprechend anordnen und aufschreiben, und zwar auf signifikant andere Weise als dies ein Historiker tun wird, für den Menschen Gefangene von Strukturen sind, welche sie nicht im geringsten intentional beeinflussen können. Betrachtet man diese Tatsache nicht aus der Produktions- sondern aus der Rezeptionsperspektive, so wird deutlich, worin das Erkenntnisinteresse und die Funktion einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Historiographie liegt: Die Art und Weise, auf die historiographische Texte geschrieben sind, gibt Aufschluss darüber, wie Geschichte gedacht wird. Mittlerweile ist zu beobachten, dass Historiker in ihren Texten mehr als nur die Vermittlung vorangegangener Forschung sehen. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist sicherlich Wissensproduzentin, aber ihre Funktion erschöpft sich nicht darin, muss sie das Wissen doch auch ‚sinnlich‘ veranschaulichen. Umgekehrt hat sich unter Philologen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschichtsschreibung zwar sprachlich verfasst ist, dass sie sich aber nicht darin erschöpft,9 und nur die wenigsten folgen White noch in der These, dass die unbewussten ‚präkognitiven‘ sprachlichen Entscheidungen grundsätzlicher und wesentlicher sind als die bewusst stattfindende methodische Reflexion des Historikers, dass die Geschichte also keine Historik, sondern nur eine Poetik habe. Die folgenden Ausführungen wollen einen Überblick über die verschiedenen Aspekte geschichtswissenschaftlicher Narrativität geben. Der erste Abschnitt ist dem ‚geschichtslogischen‘ Erzählbegriff gewidmet, mit dem in Philosophie und Geschichtstheorie das Spezifische der historischen Erkenntnis in Abgrenzung zu anderen Wissensdiskursen zu fassen versucht wird. Es wird insbesondere danach zu fragen sein, wie berechtigt sein Universalanspruch ist und ob er sich nicht in letzter Konsequenz als literarischer entpuppt. Daran schließen sich ein Plädoyer für eine Definition der geschichtswissenschaftlichen Erzählung als ‚kontrollierte Einbildungskraft‘ und die Erörterung der Besonderheiten des historiographischen Erzählens auf der Vermittlungsebene an, bevor in einem letzten Abschnitt die Narrativität ‚der‘ Geschichte zum Thema wird. Dass literaturwissenschaftliche Begrifflichkeiten die Struktur der Argumentation bestimmen, versteht sich keineswegs als Plädoyer für die Einebnung des Unterschieds zwischen Literatur und Geschichtsschreibung.
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Z. B. Klein & Martínez 2009.
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2. Erzählen als Erkenntnisoperation 2.1. Erzählen als kulturelle Praxis In der Debatte um die angebliche Fiktionalität des historiographischen Erzählens scheint immer wieder ins Vergessen zu geraten, dass das Erzählen zu den grundsätzlichsten kulturellen Praktiken gehört, die sich überhaupt denken lassen. Sie ist älter und grundsätzlicher als die Unterscheidung von Fakt und Fiktion, von Faktualität und Fiktionalität. Die Begriffe, mit denen in jüngeren kulturwissenschaftlichen Essays die kulturelle Funktion des Erzählens beschrieben wird, bringen im Grunde keine neuen Aspekte in die Diskussion ein, unterstreichen aber gerade dadurch die transhistorische Relevanz des Erzählens als kulturelle kognitive Kompetenz. Stellvertretend sei Mieke Bal zitiert, für die die Erzählung „keine Gattung, sondern ein Modus, eine aktive und lebendige kulturelle Kraft“ und „ein vorrangiges Reservoir unseres kulturellen Gepäcks, welches uns dazu befähigt, aus einer chaotischen Welt und den in ihr stattfindenden unverständlichen Ereignissen Sinn herauszuholen“,10 darstellt. Das sind Umschreibungen dessen, was auch die Theoretiker des historiographischen Erzählens als narrative Erklärung betrachten: ‚Erzählung‘ bezeichnet eine kognitive Operation, mittels derer Geschehen aus dem Kontinuum der Zeit herausgelöst und in eine verständliche, abgeschlossene Geschichte mit Anfang und Ende überführt wird – eine Operation, bei der heterogenes Material selektiert und perspektivisch angeordnet wird. Das bedeutet Reduktion von Komplexität: Der Prozess der narrativen Verkleinerung (um eine Formulierung von Claude Lévi-Strauss aufzugreifen11) ermöglicht es dem Menschen, sich in der Welt zu orientieren und handlungsfähig zu sein. Die Frage der Angemessenheit oder Zuverlässigkeit von Erzählungen ist damit noch nicht berührt. Das Moment der narrativen Verkleinerung gilt gleichermaßen für religiöse und kulturelle Mythen, Alltagserzählungen, autobiographisches Erzählen, Propaganda, Verbrechensrekonstruktionen vor Gericht und eben Geschichtsschreibung in all ihren Ausführungen. Das geschichtswissenschaftliche Erzählen stellt also nur einen besonderen Fall von historischer Erkenntnis in Textform dar.12 Nicht jede Historiographie unterliegt der strengen Pflicht zum Beleg, man denke nur an populärwissenschaftliche und tendenziöse Darstellungen oder an für das _____________ 10 11 12
Bal 2002, 9. Schon Mink nennt das Erzählen „a cognitive instrument“ (Mink 1978). Lévi-Strauss 1968. „Kontrollierter empirischer Bezug, Diskursivität und Zusammenhangsorientierung konstituieren Geschichtswissenschaft als Wissenschaft und setzen sie von anderen nichtwissenschaftlichen Umgangsweisen mit der Geschichte ab“ (Kocka 1990, 26).
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Fernsehen aufbereitete Ereignisgeschichte, in der oft kontextfremd verwendete zeitgenössische Filmaufnahmen einen effet de réel erzeugen sollen. Historiographie ist synchron wie diachron ein sehr heterogenes Phänomen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die moderne wissenschaftliche Historiographie, wie sie sich im 19. und im 20. Jahrhundert herausgebildet hat. 2.2. Der geschichtslogische Erzählbegriff Der grundsätzlichste narrative Aspekt der Geschichtsschreibung, der so genannte geschichtslogische Erzählbegriff, bezieht sich sowohl auf die historische Erkenntnis als auch auf die Erklärungsstruktur historiographischer Texte. Das Bestreben der ‚Narrativisten‘, den Nachweis der konstitutiven Relevanz von Narrativität für alle Formen der historischen Erkenntnis und damit für alle Formen der Geschichtsschreibung zu führen, ist als Versuch zu verstehen, das Spezifische der historischen Erkenntnis zu erfassen. Die Eigenart der historischen Forschung besteht, in Abgrenzung zu affinen wissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie und Ethnologie, darin, Phänomene und Ereignisse unter dem Aspekt der Zeitlichkeit zu erfassen. Ohne auf die (mitunter beträchtlichen) Unterschiede zwischen Arthur C. Danto, Paul Ricœur, Paul Veyne, Hans Michael Baumgartner, Jörn Rüsen und anderen einzugehen, soll an dieser Stelle unter besonderer Betonung Ricœurs das zentrale, allen Positionen gemeinsame Kriterium hervorgehoben werden, das immanente Erklärungspotential der Erzählung. Hermann Lübbes Definition der Erzählung aus dem Jahre 1973 bringt den Kern der narrativistischen Argumentation präzis auf den Punkt: Einer historischen Erklärung ist bedürftig, was weder handlungsrational noch systemfunktional erklärt werden kann, und auch aus kausalen oder statistischen Ereignisfolge-Regeln nicht ableitbar ist. Die historische Erklärung in dieser Charakteristik erklärt weder durch Rekurs auf Sinn, noch erklärt sie nomologisch. Sie erklärt, was sie erklärt, durch Erzählen einer Geschichte.13
Der französische Althistoriker Paul Veyne spitzt diese Beobachtung noch zu: „[…] was man Erklärung nennt, ist kaum mehr als die Eigenschaft der Erzählung, sich in Form einer verständlichen Fabel zu organisieren.“14 Geschichte sei „nichts anderes als eine wahrheitsgetreue Erzählung“,15 ein _____________ 13 14 15
Lübbe 1973, 544. Veyne 1990, 69. Veyne 1990, 13.
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„wahrer Roman“.16 Etwas historisch zu erklären bedeutet demnach nichts anderes als das Anordnen von Ereignissen innerhalb einer Geschichte: [E]rklären heißt für einen Historiker: „die Entwicklung der Fabel zeigen, sie verständlich zu machen“. Das also ist die historische Erklärung: etwas völlig Profanes und überhaupt nicht wissenschaftlich; wir werden ihr den Namen Verstehen vorbehalten.17
Eine Folge von Geschehnissen ergibt nicht aus sich heraus einen Sinn, sondern erst dadurch, dass sie zu einer Geschichte zusammengefügt wird. Erst die Integration in eine Erzählung entreißt eine Okkurenz dem Bereich des Kontingenten und gibt ihm eine Bedeutung, d. h. macht sie zum Ereignis. Diese Bedeutung beruht auf der Positionierung des einzelnen Elements im narrativen Syntagma zwischen Anfang und Ende.18 Eine Geschichte unterscheidet sich von einer chronikalischen Serie dadurch, dass zum zeitlichen Moment des Aufeinanderfolgens ein Bedeutungsverhältnis der einzelnen Elemente untereinander hinzukommt. So ist das Ende nur das Ende im Hinblick auf den Anfang der Geschichte. Die Geschichte setzt damit einen Schnitt in das zeitliche Kontinuum des Geschehens voraus. Anfang und Ende gibt es nur auf der Ebene der erzählten Geschichte, während es im Geschehen nur Zeit ohne absoluten Anfang und Ende gibt. Die konstitutive Voraussetzung jedes Erzählens ist daher seine Retrospektivität,19 welche es allererst ermöglicht, die Bedeutung eines Ereignisses für die Entwicklung der Fabel zu bestimmen – als Anfang, Ende oder Wendepunkt. Ein und dieselbe Okkurenz kann dementsprechend in verschiedenen Erzählungen, je nach Erkenntnisinteresse und Erzählperspek_____________ 16 17 18 19
Veyne 1990, 10. Veyne 1990, 70. Besonders prägnant formuliert bei Stierle 1973. Die Tatsache, dass der Text des Historikers eine solche aus der Gegenwart eines Forschungskontexts geschriebene retrospektive Erzählung ist, bringt eine inversion scriptuaire mit sich, eine „scripturale Umkehrung“, wie Michel de Certeau (1991, 112–115) es nennt, zwischen Forschung und Rede: Die Forschung beginnt – konzeptuell wie institutionell – in der Gegenwart des Historikers, während die Darstellung dem Zwang zur Chronologie unterworfen ist. Sodann kann die Forschung prinzipiell ohne Ende sein, während der Text Anfang und Ende hat und ein Ganzes „als stabile Architektur aus Elementen, Regeln und historischen Konzepten“ darstellt (de Certeau 1991, 113). Und schließlich ist die Erzählung ‚voll‘, sie schließt Lücken, und sei es nur, indem sie diese Lücken zum Vorteil des problemlos Erforschbaren zurückstellt. Hans Robert Jauß’ Ausführungen über die drei konstitutiven Funktionen des Fiktiven in der Historiographie des 19. Jahrhunderts lesen sich ähnlich, stehen allerdings im Zeichen einer problematischen Gleichsetzung von Erzählung und Fiktion: Erstens sei der Historiker in Ermangelung eines ‚absoluten‘ Anfangs gezwungen, einen Anfang und ein Ende zu setzen, zweitens perspektiviere er eine „faktisch ins Unübersehbare anwachsende Fülle des Vergangenen“, und drittens fülle er Informationslücken auf, um der Vergangenheit die Form eines konsistenten Verlaufs zu verleihen (Jauß 1982, 422-425).
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tive, verschiedene Bedeutungen erhalten. Wenn man von einem Ereignis spricht und nicht mehr von einem reinen Vorkommnis, hat bereits eine narrative Integration stattgefunden. Da also die Fabel erst das Ereignis konstituiert, kann es streng genommen keine verschiedenen Erzählungen über dasselbe Ereignis geben, sondern nur verschiedene Erzählungen über eine gleichwohl identische „Materialität der Tatsachen“.20 Der Historiker löst also die vielfältigen Bestandteile eines Geschehens (handelnde und erleidende Menschen, Situationen, Intentionen, Zufälle, Begegnungen, Ausbleibendes) aus der unüberschaubaren synchronen und diachronen Verflechtung ihres Wirklichkeitszusammenhangs und stellt sie in einen neuen, überschaubaren narrativen Zusammenhang mit Anfang und Ende. Das offene, chronikalisch gedachte Kontinuum der Zeit wird in eine geschlossene Form der Zeitlichkeit überführt, diejenige der Erzählung. Dabei wird die reine Abfolge der natürlichen Diachronie in eine neue, konzeptuell geordnete Diachronie übersetzt. Erzähllogisch betrachtet kann man von einer Erzählung sprechen, sobald eine sich zwischen zwei Zeitpunkten ablaufende Veränderung beschrieben wird. Arthur C. Dantos Analytischer Philosophie der Geschichte21 lässt sich ein Erzählbegriff entnehmen, der eine narrativen Erklärungen individuellen Geschehens zugrunde liegende Skizze darstellt. Darin kommt dem Ereignis als Mitte der Erzählung die Funktion eines explanans zu. Es erklärt die Veränderung eines identischen Subjekts zwischen einem Zeitpunkt t-1 und einem Zeitpunkt t-3 (das explanandum) zu einem Zeitpunkt t-2. Ein bekannter Beispielsatz Dantos lautet: „Der Autor von Rameaus Neffe wurde 1715 geboren“.22 Da niemand im Jahre 1715 wissen konnte, was einmal aus Denis Diderot werden würde, verdeutlicht der Satz, dass es der Geschichtsschreibung nicht darum geht, „von Handlungen solche Kenntnis zu haben, wie sie unmittelbaren Zeugen möglich ist, sondern sie [die Handlungen] als Historiker in Verbindung mit späteren Ereignissen und als Teilstücke zeitlicher Ganzheit zu sehen“.23 Narrative Sätze verfolgen also das Ziel einer „rückwirkenden Neugliederung der Vergangenheit“.24 Ungewollte Konsequenzen spielen dabei eine größere Rolle als die Intentionen der Handelnden. _____________ 20 21 22 23 24
Ricœur 1986, 13 f. Es handelt sich bei diesem Text um die Übersetzung eines Vortrags, der – abgesehen von kleinen Abweichungen und einer unglücklichen Übersetzung des Titels – Ricœur 1986a entspricht. Danto 1974, 371 ff. Danto selbst erhebt für die narrativen Sätze nicht den Anspruch, dass sie allein kennzeichnend für die historische Erkenntnis wären. Danto 1974, 29. Danto 1974, 294. Danto 1974, 270.
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Eine Konsequenz der Relationierung von Ereignis und Erzählung besteht darin, dass ein Ereignis nicht punktuell, plötzlich und spektakulär sein muss. Es ist vielmehr eine Variable der Fabel. Befasst sich eine Erzählung mit einem Phänomen in der longue durée, so können langsam sich vollziehende Entwicklungen ebenso gut wie ‚herkömmliche‘ Ereignisse (Schlachten, Entscheidungen politischer Individuen, Begegnungen etc.) den erzähllogischen Status eines Ereignisses erhalten. Auch so genannte Strukturgeschichten sind in der Regel dem geschichtslogischen Erzählbegriff verpflichtet, wenn sie Veränderungen erklären wollen. Diese Proportionalitätsregel gilt auch für die Akteure, die Quasi-Figuren (quasipersonnages), wie Ricœur sie in seiner Analyse von Fernand Braudels nur vordergründig nicht-narrativem Hauptwerk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II nennt,25 und für die Kategorie des Ereignisses und den der Fabel selbst: So ist die Geburt des Fegefeuers in Jacques Le Goffs gleichnamigem Buch26 alles andere als kurz und punktuell, sondern ein sich über mehr als tausend Jahre erstreckender Prozess. Dennoch handelt es sich erzähllogisch um ein Ereignis, das die Entwicklung von einem binären Jenseits mit Himmel und Hölle zu einem um das Fegefeuer ergänzten ternären Jenseits erklärt.27 2.3. Der Universalanspruch des geschichtslogischen Erzählbegriffs Der universale Erklärungsanspruch der Narrativisten wirft zwei Gegenfragen auf: Erstens, ob der geschichtslogische Erzählbegriff denn wirklich auch für die so genannte Strukturgeschichte gilt, welche nicht erklären will‚ wie es zu etwas gekommen ist, sondern synchrone Zusammenhänge beschreiben, analysieren, erklären will; und zweitens, ob sich historischer Wandel nicht auch durch andere Formen der Kausalität erklären lässt. Die Frage nach der Relevanz des Erzählens für die Strukturgeschichte impliziert eine Unterscheidung von zwei idealtypischen Textsorten, Erzählung und Tableau. Nur erstere will Veränderung in der Zeit erklären, während letztere Zusammenhänge (also synchrone Strukturen und keine Veränderungen) innerhalb eines Ausschnitts erklären und beschreiben will. Die Erzählung liefert eine Antwort auf die Frage, warum dieses oder jenes passiert ist, das Tableau auf die Frage, wie etwas war.28 _____________ 25 26 27 28
Eine Quasi-Figur, so Ricœur, muss allerdings noch die Verbindung zu konkreten Handlungsträgern erkennen lassen. Dies ist der Fall bei Nationen, Institutionen, Kulturen und sozialen Gruppen. Le Goff 1990. Siehe Rüth 2005, 124-157. Prost 1996, 207 f., 241.
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Bei genauerer Betrachtung sieht sich indes jeder Historiker mit der Notwendigkeit konfrontiert, seinen Gegenstand sowohl von der Sache her als auch räumlich und zeitlich einzugrenzen. Er wird entscheiden müssen, was er erklären will und wer seine Akteure sind (etwa Strukturen, soziale Gruppen oder Individuen), und er wird sich auf einen geographischen Raum und einen Zeitabschnitt festlegen müssen.29 So geht es Malte Zierenberg in seiner Studie Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939195030 um die Beschreibung von „Erfahrungsräumen“, „Tauschsemantiken“, „Tauschnetzwerken“, Tauschräumen“, „Verteilungslogiken“ und „Bewegungsmustern“ des Schwarzmarkts in einer bestimmten Stadt innerhalb eines bestimmten Zeitsegments. Keiner der genannten Begriffe impliziert Zeitlichkeit, doch die Erforschung des Themas setzt Einschnitte in das unendliche Kontinuum des Geschehens voraus, Einschnitte, die selbst schon durch die Logik einer Fragestellung gekennzeichnet sind. Diese Fragestellung ist insofern narrativ, als sie auf einer Fabel beruht, deren Eckpunkte das 1939 zwar schon existente, aber mit Kriegsbeginn wieder besonders relevant werdende Phänomen Schwarzmarkt (mit einer 1918 beginnenden Vorgeschichte) und sein Verschwinden in der Nachkriegszeit durch die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland sind. Die Unvermeidbarkeit des Einschneidens in die Zeit gilt auch für Studien, in denen Gesetze zur Erklärung von Veränderungen herangezogen werden, sowie für solche, die auf quantitativen Methoden beruhen. Die Auswertung serialisierbarer Quellen zwecks Rekonstruktion einer Entwicklung kann zu einer Abfolge von Phasen führen, die selbst nicht narrativ organisiert ist: In seiner Studie Les paysans de Languedoc (1966) erklärt E. Le Roy Ladurie die Bevölkerungsentwicklung auf der Grundlage serialisierbarer Katastereinträge und mittels der malthusianischen Bevölkerungstheorie (also gesetzmäßig).31 Bei näherer Betrachtung erweist sich aber auch diese Studie als narrativ konfiguriert, da der Einschnitt ins zeitliche Kontinuum sehr wohl mit Veränderungen des Erzählgegenstands (die Bauern des Languedoc) begründet wird. Die Zu- und Abnahme der Bevölkerung in vier Phasen innerhalb des untersuchten Zeitraums (Niedrigstand – Aufschwung – Reife – Rücklauf vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) lässt sich zwar mittels des malthusianischen Dilemmas erklären, aber erstens erschöpft sich die Studie nicht in dieser Erklärung, sondern erzählt auch von Lebensbedingungen, kulturellen Faktoren, Mentalitäten und politischen Unruhen, und zweitens _____________ 29 30 31
Prost 1996, 243 f. Zierenberg 2008. Siehe Rüth 2005, 86-123.
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verdankt sich das Ende des untersuchten Zeitraums einer grundlegenden Veränderung der Bauern des Languedoc: Sie werden im Laufe des 18. Jahrhunderts zu modernen Winzern und repräsentieren damit nicht mehr den vormodernen Typus von Landwirtschaft, für den das Malthusianische Gesetz Relevanz besitzt. Die gesetzmäßige Erklärung selbst wird historisiert, d. h. in eine Fabel integriert: Le Roy Ladurie erzählt am Beispiel der Bauern des Languedoc, wie es dazu kam, dass die Malthusianischen Gesetze nicht mehr aussagekräftig waren, ja schon zum Zeitpunkt ihrer Formulierung als überholt gelten durften.32 Bleibt die Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung von Erklärungen durch Gesetzmäßigkeiten in der Geschichtswissenschaft.33 Aufgrund ihrer konstitutiven Retrospektivität können geschichtswissenschaftliche Erzählungen erklären, was einen historischen Wandel bewirkt oder verursacht hat, aber sie können dies, wollen sie ihrem Gegenstand gerecht werden, nicht durch alleinigen Rekurs auf Gesetze. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass in der Geschichtswissenschaft keine Erklärungen durch Gesetze zur Anwendung kommen würden, nur sind diese der Erklärung durch Erzählung untergeordnet. Sie helfen dabei, die Komplexität des einmaligen Geschehens zu verstehen, aber sie können es nicht restlos erklären. Ihre Funktion kann nur darin bestehen, die Plausibilität der Erzählung zu erhöhen. Wäre die restlose Erklärung eines historischen Falls durch eine Gesetzmäßigkeit möglich, so verlöre er dadurch die Eigenschaft, die ihn zu einem Gegenstand der historischen Erkenntnis macht, denn dann wäre er deckungsgleich mit einem Allgemeinen. Aus ebendiesem Grunde können Historiker erklären, aber nicht vorhersagen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle historiographischen Studien, die einen Wandel zwischen zwei Zeitpunkten erklären wollen, dem geschichtslogischen Erzählbegriff verpflichtet sind. Dies gilt ebenso, wenn auch in geringerem Maße, für Studien, die eher dem Typus Tableau entsprechen, da auch sie einen auf der Logik einer Fabel beruhenden Anfang und ein Ende setzen müssen. _____________ 32
33
Die entsprechende Passage am Ende von Le Roy Laduries umfangreicher Studie, die auf Deutsch nur in einer stark gekürzten Version zugänglich ist, lautet: „Les malédictions malthusiennes avaient dominé le Languedoc, aux XVIe et XVIIe siècles, tout comme elles dominent aujourd’hui encore, en dépit d’une situation bien différente, certains peuplement du Tiers Monde. Aux temps modernes (et sans doute aussi, lors d’une période précédente, au Moyen Age) elles avaient donné à un grand cycle agraire, après une phase initiale conquérante, son caractère de fluctuation inexorable. Mais ces malédictions s’effacent lentement au XVIIIe siècle, avant même qu’elles soient formulées, en 1798, par l’homme dont elles portent le nom. Malthus est un théoricien lucide des sociétés traditionnelles. Mais c’est un prophète du passé; et il est né trop tard, dans un monde trop neuf“ (Le Roy Ladurie 1966, 654). Siehe Frings 2008.
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Offen bleiben muss hier die Frage, ob auch solche historischen Darstellungen, in denen menschliche Handlungen nicht einmal als von QuasiFiguren ausgeführte Handlungen eine Rolle spielen, etwa in neueren ideengeschichtlichen Darstellungen wie Foucaults Les mots et les choses, narrativ konfiguriert sind.34 Es steht zu vermuten, dass die Relevanz der Erzählung letztendlich von der Frage abhängt, ob es in irgendeiner Weise noch um das Verständnis von Veränderungen geht, die in Verbindung zu menschlichem Handeln stehen. 2.4. Die Frage nach der ‚Poetizität‘ des geschichtslogischen Erzählbegriffs Ricœur entwickelt die Synthese des Heterogenen explizit aus dem mythos der aristotelischen Poetik, und auch Veynes Erzählbegriff stammt letztendlich dorther. Hayden White differenziert das emplotment sogar nach literarischen Gattungen, bei den meisten Narrativisten wird der Begriff der Fabel als ‚in sich schlüssige Geschichte‘ begriffen.35 Es stellt sich daher die Frage, ob der geschichtslogische Erzählbegriff nicht ein poetischer bzw. ‚ästhetischer‘ und damit letztendlich inakzeptabel für einen Wissensdiskurs ist. Als besonders zentral für eine positive Beantwortung dieser Frage ist immer wieder der Bezug einiger Theoretiker der Erzählung auf den mythos der aristotelischen Poetik angeführt worden. Ebendieser Bezug erweist sich bei näherer Betrachtung indes durchaus nicht als Indikator für ‚Poetizität‘, was ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Vorausgeschickt sei, dass Aristoteles trotz seiner Popularität in der modernen Diskussion um das historische Erzählen aus mehreren Gründen eigentlich ein prekärer Gewährsmann ist: Die begrifflich bisweilen unscharfe Poetik befasst sich vornehmlich mit der Tragödie, eine allgemeine Erzähltheorie besitzt sie nur als abgeleitete. Zudem befasst sie sich nur an einer Stelle, im 9. Kapitel, mit der Geschichtsschreibung, und dort wohl auch nur, um die Funktion des mythos für die Dichtung in Abgrenzung zur Geschichtsschreibung hervorzuheben. Wenn Aristoteles der Dichtung attestiert, sie handele vom Allgemeinen, dann ist damit nicht nur gemeint, dass die handelnden Figuren wiedererkennbare Typen sind, sondern auch, dass die einheitliche Handlung über diese Form der Allgemeinheit verfügen muss: der Zuschauer muss _____________ 34 35
Frings 2008, 149 f. Die Diagnose lässt sich auch historisieren: Moderne Geschichtsschreibung ist narrativ, weil sie (bis an den heutigen Tag) konstitutiv von den literarischen Erzählkonventionen ihrer Entstehungszeit geprägt sei, der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 (Fulda 1996 und 1999). Forderung nach Modernisierung nach dem Vorbild der Literatur finden sich bei Fulda 1996, Kocka 1990, White 1986, 36-63, und Koselleck & Stempel 1973.
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das Handlungsmuster der Komödie oder der Tragödie erkennen können. Ist dies nicht der Fall, bleibt die Wirkung aus.36 Die Geschichtsschreibung befasst sich mit dem Besonderen,37 woraus abzuleiten ist, dass sie aufgrund ihrer Wirklichkeitsreferenz nicht der Kompositionskunst der geschlossenen Handlung verpflichtet ist.38 Die modernen Theoretiker der historischen Erzählung beziehen sich nun aber gerade nicht auf die Äußerungen des Stagiriten über die Geschichtsschreibung. Die Diskussion über Geschichte und Erzählung dreht sich im Gegenteil gerade darum, dass auch die historische Sinnbildung die Form eines mythos habe. Der aber ist bei Aristoteles dichtungstypisch und zeichnet sich v. a. durch die enge Verquickung des Kompositions- und des Wirkungsaspekts aus. Im 9. und 10. Kapitel ergänzt Aristoteles seine Ausführungen über die Komposition des tragischen mythos aus den Kapiteln 7 und 8, in welchen zu lesen ist, dass die Fabel aus einem Anfang, einer Mitte und einem Ende zu bestehen hat, und dass diese Komposition so kunstfertig gestaltet sein muss, dass das Umstellen eines einzelnen Elements sofort eine Veränderung des ganzen Handlungsgefüges mit sich bringen würde. Auch darf kein Element überflüssig sein. In Kapitel 9 fügt er dem Kompositionsaspekt einen wirkungsästhetischen hinzu: Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ergebnisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall vonstatten gehen. […] Hieraus folgt, daß Fabeln von dieser Art die besseren sind.39
Und in Kapitel 10: _____________ 36 37
38 39
So auch Fuhrmann in Aristoteles 1982, 171. In diesem Aspekt tritt auch deutlich Aristoteles’ Relevanz für Hayden White zutage, der ja, wie Northrop Frye, das Verstehen einer Geschichte mit der Identifizierung ihres emplotment gleichsetzt. Die Behauptung Kittsteins (2006, 26), nach Aristoteles besäßen Dichtung und Geschichtsschreibung „eine identische Grundstruktur, nämlich eine erzählende“ und beide würden also „,eine Nachahmung von Handlung‘ durch die Konstruktion eines ‚Mythos‘ betreiben“, trifft m. E. nicht zu. Aristoteles benutzt in Kap. 9 lediglich das sehr allgemeine Verb ‚λέγειν’ (‚mitteilen‘, ‚reden‘, ‚sagen‘, ‚sprechen‘). Die in Kap. 7 der Poetik dargelegte „Zusammenfügung der Geschehnisse“ (Aristoteles 1982, 29) wird an keiner Stelle mit der Geschichtsschreibung in Verbindung gebracht, wohl aber als „der erste und wichtigste Teil der Tragödie“ (Aristoteles 1982, 29) bezeichnet. Rätselhaft bleibt, ob sich Aristoteles überhaupt auf existente historiographische Texte bezieht. Gerecht würde er ihnen mit seiner knappen Definition jedenfalls nicht (so auch Fuhrmann im Kommentar zu Kap. 9, Aristoteles 1982, 113, Anm. 2). Dies spricht dafür, dass es Aristoteles an dieser Stelle lediglich darum geht, einen Oppositionsbegriff zur geschlossenen Handlung zu etablieren. So auch Fuhrmann in Aristoteles 1982, 113, Anm. 1. Aristoteles 1982, 33.
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Die Fabeln sind teils einfach, teils kompliziert. Denn die Handlungen, deren Nachahmungen Fabeln sind, sind schon von sich aus so beschaffen. Ich bezeichne die Handlung als einfach, die in dem angegebenen Sinne in sich zusammenhängt und eine Einheit bildet und deren Wende sich ohne Peripetie oder Wiedererkennung vollzieht, und diejenigen als kompliziert, deren Wende mit einer Wiedererkennung oder Peripetie oder beidem verbunden ist. Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen.40
Für die Tragödie gilt nun, dass die komplizierten Handlungen die einzig akzeptablen sind, was sich dadurch erklärt, dass die einfache Handlung keine Wirkung hervorrufen würde. Der mythos ist damit ohne Zweifel als dichtungsspezifische Struktur ausgewiesen. Was nun aber auffällt, ist, dass die Theoretiker des geschichtslogischen Erzählbegriffs (verständlicherweise) nur den Kompositionsaspekt aufnehmen: Ob die vom Historiker rekonstruierte Geschichte in irgendeiner Weise die Affekte anspricht, ist völlig irrelevant.41 Die Trennung des Kompositionsaspekts vom Wirkungsaspekt ist zunächst einmal ein starkes Argument gegen die angebliche Poetizität des geschichtslogischen Erzählbegriffs. Sie wirft aber auch die Frage auf, ob diese bei Aristoteles nicht vorgesehene Trennung legitim ist. Zwei Aspekte sprechen meines Erachtens für die Legitimität. Zum einen lässt sich der geschichtslogische Erzählbegriff mit der einfachen (nicht die Affekte ansprechenden) Handlung, die Aristoteles für die Dichtung ablehnt, identifizieren. Das Erklären durch Erzählen benötigt kein plötzliches, den Leser in Staunen versetzendes Umschlagen der Handlung. Zum anderen liegt der Grund für die enge Verbindung von Kompositions- und Wirkungsaspekt bei Aristoteles darin, dass der mythos nicht aus Ereignissen, sondern aus Handlungen zusammengesetzt ist, was die Voraussetzung für die Katharsis ist. Der geschichtslogische Erzählbegriff hingegen bezieht sich auf Ereignisse, die Intentionen der Handelnden sind sekundär. Peripetien interessieren in der geschichtslogischen Erzählung nicht als Umschlag einer Handlungsintention in ihr Gegenteil, sondern als Moment der Veränderung und als widerständige, aber narrativ integrierbare Kontingenz. Das bedeutet auch, dass der in Kap. 10 der _____________ 40 41
Ebd. 33 f. Vgl. Veyne 1990, 19: „Nehmen wir an, man erzählt mir von einem Aufruhr und ich weiß, daß man mir damit etwas Historisches berichten will und dieser Aufruhr wirklich stattgefunden hat. Ich werde ihn als etwas betrachten, das zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einem bestimmten Volk geschehen ist. Diese antike Nation, die mir vor einer Minute noch unbekannt war, wird für mich nun zur Heldin, zum Zentrum der Erzählung, oder vielmehr zu ihrem unerläßlichen Träger. Analoges spielt sich auch beim Leser eines Romans ab. Nur ist hier der Roman wahr, daher muß er nicht packend sein. Die Geschichte des Aufruhrs kann durchaus langweilig sein, ohne dadurch an Wert zu verlieren“.
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Poetik angesprochene Aspekt des Wunderbaren (thaumaston), der eine nicht unwesentliche Rolle für die Katharsis spielt, für den geschichtslogischen Erzählbegriff bedeutungslos ist. Aristoteles schreibt, die Ereignisse sollten „wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen“.42 Wie lässt sich dieses Paradox erklären? Das thaumaston bei Aristoteles ist wohl so zu verstehen, dass sich eine Peripetie zunächst als widerständig gegen die Gebote der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit erweist, sich aber retrospektiv, also mit dem Wissen um die weitere Entwicklung der Handlung, mit dem Gebot der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit vereinbaren lässt. Ein Handlungselement kann nur dann zugleich wahrscheinlich und unwahrscheinlich sein, wenn man die zeitliche Dimension der Rezeption berücksichtigt: Das zunächst Widerständige wird schließlich akzeptabel. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung aber versucht das ‚Wunderbare‘ durch permanentes explizites Plausibilisieren der erzählten Geschichte gerade zu beseitigen, was uns zum nächsten Punkt führt: Der Selbstreflexivität der geschichtswissenschaftlichen Erzählung. 2.5. Kontrollierte Einbildungskraft Die bisherigen Ausführungen galten allein dem Erzählen als Erkenntnisoperation. Die geschichtswissenschaftliche Praxis produziert narrativ gebundenes Wissen. Die gesellschaftliche und kulturelle Funktion der Historiographie besteht aber im Erzählen von Geschichten mit Wahrheitsanspruch nach den Standards einer wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft. Um diesem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden, darf sich die Geschichtswissenschaft nicht darauf beschränken, in sich schlüssige Geschichten zu produzieren. Sie muss darüber hinaus erklären, warum ihre Geschichten plausibel sind. Rufen wir uns noch einmal Paul Veynes Bestimmung des Narrativen der historischen Erklärung ins Gedächtnis: „Erklären heißt für einen Historiker: ‚die Entwicklung der Fabel zeigen, sie verständlich machen‘“. Die Geschichten der Historiker sind also nicht nur aus sich heraus überzeugend, sondern der Historiker muss auch explizit erklären, warum sie einen bestimmten Verlauf und nicht einen anderen nehmen. So gesellt sich zur Geschichte an sich eine sie permanent begleitende erläuternde Rede über Methode, Theorien, Fragestellungen, Quellen und Begriffe. Während in der entpragmatisierten fiktionalen Erzählung die Einbildungskraft i. d. R. allein der dichterischen Wahrscheinlichkeit folgt, ist die geschichtswissenschaftliche Erzählung dem Rationalitätsgebot wis_____________ 42
Aristoteles 1982, 33.
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senschaftlicher Selbstreflexion unterworfen. In der Produktion von Wissen ist sie intersubjektiv, erkenntnisgeleitet und quellenbasiert. Jede Erzählung ist daher selbstverständlich revidierbar, falsifizierbar, vorläufig und von partialem Erklärungsanspruch. Ricœur unterscheidet in Zeit und Erzählung und anderen Publikationen eine Intelligibilität der Erzählung von einer Rationalität der Erzählung.43 Mit der Intelligibilität meint er die Eigenschaft der Erzählung, aus sich selbst heraus verständlich und schlüssig zu sein. Die Rationalität der Erzählung findet sich hingegen in den erklärenden Rekonstruktionen des Historikers: Sie stellen einen ‚Diskurs zweiten Grades‘44 dar, in dem die geschichtswissenschaftliche Erzählung ihren narrativen Erklärungsprozess gleich mehrfach zu ihrer eigenen Problematik macht: in der Begriffsbildung, im Streben nach Objektivität und in der kritischen Reflexion. Dabei greift der Historiker auf eine Fachsprache mit erkenntnisleitenden Begrifflichkeiten zurück.45 Geschichtswissenschaftliches Erzählen, dieser Schluss lässt sich sowohl aus Ricœurs Philosophie der Erzählung als auch empirisch ziehen, beruht auf dem Gebrauch einer kontrollierten Einbildungskraft. Sie hat zwar strukturelle Gemeinsamkeiten mit der allgemeinen kulturellen Praxis des Erzählens, ihre Eigenarten erfasst man aber erst dann, wenn man ihren gesellschaftlichen Ort (eine wissenschaftliche Institution), ihren kommunikativen Zusammenhang (einen wissenschaftlicher Diskurs) und die damit einhergehenden Regeln und Standards berücksichtigt. 3. Darstellungskonventionen des geschichtswissenschaftlichen Erzählens 3.1. Geschichtsschreibung und Literatur Die oben beschriebene Eigenart des geschichtswissenschaftlichen Erzählens führt zu spezifischen Erzählweisen. Diese sind historisch variabel, man kann an historiographischen Texten die Entwicklung der Geschichte zur Wissenschaft regelrecht ablesen: Einerseits bleibt sie narrativ, andererseits nehmen explizite Erklärungen an Bedeutung und Umfang immer mehr zu. Da sich der narrativistischen Argumentation zufolge nicht ohne weiteres eine narrative von einer nicht narrativen Geschichtsschreibung unterscheiden lässt, lässt sich Narrativität nicht auf die ‚traditionelle‘ poli_____________ 43 44 45
Ricœur 1986, 20 ff. Ricœur 1986, 20 ff. Ricœur 1988, 263-345. Auch das von Koselleck so genannte ‚Vetorecht der Quellen‘ gehört hierher: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die aufgrund der Quellen nicht machen dürfen“ (Koselleck 1977, 45 f., siehe auch Koselleck 1995, 153).
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tische Ereignisgeschichte historistischer oder positivistischer Prägung reduzieren. Damit kommt ein konkreter Erzählbegriff ins Spiel, der die historiographiespezifischen Erzählkonventionen und somit die Gestalt historiographischer Texte betrifft. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts litt die Diskussion um Geschichte und Erzählung darunter, dass diese zwei Formen von Narrativität nicht sauber von einander getrennt worden sind: der geschichtslogische Erzählbegriff einerseits und die Erzählverfahren der politischen Ereignisgeschichte als eine spezifische, den Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts verpflichtete Variante des historiographischen Schreibens andererseits. Dieses Missverständnis erklärt sich gerade durch die historiographischen Innovationen ab dem späten 19., vor allem aber ab dem frühen 20. Jahrhundert: Neue Erkenntnisinteressen führten zwangsläufig zu einer immer stärkeren Skepsis gegenüber der politischen Ereignisgeschichte. Die Kritik der französischen AnnalesHistoriker an einer traditionellen Ereignisgeschichte, sei sie nun romantisch oder positivistisch, ist bekannt.46 Schon Fernand Braudel bezeichnete Ereignisgeschichte als „vom Strom der Gezeiten heftig erregte Wellen“ und warnte: „Misstrauen wir dieser Geschichte, deren Glut noch nicht abgekühlt ist, der Geschichte, wie sie die Zeitgenossen im Rhythmus ihres _____________ 46
Das Etikett ‚neu‘ impliziert seit jeher eine Abkehr von bestimmten Erzählformen, die als überkommen abqualifiziert werden. Das gilt für die die nouvelle histoire nicht weniger als für den nouveau roman und die nouvelle vague. Die Kritik am ‚traditionellen‘ Erzählen gehört zu den klassischen Topoi solcher Bewegungen. Gerade im französischen Kontext fällt besonders die Analogie zwischen Alain Robbe-Grillets Kritik an Balzac (Robbe-Grillet 1963) und derjenigen der Annales-Historiker an der politischen Ereignisgeschichte auf. Neben fragmentierenden Erzähltechniken spielt in der Poetik des nouveau roman vor allem die Selbstreflexivität eine große Rolle. Die Forderung nach einer Modernisierung der Geschichtsschreibung nach dem Vorbild der Literatur, verstanden als Emanzipation von den Erzählkonventionen 19. Jahrhunderts, ist aber wohl zurückzuweisen: Fragmentieren kann der Historiker nicht, da seine Texte im Unterschied zu fiktionalen Texten nicht verrätselt sein dürfen, sondern die Form einer verständlichen, diskutierbaren Aussage haben müssen. Illusionsbrechung ist für die Geschichtswissenschaft ohnehin kein Thema, da Selbstreflexivität eine Selbstverständlichkeit darstellt und sinnlich erfahrbare Beschreibungen, wie oben ausgeführt, immer von Aussagen über die Konstruktion der Vergangenheit begleitet sind (siehe auch Droysens Metapher von der „Zubereitung der Speise“). An dieser Stelle sei ein Problem wenigstens kurz angesprochen: die spätmoderne Kritik an der Erzählung impliziert, dass die ‚geschlossene‘ Form der Erzählung der Wirklichkeit unangemessen ist, weil diese nämlich per definitionem ungeordnet und chaotisch sei. Zwar trifft es ohne Zweifel zu, dass wir uns Geschehen als semantisch offen und die Erzählung als semantisch geschlossen vorzustellen haben, aber schon die gelebte Wirklichkeit ist durchaus semantisch strukturiert, nicht zuletzt durch Geschichten. Erzählungen bestehen aus Handlungen, aber umgekehrt haben Handlungen immer schon ein narratives Sinnpotential bzw. eine narrative Prägung (Ricœur 1988, 90-104, Süßmann 2000, 264, Anm. 11, Schapp 42004, Rüth 2011). Die oben zitierte Passage aus Kap. 10 der Poetik enthält ebenfalls eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte Formulierung: „Die Fabeln sind teils einfach, teils kompliziert. Denn die Handlungen, deren Nachahmungen Fabeln sind, sind schon von sich aus so beschaffen“ (Aristoteles 1982, 33 [Hervorhebung A. R.]).
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Lebens – das kurz war wie das unsere – empfunden, beschrieben, erlebt haben“,47 während sich die wesentlichen Veränderungen in der Tiefe der longue durée abspielten. Doch schon lange bevor die Geschichtswissenschaft ihr Faible für longue durée und Strukturen entdeckte, kritisierte Droysen in seiner Historik ‚literarisch‘ schreibende Historiker dafür, die Phantasie ihrer Leser mit Vorstellungen zu erfüllen, „die von der breiten, harten, zäh langsamen Wirklichkeit nur die glänzend beleuchteten Spitzen zusammenfassen“.48 Sie böten nur die leichte Kost der ästhetischen Illusion, während die moderne Wissenschaft von der Geschichte dem Leser „die Zubereitung der Speise statt der Speise“49 anbieten solle. Die Kritik an der Ereignisgeschichte hat also nichts mit der Frage nach der konstitutiven Narrativität der Geschichtsschreibung zu tun, sondern wendet sich gegen eine bestimmte Vorstellung von Geschichte, in der Entwicklungen vornehmlich auf der Ebene der menschlichen Handlungen erklärt werden und in der Geschichte als Resultat menschlicher Handlungen aufgefasst wird. Historiographiegeschichtlich erklärt sich das seitdem immer mehr verblassende Prestige der Geschichten großer Individuen und Nationen durch die wachsende Bedeutung von Begriffsbildung, Methode und Theorie. Die Geschichtsforschung hat sich zu einem wissenschaftlichen Kommunikationsmodell entwickelt, das die Geschichte endgültig von Rhetorik und Poetik unterscheidbar macht. Hinzu kommt, dass sich die geschichtsphilosophische Überzeugung, die Geschichte trage ihr Ziel in sich, überlebt hat. So erklärt sich die Abwesenheit von Theorie in Michelets Histoire de France durch den quasi religiösen Glauben an Vernunft, Volk und Republik als die Kräfte, die die Geschichte vorantreiben, im Grunde eine säkularisierte Heilsgeschichte. Trotz aller sicherlich berechtigten Kritik an der Ereignisgeschichte steht die Geschichtswissenschaft weiter vor dem Problem, dass ihre Texte jenseits des Wissens die Vergangenheit auch ‚sinnlich‘ veranschaulichen müssen, ist sie doch als Sinnentwurf nicht auf Zahlen, Statistiken oder Gesetzmäßigkeiten reduzierbar. Die Vermittlung von vergangenen menschlichen Handlungen und Erfahrungen macht Erzählen notwendig, nicht nur im Sinne des geschichtslogischen Erzählbegriffs, sondern auch bezüglich der narrativen Pragmatik. Historiographiegeschichtlich beschreiben lässt sich die zunehmende Verwissenschaftlichung daher nicht als Abkehr vom Erzählen, sondern als Suche nach neuen, adäquaten Erzählweisen. Dabei hat sich die wissenschaftliche Historiographie von den Entwicklungen des fiktionalen Erzählens immer stärker entkoppelt. Von _____________ 47 48 49
Braudel 1990, 20 f. Droysen 1977, 419. Droysen 1977, 418.
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einem Austausch oder Dialog zwischen den beiden Diskursen kann heute schon lange keine Rede mehr sein.50 Im Folgenden seien zwei zentrale Problematiken, das Autor-Erzähler-Verhältnis und das perspektivische Erzählen eingehender untersucht. 3.2. Autor und Erzähler Welchen Sinn soll es haben, vom ‚Erzähler‘ in Michelets Histoire de la Révolution Française zu sprechen, fragt Gérard Genette in Fiktion und Diktion, und schlußfolgert: „wenn A = N, exit N, denn es ist ganz einfach der Autor, der erzählt“.51 Zeichnen sich fiktionale Texte durch die willing suspension of disbelief aus, so gilt für geschichtswissenschaftliche Texte das Gegenteil: Der Äußerungsakt ist nicht fiktional, sondern vom Autor selbst in jeder Hinsicht zu verantworten. In Anlehnung an Patrick Lejeunes autobiographischen Pakt ließe sich von einem historiographischen Pakt sprechen, wenn auch mit einem wesentlichen Unterschied: Genettes Formel gilt zwar für die Autobiographie wie für die Historiographie, doch anders als beim autobiographischen Pakt geht die Verpflichtung des Historikers zur Wahrheit im Falle der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung mit einer Verpflichtung zum Beweis einher. Dem autobiographischen Autor tritt der Leser gutgläubig gegenüber. Man vertraut dem Erinnerungsvermögen, Skepsis kommt erst auf, wenn sich Widersprüche ergeben, wie im Fall der belgischen Autorin Misha Defonseca, die in ihrer ‚Autobiographie‘ behauptet, den Holocaust als Kind in der schützenden Gemeinschaft eines Wolfsrudels überlebt zu haben.52 Dem Historiker steht ein solches Wohlwollen in der fachinternen Auseinandersetzung nicht zu, er muss von der ersten Seite an Beweise liefern und sein Vorgehen plausibel machen. _____________ 50
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Diese Behauptung hinsichtlich der Unterscheidbarkeit von fiktionaler und faktualer Erzählung ist wohlgemerkt nicht essentialistisch zu verstehen. Sie meint lediglich, dass das imaginativ freie Erzählen einerseits und das an intersubjektive Überprüfung gebundene wissenschaftliche Erzählen von Geschichte verschiedene Schreibkonventionen hervorgebracht haben. Doch bleibt es einem Fiktionsautor selbstverständlich unbenommen, wissenschaftliche Schreibkonventionen zu imitieren (als wohl bekanntester Fall darf Wolfgang Hildesheimers fiktive Biographie Marbot gelten), wie auch Historiker gegen die Konventionen ihrer Disziplin verstoßen können, etwa wenn sie in Alterswerken oder in Büchern, die ein breites Publikum erreichen sollen, mehr auf ihre Autorität und ihr über die Jahrzehnte erworbenes Wissen als auf methodische Reflexion, Empirie und Fußnoten setzen, um das Erzählte zu beglaubigen. Siehe auch Anm. 46 zu den Modernisierungsgrenzen der Geschichtsschreibung. Genette 1991, 88. (A = Autor, N = Erzähler). Defonseca 1997.
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Doch auch in anderer Hinsicht bedarf Genettes Beobachtung einer Ergänzung: Bei aller Plausibilität der These von der Autor-ErzählerIdentität darf nicht vergessen werden, dass auch ein realer historiographischer Autor gleichwohl die stilistische Wahl zwischen vielen verschiedenen Erzählstimmen hat, wie sich an einer beliebigen Auswahl historiographischer Texte demonstrieren ließe. So kann der Historiker beispielsweise als Feldforscher auftreten, der den Leser an seinen Fortschritten und Rückschlägen teilhaben lässt, als nüchterner Interpret empirischer Daten, oder als wissenschaftliche Kapazität, die ihre institutionelle Autorität dazu nutzt, die dargestellte Vergangenheit in der Art eines Mystagogen als eine eigentlich verborgene, von ihm allererst sichtbar gemachte zu präsentieren, ohne sich groß um Fußnoten und Belege zu kümmern. Diese verschiedenen Möglichkeiten, den Erzähler textimmanent zu inszenieren, ändern natürlich nichts an der qua Diskurskonvention festgelegten Identität von Autor und Erzähler. Die Ambiguität des Verhältnisses von Autor und Erzähler in der Historiographie hat Konsequenzen für die Narration. So lässt sich an konkreten Texten ablesen, dass die nach heutigen Maßstäben mangelnde Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in der Tat mit einer starken Literarizität einhergeht. Michelets Histoire de France (1833 ff.) erscheint dem heutigen Leser nicht nur sehr tendenziös, sondern auch sehr nah an literarischen Schreibweisen wie derjenigen Balzacs. Nicht nur der Hang zum pittoresken Detail verbindet die beiden, sondern auch der pathetische Erzählgestus des Mystagogen: Verspricht Balzac seinem Leser Einblicke in eigentlich verborgene Welten und Abgründe, so inszeniert sich Michelet als Hohepriester der résurrection, der in seinen Büchern die Menschen der Vergangenheit wieder zum Leben erweckt.53 Eine solche Inszenierung des Erzählers ist nur einem Autor möglich, der sich des Vertrauens seiner Leser sicher sein kann und der sich seine Autorität und Legitimation nicht durch die Beachtung wissenschaftlicher Standards erst erwerben muss. Doch gibt es auch das Gegenstück zu diesem romantischen Stratum: einen Realismus, der – ganz im Sinne eines effet de réel – auf einem verborgenen Erzähler aufbaut. Beispielhaft sei hier auf Michelets Zeitgenosse Augustin Thierry hingewiesen, der in seinen Lettres sur l’Histoire de France (1820-27) ankündigt, ganz hinter der Darstellung verschwinden zu wollen, um die Fakten für sich allein sprechen zu lassen.54 _____________ 53 54
Michelet 1974, 613 f. „Je voulais mettre en évidence le caractère démocratique de l’établissement des communes, et j’ai pensé que j’y réussirais mieux en quittant la dissertation pour le récit, en m’effaçant moi-même et en laissant parler les faits“ (Thierry o. J., 5). Vgl. auch: „[...] les personnages et les époques doivent paraître en scène dans le récit; ils doivent s’y montrer en quelque sorte tout vivants comme sur un théâtre [...]“. (Lettres sur l’Histoire de France (Ve lettre), zitiert
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Während diese Form der Objektivität ein rein rhetorisches Phänomen darstellt, ist der Erzähler bei Michelet zwar sehr präsent, nutzt dies aber nicht dazu, die Geschichte rational und intersubjektiv überprüfbar zu plausibilisieren.55 Es liegt auf der Hand, dass sich diese beiden Idealtypen vorwissenschaftlicher moderner Historiographie nicht mit moderner Wissenschaftlichkeit in Einklang bringen lassen. Diese setzt voraus, dass der AutorErzähler präsent (overt) ist, und dies ausschließlich zum Zwecke der rationalen Plausibilisierung seiner Erzählung. 3.3. Perspektivisches Erzählen Interne Fokalisierungen (verstanden als das Privileg eines auktorialen Erzählers) gelten als prekär in der wissenschaftlichen Historiographie. Zum einen gibt es in der Regel keine Quellen, die zuverlässig Aufschluss darüber geben, was ein individueller Mensch in einer gegebenen Situation – sagen wir Napoleon während der Überfahrt von Elba nach Antibes 1814 – empfunden hat.56 Doch würde auch eine außerordentlich günstige Quellenlage nichts daran ändern, dass das Erleben mit den Figuren wie auch der Blick in die Figuren eher unkonventionell ist. Denn das perspektivische Erzählen gilt als ein Privileg des fiktionalen Erzählens, ja als Fiktionssignal. Nur wer die Menschen, deren Handlungen er erzählt, erfunden hat, kann ohne Erkenntnisgrenzen ihre Empfindungen schildern. Dennoch kommt es gelegentlich vor, dass auch wissenschaftlich anerkannte Historiker die Perspektive von Figuren einnehmen. Allerdings geschieht dies _____________
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nach Massmann 1972, 84). Damit entspricht Thierry idealtypisch dem Temporalsystem der histoire im Sinne Benvenistes: „Niemand spricht hier, die Ereignisse scheinen sich von selbst zu erzählen“ (Benveniste 1966, 241 [meine Übersetzung]). Der Topos vom Verschwinden-Wollen hinter der Darstellung kann sich auch auf die ‚große‘ Geschichte selbst beziehen, so bei Ranke: „Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, nur die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“ (Ranke 1870, 103). Abgesehen von der Frage, ob der Text die singuläre programmatische Äußerung überhaupt bestätigt: Am Ende verweist der Wunsch nach dem Verschwinden des Äußerungssubjekts, wohinter auch immer, nur auf eines, die dem Text implizit zugrunde liegende Geschichtsphilosophie. Im Grunde kann man Michelet nicht einmal den Vorwurf machen, statt Konzepten und Begriffen die reine Phantasie walten zu lassen, denn sein Geschichtsbild verfügt sehr wohl über im Erzähldiskurs explizit gemachte Aspekte, denen man den Status von Konzepten zusprechen muss, etwa die geschichtsphilosophische Überzeugung, dass Geschichte eine Richtung hat, den Kampf der Freiheit gegen das Schicksal, der Republik gegen autoritäre Regierungsformen. Was seine Bücher aus wissenschaftlicher Perspektive prekär macht, sind die spezifischen Eigenschaften dieser Konzepte. Hinzu kommt, dass man sich, wenn der Fokus so stark auf einer Person liegt, im Bereich der verpönten Ereignisgeschichte bewegen würde.
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häufig auf andere Weise als in fiktionalen Erzählungen: Die Fokalisierungsinstanz ist entweder ein typisches Individuum oder aber kollektiv (eine soziale Gruppe). Wenn es sich tatsächlich um ein Individuum handelt, das zur Fokalisierungsinstanz gemacht wird, dann verbirgt sich bei näherer Betrachtung in der Fokalisierung oft ein allgemeines Wissen, das auf den individuellen Fall übertragen wird. Dieses konzeptuelle Wissen muss i. d. R. als solches gekennzeichnet werden.57 Interne Fokalisierungen sind somit sicherlich eine eher unübliche stilistische Freiheit in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, sie sind aber mitnichten per se ein Hinweis auf eine unkontrollierte Einbildungskraft.58 Es lässt sich auf diese Weise eine typische, repräsentative Einstellung anschaulich zur Darstellung bringen: Berücksichtigt man diesen Verwendungszweck, dann wird deutlich, dass das Phänomen der internen Fokalisierung zwar ohne Zweifel ein fiktionstypisches Erzählverfahren ist, jedoch keinen Hinweis auf eine ‚Fiktionalisierung‘ der Geschichte gibt. 4. Geschichte als kollektiver Text Eine letzte Ebene, auf der die Geschichtswissenschaft narrativ ist, betrifft das, was man den „kommunikativen Text des Geschichtenerzählens“ genannt hat. Darunter ist „ein zeitlicher Prozeß, der den Anderen mit sprachlichen Mitteln in einen gemeinsamen Text ‚verwebt‘“59, zu verste_____________ 57
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Dies ist der Fall in der Beschreibung des langen Sterbens der Titelfigur in Georges Dubys fußnotenfreier, für ein breites Publikum geschriebener Studie Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter: „Der Graf Maréchal kann nicht mehr. Die Last erdrückt ihn jetzt. Vor drei Jahren, als man ihn drängte, die Regentschaft zu übernehmen, als er nach langem Sträuben einwilligte, ‚Herr und Hüter‘ des jungen Königs und des ganzen Königreichs England zu werden, hatte er es doch gesagt, und nicht nur einmal: ‚Ich bin zu alt, zu schwach und ganz zerschlagen‘. Über achtzig Jahre, so sagte er. Ein wenig übertrieb er, er wusste nämlich nicht genau, wie alt er war. Aber wer wusste das damals schon? Im Leben waren andere Daten wichtiger als die Geburt. Den Geburtstag vergaß man. Und betagte Männer von hohem Ansehen waren so selten, dass man sie älter machte, dass sie selbst sich noch älter machen. Aber auch wir wissen nicht genau, wann Guillaume le Maréchal geboren wurde. Die Historiker haben überschlagen, nachgerechnet; ihr Vorschlag: um das Jahr 1145“ (Duby 1997, 5). Vgl. dazu auch Süßmann (2000), der in seiner Lektüre Rankes auf sehr überzeugende Weise deutlich macht, dass der Ranke immer wieder gemachte Vorwurf einer ungezügelten Literarisierung der Geschichte unbegründet ist: Die erlebte Rede behält „trotz ihrer Form den Status einer Erörterung. Der Erzähler reflektiert auf die politische Lage seiner Protagonisten, personalisiert seine Ergebnisse und verwandelt sie in eine Hypothese darüber, was [Ludovico] Sforza empfunden haben müsste“ (Süßmann 2000, 240). Es handelt sich also um „methodisch gewonnene Mutmaßungen […]: idealtypische Rekonstruktionen im Sinne Max Webers“ und „das Analogon zu einer begrifflichen Konstruktion“ (Süßmann 2000, 258). Zur Fokalisierung siehe auch Rüth 2005, 81 f., 110, Jaeger 2009, 125 f. Röttgers 1982, 33.
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hen. Dieser kommunikative Text, so ließe sich ergänzen, verweist auch auf ein kollektives textuelles Produkt, eine Erzählung, die nirgends existiert, die aber als heuristische Fiktion den äußersten Horizont der historischen Erkenntnis darstellt. Die Texte, die Historiker schreiben, sind im Gegensatz zu fiktionalen Texten per definitionem partial, da sie stets im Kontext eines kollektiven Erzählprojekts stehen, eines virtuellen Texts, an dem alle Historiker beteiligt sind. Partialität impliziert Revidierbarkeit, aber auch die Vorstellung einer Anschließbarkeit und einer idealen Komplementarität.60 Hinsichtlich der Innovationen des Erzählens in der fiktionalen Literatur sei abschließend der Gedanke geäußert, dass sich diese kollektive Erzählung mit einem Großteil der Entwicklungen des modernen Erzählens vereinbaren lässt. Die Entwicklung weg von der Vorstellung einer kontinuierlichen Geschichte hin zu einer multiperspektivischen, in Grenzen fragmentarisierten Geschichte mit verschiedenen Ebenen und Geschwindigkeiten ist geradezu Ausweis einer adäquaten Modernisierung des historischen Denkens. Wirtschaftsgeschichten, Mentalitätsgeschichten, und politische Geschichten schließen sich gegenseitig ebenso wenig aus wie Strukturen, longue durée und Ereignisse. Die Geschichte der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung kennt einerseits eine Konstante, die Erzählung, aber sie ist andererseits durch eine Zunahme an Komplexität gekennzeichnet: Neue Fragen und damit einhergehende neue Methoden haben auch den kollektiven kommunikativen Text der Geschichte vielschichtiger und komplexer werden lassen.
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Vgl. Ricœur 1988, 264: „Während es keinen Sinn macht, Märchen, Romane und Theaterstücke zusammenzustückeln, ist es eine legitime Frage, wie die Geschichte dieser oder jener Periode sich an die einer anderen Periode, wie die Geschichte Frankreichs sich an die Englands anschließt usw., oder wie sich die politische oder militärische Geschichte dieses oder jenes Landes zu dieser oder jener Zeit an seine Wirtschafts-, Sozial-, Kulturgeschichte usw. anschließt. Dem historischen Unternehmen liegt ein geheimer Kartographen- oder Diamantschneidertraum zugrunde. Selbst wenn die Idee der Universalgeschichte für immer eine Idee im Kantischen Sinne bleiben muß und kein Geometral im Leibnizschen Sinne bilden kann, so ist doch die Arbeit der Annäherung, die die konkreten Ergebnisse der individuellen oder gemeinschaftlichen Forschung jener Idee näher bringen kann, weder leer noch sinnlos. Diesem Wunsch nach Anschluß seitens der historischen Tatsache entspricht die Hoffnung, daß sich die Resultate verschiedener Forscher aufgrund von Komplementarität und wechselseitiger Berichtigung kumulieren lassen.“ – Zwar zeichnen sich alle Wissenschaften durch Diskursivität aus und implizieren deshalb die Vorstellung eines partialen, revidierbaren Wissens und insofern könnte man zu Recht behaupten, dass jede Wissenschaft in einen virtuellen kollektiven Wissenstext mündet. Aber im Unterschied zu den Naturwissenschaften oder zur Psychologie ist der kollektive Text der historischen Disziplinen weder gesetzförmig noch systematisch strukturiert. Er bezieht sich auf ein zeitliches Kontinuum und ist deshalb selbst narrativ.
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KARL N. RENNER (Mainz)
Rudimentäres Erzählen nicht-fiktionaler Ereignisse in fernsehjournalistischen Nachrichtenfilmen Eine Fallstudie zur SPD-Führungskrise im März 2008 1. Fiktionales und nicht-fiktionales Erzählen Die bevorzugten Gegenstände der Erzähltheorie und Narrativik sind künstlerische und fiktionale Texte sprachlicher und nicht-sprachlicher Natur, seien es Romane und Novellen, Zaubermärchen, Bühnenstücke oder Spielfilme.1 Das ist nicht verwunderlich, denn diese Forschungsdisziplin entstammt einem Kernbereich der Literaturwissenschaft. Beschäftigte sich doch schon die klassische Poetik ausführlich mit den Formen und den Inhalten des Erzählens. Wie die wissenschaftstheoretische Diskussion um Thomas S. Kuhns Paradigmenkonzept zeigt, ist die Wahl der Gegenstände, auf deren Grundlage wissenschaftliche Theorien entwickelt werden, für das Erklärungspotenzial wissenschaftlicher Theorien alles andere als belanglos (Stegmüller 1980). Dies gilt auch für die Erzähltheorie, was sofort deutlich wird, versucht man sie zur Analyse nicht-fiktionaler Texte heranzuziehen. Zwei Probleme sind dann besonders virulent: Wie erklärt man die Handlung nicht-fiktionaler Erzählungen und wie unterscheidet sich nichtfiktionales Erzählen vom Berichten? Dies soll hier am Beispiel der Fernsehberichterstattung über den Endpunkt der SPD-Führungskrise im März 2008 diskutiert werden.
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Mein Textbegriff orientiert sich am integrativen Textbegriff von Klaus Brinker, wonach der Terminus ‚Text‘ „eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen [bezeichnet], die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (Brinker 1997, 17). Ausgehend davon verstehe ich auch kohärente Komplexe ikonischer Zeichen als Texte (Renner 2007, 305 ff.).
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1.1. Fiktionale und nicht-fiktionale Handlung Eine Erzählung ist Ausführung und Resultat einer kommunikativen Handlung, die von einem Subjekt vollzogen wird: der Mitteilung einer Geschichte. Unter der Handlung einer Erzählung versteht man jedoch weniger diese Handlung des Erzählens als den Gegenstand, der erzählt wird, die Geschichte. Je nach Terminologie auch Fabel, histoire oder plot. In fiktionalen Erzählungen wird die Geschichte während des Erzählens vom erzählenden Subjekt entwickelt, wenn nicht gar erfunden. Nicht aber in nicht-fiktionalen Erzählungen. Hier ist die Handlung etwas Vorgefundenes. Etwas, das Begebenheiten miteinander verbindet, die sich tatsächlich so ereignet haben. Das ist so lange unproblematisch, so lange man unter der Handlung einer Erzählung nicht mehr versteht als die Mimesis des intentionalen Tuns und Lassens menschlicher oder zumindest anthropomorpher Akteure. Doch da die Handlungen von Erzählungen auch nicht-intentionale Ereignisse umfassen, etwa Naturkatastrophen, Unfälle und Zufälle, lassen sie sich nicht auf die bloße Abbildung menschlichen Handelns reduzieren.2 Sie sind viel eher durch die Reihenfolge der jeweiligen Ereignisse definiert. Wie Vladimir Propps Untersuchungen des russischen Zaubermärchens (Propp [1928] 1975) und die Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss (Lévi-Strauss [1955] 1978) übereinstimmend zeigen, manifestiert sich in der Abfolge dieser Ereignisse die Botschaft der erzählten Geschichte. Nicht-fiktionale Erzählungen werfen damit die Frage auf, wie ihre Handlungen zu erklären sind, wenn man diese nicht als Mimesis, sondern als Fabel, als Abfolge der erzählten Ereignisse versteht. Bei fiktionalen Erzählungen kann die Organisation der Fabel als eine Leistung des erzählenden Subjekts begriffen werden. Das ist bei individuell zuordenbaren Erzählungen die Person des Autors. Auch bei Märchen und Mythen lässt sich die Abfolge der Ereignisse als Resultat eines in die Architektur des menschlichen Geistes eingeschriebenen Bilds der Welt verstehen (LéviStrauss 1980, 437). Aber was ist, wenn der Plot einer Erzählung nicht ausgedacht ist, sondern tatsächlichen Begebenheiten entspricht? Bewegt sich die Narrativik bei der Untersuchung solcher Erzählungen noch auf ihrem genuinen Terrain oder sollte sie das nicht besser der Theologie oder zumindest der Metaphysik überlassen? Der Geschichtsschreiber, so gibt Gustav Freytag die Position des 19. Jahrhunderts wieder, „unterscheidet sich von dem Dichter dadurch, daß er gewissenhaft das wirklich Geschehene so zu verstehen sucht, wie es that_____________ 2
Zum allgemeinen Begriff von Handeln als „intentionalem Tun und Lassen“ vgl. Schmidt & Zurstiege 2000, 146 ff. Eine ausführliche Diskussion des Begriffskonzeptes „Handlung einer Erzählung“ bietet Meister 2003.
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sächlich in die Erscheinung getreten war, und daß der innere Zusammenhang, den er sucht, durch eine Weltordnung hervorgebracht wird, welche wir als göttlich, unendlich, unfaßlich verehren“ (Freytag 1863, 12 f.). Nimmt man wiederum an, dass sich die Fabel nicht-fiktionaler Erzählungen im Gegensatz zur Fabel fiktionaler Erzählungen in der Mimesis vorgefundener Begebenheiten erschöpft, dann verschiebt man nur das Problem. Denn dann stellt sich die Frage, warum man den Begriff Erzählen für die Mitteilung zweier derart unterschiedlicher Gegenstandskategorien verwendet. 1.2. Erzählen und Berichten Nicht allein die Geschichtsschreibung, auch der Journalismus muss sich mit den Problemen des nicht-fiktionalen Erzählens auseinandersetzen. Da der Journalismus erzählende wie berichtende Textgattungen verwendet, besitzt für ihn die Frage nach dem Unterschied von Erzählen und Berichten ein besonderes Gewicht. Hier stellt der klassische Journalismus das Berichten in den Vordergrund, auch wenn es immer wieder Bewegungen wie den New Journalism gibt, die das „Storytelling“ und nicht das Berichten als wesentliche Aufgabe des Journalismus betrachten (Bleicher & Pörksen 2004). Der Vorrang, den der klassische Journalismus dem Berichten einräumt, wird insbesondere daran deutlich, dass er die Nachrichtenmeldung – genauer gesagt: die Hard News – als seine wichtigste Textgattung betrachtet (LaRoche 1975, 57). Eine Nachricht ist nichts anderes als eine spezifische Kurzform des Berichts, deren thematische Entfaltung dem Prinzip „Das Wichtigste zuerst“ folgt. Neben der Hard News kennt der Journalismus noch zwei narrative Varianten der Nachrichtenmeldung: die Soft News im Boulevardjournalismus (LaRoche 1975, 89) und die Magazinmeldung im Zeitschriftenjournalismus (Wolff 2006, 66). Sie unterscheiden sich von einer Hard News dadurch, dass sie nicht unbedingt das Wichtigste zuerst melden. Man kann sie – wie es im Journalismus heißt – „nicht vom Ende her kürzen“, d.h. man kann bei ihnen nicht die letzten Absätze streichen, ohne ihre wesentlichen Informationen zu gefährden. Als die zentrale narrative Gattung des Journalismus gilt jedoch die Reportage. Ihr charakteristisches Merkmal ist das attraktive, wirkungsmächtige Erzählen. Sie soll, wie die bekannte Definition von Michael Haller besagt, „die Zuhörer/Leser am Geschehen geistig und emotional teilhaben, sie miterleben lassen durch die authentische Erzählung“ (Haller 1995, 62). Folgt man dieser Definition, so reduziert sich der Unterschied zwischen Erzählung und Bericht auf ein bloßes Oberflächenphänomen.
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Dem sachlichen Stil des Berichts steht der plastische, auf Wirkung ausgerichtete Stil der Reportage gegenüber, wobei Reportagen außerdem noch subjektive Sprecherperspektiven entwickeln können, während Berichte immer sprecherlose Texte sind. Doch unabhängig davon könnten demnach beide Textgattungen gleichermaßen Geschichten erzählen. Denn eine der wesentlichen Erkenntnisse der strukturalen Erzählanalyse ist es ja gerade, dass Geschichten eine von der Gestaltung der textlichen bzw. medialen Oberfläche unabhängige Größe sind (Renner 2000, 44). Warum insistiert dann aber der klassische Journalismus so sehr auf dem zentralen Stellenwert von Nachricht und Bericht? So schreibt etwa Volker Wolff, eine Reportage könne „in der Regel keinen Bericht ersetzen, weil sie stark auf das authentische Wiedergeben der Situation und weniger auf die journalistische Weitergabe von Fakten ausgerichtet ist“ (Wolff 2006, 194). Was also unterscheidet das Erzählen vom Berichten über reine Gestaltungsfragen hinaus? 2. Untersuchungsgegenstand Da eine Geschichte wie alle anderen zeichenhaft vermittelten Sachverhalte immer an eine mediale Ausdruckssubstanz gebunden ist, worin sie sich als Erzählung – oder auch als Bericht? – manifestiert, sollen hier die Fragen nach der Abfolge nicht-fiktionaler Ereignisse und nach der Differenz von Erzählung und Bericht nicht losgelöst voneinander diskutiert werden. Auch sollen sie nicht rein theoretisch, sondern anhand eines konkreten empirischen Gegenstandes beantwortet werden, anhand der Berichterstattung über das Ende der SPD-Führungskrise im März 2008. 2.1. Die Führungskrise der SPD im März 2008 Ausgelöst wurde diese Krise durch die Absicht der hessischen SPD, nach den Landtagswahlen vom 27. Januar 2008 eine von der Linken geduldete rot-grüne Landesregierung zu installieren. Bei diesen Wahlen waren zum ersten Mal fünf Parteien in den Landtag eingezogen. Dabei war es zu einem Patt zwischen CDU und SPD gekommen. Da sich die FDP einer Ampelkoalition verweigerte, konnte die SPD ihr erklärtes Wahlziel, CDUMinisterpräsident Roland Koch abzulösen, nur mit einer rot-grünen Minderheitsregierung erreichen, die auf die Duldung durch die Linke angewiesen war. Allerdings hatte die hessische SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti vor der Wahl jede Zusammenarbeit mit den Linken öffentlich aus-
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geschlossen. Auch hatte der Bundesvorstand der SPD eine Kooperation mit der Linken lediglich in ostdeutschen, nicht aber in westdeutschen Landtagen akzeptiert. Dennoch bemühte sich Ypsilanti nach dem Scheitern der Gespräche mit der FDP um die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung, die von der Linken toleriert werden sollte. Mitte Februar, kurz vor den Bürgerschaftswahlen in Hamburg, wurde eine vertrauliche Äußerung des SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck bekannt, wonach er die Bildung einer solchen Minderheitsregierung nicht gänzlich ablehnen würde.3 Dies wurde in der öffentlichen Diskussion als Abkehr von der bisherigen SPD-Position gesehen, weder im Bund noch in einem westdeutschen Bundesland eine Zusammenarbeit mit der Linken einzugehen.4 Prompt verlor die SPD die Wahlen in Hamburg. Kurz darauf erkrankte Beck so stark, dass er zwei Wochen lang nicht öffentlich auftreten konnte. Währenddessen gab Ypsilanti am 4. März 2008 ihre Kandidatur für das Amt des hessischen Ministerpräsidenten bekannt. Daraufhin erklärte die hessische SPD-Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger am 6. März 2008, dass sie Ypsilanti nicht wählen werde, da sie jede Zusammenarbeit mit der Linken strikt ablehne. Ypsilanti zog dann am 7. März 2008 ihre Kandidatur zurück, was die öffentliche Diskussion jedoch nicht beruhigte. Denn bereits am nächsten Tag wurden in der SPD Stimmen laut, dass Metzger ihr Landtagsmandat niederlegen solle, um Ypsilanti doch noch den Weg frei zu machen. Ja, es wurde sogar der Parteiausschluss von Metzger gefordert. Das alles führte zu einem dramatischen Ansehensverlust der SPD. Denn während sich die verschiedenen Vorstandsmitglieder höchst widersprüchlich zu den Vorgängen in Hessen äußerten, war vom SPDVorsitzenden Beck während seiner Erkrankung nichts zu hören. Kaum genesen, kündigte er aber eine Pressekonferenz an, die am Montag, dem 10. März 2008, im Anschluss an die Sitzung des SPD-Bundesvorstands in Berlin stattfinden sollte. Da Beck hier zum ersten Mal öffentlich zur Situation seiner Partei Stellung nehmen wollte, fand diese Pressekonferenz schon im Vorfeld ein außerordentlich großes Interesse.
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Vgl. „Ypsilanti liebäugelt mit der Linken – SPD-Spitze bestreitet Kooperationspläne“ http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,536657,00.html [Abruf: 16. Mai 2010]. Vgl. „Becks linke Nummer“ SPIEGEL Online 21.2.2008. http://www.spiegel.de/politik/ debatte/0,1518,536835,00.html Dazu auch: „Schauspielerin Ypsilanti“ http://www.focus. de/magazin/tagebuch/tagebuch-schauspielerin-ypsilanti_aid_263564.html [Abruf 16. Mai 2010].
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2.2. Die Fernsehberichterstattung am 9. und 10. März 2008 Dementsprechend bestimmten die Entwicklungen innerhalb der SPD auch die politischen Fernsehsendungen dieses Wochenendes. Am Sonntag, dem 9. März 2008, fragte der ARD Presseclub mittags plakativ: „Ohrfeige für Kurt Beck – Wohin steuert die SPD?“5 Abends war dies das Thema eines langen Schaltinterviews mit dem saarländischen SPDLandesvorsitzenden Heiko Maas in der ZDF-Sendung Berlin direkt. Später am Abend diskutierte noch Anne Will die Lage der SPD mit Vertretern der verschiedenen Parteien.6 Auch enthielten die Fernsehnachrichten von ARD und ZDF Live-Schaltungen zu Korrespondenten vor Ort in Berlin. Am Montag, dem 10. März 2008, wurde dann die Pressekonferenz Kurt Becks im ARD-ZDF-Dokumentationskanal Phoenix live übertragen. Sie war der Aufmacher in den Nachrichtensendungen am Montagabend und bestimmte am Dienstag die Schlagzeilen der Tageszeitungen. Das öffentliche Aufsehen, das diese Pressekonferenz erregte, kann als Indikator für die Ereignishaftigkeit dieser Veranstaltung gelten. Die Berichterstattung dazu unterbricht so deutlich die alltägliche Routine, dass sie nach dem kommunikationswissenschaftlichen Konzept der Media Events als Medienereignis einzustufen ist (Dyan & Katz 1992), selbst wenn es außer der Übertragung auf Phoenix keine weiteren Live-Sondersendungen gab. Dem widerspricht auch nicht, dass Pressekonferenzen in der Kommunikationswissenschaft lange Zeit als Pseudoereignisse, als Inszenierungen zur Beeinflussung der Medien, eingestuft wurden (Kepplinger 1990, 43). Diese Position hat sich inzwischen geändert, und Pressekonferenzen werden nun als „eine spezielle Art von Ereignissen“, als „Stellungnahmen“ betrachtet (Kepplinger 2001, 119). 2.3. Sendeformate Um den Gegenstandsbereich der weiteren Untersuchung festzulegen, muss man berücksichtigen, dass an diesem Wochenende alle drei Submedien des Fernsehens7 zur Berichterstattung benutzt wurden. Sie sind _____________ 5 6
7
Die Teilnehmer sind: Uwe Vorkötter (Frankfurter Rundschau), Bascha Mika (taz), UweCarsten Heye (Vorwärts), Bernd Hilder (Leipziger Volkszeitung), Nina Bovensiepen (Süddeutsche Zeitung). Die Gäste sind: Hannelore Kraft (SPD-Vorsitzende NRW), Garrelt Duin (SPD-Vorsitzender Niedersachsen), Christine Haderthauer (Generalsekretärin der CSU) Peter Müller (CDU, Ministerpräsident Saarland), Klaus Ernst (stv. Vorsitzender Die Linke) sowie der „Fairnessforscher“ Prof. Armin Falk (Universität Bonn). Ähnlich wie man im Print die Submedien Bücher, Zeitungen und Zeitschriften unterscheiden kann, lassen sich auch beim Fernsehen mehrere Submedien ausmachen: Sprechfernse-
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aber nicht alle drei gleich gut geeignet, um die kommunikativen Handlungen des Berichtens und des Erzählens mit medialen Mitteln auszuführen. Daher können sie nicht gleichermaßen als Untersuchungsobjekte herangezogen werden. Talkshows und Studiodiskussionen sind mediatisierte Gespräche, die dem Submedium Sprechfernsehen zuzurechnen sind. Ihr Ablauf entspricht eher argumentativen als erzählerischen Mustern,8 selbst wenn einzelne Sendegäste und Einspielfilme durchaus Geschichten erzählen können. Ereignisübertragungen, wie die Live-Sendung der Pressekonferenz, sind ebenfalls nur bedingt für erzählende Darstellungen geeignet. Denn sie sind strikt an den zeitlichen Ablauf des zu übertragenden Geschehens gebunden und können daher viele erzählerische Gestaltungsmittel wie Zusammenfassungen, Kürzungen oder gar zeitliche Umstellungen nicht verwenden. Das Submedium Film ist dagegen sehr gut zum Erzählen geeignet, wie das unzählige Spielfilme und Fernsehserien tagtäglich demonstrieren. Für die Festlegung des Gegenstandsbereichs dieser Untersuchung folgt daraus, dass sich ihre Fragestellungen am besten anhand von Filmbeiträgen untersuchen lassen. Daher werden hier die entsprechenden Nachrichtenbeiträge der Tagesschau und von ZDF heute sowie ein Einspielfilm aus der Gesprächssendung Anne Will als Gegenstand der weiteren Untersuchungen ausgewählt. 2.4. Nachrichten im Fernsehen Die spezifische kommunikative Funktion der journalistischen Textgattung Nachricht besteht darin, die Rezipienten so zu informieren, dass sie über das Wichtigste auf dem Laufenden sind. Daher sind Nachrichten in allen Medien kurz und knapp gehalten. Das kann mit der Grice’schen Maxime erklärt werden, Redebeiträge nicht umfangreicher als erforderlich zu gestalten (Grice 1975, 45). Bei Nachrichten ist den Rezipienten die Thematik der einzelnen Meldungen meist schon aus vorhergehenden Nachrichten hinreichend bekannt. So würde es gegen diese Maxime verstoßen, würde man in Nachrichtensendungen ihnen deutlich mehr als die neuesten Informationen mitteilen. Aus diesem Grund enthalten Nachrichtenbeiträge _____________ 8
hen, Live- bzw. Ereignisübertragung, Film. Sie unterscheiden sich durch ihre Produktionsverfahren und ihre semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten (Renner 2007, 431). Gerichtsshows und ähnliche Formate des Sprechfernsehens arbeiten daher mit einem Skript, um sicherzustellen, dass die Abfolge der Redebeiträge der Dramaturgie einer Erzählung gehorcht (Labitzke 2008). Das ist bei journalistischen Studiodiskussionen nicht möglich.
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relativ viele Leerstellen,9 die bei einer Analyse aus zusätzlichen Quellen aufzufüllen sind. Zugleich entwickeln sie deswegen nur selten rekurrente Geschehensmuster, womit ein bewährter Indikator zur Aufdeckung narrativer Strukturen10 weitgehend ausfällt. Dass Nachrichten im Fernsehen anders als Nachrichten in der Zeitung eine besondere Nähe zum Erzählen aufweisen, wird in zwei Publikationen bereits beschrieben. Knut Hickethier stellt in seinem Aufsatz Fernsehnachrichten als Erzählung der Welt (1997) die besondere Nähe heraus, die zwischen den Moderatoren von Nachrichtensendungen und der narrativen Vermittlungsinstanz eines Erzählers besteht. Sebastian Köhler setzt sich in seinem Buch Die Nachrichtenerzähler (2009) mit der deutlichen Zunahme soft-news-ähnlich gestalteter Nachrichtenbeiträge im Fernsehen auseinander. Er führt das auf die semiotischen Eigenheiten des audiovisuellen Mediums Fernsehen, insbesondere aber auf den Quotendruck zurück, unter dem alle Fernsehsender stehen. Erzählerisch gestaltete Beiträge sind attraktiver als nüchtern gehaltene und finden mehr Zuschauer. Hier sieht er die Gefahr eines Narrativismus, der die Berichterstattung über öffentlich relevante Themen auf eine Abfolge von Anekdoten reduziert und sie auf solche Themen verengt, die sich relativ einfach narrativ darstellen lassen. In der Tat benutzen Fernsehnachrichten in einem ganz anderen Maße als Zeitungsnachrichten Gestaltungsmuster, die man in Erzählungen verwendet. Eine typische Gestaltungstechnik ist die Verwendung von Fallbeispielen: Die Darstellung von Einzelschicksalen zur Illustration allgemeiner Sachverhalte (Daschmann 2001). Bedingt durch die knappe Ausdrucksart der journalistischen Textgattung Nachricht können alle diese erzählenden Gestaltungsmuster jedoch immer nur rudimentär verwendet werden. So macht es der Zwang zur Kürze unmöglich, dass Filmberichte in Fernsehnachrichten einzelne Situationen voll ausspielen können, wie das in Filmen eigentlich üblich ist. Nachrichtenfilme sind vielmehr auf sprachliche Ausdrucksmittel angewiesen. Denn anders als das bewegte Bild kann Sprache nicht nur einzelne, individuelle Vorkommnisse erfassen, sondern auch abstrakte und generelle Sachverhalte kurz und knapp wiedergeben (Renner 2007, 108). Daher kombinieren Nachrichtensendungen Elemente der Submedien Sprechfernsehen und Film miteinander und verknüpfen in ihren Beiträgen Sprechermeldungen, Filme,11 Aufsager und Live_____________ 9 10 11
Zum Begriff „Leerstelle“ vgl. Titzmann 1977, 230. Zur Bedeutung von Regularitäten für die Heuristik der Grenzüberschreitungstheorie vgl. Renner 1983, 92 f. Der Fernsehjournalismus unterscheidet hier zwei Gattungen. Die Nachricht im Film, kurz NiF, ist ca. 20 bis 30 Sekunden lang und zumindest im Off-Kommentar nach dem Muster
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Gespräche zu einem Ganzen. Für die Untersuchung der Textstrukturen von Fernsehnachrichten folgt daraus, dass man sich dabei nicht auf den einzelnen Filmbeitrag beschränken darf, sondern auch die Anmoderation und gegebenenfalls auch das Schaltgespräch danach mit berücksichtigen muss. Ein weiteres Problem von Nachrichten ist, dass sie oftmals über Geschehnisse informieren müssen, deren Ausgang noch nicht feststeht. Das ist eine Besonderheit des Journalismus, die sich aus seiner Entstehung im Umfeld des periodisch erscheinenden Mediums Zeitung entwickelt hat und heute seine gesellschaftliche Funktion definiert. Andere Formen des nicht-fiktionalen Berichtens und Erzählens, etwa die Geschichtsschreibung, können das Ende der jeweiligen Geschehnisse abwarten. Der Journalismus begegnet diesem Problem mit Darstellungstechniken, die auch beim seriellen Erzählen in Fortsetzungsromanen und in Fernsehserien verwendet werden (Krah 2010). Für den Gegenstandsbereich der vorliegenden Untersuchung ergibt sich aus dieser Problematik, dass die ausgewählten Beiträge nicht die ganze Entwicklung des Geschehens abdecken, sondern nur dessen Endpunkt. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass über das Ende einer aufsehenerregenden Entwicklung viel intensiver berichtet wird als über ihren Beginn, da ein solches Ende viel leichter auszumachen ist. 3. Methodik 3.1. Zur Verortung von Fragestellungen und Analysemethoden Die gegenseitige Verortung der unterschiedlichen Fragestellungen und Analysemethoden dieser Untersuchung soll anhand des Organon-Modells von Karl Bühler erfolgen, da es den Prototyp aller Konzepte des kommunikativen Handelns bildet. Sprache wird von Bühler im Anschluss an Plato als „organum“, als ein Instrument, verstanden, mit dem einer dem anderen über die Dinge etwas mitteilt (Bühler [1934] 1999, 24).
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der Hard News aufgebaut. Der Filmbericht ist mit etwa 90 bis 120 Sekunden deutlich länger und folgt eher dem Muster der Soft News.
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die Dinge
orga
einer
num
der andere
Abb. 1: Das Organon-Modell von Karl Bühler (Bühler [1934] 1999, 25)
Verallgemeinert man dies, so lassen sich kommunikative Handlungen als Handlungen verstehen, mit denen ein „Sprecher“ seine „Hörer“ unter Zuhilfenahme sprachlicher und ikonischer Zeichenkomplexe auf „Dinge“ verweist, die von den „Hörern“ nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Zugleich bringt er mit Hilfe dieser Zeichenkomplexe den „Hörern“ gegenüber zum Ausdruck, wie er selbst zu diesen Dingen steht und wie er die „Hörer“ mit seiner Äußerung beeinflussen will. Kommunikative Handlungen besitzen also gleichermaßen einen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekt. Auch Erzählungen entwickeln diese unterschiedlichen Dimensionen. Sehr deutlich wird dies bei der klassischen Unterscheidung von erzählter Zeit und Erzählzeit. Erstere bezieht sich auf die Sachverhalte, die von einer Erzählung wiedergegeben werden. Letztere auf den Vorgang des Erzählens12 dieser Sachverhalte, wobei der „Sprecher“ das Voranschreiten der Zeit und die Anordnung der einzelnen Abschnitte so gestalten kann, wie er das für seine Zwecke für richtig hält. Entsprechend dazu lässt sich der von der strukturalen Erzähltheorie eingeführte Begriff histoire ebenfalls der semantischen Dimension des kommunikativen Handelns zuordnen, während der komplementäre Begriff discours darauf aufmerksam macht, dass die semantischen wie die pragmatischen Aspekte des Erzählens in der syntaktischen Struktur der Zeichenkomplexe zum Ausdruck kommen, die _____________ 12
Der Begriff der Erzählzeit orientiert sich am Paradigma des oralen Erzählens und kann an sich nicht ohne weiteres auf das mediale Erzählen übertragen werden. Denn bei medialen Kommunikationsformen fallen die Äußerungshandlungen (utterance) in Herstellungs- und Mitteilungshandlungen auseinander (Renner 2007, 186). Daher muss man hier nochmals zwischen der Zeit unterscheiden, die der Produktions- und Gestaltungsprozess einer Erzählung benötigt, und der Zeit, die für die Wiedergabe und Rezeption des medialen Produktes nötig ist. Dabei ist letztere wiederum von der Art des Mediums abhängig. Ein Spielfilm dauert 90 Minuten, aber wie lange dauert ein Roman?
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für die Ausführung dieser kommunikativen Handlung verwendet werden (Renner 2000). Anzumerken ist dabei, dass die Erzählforschung in beiden Fällen mit dyadischen Begriffspaaren operiert, während hier ein triadisches Begriffssystem verwendet wird. 3.1.1. Forschungsfragen Von diesem Theorierahmen ausgehend kann man die erste Frage, wie die Abfolge nicht-fiktionaler Ereignisse zu erklären ist, folgendermaßen reformulieren: Finden sich in der „Welt der realen Dinge“, die den Gegenstandsbereich faktizierender Medienbeiträge bildet, Strukturen, die mit denjenigen Strukturen übereinstimmen, die in fiktionalen Medienbeiträgen als Handlung gelten? Wenn ja, wie lässt sich das erklären? Die zweite Frage ist, ob sich Erzählungen und Berichte über ihre Oberflächenstrukturen hinaus auch hinsichtlich ihrer Tiefenstrukturen unterscheiden. Die beiden kommunikativen Handlungen Erzählen und Berichten sind Assertionen, die sich zunächst einmal hinsichtlich ihrer pragmatischen Dimension voneinander unterscheiden. Das Erzählen zielt wesentlich stärker auf eine emotionale Beteiligung aller Kommunikationspartner als das Berichten. Doch unterscheiden sich diese beiden kommunikativen Handlungen auch in semantisch-thematischer Hinsicht? Gibt es zwischen ihnen Unterschiede hinsichtlich ihres propositionalen Gehalts? Etwa so, wie sich Prognosen und Vermutungen von anderen Assertionen dadurch unterscheiden, dass die von ihnen ausgesagten Sachverhalte in der Zukunft bzw. im Bereich des Ungefähren liegen? 3.1.2. Untersuchungsmethoden Analyse der semantischen Dimension: Grenzüberschreitungstheorie
„Dinge“ thematischer Gegenstand
„Sprecher“
Zeichenkomplex
„Hörer“
Protokollierung
Analyse der pragmatischen Dimension: Stil, Perspektive, Gliederung
Abb. 2: Die gegenseitige Verortung der verwendeten Untersuchungsmethoden
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Die Beantwortung dieser Forschungsfragen konzentriert sich auf die Untersuchung der semantisch-thematischen Dimension, sie erfordert jedoch auch die Berücksichtigung der anderen Aspekte. Daher müssen zur Analyse der ausgewählten Filmbeiträge mehrere Untersuchungsmethoden miteinander kombiniert werden, die sich im Theorierahmen des kommunikativen Handelns folgendermaßen verorten lassen: – Der erste Schritt zur Anwendung aller vorgeschlagenen Methoden ist die Protokollierung der aufgezeichneten Filmbeiträge. Diese Protokolle ermöglichen eine intersubjektiv überprüfbare Analyse der syntaktischen Organisation der Filme und dienen als Datenbasis für die Untersuchungen ihrer pragmatischen und semantischen Aspekte. – Die pragmatischen Aspekte, die die Gestaltung dieser Filme bestimmen, können dann ausgehend von den in diesen Filmen nachgewiesenen Sprecherperspektiven, den verwendeten Stilmitteln und ihrer Gliederung bzw. ihrer rhetorischen dispositio erfasst werden. – Die Handlungen der Filmbeiträge, also die Ereignisse, die ihren semantisch-thematischen Gegenstand bilden, werden mithilfe der Grenzüberschreitungstheorie beschrieben und erklärt. Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage wird dann abschließend noch ein Vergleich der Nachrichtenbeiträge mit einem Einspielfilm der Gesprächssendung Anne Will durchgeführt. Dabei wird auch dieser Film entsprechend den hier skizzierten Untersuchungsschritten erfasst. 3.2. Protokollierung der Beiträge Zur Protokollierung der Filmbeiträge wurden mehrere, aufeinander aufbauende Protokollierungsverfahren benutzt. Der erste Schritt war die Anlage eines Einstellungsprotokolls, das sich an den Überlegungen der Münchener Filmphilologie zur Protokollierung von Spielfilmen orientierte (Kanzog 1991,136 ff.). Dem schloss sich ein analysierendes Sequenzprotokoll an, bei dem die einzelnen Filmeinstellungen zu größeren Komplexen zusammengefasst wurden und die dazugehörigen sprachlichen Passagen zu Themenwörtern und Themensätzen (van Dijk 1980, 45) verdichtet wurden. Der dritte Schritt war die Überführung dieses analysierenden Sequenzprotokolls in eine grafische Skizze, das Strukturgerüst. Das Einstellungsprotokoll liefert die Datenbasis zur Untersuchung der Sprecherperspektive und des Stils. Sequenzprotokoll und Strukturgerüst eignen sich gut dazu, die thematische Entfaltung, die rhetorische Organisation und die Gewichtung der einzelnen Sequenzen zu erfassen. Die
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Ereignisse, die den Gegenstand der Filmbeiträge bilden, sind auf semantischer Ebene angesiedelt. Zu ihrer Untersuchung werden alle Protokolle herangezogen. Bei den Gesprächssendungen, die in die Untersuchung miteinbezogen werden, wurde lediglich der Wortlaut der einzelnen Redebeiträge erfasst. Eine weitergehende Protokollierung war zur Beantwortung der hier untersuchten Fragestellungen nicht erforderlich. 3.3. Analyse der pragmatischen Dimension: Stil, Perspektive, Gliederung Die Untersuchung der pragmatischen Aspekte, die die Gestaltung eines Filmbeitrags bestimmen, kann sich darauf stützen, dass in kommunikativen Äußerungen zum einen immer die Haltung des Sprechers dem Sachverhalt gegenüber zum Ausdruck kommt, über den er spricht, und dass diese Äußerungen zum anderen immer auch von der Intention bestimmt sind, auf die Rezipienten in einer bestimmten Weise Einfluss zu nehmen. Roman Jakobson spricht hier im Anschluss an Bühler von einer emotiven und einer konativen Funktion (Jakobson 1972, 122 f.). Methodisch kann die Untersuchung dieser pragmatischen Aspekte am Stil des Beitrags ansetzen, der hier als Resultat funktionaler Gestaltungsstrategien verstanden wird (Sanders 1996, 26). Ein zweiter Ansatzpunkt sind die verschiedenen Sprecher- bzw. Erzählperspektiven, die in den jeweiligen Medienbeiträgen entwickelt werden (Fludernik 2008). Weiterhin soll hier noch die Gliederung der Beiträge in die Untersuchungen einbezogen werden. In ihr manifestiert sich deren thematische Entfaltung, die wiederum Rückschlüsse auf „Kommunikationsintention und Kommunikationszweck, Art der Partnerbeziehung, der Partnereinschätzung usw.“ zulässt (Brinker 1997, 60). Ebenso lassen sich dann noch die Erkenntnisse der Rhetorik anwenden, wie man die Gliederung eines Beitrags (dispositio) so anlegt, dass man damit die Rezipienten auf intellektueller wie emotionaler Ebene optimal erreicht (Göttert 1994, 25). Beides kann methodisch dadurch umgesetzt werden, dass man die Abfolge und die Länge der einzelnen Filmsequenzen festhält. Dies sind leicht zu überprüfende, aber relativ aussagekräftige Indikatoren zur Beantwortung dieser Fragestellungen.
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3.4. Analyse der semantischen Dimension: Grenzüberschreitungstheorie Die Grenzüberschreitungstheorie, die hier etwas ausführlicher vorgestellt werden soll, geht auf die Überlegungen Jurij M. Lotmans zum Sujet narrativer Texte zurück. Lotman weist den räumlichen Zusammenhängen, die in sprachlichen und nicht-sprachlichen Texten entwickelt werden, eine zentrale Funktion zu. Sie organisieren ihm zufolge die semantische Ordnung dieser Texte. Das ist insbesondere eine Leistung der Grenze, die den Raum in zwei, in sich unterschiedlich strukturierte Teilräume teilt und die für alle Figuren unüberwindlich ist (Lotman 1972, 327). Gelingt es einer Figur, diese unüberschreitbare Grenze zu überschreiten, dann ist das ein Ereignis und bildet als Sujet den Kern der Handlung eines narrativen Textes (Lotman 1972, 332).
innen außen
Abb. 3: Räumliche Gliederung der semantischen Ordnung eines Textes nach Lotman
Exemplarisch sei hier der Held des Zaubermärchens genannt, der sich in den Zauberwald aufmacht, um dort die Königstochter aus den Klauen des Drachens zu befreien. Dabei bildet die Grenze des Waldes nicht allein die Grenze des konkreten Waldes, sondern auch die Grenze des Drachenreichs, sowie die Grenze eines metaphysischen Raums des Bösen usw. Auf diese Weise strukturiert die topographische Grenze das gesamte Bedeutungsgefüge, das in diesem Märchen entwickelt wird. Daher dringt der Held, indem er die Grenze des Waldes überschreitet, nicht nur in den Zauberwald ein, sondern auch in das Reich des Drachen, in den Raum des Bösen usw. Dementsprechend kann dann das Sujet dieses Märchens nicht nur als die Befreiung der Königstochter aus dem Zauberwald, sondern auch als Rettung vor dem Drachen, als Rettung vor dem Bösen usw. verstanden werden. Es ist festzuhalten, dass diesem Konzept zufolge Ereignisse keine absoluten, sondern textrelative Größen sind. Nicht jedes Betreten eines Waldes ist ein Ereignis. Ereignishaft wird dies erst dann, wenn der Wald-
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rand in der semantischen Ordnung des jeweiligen Textes als Grenze eines semantischen Raumes funktionalisiert wird (Lotman 1972, 332). Abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch wird hier „Ereignis“ nicht als deskriptiver Begriff zur Bezeichnung für ein beliebiges Geschehen verwendet, sondern als ein theoretischer Begriff, der bei jeder Textanalyse in Abhängigkeit von der semantischen Ordnung des jeweiligen Textes inhaltlich neu zu bestimmen ist (Renner 1983, 94). Lotmans Überlegungen wurden mittlerweile in zwei Richtungen weiterentwickelt. Der topologische Ansatz interpretiert seinen Raumbegriff metaphorisch als „semantischen Raum“, der als eine Menge semantischer Merkmale verstanden wird (Titzmann 2003, 3077; Krah 2006, 292 ff.). Der mengentheoretisch-prädikatenlogische Ansatz, der hier verwendet wird, ersetzt Lotmans Raumbegriff durch den Mengenbegriff der Mathematik (Renner 1983; Renner 2004). Der mengentheoretische Ansatz definiert die Grenze als nicht-triviale Teilmenge, die unterschiedliche semantische Kategorien miteinander verbindet. Die wechselseitigen In- und Exklusionen solcher nicht-trivialer Teilmengen etablieren ein textspezifisches Klassifikationssystem: die semantische Ordnung des Medienbeitrags. Stellt man diese mengentheoretischen Beziehungen prädikatenlogisch dar, wird deutlich, dass die semantische Ordnung eines Medienbeitrags nicht nur in seinen räumlichen und klassifikatorischen Zusammenhängen, sondern auch in seinen generalisierenden Aussagen, Regeln und Maximen zum Ausdruck kommt. Denn Teilmengenrelationen werden prädikatenlogisch mit Hilfe allquantifizierter Implikationen ausgedrückt, etwa: x (DRACHE x o WALD x); x (WALD x o BÖSE x). Diesen Ordnungssätzen entsprechen in der Alltagssprache wiederum Allsätze, Regeln und Maximen wie: Alle Drachen hausen im Wald. Wer rechtschaffen ist, bleibt dem Wald fern usw. Grenzüberschreitungen lassen sich damit als Sachverhalte rekonstruieren, die die semantischen Ordnungen verletzen, die sich in den jeweiligen Texten manifestieren, indem sie gegen einen oder mehrere Ordnungssätze verstoßen. Dies macht deutlich, dass sich hinter Lotmans paradoxer Formulierung des Ereignisses als Überschreiten einer unüberschreitbaren Grenze ein epistemologischer Zusammenhang verbirgt. Denn den Ordnungssätzen wird ein ähnlicher Wahrheitsanspruch zugestanden wie den Gesetzesaussagen einer theoretischen Sprache: Sie beanspruchen, zu jedem Zeitpunkt einer Handlung gültig zu sein. Dass sich die Figuren beim Fortgang der Handlung allerdings immer im vorgegebenen Rahmen bewegen, ist damit nicht gesagt. Das wird von der erzählten Geschichte für jeden Punkt der erzählten Zeit entweder behauptet oder bestritten. Geschichten bewegen sich also im gleichen Spannungsfeld von universaler
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„theoretischer“ Erkenntnis und punktueller „empirischer“ Beobachtung wie wissenschaftliche Theorien (Renner 1983, 35; Renner 2004, 367). Bezieht man die erzählte Zeit in die Grenzüberschreitungstheorie mit ein, lassen sich mit dem Konsistenzprinzip und der Extrempunktregel zwei Prinzipien formulieren, mit denen man die Dynamik von Handlungen erklären kann. Dabei erklären das Konsistenzprinzip, auf die topographische Betrachtungsebene herunter gebrochen, die Bewegungen relativ zur Grenze und die Extrempunktregel die Bewegungen innerhalb eines abgegrenzten Binnenraumes. Das Konsistenzprinzip besagt, dass am Ende einer Geschichte alle Verletzungen von Ordnungssätzen behoben sind (Renner 1983, 42; Renner 2004, 371). Das heißt, dass eine Figur am Ende der Geschichte entweder in ihren Ausgangsraum zurückkehrt oder dass sie die Merkmale des Gegenraumes annimmt, wenn sie diesen nicht verlässt. Eine dritte Möglichkeit zur Behebung einer Ordnungsverletzung ist eine Ordnungstransformation: Die Ordnungssätze werden so geändert, dass die Anwesenheit einer Figur in einem Raum zu keinem Widerspruch mehr führt. Im Zaubermärchen entspräche dem die Aufhebung des Fluches, wenn der Held den Drachen besiegt und alle Unholde danach wieder zu rechtschaffenen Menschen werden. Analog zur Beendung von Ordnungsverletzungen lässt sich auch das Entstehen von Ordnungsverletzungen auf das Eindringen in einen fremden Raum, auf die Entwicklung raumfremder Merkmale oder auf eine Ordnungstransformation zurückführen. Diese Erweiterung des Lotmanschen Ansatzes führt zu einer Ausweitung des Lotmanschen Ereignisbegriffes. Als ereignishafte Geschehnisse werden nun nicht mehr allein Ordnungsverletzungen, sondern auch Wiederherstellungen von Ordnungen und Ordnungstransformationen verstanden. Die Extrempunktregel hält fest, dass semantische Hierarchien bei der Organisation einer Geschichte funktionalisiert werden, um die konkreten wie metaphorischen Bewegungen von Figuren innerhalb einzelner Räume zu strukturieren (Renner 1987; Renner 2004, 375). In unserem Märchenbeispiel ist der Drache, den der Held bezwingen muss, der schlimmste aller Unholde und seine Höhle liegt nicht irgendwo, sondern mitten im Wald, wo dieser am dichtesten ist. Sind in einem Raum mithilfe solcher semantischer Hierarchien Extrempunkte ausgewiesen, dann bewegen sich die Figuren in Richtung dieser Extrempunkte. Auf der Oberflächenebene von Erzählungen wird das sehr oft psychologisierend mit den Motiven und den Handlungszielen der Figuren begründet. Das Erreichen eines Extrempunktes markiert dann einen Wendepunkt oder den Endpunkt der Geschichte. Entweder der Held kehrt von dort in seinen Ausgangsraum zurück oder verbleibt dort und nimmt für immer die Merkmale des Gegenraumes an.
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Abb. 4: Der Extrempunkt als Wende- und Endpunkt von Figurenbewegungen
Beide Prinzipien wirken bei Ordnungstransformationen durch zentrale Figuren zusammen. Zentrale Figuren sind Figuren, die am Extrempunkt eines Raumes lokalisiert sind und als eine Art Norminstanz die semantischen Merkmale dieses Raumes definieren. Hier gilt folgendes Ordnungssatz-Schema: x ((aRx Pa) o Px), wobei die Relation R das Individuum a gegenüber den anderen Individuen x als zentrale Figur ausweist, und P jene Eigenschaften von a repräsentiert, die für alle x verbindlich sind (Renner 1983, 175). Intuitiv gesprochen bestimmt also aRx den „Raum der Figur a“, wobei R vergleichbar einem Kreisradius den Abstand der Figuren von a definiert, die noch zu diesem Raum gehören. Die prädikatenlogische Darstellung macht außerdem deutlich, wie die Eigenschaften von Figuren und Räumen rückgekoppelt sind. Die zentrale Figur a gibt den Merkmalskomplex P als Ordnung des Raums aRx vor, daher ist sie auch in der Lage, den Zustand dieses Raumes zu verändern. Solche Ordnungstransformationen erfolgen insbesondere dann, wenn eine Figur a’ die zentrale Figur a vom Extrempunkt verdrängt und die neue zentrale Figur a’ danach die Merkmale dieses Raumes in ihrem Sinne verändert. Exemplarisch im Zaubermärchen ist hierfür der siegreiche Kampf des Helden mit dem Drachen.
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x
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x x
x
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x
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x x
x
x
x
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Zeitpunkt t
1
Zeitpunkt t
2
Abb. 5: Grafische Darstellung des Ordnungssatz-Schemas x ((aRx Pa) o Px). Die unterschiedlichen Merkmale der zentralen Figuren a und a’ werden durch unterschiedliche Schriftarten ausgedrückt.
Fasst man alles zusammen, so ergibt sich, dass die Grenzüberschreitungstheorie den Zusammenhang zwischen der Handlung und der semantischen Ordnung untersucht, die in den jeweiligen narrativen Medienbeiträgen etabliert wird. Demnach müssen beim Erzählen einer Geschichte zwei Leistungen zugleich erbracht werden: Zum einen muss der Ablauf des Geschehens dargestellt werden und zum anderen ist die semantische Ordnung zu entwickeln, vor deren Hintergrund dieses Geschehen erst zu einer strukturierten Abfolge von Ereignissen, zu einer Handlung wird. Lotman spricht davon, dass „ein sujethaltiger Text […] auf der Basis des sujetlosen errichtet“ wird (Lotman 1972, 338). Wendet man die Grenzüberschreitungstheorie zur Analyse eines Medienbeitrags an, so besteht das Ziel darin, ein Modell zu entwickeln, mit dem man die Handlung dieses Medienbeitrags erklären kann. Dieses Modell besteht aus einer „theoretischen Komponente“, die die Ordnungssätze, Extrempunkte und zentralen Figuren angibt, und aus einer „empirischen Komponente“, die die Situationsbeschreibungen SBi festhält. Diese Situationsbeschreibungen registrieren für jeden Zeitpunkt der erzählten Zeit ti die Mengenzugehörigkeit der einzelnen Figuren. Eine Handlung ist erklärt, wenn mit Hilfe dieses Modells die Abfolge der erzählten Ereignisse rekonstruiert werden kann (Renner 1983, 89 ff.). Von dieser Analyse ausgehend können dann weiterführende Interpretationen dieses Medienbeitrags vorgenommen werden, etwa die Interpretation seiner kulturellen Bedeutung. Methodisch kann die Entwicklung dieses Modells an den Re-
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gularitäten ansetzen, die in einem Medienbeitrag explizit oder implizit entwickelt werden und die als Ordnungssätze zu rekonstruieren sind (Renner 1983, 92). Diese Ordnungssätze können explizit als Allaussagen, Regeln usw. formuliert sein, sie können aber auch durch rekurrente Geschehensmuster implizit zum Ausdruck kommen. Weiterhin können Hinweise auf Ordnungsverletzungen für die Entwicklung eines solchen Modells verwendet werden. Die Situationsbeschreibungen lassen sich ausgehend von den Zeitangaben entwickeln. Da es sich im vorliegenden Fall um ein reales Geschehen handelt, werden neben den Zeitangaben der Nachrichtenfilme auch die der Diskussionssendungen herangezogen. Sie beziehen sich schließlich alle auf das gleiche Geschehen. Den Diskussionssendungen kommt damit eine vergleichbare Funktion zu wie dem kulturellen Wissen, mit dessen Hilfe bei der Analyse literarischer Texte deren Leerstellen aufgefüllt werden (Titzmann 1977, 263 ff.). 4. Untersuchungsergebnisse 4.1. Deskriptive Angaben zu den Nachrichtenbeiträgen Die Nachrichtenbeiträge, die ZDF heute und Tagesschau am 9. März 2008 über die SPD-Führungskrise senden, sind insgesamt jeweils knapp drei Minuten lang und besitzen den gleichen Aufbau. Auf die Anmoderation bzw. Sprechermeldung folgt ein Filmbericht, dem sich ein LiveAufsager oder ein Live-Schaltgespräch mit einem Korrespondenten vor Ort anschließt, der die aktuelle Situation einschätzt.
ZDF heute Tagesschau
Anmoderation 0:22 0:19
Filmbeitrag 1:28 1:34
Live-Schalte 1:05 1:01
Gesamtlänge 2:55 2:54
Aufbau der Nachrichtenbeiträge am 9. März 2008
Die Nachrichtenbeiträge vom 10. März 2008, dem Tag der Pressekonferenz Kurt Becks, sind deutlich länger. ZDF heute sendet insgesamt sechs Minuten, die Tagesschau etwas über vier Minuten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass beide Sendungen nach dem eigentlichen Beitrag über die Pressekonferenz, dem so genannten A-Stück, noch ein B-Stück zeigen, das die Reaktionen von Politikern anderer Parteien auf die Ausführungen Becks wiedergibt. Auch an diesem Tag ergänzt ZDF heute seine Filmbeiträge mit Schaltgesprächen, während sich die Tagesschau nach dem AStück mit einem Schlussaufsager begnügt.
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ZDF heute A-Stück B-Stück Tagesschau A-Stück B-Stück
Anmoderation
Filmbeitrag
Live-Schalte
Gesamtlänge
0:25 --
2:00 2:08
0:54 0:52
3:19 3:00
0:28 0:30
1:35 1:30
0:15 (Aufsager) --
2:18 2:00
Aufbau der Nachrichtenbeiträge am 10. März 2008
Betrachtet man diese Beitragskomplexe der vier Nachrichtensendungen aus einer textlinguistischen Perspektive, so kann man sie am ehesten als Text-Konglomerate charakterisieren, die sich aus Elementen des Sprechfernsehens und aus Filmbeiträgen zusammensetzen. Weiterhin werden zwischen den Sendungen des 9. und des 10. März auffällige Kohärenzbeziehungen entwickelt, die über rein thematische Zusammenhänge deutlich hinausgehen. Das ist vor allem eine Leistung der Filmsequenzen, die am 9. März Bilder des leeren Saals zeigen, in dem Beck am 10. März auftreten wird. Im ZDF-Beitrag ist diese Sequenz sogar wie ein klassischer Cliffhänger an das Ende des Films gestellt. Erzähltheoretisch kann dies so interpretiert werden, dass das zu berichtende Geschehen in einzelnen Fragmenten dargestellt wird, die mit Mitteln des seriellen Erzählens aneinandergefügt werden, da es den Berichterstattungszeitraum der einzelnen Nachrichtensendungen überschreitet. 4.2. Pragmatische Aspekte: Sprecherperspektive und Gliederung ZDF heute und Tagesschau nehmen dem dargestellten Geschehen gegenüber die für Nachrichten typische distanzierte Erzähl- bzw. Sprechhaltung ein. Die Off-Kommentare der Filmbeiträge sind sprecherlose Texte. Relationale Ort- und Zeitangaben (hier, jetzt usw.) finden sich fast nur in den Live-Schaltungen, wo sie zur Koordination dieser medientranszendierenden Kommunikationssituationen unabdingbar sind. Ebenso vermeidet die Kameraführung Kamerapositionen, die den Eindruck einer subjektiven Beobachterstandperspektive erwecken. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Gestaltung der zentralen Norm journalistischer Nachrichtenberichterstattung verpflichtet ist, sich auf die sachliche Wiedergabe der Geschehnisse zu konzentrieren und dabei Information und Meinung voneinander zu trennen. Die journalistischen Autoren, die diese Beiträge produziert haben, wollen ihre Rezipienten informieren. Sie wollen sie nicht beeinflus-
Rudimentäres Erzählen
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sen, wie sie diese Informationen zu bewerten haben. Daher stellen sie das Geschehen so dar, als würde es sich gewissermaßen selbst berichten. Dennoch sind die Standpunkte, die beide Sendungen dem darzustellenden Geschehen gegenüber einnehmen, nicht deckungsgleich. Das zeigt sich daran, dass sie den einzelnen Motiven unterschiedliches Gewicht einräumen. So gibt die ZDF-Berichterstattung vom 9. März den Vorgängen um die Regierungsbildung in Hessen deutlich mehr Raum als die ARD, die die Auswirkungen auf die Bundespartei im Blick hat (s. Abb. 6). Berichtet der ZDF-Filmbeitrag 62 Sekunden zum Thema „Hessen“ und 26 Sekunden zum Thema „Bund“, so sind es im Beitrag der Tagesschau nur 22 Sekunden zu „Hessen“ und dagegen 73 Sekunden zum „Bund“. Für das ZDF geht es primär darum, ob die SPD die „hessischen Ursachen“ ihrer Krise in den Griff bekommt. Die ARD hingegen legt ihren Schwerpunkt darauf, ob jetzt die SPD der Linken gegenüber eine neue Position beziehen will. Diese unterschiedlichen Gewichtungen klingen am 10. März noch nach, wo das ZDF schon im ersten Filmbeitrag kurz auf die aktuelle Situation in Hessen eingeht, während sich die ARD erst im zweiten Filmbeitrag damit beschäftigt, dort dieses Thema aber ausführlicher behandelt. Mit dieser unterschiedlichen Gewichtung gehen zwei unterschiedliche Sichtweisen der Pressekonferenz einher, was an der komplementären Positionierung der Leeren-Saal-Sequenz fassbar wird. Der ZDFFilmbericht stellt diese Sequenz wie ein Resümee an sein Ende: Der SPDVorsitzende Beck muss endlich zu Hessen Stellung beziehen, er muss sich „den Parteigremien und dann der Presse stellen, nach zwei Wochen des Schweigens“ (heute 9.3. E15 – 16). Der ARD-Beitrag beginnt mit dieser Sequenz und macht damit die Erwartungen an eine „Kursbestimmung“ auf dieser Pressekonferenz zu seinem Thema. Beck muss „der Öffentlichkeit zu erklären versuchen, wie es weitergehen soll mit der SPD“ (Tagesschau 9.3. E1 – 3). An der Gliederung des Tagesschaubeitrags ist außerdem zu erkennen, dass die journalistische Norm der Trennung von Information und Meinung neben dem Stil auch den Aufbau von Nachrichtenbeiträgen bestimmt. Denn dieser Beitrag gibt sowohl die Erwartungen derer wieder, die gegen einen Linkskurs der SPD sind, wie derer, die dafür eintreten (Tagesschau 9.3. E5 – 7). Dieses Prinzip, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, bestimmt auch die Nachrichtenbeiträge des 10. März, insbesondere die B-Stücke, die die Bewertungen der Pressekonferenz durch Politiker anderer Parteien wiedergeben (s. Abb. 7).
13 leerer Saal
18“
1-4
Studio
20“
Anmoderation
5
19“
„Bund“
OT Kahrs
x „Beck bleibt“ x gegen Linkskurs
Kursbestimmung
4-5
8“
Morgen: PK Beck
1-3
Anmoderation
x Krisensitzung der SPD
10“ 6
5“ 7-8
26“
6-7
26“
OT Nahles
x pro Linkskurs
8-9
22“
„Hessen“
OT Heil
x Stopp für Ypsilanti
SPD Bund:
9 - 13
18“
Archiv Y. vs. M.
Ypsilanti vs. Metzger
„Hessen“
OT Heil
x Stopp für Ypsilanti
SPD Bund:
x „Beck bleibt“
Titelseiten FAZ
Reg.-bildung Hessen
Archiv Hamburg-Wahl
SPD gelähmt
Rückkehr Beck Veränderte SPD
„Bund“
Wartende Journalisten
Krisengipfel
22“
Studio
x Bald: Auftritt Beck
x SPD stoppt Ypsilanti
Live Hahne
65“
Vor Ort
x Kein Alleingang
x Machtwort?
x Scherbenhaufen
Live-Aufsager Deppendorf
55“
Vor Ort
ARD Tagesschau, 9. März 2008. 20.00 Uhr
10 - 11
10“
„Bund“
Wartende Journalisten
x Ausblick auf morgen
x Sehr schwierige Sitzung
x Beck eingetroffen
ZDF heute, 9. März 2008. 19.00 Uhr
15 - 16
8“
„Bund“
leerer Saal
Beck will sich stellen
Treffen Parteispitze
14
13“
OT Maas
x Kritik an Ypsilanti
SPD Saar:
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Abb. 6: Strukturgerüste der Nachrichtenbeiträge vom 9. März 200813
_____________
Legende: Die beiden unteren Zeilen geben Einstellungsnummer und Einstellungsdauer an. Die mittleren Zeilen informieren über den Bildinhalt, wobei die unterschiedlichen Grautöne unterschiedliche Gewichtungen ausdrücken. Die Schlagworte der oberste Zeile umreißen den Textinhalt.
14 4
27“
Statement Beck
OT: „Ich lenke“
Saal
5-6
14“
Präsidium steht hinter B.
21“
6-7
1-5
Statement Koch
PK CDU: Statement Pofalla
32“
Regierungsauftrag in Hessen
SPD hat die Krise nicht beendet
8 - 11
23“
Grüne: Statement Bütikofer
Beck hat Scherbenhaufen angerichtet
7 - [9]
24“
Statement Ypsilanti
OT: „Ich trete nicht an“
B-Stück: Reaktionen auf die Pressekonferenz
13“ 1-3
28“
Saal Pressekonferenz
Beck ist zurück an Deck.
Anmoderation
Öffnung nach links bleibt
Führung Beck
PK Berlin
A-Stück: Die Pressekonferenz
12
16
Linke: Statement Gysi
13 - 14
12“
Statement Beck Saal
Katze aus dem Haus …
Schalte Frey
48 “
Beck hat Prüfung bestanden
Schalte Frey
52"
Neue Offenheit im 5-Parteiensystem
ZDF heute, 10.März 2008. 19.00 Uhr
13 - 16
25“
PK FDP: Statement Westerwelle
Union koaliert mit jedem Partner
ZDF heute, 10.März 2008. 19.00 Uhr
[11] – 12
19“
Pressekonferenz innen
Verlust an Zustimmung
Warum hat die Linke jetzt Erfolg?
[9] - 10
6“
Statement Beck
Neue Strategie
Rudimentäres Erzählen
69
Abb. 7: Strukturgerüste der Nachrichten von ZDF heute am 10. März 2008 (O-Töne grau)14
_____________
Die Berichterstattung der Tagesschau vom 10. März 2008 hat einen vergleichbaren Aufbau, legt aber im B-Stück den Schwerpunkt auf die Entwicklung in Hessen.
70
Karl. N. Renner
Achtet man auf den Einsatz filmisch-rhetorischer Mittel, so fällt auf, dass diese Beiträge keine Mittel einsetzen, die auf die Affekte der Zuschauer zielen. Es fehlen emotionalisierende sprachliche Formulierungen, freistehende Bildpassagen, markante Toneffekte oder gar der Einsatz von Musik. Die rhetorische Absicht ist hier kein Überreden oder Überzeugen, sondern die bloße Vermittlung des aktuell relevanten Wissens. Bezieht man das alles auf die pragmatische Dimension des kommunikativen Handelns, so ist festzuhalten, dass bei diesen Beiträgen sowohl jene Gestaltungselemente auf ein Minimum reduziert sind, mit denen der Sprecher seine Haltung gegenüber dem dargestellten Geschehen ausdrückt, wie diejenigen, mit denen er seine Hörer zu beeinflussen versucht. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass diese Beiträge die wesentlichen Merkmale der Textsorte „Bericht“ aufweisen, deren spezifische kommunikative Funktion die Vermittlung von Wissen ist (Brinker 1997, 105). 4.3. Semantische Aspekte I: Nicht-fiktionale Ereignisse 4.3.1. Chronik des Geschehens Der erste Schritt zur Rekonstruktion der Handlung ist die chronologische Erfassung der einzelnen Geschehnisse. Das erfolgt hier auf Grundlage der Zeitangaben in den Nachrichtensendungen und in den beiden Diskussionsrunden, da dort die Datumsangaben zu den einzelnen Vorgängen detaillierter sind. Bei der formalen Rekonstruktion der Handlung im Rahmen der Grenzüberschreitungstheorie kann diese Tabelle dann als Liste der Situationsbeschreibungen SBi verwendet werden, die an den Zeitpunkten ti die jeweiligen Geschehnisse festhalten. ti
Datum
Vorgang
TS
heute
PClub
t1
August 2007
Beck: in den alten Ländern keine Zusammenarbeit mit der Linken
x
t2
vor Wahl in Hessen
Ypsilanti verspricht, sich nicht von den Linken wählen zu lassen
x
t3
So 27.01.08
Landtagswahl in Hessen
AW
x
x
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Rudimentäres Erzählen
t4
vor Wahl in Hamburg
Äußerung Beck: keine aktive Zusammenarbeit mit der Linken
t5
So 24.02.08
Bürgerschaftswahl in Hamburg
t6
nach 24.02.08
Beck: Entschuldigung für seine Äußerung (vgl. t 4)
t7
Ende Februar 2008
Erkrankung Beck
t8
So 02.03.08
Kommunalwahl Bayern
t9
Di 04.03.08
t10
x
9.3.
x
9.3. x
9.3. & 10. 3.
9.3. & 10.3.
x
x
Ypsilanti will sich mit Stimmen der Linken wählen lassen
x
x
Do 06.03.08
Metzger verweigert die Stimme
x
x
t11
Fr 07.03.08
Ypsilanti zieht ihre Kandidatur zurück
10.3.
x
x
t12
Sa 08.03.08
Metzger soll Mandat niederlegen
9.3.
x
x
9.3.
x
Parteiausschluss Metzgers gefordert
x
Schlagzeile: „Ypsilanti gibt nicht auf“ t13
So 09.03.08
Artikel Struck: „Alleingang Ypsilanti“
im Lauf des Tages
Bedenken Krist (Nachrücker Metzger)
9.3. x
9.3.
Interview Maas zu Ypsilanti t14
So 09.03.08 ca. 18.30
SPD-Generalsekretär Heil: Nein zur Kandidatur Ypsilantis
x
9.3. 9.3.
9.3.
x
72
Karl. N. Renner
t15
So 09.03.08 ca. 20.00
Sitzung SPD-Vorstand („Krisengipfel“)
t16
Mo 10.03.08 Vormittag
Statement Ypsilanti: verzichtet auf die Kandidatur
t17
Mo 10.03.08 Vormittag
Sitzung SPD-Präsidium
t18
Mo 10.03.08 13.30 Uhr
Pressekonferenz Beck
9.3.
9.3.
10.3. 2. Film
10.3.
x
10.3.
9. 3. & 10. 3.
9. 3. & 10. 3.
x
x
x
x
Abb. 8: Die Geschehnisse der SPD-Führungskrise im Frühjahr 200815
Die Tabelle lässt erkennen, dass man bei den berichteten Vorgänge zwei miteinander gekoppelte Geschehenskomplexe unterscheiden kann: die Vorgänge in Berlin auf der Ebene der SPD-Bundespartei und die Vorgänge innerhalb der hessischen SPD. Zugleich zeigt der Vergleich von Nachrichten- und Diskussionssendungen, dass die Nachrichtenbeiträge Informationen wesentlich stärker selektieren als Diskussionsrunden, was auf unterschiedliche Ziele des journalistischen Handelns zurückzuführen ist. Den einen geht es darum, das aktuell Wichtigste kurz und knapp zu berichten. Den anderen, aktuelle Tendenzen und Entwicklungen zu erfassen, einzuordnen und zu bewerten. 4.3.2. Indikatoren semantischer Strukturen Die Beantwortung der Ausgangsfrage, inwieweit die Handlung dieser Nachrichtenbeiträge als Ereigniszusammenhang im Sinne der Grenzüberschreitungstheorie erklärt werden kann, erfordert im nächsten Schritt, die semantische Ordnung aufzudecken, vor deren Hintergrund die in diesen Beiträgen thematisierten Geschehnisse zu Ereignissen werden. Dies muss hier ausgehend von den visuellen und sprachlichen Indikatoren entwickelt werden, die auf ereignishafte Sachverhalte hinweisen. Denn es finden sich, von einer Ausnahme abgesehen, in den vier Beiträgen keine sprachlichen Äußerungen, die als Ordnungssätze zu interpretieren wären. Ein Bildmotiv, das als ein solcher Indikator anzusehen ist, sind die vielen Journalisten und Fernsehteams, die vor dem Tagungsort der SPD_____________ 15
Die Vorgänge in Hessen sind hellgrau, die im Bund dunkelgrau unterlegt. In den Belegspalten ist ausgezeichnet, welche Vorgänge in den Nachrichtensendungen und in den Diskussionssendungen erwähnt werden. (Siglen: Tagesschau: TS; ZDF heute: heu; Presseclub: PClub; Anne Will: AW.)
Rudimentäres Erzählen
73
Vorstandssitzung auf Resultate warten (heute 9.3. E3; Tagesschau 9.3. E10). Vergleichbare Bildmotive sind am 10. März der voll besetzte Saal der Bundespressekonferenz mit den vielen Fotografen, die Beck dort belagern (heute 10.3. E3; Tagesschau 10.3. E2,4,5). Auch in den Einstellungen, die Ypsilanti und Metzger zeigen, ist zu sehen, dass diese ähnlich massiv von Journalisten und Fotografen umringt sind (heute 9.3. E9, E11). Sprachliche Ausdrücke, die auf ein ereignishaftes Geschehen hinweisen, sind die immer wieder verwendeten Begriffe „Krisengipfel“ und “Krisentreffen“. Der markanteste sprachliche Indikator, der deutlich macht, dass hier etwas Ereignishaftes vorgeht, ist jedoch der Beginn der Anmoderation von ZDF heute am 10. März 2008: „Wohl selten ist eine Pressekonferenz mit solcher Spannung erwartet worden wie die von SPDChef Kurt Beck heute in Berlin“ (heute 10.3. Anmoderation). 4.3.3. Die Handlung der Nachrichtenbeiträge vom 9. und 10. März 2008 Die zentrale Figur „SPD-Chef Kurt Beck“ Wie diese Anmoderation belegt, hängt der ereignishafte Charakter der Pressekonferenz vom 10. März eindeutig damit zusammen, dass sie vom „SPD-Chef Kurt Beck“ abgehalten wird. Vor dem Hintergrund der Grenzüberschreitungstheorie ist dies damit zu erklären, dass Beck auf Grund seiner Funktion als SPD-Bundesvorsitzender als zentrale Figur des semantischen Raumes SPD zu interpretieren ist. Dieser besondere Status wird nicht nur sprachlich, sondern auch visuell immer wieder betont. Mehrmals wird gezeigt, wie Beck im Zentrum von Begrüßungen oder ähnlicher Aktionen steht. Ebenso wird er gerne plakativ im Bildmittelpunkt platziert.
Abb. 9: Die SPD-Führung mit Beck als „zentraler Figur“ im Mittelpunkt (heute 9.3. E5)
74
Karl. N. Renner
All das legt nahe, die semantische Ordnung dieser Nachrichtenbeiträge ausgehend vom Ordnungssatz-Schema x ((aRx Pa) o Px) zu entwickeln, das die merkmaldefinierende Kraft zentraler Figuren und deren Interdependenz mit den jeweiligen semantischen Räumen ausdrückt. Dabei kommt den beiden Einstellungssequenzen, die den leeren Saal der Bundespressekonferenz zeigen, eine Schlüsselposition zu. In beiden Sequenzen wird der Stuhl, auf dem Beck am nächsten Tag Platz nehmen wird, durch Kameraschwenks oder Zooms ins Zentrum gerückt und damit unmissverständlich als Extrempunkt des topographischen Raumes „Saal der Bundespressekonferenz“ definiert. Gleichzeitig verweist der Off-Kommentar in beiden Beiträgen darauf, dass hier der SPD-Vorsitzende Beck am kommenden Tag als richtungweisende Norminstanz seiner Partei agieren wird. So heißt es in der Tagesschau vom 9. März: Hier wird er morgen sitzen, der Parteivorsitzende Kurt Beck, und der Öffentlichkeit zu erklären versuchen, wie es weitergehen soll mit der SPD. Ziemlich notwendig scheint eine solche Kursbestimmung zu sein, denn auch heute war nicht erkennbar, wohin die Partei steuern soll. (Tagesschau 9.3. E1 – 4)
Auffallend sind hier die Begriffe aus der Schifffahrtssprache, die den narrativen Zusammenhang zwischen Instanz und sozialer Gruppe auch auf diskursiver Ebene verdeutlichen. Dafür finden sich noch weitere Belege. „Zurück an Deck: SPD-Chef Beck nimmt das Ruder wieder in die Hand“, so lauten die Schlagzeilen im Opening von ZDF heute am 10. März. Auch Beck selbst benutzt derartige sprachliche Bilder. Er sagt, dass es nicht nur wichtig sei, fest im Sattel zu sitzen, sondern dass man das Pferd auch in die richtige Richtung lenken müsse, „[…] und Sie können davon ausgehen: Ich lenke“ (heute 10.3. E4). Später greift er noch auf das Sprichwort von den Mäusen zurück, die auf dem Tisch tanzen, wenn die Katze aus dem Haus ist, um die Vorgänge der letzten Tage zu bewerten (heute 10.3. E14). Verweisen diese sprachlichen Bilder auf eine metonymische Beziehung zwischen zentraler Figur und semantischem Raum, so begegnet man auch sprachlichen Wendungen, die diesen Zusammenhang als metaphorische Beziehung modellieren. So etwa die Feststellung, dass die SPD während der Krankheit ihres Vorsitzenden ebenfalls in einen pathologischen Zustand verfällt: Nach zweiwöchiger Krankheit kehrt der Parteichef zu einer Partei zurück, die nicht mehr die ist, die ihn am Wahlabend der Hamburg-Wahl euphorisch beklatschte. Gelähmt starrt die SPD auf die täglich neuen Meldungen über die quälende Regierungsbildung in Hessen. (heute 9.3. E4 – 5)
In ähnlich eigenartiger Weise nimmt mit dem Körpergewicht des Parteivorsitzenden auch das Gewicht seiner Partei ab. „Fünf Kilo hat der SPDVorsitzende in zwei Wochen verloren, vor allem aber verlor er Zustim-
Rudimentäres Erzählen
75
mung in Umfragen für sich und die Partei“ (heute 10.3. E11). Hier werden sekundäre semiotische Strukturen16 aufgebaut, indem das OrdnungssatzSchema x ((aRx Pa) o Px) buchstäblich umgesetzt wird. Solche Verfahren trifft man in literarischen Texten häufig, ihnen auch in journalistischen Fernsehnachrichten zu begegnen, überrascht aber doch. Erster Ereigniszusammenhang: die Pressekonferenz vom 10. März 2008 Betrachtet man den SPD-Bundesvorsitzenden als zentrale Figur des semantischen Raumes SPD, dann lässt sich die semantische Ordnung dieses Raumes, so wie sie in diesen Nachrichtenbeiträgen entwickelt wird, mit den Mitteln der formalen Logik folgendermaßen darstellen: OS 1:
x ((a1R1x P1a1) o P1x), wobei die einzelnen Ausdrücke für folgende Begriffe stehen: a1 Beck Beck ist Bundes-Parteivorsitzender von x a1R1x P1a1 Regel, die von Beck als verbindlich betrachtet wird
Alltagssprachlich ausgedrückt besagt der Ordnungssatz OS 1, dass für alle Individuen x gilt: Wenn Beck der Parteivorsitzende von x ist und Beck die Regel P1 als verbindlich betrachtet, dann wird diese Regel P1 auch von Parteimitglied x für verbindlich betrachtet. Wer also zur Partei von Beck gehört, für den sind auch die Regeln verbindlich, die der Parteivorsitzende Beck für verbindlich hält. Damit kann die Ereignishaftigkeit der Pressekonferenz vom 10. März 2008 (vgl. Situationsbeschreibung t18) auf zwei Weisen erklärt werden. Sie kann mit einer Verletzung dieses Ordnungssatzes zusammenhängen: Regeln, die die zentrale Figur eines semantischen Raumes für verbindlich hält, werden von Mitgliedern dieses semantischen Raumes nicht akzeptiert. Sie kann aber ebenso auf eine Ordnungstransformation zurückgehen: Die zentrale Figur a suspendiert die Regel P und erklärt eine neue Regel P‘ für verbindlich. Geht man die Nachrichtenbeiträge des 9. und 10. März durch, so ergibt sich, dass für die Ereignishaftigkeit der Pressekonferenz beide Erklärungszusammenhänge relevant sind. Zum ersten bemüht sich Beck auf dieser Pressekonferenz um eine Beendigung der Führungskrise, die während der letzten Wochen seine Kompetenz als Parteivorsitzender in Frage gestellt hat. Er bekräftigt demonstrativ seinen Führungsanspruch, wie das die Nachrichten von ARD und ZDF am 10. März übereinstimmend berichten: Kraftvoll sollte er sein, Becks Auftritt nach zwei Wochen Krankheit. Das Signal aussenden an Partei, Presse und Politik: Der Chef der SPD ist wieder da. (heute 10.3. E1 – 3)
_____________ 16
Zu „sekundäres semiotisches Modell“ vgl. Lotman 1972, 199 ff.; Titzmann 1977, 65; Krah 2006, 36.
76
Karl. N. Renner
Auch die ausgewählten Statements belegen Becks offensives Auftreten auf dieser Pressekonferenz: Ich bin wieder fit und handlungsfähig, nur nicht so laut. Schlussfolgern Sie bitte aus dieser noch nicht ganz so festen Stimme nicht darauf, dass mein Führungswille oder ähnliche Entschlossenheiten ebenfalls noch geschwächt seien, das ist nicht so. (Tagesschau 10.3. E3 O-Ton Beck)
Diese Führungskrise ist als eine Verletzung des Ordnungssatzes OS 1 zu interpretieren. Wodurch dieser Ordnungssatz verletzt wird, wird nur kursorisch angesprochen: als „Tohuwabohu“ (heute 10.3. Anmoderation) oder als „Querelen bei den hessischen Sozialdemokraten“ (Tagesschau 10.3. Anmoderation). Becks demonstrativer Auftritt bleibt nicht der einzige Akt zur Wiederherstellung der innerparteilichen Ordnung, von dem an diesem Tag zu berichten ist. „Demonstrativ hatte sich am Morgen das Parteipräsidium der SPD hinter Beck gestellt“ (heute 10.3. E5) und „stärkte Beck […] den Rücken“ (Tagesschau 10.3. E8 – 9) (vgl. Situationsbeschreibung t17). In diesem Sinne steht die Pressekonferenz für eine Restitution der semantischen Ordnung: Die Kongruenz von zentraler Figur und semantischem Raum ist wieder hergestellt. Achtet man auf die metaphorischen Bezüge, die der Off-Kommentar zwischen dem erkrankten Beck und dem desolaten Zustand seiner Partei herstellt, dann lässt sich die Beseitigung dieser Ordnungsverletzungen noch folgendermaßen erklären: Mit der Erkrankung des Parteichefs erkrankt die Partei; wenn er wieder gesundet, erholt sich diese wieder. Es muss nicht eigens gesagt werden, dass diese Schlussfolgerung mit unserem Realitätsverständnis kollidiert und bei Nachrichten nicht zulässig ist. Aber die semantische Ordnung dieser Filme bietet diese Schlussfolgerung an, und es gibt genügend literarische Beiträge, die mit solchen phantastischen Ordnungsstrukturen operieren. Zum zweiten geht aus den Nachrichtenbeiträgen hervor, dass auf der Pressekonferenz vom 10. März auch eine Ordnungstransformation stattfindet. Beck bezieht gegenüber der Linkspartei „eine neue Position“ (heute 10.3. E9). Als zentrale Figur des semantischen Raums SPD setzt er auf dieser Pressekonferenz eine SPD-interne Regel zum Umgang mit der Linkspartei außer Kraft und erklärt eine neue Regel für verbindlich. War es den SPD-Landtagsabgeordneten der alten Bundesländer bislang verwehrt, mit der Linken enger zusammenzuarbeiten, so steht ihnen diese Möglichkeit nun offen. „Die Strategie der Auseinandersetzung muss jetzt verändert werden“, so Beck selbst (Tagesschau 10.3. E7 O-Ton Beck). Auch werden hier die Gründe angegeben, warum es zu dieser Ordnungstransformation kommt: „Nach dem Einzug der Linkspartei in westliche
Rudimentäres Erzählen
77
Landesparlamente ist der Strategiewechsel für Beck logische Folge“ (Tagesschau 10.3. E6). Der doppelte Ereignischarakter der Pressekonferenz vom 10. März erklärt dann auch die Unterschiede in der Nachrichtenberichterstattung der beiden Sender am 9. März. Das ZDF stellt die Behebung der Ordnungsverletzung in den Mittelpunkt und hier erfolgt auch bereits am Tag vor der Pressekonferenz ein entscheidender Schritt (vgl. Situationsbeschreibung t14): Die Bundes-SPD wird Hessens Landesvorsitzende Ypsilanti einen Strich durch die Rechnung machen. Nachdem Ypsilanti überlegt hatte sich unter Umständen doch mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, gibt’s jetzt ein Nein aus Berlin. Und zwar wenige Stunden vor dem ersten Auftritt von SPD-Chef Beck nach seiner Krankheit. (heute 9.3. Anmoderation)
Die Tagesschau hält diesen Vorgang ebenfalls für berichtenswert (Tagesschau 9.3. E8 – 9), interessiert sich jedoch vor allem dafür, wie der linke und der rechte Parteiflügel auf einen möglichen Strategiewechsel des Parteivorsitzenden reagieren. Auch wenn die Vertreter beider Seiten dazu unterschiedliche Statements abgeben, so betonen beide ihre Erwartungen, dass die Führungskrise nun beendet wird und dass Beck Parteivorsitzender bleibt (Tagesschau 9.3. E5 – 7). Zweiter Ereigniszusammenhang: der Streit um die Regierungsbildung in Hessen Der zweite Gegenstand der Nachrichtenbeiträge, der Streit um die Bildung einer Minderheitsregierung in Hessen, lässt sich ebenfalls unter Rückgriff auf das Konzept der zentralen Figur als ereignishaftes Geschehen nachweisen. Als zentrale Figur ist dabei die hessische Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti zu interpretieren, auch wenn es dazu nur wenige Indikatoren gibt. Sie wird nur kurz als „Hessens Landesvorsitzende“ vorgestellt (heute 9.3. Anmoderation). Alles Weitere wird in nachrichtentypischer Weise als bekannt vorausgesetzt. Allerdings gibt es dazu auch eine ordnungssatzähnliche Formulierung, die deutlich auf diese Funktion von Ypsilanti Bezug nimmt. Der saarländische SPD-Vorsitzende Maas erinnert in einem Interview zur Situation in Hessen daran, dass man keine Minderheitsregierung bilden kann, wenn man die eigenen Leute nicht geschlossen hinter sich weiß: Ich glaube, dass Andrea Ypsilanti das selbst am besten weiß, dass sich dieses Thema jetzt erledigt hat. Denn wenn man so etwas machen will, dann braucht man mindestens alle Stimmen aus der eigenen Fraktion und wenn das dauerhaft nicht gewährleistet ist, dann geht das nicht. (heute 9.3. E14 O-Ton Maas)
Für den Raum „hessische SPD“ lässt sich damit folgende Struktur definieren, die die semantische Ordnung dieses Raumes bestimmt:
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OS 2:
x ((a2 R2 x P2a2) o P2x), Ypsilanti a2 a2R2x Ypsilanti ist Landes-Parteivorsitzende17 von x Handlungsoption, die von Ypsilanti als zulässig betrachP2a2 tet wird und realisiert werden soll
Mit diesem Ordnungssatz OS 2 kann nun die Ereignishaftigkeit der innerhessischen Querelen folgendermaßen erklärt werden: Die Weigerung der Landtagsabgeordneten Dagmar Metzger, Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu wählen (heute 9.3. E9), ist ereignishaft, weil das diesen Ordnungssatz verletzt (Situationsbeschreibung t10). Metzger verhält sich anders, als das von den Mitgliedern der SPD-Landtagsfraktion erwartet wird, und stellt damit Ypsilantis Führungsrolle in Frage. Visuelle Indikatoren dieses Ereignisses sind die Fotografen, die Metzger bestürmen (heute 9.3. E11), sowie die Gegenmontage der beiden Antagonistinnen, die in zwei Einstellungen hintereinander gezeigt werden und dabei rechtslinks bzw. links-rechts durchs Bild eilen (heute 9.3. E9 – 11). Die Bestrebungen, Metzger zum Rücktritt zu bewegen (heute 9.3. E10) oder sie aus der Partei auszuschließen (Anne Will 9.3.), lassen sich nun als Bemühungen interpretieren, die Ordnung wiederherzustellen, indem das ordnungsverletzende Individuum diesen Raum verlässt (Situationsbeschreibung t12). Damit wird aber auch die Mitteilung von Metzgers potenziellem Nachrücker Aaron Krist ereignishaft, er lehne wie Metzger eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ab (heute 9.3. E12) (Situationsbeschreibung t13). Komplementär dazu verändern sich die Entscheidungen von Andrea Ypsilanti. Sie gibt zunächst ihren Plan auf, Ministerpräsidentin zu werden (heute 9.3. E6: abgefilmte Schlagzeile „Ypsilanti gibt auf“), und hält dann doch wieder daran fest (heute 9.3. E6: abgefilmte Schlagzeile „Ypsilanti gibt nicht auf“) (Situationsbeschreibungen t11, t12). Im Rahmen der Grenzüberschreitungstheorie kann dieser „Zickzack-Kurs“ (heute 10.3. E7) als eine Abfolge von Ordnungstransformationen interpretiert werden, die zwar die Konsistenz des semantischen Raumes „hessische SPD“ gewährleisten, die aber Ypsilantis Position als zentrale Figur dieses Raumes in Frage stellen, da nicht mehr sie, sondern Metzger die Ordnung dieses Raumes bestimmt. Dieser krisenhafte Zustand wird letztlich erst dann beendet, als Ypsilanti der Aufforderung der Bundespartei zustimmt, auf ihre Kandidatur zu verzichten (Situationsbeschreibung t16).
_____________ 17
Aus praktischen Gründen unterscheide ich hier nicht, dass Ypsilanti zwei Ämter ausübte. Sie war hessische Landesvorsitzende und Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion.
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Die Verknüpfung der beiden Ereigniszusammenhänge Die Verknüpfung der Ereignisse auf Bundes- und auf Landesebene lässt sich schließlich dadurch nachbilden, dass man die beiden Ordnungssätze OS 1 und OS 2 miteinander verbindet. Die SPD-Mitglieder in Hessen sind ja auch Mitglieder der Bundes-SPD. Damit lassen sich nun die beiden Konfliktfelder nachzeichnen, die sich zwischen dem semantischen Raum „SPD im Bund“ und dem Teilraum „hessische SPD“ auftun. Ein erster Konflikt bricht auf, wenn sich die Regeln P1 und P2 widersprechen, die die beiden zentralen Figuren für verbindlich erklären. Das ist spätestens ab dem Zeitpunkt der Fall, ab dem sich Ypsilanti offen für eine Minderheitsregierung unter Duldung der Linken ausspricht (Situationsbeschreibung t9). Dieser Konflikt wird letztlich erst mit dem Strategiewechsel der Bundespartei entschärft, den Beck auf der Pressekonferenz bekannt gibt. Durch diese Ordnungstransformation wird die Regel P1 so geändert, dass sie nicht mehr P2 widerspricht. Mit Ypsilantis Regierungsplänen entsteht aber noch ein weiterer Konflikt. Die rangniedrigere zentrale Figur a2 stellt die raumdefinierende Funktion der ranghöheren zentralen Figur a1 in Frage. Daraus resultiert der Vorwurf der Führungsschwäche, gegen den sich Beck auf der Pressekonferenz vehement zur Wehr setzt. Dieser Vorwurf kommt auf, weil sich Beck krankheitsbedingt zu den Vorgängen in Hessen nicht äußern kann und weil niemand für ihn stellvertretend Position bezieht. Erst am Vortag der Pressekonferenz stoppt der Generalsekretär der Bundespartei mit einer „Art Machtwort aus Berlin“ (heute 9.3. E7) die Regierungspläne der hessischen Landesvorsitzenden (Situationsbeschreibung t14). Ypsilanti selbst erklärt dann vor der Sitzung des SPD-Präsidiums am Morgen des 10. März, dass sie der Aufforderung der Bundespartei zustimmt, auf ihre Kandidatur zu verzichten (O-Ton Ypsilanti in: Tagesschau 10.3. B-Stück E3; heute 10.3. E8) (Situationsbeschreibung t16). Offensichtlich darf der Strategiewechsel des Bundesvorsitzenden in keinem Fall so aussehen, als wäre ihm dieser aufgezwungen worden. 4.3.4. Nicht-fiktionale Ereignisse: Diskussion des Untersuchungsergebnisses Die einheitliche Erklärung fiktionaler und nicht-fiktionaler Ereignisse Die Untersuchung der Fernsehnachrichten über die Beendigung der SPDFührungskrise 2008 zeigt, dass die Ereignishaftigkeit von Geschehnissen, die der „Welt der realen Dinge“ angehören, auf die gleiche Weise erklärt werden kann, wie die von Geschehnissen in fiktionalen Texten. Denn die Pressekonferenz vom 10. März 2008 lässt sich mit Hilfe der weiterentwickelten Grenzüberschreitungstheorie auf die gleiche Weise als Ereignis nachweisen, wie man mit Hilfe dieser Theorie auch die Ereignisse in fiktionalen Medienbeiträgen aufzeigen kann.
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Die Pressekonferenz kann demnach auf Handlungsebene der Fernsehbeiträge als Ordnungsrestitution interpretiert werden. Sie beendet die Ordnungsverletzungen, die im Frühjahr 2008 die semantische Ordnung der Räume „SPD im Bund“ und „hessische SPD“ gestört und dort zu einem „Tohuwabohu“ geführt haben. Diese Erklärung stützt sich auf semantische Zusammenhänge, insbesondere auf das Konsistenzprinzip der Grenzüberschreitungstheorie. Sie versteht diese Handlung nicht als Mimesis des intentionalen Tun und Lassen der handelnden Personen, auch wenn den handelnden Akteuren durchaus Absichten und Motive unterstellt werden können. Weiterhin impliziert diese Erklärung, dass die Abfolge nicht-fiktionaler Ereignisse nicht zufällig ist, sondern einer inneren Logik gehorcht. Entsprechend dem Konsistenzprinzip müssen ja Ordnungsverletzungen durch Ordnungsrestitutionen kompensiert werden. Dieses Resultat beantwortet die erste Forschungsfrage und bestätigt einmal mehr, dass Lotmans Überlegungen zu Ereignis und Sujet „in gleicher Weise für künstlerische und nichtkünstlerische Texte“ gelten (Lotman 1972, 347). Das gilt nicht minder für das hier verwendete Konzept der zentralen Figur, einer Weiterentwicklung von Lotmans Grenzüberschreitungstheorie. Denn Ereigniszusammenhänge, die sich damit erklären lassen, finden sich auch in fiktionalen Medienbeiträgen, so etwa in Kleists Novelle Der Findling (Renner 1983, 175 ff.). Die ordnungsstiftende Funktion der Sprache Die daran anschließende Frage, wie dieses Ergebnis zu erklären ist, macht jedoch auf einen großen Unterschied zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Ereignissen aufmerksam. Fiktionale Ereignisse sind textabhängige Phänomene, nicht-fiktionale Ereignisse sind dagegen textunabhängiger Natur. Kurt Beck und Andrea Ypsilanti sind schließlich keine Romanfiguren, sie sind Menschen aus Fleisch und Blut. Dennoch entspricht ihr Handeln während der SPD-Führungskrise den Handlungsmustern fiktionaler Figuren. Daher ist zu fragen, wo bei nicht-fiktionalen Ereignissen die semantischen Ordnungen zu lokalisieren sind, vor deren Hintergrund die jeweiligen Geschehnisse zu Ereignissen werden. Bei fiktionalen Ereignissen ist die Antwort klar: Die erforderlichen semantischen Ordnungen werden beim Erzählen einer Geschichte zusammen mit dem Text entwickelt, der zum Erzählen dieser Geschichte benutzt wird. Wie verhält sich das aber bei textunabhängigen Ereignissen? Da es hier keinen Text gibt, um die erforderlichen Ordnungsstrukturen zu entwickeln, können diese eigentlich nur im Denken und im Wissen der individuellen Akteure – seien es die Handelnden, seien es die Berichterstatter – vermutet werden. Bevor jedoch die Schema-Theorien und Frame-Konzepte der Kognitionsforschung und Wissenspsychologie das Re-
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giment übernehmen, sollen nochmals die zentralen Anforderungen formuliert werden, die diese Ordnungsstrukturen erfüllen müssen. Akzeptiert man die Prämissen der weiterentwickelten Grenzüberschreitungstheorie, dann müssen diese Strukturen klassifikatorischer Natur sein und sie müssen von ihren Benutzern für wahr gehalten werden. Ordnungssätze sind ja nichts anderes als Klassifikationsregeln, deren Wahrheit von der jeweiligen Geschichte präsupponiert wird und die sich in umfangreicheren Erzählungen zu hochkomplexen Klassifikationssystemen zusammenfügen können (vgl. Renner 1983, 182). Zieht man weiterhin in Betracht, dass während der SPD-Führungskrise die verschiedenen handelnden und berichtenden Akteure darin übereinstimmen, welche Vorgänge sie für ereignishaft halten, dann ist außerdem davon auszugehen, dass diese ereigniskonstituierenden Klassifikationsstrukturen intersubjektive Gültigkeit besitzen. Beides zusammen weist der Rolle, die die Sprache beim Erzählen spielt, einen zentralen Stellenwert zu. Sprache ist ja nicht nur ein Werkzeug zur Kommunikation, sie ist ja ebenso ein Mittel zur Klassifikation. Ausführlich wird diese klassifikatorische Funktion der Sprache von der instrumentalistischen Zeichentheorie behandelt (Keller 1995, 86 ff.). Doch auch die Wissenssoziologie macht darauf aufmerksam (Berger & Luckmann [1966] 2003, 41). Sprachliche Klassifikationen einer Sprache sind nicht privater, sondern intersubjektiver Natur. Sie werden von all denen geteilt, die diese Sprache für ihre kommunikativen Zwecke benutzen. Dabei sind in diese Klassifikationen auch jene funktionalen und sozialen Beziehungen eingeschrieben, die von der sozialen Gemeinschaft derer, die diese Sprache benutzen, für allgemein verbindlich gehalten werden (Searle 1995). Da es bei derartigen sprachlichen Klassifikationen aber zunächst einmal um die Ordnung unserer Alltagsrealität geht, die wir aufgrund unserer Sozialisation und Lebenserfahrung als selbstverständlich und natürlich betrachten, besitzen diese Klassifikationen geradezu von selbst einen nicht weiter hinterfragten Wahrheitsanspruch. „Der Allerweltsverstand hat unzählige prä- und quasi-wissenschaftliche Interpretationen der Alltagswelt zur Hand, welche er für gewiss hält“, schreiben Peter L. Berger und Thomas Luckmann ([1966] 2003, 23). Folgt man dem, so erweist sich Gustav Freytags göttliche Weltordnung als die immanente Ordnung unserer Sprache. Nicht-fiktionale Ereignisse im Rahmen anderer Ereigniskonzepte Man kann also nicht-fiktionale Ereignisse auch dann mit Hilfe der Grenzüberschreitungstheorie erklären, wenn man sie als textunabhängige Größen auffasst. Das scheint für jene textorientierten Narrationstheorien
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nicht möglich, die die Ereignisse einer Erzählung ausgehend von der Abfolge der Wörter im Text dieser Erzählung zu erfassen suchen; exemplarisch ist der Theorieentwurf von Jan Meister (2003). Mit einer textbezogenen Herangehensweise sind textunabhängige Ereignisse per definitionem aus dem Untersuchungsgegenstand ausgeschlossen. Doch untersuchen diese Konzepte auch den gleichen Gegenstand wie die Grenzüberschreitungstheorie oder untersuchen sie etwas anderes? Und zwar die Konstitution von Ereignissen beim Vorgang des Erzählens? Die Linguistik unterscheidet auch zwischen der Frage, wie syntaktische Strukturen organisiert sind, und der Frage, wie diese Strukturen bei der linearen Abfolge sprachlicher Äußerungen realisiert werden. Marie-Laure Ryans Unterscheidung zwischen „possessing narrativity“ und „being a narrative“ weist ebenfalls in diese Richtung (Ryan 2004, 9). Auch außerhalb der Erzähltheorie stoßen nicht-fiktionale Ereignisse auf wissenschaftliches Interesse. So beschäftigen sich die sozialempirischen Arbeiten von Hans Mathias Kepplinger und Evelyn Bytzek aus kommunikations- bzw. politikwissenschaftlicher Perspektive mit den medialen und politischen Folgen von Ereignissen. Im Gegensatz zur Grenzüberschreitungstheorie verwenden sie einen nicht-emphatischen Ereignisbegriff, d. h. sie verwenden den Begriff „Ereignis“, um damit jedes Geschehnis zu bezeichnen. So wie dieser Begriff in seinem alltagssprachlichen Gebrauch eben verwendet wird. Es zeigt sich aber, dass Kepplinger und Bytzek diesen nicht-emphatischen Ereignisbegriff revidieren müssen. Kepplinger (2001, 119) definiert Ereignisse als „zeitlich und räumlich begrenzte Geschehnisse“ und räumt dann ein, dass im konkreten Anwendungsfall die Definition des Ereignisumfanges und damit auch die Definition des Ereignisses selbst beobachterabhängig sind: So kann man z. B. einen Verkehrsunfall samt seiner Vorgeschichte und Nachwirkungen als ein Ereignis betrachten. Man kann jedoch in dem Geschehen auch drei Ereignisse sehen, die Vorgeschichte, den Unfall selbst und die Nachwirkungen (Kepplinger 2001, 119).
Bytzek wiederum kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Verwendung eines nicht-emphatischen Ereignisbegriffes „alles, was ‚passiert‘ ein Ereignis“ wäre, und hält dem entgegen: „Ereignisse geschehen überraschend, plötzlich und haben eine innovative, systemverändernde Kraft“ (Bytzek 2008, 434). Beide Begriffsrevisionen tendieren letztlich also zu einem Begriffsverständnis, das dem Ereignisbegriff der Grenzüberschreitungstheorie ähnlich ist. Die Beobachterabhängigkeit des Ereignisbegriffs erinnert an die Textrelativität des Ereignisses bei Lotman. Der überraschende Charakter des Ereignisses mit seiner systemverändernden Kraft verweist auf die
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Ereignishaftigkeit der Ordnungsverletzung und der Ordnungstransformation. Auffallende Ähnlichkeiten bestehen auch zur Nachrichtenwerttheorie, der zentralen kommunikationswissenschaftlichen Theorie, die erklärt, warum Journalisten Ereignisse (im nicht emphatischen Sinne) für berichtenswert halten und zum Gegenstand einer Nachricht machen (Staab 1990). So erinnert das Konzept der zentralen Figur an den besonderen Nachrichtenwert, den die Nachrichtenwerttheorie Elitepersonen und Elitenationen zumisst. Inwieweit aber die induktiv statistisch begründete Nachrichtenwerttheorie mit der deduktiv vorgehenden Grenzüberschreitungstheorie in Übereinstimmung gebracht werden kann, kann hier nicht diskutiert werden. 4.4. Semantische Aspekte II: Berichten und Erzählen Wie im letzten Abschnitt gezeigt, können Berichte, die in den Fernsehnachrichten gesendet werden, genauso Ereignisse wiedergeben wie Erzählungen. Damit scheint sich der Unterschied zwischen dem Berichten und dem Erzählen auf die unterschiedliche Gestaltung der Beitragsoberfläche zu reduzieren, was sich wiederum mit den unterschiedlichen pragmatischen Funktionen der beiden Beitragsgattungen erklären lässt. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass es zwischen einem Bericht und einer Erzählung jedoch auch in semantischer Hinsicht Unterschiede gibt, ist das syntaktische Differenzkriterium, wonach man einen Bericht genauso wie eine Hard News vom Ende her kürzen kann, was bei narrativen Textgattungen wie der Reportage oder der Soft News nicht möglich ist (Köhler 2009, 11). Ähnliches gilt für die Kürzung von Chroniken, Protokollen und Erzählungen. Das deutet auf eine unterschiedliche propositionale Organisation deskriptiver und narrativer Textgattungen hin. Eine eindeutige semantische Differenz von Bericht und Erzählung besteht darin, dass der Realitätsbezug eines Berichtes faktisch, der einer Erzählung aber unmarkiert ist, d. h. Erzählungen können gleichermaßen faktische wie fiktionale Sachverhalte wiedergeben. Der Satz „Äsop erzählt von Füchsen, die sprechen können“ ist akzeptabel; der Satz „Äsop berichtet von Füchsen, die sprechen können“ ist das nicht (Kanzog 1976, 12 f.). Lassen sich also darüber hinaus, wie das die zweite Forschungsfrage formuliert, am Beispiel der Berichterstattung über die SPD-Führungskrise 2008 noch weitere Unterschiede hinsichtlich der propositionalen Struktur der beiden kommunikativen Handlungen Berichten und Erzählen ausmachen? Das soll in dieser explorativen Studie anhand eines Vergleichs der beiden Nachrichtenbeiträge vom 9. März 2008 mit dem Filmbeitrag Avanti
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Dilettanti abgeklärt werden, der ebenfalls am Abend des 9. März 2008 als Einspielfilm in der Talkshow Anne Will eingesetzt wurde. 4.4.1. Der Einspielfilm Avanti Dilettanti Einspielfilme sind kurze Filmbeiträge, die in Gesprächssendungen gezeigt werden, um Themen anzureißen, Aussagen zu dokumentieren und Sachverhalte zu illustrieren. Sie sind in ihrem Umfang etwa genauso lang wie Nachrichtenbeiträge, unterscheiden sich aber auf Grund ihrer Funktion deutlich von diesen. Da sie Diskussionen zuspitzen und vorantreiben sollen, sind sie oftmals karikierend und provozierend gestaltet. Das gilt auch für den Einspieler Avanti Dilettanti, der die SPD-Führungskrise persifliert. Gerade deswegen eignet sich dieser Film jedoch recht gut für den vorgesehenen Vergleich. Denn er ist aufgrund seines Stils eindeutig als eine Erzählung satirischer Art einzustufen. Dennoch thematisiert der Film den gleichen Gegenstand wie die Nachrichtenbeiträge dieses Abends. Ja, er muss sogar wie diese den gleichen aktuellen Entwicklungsstand berücksichtigen, da er fast zur gleichen Zeit gesendet wird. Auch ist er mit 1:24 Minuten etwa genauso lang, was bedeutet, dass bei seiner Gestaltung ein ähnlich knappes Zeitvolumen zu berücksichtigen ist. Der Film ist ein Animationsfilm, der mit den Mitteln der digitalen Grafik produziert wurde und in den dann O-Töne der verschiedenen Protagonisten eingeschnitten wurden. Sein Off-Kommentar ist in Knittelversen abgefasst und erinnert an eine Büttenrede, die Befremdliches aufgreift und pointiert wiedergibt. Das visuelle Leitmotiv des Films ist ein animiertes SPD-Logo, das als Rennwagen mit viel Krach und hoher Geschwindigkeit eine Rennstrecke entlang rast, durch einen Wirrwarr von Links-, Rechts-Geboten, Kreisverkehr- und Stoppschildern ins Schlingern kommt und verunglückt. Das SPD-Logo startet seine Fahrt, gleich nachdem in der ersten Einstellung Beck und Ypsilanti zu sehen waren, wie sie bei einem Wahlkampfauftritt gemeinsam Luftballons aufsteigen lassen. In die einzelnen Verkehrsschilder sind dann O-Töne von Ypsilanti, Beck, Metzger und anderen Politikern sowie eine kurze Straßenumfrage einmontiert. Akustisch ist das Ganze durch den Motorenlärm eines Rennautos und durch Musikakzente unterlegt, die gegen Ende immer dramatischer werden. Inhaltlich lässt sich der Film in vier Abschnitte untergliedern. Er erinnert zunächst an die Regierungspläne der SPD vor der Landtagswahl in Hessen und an Ypsilantis Zusicherung, keine Zusammenarbeit mit der Linken einzugehen (E3). Dann zeigt er, wie nach dem verfehlten Wahlsieg ein innerparteilicher Richtungsstreit ausbricht und wie Ypsilanti ihr „Versprechen nicht halten kann“, sich „nicht von den Linken wählen zu las-
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Einspielfilm, „Anne Will“. 9. März 2008
28-29 20-25 11-15 4-10 1-3
16-19
26-27
7“ 12“ 14“ 12“ 18“ 9“
12“
„Aus der Traum“ Metzger: Keine Kooperation mit der Linken Straßenumfrage: massive Kritik an SPD „Beck im Chaos“ Streit in SPD: Umgang mit der Linken? Griff nach der Macht Das Wahlversprechen:
Ypsilanti: „Ich kann mein Versprechen nicht halten“
- Reaktionen auf das Wahlergebnis - Bruch des Wahlversprechens - Regierungspläne - Wahlversprechen
„Wer kommt jetzt unter die Räder?“ - Folgen - Öffentliche Reaktionen
Nach der Wahl Vor der Wahl
Nach Bruch des Wahlversprechens
Das Scheitern der Regierungspläne
sen“ (E14), flankiert von Becks zustimmendem Ausruf „Herzlichen Glückwunsch. Toi, toi, toi für Hessen!“ (E15). Der dritte Teil zeigt das Lavieren der SPD und die massive öffentliche Kritik. Der letzte Abschnitt hält fest, wie durch das Nein von Metzger (E27) die hessischen Regierungspläne endgültig scheitern, und stellt die Frage nach den Schuldigen (E28 – 29).
Abb. 10: Strukturgerüst des Einspielfilms Avanti Dilettanti18
_____________ 18
Die Gliederung dieses Films orientiert sich nicht an den visuellen, sondern an den sprachlichen Zusammenhängen. Denn dieser Film bebildert den sprachlichen Text, ein Gestaltungsprinzip, das bei derartigen Animationsfilmen oft anzutreffen ist.
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Bestimmt man die pragmatische Textfunktion des Einspielfilms, so ist er eindeutig als Appell einzustufen. Dafür sprechen sein Spott und die offene Frage, mit der er endet: „Nun fragt sich jeder: Wer kommt jetzt unter die Räder?“ (E28). Die Autoren des Films möchten ihre Rezipienten dazu bringen, „eine bestimmte Einstellung einer Sache gegenüber einzunehmen (Meinungsbeeinflussung) oder eine bestimmte Handlung zu vollziehen (Verhaltensbeeinflussung)“ (Brinker 1997, 108 f.). Der Einspielfilm unterscheidet sich also auch hinsichtlich der illokutionären Funktion deutlich von einem Bericht, der seinen Rezipienten „ein Wissen vermitteln“, sie „über etwas informieren will“ (Brinker 1997, 105). Dieser appellative Charakter geht allerdings auf den satirischen Gestus des Einspielfilms und nicht auf seine Konzeption als Erzählung zurück.19 Jedoch ist daran zu erinnern, dass Berichte anders als Erzählungen denkbar schlecht geeignet sind, um als Appell zu dienen. 4.4.2. Die Situationsbeschreibungen des Einspielfilms und der Nachrichtenbeiträge Will man das propositionale Gefüge mehrerer Medienbeiträge miteinander vergleichen, dann sind dazu im Rahmen der Grenzüberschreitungstheorie zwei Vergleichsschritte erforderlich. Zunächst einmal sind die Situationsbeschreibungen miteinander zu vergleichen, inwiefern sie die gleichen Sachverhalte wiedergeben. Danach ist abzuklären, ob die verschiedenen Medienbeiträge auch mit den gleichen Ordnungssätzen operieren. Da sich der Einspielfilm auf das gleiche reale Geschehen bezieht wie die Nachrichtenbeiträge, können beim Vergleich der Situationsbeschreibungen die eingeführten Nummerierungen20 beibehalten werden. Allerdings lassen sich einige Sachverhalte nur pauschal in das vorgegebene Zeitraster einordnen. So gibt der Zuspielfilm kein Datum an, wann der Richtungsstreit innerhalb der SPD ausbricht. Es lässt sich nur sagen, dass dies nach der Wahl in Hessen, also nach dem Zeitpunkt t3 der Fall ist. Ähnlich unbestimmt ist das Datum der öffentlichen Reaktionen zum Zustand der SPD. Aber auch hier lässt sich eine pauschale Einordnung vornehmen.
_____________ 19
20
Der appellative Charakter markiert auch einen deutlichen Unterschied zur Reportage. Der Einspielfilm will seine Rezipienten mit rationalen und emotionalen Mitteln dazu bringen, dem Thema gegenüber eine bestimmte Haltung einzunehmen. In einer Reportage geht es dagegen darum, dass der Autor seine Emotionen in der von ihm erlebten Situation so zum Ausdruck bringt, dass seine Rezipienten diese Erfahrungen miterleben können. Zu den Ausdrucksmitteln, die dazu verwendet werden, gehört auch das Erzählen. Die Lücken in der Nummerierung gehen darauf zurück, dass Vorgänge, die nur in den Diskussionssendungen erwähnt werden, in der Tabelle nicht angegeben werden.
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ti
Datum
Vorgang
t2
vor Wahl in Hessen
Ypsilanti verspricht, sich nicht von den Linken wählen zu lassen
t3
27. 01.08
Landtagswahl in Hessen
nach t3
AWill
Statement Wowereit
x
Statement Kahrs, Gabriel
t4
vor Wahl in Hamburg
Äußerung Beck: „keine aktive Zusammenarbeit“
t5
24.02.08
Bürgerschaftswahl in Hamburg
t6
nach 24.02.08
Beck : Entschuldigung für diese Äußerung
t7
Ende Februar 2008
Erkrankung Beck
t8
02.03.08
Kommunalwahl Bayern
t9
Di 04.03.08
Ypsilanti will sich mit Stimmen der Linken wählen lassen
nach t9
Gysi zu SPD
x
Passanten zu SPD
t10
Do 06.03.08
Metzger verweigert ihre Zustimmung
t11
Fr 07.03.08
Ypsilanti zieht ihre Kandidatur zurück
E3-8
E6
E5
E5
Anmod.
E4
E4, E7
E7 E9-10 [E15]
E19
E5 E4
Öffentliche Reaktionen zur SPD: x
heute
E3
Richtungsstreit in der SPD: x
TS
E18 E21-25 E27
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Metzger soll Mandat niederlegen
E10
Schlagzeile „Ypsilanti gibt nicht auf“
E6
So 09.03.08 im Lauf des Tages
Bedenken Krist (Nachrücker Metzger)
E12
Interview Heiko Maas zu Ypsilanti
E14
t14
So 09.03.08 18.30 Uhr
SPD Generalsekretär Heil: „Nein zur Kandidatur Ypsilanti“
E9
E8
t15
So 09.03.08 20.00 Uhr
Sitzung SPD-Vorstand („Krisengipfel“)
E10
E1-3
t18
Mo 10.03.08
Pressekonferenz Beck
E1-4
E15-16
t12
t13
Sa 08.03.08
Abb. 11: Vergleich der Situationsbeschreibungen von Einspielfilm und Nachrichtenbeiträgen
Hält man die Situationsbeschreibungen von Einspielfilm und Nachrichtenbeiträgen nebeneinander, wird eine völlig unterschiedliche Gewichtung der Geschehnisse deutlich. Der Einspielfilm konzentriert sich auf den Anfang des Geschehens (Zeitpunkte t2 – t10), während sich das Interesse der beiden Nachrichtenbeiträge auf die späteren Zeitpunkte t12 – t18 richtet. Diese Differenz kann mit der spezifischen Informationsfunktion von Nachrichten erklärt werden. Nachrichten sollen ihre Rezipienten über das Wichtigste aktuell auf dem Laufenden halten und können dabei die vorangegangen Ereignisse als bekannt voraussetzen. Allerdings werden auch einige Vorgänge im Anfangszeitraum des Geschehens sehr unterschiedlich gewichtet. So fällt auf, dass die Erkrankung Becks (t7) im Einspielfilm überhaupt keine Rolle spielt, während sie in beiden Nachrichtenfilmen angesprochen wird. Andererseits wird dort Ypsilantis Wahlversprechen (t2, t9) nicht erwähnt, während dies für den Zuspielfilm so wichtig ist, dass er etwa ein Fünftel seiner Dauer der genaueren Darstellung dieses Sachverhaltes widmet (E3; E11 – 15). Das sind klare Hinweise darauf, dass sich die Handlung des Einspielfilms von der der Nachrichtenfilme unterscheidet. Weiterhin ist zu konstatieren, dass die Äußerungen Becks (E15, E19) in einen zeitlichen Zusammenhang eingeordnet werden, der dem tatsäch-
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lichen Geschehen nicht entsprechen kann. Im Film folgen sie auf die öffentliche Erklärung Ypsilantis, in der sie ihr Wahlversprechen zurück nimmt (E14). Becks Äußerungen werden so zu Reaktionen auf Ypsilantis Erklärungen. Das gilt insbesondere für den O-Ton in E15: „Herzlichen Glückwunsch. Toi toi toi für Hessen!“ Tatsächlich sind die O-Töne Becks aber in anderen Zusammenhängen aufgenommen worden. Denn der Redeausschnitt Ypsilantis stammt aus ihrer Erklärung vom 4. März 2008. Da war Beck erkrankt und trat nicht öffentlich auf. Die Schnittmontage kann sich zur ihrer Legitimation eigentlich nur auf die Äußerung Becks im Februar (t4) stützen, mit der Linken „keine aktive Zusammenarbeit“ einzugehen. 4.4.3. Die Handlung des Einspielfilms Die semantische Ordnung, die der Handlung des Einspielfilms zu Grunde liegt, lässt sich ausgehend von der Anfangseinstellung und den Aussagen der Straßenumfrage entwickeln. Die Anfangseinstellung definiert Beck und Ypsilanti als zentrale Figuren, die plakativen Äußerungen der Passanten lassen sich ohne Schwierigkeiten in Ordnungssätze umformulieren. Zentrale Figuren und semantische Ordnung In der Anfangseinstellung E1 ist zu sehen, wie Beck und Ypsilanti im Mittelpunkt einer Wahlkampfveranstaltung stehen, wo sie nach den roten Luftballons greifen, die in der Wahlkampfarena nach oben steigen. Unmittelbar vor dem ominösen Statement Ypsilantis wiederholt der Film in Einstellung E11 nochmals dieses Motiv: Ypsilanti und Beck sind die zentralen Figuren des Raumes SPD. Anders als in den Nachrichtenbeiträgen werden ihre unterschiedlichen Parteifunktionen jedoch nicht auseinandergehalten. Sie werden beide gemeinsam für den desaströsen Zustand der SPD verantwortlich gemacht, wobei dies – insbesondere durch die Schnittmontage – so dargestellt wird, als würde Ypsilanti die Richtung vorgeben und Beck folgen. Die narrative Funktion von Ypsilanti und Beck als zentrale Figuren des Raumes SPD kann also nach dem gleichen Ordnungssatz-Schema dargestellt werden, das auch OS 1 und OS 2 zugrunde liegt: OS 3:
x ((a1, a2 Rx Pa1, a2) o Px) Beck a1 a2 Ypsilanti Rx sind Parteivorsitzende von x P politische Linie
Diese gemeinsame Leitungsfunktion von Beck und Ypsilanti stellt der Film bevorzugt mithilfe visueller Mittel dar. In ähnlicher Weise wie die Nachrichtenfilme zur Darstellung dieser Leitungsfunktion sprachliche
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Bilder aus der Schifffahrt verwenden, arbeitet er mit einer visuellen Metonymie. Beck und Ypsilanti lenken den roten Flitzer SPD und geben vor, welchen Weg die Partei einschlägt. Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Protagonisten und dem animierten Logo wird dadurch hergestellt, dass das erste Verspaar des Spottgedichts über die beiden Anfangseinstellungen E1 und E2 läuft und so die Realaufnahme mit der Animation verklammert. Bemerkenswert ist, dass dabei nicht Beck, sondern die SPD namentlich angesprochen wird. Nr
Zeit
Kamera
Bildinhalt
Sprache
0:00
Total
Wahlkampfveranstaltung SPD
Off-Kommentar:
Realaufnahme
Beck & Ypsilanti greifen nach roten Luftballons, die nach oben steigen.
Avanti Dilettanti, das sind die SPD und Ypsilanti.
groß
Animation SPD-Logo
Animation
Rotes Rennauto fährt mitten auf einer schwarzen Straße; ringsum eine grüne Wiese.
Für den schnellsten Weg zur Macht/haben sie sich was ausgedacht.
Motor Rennwagen
Musikakzent
0:03
Ton
Logo rast am Schild „Vorfahrtstraße“ vorbei. 0:05
groß
Statement Ypsilanti
O-Ton Ypsilanti:
Compositing
Y. ist in das Schild „Vorfahrtstraße“ einmontiert
Es gibt keine Zusammenarbeit mit den Linken.
Abb. 12: Einstellungsprotokoll der Anfangssequenz des Einspielfilms
Der Superlativ „Für den schnellsten Weg zur Macht“ (E2) verweist auf eine mehrschichtige Extrempunktstruktur der semantischen Ordnung, die der Handlung dieses Films zugrunde liegt und die fürs erste nur partiell
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rekonstruiert werden soll.21 Die Macht, also das Ziel dieses Weges, erreichen Politiker dann, wenn sie die Regierungsgewalt übernehmen. Damit lässt sich aus Sicht der Grenzüberschreitungstheorie die Ausübung eines Regierungsamtes als Extrempunkt begreifen, den alle Politiker anstreben. Der Film rekurriert demnach auf die Extrempunktregel, wenn er den beiden Protagonisten Machtgier unterstellt und dies mit dem vorwärts rasenden Parteilogo visualisiert. Formal wird diese Regel hier mit Hilfe des Modaloperators „will“ als Ordnungssatz OS 4 formuliert: OS 4:
x (Politiker x o W regierender Politiker x) Für alle x gilt: Wenn x ein Politiker ist, dann will x ein regierender Politiker werden.22
Das Mittel, das sich „SPD und Ypsilanti“ „für den schnellsten Weg zur Macht […] ausgedacht“ haben, ist die Zusicherung, dass es „keine Zusammenarbeit mit den Linken“ gibt. Nach den allgemein verbindlichen Regeln, die für jedes Versprechen gelten, verpflichten sie sich damit, nach der Wahl keine derartige Zusammenarbeit einzugehen. Die Rücknahme dieses Versprechens löst dann auch heftigste Kritik aus, wie das die Statements belegen, die in der Straßenumfrage aneinander montiert wurden: Ich habe einen Riesenverdruss gegenüber Politikern, die offensichtlich uns belügen. – Die müssen einen draufkriegen! – So was macht man nicht! – Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!23 – Ich lass mich doch nicht verarschen! (E21 – 25)
Reduziert man diese Beschimpfungen, Forderungen und Maximen auf ihre Kernelemente, so sind das die beiden allgemein verbindlichen sozialen Regeln, dass Versprechen einzuhalten sind und dass die Nichteinhaltung von Versprechen sanktioniert werden muss: OS 5:
x (x verspricht die Handlung Q o x muss die Handlung Q vollziehen) Für alle x gilt: Wenn x die Handlung Q verspricht, dann muss x die Handlung Q vollziehen.
_____________ 21
22
23
Die doppelte Extrempunktstruktur ergibt sich zum einen aus dem Zusammenhang von Weg und Ziel und zum anderen aus der Verwendung des Superlativs, wodurch ein bestimmter Weg als ranghöchstes Element einer Klasse von Wegen ausgewiesen wird. Dieser Aspekt wird im nächsten Abschnitt angesprochen. In formaler Hinsicht orientiere ich mich hier an meiner Untersuchung von Kleists Findling, in der „W“ allerdings für den temporalen Operator „Wird sein“ steht. Die theoretischen Probleme, die dieser temporale Operator aufwirft, konnten erst später mit der Formulierung der Extrempunktregel gelöst werden (vgl. Renner 1983, 114 ff.; Renner 1987). Es ist bemerkenswert, dass diese vorbelastete Parole auch hier erscheint. Sie wurde in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg von den Parteien links der SPD geprägt und bezog sich auf deren fehlende Unterstützung durch die SPD. Sie zielte also genau in die entgegengesetzte Richtung, wie sie hier verwendet wird.
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OS 6:
x (x bricht ein Versprechen o x muss bestraft werden) Für alle x gilt: Wenn x ein Versprechen bricht, dann muss x bestraft werden.
Ereigniszusammenhänge Mithilfe der semantischen Ordnung, die von den Ordnungssätzen OS 3 – OS 6 definiert wird, lässt sich nun die Handlung des Einspielfilms folgendermaßen rekonstruieren: In Hessen finden Landtagswahlen statt (t3), und Ypsilanti will dort, entsprechend OS 4, die Regierung übernehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, verspricht sie, mit den Linken nach der Wahl keine Zusammenarbeit einzugehen (t2). Wie OS 5 festhält, ist sie zur Einhaltung dieses Versprechen verpflichtet. Die Rücknahme dieses Versprechens (t9) verletzt OS 5, was als das zentrale Ereignis des Films zu bewerten ist. Diese zentrale Position ist auch am Strukturgerüst des Films gut abzulesen. Denn die Einstellungen E14 (Rücknahme des Wahlversprechens) und E15 (Zustimmung Beck), liegen ziemlich genau in der Mitte dieses Films. Da nach OS 3 die beiden zentralen Figuren Ypsilanti und Beck die Richtung der SPD vorgeben, bleibt diese Ordnungsverletzung für die Partei nicht folgenlos. Die Einstellungen E16 und E17 zeigen, wie das Logo in einer Kurve ins Schlingern gerät, wobei im Off-Kommentar wieder einmal der Chaos-Topos bemüht wird: „Die SPD, die schlingert sehr, Beck im Chaos, hin und her“. Die anschließende Straßenumfrage belegt den großen Schaden, den diese Normverletzung der Partei zugefügt hat (E20 – E25). Den Endpunkt setzt schließlich die Weigerung Metzgers, bei der Wahl Ypsilantis mit den Linken zu kooperieren (t10). Dies verhindert, dass die SPD-Führung das angestrebte Ziel erreicht, und stellt den Status von Beck und Ypsilanti als zentrale Figuren innerhalb der SPD in Frage: „Und dann wirft sie‘s aus der Bahn. Hier kann sie nicht mehr drüber fahr’n“ (E26). Die Schlussverse verweisen dann darauf, dass entsprechend OS 6 dies alles für die Verantwortlichen nicht ohne Konsequenzen bleiben kann: „Aus der Traum vom Weg zur Macht. Nun fragt sich jeder: Wer kommt jetzt unter die Räder?“ (E28). Figur und Handlung Die Schlussverse greifen den Off-Kommentar und den Bildinhalt der Anfangseinstellung wieder auf, wo der „schnellste Weg zur Macht“ als Motiv des Handelns von Beck und Ypsilanti eingeführt wird. Dieser Traum ist nun geplatzt. So wie auch die aufsteigenden Luftballons, nach denen beide in dieser Einstellung greifen, schnell platzen, wenn man sie falsch anfasst. Zugleich suggeriert der Auftakt der Spottverse „Avanti Dilettanti, das sind die SPD und Ypsilanti“, dass die beiden ihrer Führungsaufgabe nicht
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gewachsen sind. Denn der Begriff Dilettant bezeichnet „den (oberflächlichen) Liebhaber“, den „Halbwisser“, so das Paul’sche Wörterbuch (1966, 134). Das zweite Verspaar verstärkt die negativen Konnotationen dieses Begriffs: „Für den schnellsten Weg zur Macht haben sie sich was ausgedacht“ (Hervorhebung knr). Die Handlung des Films belegt dann auch, dass der „ausgedachte“ Plan keinen Bestand hat und dass es besser gewesen wäre, nicht den „schnellsten“, sondern einen soliden Weg zur Macht einzuschlagen und gegebene Wahlversprechen einzuhalten. Der Film begründet demnach die SPD-Führungskrise 2008 mit unzureichenden persönlichen Voraussetzungen der SPD-Führung, eine Kritik, die auch in den Diskussionssendungen zu hören ist. Nur Dilettanten wählen derart unüberlegt „den schnellsten Weg“, um das Ziel ihres Handelns zu erreichen. Erzähltheoretisch gesehen wird hier ein Zusammenhang zwischen den Eigenschaften der handelnden Figuren und der Handlung des Films aufgebaut. Denn man kann den Bedeutungsinhalt des Begriffs Dilettant zu folgendem Ordnungssatz expandieren: OS 7:
x (Dilettant x o x ist nur bedingt fähig, richtig zu handeln)
Mit Hilfe dieses Ordnungssatzes kann dann die Handlung des Films auf einer sehr generellen Ebene folgendermaßen beschrieben werden: Die Protagonisten gehen ihre Sache dilettantisch an; sie schlagen einen falschen Weg ein, um ihr Ziel zu erreichen, und scheitern. Auch wenn OS 7 durch den Ablauf des Geschehens nicht verletzt, sondern bestätigt wird, enthält er also ähnlich wie das Sujet eine Art Handlungskern des Films. Er schreibt den Protagonisten jene Eigenschaften zu, die die Verletzungen der anderen Ordnungssätze verursachen und so die Handlung des Films vorantreiben. Nach diesem Vorbild lässt sich auch die – in Nachrichten an sich unzulässige – metaphorische Parallelisierung der Erkrankung Becks und des Zustandes seiner Partei erklären, die in zwei der vier Nachrichtenfilme zu beobachten ist. Auch dort werden dem Protagonisten Eigenschaften zugeschrieben, die den Ablauf des Geschehens determinieren. 4.4.4. Vergleich der Handlungen von Einspielfilm und Nachrichtenfilmen Obwohl also Einspielfilm und Nachrichtenfilme den gleichen Sachverhalt behandeln, unterscheiden sich ihre Ereignisstrukturen erheblich voneinander. Das Sujet der Nachrichtenfilme ist das Ende der Chaostage in der SPD. Sie thematisieren beide die Erwartung, dass der SPD-Bundesvorsitzende Beck am nächsten Tag seine Führungsaufgabe wieder übernimmt. So melden sie denn auch beide den ersten Schritt, der bereits an diesem Abend zur Wiederherstellung der innerparteilichen Ordnung erfolgt: die Forderung der Bundes-SPD, die Regierungspläne in Hessen
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aufzugeben. Das Sujet des Einspielfilms ist dagegen der Bruch des hessischen Wahlversprechens, nicht mit den Linken zusammenzuarbeiten. Das wird dort Ypsilanti und Beck gemeinsam zur Last gelegt, während die Nachrichtenfilme recht genau zwischen den Zuständigkeiten der beiden differenzieren. Diese Abweichungen sind als Indikatoren eines tiefer liegenden Unterschieds der beiden kommunikativen Handlungen Erzählen und Berichten zu bewerten. Denn die erheblichen Differenzen der zwei Sujets können nicht allein mit der Aktualitätspflicht der Nachrichten erklärt werden. Auch die Rücknahme des Wahlversprechens ist an diesem Wochenende höchst aktuell und hat zu einer intensiven öffentlichen Diskussion um die Glaubwürdigkeit in der Politik geführt. So wurde in die Sendung Anne Will eigens der Politologe Armin Falk als Sachverständiger eingeladen, da er zu diesem Thema wissenschaftlich arbeitet. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass in den vier ausgewählten Nachrichtenbeiträgen des gesamten Wochenendes das Stichwort „Glaubwürdigkeit“ nur am Rande vorkommt. Es erscheint lediglich in zwei O-Tönen von Beck-Kritikern und dann noch einmal in der abschließenden Einschätzung des Korrespondenten vor Ort am 10. März: „Was von den letzten Wochen bleibt, ist aber eine angeknackste Glaubwürdigkeit“ (heute 10.3. Live-Schalte Frey). Wie die Sujets, so unterscheiden sich auch die semantischen Ordnungen der Filme sehr deutlich voneinander. Die Nachrichtenfilme operieren mit zwei Ordnungssätzen, der Einspielfilm dagegen mit fünf. Die Ordnungssätze der jeweiligen Filme lassen sich dann wiederum entsprechend ihren Geltungsbereichen zu zwei Hierarchien ordnen.24 So beinhaltet in den Nachrichtenfilmen der Geltungsbereich von OS 1 den Geltungsbereich von OS 2, die Bundes-SPD umfasst auch die Landes-SPD in Hessen. Bezogen auf den Einspielfilm entspricht damit der Geltungsbereich von OS 1 dem Geltungsbereich von OS 3. OS 4 gilt generell für alle Politiker und ist damit umfassender als der Geltungsbereich von OS 3. OS 5 und OS 6 sind moralische Normen, die eine universale Gültigkeit beanspruchen. Sie sind damit auch für den Geltungsbereich von OS 7 verbindlich, der ansonsten eigenständig ist. In der grafischen Darstellung werden diese Zuordnungen durch Pfeile und der hierarchische Stellenwert der einzelnen Ordnungssätze durch die Oben-UntenRelation ausgedrückt.
_____________ 24
Zur hierarchischen Strukturierung von Ordnungssätzen vgl. Renner 1983, 65 ff.
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OS 5 ; OS 6
OS 4
OS 1
OS 7
OS 3
OS 2
Nachrichtenbeiträge
Einspielfilm
Abb. 13: Die Hierarchie der Ordnungssätze
Vergleicht man nunmehr diese Strukturen miteinander, so erweist sich die semantische Ordnung der Nachrichtenfilme präziser als die des Einspielfilms, da sie die Organisationsstrukturen der SPD genauer reproduziert. Der Einspielfilm gibt diese extratextuellen Strukturen nur grob vereinfacht wieder. Andererseits operiert der Einspielfilm mit Ordnungssätzen, die das Geschehen nach anthropologischen Aspekten organisieren. OS 4 definiert die Motive der handelnden Figuren, OS 7 ihre persönlichen Fähigkeiten. Die Ordnungssätze OS 5 und OS 6 bewerten schließlich noch die Handlungen der Figuren nach moralischen Kategorien. Solche Ordnungssätze lassen sich in den Nachrichtenfilmen nicht nachweisen. In diesen unterschiedlichen Strukturen sind zwei unterschiedliche Modi der Auseinandersetzung mit sozialer Realität zu erkennen. Die Nachrichtenfilme operieren ausschließlich mit extern zu beobachtenden Ordnungsstrukturen, der Einspielfilm benutzt dagegen auch Ordnungssätze, die die Innenwelt der handelnden Figuren organisieren. 4.4.5. Erzählen und Berichten: Diskussion der Untersuchungsergebnisse Es bedarf keiner näheren Begründung, dass man die zweite Forschungsfrage nach den semantisch-thematischen Unterschieden von Berichten und Erzählen anhand dieses minimalen Beispielensembles nur sehr bedingt beantworten kann. Wie bei jeder explorativen Studie lassen sich aber anhand der untersuchten Paradigmen Strukturen und Zusammenhänge aufzeigen, die die Richtung weiterer Untersuchungen vorgeben können.
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Erzählung und Bericht Ein semantisch-thematisches Kennzeichen, das die Textlinguistik für eine Unterscheidung von Erzählung und Bericht anbietet, ist die deskriptive Themenentfaltung des Berichts, „ein Thema [wird] in seinen Komponenten (Teilthemen) dargestellt und in Raum und Zeit eingeordnet“ (Brinker 1997, 63). Da nun die Grenzüberschreitungstheorie Ereignisse als Verletzungen von Klassifikationen versteht, liegt es nahe, unter einem Bericht einen Medienbeitrag zu verstehen, der Sachverhalte in eine klassifikatorische Ordnung einordnet, und unter einer Erzählung einen Medienbeitrag, der Verletzungen dieser klassifikatorischen Ordnung thematisiert. In der Terminologie Lotmans ausgedrückt, wären also Berichte den sujetlosen Texten und Erzählungen den sujethaften zuzurechnen. Diese Auffassung ist jedoch nicht mit dem Faktum zu vereinbaren, dass die untersuchten Nachrichtenfilme genauso ereignishafte Vorgänge wiedergeben wie der untersuchte Einspielfilm. Wenn, dann lässt sich nur eine mit dem Bericht eng verwandte Form, die Beschreibung,25 als sujetlose Textgattung identifizieren. Berichte selbst lassen sich jedoch anhand ihrer thematischen Entfaltung nicht von einer Erzählung differenzieren. Einen erzähltheoretischen Ansatzpunkt zur Interpretation der hier festgestellten semantischen Unterschiede von Erzählung und Bericht bietet Marie-Laure Ryans informelle Charakteristik narrativer Medienbeiträge. Als erste Bedingung narrativer Texte hält sie fest, dass diese eine mit Figuren und Objekten bevölkerte Welt abbilden müssen. Dann müssen sich in dieser Welt Zustandsänderungen ereignen, die von physikalischen Ereignissen oder von menschlichen Akteuren ausgelöst sein können. Diese beiden Kriterien werden von den untersuchten Nachrichtenfilmen ebenso erfüllt wie vom Einspielfilm. Das dritte Charakteristikum trifft jedoch nur auf den Einspielfilm zu, und kommt daher als erzähltheoretisches Differenzmerkmal von Bericht und Erzählung in Betracht: The text must allow the reconstruction of an interpretative network of goals, plans, causal relations, and psychological motivations around the narrated events (Ryan 2004, 9).
Wie der Vergleich der Ordnungssätze von Nachrichtenfilmen und Einspielfilm zeigt, lassen sich nur im Einspielfilm Ordnungssätze ausmachen, die ein derartiges komplexes interpretatives Netzwerk von Zielen, Plänen und Kausalbeziehungen entwickeln. Insbesondere ist festzuhalten, dass nur dort Ordnungssätze nachweisbar sind, die Ziele und Pläne der Protagonisten definieren. Die also auf die Innenwelt der Protagonisten rekurrie_____________ 25
Nach Klaus Brinker beziehen sich Berichte auf einmalige Vorgänge, Beschreibungen dagegen auf wiederholbare Vorgänge, etwa Arbeitsabläufe wie die Reparatur eines Fahrradreifens, oder auf Dinge und Lebewesen, etwa die Beschreibung eines Tiers in einem Lexikon (Brinker 1997, 63 f.).
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ren und die deren Handeln moralisch bewerten. Lässt sich dieser Befund in weiteren Untersuchungen erhärten, dann bieten sich hierfür zwei, vermutlich miteinander zu kombinierende Erklärungsmöglichkeiten an. Die erste knüpft an den unterschiedlichen Status von Ordnungssätzen und Situationsbeschreibungen an. Demnach würden die Erzählungen – zwar auf einer anderen Ebene als Ordnungssätze, aber mit diesen vergleichbar – theoretische Erklärungsmodelle für erklärungsbedürftige Ordnungsverletzungen anbieten, während die Berichte, die mit den Situationsbeschreibungen zu vergleichen wären, primär dazu dienen, diese erklärungsbedürftigen Vorkommnisse zu registrieren. Für diese Erklärungsmöglichkeit spricht, dass Berichte faktischer Natur sind, während Erzählungen faktischer wie fiktionaler Natur sein können. Auch kann diese Überlegung begründen, warum es im Einspielfilm möglich ist, die Geschichte der SPD-Führungskrise anhand der Metapher eines Rennautos wiederzugeben, das außer Kontrolle gerät, während die Krankheitsmetapher in den Nachrichtenfilmen nicht für diesen Zweck verwendet werden kann. Offensichtlich wird einer Erzählung wegen ihres theoretischen Status eher zugestanden, für das zu erzählende Geschehen ein Erklärungsmodell zu verwenden, dessen metaphorischer Charakter nicht zu übersehen ist. Die zweite Erklärungsmöglichkeit geht von der Beobachtung aus, dass sich die meisten Ordnungssätze des Einspielfilms auf die Innenwelt der Protagonisten beziehen, während die der Nachrichtenfilme nur äußerlich beobachtbare Sachverhalte erfassen. Dies stimmt mit der in der Erzählforschung üblichen Annahme überein, „dass ‚richtige‘ Erzählungen menschliche Protagonisten oder anthropomorphe Figuren haben“ und dass für fiktionale Erzählungen „die Darstellung der Innenwelt von fiktiven Figuren“ charakteristisch ist (Fludernik 2008, 15). Erzählungen würden sich demnach von Berichten auch dadurch unterscheiden, dass sie zur Darstellung des Geschehens mit anthropozentrischen Kategorien des Verstehens operieren, während Berichte dieses Geschehen aus einer behavioristischen Perspektive wiedergeben. Fasst man beide Überlegungen zusammen, so können Erzählungen und Berichte gleichermaßen als sujethafte Textgattungen angesehen werden, die sich nicht nur in ihrer Oberflächengestaltung, sondern auch durch eine unterschiedliche Ausgestaltung ihrer semantischen Ordnungen voneinander abgrenzen. Als sujetlose Textgattung bleiben dann die Beschreibungen, was nicht ausschließt, dass auch Erzählungen beschreibende Passagen enthalten, in denen jene Ordnungen etabliert werden, deren Verletzung das zu erzählende Sujet definiert.
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Beschreibung
SUJETLOSE TEXTGATTUNGEN
Bericht
Erzählung
SUJETHAFTE TEXTGATTUNGEN
Abb. 14: Klassifikation von Beschreibung, Bericht und Erzählung
Diese Klassifikation dieser Beitragsgattungen entspricht prima facie dem Vorschlag von Monika Fludernik (2008, 14), die Erzählung als „eine Teilmenge der Gattungen mit Geschichte“ zu definieren. Allerdings werden hier keine Elemente der Oberflächengestaltung zur Definition der Erzählung herangezogen. Diese Klassifikation stützt sich ausschließlich auf semantisch-thematische Kriterien und klammert alle weiteren Kriterien aus, die noch zur Definition von Textgattungen und Formaten verwendet werden können (Renner 2007, 331 ff). Erzählen im Journalismus Das vorgeschlagene erzähltheoretische Differenzkriterium bietet eine Erklärung dafür, warum der Journalismus so strikt zwischen Berichten und Erzählen trennt. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass das Erzählen mit psychologischen Kategorien und moralischen Bewertungen operiert und damit die klare Unterscheidung von Information und Meinung verwischt. Diese Differenzierung ist jedoch eine wichtige Norm moderner journalistischer Berichterstattung. Sie stammt aus dem angloamerikanischen Journalismus und hat sich nach 1945 auch in Deutschland durchgesetzt (Lorenz 2002, 51). Eine theoretische Begründung dieser Norm bietet das Konzept der Mehrsystemfähigkeit des Journalismus (Kohring 2006). Demnach besteht die gesellschaftliche Aufgabe des Journalismus darin, alle Teilsysteme einer Gesellschaft mit den Informationen zu versorgen, die diese zur Wahr-
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nehmung ihrer Interessen benötigen. Damit aber der Journalismus alle Teilsysteme bzw. alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen erreicht, dürfen seine Informationen nicht einseitig nach dem Wertesystem einer einzelnen Gruppe bewertet werden. Diese Norm verwehrt es Journalisten nicht, Informationen zu bewerten. Das kann aber nicht in den informierenden Beiträgen geschehen, sondern ist den meinungsbildenden Medienbeiträgen vorbehalten, die sich bereits in ihrer äußeren Aufmachung deutlich von den informierenden unterscheiden. Wegen dieser Trennung ist die undifferenzierte Verwendung erzählender Darstellungsformen als Mittel journalistischen Informierens problematisch.26 Denn das Erzählen bindet die Wiedergabe des Geschehens an eine spezifische Sicht der Dinge und bewertet damit – zumindest implizit27 – das Handeln der Akteure. Das führt von selbst zu einer einseitigen Sicht der Dinge und diskriminiert zugleich die abweichenden Meinungen. Die öffentliche Diskussion, die um die hessische Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger ausbricht, macht diese Problematik deutlich. Jörg Schönenborn stellt hierzu in seiner Moderation des ARD Presseclubs fest, dass Metzger von den einen hoch gelobt und von den anderen regelrecht gemobbt werde. Er fasst dann diese Polarisierung in der Frage „Heldin oder Verräterin?“ zusammen, wozu seine Gäste Position beziehen sollen (ARD-Presseclub: 9:10). Solche Bewertungen sind für meinungsbildende journalistische Formate charakteristisch, in informierenden Formaten sind sie tabu. So wird denn auch Metzger in der Nachrichtensendung betont neutral als „Widerständlerin aus den eigenen Reihen“ apostrophiert (heute 9.3. E10). Mit dieser Pflicht zu einer neutralen Darstellungsweise lässt sich auch begründen, warum sich die Sujets der Berichte aus den Nachrichtensendungen dermaßen vom Sujet des Einspielfilms unterscheiden. Die Nachrichtenfilme können nur mit semantischen Ordnungen operieren, die von allen gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden. Der Einspielfilm ist dagegen Bestandteil eines meinungsbildenden Formats. Er kann daher eine semantische Ordnung entwickeln, die nicht von allen geteilt wird, sondern sich an der Sicht einer Gruppe orientiert. So gilt in der semantischen Ordnung dieses Films die strikte Einhaltung eines Versprechens als oberste Norm. Weil die „Widerständlerin“ _____________ 26
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So weist etwa Köhler in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem „Narrativismus“ der Fernsehnachrichten darauf hin, dass sich bei einer einseitigen Festlegung auf narrative Darstellungsarten „Ideologien verselbständigen“ und sich die vermittelten Informationen gegen weitere Anschlusskommunikationen „abschotten“ (Köhler 2009, 32). Exemplarisch für implizite Bewertungen ist die Textstrategie der narrativen Sanktion. Verstöße gegen Wertordnungen werden dadurch negativ bewertet, dass sie auf der Handlungsebene negative Folgen nach sich ziehen (Krah 2006, 333).
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Metzger auf der Einhaltung dieser Norm besteht, wird sie aus dieser Sicht der Dinge zur „Heldin“, was in der Bild- und Musikgestaltung der entsprechenden Einstellung klar zum Ausdruck kommt (E26). Es gibt aber, wie das in der Moderation Schönenborns deutlich wird, durchaus gesellschaftliche Gruppen, die in Metzger eine „Verräterin“ sehen. Betrachtet man nämlich den Zusammenhalt einer sozialen Gruppe als zentrale Norm – noch dazu, wenn es um das gemeinschaftliche Ziel geht, den regierenden Ministerpräsidenten abzulösen –, dann wird die Stimmverweigerung Metzgers von selbst zur Geschichte eines Verrats. Die Nachrichtenfilme umgehen diese Problematik, indem sie zur Strukturierung des Geschehens ausschließlich auf das formale Konzept der zentralen Figur zurückgreifen und jede Aussage zu den Motiven und den Wertvorstellungen ihrer Protagonisten vermeiden. Vergleicht man diese inhaltlichen Restriktionen mit den Regeln zur Oberflächengestaltung eines Berichts, die einen sachlichen Stil und eine Tilgung der Sprecherposition verlangen (Renner 2007, 339), dann ist zu erkennen, dass die Gestaltung der Inhalte wie die der Oberfläche gleichermaßen auf die spezifische kommunikative Funktion der Textgattung Bericht zurückzuführen sind, den Rezipienten eines Berichtes sachlich und neutral ein bestimmtes Wissen zu vermitteln. Dies ist wiederum für die Mehrsystemfähigkeit des Journalismus von zentraler Bedeutung. Erzählen und Bewerten In Erzählungen wird die bewertende Herangehensweise dagegen oft noch zugespitzt. Die Geschichte endet dann mit einer „Moral“. Wie elementar diese Bewertungsfunktion für das Erzählen ist, lässt sich daran ablesen, dass Teun van Dijk in seiner Textgrammatik Plot und Evaluation als die beiden konstitutiven Elemente einer Geschichte betrachtet, wobei „die Evaluation nicht zum Plot selbst zählt, sondern eine Reaktion des Erzählers auf den Plot ist“ (van Dijk 1980, 142; Hervorhebungen beseitigt). Ebenso misst Uta Quasthoff in ihren gesprächslinguistischen Untersuchungen des interaktiven Erzählens der Evaluation eine konstitutive Bedeutung zu (Quasthoff 2000, 1297). Im Rahmen der Grenzüberschreitungstheorie kann die Evaluation als eine abschließende Bestätigung der wiederhergestellten bzw. neu konstituierten semantischen Ordnung durch die Erzählinstanz verstanden werden, aus der dann wiederum Empfehlungen für das praktische Handeln der Rezipienten folgen. Derartige Evaluationen sind in allen hier untersuchten Filmbeiträgen festzustellen. In den Nachrichtenfilmen werden diese Evaluationen allerdings so modifiziert, dass sie nicht gegen die journalistische Regel der Trennung von Information und Meinungsbildung verstoßen. Das klassische Mittel
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zur Evaluation des berichteten Geschehens ist hier der Aufsager des Reporters vor Ort. Der Journalist befindet sich in der Nähe des Geschehens, was Aktualität und Authentizität signalisiert, und spricht dort seine Stellungnahme direkt in die Kamera. Diese visuelle Präsentation erinnert nicht von ungefähr an einen Kommentar. Dennoch werden im Fernsehjournalismus beide Evaluationsformen strikt voneinander unterschieden. Ein Kommentar gibt „die subjektive Meinung des Journalisten zu einem bestimmten Thema wieder“ (Ordolff 2005, 203), bei einem Aufsager ist der Journalist dagegen zur ‚Objektivität‘ verpflichtet: Der Korrespondent gibt eine eigene Einschätzung zu einer Lage oder Situation ab und analysiert die Fakten. Es geht jedoch nicht darum persönliche Bewertungen abzugeben, sondern das beobachtete Geschehen einzuordnen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen (Ordolff 2005, 193).
Inzwischen werden durch den technischen Fortschritt die Aufsager immer öfter zu Live-Schaltungen und Live-Gesprächen ausgestaltet, so auch in den untersuchten Sendungen (vgl. die Strukturgerüste in Abb. 6 und 7). Doch an den inhaltlichen Restriktionen ändert sich dadurch nichts. Ein weiteres Verfahren, das in den Fernsehnachrichten zur Evaluation des berichteten Geschehens verwendet wird, ist die Aneinanderreihung von Statements profilierter Vertreter unterschiedlicher politischer Positionen, die alle das Thema der Berichterstattung aus ihrer subjektiven Sicht bewerten. Damit erhalten die Zuschauer einen informativen Überblick über das Spektrum relevanter Bewertungen und können sich so ein objektives Bild der unterschiedlichen Evaluationsmöglichkeiten machen. Als solche Evaluationscluster sind die B-Stücke in den Nachrichtensendungen am 10. März 2008 anzusehen, in denen die Vertreter der anderen Parteien im Bundestag zu Becks Pressekonferenz Stellung nehmen (vgl. Abb. 7) Beide Modifikationen verändern also die Evaluation so, dass sie für möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen akzeptabel wird. Hier scheint also wieder jene Differenz von Berichten und Erzählen auf, die schon bei den Unterschieden der Ordnungssätze zu beobachten war. Der Einspielfilm verbindet seine Evaluation dagegen mit einem abschließenden Appell. Er endet mit dem Vers „Nun fragt sich jeder: Wer kommt jetzt unter die Räder?“ und zeigt dazu als letztes Bild eine PorträtCollage von Ypsilanti, Beck und Metzger mit drei dicken Fragezeichen (E28 – 29). Dieser Film belässt es also nicht bei einer Bewertung der Vorgänge, sondern ruft nach Konsequenzen, die dieser Bewertung Rechnung tragen. Anne Will greift das in ihrer Moderation sofort auf und steigt mit folgender Frage in die anschließende Runde ein: „Frau Kraft, wer hat den Absturz der SPD zu verantworten?“ (Anne Will: 28:12). Dann verlangt sie der Reihe nach auch von den anderen Gästen Stellung zu beziehen, was
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für sie aus der im Film gezeigten Ordnungsverletzung folgt. Die Diskussion, die sich dabei entspannt, macht dann mehr oder minder explizit die Normen, Regeln und Maximen deutlich, auf die sich die Studiogäste bei ihren Einschätzungen und Forderungen stützen. Diese Aussagen lassen sich im Rahmen der Grenzüberschreitungstheorie als Ordnungssätze rekonstruieren, mit denen die Diskussionsteilnehmer die Vorgänge um Beck und Ypsilanti interpretieren und die sie dementsprechend als ordnungsverletzend oder ordnungskonform einstufen. Auf diese Weise wird zwischen den Studiogästen ausgehandelt, welche Ordnungssätze sie als verbindlich betrachten und inwieweit die einzelnen Ordnungssätze ihrer Meinung nach auch im konkreten Fall anwendbar sind. Exemplarisch sind die Ausführungen von Klaus Ernst, des Vertreters der Linken, zum Thema Glaubwürdigkeit in der Politik: Ich würd gern noch, wenn ich darf, einen Satz noch zu dieser Glaubwürdigkeit sagen. [Zustimmende Äußerung von Will.] Das Problem ist, dass im Moment alle über den Beck und über die Frau Ypsilanti herfallen; und alle – auch Sie [= die anwesenden Parteivertreter, knr] – im Prinzip den Dreck selber am Stecken haben. Ich sag mal: Mehrwertsteuer. Was haben Sie da vor der Wahl gesagt, was haben Sie nach der Wahl gemacht? Rente mit 67. […] Das ist doch unser Problem. Net die Frau Ypsilanti. […], die im Übrigen meines Erachtens vollkommen richtigerweise versucht, ihr Wahlprogramm durchzusetzen (Anne Will 41:20).
Stellt man auf diese Weise die verschiedenen Nachrichten- und Diskussionssendungen zur SPD-Führungskrise nebeneinander, so wird erkennbar, wie der Journalismus den ursprünglichen Zusammenhang von Erzählen und Bewerten in zwei eigenständige Handlungsschritte auflöst: In eine strukturierte Aufzählung der Fakten und in die Einordnung dieser Fakten in den Kosmos divergierender Wertesysteme moderner Gesellschaften. Das eine leisten seine informierenden und das andere seine meinungsbildenden Beiträge. Während der Zeitungsjournalismus hier in beiden Fällen auf gedruckte Medienbeiträge zurückgreifen muss, kann sich der Fernsehjournalismus hierzu geschickt die unterschiedlichen kommunikativen Möglichkeiten der verschiedenen Submedien des Fernsehens zu Nutze machen. Er verwendet das Submedium Film zu einem rudimentären Erzählen des Geschehens und er benutzt das Submedium Sprechfernsehen zu einer Bewertung dieses Geschehens. Das geschieht insbesondere in den Gesprächssendungen und Diskussionsrunden, in denen öffentlich ausgehandelt wird, nach welchen Kategorien die berichteten Ereignisse zu bewerten sind und welche weiteren gesellschaftlichen Konsequenzen sich aus diesen Bewertungen ergeben.
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5. Rudimentäres Erzählen Der Begriff „rudimentäres Erzählen“ sollte zunächst nur stilistische Aspekte erfassen und die eingeschränkte Verwendung von erzählerischen Gestaltungsmitteln bezeichnen, die man eher in Spielfilmen als in Nachrichtenfilmen vermutet. Die Einstellungssequenzen, die in den Nachrichten vom 9. März 2008 den leeren Saal der Bundespressekonferenz zeigen und damit eine zentrale Figur definieren, sind ein solches Beispiel. Dann wurde aber deutlich, dass sich dieser Begriff ebenso gut eignet, die Differenzen zu bezeichnen, die zwischen den semantischen Ordnungen eines berichtenden und eines erzählenden Films bestehen. Diese Differenzen stehen in einem engen Zusammenhang mit der spezifischen sozialen Funktion der Kommunikationsgattung Journalismus. Das schließt nicht aus, dass es auch sonst berichtende Filme gibt. Es scheint aber, dass der Journalismus in einem besonderen Maße auf diese Beitragsgattung zurückgreift. Zugleich ist zu erkennen, wie die rudimentären Erzählungen dieser Berichte mit den Inhalten von Diskussionssendungen interagieren. Die Nachrichtenfilme strukturieren das Geschehen und in den Diskussionssendungen werden die moralischen Regeln und Prinzipien zur Bewertung dieses Geschehens ausgehandelt. Teilt man die Auffassung der Erzähltheorie, dass das Erzählen „eine grundlegende Erkenntnisstruktur [anbietet,] die uns hilft, die unübersichtliche Vielfalt der Ereignisse zu ordnen und Erklärungsmuster dafür zu liefern“ (Fludernik 2008, 10), so muss man konstatieren, dass der moderne Informationsjournalismus dieses Erkenntnisverfahren so auflöst, dass es dem Wertepluralismus moderner Gesellschaften Rechnung trägt und mit der Mehrsystemfähigkeit dieser Kommunikationsgattung kompatibel ist. Abgesehen davon, dass die Ausgangsdaten, auf denen diese Überlegungen basieren, aufgrund dieser weitreichenden theoretischen Konsequenzen umso dringender einer Erhärtung bedürfen, erwachsen daraus nicht nur Fragen nach der historischen Entwicklung des Journalismus aus dem Erzählen nicht-fiktionaler Ereignisse, sondern auch nach der Zukunft dieses zweistufigen Erzählverfahrens. Denn wenn dieses zweistufige Verfahren im Zusammenhang im Fernsehjournalismus besonders augenfällig ist, dann deswegen, weil das Medium Fernsehen mit seinen beiden Submedien Film und Sprechfernsehen zwei mediale Dispositive für die Ausführung der kommunikativen Handlung Erzählen zur Verfügung stellt, von denen das eine in einem besonderen Maße zum Erzählen und das andere in einem besonderen Maße zur öffentlichen Diskussion geeignet ist. Sieht man, wie sich durch die Konvergenz der digitalen Medien im Web 2.0 eine Vielzahl neuer medialer
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Dispositive herausgebildet hat, dann ist anzunehmen, dass es hier zu weiteren Transformationen des nicht-fiktionalen Erzählens kommen wird. Zugleich ist aber auch die Frage zu beantworten, ob und wie diese rudimentären Erzählungen nicht-fiktionaler Ereignisse zu kompletten Erzählungen ausgestaltet werden. Ein Weg dazu führt in die Fiktionalität. Gerade das Fernsehen bietet immer wieder gelungene und weniger gut gelungene Beispiele fiktionaler Aufbereitungen nicht-fiktionaler Ereignisse.28 Ein anderer Weg ist die Fortschreibung der erzählten Handlungen in den konkreten Handlungen der extramedialen Realität. Journalistische Berichterstattung ist ja mit dem unmittelbaren Geschehen immer rückgekoppelt und beeinflusst damit die aktuellen Entwicklungen des Geschehens. Daher werden Handlungen vom Journalismus nicht nur erzählt, sondern immer wieder auch real ausgeführt. Das wird insbesondere bei der Skandalisierung von Ereignissen deutlich (Kolanowski 2010), mit der die Beendigung von Ordnungsverletzungen, aber auch öffentliche Diskussionen sozialer Normen und Änderungen gesellschaftlich akzeptierter Ordnungen erzwungen werden. Für beide Wege finden sich bereits in den untersuchten Filmen bemerkenswerte rudimentäre Beispiele. So weisen Becks Statements im Einspielfilm in die Richtung Fiktionalität, da sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst sind und ihrer „inneren Wahrheit“ wegen dazu benutzt werden, seine Zustimmung zu den Plänen Ypsilantis zu belegen. Der O-Ton, mit dem der SPD-Generalsekretär am Abend des 9. März 2008 den endgültigen Kandidaturverzicht Ypsilantis erzwingt und so dem Konsistenzprinzip der Grenzüberschreitungstheorie eine extratextuelle Wirksamkeit verleiht, demonstriert wiederum, wie die rudimentären Erzählungen des Journalismus mit dem realen Handeln seiner Berichterstattungsobjekte interagiert. Literatur Berger, P. L. & Luckmann, T. ([1966] 2003). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. Bleicher, J. K. & Pörksen, B. (Hrsg.) (2004). Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden. Bleicher, J. K. (2004). „Sex, Drugs & Bücher schreiben“. New Journalism im Spannungsfeld von medialem und literarischem Erzählen. In J. K. Bleicher & B. Pörksen (Hrsg.) (2004), 126-159. _____________ 28
Aktuelle Beispiele sind die Fernsehfilme Der Tanz mit dem Teufel – die Entführung des Richard Oetker (Sat1 2001), Im Schatten der Macht (ARD 2003), Die Sturmflut (RTL 2006), Der Mann aus der Pfalz (ZDF 2009), Eichmanns Ende – Liebe, Verrat, Tod (ARD 2010).
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BRITTA NEITZEL (Siegen)
Erzählen und Spielen Zur Bedeutung des Erzählbegriffs in den Game Studies 1. Game Studies und die Narratologie vs. Ludologie-Debatte Der Umfang der Untersuchungen zur Bedeutung der Video- und Computerspiele unter kultur- oder medientheoretischen Gesichtspunkten hat in den letzten Jahren rapide zugenommen. Waren bis zum Jahr 2000 nur wenige akademische Publikationen zum Computerspiel zu finden, wie z. B. Laurel (1991), Murray (1997) Aarseth (1997), so haben sich die Game Studies inzwischen zu einem lebendigen und rapide an Kontur gewinnenden akademischen Feld entwickelt.1 Von einer eigenständigen Disziplin lässt sich jedoch (noch) nicht sprechen. Dies mag vielfältige Gründe haben. Einer ist sicherlich, dass es populärkulturelle Phänomene, die zumindest in Deutschland immer im Verdacht stehen, trivial zu sein, schon fast traditionsgemäß schwer haben, als akademisches Untersuchungsobjekt ernst genommen zu werden. Öffentliche Diskurse um die Bedeutung des Neuen Mediums bestimmen die akademischen mit, und da neue Medien scheinbar immer angstbesetzt sind,2 diskutiert man sie unter dem Gesichtspunkt der Verdummung oder eingebunden in Debatten um negative Effekte. So prägte in Deutschland die so genannte „Killerspieldebatte“ den öffentlichen Diskurs um Computerspiele in den letzten Jahren. Die britische Tradition der Cultural Studies, die sich dezidiert auch der Untersuchung populärer Medien widmet, sowie eine scheinbar größere Unvoreingenommenheit in den Skandinavischen Ländern, sorgten international jedoch schon früher als in Deutschland für interessante Ansätze im Bereich der Game Studies. _____________ 1
2
So wurde 2001 die Digital Games Research Association (DiGRA) gegründet, die inzwischen vier internationale Konferenzen ausgerichtet hat. Diplom-, Magister- und auch Doktorarbeiten werden zum Thema geschrieben, Forschungsprojekte werden gefördert und selbst universitäre Veranstaltungen behandeln das Thema Computerspiel. Vgl. die Debatte um das Kino in der Kinoreformbewegung Schweinitz (1992), Degenhart (2001) oder auch Neil Postmans Warnungen vor dem Fernsehen (Postman 1985).
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Ein weiterer Grund für eine fehlende eigene Disziplin mag darin liegen, dass der Computer als technisches Medium fast alle Bereiche des Lebens tangiert sowie bestehende Medien integriert und verändert.3 Dies bietet verschiedensten Disziplinen einen Ansatzpunkt zur Untersuchung des Computers und auch der Computerspiele. Computer Game Studies sind ein inter- oder transdisziplinäres Feld und könnten gleichermaßen eine integrative Disziplin werden oder in andere Disziplinen integriert werden. Vor allem aber kann die Computerspielforschung noch nicht auf eine lange Tradition zurückblicken, denn auch Computerspiele sind – je nachdem, wo der Anfangspunkt gesetzt wird – erst 40-60 Jahre alt. Und Disziplinenbildung braucht, insofern sie überhaupt stattfindet, Zeit. Jede Forschung, die sich einem noch wenig theoretisch erfassten Gegenstand zuwendet, bahnt sich zunächst über bestehende Methodologien oder (vermeintliche) Ähnlichkeiten zu anderen Medien4 einen Weg zu ihrem Untersuchungsgegenstand, bevor sie sich äußert. Ein prominenter Aspekt der sich entwickelnden Games Studies war die Frage nach der Narrativität von Computerspielen, die sogar die erste Debatte innerhalb der Game Studies heraufbeschwor und damit auch einen Anfangspunkt für die Konturierung des Forschungsfeldes setzte. Dass es die Erzählung war, über die diese Annäherung an die neue mediale Form stattfand, ist wenig überraschend, wenn man einen Blick auf die Bedeutung von Erzählungen für unsere Kultur wirft. Erzählungen sind ein großer und einflussreicher Teil unserer Kultur und selbst die systematische Untersuchung von Erzählungen ist erheblich älter als Computer oder Computerspiele. Vladimir Propps Morphologie des russischen Volksmärchens (orig. 1928) kann als die erste Arbeit angesehen werden, die sich einer narrativen Gattung – dem russischen Volksmärchen – auf systematische Weise genähert hat. Literaturstudien sind sogar noch älter und können bis zur Aristotelischen Poetik zurückverfolgt werden. So verwundert es auch nicht, dass die ersten Versuche, Computerspiele zu analysieren, ihre Wurzeln in der Literaturwissenschaft haben, einer Disziplin, die sich traditionsgemäß mit Erzählungen befasst. HypertextStudien der 80er und 90er Jahre stellten Fragen nach den Möglichkeiten des interaktiven Erzählens als einer neuen Form der Erzählung in den digitalen Medien (vgl. z. B. Bolter 1991, Landow 1992 & 1994, Helbig 1998, in dieser Tradition auch Winko 2005). Im Mittelpunkt des Interesses steht hier der digitale Hypertext, der im Gegensatz zur gedruckten Erzählung keine festgelegte Reihenfolge der Ereignisse vorgibt, sondern aus einzelnen Bausteinen besteht, die vom Leser mit Hilfe von Links zusam_____________ 3 4
Vgl. dazu Manovich (2001), Bolter & Grusin (2000), Engell & Neitzel (2004). Ggf. ist hier der Ursprung der Intermedialitätsforschung zu sehen.
Erzählen und Spielen
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mengesetzt werden. Diese Untersuchungen haben auch textbasierte Computerspiele, die Text-Adventures, einbezogen. In diesen Ansätzen werden Computerspiele als textuelles Phänomen5 betrachtet, das mit anderen Texten, die auf der Computertechnologie basieren, verbunden ist: Der Text und die Veränderungen, die er durchmacht, stehen im Vordergrund (vgl. auch Ryan 1999). Eine der aufschlussreichsten Arbeiten aus dieser Tradition ist Aarseths Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature (1997), in dem er deutlich die Unterschiede zwischen den Textsorten herausstellt und insbesondere betont, dass sich die Rolle des Lesers verändert, indem er bei Cybertexten auch jenseits der Bedeutungsproduktion am Text mitwirkt. Doch auch sein Fokus liegt auf verbalen Medien und mit Ausnahme der Text-Adventures beschäftigt er sich nicht mit Computerspielen. Ein weiterer „früher“ Versuch, Computerspiele in eine Erzähltradition zu stellen, stammt von Janet Murray. In Hamlet on the Holodeck (1997) bezieht sie Computerspiele mit in ihre Untersuchung des Narrativen im Cyberspace ein, wobei sie verschiedene Medientexte wie Hypertexte, MUDs, virtuelle Charaktere, Videospiele und – als futuristische Vision – auch das Holodeck als Ausprägungsformen des Mediums Cyberspace versteht und sie gemeinsam mit Chatterbots und 3D-Filmen untersucht.6 Murray konzentriert sich nicht auf verbale Medien, sie sucht nach „guten“ Erzählungen – unabhängig vom benutzten Symbolsystem. Das ermöglicht es ihr, vor allem Gemeinsamkeiten dieser Medientexte aufzuzeigen und auch auf Gemeinsamkeiten im Umgang mit diesen interaktiven Medientexten einzugehen. Vernachlässigen muss sie dabei jedoch spezifische Differenzen der Darstellungsmuster und Textstrategien, wie sie z. B. zwischen sprachbasierten und bildbasierten Texten auftreten. Auch auf dispositive Unterschiede, die sich schon durch eine oder mehrere an der Situation oder dem Spiel teilnehmende Personen ergeben, kann bei einer solchen globalen Betrachtung des Cyberspace nicht eingegangen werden. Wichtig für die Diskussion um die mögliche Narrativität von Computerspielen wurde aber vor allem Murrays Feststellung, dass Computerspiele noch einiges zu leisten haben, bevor sie in der Lage sind, gute Geschichten zu erzählen. Der Ansatz, Computerspiele in Hinblick auf ihre Fähigkeit, gute Geschichten zu erzählen – in anderen Worten – eine gute Erzählung als einen Maßstab für ein gutes Spiel zu nehmen, hat zu der oben erwähnten ersten Kontroverse in der Geschichte der Computerspielforschung ge_____________ 5 6
In diesem Fall meint der Begriff „Text“ den geschriebenen Text, nicht ein Netz miteinander verbundener Bedeutungen, das auch in visuellen Texten besteht. Chatterbots sind Programme, die einen menschlichen Gesprächspartner im Chat simulieren.
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führt. Das Thema der Narrativität von Computerspielen hatte in den ersten Jahren der Computerspielforschung eine enorme Prominenz,7 wobei die Ansichten von einer generellen Ablehnung bis zur euphorischen Bejahung der neuen Möglichkeiten des Erzählens reichen. Während Murray und andere Computerspiele als die Zukunft von Erzählungen betrachten, ist eine Reihe von vehementer und oftmals polemischer Kritik an Untersuchungen entstanden, die Computerspiele als eine potenzielle Form des Erzählens oder als Medium betrachten, das narrative Elemente enthält. In diesem Zusammenhang wurden alle Versuche, die Beziehung von Computerspielen und Erzählungen zu betrachten, als Angriffe verstanden, als Eroberungsfeldzüge etablierter Disziplinen. Eine sehr eindeutige Ablehnung einer narrativen Untersuchung von Computerspielen stammt von Markku Eskelinen: Outside academic theory people are usually excellent at making distinctions between narrative, drama and games. If I throw a ball at you I don't expect you to drop it and wait until it starts telling stories. On the other hand, if and when games and especially computer games are studied and theorized they are almost without exception colonised from the fields of literary, theatre, drama and film studies. Games are seen as interactive narratives, procedural stories or remediated cinema. On top of everything else, such definitions, despite being successful in terms of influence or funding, are conceptually weak and ill-grounded, as they are usually derived from a very limited knowledge of mere mainstream drama or outdated literary theory, or both. Consequently, the seriously and hilariously obsolete presuppositions of Aristotelian drama, commedia dell'arte, Victorian novels, and Proppian folklore continue to dominate the scene. To put it less nicely, it's an attempt to skip the 20th century altogether and avoid any intellectual contact with it, a consumerist double assassination of both the avant-garde and advanced theory (Eskelinen 2001).
Solche Kritik wird vor allem von der Angst getragen, dass die Methoden der Literaturwissenschaft nicht genügen, die Spezifika von Computerspielen zu erfassen, und dass sie stattdessen die Computerspiele in ihr Untersuchungsfeld inkorporieren, um sie als Derivate der Literatur zu behandeln. Kurz gefasst geht diese kritische Position davon aus, dass Computerspiele Spiele sind, und Spiele, da sie sich grundsätzlich von Erzählungen unterscheiden, nicht nach narratologischen Kriterien untersucht werden könnten: die „Ludology vs. Narratology“-Debatte war geboren. _____________ 7
Vgl. z. B. die erste Ausgabe der Online-Zeitschrift Game Studies (www.gamestudies.org) aus dem Jahre 2001, die sich ausschließlich mit Computerspielen und Erzählungen beschäftigte. Seitdem wird in jeder Anthologie oder Überblicksmonographie zum Computerspiel immer auch Narrativität diskutiert, so z. B. bei Wolf 2001, Wolf & Perron 2003, Newman 2004, Wardrip-Fruin & Harrigan 2004, Salen & Zimmerman 2004, Raessens & Goldstein 2005.
Erzählen und Spielen
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Wissenschaftspolitisch ist die Debatte gut nachzuvollziehen, auch die Theaterwissenschaft und die Filmwissenschaft mussten sich von der Literaturwissenschaft emanzipieren, um Spezifika ihrer Gegenstände, wie z. B. die Performativität der Aufführung oder visuelle Gestaltungsmuster des Films überhaupt thematisieren zu können. Ebenso wenig wie das Theater durch eine Analyse des geschriebenen Stücks hinreichend beschrieben werden kann oder der Bereich der Filmwissenschaft schon mit der Thematisierung von Literaturverfilmungen abgesteckt ist, können Computerspiele lediglich als eine Form von Erzählung oder gar der Literatur betrachtet werden. So wichtig jedoch eine Betonung von Spezifika – insbesondere bei einem neuen Untersuchungsgegenstand und Forschungsgebiet – auch ist, sie läuft Gefahr, intermediale Beziehungen zu übersehen. So haben meines Erachtens beide Positionen, sowohl diejenige, die Computerspiele als Narrationen ansieht, und auch diejenige, die jede Beziehung zwischen Spielen und Erzählungen negiert, einen zu eingeschränkten Fokus. Im ersten Fall besteht die beträchtliche Gefahr, dass Differenzen zwischen Spielen und Erzählungen übersehen werden, denn Computerspiele sind tatsächlich mehr und anderes als „interaktive Erzählungen“; im zweiten Fall besteht die Gefahr, dass Ähnlichkeiten und Interdependenzen zwischen Computerspielen und Erzählungen übersehen werden. Nicht alle Spiele sind gleichartig strukturiert oder operieren gleichartig. Gemeinsam ist beiden Positionen, dass sie auf Exklusivität und „wesentliche“ Prinzipien ausgerichtet sind und damit übersehen, dass die Spezifität des Computers eben gerade in seiner Hybridität liegt. Tatsächlich fand die Debatte – zumindest innerhalb der Game Studies, so räumte einer der ersten Ludologen 2002 selbstironisch ein – niemals statt (vgl. Frasca 2003). In den Game Studies werden der Computer als Spielzeug und auch das Computerspiel in Hinblick auf die Auflösung von Grenzen und die Integration verschiedener Elemente beschrieben. Jenseits von wissenschaftspolitischen Überlegungen kann als akzeptiert gelten, dass die Tatsache, dass Computerspiele Spiele sind, sie keineswegs davon ausschließt, auch gewisse narrative Qualitäten zu haben. Es gibt gemeinsame und grenzüberschreitende Elemente in Computerspielen und Erzählungen und auch eine Übergangszone zwischen narrativen und nicht-narrativen Computerspielen. Die Frage nach der Narrativität von Computerspielen ist inzwischen innerhalb der Game Studies zu einer Forschungsfrage unter vielen anderen geworden. Bei der Begegnung mit etablierten Disziplinen muss jedoch immer noch Vermittlungsarbeit geleistet werden.
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2. Spiel und Erzählung Wie in der Darstellung der Bedeutung des Begriffs der Erzählung für die sich entwickelnden Game Studies schon angeklungen, wird die Erzählung dem Spiel gegenüber gestellt. Gründe für diese Gegenüberstellung sollen im Folgenden dargestellt werden. Spiel und Erzählung können jeweils als Formen im Sinne Heiders (1999) oder Luhmanns (1995) verstanden werden, die sich an ein bestimmtes Medium anlagern. Nach Luhmann (1995, 165-214) stellen Medien eine lose Koppelung von Elementen dar, die durch Formen konsolidiert werden. Jede Form ist für ihre Realisation abhängig von einem Medium, während sie gleichzeitig – als Form – dem Medium eine Struktur verleiht. Da sowohl das Narrative als auch das Spiel immer nur in Medien auftreten, können sie als Formen verstanden werden, die sich mit unterschiedlichen Medien koppeln und sich in einzelnen Medientexten zeigen.8 Computerspiele können also sowohl narrative als auch ludische Formen implementieren und das Narrative wie auch das Ludische können als transmediale Strukturen angesehen werden. Wie nun Spiel und Erzählung miteinander interagieren und zur konkreten medialen Form des Computerspiels führen, ist die Frage, die in allen Untersuchungen zu einer möglichen Narrativität des Computerspiels geklärt werden muss, denn Spiel und Erzählung scheinen unterschiedliche oder sogar unvermittelbare Formen zu sein. Die Erzählung wird mit Linearität und Chronologie assoziert. Eine Geschichte9 hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende (Aristoteles 1982) und ihre Ereignisse laufen nacheinander ab. Bordwell (1985, 49) definiert sie als “action as a chronological, cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field”. Dem Spiel hingegen werden Wiederholungen (Bujtendijk 1933 & 1958) und Rekursivität (Scheuerl 1954) zugeschrieben. Scheuerl (1954) beschreibt es als eine in sich selbst zurückfallende Bewegung, die selbstreflexiv keinen Bezug zu einem Außen (weder sachlich noch temporal) hat. Auch auf der semiotischen Ebene sind Erzählung und Spiel schwer miteinander zu vermitteln: Die Erzählung hat die Form eines Zeichens, denn sie erzählt von etwas anderem: Sie erzählt die Geschichte. Das Spiel hingegen verweist nicht auf etwas anderes, was jedoch grundlegend für die Funktion als Zeichen wäre. Im Spiel wird gehandelt, die Erzählung erzählt von Handlungen, die bereits abgeschlossen sind. So wird das Verhältnis von Spiel und Erzählung auch verschiedentlich als eines der Verfestigung _____________ 8 9
Vergleiche dazu auch Paech (1997). Im Sinne von Genette (1994), s. den übernächsten Abschnitt.
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beschrieben: „Sitten und Gebräuche sterben ab, und auch die Religionen sterben aus, ihre Inhalte verwandeln sich in Märchen“, konstatiert Vladimir Propp in der Morphologie des Märchens (1928, 105). Rolf Oerter beschreibt in seiner Psychologie des Spiels (1993) die Beziehung zwischen Spiel und Kunst als eine der Verfestigung: Handlungen und Rituale, deren Ausführung in der Gesellschaft ihren Sinn verloren habe, würden in Mythen, Sagen, Erzählungen und anderen Kunstwerken festgehalten. Eine Erzählung scheint hier als so etwas wie eine ‚gefrorene Handlung’ konzipiert zu werden, das Spiel aber bleibt in seiner Verwandtschaft zum Ritual eine Handlung. Auf der anderen Seite jedoch wird auch das Erzählen als sprachliches Handeln und sogar als Spiel betrachtet, das nach bestimmten Regeln abläuft. Wittgenstein nennt in den Philosophischen Untersuchungen die Sprache und die „Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel’“ (1984, § 7, 241). Zu den Sprachspielen gehören bei ihm unter anderem das Erfinden einer Geschichte, das Lesen und das Erzählen (vgl. ebd., § 23, 250). Wird die Erzählung bei Propp und bei Oerter als verfestigte Struktur des Spiels betrachtet, so beschreibt Wittgenstein das erzählerische Sprachspiel als Tätigkeit, als Praxis. Zwischen einer Erzählung als Ordnungsstruktur für abgeschlossene Handlungen und einer Erzählung, die als Tätigkeit, Praxis oder Spiel betrachtet wird, scheint die Möglichkeit zur gegenseitigen Rahmung vorzuliegen: Ein Sprachspiel als Kommunikationshandlung kann die Struktur einer Erzählung annehmen, die von einem Spiel erzählt, das aus Handlungen besteht. Spiel und Erzählung liegen dabei nie auf derselben Ebene. Im einen Fall referiert die Erzählung auf spielerische Handlungen als auf den von ihr beschriebenen Gegenstand. Im anderen Fall wird das Erzählen als eine spielerische Handlung, die bestimmten Spielregeln folgt, interpretiert. Das Handeln wird dabei jeweils unter dem Gesichtspunkt des Spiels betrachtet, während die Strukturen der Anordnung dieser Handlungen unter dem Gesichtspunkt der Erzählung betrachtet werden. Dies spricht für die Übernahme der Genetteschen Dreiteilung von Erzählung, die eine Unterscheidung von Handlung und Struktur zulässt. Während das Erzählen (narration) als Handlung betrachtet werden kann, kann die Geschichte (histoire) als eine die Handlung formende Struktur angesehen werden und die Erzählung (récit) schließlich als ein Objekt, das bleibt, nachdem der Prozess des Erzählens abgeschlossen ist. Ist auch auf den ersten Blick der Eindruck vorhanden, dass Computerspiele narrativ sind – es ist ein Leichtes, die Handlungen, die in einem Spiel stattgefunden haben, nachzuerzählen, und auch die visuelle Oberfläche lässt Handlungen erkennen –, so scheint er auf den zweiten Blick zu täuschen, denn Spielen und Erzählen beschreiben unterschiedliche Ge-
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genstands- und Handlungsbereiche. Wo erzählt wird, wird nicht gespielt, und wo gespielt wird, wird nicht erzählt, oder anders gesagt: Eine Erzählung erzählt von Handlungen, im Spiel jedoch werden Handlungen ausgeführt. Wo Erzählungen darauf abzielen, von etwas anderem zu erzählen, sind Spiele selbstbezüglich und zielen eben nicht in erster Linie darauf ab, eine Aussage über die Welt zu treffen. Vielmehr wird ihnen zugesprochen, eine eigene Welt zu schaffen (vgl. Huizinga 1938, Caillois 1960). Erst wenn das Spiel zu Ende ist, kann von ihm erzählt werden. 3. Narrativität und Computerspiel – Annäherungen Untersuchungen zur Narrativität von Computerspielen gehen verschiedene Wege, um das Problem der Vermittlung von Spiel und Erzählung zu lösen. Sie sollen im Folgenden in groben Zügen dargestellt werden. 10 Nicht allen Computerspielen wird gleichermaßen Narrativität zugesprochen. Es gibt Spiele mit abstrakten graphischen Elementen, die wie ein Puzzle zusammengesetzt oder auf besondere Weise angeordnet werden müssen. In anderen Spielen mit abstrakten Figuren kommt es auf die Geschicklichkeit der Spieler an, wenn die Elemente geworfen oder geschossen werden. Verwandt mit diesen Geschicklichkeitsspielen sind die Shooter, bei denen jedoch nicht mehr mit abstrakten Elementen gearbeitet wird. Es gibt verschiedenste Arten von Sportspielen, Wirtschaftssimulationen, Strategiespielen, in denen Armeen dirigiert werden, oder so genannte Rollenspiele. Computerspiele werden auf dem Handy, verschiedenen Handhelds, Konsolen, dem Computer oder in Spielhallen gespielt. Sie werden allein gespielt, zusammen mit Freunden in einem Zimmer oder online mit Unbekannten. 11 So ist es, wenn nach der Narrativität von Computerspielen gefragt wird, gängig, nicht alle Spiele zu untersuchen. Vor allem das Genre der Adventure-Spiele steht im Fokus (z. B. bei Walter 2001 oder Hartmann 2004). Insbesondere zwei Eigenschaften der Adventures qualifizieren sie für eine narrative Analyse: Adventures zeichnen sich dadurch aus, dass der Spieler in ihnen mit einem Avatar, der als Held einer Geschichte angesehen werden kann, Handlungen ausführt und nicht, wie z. B. im Strategie_____________ 10 11
Die hier genannten Autoren mögen mir die Vereinfachung, die dem Versuch, eine Übersicht über die unterschiedlichen Ansätze zu geben, geschuldet ist, verzeihen. Mit dieser kursorischen Aufzählung will ich keineswegs in die Genre-Diskussion eingreifen (zur Genrediskussion vergleiche z. B. Neitzel 2000, 202-229, Wolf 2001,113-134, Apperly 2006, Backe 2008, 39-50), sondern lediglich die Diversität der Computerspiele anreißen. Auch würden Genredifferenzierungen, die Spielern durchaus eine Orientierung geben, wie z. B. die Unterscheidung von Echtzeitstrategiespielen und rundenbasierten Strategiespielen oder First Person Shootern und Survival Horror, den Fokus dieses Beitrags überschreiten.
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spiel Armeen oder in Mannschaftsportspielen eine Mannschaft dirigiert und verwaltet. Hinzu kommt, dass Adventures zum Großteil eine relativ lineare Handlungsabfolge und klare Entscheidungspunkte für die Spielenden vorgeben. D. h. sie sind, wie Pias (2002) es nennt, vor allem entscheidungskritisch. Die Art und Weise, wie oder wie schnell diese Entscheidungen ausgeführt werden, ist irrelevant. Es kommt im Adventure weder auf Reaktionsvermögen noch auf Geschicklichkeit an. Eine weitere Möglichkeit, der Narrativität von Computerspielen näher zu kommen, ist die, Spielphasen von Erzählphasen zu trennen (vgl. z. B. Furtwängler 2001 und Walter 2001). Die so genannten Cutscenes12, die fertig gerendert sind und sich dadurch auszeichnen, dass die Spieler nicht in das Geschehen eingreifen können, wären die narrativen Phasen des Spiels, während die Szenen, in denen die Spieler ins Spiel eingreifen können (und müssen, damit sich die Spielhandlung fortsetzt), die spielerischen oder interaktiven Phasen ausmachten. Spiel und Erzählung seien inkompatibel (Walter 2001, 302). Bezeichnenderweise haben diese Szenen keine eigene Bezeichnung – während der Begriff cutscene gängig ist, ist es das Analogon playscene nicht – die playscene scheint das Normale zu sein, während die cutscene als Besonderheit, die aufgrund der notwendigen Rechenleistung erst relativ spät in der Computerspielgeschichte entstand, eine eigenständige Bezeichnung braucht. Eine Cutscene findet sich am Anfang des Spiels und stellt – zumeist – eine klassische Exposition dar: Ort und Zeit sowie die Handlungsträger und ggf. auch das vom Helden anzustrebende Ziel werden vorgestellt. Weitere Cutscenes, die in die Spielphasen eingestreut werden, stellen häufig Wendepunkte dar, während der Spieler in den Playscenes relativ linear eine Kette von Handlungen ausführt. Am Ende des Spiels steht dann zumeist noch eine Cutscene, die den Schluss des Spiels und das Ende der Erzählung markiert. In der Barthschen Terminologie (Barthes 1988) kann man sagen, dass das hinter diesem Ansatz stehende Modell davon ausgeht, dass sich die Kardinalfunktionen oder Kerne in den Cutscenes finden, während die Katalysen den Raum dazwischen einnehmen. Die für den Ablauf einer Geschichte wichtigen Entscheidungen werden also nicht vom Spieler getroffen, sondern ihm in den Cutscenes vorgegeben (vgl. auch Pias 1999). Als letztes sei noch ein relativ neues Modell (Backe 2008) genannt, in dem der Autor ebenfalls Spiel und Erzählung trennt. Jedoch arbeitet er bei seiner Trennung nicht auf der Ebene der Syntax, sondern verlagert das Narrative des Computerspiels auf die Ebene der Rezeption oder Interpre_____________ 12
Der Begriff cutscene wurde wahrscheinlich gewählt, weil diese Szenen wie Filmszenen montiert oder geschnitten (cut) werden. Interessant ist jedoch noch eine weitere Bedeutung: Cutscenes können in den meisten Spielen vom Spieler übersprungen, d. h. herausgeschnitten werden.
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tation. Er entwickelt ein kleinteiliges Modell mit einer Dreiteilung von Sub-, Mikro- und Makrostrukturen, in die Erzähl- und Spielelemente eingeordnet werden. Abgeleitet werden diese Ebenen von Weltregeln, Spielzielen und Metaregeln. Während auf der Ebene der Substrukturen das spielerische paidia zum Tragen komme (Spieler können die Spielwelt [frei] erkunden), wirke auf der zweiten Ebene der ludus, der Spielziele und Siegbedingungen vorgibt. Auf der dritten Ebene schließlich kämen erzählerische Prinzipien zum Tragen. Diese Ebene spricht er einem Spiel zweiter Ordnung zu, einem Interpretations- oder Rezeptionsspiel. Im Folgenden soll ein weiterer Ansatz vorgestellt werden, den ich 2000 in meiner Dissertation entwickelt habe, denn weder die Trennung von erzählerischen und spielerischen Teilen noch die Annahme eines Spiels zweiter Ordnung wird der Narrativität von Computerspielen gerecht. Die Cutscenes haben durchaus Bedeutung für die Playscenes: Sie knüpfen an das Geschehen in den gespielten Teilen an, geben Informationen über den Fortgang der Handlung, beinhalten die gleichen Figuren und sind natürlich auch im Setting der Spielszenen angesiedelt.13 Ebenso haben die Spielszenen Bedeutung für die Cutscenes. So gibt es einige Spiele (z. B. Blade Runner [Westwood 1997], Silent Hill II [Konami 2001] oder Fahrenheit [Quantic Dream 2005]), in denen – je nachdem, welche Entscheidungen der Spieler im Spiel getroffen hat – eine andere Cutscene gesetzt wird. Selbstverständlich ist es richtig, dass in den Cutszenes nicht gespielt wird – allerdings geben auch hier einige Spiele (z. B. Half Life [Valve 1998] oder Metal Gear Solid-Snake Eater [Konami 2004]) dem Spieler die Möglichkeit, z. B. die (Kamera)Perspektive zu wechseln – andererseits läuft die für die Geschichte notwendige Bedeutungskonstruktion auch in den Playscenes weiter. Die Frage nach der Narration im Videospiel kann nicht auf den Bereich der Cutscenes begrenzt werden. Auch Backes Trennung des Spielerischen vom erzählerischen Spiel zweiter Ordnung, dem Rezeptions- oder Interpretationsspiel, separiert Ebenen, die im Computerspiel ineinandergreifen. Die Konstruktion einer Geschichte findet nicht erst in der Interpretation des Spielers statt, sondern liegt auch möglichen Spielabläufen zugrunde. Mein Vorschlag geht also dahin, das narratologische Modell Genettes aufzugreifen und zu überprüfen, welche der Ebenen, die eine Erzählung ausmachen, im Computerspiel zu finden sind.
_____________ 13
Das räumen natürlich auch Walter und Furtwängler ein.
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4. Ebenen der Erzählung, Ebenen des Computerspiels Gérard Genette (1994) schlägt ein dreigliedriges Konstruktions- und Analyseschema der Erzählung vor. Er trifft die Unterscheidung zwischen „histoire (Geschichte – die Gesamtheit der erzählten Ereignisse), récit (Erzählung – der schriftliche oder mündliche Diskurs, der von ihnen erzählt) und narration (Narration – der reale oder fiktive Akt, der diesen Diskurs hervorbringt, also die Tatsache des Erzählens als solche)“ (1994, 199). Der Erzählung (récit) räumt er eine Mittelposition ein, die für ihn ausschlaggebend und das Zentum seiner Betrachtung ist, da einerseits Geschichte und Narration nur durch die Erzählung zugänglich seien und diese andererseits nur aus der Verknüpfung von Geschichte und Narration bestehe: Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung. Umgekehrt aber ist der narrative Diskurs oder die Erzählung nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt, da sie sonst nicht narrativ wäre (man denke etwa an die Ethik Spinozas), und sofern sie eben von jemandem erzählt wird, denn sonst wäre sie (wie etwa eine Sammlung archäologischer Dokumente) überhaupt kein Diskurs (Genette, 1994, 17).
Betrachtet man Computerspiele, so stößt man hier auf die erste Differenz: Denn man findet in ihnen keinen mündlichen oder schriftliche Diskurs, der von den Ereignissen einer Geschichte erzählt. Auch ein audiovisueller Diskurs, wie er zum Beispiel beim Film vorliegt (dieser kann dann im Moment der Aufführung vorgeführt oder eben auf Film gespeichert werden), ist nicht vorhanden. Ein solcher Diskurs entstünde erst dann, wenn die Spielhandlungen mitgeschnitten würden – oder eben von ihnen erzählt wird. Doch von welchen Handlungen würde in diesem Fall eigentlich erzählt? Würden die Handlungen, die in der Fiktion des Computerspiels ablaufen (z. B. „Mario hat Prinzessin Toadstool gerettet“), nacherzählt oder die Handlungen, die ein Spieler während des Spielens ausführt (z. B. „Ich habe die Kombination Dreieck und Kreuz gedrückt“)? Beide Erzählungen ergäben eine je eigene Geschichte und ein Zuschauer eines Computerspiels könnte versucht sein, die Geschehnisse, die er auf dem Monitor sieht, als die Geschichte des Computerspiels zu betrachten.14 Eine Computerspielhandlung setzt sich jedoch aus beiden Ebenen zusammen, sie hat eine physikalische und eine symbolische Ebene (s. a. Neitzel 2004). Ähnlich wie performative Sprechakte Veränderungen in der außersprachlichen Sphäre hervorbringen, bringen die Handlungen des Spielers an den Interfaces des Geräts Computer (und zusammen mit dem Gerät und sei_____________ 14
Die Interpretation der Bedienung von Tastatur oder Controller als Geschichte wäre weniger wahrscheinlich.
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ner Technik) Veränderungen in der fiktionalen Spielwelt hervor (genauer dazu Neitzel 2007). Wenn also nicht durch einen Diskurs vermittelt, wie und wo kann die Geschichte im Computerspiel aufgespürt werden? Schließlich gibt es sogar den Begriff interactive storytelling.15 Interaktives Geschichtenerzählen bedeutet jedoch nicht – mehr oder weniger kunstvoll – zu sagen (zu schreiben oder zu zeigen), was passiert ist, sondern einen Möglichkeitsraum für das vorzugeben, was später im Spiel passieren kann. Einige Computerspiele – ich möchte sie in Anlehnung an Todorov (1971) Spiele mit mythologischer Struktur16 nennen – geben den Spielern bzw. ihrer Spielfigur ein Ziel vor: „Rette die Prinzessin, die Welt, den Wald, ...!“ Der Weg zu diesem Ziel nun kann von den Spielen unterschiedlich organisiert werden. Die einfachste Wegstruktur wäre eine lineare: Von einer Ausgangssituation führte eine lineare Kette von Ereignissen und Handlungen zum Ziel und zum Ende der Geschichte. Ein so organisiertes Spiel böte dem Spieler sehr geringe Freiheitsgrade, er hätte keine Auswahl. Damit für ein Spiel notwendige Ungewissheiten oder Unwägbarkeiten17 bestehen bleiben, können und werden solche Strukturen der Handlungsabfolge ergänzt z. B. durch stärkere Anforderungen an die Geschicklichkeit und das Reaktionsvermögen der Spieler, die in diesen Fällen die spielerische Herausforderung bilden. So bestehen z. B. Computer-Rollenspiele aus sehr vielen solcher zielgerichteter Handlungsabläufe. In der Spielwelt finden sich NPCs (Non-Player Characters), die dem Spieler-Avatar Aufgaben (Quests) geben, zu deren Erfüllung er eine bestimmte Anzahl von Feinden töten, Gegenstände finden, einen bestimmten Ort aufsuchen oder ähnliche klar definierte Handlungen vornehmen muss. Diese Quests erfordern jeweils ein bestimmtes Maß an Geschicklichkeit. Ist die Aufgabe erfüllt, kehrt der Spieler-Avatar zum Questgeber zurück, holt seine Belohnung und ggf. die nächste Quest ab. Eingebunden sind diese Aufgaben, die im Nachhinein als kleine Geschichten interpretiert werden können („ hat gestohlene Lebensmittel von den Orcs zurückgeholt und damit die Bewohner des Dorfes vor dem Hungertot gerettet“), in den Rollenspielen zumeist in mythische Fantasygeschichten um den Kampf verschiedener Völker gegen das Böse. Diese rahmenden Geschichten werden dem Spie_____________ 15 16 17
Eine Google-Suche ergibt 69.000 Treffer, für „Fokalisierung“ hingegen finden sich nur 11.220 [21.09.2010]. Erzählungen, deren Geschichte auf ein vorbestimmtes Ende zuläuft, nennt Todorov (1971) „mythologisch“. Dazu kommen die Gruppen der gnoseologischen und ideologischen Strukturen, auf die ich unten genauer eingehen werde. Ein Spiel braucht Momente der Ungewissheit, so steht oft das konkrete Ergebnis eines Spiels zu Beginn noch nicht fest. Wenn, wie in Computerspielen mit (relativ) linearer Handlungsabfolge, das anzustrebende Ziel zu Beginn festgelegt wird, besteht die Unsicherheit in der Art und Weise, in der dieses Ziel erreicht werden kann.
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ler in verschiedenen Versatzstücken mitgeteilt: verbal zu Beginn des Spiels oder durch die Quests, durch Monologe von NPCs, durch Bücher, die im Spiel zu finden sind, oder paratextuell über Beihefte oder Packungsbeschreibungen, ggf. über zum Spiel erschienene Romane, aber auch durch die Spieler untereinander, Teile dieser Mythologie sind vielleicht aus vorhergehenden Spielen bekannt. Wie im Mythos ist ein klarer Ursprung kaum noch auszumachen.18 Tatsächlich gibt es aber eine lineare Struktur von Ereignissen in keinem Computerspiel, es liegen hingegen immer mulitlineare Strukturen der möglichen Verkettung vor Handlungen und Ereignissen vor. D. h. zwischen dem Ausgangs- und dem Endpunkt des Geschehens gibt es mehrere parallel verlaufende Wege bzw. Ereignisketten, die alternativ durchlaufen werden können. In einer multilinearen Story kann es z. B. an einigen Punkten Kreuzungen geben oder es gibt Sackgassen, die den Spieler zwingen, auf einen anderen Pfad zurückzukehren. Andere Wege führen in verschiedenen Schleifen auf den Hauptweg zurück. Realisiert werden diese Wege oftmals tatsächlich räumlich. Zu Geschicklichkeit und Reaktionsvermögen kommt für die Spieler in diesen Fällen also noch die Aufgabe hinzu, sich in der fiktionalen Spielwelt zurechtzufinden und den Raum so zu durchqueren, dass die zielführenden Handlungen ausgeführt werden können. Die Möglichkeit der Erkundung der Spielwelt kann jedoch auch zu einem Spielspaß an sich werden. So war das „cruisen“ in der Grand Theft Auto (GTA)-Reihe ab GTA-Vice City (Rockstar Games, 2002) sehr beliebt (Squire 2008).19 In der Welt der Reihe haben die Spieler die Möglichkeit, mit einem (gestohlenen) Auto durch die Stadt zu fahren und dazu Musik zu hören (in jedem Spiel stehen verschiedene Radiosender zur Auswahl). Diese so genannten Sandbox Games20 bilden das Gegenteil eines auf lineare Handlungsführung und ein Ziel ausgelegten Spiels, indem sie die Spieler in einer virtuellen Umgebung einfach etwas tun lassen. Doch zurück zum interaktiven Storytelling: Gemeinsam ist den linearen und den multilinearen Wegen, dass sie zumeist zu einem einzigen Endpunkt führen oder – im Falle der multilinearen Struktur – zu wenigen Endpunkten. Denn eine Struktur mit sich mehrfach verzweigenden Wegen, die zu verschiedenen Endpunkten führen, könnte zu einer unendli_____________ 18
19 20
Rahmende Geschichten, die für die Rollenspiele natürlich eine besondere Bedeutung haben, gab es aber auch schon in der „Frühzeit“ der Computerspiele. So bestand die paratextuelle Information zu dem Spiel „Breakout“ (Atari 1976), in dem der Spieler mit abstrakten Figuren umgeht, darin, dass es sich hierbei um einen Gefängnisausbruch handelt. Dafür spricht auch die hohe Anzahl von Treffern, die man bei Google unter den Stichworten „cruisen“ und GTA findet. Vgl. Squire (2008) oder populär z. B. Saar (2008). Der Begriff „Sandbox Game“ wird quer zu bestehenden Genrebezeichnungen verwendet.
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chen Zahl möglicher Endpunkte führen, die letztlich nicht mehr programmierbar wäre. Um dies zu vermeiden, werden eben Sackgassen und Schleifen eingebaut, die auf die Hauptwege der Handlung zurückführen (vgl. auch Wages u. a. 2004). Dies wäre auch bei Spielen so, bei denen den Spielern kein klares Ziel vorgegeben wird, d. h. bei Spielen mit gnoseologischer Struktur. Als den Prototyp einer gnoseologischen Erzählung bezeichnet Todorov (1971) die Parsifal-Sage, die nicht vorrangig das Auffinden des letztlich unauffindbaren Grals zum Ziel habe, sondern sie die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Grals aufzeigen wolle. Gnoseologische Erzählungen tendieren dazu, rückwärtsgewandt zu sein. Das wird besonders in Todorovs zweitem Beispiel dieser Erzählform deutlich: dem Detektivroman. Geht es doch bei Detektivromanen darum herauszufinden, was geschehen ist. Gnoseologische Geschichten haben, im Gegensatz zu mythologischen Geschichten, ein zu Anfang der Geschichte noch unbestimmtes Ende. Bei Computerspielen findet sich die gnoseologische Struktur vor allem in Adventure-Spielen. Ein frühes Beispiel ist Zork (infocom 1977). Hier wird der Spieler in eine Situation geworfen, in der er nicht weiß, was zu tun ist, wo er sich befindet, wie die Umgebung beschaffen ist, oder was geschehen ist.21 Der Spieler weiß nie, welche Spielereignisse für die Lösung des Spiels relevant sind (vgl. Aarseth 1997, 112). Er bekommt keine konkreten Anhaltspunkte über den Weg und darüber, wie er ihn findet, er kann sich zunächst noch keine Geschichte vorstellen, die er spielen könnte. Bei einem Adventure-Spiel ist es zuerst nur wichtig, eine grundsätzliche Orientierung über die Welt und die Situation zu haben. So unterscheiden sich die mehr oder weniger erfolgreichen Versuche eines Spielers, durch eine Spielwelt zu navigieren, entscheidend von der wohlüberlegten Plotkonstruktion, wie man sie in Erzählungen oder Filmen findet. Der Weg des Spielers durch das Spiel ist eine Suche nach Bedeutung. Im Gegensatz zu den Action Spielen und einigen Action-Adventures mit einer meist mythologischen Struktur wird dem Spieler im Adventure-Spiel keine Geschichte zur Orientierung mit auf den Weg gegeben. Auch Todorovs dritte Kategorie – die der ideologischen Erzählungen – lässt sich einem Genre der Computerspiele zuordnen. Ideologische Erzählungen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Wegstrukturen nicht zu einem oder mehreren Enden führen, sondern durch sich wiederholende Regelstrukturen auszeichnen. Ein Beispiel ist Choderlos Laclos’ Briefroman Gefährliche Liebschaften. In der Welt dieses Romans gelten Regeln wie „A liebt B → B liebt A nicht“, „A liebt B nicht → B verliebt sich in A“ oder „A liebt B → B liebt A nicht → B tut so als ob sie A liebt, betrügt A _____________ 21
Eine genauere Beschreibung des Spiels findet sich in Neitzel 2004.
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aber mit C“, die in Wiederholungen von den verschiedenen Figuren des Romans durchgespielt werden.22 Eine Geschichte dieses Typs führt nicht in erster Linie zu einem bestimmten Ende, sondern sie besteht aus Wiederholungen ähnlicher Beziehungsmuster zwischen den handelnden Personen. Todorov fügt hinzu, dass Geschichten mit ideologischer Struktur die Unterstützung von anderen Strukturen brauchen, um zu einer Erzählung zu werden. Erzählungen dieser dritten Erzählform sind der Struktur vieler Spiele ähnlich, denn auch Spiele haben Regeln, die es ihren Spielern ermöglichen, immer wieder ähnliche Situationen auf rekursiven Wegen zu erleben. Unter den Computerspielen findet sich diese Struktur besonders ausgeprägt bei Simulationen oder Strategiespielen wie Sim City (Maxis, seit 1989 in immer neuen Versionen), Die Siedler (Blue Byte, seit 1993 in immer neuen Versionen) oder Civilization (Microprose, seit 1991 in immer neuen Versionen). Doch auch die oben erwähnten Quests bilden durch ihre Wiederholbarkeit und Regelmäßigkeit eine ideologische Struktur. Dass in Computerspielen Strukturen vorkommen, die mit den Strukturen von Geschichten verglichen werden können, heißt allerdings nicht, dass sie tatsächlich auch Geschichten erzählen. Allenfalls kann gesagt werden, dass in Computerspielen mögliche Handlungslinien narrativ vorgeformt sind. Ob und wie diese möglichen Handlungslinien aktualisiert werden, liegt beim Spieler. „Interaktives Erzählen“ bedeutet demnach, eine Umgebung zu erschaffen, in die der Spieler eingreifen und in der er innerhalb der vorgegebenen Möglichkeiten Entscheidungen darüber treffen kann, welche möglichen Ereignisse oder Handlungen aktualisiert werden. Erst mit der Aktualisierung einiger dieser Möglichkeiten entsteht überhaupt eine Handlungsabfolge. Zwischen der Geschichte einer Erzählung und dem Programm besteht ein modaler Unterschied: Das Programm wird im Konjunktiv geschrieben, während eine Erzählung im Indikativ sagt, was passiert (ist). Zwischen der Aktualisierung der Handlungen während des Spielens und der Geschichte einer Erzählung besteht eine temporale Differenz: Im Spiel finden Ereignisse statt (Präsens), während die Erzählung sagt, was passiert ist (Präteritum). Natürlich gibt es auch das gleichzeitige Erzählen, in dem vom Erzählen selbst erzählt wird, doch werden im Spiel Türen geöffnet oder Monster erschlagen. Diese Handlungen finden statt, es wird nicht davon erzählt. Damit ist die dritte der Genetteschen Ebenen angesprochen: Die Narration, der Akt des Erzählens. Die lange und ausführliche Diskussion des Unterschieds von Diegesis und Mimesis (Platon 1991) und damit im Zu_____________ 22
Ein anderes Beispiel wären Fernsehserien, insbesondere Daily Soaps, in denen sich immer wieder die gleichen Beziehungen (Liebe, Trennung, Eifersucht, Betrug, ...) zwischen wechselnden Figuren abspielen.
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sammenhang die Frage, ob visuelle Medien überhaupt erzählen können, wie sie es tun und wo die Erzählinstanzen zu finden sind (vgl. z. B. Chatman 1978 & 1990, Bordwell 1985, Gaudreault 1989, Gunning 1994), soll an dieser Stelle ausgespart werden. Ich gehe davon aus, dass auch visuell erzählt werden kann. Doch wer oder was käme im Computerspiel als Erzähler in Frage? Hier bieten sich zwei Möglichkeiten: 1. Ein Pool von Möglichkeiten wird im Programm in Form von – sehr vereinfacht ausgedrückt – Objektdefinitionen und Funktionen vorgegeben. Würde das Programmieren als Erzählen verstanden, so würde der Bedeutungsumfang des Begriffs des Erzählens über Gebühr erweitet. Im gleichen Sinne könnten die Tätigkeiten einer Gruppe von Architekten, Bauingenieuren und Bauarbeitern, die ein Haus bauen, als Erzählen bezeichnet werden: Das Haus ermöglicht bestimmte Handlungen und unterbindet andere und was sich darin abspielt kann später in Geschichten gegossen werden. 2. Der Spieler wählt aus den vorgegebenen Möglichkeiten aus und stellt eine Handlungsabfolge her. Im Sinne der russischen Formalisten wäre er damit für die Erstellung des sujets, d. h. die tatsächliche Anordnung der Ereignisse, verantwortlich (vgl. Sklovkij 1966 & 1971, Tomashevskij 1965). Man kann hier also ein Analogon bilden zur Anordnung der Ereignisse zu einer Geschichte. Doch warum sollte dieser Akt als Erzählen und nicht als Spielen bezeichnet werden? 5. Zusammenfassung und Ausblick Die Frage nach der Narrativität von Computerspielen hat die Anfangsjahre der Game Studies geprägt. Die Abgrenzung von der Übernahme vornehmlich literaturwissenschaftlicher Methoden zur Analyse und Beschreibung von Erzählungen in Computerspielen hat zu einer recht frühen Eigenständigkeit des Forschungsfeldes geführt, aber auch ein neues Feld der Intermedialitätsforschung eröffnet. Untersuchungen zur Narrativität von Computerspielen bilden inzwischen eine Perspektive zwischen vielen anderen. Dabei ist jedoch die Frage, ob das Computerspiel eine Art der Erzählung ist, müßig. Interessant wären vielmehr konkrete intermediale Perspektiven, die Differenzen und Gemeinsamkeiten von Strukturen der Handlungsführung in Computerspiel und Film oder auch Fernsehen betrachten – gerade neuere Fernsehserien experimentieren mit Erzählstrukturen. Doch auch hier sollte der Fokus nicht allein auf der Erzählung liegen, denn das Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeits- und Möglichkeitsebenen, sowie Zeitsprünge oder Wiederholungen, die zunächst
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einmal der Sphäre des Ludischen zuzurechnen wären, sollten in den Fokus genommen werden. Auch theoretisch könnte die Erzählforschung eine Befruchtung durch eine stärkere Fokussierung des Spiels erfahren, die nicht nach narrativen Aspekten des Spiels fragt, sondern auf spielerische Aspekte der Erzählung abhebt. So ist z. B. die Metalepse, die als literarische Figur untersucht wird, eine fundamentale Figur des Spielens (vgl. Neitzel 2007 und 2008). Wenn Erzählungen geronnene Spiele sind, wäre hier noch viel zu entdecken. Aspekte des Spiels und des Spielerischen sind jedoch auch weit über ihren Einfluss auf Erzählungen relevant. “Its [the computer’s, B.N.] interesting potential lay not in its ability to perform calculations but in its capacity to represent action in which humans could participate” konstatierte Brenda Laurel 1990 (Laurel 1991, 1). Die Untersuchung der Modi dieser Partizipation am Digitalen und ihre Interdependenzen mit der Technik bilden das Herz der Game Studies. Literatur Aarseth, E. J. (1997). Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore/London. Apperley, T. H. (2006). Genre and game studies: Toward a critical approach to video game genres. Simulation and Gaming 37:1, 6-23. Aristoteles (1982). Poetik. Stuttgart. Backe, H.-J. (2008). Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg. Barthes, R. (1988). Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. Bolter, J. D. & Grusin, R. (2000). Remediation. Understanding New Media. Cambridge, Mass. Bolter, J. D. (1991). Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing. Hillsdale, N. J/Hove/London. Bordwell, D. (1985). Narration in the Fiction Film. London. Buytendijk, F. J. J. (1933). Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe. Berlin. Buytendijk, F. J. J. (1958). Das Menschliche in der menschlichen Bewegung. In Ders., Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, 170-188. Stuttgart. Caillois, R. (1960). Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Stuttgart. Chatman, S. (1978). Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London. Chatman, S. (1990). Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca/London.
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JENS KIEFER (Hamburg)
Gattungsbezogene Unterschiede in der Inszenierung von Ereignishaftigkeit und der Zuschreibung von Relevanz im Kurzfilm Prolog: Filmisches Erzählen? Aufgrund der in den meisten Fällen nicht aktualisierten Position des Erzählers stellt sich für den Film genau wie für das Drama die Frage, inwiefern vom Film als einer Erzählung gesprochen werden kann. Innerhalb der filmnarratologischen Forschung herrscht kein Konsens darüber, wer kommunikationslogisch als Vermittlungsinstanz eines Filmes zu verstehen ist. Als Kandidaten fungieren etwa der Regisseuer, die Kamera oder alterantiv die Auffasssung einer erzählerlosen Textstruktur.1 Die Frage, wer den Film erzählt oder hervorbringt, soll im Folgenden unbeantwortet bleiben. Im Sinne einer medienübergreifenden Narratologie wird hier die Meinung vertreten, dass narratologische Fragestellungen und Begrifflichkeiten auch sinnvoll an weniger narrative Textsorten herangetragen werden können, wenn dies einen Erkenntnisgewinn verspricht. Zudem können Filme, selbst wenn man einen Erzählbegriff vertritt, der an das Vorhandensein eines Erzählers gebunden ist, fraglos narrative Strukturen auf der Ebene der histoire aufweisen. Auf den nächsten Seiten soll also nicht das Spezifische des filmischen Erzählens gegenüber dem schriftlichen oder mündlichen Erzählens untersucht werden. Ausgangspunkt ist stattdessen die narratologische Beobachtung, dass narrative Texte etwas aufweisen, das ihnen Erzählwürdigkeit verleiht. Diese Erkenntnis soll zunächst auf den Film übertragen werden, um danach zu erkunden, ob auch nicht oder kaum narrative Filme ein ähnliches Phänomen aufweisen. Ausgehend von erzähltheoretischen Annahmen wird in diesem Beitrag ein Ansatz zu einer Theorie der Filmgattungen basierend auf dem Begriff der Relevanz entwickelt.
_____________ 1
Vgl. Griem & Voigts-Virchow 2002, 161 ff.
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1. Relevanz und Filmgattungen Für Erzählungen gilt laut William Labov, dass sie eine bestimmte Erwartungshaltung des Hörers erfüllen müssen: nämlich etwas mitzuteilen, das sie dem Rezipienten als relevant erscheinen lässt. Sie müssen einen sogenannten point enthalten, der verhindert, dass der Erzähler mit der Frage „So what?“ konfrontiert wird.2 Seine an mündlichen Erzählungen Jugendlicher in den 60er Jahren gemachte Beobachtung wurde von Marie Louise Pratt und anderen narratologischen TheoretikerInnen wie Marie Laure Ryan später zum Konzept der tellability, der Erzählwürdigkeit, weiterentwickelt und auf literarische Erzählungen ausgeweitet.3 Denn auch für diese gilt, dass an sie die Erwartung herangetragen wird, dass sie innerhalb der erzählten Welt etwas konstruieren, das dem Leser die Gratifikation verspricht, der kognitive Aufwand der Lektüre habe sich gelohnt. Geht man davon aus, dass mündliche und schriftliche Erzählungen tellability aufweisen, liegt die Annahme nahe, dass dieses Phänomen auch in filmischen Erzählungen vorkommt. Aber was ist mit Experimentaloder Dokumentarfilmen, die weit weniger narrativ sind? Müssten diese nicht erst recht gewährleisten, einen point zu haben, der verhindert, dass sich der Zuschauer die Frage stellt, warum er Zeit in die Rezeption investiert hat? Im Folgenden soll daher versucht werden, tellability als einen Spezialfall eines allgemeiner gefassten Begriffes von Relevanz zu verstehen und die unterschiedlichen Strategien, durch die Filme Relevanz erreichen, dazu zu benutzen, tendenzielle Differenzen zwischen einzelnen Filmgattungen zu benennen. Als Untersuchungsgegenstand dient mir dabei der Kurzfilm, der oft als eine eigene Kunstform angesehen wird. Außer seiner Kürze – und diese ist relativ und in Differenz zum 90minütigen Langfilm bestimmt – besitzt er jedoch keine Eigenschaften, die es erlauben, vom Kurzfilm als einer eigenen Gattung zu sprechen. Vielmehr stellt die Kategorie ‚Kurzfilm‘ ein Sammelbecken der verschiedenen Gattungen Spiel-, Animations-, Dokumentar- und Experimentalfilm und teilweise schwer zu klassifizierenden Mischformen dar.4 Der Animationsfilm soll hier weiter keine _____________ 2 3 4
Vgl. Labov 1972, 366. Pratt 1977 und Ryan 1991. Vgl. Ag Kurzfilm 2006. Die Studie des Interessenverbandes Ag Kurzfilm zählt außerdem die Kategorie des Musikvideos zum Kurzfilm, da diese häufig auf Kurzfilmfestivals zu sehen sind. Diese Kategorie findet hier ebenfalls keine Erwähnung, da sie nicht als Film im strikteren Sinne auszulegen ist. Im Erhebungsjahr 2003 und 2004 entfielen knapp 40% der Kurzfilmproduktion auf Kurzspielfilme, knapp 20% jeweils auf Experimental- und Dokumentarfilme. Ca. 10% der Produktionen waren Animationsfilme. Die Zahlen beziehen sich auf die Kurzfilmdatenbank der KurzFilmAgentur Hamburg e. V., die auf den jährlichen
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Beachtung finden, da seine Gattungsspezifika sich nicht durch den Relevanzbegriff erklären lassen und er sich quasi parasitär zu anderen Filmgattungen verhält: er kann sowohl auf die Formen des Spielfilms, des Experimentalfilms als auch immer öfter auf die Form des Dokumentarfilms zurückgreifen.5 Vom Kurzfilm auszugehen bietet sich hingegen aus zwei Gründen an. Zum Einen weisen der kurze Spielfilm und zum Teil auch der kurze Dokumentarfilm Eigenheiten gegenüber dem Langfilm auf. Zum Anderen ist der Großteil der Experimental- und Animationsfilme kurz. 2. Relevanz, tellability, Narrativität und Ereignishaftigkeit Bevor ich die einzelnen Filmgattungen kommentiere, möchte ich kurz auf Arbeitsdefinitionen narratologischer Begrifflichkeiten eingehen, die ich zur Abgrenzung und Charakterisierung der einzelnen Filmgattungen benötige – ohne jedoch auf die gesamte Forschung und die Schwierigkeiten begrifflicher Definitionen einzugehen: Ereignishaftigkeit, tellability und Narrativität als einen Spezialfall von Relevanz. Keiner dieser Begriffe ist unumstritten innerhalb der narratologischen Forschung, so dass sie je nach Theoretiker Unterschiedliches meinen können. Narrativität soll hier als eine Eigenschaft von Texten verstanden werden, das Schema des Narrativen aufzurufen, dass heißt zu signalisieren, dass es sich bei einem Text um eine Geschichte handelt.6 Diese Eigenschaft kann einem Text mehr oder weniger zugeschrieben werden, es handelt sich somit nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein gradierbares Phänomen, das im Sinne der Prototypentheorie zu verstehen ist. Die wichtigste Eigenschaft eines Textes, die bei der Lektüre signalisiert, dass es sich um eine Geschichte handelt, ist das Vorhandensein einer Geschehenssequenz: d. h. es muss Zeit verstreichen und wir müssen einen Zusammenhang, eine Motivierung, zwischen den einzelnen Geschehenselementen konstruieren können. Eine befriedigende prototypische Geschichte beinhaltet jedoch noch mehr: Sie entwirft eine Welt, in der anthropomorphe Figuren leben und handeln, die Charaktereigenschaften haben und über deren Bewusstseinsinhalte oder Intentionen wir etwas _____________ 5
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Einreichungen des Internationalen KurzFilmFestivals beruhen. Das Festival erhält jährlich zwischen 3000 und 4000 Einreichungen aus der ganzen Welt. Für die Bestimmung der Gattung Animationsfilm sind eher technische Aspekte wie die Einzelbildschaltung zu nennen, die jedoch nicht auf computer generated images (CGI) zutrifft. Vgl. zur Definitionen des Animationsfilmes und den verschiedenen Animationstechniken Kohlmann 2007. Vgl. Wolf 2002 für einen schemabasierten Narrativitätsbegriff.
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erfahren. Sie löst Emotionen aus und vermittelt Erfahrungen. Das bedeutet auch, dass sie etwas enthält, was über die Wiedergabe einer Zustandsveränderung wie „ein Stuhl fiel um“ hinausgeht. Eine befriedigende Geschichte enthält eine Antwort auf die Frage „So what?“, sie vermittelt dem Leser das Gefühl, dass sich die Lektüre gelohnt hat. Nach Labov & Waletzky übernimmt die so genannte Evaluation einer Erzählung diese Funktion. Durch sie markiert der Sprecher den point der Geschichte. Doch nicht jeder Text enthält per se eine solche Evaluation.7 Für das schriftliche oder filmische Erzählen gibt es verschiedene Erklärungsmodelle für die tellability eines Textes. Marie-Laure Ryan versteht die tellability einer Erzählung als Resultat des Vorhandenseins möglicher Plotverläufe im Gegensatz zum tatsächlichen Plotverlauf.8 Das heißt, eine Geschichte wird dadurch interessant, dass der Plot immer wieder an Knotenpunkten anlangt, an denen die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können. Eine andere Möglichkeit zu erklären, wie Erzählungen dafür Sorge tragen, interessant zu sein, ist der Ereignisbegriff, der vor allem von Jurij Lotman entwickelt wurde und den er dazu benutzte, Grenzüberschreitungen in Erzählungen zu markieren.9 Innerhalb der Forschergruppe Narratologie Hamburg und im Rahmen der Projektgruppe Narratologische Analyse von Lyrik unter der Leitung von Peter Hühn und Jörg Schönert wurde Lotmans Ereignisbegriff von der Grenzüberschreitung gelöst und mit Begrifflichkeiten der kognitionswissenschaftlichen Schematheorie erklärt.10 Ereignisse, die einer Erzählung tellability verleihen, entstehen in diesem Theorieentwurf aus der Abweichung von Erwartungshaltungen und in vielen Fällen durch die Abweichung von handlungsbezogenen Skripten. Diese Schemata können allgemeine lebensweltliche Schemata, intratextuelle oder intertextuelle Schemata sein. So kann ein Film etwa vom Schema des klassischen Westerns abweichen, indem seine Protagonisten homosexuell sind wie in Brokeback Mountain, oder ein Krimi kann auf die Aufklärung des Verbrechens verzichten und somit von der Erwartungshaltung des Lesers, eine Erklärung zu finden, abweichen. Die Idee der Ereignishaftigkeit qua Schemaabweichung lässt sich wiederum durchaus mit Ryans Idee der virtuellen Plotverläufe zusammenbringen. Denn das Vorhandensein alternativer Handlungsverläufe evoziert Erwartungen beim Leser, von denen durch die Selektion eines spezifischen Plotverlaufes abgewichen werden kann. _____________ 7 8 9 10
Zum Forschungszusammenhang von tellability, Ereignishaftigkeit und Labovs Ausführungen zum oralen Erzählen vgl. Hühn 2008. Ryan 1991. Lotman 1972. Vgl. Hühn 2008.
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Untersucht man mit narratologischen Mitteln Lyrik, so wird deutlich, dass zwar die meisten Gedichte auch rudimentäre Handlungsverläufe haben, aber von Ereignissen im Plotverlauf, wie sie oft in Romanen oder Filmen evoziert werden, nur in den allerwenigsten Fällen die Rede sein kann. Dennoch inszenieren auch wenig narrative Gedichte Ereignisse im Sinne von Erwartungsbrüchen. Diese entstehen jedoch weitaus öfter aus der Spannung zwischen dem Was und dem Wie des Dargestellten. So kann die Wahl der Metaphern etwa eine ganz andere Sprache sprechen als die eigentliche Aussage des Gedichts, oder bestimmte Aspekte der Sonettform können so verändert werden, dass das Gedicht zwar als Sonettform erkennbar ist, aber eine Abweichung vom klassischen Sonett vorliegt. Anhand von Ergebnissen der narratologischen Lyrikanalyse hat die o. g. Projektgruppe daher weitere Formen von Ereignissen, die sich nicht auf Skriptbrüche in narrativen Texten beziehen, konstatiert und diese Darbietungs- und Rezeptionsereignisse genannt.11 Geht man davon aus, dass Ereignisse in Form von Erwartungsbrüchen wesentlich für die tellability narrativer Texte verantwortlich sind, und akzeptiert gleichzeitig, dass auch weniger oder gar nicht-narrative Texte Ereignisse aufweisen können, ergibt sich die Annahme, dass es sich bei tellability nur um einen Spezialfall eines allgemeineren Prinzips handelt: dem der Relevanz, das ein Prinzip ist, das in narrativen wie non-narrativen Sprechakten eine Rolle spielt. Auf diesen Aspekt weist schon Pratt (1977) hin. Sperber und Wilson postulieren, dass das Relevanzprinzip allen Sprechakten zugrunde liege.12 Laut ihrer Theorie versucht das menschliche Bewusstsein so viel Information wie möglich zu verarbeiten, unterliegt jedoch einer begrenzten Verarbeitungskapazität. Für das Bewusstsein ergibt sich daher die Konsequenz, ökonomisch mit den ihm angebotenen Reizen arbeiten zu müssen, d. h. nur Informationen, denen ein Grad an Relevanz unterstellt wird, können verarbeitet werden. Daher trägt jede Kommunikation die Behauptung ihrer eigenen Relevanz in sich, um einem Gegenüber überhaupt eine Motivation zu bieten, Informationen zu verarbeiten. Die Pointe ihrer Überlegungen besteht nun in der These, dass indem der Sender die Aufmerksamkeit der Sprecherin beansprucht, er zugleich immer die Behauptung mitkommuniziert, die Verarbeitung der kommunizierten Stimuli sei den Aufwand wert.13
Aus Rezipientensicht formuliert hieße dies, dass ebenso jeder Empfänger einer Kommunikationsofferte diese Relevanz unterstellt. Dies, so meine _____________ 11 12 13
Hühn & Schönert 2007, 321. Sperber & Wilson 1986. Strasen 2002, 192.
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These, führt im Bezug auf Filme zu spezifischen Erwartungsanhalten an verschiedene Filmgattungen. 3. Spielfilm und Kurzspielfilm Fragt man sich, wie Spielfilme es schaffen, interessant zu sein und einen point zu haben, so wird schnell deutlich, dass sie ihre Relevanz aus der Geschichte, die sie erzählen, erzielen. Lange Spielfilme erzielen diesen point in der Regel durch das Vorhandensein eines Konfliktes: Konflikte zwischen einzelnen Figuren, Konflikte zwischen einer Figur und ihrer Umwelt oder Konflikte im Seelenleben einer Figur.14 Um aber die Entwicklung von Konflikten glaubhaft darstellen zu können, bedarf es Zeit, und diese hat der Kurzfilm qua Definition nur begrenzt. Meine These lautet jedoch nicht, dass es in Kurzfilmen keine Konflikte gebe, sondern, dass gerade kurze Spielfilme nicht die Möglichkeit besitzen, Konflikte ausreichend interessant genug zu entwickeln, und stattdessen auf eine sehr einfache Form des Erwartungsbruchs zurückgreifen, um einen point zu erzeugen. Vergleicht man den kurzen Spielfilm mit dem langen, wird deutlich, dass er im Bezug auf die dargestellte Handlung aufgrund seiner Kürze bestimmten Restriktionen unterliegt, die zu eigenen Strategien führen.15 Die Reduktion der Erzählzeit führt zum Beispiel in den meisten Fällen auch zu einer Reduktion der erzählten Zeit. Daher weist der Kurzspielfilm kaum komplexe Figurenentwicklungen auf und erzählt viel öfters konkrete Einzelsituationen, als dass er etwa eine ganze Lebensgeschichte darstellen kann. Während der lange Spielfilm meist Anfang und Ende einer Geschichte beinhaltet, wählt der Kurzfilm oft nur einen Ausschnitt, d. h. er erzählt oft nur eine Art Exposition und lässt offen, wie die Geschichte weitergehen könnte. Oder aber er konzentriert sich auf das Ende einer Geschichte und erzählt eine Situation, in der nur erahnbar ist, wie es zu ihr gekommen ist. Deutlich ist jedoch, dass er sich tendenziell immer auf spezifische Situationen beschränkt, die nicht wie im Langfilm ausgebreitet werden können. Dies betrifft vor allem Kurzspielfilme unter zehn Minuten und wohl noch mehr Filme unter fünf Minuten Filmlänge, die sich eher am Witz als am traditionellen Langfilm orientieren.16 Ein Beispiel hierfür wäre etwa _____________ 14 15 16
Vgl. Ryan 1991. Ryans Theorie versteht Plot als Ergebnis eines Konfliktes verschiedener möglicher Welten. Vgl. Heinrich 1987. Zum Zusammenhang zwischen Filmlänge und Erzählmuster gibt es bisher keine Forschung. Meine Angaben beruhen auf Erfahrungen bei der Filmsichtung für das Internatio-
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der vierminütige französische Kurzspielfilm J’attendrai le suivant von Philippe Orreindy. Ein junger Mann hält in der U-Bahn ein Plädoyer für die Liebe, macht deutlich, dass er nicht länger alleine sein möchte und fordert die anwesenden Frauen in der Bahn auf, bei der nächsten Station auszusteigen, um mit ihm eine Beziehung zu beginnen. Es folgt ein Wortwechsel mit einem weiteren Passagier, der sich über den Mann lustig macht. Bei der nächsten Haltestelle entscheidet sich eine junge Frau auszusteigen, um den jungen Mann kennen zu lernen, und blickt ihn vom Bahnsteig aus hoffnungsvoll an. Dieser steigt jedoch nicht aus, sondern entschuldigt sich bei der jungen Frau, da sein Auftritt nur ein Sketch gewesen sei, und bittet daraufhin die weiteren U-Bahnfahrer um eine finanzielle Unterstützung für seinen Auftritt. Der Film etabliert also zunächst ein Skript das sich als ›Liebeswerben‹ beschreiben ließe, um dieses am Ende pointiert durch das Skript ›Aufführung eines Sketches‹ zu ersetzen. Damit wird gleichzeitig sowohl die Erwartungshaltung der jungen Frau als auch des Zuschauers gebrochen. Im Gegensatz zu diesen besonders kurzen Kurzspielfilmen sind Kurzspielfilme mit einer Dauer von ca. 20 Minuten meist so konstruiert, dass sie einen Konflikt darstellen, dessen Ausgang offen bleibt. Kurzspielfilme hingegen, die ca. fünf Minuten lang sind, können dies nicht leisten. Sie inszenieren jeweils zum Ende des Filmes analog zum Witz einen meist lustigen oder erschreckenden Erwartungsbruch, der ein etabliertes Handlungs- oder Figurenschema durch ein anderes ersetzt und für ihre Ereignishaftigkeit verantwortlich ist. 4. Der Experimentalfilm Es fällt sehr schwer, eine zufrieden stellende Definition des Experimentalfilms zu finden oder eine Theorie des Experimentalfilms zu begründen.17 Dies hängt sicherlich auch mit seinem Formenreichtum zusammen. Auffällig ist, dass ein sehr großer Teil von Experimentalfilmen von einer einzelnen Person verantwortet wird, die Kamera, Ton, Gestaltung etc. alleine ausführt. Diese Personalunion dürfte auch der Grund dafür sein, dass der Experimentalfilm als besonders starke Ausdrucksform künstlerischer _____________
17
nale KurzFilmFestival. Die Studie der Ag Kurzfilm 2006 kommt zu dem Ergebnis, dass ca. 75% der Kurzfilmproduktion im Erhebungsjahr eine Länge unter 10 Minuten aufwiesen. Mit 36% stellt die Gruppe der Filme unter 5 Minuten den größten Anteil der jährlichen Kurzfilmproduktion. Auffällig ist jedoch, dass viele Kurzfilmfestivals in den letzten Jahren immer häufiger Filme mit einer Länge um ca. 20 Minuten aufführen. Vgl. Small 1994 für einen der wenigen Versuche, eine Theorie des Experimentalfilms zu entwerfen.
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Subjektivität gilt. Im Vergleich zum Spielfilm ist er wie der Dokumentarfilm zumeist auch mit einem geringeren Budget ausgestattet. Sucht man nach filmimmanenten Merkmalen, so wird deutlich, dass der Großteil der Experimentalfilme nur einen sehr geringen Grad an Narrativität aufweist und dieses Merkmal das einzige – wenn auch gradierbare – Differenzkriterium zum Spielfilm zu sein scheint. Je weniger narrativ ein Film ist, desto eher wird er für einen Experimentalfilm gehalten. Der meist nur sehr schwache Grad an Narrativität mag auch mit ein Grund dafür sein, dass der Großteil der Experimentalfilme kurz ist, da der kognitive Aufwand, einen 90minütigen Film ohne Geschichte zu rezipieren, ein Hindernis sein könnte. Nur wenige Zuschauer dürften bei der Sichtung eines Experimentalfilms, der nur aus Formen und Farben besteht, den Eindruck haben, eine Geschichte erzählt zu bekommen. Natürlich gibt es aber auch Experimentalfilme, die Figuren und Ansätze einer Handlung enthalten. Ein Beispiel hierfür wären etwa der found footage-Film Home Stories von Matthias Müller, der Ausschnitte aus klassischen Hollywood-Filmen aneinander schneidet, so dass neue Kontexte entstehen. Jedoch kommt auch dieser Film ohne Geschichte aus. Stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Gemachtheit und Materialität des Filmes. Der Begriff des Experimentierens verweist auf den unbekannten Ausgang einer Versuchsanordnung. Auch wenn sicherlich ein Großteil der Experimentalfilme tatsächlich Experimente mit Formen, Farben und Materialien darstellen, gibt es natürlich eine ebenso große Anzahl an Experimentalfilmen, deren Entstehung einem Plan folgt oder einer zuvor formulierten Vorstellung verpflichtet ist. Dass der Begriff des Experimentalfilms auch für diese Filme zutreffend ist, wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass der Experimentalfilm nicht nur mit seinem Material, sondern auch mit den am Spielfilm geschulten Erwartungen des Zuschauers spielt, denn durch das Fehlen von erwartungssteuernden Handlungsskripts lässt er den Zuschauer weit mehr im Ungewissen, als dieser es vom Spielfilm gewohnt ist. Statt also eine Geschichte zu präsentieren, fordern Experimentalfilme den Zuschauer auf, ihre Form zu genießen, zu erkunden oder zu reflektieren. Ähnlich wie viele Gedichte verlagern Experimentalfilme also ihre Ereignishaftigkeit – das, was ihnen Relevanz verleiht und sie mitteilungswert macht – von der Ebene des Was (des Dargestellten) auf die des Wie (der Darstellung). Das bedeutet nicht, dass Experimentalfilme keine Aussagen tätigen könnten oder dass das Dargestellte selbst irrelevant sei. Das Dargestellte ist jedoch aufgrund des geringen Grades an Narrativität im Vergleich zum Spielfilm untergeordnet und schwerer zu beschreiben. Experimentalfilme brechen somit mit der durch den Spielfilm etablierten Kon-
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vention, der Film müsse auf der Ebene der Geschichte, die ihnen eben meist fehlt, ein Ereignis darstellen, das sie mitteilungswert macht. Ihre Relevanz liegt vielmehr in ihrem Wie als in ihrem Was begründet. 5. Der (kurze) Dokumentarfilm Auch der Dokumentarfilm, der sich vom Spielfilm durch seine Faktualität unterscheidet, muss, wenn er der Frage „So what?“ begegnen will, dafür Sorge tragen, mitteilungsrelevant zu sein.18 Während der abendfüllende, senderfinanzierte Dokumentarfilm meist ausformulierte Konflikte darstellt und sehr narrativ ist, sind kürzere Dokumentarfilme, die in der Regel ohne Unterstützung einer Sendeanstalt entstanden sind, meist wesentlich weniger narrativ und verzichten darauf, Erwartungen auf der Handlungsebene zu brechen oder Konflikte darzustellen.19 Ein Beispiel hierfür etwa wären die auf Kurzfilmfestivals erfolgreichen Dokumentarfilme Jörg Wagners Motodrom und Terminal, die beide nur sehr schwach narrativ sind, auf jeden erklärenden Kommentar verzichten und ohne die Kennzeichnung als Dokumentarfilm von vielen Zuschauern womöglich als Experimentalfilm eingestuft würden. Motodrom beobachtet Steilwandfahrer bei ihrer gefährlichen Motorradfahrt entlang einer nahezu senkrechten Wand. In Terminal folgt die Kamera Verladekränen in einem Industriehafen. Hier wird ausschließlich beobachtet und nichts erklärt, so dass auch ein vermeintlicher Informationsgewinn des Zuschauers kaum der point dieser Filme sein kann. Wir erfahren nichts über die Arbeitsbedingungen im Hafen, es werden keine Konflikte dargestellt und es findet auch kein überraschendes Ende statt. Mir scheint, dass Dokumentarfilme dieser Art weder auf der Handlungsebene noch auf der Ebene der Darstellung eine Ereignishaftigkeit benötigen, um als relevant zu gelten. Den Grund dafür sehe ich in einer Verlagerung der Ereignishaftigkeit in die Welt bzw. auf den Selektionsvorgang des Filmemachers, der ein Stück Welt ausschneidet. Der Dokumentarfilm steht vor dem Dilemma, gleichzeitig eine Abbildung der Welt zu liefern und künstlerisch zu sein, d. h. die Welt kreativ gestalterisch abbilden zu wollen, aber einen Wahrheitsanspruch zu erheben.20 Dieses Dilemma führt dazu, dass der Dokumentarfilm schlecht behaupten kann, er zeige ein genaues Abbild von der Realität, denn er hat den Ton bearbeitet und womöglich Interviewpartner an Orte gebracht, an denen sie ohne das _____________ 18 19 20
Vgl. Kiefer 2007 und Huck & Kiefer 2007 zur Faktualität des Dokumentarfilms und zum dokumentarischen Vertrag. Vgl. Käsgen 2004, 56ff. zur Narrativität des senderfinanzierten langen Dokumentarfilms. Vgl. Huck & Kiefer 2007.
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Arrangement des Regisseurs nie gekommen wären. Stattdessen behauptet der Dokumentarfilm: Ich offenbare etwas über die Struktur der Welt, das du ohne meine künstlerische Leistung nie gesehen hättest. Der Dokumentarfilm muss daher nicht zwingend Konflikte darstellen, erstaunliche Ereignisse am Filmende inszenieren oder mit seiner Form spielen. Er findet bzw. erfindet durch seinen Selektionswinkel die tellability in der Welt. Nicht die Handlung des Dokumentarfilms muss also den Zuschauer überraschen, sondern der Ausschnitt aus der Welt, den der Dokumentarfilmer ausgewählt hat. Denn die künstlerische Bearbeitung der Welt gewährleistet, dass der Zuschauer die Welt so sieht, wie er sie noch nie zuvor gesehen hat. Und so sieht er zum Beispiel das Ästhetische im nächtlichen Ein- und Ausladen der Container in Terminal, das er ohne die Vermittlung des Filmemachers nie erkannt hätte. 6. Resumé Gattungskonventionen, so meine These, antworten auf das Prinzip der Relevanz. Sie verringern den kognitiven Aufwand, einen Kontext für Kommunikation zu finden, und versorgen den Zuschauer mit Erwartungshaltungen, die ihm helfen, einen Film einzuordnen. Ist ein Film als Experimentalfilm identifiziert, so weiß der Zuschauer, dass er primär auf die Form eines Filmes achten sollte, um sich von dieser überraschen zu lassen, da eine Aufmerksamkeitslenkung auf die Handlungsebene und die Suche nach einem Konflikt wahrscheinlich erfolglos bleiben dürfte. Natürlich achtet ein Zuschauer auch auf die Form eines Dokumentarfilms oder eines Spielfilms. Bei der Suche nach Relevanz wird der Zuschauer eines Spielfilms jedoch primär die Handlung eines Filmes in Betracht ziehen und bei der Rezeption eines Dokumentarfilms sich fragen, ob der vom Dokumentarfilm konstruierte Weltbezug für ihn Relevanz besitzt. Spielfilm und Kurzspielfilm werden vom Zuschauer mit der Erwartung gesehen, dass die Handlung des Filmes primär für dessen Relevanz verantwortlich sei. Experimentalfilme lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Was auf das Wie des Filmes und werden in der Erwartungshaltung gesehen, dass ihre Form besonders relevant sei. Dokumentarfilme erlangen ihre Relevanz durch ihren Anspruch, dem Zuschauer etwas über die Welt zu offenbaren, das er ohne die künstlerische Vermittlung nicht gesehen hätte.
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MATTHIAS AUMÜLLER (Wuppertal)
Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe 1. Allgemeines Wer Begriffe und Kategorien in der Literaturwissenschaft untersucht, steht vor dem Problem, dass er sich zumeist nur im engeren Bereich einer Nationalphilologie bewegt. Die unterschiedlichen Fächer haben ihre eigenen Traditionen, wobei die Fremdsprachenphilologien wie Anglistik, Romanistik und Slavistik (um nur die größten zu nennen) sich weniger an der Germanistik orientieren, als vielmehr an die Fachtraditionen der jeweiligen Länder anknüpfen und unter diesem Einfluss eigene Terminologien herausgebildet haben, die – obwohl Fachsprachen – nicht immer ohne Bedeutungsverlust aufeinander übertragbar sind.1 Trotzdem gleichen sich die Gegenstände in den unterschiedlichen Philologien weitgehend, und der Trend zur Internationalisierung sorgt für intensiveren Austausch und mehr Vergleichbarkeit. Neben der wünschenswerten Verbreiterung des Horizonts bringt diese Entwicklung aber auch die Gefahr erheblicher Begriffsverwirrung mit sich. Das Schicksal des Begriffs der Erzählung vermag Chancen und Risiken dieses Prozesses beispielhaft zu illustrieren: Die für die heutige literaturwissenschaftliche Erzähltheorie einschlägige Unterscheidung zwischen erzählter Geschichte und Erzählung geht auf Arbeiten der russischen Formalisten aus den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurück (vgl. Šklovskij 2009). Die Ausdrücke, die Šklovskij wählte („fabula“ und „sjužet“, bezeichnenderweise ihrerseits Fremdwörter), waren so wenig auf die Bedeutung festgelegt, die Šklovskij ihnen zuwies, dass Petrovskij (1925) sie kurze Zeit darauf genau umgekehrt verwenden konnte (vgl. Schmid 2009). Knapp ein halbes Jahrhundert später wurde die Unterscheidung von den französischen Strukturalisten auf der Grundlage von _____________ 1
Man denke an den auch im vorliegenden Zusammenhang einschlägigen Begriff, der mit dem russischen Ausdruck „povest’“ bezeichnet wird und unter dem man eine literarische Prosagattung versteht, die neben Erzählung und Roman steht. Für ihn gibt es keine adäquate deutsche Entsprechung. Häufig werden Kurzromane oder Langerzählungen als povesti bezeichnet.
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Tomaševskij (1925) übernommen, aber mit neuen Ausdrücken wiedergegeben. Todorov (1966) etwa spricht von „histoire“ und „discours“ und Genette (1972) von „histoire“ und „récit“, um der zeitgleichen Verwendungsweise von „récit“ – etwa bei Barthes (1966) oder Bremond (1973), die darunter das Erzählte, also dasselbe wie Genette unter „histoire“ verstanden – entgegenzutreten und Todorovs für Erzählungen zu unspezifischen Terminus „discours“ mit einem präziseren Ausdruck zu ersetzen. Ins Deutsche übertragen wurden Genettes höchst einflussreiche Beiträge (1972), (1983) dann unter dem Titel „Die Erzählung“. Zwei Faktoren kommen hinzu, die diese Lage zusätzlich verschärfen. Durch die Übernahme von fremdsprachlichen Ausdrücken (sei es aus stilistischen Gründen, sei es aufgrund theoretischer Erfordernisse) kann es dazu kommen, dass Ungenauigkeiten des Quellausdrucks in die Zielsprache übernommen werden.2 Zum anderen werden ständig Begriffe aus anderen Disziplinen (re)importiert, die nicht selten ihre eigenen Produkte sind, nun aber in metaphorisierter Form zurückkehren.3 Kurzum, das Gebiet ist recht unübersichtlich. Damit man darin nicht sofort die Orientierung verliert, ist es nötig, ein Ziel und eine ungefähre Route festzulegen. Das Ziel ist, am Ende zu einer Klärung der Begriffe zu gelangen sowie zu einer Skizzierung der Aufgabenbereiche, die mit den jeweiligen Begriffen verknüpft werden. Der Weg dorthin führt über die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Gattungsbegriff und einem als „unspezifisch“ zu bezeichnenden Begriff der Erzählung. Um diesen Unterschied auch terminologisch zu fixieren, werde ich den zweiten Begriff mit dem Ausdruck „Erzählen“ bezeichnen. Dieser unspezifische Begriff des Erzählens steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Im dritten Abschnitt werde ich eine offene Liste von Merkmalen vorstellen, die mit dem Begriff des Erzählens in unterschiedlichen Traditionen verbunden werden. Der Zweck des Abschnitts besteht erstens darin, die Bandbreite dessen zu dokumentieren, was unter dem Begriff des Erzählens verstanden wird; denn seine Merkmale werden in unterschiedlichen Zusammensetzungen als kennzeichnend für ihn angesehen. Zweitens soll der Abschnitt meine These belegen, dass es in der Literaturwissenschaft keinen allgemeinen Begriff des Erzählens gibt; denn die jeweiligen Merkmalkombinationen bzw. Bedingungen, die an den Begriff des Erzählens gestellt werden, sind nicht nur zu unterschiedlich, auch die Minimalbedingung, zu der sich fast alle – aber nicht einmal alle – bekennen, existiert in ganz unterschiedlichen Fassungen – von den unterschiedlichen Zielen, die mit _____________ 2 3
Jahn (1995) weist auf die umgangssprachliche Doppeldeutigkeit des englischen Ausdrucks „narrative“ hin, unter dem man sowohl den erzählten Gegenstand als auch das Erzählprodukt verstehen kann. Ein Beispiel sind Ausdrücke wie „Filmerzählung“ oder „der Film erzählt von“.
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den Erzählbegriffen verfolgt werden, ganz zu schweigen. Aus diesem Grunde schlage ich vor, den Begriffstorso des Erzählens noch einmal zu differenzieren. Im vierten und fünften Abschnitt werde ich die Resultate dieser inhaltlichen Differenzierung vorstellen und im Hinblick auf die jeweiligen Zielvorgaben charakterisieren. Zunächst aber folgt zum Zwecke der Abgrenzung ein kurzer Abschnitt zum literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriff der Erzählung. 2. Erzählung als literarische Gattung Fragt man, was eine Erzählung sei, so könnte man zunächst folgende Antwort erhalten: Erzählungen sind literarische Texte, die durch ihren ungefähren Umfang bestimmt sind. Gemeint sind damit alle kürzeren oder mittellangen Texte im Unterschied zu Romanen. Manchmal ist „Erzählung“ auch eine Sammelbezeichnung für all jene literarischen kürzeren Texte, die keiner spezifischen Untergattung wie Novelle, Märchen, Kurzgeschichte zugerechnet werden (vgl. Schmeling & Walstra 1997b). In der Regel versteht man darunter Prosatexte; in Versen verfasste Erzählungen werden, um die Ausnahme kenntlich zu machen, „Verserzählungen“ genannt. Nach dieser Auffassung ist „Erzählung“ nichts anderes als eine im Einzelfall meist ungenaue, aber doch (halbwegs) spezifizierende Bezeichnung für eine Untergattung der Epik. Mal ist es ein ungefähres quantitatives Merkmal (‚Umfang‘), mal die Abwesenheit eines Merkmals (‚nicht Märchen‘, ‚nicht Roman‘). In der Literaturwissenschaft wird dieser Begriff, soweit ich sehe, heute selten reflektiert oder problematisiert. Gleichwohl ist er für das literarische Feld nicht unwichtig. Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963) wurde in der DDR mit dem Untertitel „Erzählung“ publiziert, im Westen zeitweise mit dem Untertitel „Roman“.4 Noch vertrackter ist es bei Brigitte Reimanns ausdrücklich ebenfalls so bezeichneter „Erzählung“ Ankunft im Alltag (1961), die in einer der gegenwärtig erhältlichen Ausgaben auf dem Umschlag den Untertitel „Roman“, auf dem Titelblatt aber die korrekte Bezeichnung „Erzählung“ trägt.5 Diese Verfahrensweise mag dem Verlagskalkül geschuldet sein, dass sich Romane besser als Erzählungen verkaufen. Dass aber diese Bezeichnungen nicht nur ökonomisch, sondern auch inhaltlich und damit interpretatorisch relevant sind, wird in diesen Fällen daran deutlich, dass mit dem Untertitel „Erzählung“ eine Absage an den _____________ 4 5
Vgl. die bibliographischen Angaben (S. 320) in Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Text und Kommentar. M. e. Kommentar v. Sonja Hilzinger. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Brigitte Reimann: Ankunft im Alltag. Berlin: Klaus Wagenbach, 2008.
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ästhetisch-ideologischen Anspruch signalisiert wurde, den man mit der Charakterisierung „Roman“ unweigerlich erhoben hätte. Gemäß der damals in der DDR gültigen Doktrin des Sozialistischen Realismus galten für Romane höhere Ansprüche mit Bezug auf die ideologische Ausrichtung und die Vollständigkeit des gesellschaftlichen Bildes, das in einem Werk gegeben wird. Entsprechend wurde Reimanns Untertitel dem (die verschiedenen gesellschaftlich wirksamen Kräfte nicht zur Gänze erfassenden) Inhalt für angemessen erklärt, während Karl-Heinz Jakobs’ etwa umfanggleiches, aber als „Roman“ ausgewiesenes Werk Beschreibung eines Sommers (1961) wegen der daraus resultierenden Unstimmigkeit eine kritische Beurteilung erfuhr (vgl. Strittmatter 1962). 3. Merkmale eines unspezifischen Begriffs des Erzählens Der im vorigen Abschnitt vorgestellte Begriff von Erzählung ist zumindest der Intention nach klassifikatorisch: Entweder etwas ist eine Erzählung oder nicht. Er dient dazu, das Gegenstandsgebiet zu systematisieren, ihm eine Ordnung zu geben (vgl. Strube 1993, 60). Demgegenüber reagiert der zweite Begriff auf die weithin anerkannte Feststellung, dass Erzählungen nicht nur literarische Texte sind, sondern einen viel umfangreicheren Texttyp konstituieren, zu der neben literarischen Erzählungen (mindestens) auch mündliche, nicht-fiktionale Texte gehören (vgl. Schmeling & Walstra 1997a).6 Dieser Begriff trägt der Beobachtung Rechnung, dass Erzählen zuallererst eine menschliche Handlung ist und der Ausdruck „Erzählung“ zur Bezeichnung des Produkts dieser Handlung eine lexikalische Ableitung darstellt. Infolge dieser Sichtweise war es geboten, Merkmale anzugeben, die einzelne Vertreter dieses Texttyps notwendig kennzeichnen und von anderen Texttypen unterscheiden. Dieser Begriff wird nicht – jedenfalls nicht nur – klassifikatorisch verwendet, sondern auch komparativ. Als solcher ist er ein typologischer Begriff mit einer offenen Liste von Merkmalen. Bezeichnend ist, dass in diesem Zusammenhang häufig auch vom „Erzählen“ gesprochen wird, weniger von „Erzählungen“. ‚Erzählen‘ als typologischer Begriff dient dazu, einen Text im Hinblick darauf zu erfassen, inwiefern oder in welchem Maß er unter diesen Begriff fällt, welche Merkmale er aufweist, welche nicht. Zugleich wird aber auch dieser Begriff dazu genutzt, einen Gegenstandsbereich zu umreißen, z. B. den Gegenstandsbereich der Narratologie. _____________ 6
Je nach dem, was man unter Text versteht, können darunter auch visuelle Texte fallen. Chatman (1990) z. B. zählt Filme zu Texten, weil sie im Gegensatz zu Gemälden bzw. Einzelbildern aus Bildsequenzen bestehen.
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Der logisch-semantische Status der einzelnen Merkmale, die im Folgenden aufgeführt werden, ist jeweils unterschiedlich. Manchmal dienen sie der klassifikatorischen Abgrenzung von nicht-erzählenden Texten, manchmal der näheren Charakterisierung eines Texttyps. Häufig sind sie als Bestandteile notwendiger Bedingungen des Begriffs des Erzählens konzipiert, aber ein Konsens darüber existiert offensichtlich nicht. 3.1. Vergangenheit Für Wilhelm Scherer, einen der führenden Germanisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist ein Merkmal von Erzählungen, „daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem handeln […]“ (1888, 163). Der von ihm als „Erzählung“ bezeichnete Begriff dient ihm dabei zunächst als Oberbegriff, der weiter als der traditionelle Begriff der Epik ist und den inneren Zusammenhang zwischen nur äußerlich unterschiedenen Textformen wie versifizierten Epen und Prosa-Romanen kenntlich machen soll. Zum anderen begründet er den Unterschied zur Lyrik und Dramatik, die nach Scherer (1888, 166) jeweils „Darstellung des Gegenwärtigen“ bzw. (im Falle der Lyrik) auch des Künftigen sind. Lyrische, d. h. nach Scherer „persönliche“ Passagen berechtigen nicht, einen Text der Lyrik zuzuschlagen, wenn darin von Vergangenem die Rede ist: „Unzählige Liebeslieder sind demzufolge nichts Anderes als kleine Erzählungen und […] aus der Lyrik in das Epos [sic!] zu übernehmen“ (1888, 164 f.). Daher darf Scherer (1888, 166) auch über das Epigramm sagen, dass es „erzählend sein“ könne, sofern es nicht von Gegenwärtigem handelt. Dieses Merkmal findet heute kaum noch Berücksichtigung, wenngleich es hier und da noch am Rande erwähnt wird (vgl. Stanzel 1979, 43). Es geht auf Goethe & Schiller (1797) zurück, deren Begriffsbestimmungen für die im 19. Jahrhundert entstehende deutschsprachige Literaturwissenschaft wegweisend waren.7
_____________ 7
Charakteristischerweise zeichnet sich ihr Beitrag durch die Kombination von klassifikatorischen (hier Epik, dort Dramatik) und komparativen (mehr oder weniger) Komponenten aus. Zur Entstehungsgeschichte der Gattungstrias und ihrem Zusammenhang mit der Antike-Rezeption im Humanismus vgl. Trappen (2001).
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3.2. Mittelbarkeit (sprachlich) Ungleich wichtiger ist ein Merkmal, das ebenfalls am Rande schon bei Scherer (1888) zu finden ist und das unter der Bezeichnung „Mittelbarkeit“ in dem österreichischen Anglisten Franz K. Stanzel einen prominenten Fürsprecher gefunden hat. Dieser und verwandte Bestimmungsversuche sind ebenfalls durch die Überlegung motiviert, die drei literarischen Großgattungen voneinander abzugrenzen. Da sowohl dramatischen wie auch epischen Werken eine „Fabel“ zugrunde liegt, muss ihr Unterschied woanders zu suchen sein.8 Auf der Suche nach einem Abgrenzungskriterium, das zugleich das Spezifikum der Epik darstellt, gelangt bereits Käte Friedemann zu der Einsicht, dass die Besonderheit der Epik in der (mitunter unausgesprochenen) Anwesenheit eines „Erzählers“ liegt, einer Vermittlungsinstanz also, die die Einheit einer Erzählung verbürgt. Dieser Erzähler muss keine Figur der erzählten Welt sein, sondern ist nach Friedemann eine Instanz, durch die „nur die erkenntnistheoretische Tatsache der Wahrnehmung der Welt durch ein betrachtendes Medium versinnbildlicht wird“ (1910, 40).9 In Stanzels Worten: „Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme eines Erzählers hörbar“ (1979, 15). Es wird in dieser Formulierung deutlich, dass Mittelbarkeit allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Erzählungen sein kann, sofern man neben der Erzählung noch andere Formen der Nachrichtenübermittlung gelten lässt. Doch für Stanzel ist das Kriterium der Mittelbarkeit tatsächlich das einzige Merkmal von Erzählungen, nicht ein zusätzliches. Denn es kommt ihm auf die Abgrenzung seines Ansatzes von solchen an, die Ereignisse für konstitutiv halten. Um seine These zu erhärten, weist er auf Textformen hin, die seiner Meinung nach zwar von Ereignissen oder Geschichten handeln, aber nicht erzählen: Synopse bzw. Inhaltsangabe, Kapitelüberschrift und Entwurf. In diesen Textsorten werde, so Stanzel, die Mittelbarkeit stark – bis gegen Null – reduziert, weshalb man sie nicht mehr als Erzählungen charakterisieren könne. Bei Friedemann hingegen, die nur literarische Texte berücksichtigt, sind Formulierungen zu finden, die Mittelbarkeit als ein ausnahmslos geltendes Merkmal festzuschreiben scheinen. So gebe es zwar auf den ersten Blick erzählerlose Texte, doch wolle der Erzähler bei seinen Adressaten _____________ 8
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Auf durchaus fragwürdige Weise wird in dieser Tradition die Lyrik ausgeklammert: „Da die Lyrik keinen Geschehnisinhalt hat, kann es in ihr keine Fabel geben. In allen pragmatischen Formen aber, also in den Formen der Dramatik und Epik, ist sie zwangsmäßig da“ (Kayser 1948, 79). In der Folge Genettes (1972) differenziert man zwischen der Wahrnehmung in der erzählten Welt und der Erzählung von der erzählten Welt.
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nur den Eindruck erwecken, „nach Möglichkeit seine Gegenwart zu vergessen“ (1910, 47).10 Tatsächlich aber kennt auch sie Ausnahmen, also nicht-dramatische bzw. nicht-lyrische literarische Texte, die sich auch nicht durch das Phänomen der Mittelbarkeit auszeichnen. Über (später so genannte) autonome innere Monologe wie Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) sagt sie, hier werde „überhaupt nicht mehr erzählt“ (1910, 49). Ebenso sind für Friedemann Texte, die nur aus direkter Figurenrede bestehen bzw. (wie manche naturalistische Erzählungen) außerdem nur an „Regiebemerkung[en]“ erinnernde Passagen enthalten, „dramatisch-unvermittelt“ (1910, 160 f.). Während also Stanzel allen Texten, die (für ihn) nicht das Merkmal der Mittelbarkeit aufweisen, kurzerhand das Prädikat „ist eine Erzählung“ abspricht, lässt Friedemann diese Frage offen. Ihr gehört das Verdienst, dieses Merkmal für die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie fruchtbar gemacht und ihm einen zentralen Stellenwert zugewiesen zu haben. Das Wegweisende ihres Vorschlags ist, dass die vielfältigen Verfahren, die bei der erzählerischen Vermittlung (einer Geschichte) zur Anwendung kommen, den Inhalt ihrer Theorie ausmachen. Diesem Ansatz folgen alle von Stanzel bis Genette und darüber hinaus, in deren Untersuchungsfokus die Beziehungen der Erzählinstanz zur erzählten Welt stehen. Wie immer man zu der begrifflichen Frage bzgl. des Status des Merkmals der Mittelbarkeit steht – dass die Art und Weise, in der Texte und speziell Erzähltexte verfasst sind, von zentraler Bedeutung für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit ihnen sind, wird kaum jemand abstreiten. 3.3. Epizität Wie schon Scherer und Friedemann, so geht es auch Robert Petsch darum, einen gemeinsamen Begriff für Prosa-Romane und versifizierte Epen zu finden, der die Beibehaltung der literaturwissenschaftlichen Gattungstrias sichert. Dabei setzt er neue Akzente. Im Stil der klassischen Definition nennt Petsch zum einen das genus proximum: „‚Bericht‘“, schreibt er (1934, 33), „ist ein weiterer Begriff als ‚Erzählung‘.“ Seinen folgenden Ausführungen gemäß ist ein Bericht immer auf einen „Vorgang“ bezogen, der „sich aus dem Flusse des Gesche_____________ 10
Vgl. die ähnliche konjunktivische Formulierung (1910, 157), wonach der Leser bei direkter Figurenrede und dem dadurch bedingten Verstummen des Erzählers den Eindruck erhalte, „als träten ihm die Gestalten unmittelbar gegenwärtig […] entgegen“, die die Ergänzung zu erfordern scheint, in Wirklichkeit aber behalte der Erzähler im Hintergrund die Stricke stets in der Hand.
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hens als eine immerhin geschlossene Einheit“ isolieren lässt (1934, 34). Wenn nun Erzählungen zur übergeordneten Gattung des Berichts gehören, so benötigt Petsch zum anderen noch eine Angabe zur differentia specifica, also der speziellen Arteigenschaft, die Erzählungen vor anderen Berichten auszeichnet. Diese unterscheidende Eigenschaft besteht nach Petsch in der künstlerischen Darstellung. „Erzählung“ verwendet er synonym mit „epischer Darstellung“. Seine vollständige Definition lautet: „Episch ist die geistige Auffassung und die wortkünstlerische Darstellung eines spannenden Vorgangs im Lichte seiner menschlichen Bedeutung und unter der Form des ästhetisch wirksamen Berichts“ (1934, 33). Wie man unschwer sieht, verbindet Petsch noch weitere Eigenschaften mit Erzählungen. Etwas transparenter formuliert und unter Einklammerung der Wiederholungen, lautet Petschs Definitionsvorschlag folgendermaßen: x ist episch/eine Erzählung [genau dann], wenn x ein Bericht ist, der von einem Vorgang handelt, der spannend ist, eine menschliche Bedeutung hat [= geistig aufgefasst] und dessen Form ästhetisch wirksam ist [= wortkünstlerisch dargestellt]. Zu beachten ist, dass dieser Vorschlag zwischen Eigenschaften des Erzählten und der Erzählung unterscheidet. Das Erzählte – also der Vorgang – soll spannend sein und eine menschliche Bedeutung haben, die Erzählung – die Form – aber ästhetisch dargestellt sein und wirken. Petschs Vorstellung besteht darin, dass eine Erzählung ihrer Anlage nach immer über ihren Informationswert hinausgeht. Schon sein Alltagsverständnis von „Erzählung“ enthält diesen Zusatz: Unter ‚Erzählung‘ verstehen wir schon im gewöhnlichen Leben eine zusammenhängende Mitteilung von vergangenen Tatsachen, die sich über die bloße ‚Nachricht‘ erhebt und wenigstens nebenher ästhetisch wirken kann (1934, 1).
Während ein [idealer] Bericht nach Petsch rein sachorientiert ist, manifestieren sich in der sprachlichen Vorgangsdarstellung umso mehr weitere Merkmale, je besser das Prädikat „Erzählung“ auf sie zutrifft. Diese Merkmale vermag Petsch nur anzudeuten, denn „eine geistige Form wie ‚Das Epische‘“ rage „[…] mit ihren wesentlichen Zügen überall in das Gebiet des Irrationalen hinein“ (1934, 33). Was Petsch mit „menschlicher Bedeutung“ und „ästhetischer Wirksamkeit“ umschreibt, ist demnach sprachlich nicht endgültig fassbar. Es kann daher nicht überraschen, dass er diese Merkmale nicht weiter aufschlüsselt. Sie sind Platzhalter für dasjenige, was sich laut Petsch nicht explizit machen lässt, aber jeder Erzählung mitgegeben ist. „Epizität“ ist somit eine sprachmystische Bestimmung des Erzählbegriffs. „Die ‚epische Atmosphäre‘“ sei der „Dunstkreis, der sich um den Erzähler herum bildet und die Einbildung des Hörers anregt durch eine merkwürdige Verkür-
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zung und Umlagerung der wirklichen Vorgänge, von denen erzählt wird“ (1934, 8).11 Wie sich zeigen wird, unterscheiden sich die meisten Varianten des Begriffs des Erzählens gerade dadurch voneinander, dass sie der referentiellen Begriffskomponente (Vorgang, Ereignis) mindestens eine weitere, jeweils andere Komponente beifügen. 3.4. Zustandsveränderung und Temporalität So fragwürdig Petschs Bestimmung der Epizität ist, so zukunftsweisend ist zumindest die von ihm genannte Eigenschaft von Erzählungen, der gemäß sie sich auf (mindestens) einen Vorgang beziehen. Die Minimalbedingung schlechthin ist die temporale Organisation des Erzählten. Bei Friedemann und Stanzel ist sie von untergeordneter Bedeutung (bzw. wird gar nicht eigens benannt), weil diese Autoren ihre Erzählbegriffe vor allem an der Gattungstrias ausrichten und das Merkmal der Temporalität ihnen ungeeignet erscheint, Epik bzw. Erzählung von Dramatik, mitunter auch von Lyrik zu unterscheiden. Bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Stanzel 1979, Fludernik 1996) besteht heute ein Konsens darüber, dass die Vermittlung von Zustandsveränderungen eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass etwas unter den Begriff des Erzählens fällt. Doch herrscht schon bei der genauen Fassung dieses Merkmals Uneinigkeit. Allein die Temporalität des Dargestellten scheint den meisten Autoren nicht zu genügen. Es muss ein Zusammenhang zwischen den temporal miteinander verknüpften Elementen bestehen. Wolf Schmid (2005, 4) formuliert: „Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird.“ Er fügt hinzu, dass die Veränderung des Ausgangszustands nicht explizit dargestellt sein müsse: „Für die Narrativität ist hinreichend, wenn die Veränderung impliziert wird, etwa durch die Darstellung von zwei miteinander kontrastierenden Zuständen“ (ebd.). Notwendig hingegen sind nach Schmid außer der temporalen Beziehung der beiden Zustände auch die Identität des Gegenstands, an dem sich die Veränderung vollzieht, sowie der die Veränderung ausmachende Wechsel einer oder mehrerer Eigenschaften. Auch für Gérard Genette (1972, 18 f.) ist die Zustandsveränderung (Ereignis) das Kriterium einer Minimalerzählung, und wie Schmid setzt Genette voraus, dass nicht alle Etappen der Zustandsveränderung explizit dargestellt sein müssen. Allerdings verzichtet er auf die von Schmid vor_____________ 11
Vgl. hierzu auch Martínez 1997.
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genommene Einschränkung, wonach eine Zustandsveränderung durch den Austausch (mindestens) einer Eigenschaft markiert sein muss. Stattdessen akzeptiert Genette nicht nur Ereignisse, sondern auch Verläufe als Merkmale von Erzählungen, wobei Verläufe, streng genommen, sich dadurch auszeichnen, dass gerade kein Zustandswechsel vorliegt. Mithin begnügt sich Genette mit der bloßen Temporalität des Dargestellten als Merkmal: Für mich liegt, sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Veränderung, einen Übergang vom Vorher zum Nachher. ‚Ich gehe‘ setzt einen Anfangs- und einen Endzustand voraus (1983, 202).
Historisch gesehen, wurzeln diese Bestimmungen in der strukturalistischen Auffassung von Erzählungen, der gemäß sie medienindifferente Artefakte sind (vgl. Barthes, Bremond, Todorov). Doch beide, Schmid und Genette, begnügen sich nicht damit. Schmid (2005, 3) unterscheidet von diesem weiteren Begriff des Narrativen einen engeren Begriff, dessen zusätzliches Merkmal die bereits angesprochene Mittelbarkeit ist. Um die beiden Begriffe auch terminologisch voneinander zu unterscheiden, schlägt er (2005, 9) im Anschluss an Chatman (1990, 115) zudem vor, den weiten Begriff „narrativ“ zu nennen und den engen „erzählend“. Ähnlich verfährt auch Genette, der, zunächst (1972, 17) noch zwischen Narrativität (Zustandsveränderung) und Diskursivität (Mittelbarkeit) unterscheidend, später (1983, 201) das Merkmal der Diskursivität/Mittelbarkeit in den Begriff des Narrativen aufnimmt. 3.5. Kausalität Seit Edward Morgan Forsters Aspects of the Novel (1927), worin zwischen story und plot unterschieden wird, gilt manchen Autoren Kausalität als zusätzliches Definiens von Erzählungen. Wie viele geht auch Forster vom Roman aus und weist in seiner Darstellung, wie der Titel schon sagt, auf mehrere Aspekte hin, von denen story und plot nur zwei sind.12 Story hebt auf die temporale Struktur ab, wobei Forster nicht zwischen Erzählen und erzählter Geschichte unterscheidet: „[T]he basis of a novel is a story, and a story is a narrative of events arranged in time sequence“ (1927, 31). Ein plot weist demgegenüber eine Eigenschaft auf, die dieser Basis zusätzlich zukommt. Der Begriff ist damit anspruchsvoller, denn er enthält ein Merkmal mehr: „A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality“ (1927, 82). Genau genommen, scheint sich Forster gar kei_____________ 12
Weitere sind: people, fantasy, prophecy, pattern and rhythm.
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nen „narrative“ vorstellen zu können, dessen „events“ nicht kausal miteinander verknüpft sind. Kausalität, so könnte man ihm unterstellen, liegt immer vor, im plot wird sie gegenüber der story nur besonders herausgestellt. Schon Boris Tomaševskij (1925) hält Kausalität für eine notwendige Bedingung einer Geschichte („fabula“): Es ist zu betonen, dass die Fabel nicht nur temporal, sondern auch kausal gekennzeichnet ist. […] Je schwächer die Kausalverbindung, desto stärker prägt sich die rein temporale Verbindung aus. Vom Fabelroman gelangen wir so, nach dem Maß der Abschwächung der Fabel, zur Chronik – der Beschreibung in der Zeit […].13
In dieser Formulierung wird deutlich, dass nach Tomaševskij das eigentliche Erzählen eine Funktion der dargestellten Kausalität ist; denn mangelnde Kausalität führt dieser Ansicht nach zu Beschreibungen (sein Beispiel sind Reisebeschreibungen, die zwar temporal strukturiert sind, aber – nach Tomaševskij – nicht kausal). Der Begriff der Beschreibung dient hier ebenso zur Abgrenzung von Erzählungen wie bei Michail Petrovskij (1925), dessen Abgrenzungskriterium jedoch nicht Kausalität, sondern Temporalität ist, die Beschreibungen mangelt. 3.6. Sequenzialität Gerald Prince (1973) knüpft mit seinem Definitionsversuch (wenigstens indirekt) an Tomaševskij und Forster an, indem er – zusätzlich zur temporalen Bestimmung – eine die Ereignisse miteinander verknüpfende Kausalrelation als notwendigen Bestandteil von Erzählungen annimmt. Darüber hinaus führt er noch eine weitere Komponente an, die das Erzählte – die story – auszeichnen soll: We can now define a minimal story as consisting of three events, the third of which is the inverse of the first. The three events are conjoined in such a way that (a) the first event precedes the second in time and the second precedes the third, and (b) the second event causes the third (1973, 28).
Neben Temporalität und Kausalität der (sprachlich oder anders) dargestellten Ereignisse fordert Prince, dass die Ereignisse derart aufeinander bezogen seien, dass ein Ereignis einer Reihe konträr zu einem vorherge-
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«Следует подчеркнуть, что для фабулы требуется не только временный признак, но и причинный. […] Чем слабее эта причинная связь, тем сильнее выступает связь чисто временная. От фабульного романа, по мере ослабления фабулы, мы приходим к "хронике" — описанию во времени […]» (1925, 136).
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henden Ereignis dieser Reihe sei.14 Nach Prince (ebd.) ist es gerade dieses Merkmal, das [fiktionale oder literarische?] Erzählungen (“discourse representing a story”) von historiographischen Erzählungen (“historical discourse”) unterscheidet, denn letztere sollen sich ja an die historische Wahrheit halten, deren Ereignisfluss nicht immer in dieser Art sequenziert ist. Unter dieses Merkmal fallen auch viele andere strukturalistische Ereignisdefinitionen, die Sequenzialität allerdings anders, z. B. wie Bremond (1973), durch Möglichkeit definieren. 3.7. Fiktionalität und Konstruktivität In Prince’ Formulierung deutet sich ein Unterschied an zwischen einem Begriff des literarisch-künstlerischen Erzählens und einem allgemeinen Begriff des Erzählens. Seine Ausführungen lassen den Schluss zu, dass das unausgesprochene Kriterium für diesen Unterschied die Fiktionalität von Texten ist. Hier tritt ein Konflikt zu Tage, der aus dem Einfluss strukturalistischer Überlegungen auf die Literaturwissenschaft entstanden ist. Denn einerseits legt die Literaturwissenschaft traditionell ihren Reflexionen über den Erzählbegriff einen Begriff des literarisch-künstlerischen Erzählens zugrunde (weil das einer ihrer bevorzugten Gegenstände ist bzw. lange war); andererseits aber zielt die gerade durch den Strukturalismus stark inspirierte Erzähltheorie auf einen allgemeinen Begriff des Erzählens, der alle Formen erfasst, seien sie nun künstlerisch oder nicht. Fiktionalität wird mitunter für ein Merkmal künstlerischen oder dichterischen Erzählens gehalten, mit dem dieses z. B. von Alltagserzählungen abgegrenzt werden kann (vgl. Martínez/Scheffel 1999, 14; Weber 1998). Diese Konzeption ist inspiriert von Käte Hamburger (1957) und zielt auf die Bestimmung eines speziellen literaturwissenschaftlichen Begriffs. Hamburger spricht zwar auch von Ich-Erzählungen (die sie nicht als „fiktional“, sondern als „fingiert“ bezeichnet). Aber sie hält den Unterschied zwischen Ich- und Er-Erzählungen für so groß, dass sie sie nicht einer Gattung (der fiktionalen oder mimetischen Gattung, die in ihrem System die Epik ersetzt und außer der Er-Erzählung auch Drama und Film umfasst) unterbringt, sondern die Ich-Erzählung als Sonderform ausklammert. Der Unterschied zwischen Drama und Er-Erzählung wiederum wird _____________ 14
Damit bewirkt dieses Kriterium, dass erst dann von Narrativität die Rede sein kann, wenn mehrere Einzelereignisse auf bestimmte, nämlich konträre Weise, aufeinander bezogen sind und eine Sequenz entsteht. Diese Bedingung ist sehr stark, denn damit ist nichts anderes gesagt, als dass in einer narrativen Ereignisfolge einem Gegenstand zwei Eigenschaften zugeschrieben werden müssen, die er nicht gleichzeitig haben kann.
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durch die „Form“ der „Erzählfunktion“ begründet, die nach Hamburger (1957, 154) im Drama „gleich null“ ist. Vor diesem Hintergrund ist Hamburgers Erzählfunktion zugleich das Charakteristikum bzw. das charakterisierende Merkmal ihres Erzählbegriffs: Seine [des Erzählens] Fiktivität, d. i. seine Nicht-Wirklichkeit bedeutet, daß es nicht unabhängig von dem Erzählen existiert, sondern bloß ist kraft dessen, daß es erzählt, d. i. ein Produkt des Erzählens ist. Das Erzählen, so kann man auch sagen, ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion, die der erzählende Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel. Das heißt, der erzählende Dichter ist kein Aussagesubjekt, er erzählt nicht von Personen und Dingen, sondern er erzählt die Personen und Dinge […] (1957, 113).
Die Frage ist natürlich, ob Fiktionalität hier nicht viel eher Merkmal des Künstlerischen ist als des Erzählens. Gemeint ist es aber offensichtlich als Merkmal des Erzählens. Hamburger geht sogar so weit, Einlassungen eines Erzähl-Ich, das nicht Teil der erzählten Geschichte bzw. auch nicht der erzählten Welt ist (heute nach Genette „heterodiegetische“ Ich-Erzählinstanzen genannt), aus der Er-Erzählung zu verbannen und damit die Werkeinheit zu sprengen. Eine solche Passage hält sie für eine Ich-Erzählung, „die außerhalb des Romans bleibt“ (1957, 266). Ich-Erzählungen sind für sie Aussagenreihen mehr oder weniger fingierenden Charakters, die ihrer Struktur nach Behauptungen bzw. „Wirklichkeitsaussagen“ sind, und entbehren dementsprechend der Charakteristika von Hamburgers Erzählbegriff im Sinne der sog. Erzählfunktion.15 Das Funktionale des Erzählbegriffs von Hamburger besteht in speziellen Mitteln wie der erlebten Rede oder der pragmatisch nicht eingeschränkten oder sanktionierten Zuschreibung von Verben innerer Vorgänge (wie z. B. „glauben“, „lieben“, „hoffen“) an dritte. Wenngleich sich gegen die These von der textuellen Identifizierbarkeit der Fiktionalität viel Widerspruch regte, ist Fiktionalität als Merkmal von Erzählungen nicht völlig verabschiedet worden und taucht in modifizierter Form wieder auf (s. u. das Merkmal Subjektivität). Fiktionalität kann außerdem ein Merkmal des Erzählbegriffs jener Positionen sein, die Erzählungen ein konstruktives Moment zuschreiben und ihren Begriff der Konstruktion dergestalt definieren, dass wer erzählend konstruiert, immer auch etwas der Realität hinzuerfindet. Diese Positionen ebnen den Unterschied zwischen Realem und Fiktivem ein. Konstruktivität als Merkmal von Erzählungen ist verbreitet unter kognitivistisch beeinflussten Autoren. Marie-Laure Ryan (2006, 6) nennt _____________ 15
Man könnte sogar sagen, dass für Hamburger Ich-Erzählungen gerade keine Erzählungen in ihrem speziellen Sinne sind. Zumindest gibt sie kein Kriterium an, mit dem sich Ich-Erzählungen von anderen Wirklichkeitsaussagen unterscheiden lassen.
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„world-construction“ neben „action, temporality, causality“ als viertes „semantic feature“ ihres Begriffs von „narrative“. Das entscheidende Charakteristikum dieses Merkmals ist, dass auch das Erzählte als eine Repräsentation aufgefasst wird: Story, like narrative discourse, is a representation, but unlike discourse it is not a representation encoded in material signs. Story is a mental image, a cognitive construct that concerns certain types of entities and relations between these entities (Ryan 2006, 7).
Daher kann Ryan (2006, xii) allgemein auch von „narrative“ als einem „type of meaning“ sprechen. Diese Position impliziert, dass dasselbe, was mit einer story gesagt werden kann, auch auf andere Art und Weise geäußert werden könnte. Allerdings fehlen Angaben darüber, mit welchen anderen Arten von Bedeutung bzw. Repräsentationen story koordiniert ist, d. h. worin sich das narrative Moment von „world-construction“ von anderen unterscheidet und was es überhaupt noch für Arten von „worldconstruction“ gibt. Ein anderes Problem besteht darin, dass dieses Merkmal nicht spezifisch für Erzählen ist, sondern alle Arten von Äußerungen betrifft, die die Wirklichkeit zum Gegenstand haben und diese nicht in all ihren Facetten erfassen können. 3.8. Ereignishaftigkeit/Erzählwürdigkeit Wie sich die Merkmale Subjektivität (3.9.) und Konstruktivität (3.7.) vor allem dem Einfluss anderer Disziplinen verdanken (vgl. Bruner 1991), so ist auch das Merkmal der Erzählwürdigkeit von anderen Disziplinen eingebracht worden (vgl. ebd. und Labov & Waletzky 1967). In der Folge Jurij Lotmans gibt es aber auch genuin literaturwissenschaftliche Ansätze (vgl. Renner in diesem Band). Schmids (2003) emphatischer Ereignisbegriff sorgt dafür, literarisch wichtige von trivialen Ereignissen und damit literarische von nicht literarischen Erzählungen zu unterscheiden. Später (2005) gibt er zwar Ereignishaftigkeit als Merkmal seines Erzählbegriffs zugunsten der (nicht-emphatischen) Zustandsveränderung wieder auf und trennt zwischen Narrativität und Ereignishaftigkeit. Doch ist das Merkmal Ereignishaftigkeit ein gutes Beispiel dafür, dass in der Literaturwissenschaft außer präzisen auch analyseträchtige Eigenschaften für die Angemessenheit von Begriffen sorgen können. Merkmale der Ereignishaftigkeit nach Schmid (2005) sind die notwendigen Bedingungen Faktizität und Resultativität sowie die fünf weiteren gradierbaren Merkmale Relevanz, Imprädiktabilität, Konsekutivität, Irreversibilität und Non-Iterativität.
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3.9. Subjektivität Nach Monika Fludernik (1996, 12) wird Narrativität konstituiert durch „experientiality, namely by the quasi-mimetic evocation of ‚real-life experience‘“. Erlebnishaftigkeit setzt Fludernik (1996, 26-28) sowohl gegen das Merkmal der Vermitteltheit von Erzähltexten als auch gegen das Merkmal der Ereignishaftigkeit bzw. Zustandsveränderung. Mit Verweis auf eine Definition des Filmwissenschaftlers Edward Branigan versteht sie Narrativität als kognitive Aktivität. Erlebnishaftigkeit, so Fludernik (1996, 30), sei wiederum charakterisiert vor allem durch ein Merkmal, das sie „embodiment“ nennt und für grundlegend für alle anderen Merkmale (z. B. Handlung) hält, die sonst für Erzählungen geltend gemacht werden: Embodiedness evokes all the parameters of a real-life schema of existence which always has to be situated in a specific time and space frame, and the motivational and experiential aspects of human actionality likewise relate to the knowledge about one’s physical presence in the world. […] Narrativity can emerge from experiential portrayal of dynamic event sequences which are already configured emotively and evaluatively, but it can also consist in the experiential depiction of human consciousness tout court. Any extended piece of narrative relies on both of these building stones. Most basic forms of narrative are exclusively built on an action schema, but acting and thinking are equally part and parcel of the dynamic human predicament of living in a world with which one inevitably interacts (1996, 30).
Anders, kürzer gesagt: „Neither existence per se nor plot per se constitute narrativity, but the crucial factor is that of human immundation, of situational embodiment“ (1996, 311). Fluderniks Ziel ist, mit ihrem Konzept mehr erfassen zu können als mit dem ereignisbezogenen Erzählbegriff (vgl. Fludernik 1996, 27). Dieser kann in ihren Augen nicht alle Spezifika der Erzählliteratur und des mündlichen Erzählens abdecken. Der wohl für die meisten kontraintuitive Preis ihrer Ansicht ist aber der, dass sie historiographische Texte, weil sie in der Regel keine Bewusstseinsdarstellungen enthalten, nicht für erzählend halten kann, wenn sie Erlebnishaftigkeit für eine notwendige Bedingung des Erzählens hält (vgl. Fludernik 1996, 26). Fluderniks Konzeption ist verwandt mit zwei anderen. Zum einen ist Subjektivität eines von Hamburgers Symptomen von Fiktionalität.16 Zum anderen ist die Empfindung eines Zustands Bestandteil älterer Lyrikdefinitionen (im Unterschied zum Erzählen als Merkmal der Epik).17 Ob ihre _____________ 16
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„Die epische Fiktion ist der einzige sowohl sprach- wie erkenntnistheoretische Ort, wo von dritten Personen nicht oder nicht nur als Objekten, sondern auch als Subjekten gesprochen, d. h. die Subjektivität einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann“ (Hamburger 1957, 115). „Wo uns etwas erzählt wird, da handelt es sich um Epik […], und wo ein Zustand empfunden und von einem ‚Ich‘ ausgesprochen wird, um Lyrik“ (Kayser 1948, 332).
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Konzeption die etablierten Merkmale ergänzen oder gar ablösen wird, bleibt abzuwarten. *
Die vorgestellten Merkmale sollen demonstrieren, wie variantenreich das Spektrum dessen ist, was unter dem Begriff des Erzählens verstanden wird. Was sie verbindet, ist allein, dass sie den Begriff des Erzählens im groben Sinne einer „Schreibweise“ charakterisieren sollen: Mit ‚Schreibweise‘ sind ahistorische Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw. gemeint, mit ‚Gattung‘ historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen, wie z. B. Verssatire, Roman, Novelle, Epos usw. […] (Hempfer 1973, 27).
Nicht alle Merkmale dieses Schreibweisenbegriffs des Erzählens haben denselben definitorischen Status. Die wenigsten Konzeptionen sind so durchdacht wie Prince’ (1973), der eine Menge von notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für Erzählen formuliert.18 Stattdessen begnügen sich die meisten Konzeptionen mit der Angabe einer notwendigen Bedingung, die manchmal von einer weiteren Bedingung ergänzt wird, deren Status häufig unklar ist, weil sie nicht dazu dient, den Begriff zu definieren, sondern dazu, den Gegenstandsbereich des jeweiligen Untersuchungsinteresses einzuschränken. Im Resultat wird von den meisten Autoren zunächst ein weiter Begriff definiert, dann aber für literaturwissenschaftliche Zwecke eingeengt. Auffällig ist, dass den vielen gegenstandsbezogenen Merkmalen (wobei das Merkmal Zustandswechsel die meiste Akzeptanz besitzt) nur ein darstellungsbezogenes Merkmal (Mittelbarkeit) gegenübersteht, das viele Konzeptionen gänzlich unberücksichtigt lassen, weil es die Extension des Begriffs auf sprachliche Produkte festlegt.19 Diese Festlegung ist nicht allen willkommen, weil es ihnen darum geht, den Begriff des Erzählens freizuhalten für alle Produkte, die ein Geschehen – sei es sprachlich, sei es bildlich oder pantomimisch – darstellen (vgl. stellvertretend für viele Barthes 1966 und Ryan 2006). Um die Vielfalt der Merkmale zu sortieren, bietet sich die Möglichkeit an, wie Schmid (2005) einen weiten von einem engeren, d. h. sprachlichen Begriff des Erzählens zu unterscheiden und diesen Unterschied auch ter_____________ 18 19
Wobei die Schwäche der Definition darin besteht, dass sie von vielen als zu eng beurteilt wird und dass Prince’ Intuitionen, mit denen er Minimalerzählungen von Nicht-Erzählungen unterscheidet, nicht von allen geteilt werden. Gegenstandsbezogen sind solche Merkmale, die sich auf eine Eigenschaft des Erzählten beziehen; darstellungsbezogen solche, die sich auf eine Eigenschaft der Erzählung bzw. des Erzählens beziehen.
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minologisch zu fixieren. Das sprachliche Erzählen wäre dann ein Unterbegriff des medienindifferenten Erzählens, wie Fahrrad ein Unterbegriff zu Fahrzeug ist. Diesen Vorschlag möchte ich aufgreifen, aber mit der Frage verknüpfen, ob Hyponomie die angemessene Begriffsrelation ist. Denn: Erzählen ist zunächst einmal eine sprachliche Handlung. Nichtsprachliche Handlungen bzw. deren Resultate mit demselben Wort zu bezeichnen ist die Folge einer Bedeutungsübertragung. Wenn aber eine solche Bedeutungsübertragung vorliegt, ist es auch angemessen, von zwei Bedeutungen, also von zwei intrinsisch verschiedenen Begriffen zu sprechen, nicht nur von einer hyponymen Begriffsrelation. Anders gesagt, das Verhältnis der beiden Begriffe ist nicht metonymisch, sondern metaphorisch. Die Schwierigkeit, eine medienindifferente Narratologie zu entwickeln, dürfte mit ebendieser Verwechslung eines metonymischen mit einem metaphorischen Begriffsverhältnis zu erklären sein. Über das Unterscheidungskriterium zwischen beiden Begriffen, das im Merkmal der sprachlichen Mittelbarkeit besteht, herrscht großes Einvernehmen. Was mit der Konzeption des medienindifferenten Erzählens als Oberbegriff vorausgesetzt wird, ist die narrative und damit narratologische Homogenität der verschiedenen Medien. Genau dies aber kann bezweifelt werden. Sprachliche Ereignisvermittlung ist die Voraussetzung und nicht ein Spezialfall des medienindifferenten Erzählbegriffs. Da dieser im Wesentlichen eine Erfindung des Strukturalismus und nicht rein sprach-, sondern zeichentheoretisch motiviert ist, nenne ich ihn den semiotischen Begriff des Erzählens.20 Für eine Differenzierung in diesem Sinne sprechen überdies die unterschiedlichen Zielsetzungen, auf die ich noch zu sprechen komme. Eine weitere Möglichkeit ist, – wie Strube (1993, 63) mit Bezug auf den Begriff des Epischen – einen klassifikatorischen von einem typologischen Begriff des Erzählens zu unterscheiden. Zwar beanspruchen die meisten Ansätze, Texte und nicht-sprachliche Ereignisdarstellungen danach klassifizieren zu können, ob sie erzählend sind oder nicht; doch stoßen fast alle diese Ansätze auf die Schwierigkeit, dass die anhand von einzelnen Beispielsätzen (oder -szenen) gewonnenen Merkmale nicht einheitlich in den als erzählend eingestuften Darstellungen realisiert sind. Als erzählend eingestufte Darstellungen weisen die Merkmale meist nur mehr oder weniger auf. Die einzelnen Merkmalkataloge verstehen sich daher vorwiegend (auch) als Typologien; der Begriff des Erzählens ist in dieser Perspektive ein komparativer Begriff, dessen weitere Merkmale so breit _____________ 20
„Im Wesentlichen“ heißt, dass das Ereignismerkmal wesentlich älter ist, aber erst von den Strukturalisten zum alleinigen Helden der Erzählung auserkoren wurde. M. a. W.: Früher wurde das Merkmal im Rahmen gattungstheoretischer Überlegungen für uninteressant gehalten, seit dem Strukturalismus wird es von vielen als zentrales Charakteristikum gesehen.
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gefächert sind, dass auch eine Darstellung, die man in der Summe nicht für eine Erzählung halten würde, „erzählerische“ Merkmale aufweisen kann. Diese beiden Möglichkeiten lassen sich kombinieren. Man erhält auf diese Weise zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Begriffe, einen semiotischen (also medienindifferenten) Begriff des Erzählens und einen sprachlichen Begriff. Beide Begriffe wiederum haben jeweils eine klassifikatorische und eine typologische Variante. Damit gilt es zu unterscheiden zwischen 1. einem semiotisch-typologischen Begriff, 2. einem semiotisch-klassifikatorischen Begriff, 3. einem sprachlich-typologischen Begriff, 4. einem sprachlich-klassifikatorischen Begriff des Erzählens. In den verbleibenden beiden Abschnitten zum semiotischen und zum sprachlichen Begriff werde ich jeweils so vorgehen, dass ich nach den Zwecken und den Vorzügen der jeweiligen Begriffe ihre je speziellen Probleme skizziere. 4. Der semiotische Begriff des Erzählens Wie man an dem Lexikoneintrag von Schmeling & Walstra (1997a) sehen kann, ist der semiotische Begriff für die Literaturwissenschaft mittlerweile maßgeblich: Erzählung (= Erzählen) in diesem Sinne sei ein „Oberbegriff für die Textsorten-Klasse ‚Darstellung von tatsächlichen oder fiktiven Ereignissen bzw. Handlungen in mündlicher, schriftlicher oder visueller Form‘“ (1997a, 517). Das Merkmal der Mittelbarkeit ist darin nur insofern enthalten, als eine Erzählung überhaupt darstellend sein muss. Die spezifische Art und Weise, wie ein Geschehen dargestellt wird, bleibt in dieser Konzeption unberücksichtigt, denn neben sprachlich vermittelten Ereignisdarstellungen gelten auch sämtliche Arten visueller Ereignisdarstellungen als Erzählungen.21 Der semiotische Begriff des Erzählens existiert zunächst in einer klassifikatorischen Variante, wie sie von Prince (1973) vorgestellt und im vorigen Abschnitt unter dem Merkmal Inversion bereits zitiert wurde. Seine frühere Bestimmung schwächt Prince später ab.22 Ihre Funktion aber bleibt erhalten: Prince demonstriert anhand von die Merkmale variieren_____________ 21 22
All jenen, die dem skeptisch gegenüberstehen, schlägt Chatman (1990, 113) entsprechend vor, „to narrate“ durch „to present“ zu ersetzen – eine Maßnahme, die offenkundig werden lässt, dass zwei Begriffe statt eines einzigen angemessen wären. „[…] narrative is the representation of at least two real or fictive events or situations in a time sequence, neither of which presupposes or entails the other“ (1982, 4).
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den Testsätzen und auf der Basis seiner Intuitionen, die er für verallgemeinerbar hält, welche Sätze narrativ sind und welche nicht, oder anders gesagt: welche Sätze Minimal-Erzählungen sind und welche nicht, wobei er Wert auf die Voraussetzung legt, dass seine Überlegungen auch für nicht-sprachliche Ereignisdarstellungen gelten (vgl. auch Prince 1982, 5 u. 81). Prince beansprucht mit seinem Begriff des Erzählens, einen für alle Menschen identischen Begriff zu definieren – und keinen Fachbegriff.23 Merkmale des Dargestellten (wie Zustandsveränderung) stehen im Vordergrund der Definition des semiotischen Erzählbegriffs. Nach Prince weisen aber auch die verschiedenen medialen Darstellungsformen (seien sie sprachlich, seien sie visuell) bestimmte Strukturen auf, die für sie alle einheitlich sind. Als Beispiel nennt Prince (1982, 97) die Perspektivierung. Ergänzend zu nennen wäre die Möglichkeit der nicht-chronologischen Anordnung der einzelnen erzählten Ereignisse. Prince postuliert demnach abstrakte Muster, denen alle Darstellungsformen oder Medien folgen. Von diesem Begriff verspricht sich Prince (1982, 102) Antworten nicht nur auf literaturwissenschaftliche, sondern auch auf z. B. soziologische und entwicklungspsychologische Fragen.24 Die Probleme eines solchen klassifikatorischen Begriffs liegen auf der Hand: Es ist keineswegs gesichert, dass alle Prince’ Intuitionen folgen, auf deren Basis er entscheidet, was eine (Minimal-)Erzählung ist und was nicht. Auch hinsichtlich der einzelnen Merkmale existiert kein Konsens. Allein dies spricht dafür, dass mehrere miteinander konkurrierende Begriffe im Umlauf sind, die es auseinander zu halten gilt, wenn man die Chancen auf einen Konsens erhöhen will. Seinem klassifikatorischen Begriff stellt Prince (1982) einen komparativen Begriff an die Seite: Sein Konzept der Narrativität (narrativity) ist überraschenderweise nicht mit seinem klassifikatorischen Begriff des Erzählens (narrative) identisch.25 Stattdessen stellt es eine Alternative dar. Prince führt eine Reihe von Merkmalen an, von denen einige, wie Kausalität, seinen früheren Begriff des Erzählens (narrative) kennzeichneten. Nun aber dienen sie dazu, eine Darstellung narrativer als eine andere zu machen, die eines oder mehrere dieser Merkmale entbehrt. So verhält es sich mit dem ersten Merkmal, das Prince (1982, 146) nennt: _____________ 23 24 25
Dies geht aus Äußerungen wie dieser hervor: „[…] everybody has the same intuitions – or has internalized the same rules – about the nature of narratives“ (Prince 1982, 80). „What kind of stories – in terms of structure and narrating – does a given society favor? […] what stages does a child go through in developing his ability to narrate?“ Entsprechend auch Prince (1973, 15). Diesen Unterschied vermerkt Rudrum (2005, 198). Auch für Ryan (2006, 10 f.) ist narrativity nicht der Inbegriff von narrative, sondern ein anderer Begriff.
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All other things being equal, for instance, a passage where signs of the narrated (referring to events) are more numerous than signs of the narrating (referring to the representation of events and its context) should have a higher degree of narrativity than a passage where the reverse is true […].
Erneut ist unklar, wer darüber befindet, ob, wie in diesem Fall, eine Passage, die erzähler-dominant ist, weniger narrativ ist als eine, in der sich die Erzählinstanz zurückhält. Man könnte genauso gut das Umgekehrte behaupten. ‚Eine Erzählung sein‘ als graduelles Konzept räumt im Sinne einer Prototypentheorie der Bedeutung die Möglichkeit ein, das es „bessere“ und „schlechtere“ Exemplare gebe. So konzeptualisiert, bleiben (bei allen Vorteilen, die diese Sichtweise hat) Fragen offen: Wann ist etwas keine Erzählung mehr? Und wie sieht eigentlich das beste Exemplar aus? Wer bestimmt aufgrund welcher Kompetenzen den Prototyp? Auch bei der Favorisierung eines Prototypenansatzes endet man schließlich bei der Frage, welche Merkmale konstitutiv, d. h. notwendig und hinreichend dafür sind, dass eine Passage zutreffend und begründet eine „Erzählung“ bzw. „erzählend“ genannt werden kann? Oder „binär“ formuliert: Wann ist etwas minimal narrativ und wann nicht? Die Zwecke, die man mit der typologischen Variante des semiotischen Begriffs der Erzählung verbindet, sind interdisziplinär ausgerichtet. Ryan, die ebenfalls eine typologische Variante vorschlägt (vgl. 2006, 8), verspricht sich vom semiotischen Begriff eine genauere Erfassung der Leistungen der jeweiligen (visuellen und sprachlichen) Darstellungsmöglichkeiten sowie eine Überprüfung und Erweiterung narratologischer Kategorien: The concept of narrative offers a common denominator that allows a better apprehension of the strengths and limitations in the representational power of individual media. Conversely, the study of the realization of narrative meaning in various media provides an opportunity for a critical reexamination and expansion of the analytical vocabulary of narratology (2006, 4).
Es ist allerdings zu fragen, ob, wie hier unterstellt wird, tatsächlich eine Beziehung zwischen Begriff und Forschung dergestalt besteht, dass der semiotische Begriff eine bessere Erfassung der jeweiligen Leistungen der unterschiedlichen Medien erlaubt. Wenn man schon nicht der gegenteiligen Auffassung ist, wonach der semiotische Begriff den Blick auf die jeweiligen Besonderheiten verstellt, lässt sich zumindest eine Begründung für die Behauptung einfordern, dass ein solcher Zusammenhang existiert. Für typologische Begriffe spricht ihre größere Flexibilität. Man kann mit ihrer Hilfe erklären, warum bestimmte Texte für erzählend gehalten werden, obwohl sie wichtige Merkmale nicht aufweisen. Gerade Grenzphänomene, die zumal in der Kunst keine Seltenheit sind und dem klassifizierenden Zugang gewöhnlich Probleme bereiten, lassen sich mit ihnen
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besser erfassen. Typologische Merkmalkataloge enthalten neben (fast) obligatorischen auch viele fakultative Merkmale, die es ermöglichen, einen Gegenstand im Hinblick auf seinen individuellen Charakter zu untersuchen. Während klassifikatorische Begriffe auf die Gemeinsamkeiten von Gegenstandsgruppen und auf ihre Abgrenzung von anderen zielen, eignen sich typologische Begriffe zur individuellen Beschreibung eines Gegenstands, indem man die spezielle Zusammensetzung seiner Merkmale herausstellt. Eben deshalb könnte man auf die Idee kommen, dass der typologische Ansatz mit dem semiotischen Begriff in einem Konflikt steht. Die Ziele, die mit dem semiotischen Begriff verknüpft werden, sind auf höhere Verallgemeinerbarkeit ausgerichtet, wohingegen die Ziele, die mit typologischen Begriffen einhergehen, in individuellen Beschreibungen bestehen. 5. Der sprachliche Begriff des Erzählens Der sprachliche Begriff des Erzählens umfasst schriftliches und mündliches Erzählen. Vom semiotischen Begriff unterscheidet er sich zunächst nur darin, dass keine andersartigen (z. B. keine visuellen) Ereignisdarstellungen unter ihn fallen. Der semiotische Begriff impliziert lediglich, dass das Ereignis überhaupt vermittelt werde, auf welche Art und Weise auch immer. Wie im 3. Abschnitt festgestellt, beziehen sich die meisten Merkmale des Erzählens, die diskutiert werden, nicht auf die Vermittlung, sondern auf das Vermittelte. Streng genommen, sind alle Bestimmungsversuche, die die Vermittlung außer Acht lassen, keine Bestimmungen des Erzählbegriffs, sondern nur eines Begriffs des Erzählten. Daher ist es geboten, diejenigen Strukturen, die alle Vermittlungsarten miteinander gemeinsam haben, zu identifizieren und als begriffliche Merkmale zu rubrizieren.26 Schließlich gibt es noch eine weitere Aufgabe: Für alle Vermittlungsbzw. Darstellungsarten gilt es zu bestimmen, wann eine Darstellung eine Ereignisdarstellung ist. Theoretisch (und mit dem Ziel, so viele Phänomene wie möglich zu erfassen) könnte man davon ausgehen, dass schon dann von einer Ereignisdarstellung zu sprechen wäre, sobald sich aus einem gegebenen Darstellungsausschnitt auf ein Ereignis schließen lässt. Dies allein reicht zur Bestimmung einer Ereignisdarstellung jedoch nicht aus, da wohl jedem Zustand ein Ereignis vorausgeht bzw. folgt, irgendein Ereignis mithin immer erschließbar ist. Es geht aber gerade darum, die _____________ 26
Prince (1982, 97) liefert einen Ansatz (s. o., 4. Abschnitt).
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Darstellung eines Ereignisses zu bestimmen. Dabei könnte sich herausstellen, dass das Ereigniskriterium gar nicht zweckmäßig ist. Wie lässt sich nun der sprachliche Begriff des Erzählens weiter spezifizieren? Charakteristisch für das sprachliche Erzählen und eine Konsequenz aus dem Merkmal der sprachlichen Mittelbarkeit ist, dass es zwei „Orientierungszentren“ habe, wie Dietrich Weber (1998, 43) und andere im Anschluss an Karl Bühler sagen. Gemeint ist, dass Erzähltexte in der Regel zwei Ich-Hier-Jetzt-Systeme aufweisen: das der erzählten Figuren und das der Erzählinstanz. Dieses strukturelle Merkmal von Erzähltexten ist auf andere Ereignisdarstellungen (wie den Film) nicht ohne weiteres abbildbar (vgl. auch Scheffel 2009). Zwar bestehen alle Ereignisdarstellungen aus der Ereignisebene („Geschichte“) und der Darstellungsebene („Text“, „Filmbilder“), aber nur die sprachliche Darstellung impliziert gemäß den verschiedenen Ich-Hier-Jetzt-Systemen eine beschreibbare Relation der Darstellungs- bzw. Erzählinstanz zu den Ereignissen (die freilich stark reduziert sein kann). Wäre dieses Merkmal ein möglicher Kandidat für eine weitere notwendige Bedingung von sprachlichen Erzähltexten? Dem könnte man unter Hinweis auf zahlreiche Gegenbeispiele aus der Literatur entgegentreten. Ausnahmen sind solche Texte, die ausschließlich aus inneren Monologen bestehen, deren Gegenstand keine Fremd-origo ist. Die Begründung lautet, dass es sich – siehe Leutnant Gustl, der schon Friedemann beschäftigt hat – fraglos um Erzählungen handele. – Diese Begründung ist allerdings selbst fragwürdig. Denn man kann unterstellen, dass in diesem Fall der Gattungsbegriff der Erzählung herangezogen wird, um die notwendige Bedingung mit einem Gegenbeispiel auszuhebeln. Man ist der Äquivokation des Ausdrucks „Erzählung“ erlegen.27 Eine mögliche Strategie wäre nun, dass man, um dem Sprachgebrauch entgegenzukommen und den Erzählbegriff flexibel genug zu halten für Grenzphänomene, dieses Merkmal nicht als notwendige Bedingung konzipiert, sondern sich damit zufrieden gibt, dass es ein starkes Charakteristikum ist, das Erzähltexte von vielen anderen Ereignisdarstellungen unterscheidet. Genau hier aber stößt man auf ein tiefer liegendes Problem: Folgt man dieser Strategie, behandelt man den wissenschaftlichen Begriff des Erzählens wie einen umgangssprachlichen Begriff. Man hat vor sich das unübersichtliche Feld sprachlicher und literarischer Phänomene, die offenbar in irgendeiner Beziehung zu dem Begriff stehen, weil sie im Sprachgebrauch damit assoziiert werden. Man sieht, dass der traditionelle _____________ 27
Wäre Leutnant Gustl als dramatischer Monolog klassifiziert worden, hätte sich niemand gewundert. Rigoros gesagt: Bei Leutnant Gustl und vergleichbaren Texten handelt es sich dann eben nicht um Erzählen i. e. S.
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Begriff einen Teil der Phänomene, die doch im Sprachgebrauch mit dem Erzählen in Verbindung gebracht werden, nicht erfasst. Also ändert – erweitert – man ihn entsprechend den Phänomenen, die man bislang außer Acht gelassen hat – und dies tut man so lange, bis der Begriff schließlich alles und nichts bedeutet. Der Sprachgebrauch allein ist daher kein geeignetes Regulativ für die angemessene Bestimmung eines wissenschaftlichen Begriffs. Worauf es stattdessen ankommt, ist die konzeptuelle Umgebung des Begriffs, also die Nachbarbegriffe, die mit dem vorliegenden Begriff koordiniert sind und seine Grenzen markieren. Ohne Rücksicht auf die Nachbarbegriffe gerät man unweigerlich in die Falle der Überdehnung eines Begriffs. Und mir scheint, die ausschließliche Konzentration auf den Begriff des Erzählens in weiten Teilen der literaturwissenschaftlichen Narratologie befindet sich in dieser Schleife von umgangssprachlicher Phänomenbenennung und Dehnung des Begriffs. Ein Vorschlag zur Koordination des Erzählbegriffs mit anderen sprachlichen Darstellungsformen ist Chatmans (1990) Konzeption, der gemäß drei (bei ihm – s. o., Anm. 6) allerdings nicht sprachgebundene) Texttypen voneinander unterschieden werden: argumentativ, deskriptiv und narrativ. Jeder tatsächliche Text präsentiert sich als individuelle Kombination dieser Typen, die selten in Reinform realisiert sind. Eine Konsequenz solcher klassifikatorischen Bemühungen, die anhand von Beispielsätzen gewonnen werden und sich allein auf das gegenstandsbezogene Kriterium Ereignis berufen, ist, dass unter den Begriff des Erzählens kaum mehr ganze Werke bzw. Texte fallen, sondern nur noch einzelne Passagen. Denn die meisten prima facie als Erzählungen klassifizierten Texte enthalten auch kommentierende und beschreibende Passagen, weshalb es widersprüchlich wäre, sie im Ganzen als erzählend bzw. narrativ einzustufen. Man könnte sich mit dem Begriff der Dominanz helfen und all jene Texte als erzählende einstufen, in denen narrative Passagen dominieren – dies jedoch um den Preis einer begrifflichen Doppelung (narrative Textabschnitte vs. erzählende Texte) und der daraus resultierenden Vermischung eines klassifikatorischen Begriffs mit einem typologischen. Es ist die Frage, ob diese Konsequenzen tatsächlich erwünscht sind. Denn sie widersprechen nicht nur der Intuition, dass das Erzählen mehr ist als nur das Äußern eines einzigen Satzes, der von einem Zustandswechsel handelt, sondern auch der Beobachtung, dass erzählende und andere Passagen oft genug eine Einheit bilden.28 Wenn das so ist, dann _____________ 28
Fricke (1981, 49) qualifiziert z. B. folgenden Satz aus Goethes Wahlverwandtschaften umstandslos als Kombination aus Erzählung und Kommentar: „Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft, ja fast erschöpfend.“ – Zwar spielen sich Unterhaltungen in der
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sind das Deskriptive und das Narrative keine koordinierten Begriffe, sondern stehen in einem Verhältnis der Subordination.29 Um auf dieses Problem zu reagieren, bietet sich zusätzlich zum Rückgriff auf koordinierte Begriffe noch eine weitere Strategie an. Statt einen auf dem Ereigniskriterium beruhenden, weiten Begriff zu fixieren, der flexibel genug ist, alle möglichen Phänomene unter sich zu vereinen, die in der Forschergemeinschaft als erzählend in Erwägung gezogen werden, könnte man sich auf einen engen Begriff verständigen, der entweder (in seiner klassifikatorischen Variante) eine Textsorte definiert, zu der mehrere einzelne Texte gleichermaßen gehören und mit der weitere Textsorten koordiniert sind, oder der (in seiner typologischen Variante) einen Standardtyp festlegt, von dem jeder einzelne Text je nach Merkmallage mehr oder weniger abweicht. Wie könnte ein klassifikatorischer Begriff sprachlichen Erzählens aussehen, der die Konsequenz, nur noch partiell auf Textpassagen anwendbar zu sein, vermeidet und der zudem die Beobachtung berücksichtigt, dass erzählende Passagen sich oftmals aus vielen kleineren Abschnitten zusammensetzen, die, je für sich betrachtet, deskriptiv sind?30 – Er müsste ein Begriff sein, der transphrastische Eigenschaften des Erzählens aufnimmt. Um diese Eigenschaften zu erfassen, genügt das Ereigniskriterium allein gerade nicht, weil Ereignisse in vielen Texten unterrepräsentiert sind oder eben erschlossen werden müssen. Was hingegen das Erzählen als solches zusammenhält, ist das Vorliegen mindestens zweier deiktischer Orientierungszentren. Dieses Kriterium impliziert weitere Eigenschaften, die für erzählte Geschichten (z. B. Figurenaktion), aber auch – im Unterschied zu nicht erzählten, also etwa verfilmten Geschichten – für das Erzählen (z. B. die kognitiven Relationen zwischen Erzählinstanz und Figuren) charakteristisch sind. Freilich können diese Zentren unterschiedlich _____________
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Zeit ab, aber ein Zustandswechsel findet hier offensichtlich nicht statt. Ich denke, es lassen sich zahllose Satz- oder Absatzbeispiele anführen, die die meisten Fachleute für erzählend halten würden, obwohl sie dem Ereignis-Kriterium nicht genügen. Daher verwirft Genette (1966) die Dichotomie zwischen Beschreibung und Erzählung. Ryan (2004, 7 f.) kritisiert Chatmans Ansatz u. a. mit dem Argument, dass es daneben etliche konkurrierende Einteilungen gebe, ohne dass allgemein akzeptierte Kriterien zur Abgrenzung der verschiedenen Texttypen genannt würden. Der Anfang von Milan Kunderas Buch vom Lachen und Vergessen (1979) lautet z. B.: „Im Februar 1948 trat der kommunistische Führer Klement Gottwald auf den Balkon eines Prager Barockpalais, um zu den Hunderttausenden von Bürgern zu sprechen, die den Altstädter Ring füllten. Es war ein historischer Augenblick in der Geschichte Böhmens. Einer jener schicksalhaften Augenblicke, wie sie nur ein- bis zweimal in einem Jahrtausend auftreten. [Absatz] Gottwald war von seinen Genossen umgeben, und direkt neben ihm stand Clementis. Es schneite, es war kalt, und Gottwalds Kopf war unbedeckt. Der fürsorgliche Clementis nahm seine Pelzmütze ab und setzte sie auf Gottwalds Kopf.“ (Zitiert nach der Ausgabe Frankfurt/M. 1994, S. 9., übers. v. Susanna Roth.)
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stark ausgeprägt sein, etwa wenn das Orientierungszentrum der Erzählinstanz allein durch verba dicendi („sagt sie“) erkennbar wird. Trotzdem ist es nicht hinreichend, weil es auch Sätze wie „Sie stand dort“ zulässt. Zur Einschränkung könnte man Temporalität als zusätzliches Kriterium anführen, das derart spezifiziert ist, dass die Figurenaktion inklusive Anfang und Ende dargestellt sein muss. Das Problem bei dieser Vorgehensweise ist jedoch, dass immer wieder Gegenbeispiele in Form kurzer Sätze konstruiert werden können. Ein transphrastischer Begriff des Erzählens müsste jedoch auf diesen Einwand eine Antwort finden. Eine Antwort könnte dergestalt ausfallen, dass Erzählen ein emergentes Phänomen ist. Das Erzählen wird zwar von den Sätzen, aus denen es besteht, determiniert, ist aber nicht mit ihnen identisch, da jeder einfache Satz selbst noch kein Erzählen konstituiert. Charakteristisch für sprachliches Erzählen ist ja gerade, dass nicht nur singuläre Sachverhalte bzw. Ereignisse vermittelt werden, sondern auch iterative oder gar allgemeine Sachverhalte. Erst in der Verknüpfung mehrerer solcher Komponenten entsteht Erzählen. Gemäß dieser ersten Variante hätte man es mit einem klassifikatorischen Begriff von Erzählen zu tun, der den traditionellen Begriff der Epik ersetzen könnte, da dieser sich ausnahmslos an der Tradition orientiert und all das umfasst, was irgendwann einmal in eine der Untergattungen (wie z. B. Roman) einsortiert wurde. Stattdessen ist der hier vorgeschlagene Begriff nicht auf ganze Texte festgelegt, sondern kann auch nur auf Abschnitte zutreffen. Zu orientieren hätte sich der Begriff daran, dass Erzählen immer auf eine Welt bezogen ist, deren raumzeitliche, evtl. auch nomologische Dimensionen durch die Verortung mindestens einer Figur darin erkennbar werden müssen. Wann das der Fall ist, müsste noch ausbuchstabiert werden. Eine zweite (typologische) Variante, die zudem den sprachlichen auf einen literarischen Begriff des Erzählens einengt, findet man bei Weber (1998). Sein „Standardtyp der Erzählliteratur“ ist „die fiktionale, illusionistische, autor- und erzählerverleugnende, aliozentrische Autorerzählung in dritter Person“ (1998, 95). Obwohl Weber die Merkmale selbst klassifikatorisch einführt (entweder etwas ist fiktional oder nicht), ist dieser Erzählbegriff in der Zusammensetzung dieser Merkmale typologisch: Nach Weber sind die fiktionalen und nicht-fiktionalen Anteile in einem Text immer ebenso unterschiedlich ausgeprägt wie die alio- und egozentrischen oder die illusionistischen und nicht-illusionistischen Anteile. Auch diejenigen Konzeptionen, die an Hempfers (1973, 162 u. 225) Gegenüberstel-
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lung von narrativer und dramatischer Schreibweise erinnern, benutzen einen typologischen Begriff.31 Weber (1998, 72) engt den Begriff ein, indem er schriftliches Erzählen von mündlichem Erzählen unterscheidet. Er sondert einen Begriff von literarischem Erzählen von dem allgemeinen Begriff des sprachlichen Erzählens ab mit der Folge, dass nicht-künstlerische mündliche Erzähltexte („Alltagserzählungen“), nicht-künstlerische schriftliche Erzähltexte („Gebrauchstexte“) und künstlerische mündliche Erzähltexte („orale Dichtung“) aus der Extension des Begriffs herausfallen. Diese Entscheidung hat damit zu tun, dass man es in der Literaturwissenschaft in der Regel mit „Schriftwerk“ zu tun hat und ihm mit einem speziellen, nämlich ästhetisch ausgerichteten Untersuchungsinteresse begegnet. Das soll andere Untersuchungsperspektiven nicht ausschließen; für diese ist aber der Erzählbegriff, siehe oben, auch weniger relevant. Wenn man einem literarischen Erzählwerk ein ästhetisches Untersuchungsinteresse dahingehend entgegenbringt, dass man seine Eigenarten erfassen möchte, dann wird man es (auch) auf seine Erzählverfahren hin untersuchen (vgl. auch Bode 2005, 81 ff.). Das schließt nicht aus, dass man Alltagserzählungen und Gebrauchstexten ebenfalls ein ästhetisches Untersuchungsinteresse entgegenbringen kann – es passiert nur nicht ganz so häufig. Und es schließt natürlich auch nicht aus, dass man literarischen Erzählwerken ein anderes als ein ästhetisches Untersuchungsinteresse entgegenbringt; dann eben ist aber auch die Untersuchung der Erzählverfahren sekundär – oder überflüssig. Der Vorteil eines solchen typologischen Begriffs ist, dass er durch die Fakultativität seiner Merkmale hinreichend flexibel ist, um Texte im Hinblick auf die Realisierung der Merkmale zu untersuchen; er ist gegenüber dem klassifikatorischen Begriff interessanter, analyseträchtiger und genügt damit einer klassischen Adäquatheitsbedingung für Fachbegriffe (Fruchtbarkeit). Andererseits sorgt seine hohe Spezifizität dafür, dass er kaum konsensfähig sein dürfte. Die hochproblematische Frage ist, warum man gerade diesen Typ als Standard setzt. Letztlich wäre eine statistische Untersuchung erforderlich, deren Resultat diesen Typ als häufigsten Fall bestätigen müsste.
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Vgl. das Kontinuum der Redewiedergabe in Martínez & Scheffel (1999, 62) vom narrativen bis zum dramatischen Modus. In diesem Kontext hat „narrativ“ überhaupt nichts mit dem Vorliegen eines Ereignisses zu tun, sondern ist ausschließlich auf die Erzählerrede bezogen.
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VOLKMAR LEHMANN (Hamburg)
Narrativität aus linguistischer Sicht 1. Sprachwissenschaftliche Analyse der Narrativität Das Verhältnis zwischen literaturwissenschaftlicher und linguistischer Analyse von Narrativität kann aus linguistischer Sicht zunächst am Objektbereich demonstriert werden: Während sich die literaturwissenschaftliche Analyse auf das konzentriert, was in der Textlinguistik als belletristischer Stil bezeichnet wird, und hier in der Regel auf die Objekte, die bestimmten ästhetischen Kriterien genügen, können in der Linguistik narrative Komponenten in prinzipiell allen Arten von Erzähltexten analysiert werden, in belletristischen Texten, früher sogar ausschließlich, aber auch in einem Nonstandard wie der Kindersprache. Zu den Erzähltexten zählen wir alle Texte und Gespräche, in denen mikrostrukturelle Narrativität vorherrscht oder vorherrschen kann, neben literarischen Texten sind das etwa Reportagen, Nachrichten, Berichte, Satiren; Witze, Anekdoten; Heirats-, Jagd und Veranstaltungsberichte (in der Regel im Internet); Protokolle, Inhaltsangaben; Geschäftsberichte; Biographien in Enzyklopädien oder in Form von Lebensläufen; Berichte von Zeitzeugen, Chroniken; konversationelle (mündliche) Erzählungen; Berichte von körperlich oder psychisch Kranken und deren Niederschrift; narrative Interviews der Sozialwissenschaften oder Bibeltexte usw. Darüber hinaus können Passagen mit mikrostruktureller Narrativität ja in fast allen Textsorten vorkommen. Dies zu beschreiben scheint vor allem eine Aufgabe der Linguistik zu sein, wobei für makrostrukturelle Aspekte nichtliterarischer Textsorten auch Kategorien der Literaturwissenschaft, der Pragmatik und Gesprächsanalyse eingesetzt werden. Makrostrukturelle Analysen der Narrativität beziehen sich auf Texte und Gespräche als Ganze und auf deren Konstituenten einschließlich ihrer mikrostrukturellen Eigenschaften. Die Gegenstände von Makroanalysen können in Literatur- und Sprachwissenschaft die gleichen seien, sie werden meist aber mit verschiedenen Mitteln untersucht, etwa die Kategorie Kohärenz, die literaturwissenschaftlich mehr vom Textganzen her gesehen wird, von der Linguistik eher ausge-
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hend von mikrostrukturellen Eigenschaften, der so genannten Kohäsion. Ähnliches gilt für die Architektur von Textganzen, die von der einen Seite eher nach Gesichtspunkten des Sinns und des einzelnen Textes, von der anderen eher im Sinne formal gekennzeichneter Konstituententypen betrachtet wird. Die Klassifizierung nach Genres oder Textsorten, einer makrostrukturellen Kategorie par excellence, ist zwar am besten den jeweils Zuständigen überlassen, bei den belletristischen Gattungen der Literaturwissenschaft, bei den administrativen, journalistischen und wissenschaftlichen Texten den Behörden, Journalistenschulen und den natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Aber es bleiben genug allgemeine Fragen zur Klassifizierung übrig, unter anderem die nach der Klassifizierung von heimatlosen Textsorten wie Rezepten oder Bedienungsanleitungen, vor allem aber von mündlichen, in der Umgangssprache produzierten Textkategorien. Das wohl berühmteste Beispiel der Analyse eines mündlichen Erzähltextes ist „Narrative Analysis“ von Labov & Waletzky (1967); zu neuen Entwicklungen in diesem Bereich unter Einbeziehung konversationslinguistischer Parameter s. Norrick (2000). Wir wollen uns im Weiteren auf Aspekte der mikrostrukturellen Analyse konzentrieren. Wir beziehen sie auf die Verwendung grammatischer und lexikalischer Einheiten in narrativen Redepassagen einschließlich der Quantifizierung entsprechender Vorkommen. Auch hier gibt es Überschneidungen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, z. B. die Wortstellung oder die Redeerwähnung. Die narratologische (literaturwissenschaftliche) Analyse geht hier weit über die traditionellen Begriffe der direkten, indirekten und auch der erlebten Rede hinaus. Im Zentrum jeder mikrostrukturellen Analyse der Narrativität stehen jedoch die temporalen und aspektuellen Eigenschaften der Verben, ergänzt durch lokale Kohärenzphänomene der Koreferenz aus dem nominalen Bereich. In der Sprachwissenschaft gehört die Analyse von Narrativität zur Textlinguistik. Man kann behaupten, dass umgekehrt von der Textlinguistik narrative Objekte bevorzugt werden, wenn es nicht um ihr bisheriges Hauptthema, die nominal basierten Koreferenzen, sondern um zeitliche Strukturierungen geht. Das zeigt sich sehr deutlich z. B. am Überblicksaufsatz von Weiss (1995). Sein theoretischer Überblick (Abschn. 1 und 2) fokussiert die Reliefsetzung in Vorder- und Hintergrund, die auch für ihn letztlich nur narrationslinguistisch relevant ist. Die Texte, die er exemplarisch beschreibt, sind dann ebenfalls narrativ. Der Begriff der (narrativen) Reliefgebung geht auf Weinrich (1964) zurück, zitiert werden jedoch meist englischsprachige Autoren, vor allem Hopper (1979; s. auch die Revision in Polanyi & Hopper, 1981), später Tomlin (vgl. u. a. Tomlin 1985), viele ziehen das Verfahren von Reinhart
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(1984) vor. Die fore-/backgrounding-Analysen litten unter teilweise willkürlichen und intuitiven Interpretationen. Schon Weinrichs Darstellungen im Kap. IV. „Reliefgebung“ der Monographie Tempus. Besprochene und erzählte Welt war reichlich impressionistisch, vermutlich auch deshalb, weil er sich beharrlich weigerte, Aspektuelles einzubeziehen. Ein Hauptfaktor beim Grounding ist jedoch die dritte elementare Zeitkategorie der Temporalität, die Episodizität (Terminus aus der Gedächtnispsychologie für die Einordnung einer Situation in einen unikalen Handlungszusammenhang). Im Präsens entspricht ihr die Opposition aktuelles – nicht aktuelles Präsens, liest gerade vs. liest gern / oft. Sie wird in Aspektsprachen, zu denen auch die von Weinrich (1964) bevorzugt behandelten romanischen Sprachen gehören, grammatisch-kontextuell markiert. Die Nichtepisodizität, vgl. sie liest /las gern / oft (vs. episodisch liest / las gerade), sie weiß /wusste viel (vs. episodisch hat viel erfahren / erfuhr viel) bildet das Rückgrat des narrativen Hintergrunds. Nur sekundär stehen daneben die ungleichzeitigen narrativen Tempusfunktionen, besonders die Vorvergangenheit. 2. Mikrostrukturelle Analyse narrativer Temporalität Pionierarbeit zur textlinguistischen Ausarbeitung aspektuell-temporaler Kategorien hat Koschmieder (1934) geleistet, indem er sowohl die Episodizität (bei ihm: Zeitstellenwert) als auch die aktionalen Konfigurationen als erster systematisch differenziert hat. Reichenbach (1947) hat mit logischen und Weinrich (1964) mit textlinguistischen Mitteln unterschieden, was wir heute als deiktische und narrative Tempusfunktionen bezeichnen. Schon vorher hatte ja Käte Hamburger (1957) auf die narrative Qualität präteritaler Formen hingewiesen. Padučeva (1996) hat die Beschreibung von Aspekt und Tempus zu einer linguistischen Theorie der Narrativität ausgebaut. In der textlinguistischen Expansion von Aspekt und Tempus von Smith (2004) ebenso wie von Zolotova (1998) spielt die Behandlung narrativer Passagen naturgemäß eine bedeutsame Rolle. Im vorliegenden Abschnitt soll der für eine mikrostrukturelle Analyse zentrale Begriff der temporalen Perspektive erläutert werden, ergänzt durch den Hinweis auf die aktionalen Konfigurationen (Sequenz, Parallelismus, Inzidenz, taxische Koinzidenz) und die Kategorie der Episodizität (episodische und nichtepisodische Situationen). Gegenstand der mikrostrukturellen Analyse sind narrative Redepassagen.1 Redepassagen sind die kleinsten Konstituenten der Kategorie Text. _____________ 1
Ausführlich s. Lehmann 2008 u. 2010.
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Sie gehören verschiedenen Typen mit einem bestimmten allgemeinen Merkmalsprofil an, die wir als Redetypen bezeichnen. Der Redetyp wird von der dominanten Referenzzeit der Prädikate determiniert. Mit anderen Worten: Äußerungen gehören einer bestimmten, z. B. einer narrativen, Redepassage an, wenn ihnen dieselbe Referenzzeit zukommt. Neben dem narrativen Redetyp (und den entsprechenden Redepassagen) sind zu unterscheiden: der sprechzeitbezogene2 (Redepassagen einschließlich imperativischer, exklamativer u. ä. Äußerungen), der omnitemporale und der atemporale. Für die Mikroanalyse ist vor allem die Opposition zwischen narrativen und sprechzeitbezogenen Redetypen relevant. Die Referenzzeit für sprechzeitbezogene Redepassagen ist die Sprechzeit, sie eröffnet temporaldeiktische Relationen, vgl. liest, hat gelesen, wird lesen (s. Reichenbach, 1947; Weinrich, 1964). Die Referenzzeit in narrativen Redepassagen mit Prädikaten wie las, hatte gelesen ist das Psychische Jetzt (PJ). Man kann das PJ als Zeit der Vergegenwärtigung eines Vorgangs durch den Sprecher, besonders aber durch den Leser oder Hörer, verstehen. Es ist eine kognitive Kategorie, eine Art Zeitfenster, das sich jeweils mit der Verarbeitung von Prädikationen öffnet, das also mit der Lektüre einer narrativen Passage von Prädikation zu Prädikation mitwandert. Ihm werden Vorgänge und Zustände in verschiedener Perspektive zugeordnet, in narrativen Passagen vorwiegend gleichzeitig (z.B. las, öffnete das Buch, las gern, und am 1. März liest sie dann den Artikel), daneben vorzeitig (z.B. hatte das Buch geöffnet, hatte gelesen) und gelegentlich nachzeitig (z.B. würde das Buch noch lesen). Die Dominanz des PJ als Referenzzeit führt zu der für narrative Tempusfunktionen konstitutiven so genannten Enthebung von der Sprechzeit (Näheres und Literatur s. Wiemer 1997). Aus den Eigenzeiten der gleichzeitig zum PJ lokalisierten episodischen Situationen bildet sich im Verlauf der Lektüre bzw. des Zuhörens die Zeitachse der jeweiligen narrativen Passage: Sie t r a t ein, s e t z t e sich und n a h m das Buch zur Hand, das sie am Tag zuvor angefangen hatte (die Prädikate für die achsenbildenden Situationen sind gesperrt gedruckt). Das PJ wurde als neuropsychologisches Phänomen von Pöppel (s. z. B. Pöppel 1987) entdeckt, der ihm eine Zeitspanne von maximal ca. 3 Sek. zuerkennt.3 Mit Hilfe des PJ werden die Kategorien der aktionalen Gestalt konstituiert, die wiederum die Basis für die Erklärung der aktiona_____________ 2
3
Es ist problematisch, die Redepassagen und den Redetyp deiktisch zu nennen, weil diese ausschließlich temporaldeiktisch determiniert sind, während die personale und lokale Deixis auch und nicht zu knapp in narrativen Redepassagen erscheinen kann, man denke etwa an den personaldeiktischen Ich-Erzähler im Roman. Näheres zu den empirischen Evidenzen und die Bedeutung für die Erklärung von Aspektund Tempusfunktionen bei Lehmann 1992.
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len Konfigurationen (Sequenzen usw.) bilden. Die aktionalen Gestalten sind: – die Kategorie der Ereignisse (vgl. öffnen, stellen, fallen, erkennen, treffen, sagen usw.), die darauf zurückgeht, dass Begriffe direkt als Ganze i n n e r h a l b d e s R a h m e n s d e s P J wahrgenommen oder nach diesem Muster konzeptualisiert und gespeichert oder fertig erworben und daher beim Verstehen als ein-phasige Situation repräsentiert werden; – die Kategorie der Verläufe (vgl. liegen, weinen, spazieren gehen, nachdenken usw.), die meist direkt darauf zurückgehen, dass sie den Rahmen des PJ in der Wahrnehmung ü b e r s c h r e i t e n und daher als mehrphasige Situation repräsentiert werden; – die Kategorie der Zustände (genauer: stativen Situationen; vgl. wissen, heißen, lieben, bedeuten, entsprechen usw.), deren Erwerb nicht auf PJbezogenen Wahrnehmungen beruht und die daher als un-phasige Situation repräsentiert werden. Daneben gibt es eine große Zahl von bezüglich der Gestalt diffusen VerbBegriffen, die erst durch den Kontext zu einem Ereignis oder Verlauf konturiert werden, vgl. sie las den Titel vs. sie las gerade; sie tanzte das Menuett vs. sie tanzte mit Petr. Nehmen wir an, es werden narrativ orientierte Prädikate für episodische Ereignisse rezipiert, z. B. Anna setzte sich, schlug das Buch auf und las das Motto. Sie erschrak und blickte auf. Dann ist mit jedem PJ jeweils die Situation abgeschlossen und so wird eine Sequenz verstanden. Stellen wir uns dagegen die Rezeption von episodischen Verläufen vor, z. B. Sie saß am Schreibtisch und las in „Krieg und Frieden“. Im Nebenzimmer spielte ihre Tochter Klavier. In diesem Fall sind die vergegenwärtigten Verläufe mit dem jeweiligen PJFenster nicht abgeschlossen und so werden zeitlich parallele Vorgänge verstanden. Die Kombination von Verläufen und Ereignissen ergibt eine dritte aktionale Konfiguration, die Inzidenz: Sie saß am Schreibtisch, als ihre Tochter plötzlich hereinstürmte. Mit der Inzidenz haben wir einen episodischen Hintergrund (saß am Schreibtisch) zu einem Handlungseintritt (stürmte herein). Dieser episodische Hintergrund ist vom schon erwähnten nichtepisodischen Hintergrund zu unterscheiden. Abzusetzen von diesen Konfigurationen, mit Ereignissen und Verläufen, die jeweils ihre eigene Zeit haben, ist die taxische Koinzidenz mit der Identität der Zeit (aufgrund der materiellen Identität der Situationen): Sie brachte ihn zur Raison, indem sie ihre Zweifel äußerte. Oder: Sie saß am Schreibtisch und versperrte ihrer Tochter die Sicht auf den Bildschirm. Wir hatten schon angedeutet, dass nichtepisodische Situationen in narrativen Passagen den Hauptteil des Hintergrunds bilden. Es handelt sich um nichtepisodische Ereignisse (morgens setzte sie sich an den Schreibtisch),
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nichtepisodische Verläufe (morgens las sie nur Gedichte) und um Zustände (sie kannte die Literatur). Bei ihrer kognitiven Repräsentation, so eine Umschreibung der Definition, werden Situationen n i c h t als Teil eines unikalen Situationszusammenhangs (einer Episode) konzipiert. Sind Ereignisse und Verläufe dagegen episodisch, dann besteht die kognitive Anweisung darin, sie mit anderen Verb-Situationen (bzw. mit der Sprechsituation im Falle deiktischer Referenz) so zu verbinden, dass ein unikales Zeitnetz resultiert. 3. Vier mikrostrukturelle Narrationstypen Die Situationen, die gleichzeitig zum PJ sind, werden in der deutschen Schriftsprache durch Prädikate im Präteritum oder z. B. im Englischen durch Prädikate im Past, daneben durch das Präsens vermittelt. Aus den episodischen gleichzeitigen Situationen konstituiert sich im Prozess der Rezeption, wie erwähnt, die Zeitachse der jeweiligen Narration, der „Vordergrund“. Diese Zeitachse als das integrierende temporale Moment einer Narration kann ihrerseits zeitlich lokalisiert werden, wodurch der narrative Gesamtkomplex einer Passage eine zeitliche Lokalisierung erfährt. Die genannten Eigenschaften unterscheiden die Narrationstypen als Subtypen des narrativen Redetyps von den anderen in 2. genannten Redetypen. Neben der gleich-, vor- oder nachzeitigen Lokalisierung der einzelnen Situation relativ zum PJ gibt es somit die zeitliche Lokalisierung narrativer Situationskomplexe (aus ihnen setzt sich die temporale Makrostruktur zusammen). Die Möglichkeiten, narrative Gesamtkomplexe zeitlich zu lokalisieren, sind unendlich. Neben Intervallen unseres Kalenders stehen phantastische „Zeiten“ ebenso wie diverse Arten der Zeitlosigkeit zur Verfügung. Im Folgenden wird eine Klassifizierung nach der Art der Tempusbesetzung für die Zeitachse und ungleichzeitige Situationen vorgeschlagen. Diese korreliert mit bestimmten Arten, das Geschehen zeitlich zu lokalisieren. Einige Typen können nach diesen Arten auch weiter subklassifiziert werden, was hier nur für den präsensbasierten Narrationstyp ausgeführt wird. Folgende Tempusbesetzungen sind zu erkennen (Defaults): – Präteritum und/oder Präsens für die narrative Zeitachse sowie weitere Tempora für ungleichzeitige Situationen (olim-Narration); – Präsens für die narrative Zeitachse sowie weitere Tempora für ungleichzeitige Situationen (präsensbasierte Narration); – Nicht-Präsens für die narrative Zeitachse ohne weitere Tempora für ungleichzeitige Situationen (futurische und plusquamperfektische Narration).
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O l i m - N a r r a t i o n : Die olim-Narration ist der Standard für alle Arten von realen und fiktionalen Erzähltexten, für enzyklopädische Biographien, Reportagen, Nachrichten usw., auch für Nacherzählungen einschließlich derjenigen von Bildergeschichten (s. dazu den Beitrag von Tanja Anstatt). Während bei sprechzeitbezogenen Passagen die objektive temporale Lokalisierung vor allem über deiktische Tempusfunktionen der Prädikate, also über den Bezug zur Sprechzeit (Zeit der Äußerungsproduktion) erfolgt (ich habe ihn gelesen), bezieht sich die objektive Lokalisierung bei fiktionalen narrativen Texten (sie las) auf ganze Passagen, im Roman z. B. auf Passagenkomplexe, und geschieht über Informationen im Text. Nicht nur für historische und utopische Romane ist es die Zeit der Handlung, die relevant ist, kaum die Zeit ihrer Produktion. Zeitgenössische Leser lokalisieren die Handlung von Anna Karenina in einer diffusen Gegenwart, heutige Leser in einer Vergangenheit, welche die Zeit des Adels in der 2. Hälfte des 19. Jh. ist, und nicht in der Zeit der Romanproduktion durch Lev Tolstoj. Für die zeitgenössischen Leser von 1984 lag die narrative Zeitachse in einer fiktiven Zukunft, für heutige in einer als Zukunft konzipierten Vergangenheit – wer macht sich schon klar, wann der Roman geschrieben wurde. Auch das Zeitnetz realer Erzähltexte wird allenfalls pauschal vor der Sprechzeit lokalisiert, Genaueres erfährt man in der Regel erst im Text selbst. Die narrative Zeitachse dieses Typs wird in der Deutschen Schriftsprache einerseits durch das Präteritum als spezifisch narratives Tempus bedient (sie las; in der süddeutschen Umgangssprache durch das Perfekt, sie hat gelesen), vorzeitig wird per Default das Plusquamperfekt, nachzeitig der Konjunktiv verwendet (sie hatte seinen Roman gelesen, würde aber nie mehr ein anderes Buch von ihm aufschlagen). Alternativ dazu kann hier die Zeitachse durch das Historische Präsens (mit narrativem Kontext; ... und dann kommt ein Mann in die Praxis ...) markiert werden, die Vorzeitigkeit dann durch das Perfekt und die Nachzeitigkeit durch das Futur: Kommt ein Mann in die Sprechstunde. Er hat sich ein Bein gebrochen. Die nächsten Wochen wird er nicht arbeiten können. Die Tempora dieser beiden Tempusreihen des olim-Typs, derjenigen mit präteritaler und der mit präsentischer Zeitachse, können syntagmatisch gemischt auftreten und sind paradigmatisch äquivalent, d. h. sie können ohne semantische Veränderung ausgetauscht werden. P r ä s e n s b a s i e r t e N a r r a t i o n : Die verwendeten Tempora entsprechen der zweiten Tempusreihe der olim-Narration, mit dem Präsens für die narrative Zeitachse und ggf. mit Perfekt und Futur. Die zeitliche Lokalisierung des Gesamtkomplexes ist relativ heterogen. Die narrative Zeitachse in der Direktreportage ist gleichzeitig zur Sprechzeit, d. h. die deiktische wird von der narrativen Orientierung überlagert (reale nunc-
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Variante), vgl. Özil nimmt den Ball an, den er Müller abgenommen hat, und spielt ihn weiter zu Hunt. Gleich wird der Schiedsrichter abpfeifen. Mit dem Szenischen Präsens und dem Präsens der Mauerschau wird eine zu spielende oder fingierte Gegenwart generiert (fiktive nunc-Variante), in Bildbeschreibungen, -titeln usw. und in Inhaltsangaben von Erzählungen usw. ein rezipierter oder zu rezipierender Inhalt (content-Variante). Auch in Passagen, die sich auf Sachverhalte mit zeitlich unbeschränkter Gültigkeit beziehen und in denen die narrative die omnitemporale Orientierung überlagert, haben wir das Präsens und daneben ggf. Perfekt oder Futur, vgl. Der Mensch wird geboren, lernt und arbeitet, dann stirbt er; hat er Kinder großgezogen, wird er in denen weiter leben (omnitemporale Variante). P l u s q u a m p e r f e k t i s c h e u n d f u t u r i s c h e N a r r a t i o n : Es kommt, wenn auch selten, vor, dass ein Plusquamperfekt oder ein Futur bzw. ein futurisches Präsens zu einer narrativen Passage ausgeweitet werden. Bei diesen Narrationstypen bleibt der Tempusgebrauch normalerweise auf diese Tempora beschränkt: Sie bilden die Zeitachse ohne retrooder prospektive Ungleichzeitigkeiten. Futurische Narrationen sind mir vor allem in poetischen Texten begegnet, wie z. B. in Seeräuber-Jennys futurischer Refrain-Sequenz: Und ein Schiff mit acht Segeln / Und fünfzig Kanonen / Wird liegen am Kai. /.../ Wird beschießen die Stadt. /... / Wird beflaggen den Mast. /.../ Wird entschwinden mit mir. Die Funktion ‚gleichzeitig zum PJ‘ in der olim- und der präsensbasierten Narration ist eine normale Funktion ihrer Zeitachsen-Tempora (also von Präteritum und Präsens), während die Tempora der plusquamperfektischen und futurischen Narration normalerweise Ungleichzeitigkeit ausdrücken. Mit der narrativen Orientierung der Passage wird diese von der Gleichzeitigkeit zum PJ überlagert. Die olim-Narration ist das textuelle Fundament der plusquamperfektischen und vieler Varianten der präsensbasierten Narration. In allen narrativen Typen können neben den als Defaults genannten weitere Wortformen mit temporaler Funktion verwendet werden, vor allem Gerundien / Adverbialpartizipien. 4. Deiktisch oder narrativ: Worin besteht die narrative „Situationsenthebung“? Die Unterscheidung der vier Narrationstypen hilft bei der Klassifizierung von Redepassagen, bei denen die Zuweisung zum narrativen oder sprechzeitbezogenen oder omnitemporalen Redetyp nicht auf der Hand liegt. Bei der deiktischen Zeitreferenz des sprechzeitorientierten Redetyps ist die Relation zwischen Sprechzeit und Situationszeit unveränderlich.
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Nehmen wir an, die Äußerung Anna ist gerade angekommen wird am 1. Mai geäußert. Am 30. April trifft sie noch nicht, am 30. Mai nicht mehr zu. Weder die Sprechzeit noch die Situationszeit dürfen verändert werden, wenn die Äußerung wahr sein soll. Betrachten wir nun den Bildtitel zum berühmten Gemälde von Aleksej Savrasov: Grači prileteli. Der Satz kann außerhalb des Kontextes gesehen übersetzt werden mit Die Krähen sind (geflogen) gekommen, Die Krähen kamen (geflogen) oder Die Krähen waren (geflogen) gekommen (s. zu diesen Äquivalenten den Beitrag von Tanja Anstatt).
Abb. 1: Aleksej K. Savrasov, Grači prileteli (1871)
Die Sprechzeit, genauer: die Zeit der Produktion des Bildtitels, ist hier gleichgültig, die Äußerung trifft zu, gleich, wann sie getan wurde. Das spricht für eine narrative Orientierung. Andererseits kann das Präteritum nicht durch das Präsens ersetzt werden, und die Ersetzbarkeit ist das operative Kriterium für narrative Orientierung. Präteritale Prädikate in der olim-Narration können, wie gesagt, durch solche im (Historischen) Präsens ersetzt werden, ohne dass die Semantik sich ändert (stilistisch mag sich ein Unterschied ergeben), deiktisch orientierte Prädikate im Präteritum können das nicht. Ein Beispiel anhand der Krähenfabel von Lessing:
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Eine stolze Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der farbigen Pfaue und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein glaubte, unter diese glänzenden Vögel der Juno. Sie ward erkannt, und schnell fielen die Pfaue mit scharfen Schnäbeln auf sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen. „Lasset nach!“ schrie sie endlich, „ihr habt nun alle das Eurige wieder.“ Doch die Pfaue, welche einige von den eigenen glänzenden Schwingfedern der Krähe bemerkt hatten, versetzten: „Schweig, armselige Närrin, auch diese können nicht dein sein!“ und hackten weiter.4 Eine stolze Krähe schmückt sich mit den ausgefallenen Federn der farbigen Pfaue und mischt sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein glaubt, unter diese glänzenden Vögel der Juno. Sie wird erkannt, und schnell fallen die Pfaue mit scharfen Schnäbeln auf sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen. „Lasset nach!“ schreit sie endlich, ...
Das Präteritum im Bildtitel Grači prileteli kann nicht durch das Präsens Grači priletajut ersetzt werden, eine Ersetzung ergäbe einen anderen zeitlichen Sachverhalt. Die Vorzeitigkeit der Äußerung des Bildtitels bezieht sich nicht auf die Produktion dieser Äußerung, sondern auf den Inhalt des Bildes, auf die Situation, die abgebildet ist. Sie trifft nicht zu, wenn die Krähen noch nicht oder schon vor längerer Zeit aus wärmeren Zonen an den im Bild zu sehenden Ort zurückgekehrt wären (die Saatkrähen sind in Russland Zugvögel). Um das jedoch sagen zu können, müssen wir einen Zeitpunkt annehmen, mit dem das Jetzt (... sind die Krähen da) fixiert wird und auf den sich auf das Vorher (... waren sie noch nicht da) und das Nachher (... sind sie weiterhin da) beziehen können. Dieser Zeitpunkt ist eine kognitive Größe. Es ist der Zeitpunkt der Verarbeitung der Prädikation, die hier drei Komponenten hat: Die rezeptive Verarbeitung des Bildes, die rezeptive Verarbeitung des Satzes und die Erkenntnis, dass der Satz den Inhalt des Bildes wiedergibt. Die Zeit der Verarbeitung eines Elementarsatzes mit den damit verbundenen (nötigen) kognitiven Prozessen ist das oben erwähnte Psychische Jetzt (PJ), die Zeit der „Vergegenwärtigung“ eines Satzinhalts. Führen wir die temporalsyntaktische Klassifizierung der Bildunterschrift zu Ende: Die Referenzzeit für Grači prileteli ist das PJ, nicht die Zeit der Produktion dieses Satzes, so dass die Äußerung nicht als deiktisch, sondern als narrativ, „sprechzeitenthoben“ zu klassifizieren ist. Es handelt sich zudem nicht um olim-, sondern um präsensbasierte Narration, denn das Prädikat realisiert mit dem Präteritum in der Vorgegenwartsfunktion ein Tempus aus der präsentischen Reihe, und nur sie wird für Bildunterschriften eingesetzt. Diese Präteritumfunktion ist der Standardfunktion des deutschen Perfekts äquivalent, die adäquate Übersetzung des Bildtitels ist natürlich Die Krähen sind zurückgekommen. _____________ 4
http://www.forum-ddr-grenze.de/t4124f63-Der-Traum-der-Kraehe.html
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Die mikrostrukturelle Narrativität ist hier untypisch, denn es gibt nur ein Prädikat. Auch das Szenische Präsens ist nicht gerade repräsentativ für narrative Passagen, wenn es hier auch ohne Weiteres zu Sequenzen kommt wie Anna tritt ein, setzt sich, nimmt ein Buch vom Tisch und schlägt es auf. Häufiger sind einsame Prädikate auch hier (springt auf). Ein Nebenargument für die Klassifizierung als narrativ besteht, ergänzend zur „Sprechzeitenthebung“, darin, dass andernfalls entweder Szenenanweisungen mit nur einem Prädikat als Ausnahmefall einer narrativen Passage gewertet werden müssten oder umgekehrt Szenenanweisungen mit mehreren Prädikaten als Ausnahmefall sprechzeitorientierter Passagen. Methodisch angemessener scheint folgende Regelung des Umfangs narrativer Passagen zu sein: Narrativer Standardfall ist die syntagmatische Verbindung mehrerer zeitachsenbildender Prädikate, bei erkennbarerer Sprechzeitenthebung kann auch nur ein Prädikat narrative Orientierung besitzen. Als Operationalisierung für den erstgenannten Fall setzen wir das Vorkommen von mindestens zwei zeitachsenbildenden Prädikaten an. Die Tempusverwendung in Nacherzählungen von Bildergeschichten oder Comics, wie sie im Beitrag von Tanja Anstatt behandelt werden, ist anders als Bildtitel zu klassifizieren. Dort ist die narrative Orientierung allein schon durch die Aufgabe bedingt, eine objektive Geschehensabfolge wiederzugeben. Die Fähigkeit, eine Bildergeschichte in Form einer Erzählung wiederzugeben, setzt voraus, dass narrative Kompetenzen überhaupt erworben wurden. Wir dürfen davon ausgehen, dass das Kind diese narrative Kompetenz mit Hilfe entsprechenden narrativen Inputs erwirbt. Input und eigene Äußerungen sind mündlich. Was das Kind erzählt bekommt, erzeugt eine Vorstellung des Geschehens. Diese Vorstellungen sind innere Äquivalente von Bildern und Comics, der kognitive Apparat ist bei der Verarbeitung und Produktion narrativer Mikrostrukturen voll gefordert. Wenn dem Kind gesagt wird, die Oma ist gekommen, versteht es, dass die Oma „jetzt da ist“, mit der Sprechzeit als Referenzzeit. Aber auf welche Zeit wird das Kind sich beziehen, wenn ihm Folgendes erzählt wird: Es war einmal eine Krähe. Die fand die schönen bunten Federn eines Pfaus und schmückte sich damit. Damit ging sie zu den Pfauen. Die erkannten sie aber und hackten auf sie ein. „Hört auf!“, rief die Krähe, ... Die Sprechzeit spielt für das richtige Verstehen keine Rolle. Vielmehr, so unsere Theorie, wird jedes der Prädikate dieses Textes einem gedachten Jetzt zugeordnet. Genauer gesagt: Jede mit der Verarbeitung des Prädikats vorgestellte Situation wird in folgendem Sinne repräsentiert: Jetzt passiert s1 (die Krähe findet Federn), und jetzt passiert s2 (die Krähe schmückt sich mit den Pfauenfedern), usw. Für diesen kognitiven Prozess verwendet man seit langem den passenden Ausdruck Vergegenwärtigung.
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Die Zeit der Vergegenwärtigung, das subjektive Jetzt in „jetzt passiert sx“, wird, wie in Abschnitt 2 erwähnt, mit dem PJ identifiziert. Es ist gemäß unserer Theorie die dominante Referenzzeit der mikrostrukturellen Narrativität. Das Umschalten vom sprechzeitbezogenen Sprechen (meist im Dialog) zum Erzählen (meist im Monolog) besteht also in der Ablösung der Sprechzeit als dominanter Referenzzeit durch das PJ. Mit den PJ regelt der Erzählende die chronologische Organisation des Geschehens, und sie erlaubt dem Hörer die innere Reproduktion dieses Geschehens. Noch einige Worte zu diesem Verfahren. Die Vorstellung des Geschehens wird durch eine Reihe von sprachlichen und nichtsprachlichen Faktoren erzeugt. Zu den sprachlichen gehören: die aspektuelle oder lexikalische Bedeutung mit der aktionalen Situationsgestalt (Ereignis, Verlauf, Zustand), Tempus, temporale Adverbien und Konjunktionen. Dass in einer aspektlosen Sprache mit lexikalischen Mitteln der aktionalen Situationsgestalt analoge chronologische Effekte wie mit dem Aspekt erzielt werden, wurde oben schon angesprochen: Die Abfolge der Ereignis-Prädikate in sie stand auf und steckte sich einen Bonbon in den Mund wird als Sequenz verstanden. Die Abfolge der Verlaufsprädikate sie badete und hörte Radio wird als zeitlich parallel verstanden. Mit der Vorstellung eines Ereignisses wie dem Aufstehen ist dieser Vorgang im dazugehörigen PJ abgeschlossen. Mit der Vorstellung eines Verlaufs wie Baden ist dieser Vorgang mit dem PJ nicht abgeschlossen, so dass die anschließende Vorstellung noch in die Zeit der vorher genannten fällt. Zu den nichtsprachlichen Faktoren beim Verstehen zeitlicher Beziehungen gehören das Weltwissen und die Abfolge der Prädikate (ordo naturalis und artificialis). Dass das Wissen über die natürliche Chronologie von Handlungen und anderen Vorgängen, z. B. in Form von Skripts, der wichtigste Faktor im Verstehen von Geschehnissen ist (dass man z.B. erst etwas findet und sich dann damit schmückt und nicht umgekehrt), wurde in Lehmann & Hamburger Studiengruppe (1993) nachgewiesen. Der Bezug zum PJ erlaubt auch die Retrospektive, wie sie im Deutschen durch das Plusquamperfekt markiert werden kann: Sie stand auf. Es hatte geklingelt. Jetzt1: sie steht auf; Jetzt2: es h a t geklingelt. Mit Hilfe des Plusquamperfekts wird das Klingeln als vorzeitig („vor jetzt“) erkannt, mit zusätzlicher Hilfe des Weltwissens wird das Klingeln als vor dem Aufstehen lokalisiert. Dass im Verstehensprozess das Klingeln erst einmal als vorzeitig zum PJ lokalisiert wird und nicht zum Aufstehen, ist an der Tatsache zu erkennen, dass auch bei einem Plusquamperfekt am Anfang eines Textes Vorzeitigkeit verstanden wird: Es hatte geklingelt. Sie saß am Schreibtisch, ging nicht an die Tür. Wie die Retrospektive, wird auch die Prospektive vom PJ aus vorgestellt: Sie fuhr nach Wuppertal. Dort würde sie schwer erkranken. Dies ist vom
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Sachverhalt her ein Nacheinander. Es wird aber in dieser narrativen Mikrostruktur nicht als Sequenz (Sie fuhr nach Wuppertal und erkrankte dort schwer), sondern perspektivisch, eben nachzeitig dargestellt. In der Sequenz ist das Treffen gleichzeitig zum PJ lokalisiert, im (nachzeitigen) narrativen Futur ist es nach dem PJ lokalisiert. Es ist nicht immer schnell zu erkennen, wann eine Passage als narrativ klassifiziert werden kann. Die Definition der narrativen Orientierung von Prädikaten besagt, dass das PJ bei narrativer Orientierung die dominante Referenzzeit ist (im Unterschied zur Sprechzeit als dominanter Referenzzeit bei sprechzeitorientierten Passagen). Woran kann man aber erkennen, dass die PJ-Referenz dominiert? Wir hatten schon gesagt, dass eine Voraussetzung für mikrostrukturelle Narrativität ein von der Sprechzeit unabhängiges (der Sprechsituation enthobenes) Zeitnetz ist – Prädikate, zwischen denen taxische Relationen bestehen. Ergibt sich bei jeder taxischen Relation mit gleichzeitig zum PJ lokalisierten Situationen (Ereignissen, Verläufen, Zuständen), gleich eine Erzählhaltung? Ist eine Äußerung am Telefon, ich sitz hier und lese dein Email, schon narrativ, weil die geschilderte Situation gleichzeitig zum PJ und taxisch relationiert ist? Zur Beantwortung dieser Frage machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Beim Telefonieren besteht keine kanonische Sprechsituation im Sinne von Padučeva (1996, 259-262), da der Sprecher und der Hörer sich nicht am selben Ort befinden. Nehmen wir an, der Sprecher antworte auf die Frage Was macht ihr gerade? Folgendes: Variante (1): Ich bearbeite meine Emails. Variante (2): Ich lese dein Email, das ich gerade bekommen habe. Variante (3): Ich lese gerade Zeitung und Anna hört Musik. Variante (4): Ich bearbeite meine Emails, habe aber eigentlich keine Lust. Die Kinder machen viel Lärm und der Nachbar hat seine Motorsense wieder in Betrieb genommen. Außerdem rumort es in meinem Magen. Draußen scheint die Sonne, die Linde duftet. Ich habe Lust spazieren zu gehen. ... Während (1) und (2) eindeutig temporaldeiktisch sind, gleitet (4) allmählich in einen narrativen Status über. Mit der fortschreitenden Schilderung wird der Bezug zwischen der Situationszeit (die objektive Zeit der Bearbeitung von Emails) und der Sprechzeit verdrängt durch die Beziehung zwischen den Situationszeiten untereinander, die alle gleichzeitig zum PJ sind. An die Stelle der Sprechzeit tritt als dominante Referenzzeit das PJ, die Zeit der Verarbeitung der Schilderung. Die Frage ist, ab wann die narrative Orientierung besteht, ob bereits in (3) eine narrative Orientierung anzusetzen ist und ob es in (4) nicht zunächst einige Sätze gibt, bei denen die temporale Orientierung unklar ist oder beide Orientierungen vorliegen. Diese Frage ist letztlich psycholinguistisch zu beantworten, für die Ontogenese wird sie im Beitrag von Tanja
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Volkmar Lehmann
Anstatt erörtert. Man darf annehmen, dass auch weitere Experimente mit Erwachsenen keine eindeutigen Ergebnisse bringen im Sinne eines Regelwerks, das erlauben würde, jede konkrete Redepassage als sprechzeitbezogen oder narrativ zu klassifizieren. Die statistische Streuung ist nicht nur wegen verschiedener Beurteilungen durch die Probanden zu erwarten, sondern auch und besonders aufgrund von Texteigenschaften, die in verschiedener Stärke als narrativ empfunden werden. Die Folgerung daraus ist die Annahme eines Übergangs zwischen den beiden Orientierungen oder, anders gesagt, einer typikalen Struktur des sprechzeitorientierten und des narrativen Redetyps. Beim gegenwärtigen Forschungsstand erscheinen folgende Konsequenzen angezeigt: 1. Anerkennung der prinzipiellen typikalen Struktur der narrativen und sprechzeitbezogenen Redetypen. 2. Operationalisierungen5 für die Klassifizierung konkreter Äußerungen. Es wäre falsch anzunehmen, es gebe keine deutlichen sprachlichen und außersprachlichen Faktoren, die eine Zuordnung von Äußerungen und Passagen zum sprechzeitbezogen oder narrativen Redetyp erlauben und es könnten keine prototypischen Tempusverwendungen in diesen Redetypen festgestellt werden. Oben wurden bereits sprachliche und nichtsprachliche Faktoren genannt, die das Verstehen narrativer Passagen regulieren. Letztlich können aber Einheiten aller sprachlichen Ebenen zum Verständnis eines Redetyps und zur linguistischen Interpretation beitragen. So unterstützen auch nichttemporale sprachliche Mittel die Interpretation der temporalen Orientierung,6 v. a. die Defaultfunktionen lokaler Adverbien, vgl. da, dahinten vs. an diesem Ort. Typische Wendungen triggern sofort eine narrative Interpretation eines Textes, z. B.: eines Tages, an jenem Morgen, es war einmal, russisch žili-byli, v odin den’. Literatur Anstatt, T. (in diesem Band). Zur Ontogenese des narrativen Redetyps. Hamburger, K. (1957). Die Logik der Dichtung. Stuttgart. Hopper, P. J. (1979). Aspect and foregrounding in discourse. In T. Givón (ed.), Discourse and Syntax, 213-241. New York. Koschmieder, E. (1934). Nauka o aspektach czasownika polskiego w zarysie. Wilno. _____________ 5 6
Oben habe ich dazu den Vorschlag gemacht, als Mindestumfang zwei gleichzeitig zum PJ lokalisierte, also zeitachsenbildende Prädikate anzusetzen. Konkrete Beispiele im Beitrag von Tanja Anstatt.
Narrativität aus linguistischer Sicht
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Labov, W. & Waletzky, J. (1967). Narrative analysis. In J. Helm (ed.), Essays on the Verbal and Visual Arts, 12-44. Seattle. Lehmann, V. (1992). Grammatische Zeitkonzepte und ihre Erklärung. Kognitionswissenschaft 2 (3/4), 156-170. Lehmann, V. (2008). Der narrative Redetyp und seine Analyse. In R. Hodel & V. Lehmann (Hrsg.), Narration und Textkohärenz: Untersuchungen russische Texte des Realismus und der Moderne, 179-226. Berlin/New York. Lehmann, V. (2010). Linguistik des Russischen: Textlinguistik. http://slawisches. verb.slav-verb.org/subdomain.verb.slav-verb.org/ Linguistik_des_Russischen.html. Lehmann, V. & Hamburger Studiengruppe (1993). Interaktion chronologischer Faktoren beim Verstehen von Erzähltexten (Zur Wirkungsweise aspektueller und anderer Defaults). In: Slavistische Linguistik 1992, 157-196. München. Norrick, N. S. (2000). Conversational Narrative. Amsterdam. Padučeva, E. V. (1996). Semantičeskie issledovanija: Semantika vremeni i vida v russkom jazyke. Semantika narrativa. Moskva. Polanyi, L. & Hopper, P. J. (1981). A Revision of the Foreground-Background Distinction. Paper presented at the 1981 Winter meeting of the Linguistic Society of America. New York. Pöppel, E. (1987). Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung. München. Reichenbach, H. (1947). Elements of Symbolic Logic. London/New York. Reinhart, T. (1984). Principles of gestalt perception in the temporal organization of a narrative text. Linguistics 22 (6), 779-809. Smith, Carlota S. (2004). Modes of Discourse: The Local Structure of Texts. Cambridge. Tomlin, R. S. (1985). Foreground-background information and the syntax of subordination: evidence from the English discourse. Text 5 (1/2), 85-122. Weinrich, H. (1964). Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart. Weiss, D. (1995). Die Rolle der Temporalität in der Textkonstitution. In H. Jachnow & M. Wingender (Hrsg.), Temporalität und Tempus: Studien zu allgemeinen und slavistischen Fragen, 245-272. Wiesbaden. Wiemer, B. (1997). Diskursreferenz im Polnischen und Deutschen (aufgezeigt an der Rede ein- und zweisprachiger Schüler). München. Zolotova, G. A. (1998). Kommunikativnaja grammatika russkogo jazyka. Moskva.
TANJA ANSTATT (Bochum)
Zur Ontogenese des narrativen Redetyps 1. Einleitung Gegenstand dieses Beitrags ist die ontogenetische Entwicklung des narrativen Redetyps, die am Beispiel von russisch- und deutschsprachigen Nacherzählungen einer Bildergeschichte durch Kinder und Erwachsene untersucht werden soll. Der Erwerb des narrativen Redetyps im Verlauf des kindlichen Spracherwerbs ist ein Prozess, der sich über viele Etappen hinzieht und dessen Verlauf frühestens gegen Ende der Grundschulzeit, in Bezug auf elaboriertere Verfahren noch später, als abgeschlossen betrachtet werden kann. Im Verlaufe dieses Erwerbs eignet das Kind sich ein komplexes Instrumentarium an, das sowohl grundlegende kognitive Entwicklungsschritte als auch den Erwerb sprachlicher Formen und Funktionen einschließt. Der Erwerb sprachlicher narrativer Mittel, in erster Linie die entsprechende Verwendung von Tempora und Anaphern, wird ausführlich in Bamberg (1987) am Beispiel des Deutschen und in Berman/Slobin (1994) anhand verschiedener Sprachen untersucht; Sappok (2004) befasst sich mit der Rolle der Intonation beim Erzählerwerb. Lehmann (2008) entwickelt anhand des Erwerbs narrativer Tempusverwendung im Russischen das Modell der natürlichen Progression, wobei etwa bei dem Schritt von Sprechzeitorientierung zur narrativen Orientierung zunächst dieselben Formen in neuen Funktionen verwendet werden (analog zum Slobin’schen Prinzip „form follows function“), erst dann folgen spezielle Formen für diese neuen Funktionen. In der Forschung zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten hat das Vier-Stufen-Modell von Boueke, Schülein et al. (1995) (s. auch Wolf, Boueke & Schülein 2007) weite Verbreitung gefunden,1 das komplexe narrative Merkmale in folgenden Strukturtypen bündeln soll: 1. Repräsentation isolierter Ereignisse: zwischen den einzelnen Ereignissen ist keinerlei inhaltliche Verbindung erkennbar, 2. lineare Ereignisrepräsentation: Die _____________ 1
Ein Literaturüberblick zum Erzählerwerb findet sich in Grießhaber (o. J., online).
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Tanja Anstatt
Ereignisse sind inhaltlich und temporal, aber nicht kausal oder erklärend miteinander verbunden, 3. episodisch strukturierte Ereignisrepräsentation: mindestens ein Ereignis wird als auslösendes Moment für die weitere Entwicklung markiert; 4. narrativ strukturierte Ereignisrepräsentation: zusätzlich zu den in 1.-3. genannten Merkmalen wird eine Komplikation dargestellt und eine affektive Beteiligung vermittelt. Für die von ihnen untersuchten Gruppen von Kindern stellen Boueke, Schülein et al. fest, dass bei den Kindergartenkindern die isolierte sowie die lineare Ereignisrepräsentation weit überwiegt; im zweiten Schuljahr kommen vor allem lineare und episodisch strukturierte Darstellungen vor, im vierten Schuljahr dominieren episodisch und narrativ strukturierte Erzählungen. Die Analyse der Erzählungen nach diesem Modell lässt sich jedoch nur schwer operationalisieren, und soweit formale Markierungen hierfür verwendet werden, bleiben Fortschritte, die sich unter Verwendung alter Formen mit neuen Funktionen vollziehen, verschleiert. Gegenstand des vorliegenden Artikels ist der Erwerb des narrativen Redetyps, wie er von Lehmann (im vorliegenden Band und 2008, ähnlich auch Padučeva 1996) definiert wird. Definitorisches Kriterium ist dabei die temporale Orientierung der auftretenden Prädikate. Der sprechzeitorientierte (deiktische) Redetyp stellt eine temporale Relation der bezeichneten Situation zum Sprechzeitpunkt her (Bsp. 1), der narrative Redetyp verknüpft sie hingegen mit einer subjektiven Referenzzeit (Bsp. 2): (1) (Wo ist Ivan?) Ivan ist nach Moskau gefahren. (2) Ivan kaufte am Schalter ein Billet, bestieg den Zug nach Moskau und suchte ein freies Coupé.
Weitere Details der Analyse werden ausführlich in Lehmann (in diesem Band) erörtert. Das geschilderte Kriterium siedelt die Analyse auf der Ebene der narrativen Mikrostruktur an, die sich mit den sprachlichen Details narrativer Texte befasst. Außer Acht gelassen wird hingegen die makrostrukturelle narrative Ebene, deren Gegenstand der Gesamtaufbau eines narrativen Textes ist (s. zu den Termini bereits Bierwisch 1971) – hiermit befassen sich in der Linguistik etwa Ansätze wie die „story grammar“, mit denen auch das von Boueke, Schülein et al. (1995) erarbeitete sog. Bielefelder Geschichtenmodell verwandt ist. Der Bezug ausschließlich auf die Mikroebene unterscheidet die vorliegende Untersuchung daher grundsätzlich von dem Ansatz von Boueke, Schülein et al. (1995). Andererseits ist das narrative Register in der Definition von Lehmann nicht nur auf Erzähltexte beschränkt, sondern erstreckt sich auf unterschiedliche Textsorten (s. Lehmann in diesem Band).
Zur Ontogenese des narrativen Redetyps
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Die hier analysierten Bildergeschichten stellen einen speziellen Typ von Narrationen dar. Lehmann (in diesem Band) schlägt eine Subkategorisierung von Narrationen in fünf Typen vor; die hier behandelten Bildergeschichten gehören nach dieser Klassifikation dem Olim-Typ an. 2. Tempusbesetzung der Redetypen im Deutschen und Russischen Da in diesem Beitrag deutsche und russische Nacherzählungen von Bildergeschichten untersucht werden sollen und im Zentrum der Untersuchung die temporale Orientierung der verbalen Prädikate steht, ist es notwendig, zunächst die Tempusbesetzung der Redetypen in diesen beiden Sprachen darzustellen, wobei ich mich auf Gleich- und Vorzeitigkeit beschränke. Das Russische und das Deutsche weisen in der Tempusbesetzung der Redetypen beträchtliche Unterschiede auf. Sie sind zum einen dadurch bedingt, dass das Russische über die grammatische Kategorie des Verbalaspekts verfügt, das Deutsche hingegen nicht. Zum anderen ist das deutsche Tempussystem komplexer – das Deutsche weist Tempora auf, die speziell im narrativen Redetyp verwendet werden. Betrachten wir zunächst den sprechzeitorientierten bzw. deiktischen Redetyp. Gleichzeitigkeit zum Sprechzeitpunkt wird in beiden Sprachen typischerweise mit dem Präsens markiert. (1a) (Was macht Anna da?) Anna öffnet das Fenster. (1b) (Čto Anna tam delaet?) Anna otkryvaet okno. Für Vorzeitigkeit zum Sprechzeitpunkt wird im Deutschen das Perfekt verwendet, im Russischen das einzige Vergangenheitstempus Präteritum, das aber sowohl im perfektiven (pf.) als auch im imperfektiven (ipf.) Aspekt auftreten kann: (2a) (Es ist kalt hier.) Anna hat das Fenster geöffnet. (2b) (Zdes’ cholodno.) Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. Im narrativen Redetyp treten nun beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden Sprachen auf: Das Deutsche verwendet hier mit dem Präteritum (bei Gleichzeitigkeit zur subjektiven Referenzzeit, Bsp. 3a) und dem Plusquamperfekt (bei Vorzeitigkeit zur subjektiven Referenzzeit, Bsp. 4a) typischerweise Tempora, die praktisch ausschließlich diesem Redetyp vorbehalten sind2. Im Russischen, das nicht über derartige Tempora verfügt, wird hingegen dieselbe Form verwendet, die auch im sprechzeitorientierten Redetyp auftritt, und zwar sowohl bei Gleichzeitigkeit (3b) als auch bei Vorzeitigkeit zur subjektiven Referenzzeit (4b): _____________ 2
Vgl. z. B. Weinrich 2001.
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Tanja Anstatt
(3a) (Ivan saß am Tisch und las die Zeitung.) Anna öffnete das Fenster. (3b) (Ivan sidel za stolom i čital gazetu.) Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. (4a) (Ivan saß am Tisch und las die Zeitung.) Anna hatte das Fenster geöffnet. (4b) (Ivan sidel za stolom i čital gazetu.) Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. Daraus ergibt sich, dass im Deutschen – zumindest soweit es um Erwachsene geht – jeweils relativ eindeutig auf den vorliegenden Redetyp geschlossen werden kann, im Russischen ist dies hingegen alleine anhand der Tempuswahl nicht möglich. Bei der im nächsten Abschnitt folgenden Analyse von Nacherzählungen wird sich aber noch ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Sprachen zeigen, der zu einem nahezu entgegengesetzten Ergebnis führt. Wie im Beitrag von Lehmann (in diesem Band) erörtert, ist es ein Charakteristikum des narrativen Redetyps, dass ihm angehörige Äußerungen auch ins Präsens transponiert werden können, ohne dass sich die temporale Interpretation ändert. Für sprechzeitbezogene Äußerungen ist dies hingegen nicht möglich. Daraus ergibt sich für den narrativen Redetyp eine alternative Tempusbesetzung, die in beiden Sprachen sowohl bei Gleichzeitigkeit (Bsp. 5a und b) als auch bei Vorzeitigkeit (Bsp. 6a und b) formal mit der Besetzung des sprechzeitorientierten Redetyps identisch ist. (5a) (Ivan sitzt am Tisch und liest die Zeitung.) Anna öffnet das Fenster. (5b) (Ivan sidit za stolom i čitaet gazetu.) Anna otkryvaet okno. (6a) (Ivan sitzt am Tisch und liest die Zeitung.) Anna hat das Fenster geöffnet. (6b) (Ivan sidit za stolom i čitaet gazetu.) Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. Eine Übersicht über die dargestellte Tempusbesetzung gibt die folgende Tabelle:
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Deutsch Russisch 1. Tempusbesetzung des sprechzeitorientierten Redetyps Gleichzeitig zum Präsens Präsens Sprechzeitpunkt 1a. Anna öffnet das Fenster. 1b. Anna otkryvaet okno. Vorzeitig zum Perfekt Präteritum (ipf. oder Sprechzeitpunkt 2a. Anna hat das Fenster pf. Aspekt) geöffnet. 2b. Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. 2. Typische Tempusbesetzung des narrativen Redetyps Gleichzeitig zur sub- Präteritum Präteritum3 (ipf. oder pf. Aspekt) jektiven Referenzzeit 3a. Anna öffnete das Fenster. 3b. Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. Vorzeitig zur subjek- Plusquamperfekt Präteritum (ipf. oder tiven Referenzzeit 4a. Anna hatte das Fenster pf. Aspekt) geöffnet. 4b. Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. 3. Alternative Tempusbesetzung des narrativen Redetyps Gleichzeitig zur sub- Präsens Präsens jektiven Referenzzeit 5a. Anna öffnet das Fenster. 5b. Anna otkryvaet okno. Vorzeitig zur subjek- Perfekt Präteritum (ipf. oder tiven Referenzzeit 6a. Anna hat das Fenster pf. Aspekt) geöffnet. 6b. Anna otkrylaPF / otkryvalaIPF okno. Tab. 1: Tempusbesetzung des sprechzeitorientierten und des narrativen Redetyps
3. Empirische Untersuchung zur Ontogenese des narrativen Redetyps 3.1. Material und Methode In diesem Abschnitt sollen die in den vorausgegangenen Kapiteln dargelegten Prinzipien auf ein Korpus von Erzählungen angewendet werden. Die untersuchten Erzählungen stammen von russisch- und deutschsprachigen Erwachsenen sowie Kindern unterschiedlicher Altersstufen. Bei der Analyse der Erzählungen soll die Frage im Zentrum stehen, wie sich _____________ 3
Die identische Tempusbezeichnung „Präteritum“ darf nicht als Identität der Tempora hinsichtlich ihrer Funktion verstanden werden.
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das Auftreten der beiden Redetypen, des narrativen und des deiktischen, zwischen Erwachsenen und Kindern unterscheidet und was sich hieraus für die Entwicklung des narrativen Redetyps ableiten lässt. Eine weitere Frage, die sich hieraus ergibt, gilt dem Unterschied zwischen dem Russischen und dem Deutschen: Die beiden Sprachen weisen in der Tempusbesetzung der beiden Redetypen bestimmte Unterschiede auf, die oben geschildert wurden. Inwieweit wirken sich diese Unterschiede auf die Entwicklung und auch auf die Interpretation der Redetypen aus? Für diese Untersuchung wurden mündliche Nacherzählungen der in der Spracherwerbsforschung breit verwendeten „Frog Story“ von Mercer Mayer verwendet, einer Bildergeschichte ohne Worte.4 Die Sprechergruppen stellt Tabelle 2 dar.5 Der Umfang der einzelnen Gruppen ist heterogen, für die vorliegende Untersuchung, die sich als qualitative Auswertung versteht, mag er jedoch genügen. Erwachsene Schulkinder (7-10 Jahre) Kindergartenkinder (4-6 Jahre) Kindergartenkinder (3 Jahre) Gesamt
Deutsch 12 4 6 5 27
Russisch 8 4 21 3 36
Tab. 2: Ausgewertete Daten nach Sprechertypen
3.2. Tempusverwendung und Redetypen in deutschen und russischen Erzählungen Erwachsener Beginnen wir unsere Analyse der Tempusverwendung und Redetypen mit den Erwachsenen, die das voll erworbene Erzählen repräsentieren. Alle zwölf deutschsprachigen Erwachsenen verwenden in ihren Erzählungen als Haupttempus das Präsens; mit Verben im Perfekt wird die Vorzeitigkeit eines Situation markiert, vgl.: _____________ 4 5
Sie liefert die Erzählvorlage beispielsweise für Bamberg 1987, der sie als erster verwendete, Berman & Slobin 1994, Sappok 2004 und Anstatt 2008. 28 der russischen Erzählungen und 4 der deutschen sind Daten, die im Rahmen des Projekts „Verbalaspekt bei bilingualen russisch-deutschen Kindern“ des SFB 441 an der Universität Tübingen von verschiedenen Mitarbeiterinnen und mir erhoben wurden. Die übrigen Erzählungen wurden der Datensammlung des Projektes „Childes“ (http://childes.psy. cmu.edu/) entnommen.
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(1) Der Hirsch lässt sich nicht beirren, macht am Abhang halt und schwupp schmeißt er Tom den Abhang hinunter in einen kleinen Teich. Der Hund hat […] auch den Halt verloren und fällt hinter Tom her. (Erw-dt 5)
Das Beispiel zeigt, dass es sich hier – trotz Überwiegen des Präsens – nicht um die reine Beschreibung von auf dem Bild zu sehenden Situationen als gleichzeitig zum Sprechzeitpunkt handelt, sondern vielmehr um die Schilderung von Sequenzen von Ereignissen, die untereinander vernetzt sind. Wie oben und in Lehmann (in diesem Band) als typisch für das narrative Register dargestellt gilt hier, dass die Sprechzeit für das Verstehen dieser Schilderung keine Rolle spielt: Der Erzähler setzt die Bilder in eine in sich kohärente Abfolge von Ereignisschilderungen um, die unabhängig von den Bildvorlagen existieren können – die Bilder liefern sozusagen lediglich den Anstoß für eine Erzählung, die sprachlich wie jede andere Narration ausgestaltet wird. Die Situationen laufen vor dem geistigen Auge des Hörers ab, auch wenn er die gezeichneten Bilder nicht sehen kann. Hier ließe sich auch die im Vergleich zur oben vorgestellten Ersatzprobe umgekehrte Richtung des Austausches der Tempora durchführen: Der Text könnte ins Präteritum gesetzt werden, ohne dass dies andere als stilistische Auswirkungen hätte: (1b) Der Hirsch ließ sich nicht beirren, machte am Abhang halt und schwupp schmiss er Tom den Abhang hinunter […].
Es erstaunt, dass von den zwölf deutschen Erwachsenen das Präsens so eindeutig präferiert wird.6 Nur bei einem Sprecher findet sich überhaupt das Präteritum, und auch bei diesem Sprecher dient das Präteritum lediglich als Markierung der narrativen Struktur in der Einleitung – schon bald wechselt er ins Präsens und bleibt dann auch bei diesem: (2) Also ich möchte jetzt die Geschichte erzählen von dem kleinen Hund der Frau Frosch und dem kleinen Hans. Die beiden die wohnten in trautem Heim zusammen. Der Frosch war im kleinen Glas untergebracht […]. Nachts mussten sie alleine schlafen. Der Hund liegt bei seinem Herrchen Hansi und Frau Frosch nutzt die Gelegenheit […]. (Erw-dt 2)
Auch Bamberg (1987), aus dessen Korpus neun der zwölf Erzählungen deutscher Erwachsener ursprünglich stammen, der aber noch mehr Material analysierte, konstatierte die Dominanz der präsentischen Erzählung, stellte daneben aber für einige Erwachsene auch die Verwendung des Präteritums (mit Plusquamperfekt für Vorzeitigkeit) fest. Wie oben dargelegt lässt sich für die deutschen Erzählungen der Erwachsenen problemlos die subjektive Referenzzeit als Bezugspunkt aus_____________ 6
Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass die den Erwachsenen gestellte Aufgabe lautete „Stellen Sie sich vor, dass Sie die Geschichte einem Kind erzählen.“ (vgl. Bamberg 1984). Zieht man in Betracht, dass auch typische Vorlesegeschichten, etwa Märchen, im Präteritum abgefasst sind, so kann das Bestreben, sich kindgerecht auszudrücken, jedoch nicht die einzige Ursache sein.
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machen und somit feststellen, dass es sich hier um den narrativen Redetyp in der alternativen Tempusbesetzung (vgl. Tab. 1, Typ 3) handelt. Das Überwiegen des Präsens darf mithin keinesfalls als Hinweis auf eine deiktische Orientierung interpretiert werden (wie dies etwa Bamberg 1987 tut). Dies verdeutlichen auch die zahlreichen expliziten Benennungen der temporalen Beziehungen, die gleichzeitig als Marker des narrativen Redetyps angesehen werden können (und dann, derweil, am nächsten Morgen), da sie den Bezug zweier oder mehrerer Prädikate untereinander markieren. Sie sind charakteristisch für alle Erzählungen der deutschsprachigen Erwachsenen, vgl.: (3) und dann geht der Junge mit dem Hund ins Bett, und der Frosch klettert derweil aus dem Glas und verschwindet. Am nächsten Morgen sucht der Junge den Frosch, weil er gesehen hat, dass das Glas leer ist. (Erw-dt 11)
Typisch für die Erwachsenen sind auch metasprachliche Kommentare zum Redetyp (ich möchte jetzt die Geschichte erzählen, vgl. z.B. oben Bsp. 2). Wenden wir uns nun den Erzählungen der russischen Erwachsenen zu. Hier kann festgestellt werden, dass von den acht untersuchten Erzählungen nur eine das Präsens als Haupttempus verwendet, während die übrigen Sprecher die Erzählung im Präteritum als Haupttempus durchführen, vgl.: (4) Noč’ju, kogda mal’čik lëgPF-PRÄT spat’ a sobaka tože otdychalaIPF-PRÄT, ljaguška rešilaPFPRÄT posmotret’ kak ustroena žizn’ u čeloveka i ona ušla PF-PRÄT iz banki. Kogda utrom mal’čik prosnulsjaPF-PRÄT, sobaka tože prosnulas’PF-PRÄT, oni uvideliPF-PRÄT, čto banka pustaja. ‚Nachts, als der Junge sich schlafen gelegt hatte und der Hund sich auch gerade erholte, beschloss der Frosch zu schauen, wie das Leben beim Menschen aussah und kletterte aus dem Glas. Als morgens der Junge aufwachte, der Hund wachte auch auf, sahen sie, dass das Glas leer war.’ (Erw-ru 7)7
Abgesehen von der unterschiedlichen Tempuspräferenz, gilt hier alles für das Deutsche Gesagte analog: Auch hier haben wir eine Tempusbesetzung (genauer: Tempus-Aspekt-Besetzung), die sich formal zwar nicht von derjenigen des deiktischen Redetyps unterscheidet, der Bezug zur subjektiven Referenzzeit statt zur Sprechzeit, die temporale Vernetzung sowie auch explizite sprachliche Mittel (kogda ‚als‘, utrom ‚morgens‘) zeigen jedoch klar das Vorliegen des narrativen Redetyps an. Es zeigt sich somit, dass die erwachsenen Sprecher des Russischen und des Deutschen die Versprachlichungsaufgabe im Prinzip gleich umsetzen und in beiden Fällen die narrative Orientierung evident ist, dass sie jedoch unterschiedliche Tempuspräferenzen für die Textsorte „Nacherzählungen einer Bildergeschichte“ aufweisen. Das Deutsche verhält sich _____________ 7
Zur Verdeutlichung der im Russischen verwendeten Tempus-Aspektformen werden Prädikate mit tiefgestellten Annotationen versehen, wobei PF-PRÄT für das perfektive und IPF-PRÄT für das imperfektive Präteritum stehen, PRÄS markiert das Präsens.
Zur Ontogenese des narrativen Redetyps
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hier analog zu anderen Sprachen, die ebenfalls in Bildergeschichten das Präsens stark bevorzugen (s. Berman & Slobin 1994). Typologisch gesehen scheint also eher das Russische eine Ausnahme zu bilden; als Grund kann die Existenz der Aspektopposition angenommen werden, die für die temporale Strukturierung der Narration im Russischen eine wesentliche Rolle spielt, im Präsens jedoch neutralisiert ist (s. auch Anstatt 2008). Interessant für die folgenden Ausführungen ist, dass sich aus dem Gesagten bestimmte Unterschiede zwischen den beiden Sprachen bezüglich der Markierung der Redetypen ergeben: Im Deutschen wird Gleichzeitigkeit wegen der Präferenz für das Präsens im narrativen Redetyp mit derselben Tempusform markiert wie im sprechzeitorientierten Redetyp, im Russischen aber nicht. Wir können die Tab. 1 auf der Grundlage der Erzählungen der Erwachsenen für den Narrationstyp „Erzählungen von Bildergeschichten“ modifizieren (s. u. Tab. 3). Im Vergleich zum oben angeführten Modell wechseln im Deutschen die typische und die alternative Tempusbesetzung die Plätze: Für Erzählungen von Bildergeschichten ist das Präsens typisch, das Präteritum wird selten verwendet und ist daher das Alternativmodell. Anders im Russischen: Hier ist das Präteritum wie in Tab. 1 die typische Tempusbesetzung, das (historische) Präsens hingegen ist auch in den Bildergeschichten nur die alternative Besetzung. Deutsch Russisch 1. Tempusbesetzung des sprechzeitorientierten Redetyps Gleichzeitig zum Präsens Präsens Sprechzeitpunkt Vorzeitig zum Perfekt Präteritum (ipf. oder Sprechzeitpunkt pf. Aspekt) 2. Typische Tempusbesetzung des narrativen Redetyps in Erzählungen von Bildergeschichten Gleichzeitig zur sub- Präsens Präteritum (ipf. oder jektiven Referenzzeit pf. Aspekt) Vorzeitig zur subjek- Perfekt Präteritum (ipf. oder tiven Referenzzeit pf. Aspekt) 3. Alternative Tempusbesetzung des narrativen Redetyps in Erzählungen von Bildergeschichten Gleichzeitig zur sub- Präteritum Präsens jektiven Referenzzeit Vorzeitig zur subjek- Plusquamperfekt Präteritum (ipf. oder tiven Referenzzeit pf. Aspekt) Tab. 3: Tempusbesetzung des sprechzeitorientierten Redetyps sowie des narrativen Redetyps für die Textsorte „Erzählungen von Bildergeschichten“
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Tanja Anstatt
3.3. Tempusverwendung und Redetypen in deutschen und russischen Erzählungen von Schulkindern Kommen wir nun zu den Erzählungen der Kinder. Dabei werden wir uns schrittweise von den älteren zu den jüngsten Kindern bewegen, so dass wir hier mit den ältesten der untersuchten Kinder beginnen, den 710jährigen Schulkindern. Von den untersuchten vier deutschen Schulkindern verwenden drei weit überwiegend das Präsens, dazwischen (selten) zur Markierung von Vorzeitigkeit das Perfekt. Wie auch bei den Erwachsenen ist die narrative temporale Orientierung überwiegend klar erkennbar: Die Erzählung ist unabhängig vom Sprechzeitpunkt, die geschilderten Situationen werden in ein temporales Netz eingefügt. Die Vernetzung wird auch mit expliziten Mitteln markiert, vgl. Bsp. (5) mit temporalen Adverbien des zeitlichen Bezugs (und dann, in der Zwischenzeit) sowie dem die Unerwartetheit aus Protagonistensicht markierenden auf einmal, das ebenfalls als explizit narrativ anzusehen ist: (5) und dann sieht der Hund ganz viele Bienen. Da läuft er denen nach und sieht (…) einen Bienenschwarm. Und in der Zwischenzeit sieht der Junge ein Loch und ruft da rein. Und auf einmal kommt da ein Maulwurf raus und erschrickt sich. Und der Hund der schüttelt in der Zwischenzeit an dem Baum. (Schulk-dt 1, 9 J.)
Im Vergleich zu den Erwachsenen ist die Narrativität jedoch weniger ausgestaltet, die expliziten narrativen Mittel sind weniger vielgestaltig. Interessant ist insbesondere, dass Äußerungen auftreten, in denen auch eine sprechzeitbezogene (deiktische) Interpretation möglich ist, vgl.: (6) also da hat ein Junge einen Frosch gefangen und die beiden kucken sich den jetzt an. Und abends als der Junge schläft, steigt der Frosch heimlich aus dem Glas raus und zum Fenster raus. Und morgens, als der Junge auf(ge)wacht ist, sehen sie, dass der Frosch weg ist. (Schulkdt 1, 9 J.)
In deiktischer Interpretation wäre das erste Prädikat der ersten Äußerung dann zu verstehen als „Guck mal, der Junge da hat einen Frosch gefangen“. Diese Fälle liegen insbesondere zu Beginn der Erzählung vor, in denen noch kein Netz von Situationen aufgebaut ist, und sie werden ermöglicht durch sprachliche Mittel, die sowohl dem deiktischen als auch dem narrativen Redetyp angehören können: Das Präsens kann sowohl narrative als auch deiktische Funktion haben, das Pronominaladverb da kann sowohl deiktisch-räumlich als auch narrativ-temporal interpretiert werden, jetzt kann ebenfalls neben der deiktischen eine narrative Funktion aufweisen.8 _____________ 8
Zur Illustration zwei Beispiele aus W. Hauff „Das kalte Herz“, in denen da und jetzt aufgrund des Zusammenhangs eindeutig als narrativ interpretiert werden [s. nächste Seite]:
Zur Ontogenese des narrativen Redetyps
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Hier liegen also Fälle vor, die in Lehmann (in diesem Band) angesprochen wurden: die Orientierung ist nicht eindeutig zuzuordnen, sie bleibt diffus. Schon das zweite Prädikat des ersten Satzes erhöht aber die Wahrscheinlichkeit einer narrativen Orientierung, und vollends klar wird diese dann ab dem zweiten Satz, in dem explizite narrative Mittel (abends, als) auftreten. Eine rein narrativ orientierte Erzählung ohne alle Diffusitäten findet sich hingegen beim vierten Kind, das nicht nur überwiegend das Präteritum und somit ein hinsichtlich des Redetyps eindeutiges Tempus verwendet, sondern die Erzählung auch mit einer typisch narrativen Wendung eröffnet und die temporale Orientierung somit bereits im ersten Satz eindeutig kennzeichnet. Ambige Mittel wie da lassen sich in diesem Kontext klar narrativ interpretieren. (7) Es war einmal ein Junge. Der hatte einen Frosch und einen Hund. […] Und dann eines Nachts da schlief der Junge in seinem Bett und der Hund war auf der Bettdecke. Da schlüpfte der Frosch aus dem Glas heraus und verschwand. (Schulk-dt 2, 9 J.)
Von den vier russischsprachigen Schulkindern wählen drei das Präteritum als Haupttempus, eines das Präsens, jedoch mit klar erkennbarer narrativer Orientierung. Analog zu den gleichaltrigen Deutschen sind in einigen Fällen die Einstiegspassagen sowohl deiktisch als auch narrativ interpretierbar und somit diffus. Und auch hier weist eine der Erzählungen eine besonders intensive Verwendung expliziter narrativer Mittel auf: (8) V odnom gorode žilIPF-PRÄT mal’čik pod imenem Kristian. U nego bylaIPF-PRÄT sobaka, kotoruju zvaliIPF-PRÄT Muchtar. ‚In einer Stadt lebte ein Junge mit dem Namen Christian. Er hatte einen Hund, der Muchtar hieß.‘ (Schulk-russ 4, 10 J.)
Interessant ist hier besonders, dass die narrative Orientierung auch durch verschiedene nichttemporale Mittel markiert wird. Es handelt sich um sprachliche Mittel, die typisch für Narrationen sind; sie dienen der Einführung der Protagonisten und bauen das Netz auf, in das die dann folgenden Situationen eingefügt werden (v odnom gorode ‚in einer Stadt‘, pod imenem ‚mit dem Namen‘, Wortstellung im ersten und zweiten Satz: Erstposition der Ortsangabe bzw. der Possessivangabe, ipf. Aspekt). Für die Schulkinder lässt sich somit erstens festhalten, dass sie jeweils dieselben Tempuspräferenzen aufweisen wie die erwachsenen Sprecher ihrer Sprache. Zweitens gestalten die Schulkinder beider Sprachen ihre Erzählung klar mit narrativer temporaler Orientierung, verschiedentlich kommt es jedoch am Beginn der Erzählung zu diffusen Äußerungen, die auch als auf den Sprechzeitpunkt bezogen interpretiert werden können. _____________ […] doch als sie zurückkehrte […] und das Männlein sah, wie es so elend und verkümmert auf dem Sack saß, da fühlte sie inniges Mitleid […]. (286) Er trieb jetzt aber nicht mehr das Glashandwerk, sondern den Holzhandel. (283)
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3.4. Tempusverwendung und Redetypen in deutschen und russischen Erzählungen von Kindergartenkindern Damit kommen wir zu den Kindergartenkindern, die noch einmal unterteilt werden sollen in vier- bis sechsjährige Kinder einerseits und die kleinsten der Kinder, die Dreijährigen, andererseits. Die sechs deutschen vier- bis sechsjährigen Kindergartenkinder verwenden alle als Haupttempus das Präsens (mit gelegentlichen Prädikaten im Perfekt). Bei vieren der sechs Kinder finden sich regelmäßig Marker der Narrativität, die – dem Alter entsprechend – einfach sind und wenig variiert werden: (9) denn sind die zwei im Wald und denn kommt ein Hirsch denn fallen sie wieder ins Wasser und denn gehen sie raus. (Kinderg-dt. 4, 5 J.)
Die oben angesprochene Diffusität ist in dieser Gruppe noch deutlicher ausgeprägt. Drei der sechs Kinder verwenden ausgesprochen viele Formen wie da oder hier, die sowohl deiktische als auch narrative Funktion aufweisen können, vgl.: (10) da ist ein Glas mit einem Frosch und ein Hund guckt in das Glas rein. Und ein Junge ist da. Und hier geht der Frosch aus dem Glas raus und und der Hund und der Junge schlafen. (Kinderg-dt. 4, 6 J.)
Wenn Adverbien dieses Typs geballt wie in Bsp. (10) auftreten, wird eher eine deiktische Interpretation, also ein Bezug zum Sprechzeitpunkt, nahegelegt. Gleichzeitig weisen die Äußerungen aber wie Bsp. 10 in der Regel mehrere Prädikate auf und benennen so mehrere Situationen, die, zumindest implizit, auch miteinander in einem Zusammenhang stehen und somit gleichzeitig die narrative Interpretation eröffnen. Insgesamt sind viele der Erzählungen der deutschen Kinder dieser Altersgruppe durch zahlreiche diffuse Passagen gekennzeichnet. Da sich im Russischen – anders als im Deutschen, vgl. Tab. 3 – die Tempusbesetzung des deiktischen Redetyps von der bevorzugten Tempusverwendung im narrativen Redetyp bei Bildergeschichten unterscheidet, ist nun die Frage interessant, wie die sprachliche Gestaltung bei den russischen Kindergartenkindern aussieht: Verfügen diese jungen Kinder bereits über die erzähltypische Tempusverwendung? Die Analyse der Daten ergibt, dass von den 21 untersuchten russischsprachigen Kindergartenkindern zwischen vier und sechs Jahren 18 als Haupttempus das Präteritum verwenden. Zwar tritt das Präsens als Nebentempus häufiger auf als bei Erwachsenen. Dennoch ist in diesen 18 Erzählungen die narrative Orientierung in aller Regel durch den Bezug der Prädikate untereinander eindeutig erkennbar, vgl.: (11) A mal’čik potom v dub posmotrelPF-PRÄT. A tam filin bylIPF-PRÄT. Mal’čik upalPF-PRÄT a sobaka ubežalaPF-PRÄT. A sobaka bežitPRÄS a pčël vot skol’ko pčël letitPRÄS za nej! Potom fi-
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lin vot eščë poletelPF-PRÄT. ‚Und der Junge sah dann in die Eiche. Und da war ein Uhu. Der Junge fiel herunter und der Hund lief weg. Und der Hund läuft und die Bienen, wieviele Bienen fliegen da hinter ihm her! Dann flog der Uhu da noch los.‘ (Kinderg-russ 15, 5 J.)
Von den Kindern dieser Gruppe werden regelmäßig narrative Marker (v.a. Temporaladverbien) verwendet, bei einzelnen Kindern findet sich sogar ein erzähltypischer Einstieg: (12) Žil-byl mal’čik […] (Kinderg-russ 13, 4 J.) ‚es war einmal ein Junge‘
Gerade zu Beginn der Geschichte finden sich aber auch bei Überwiegen des Präteritums wieder gelegentlich diffuse Passagen im Präsens, also solche, die auch deiktisch interpretierbar sind, z.B.: (13) Ja vižuPRÄS sobačku i čeloveka i ljagušku. A vot devočka spitPRÄS i sobaka spitPRÄS a ljaguška vylezaetPRÄS iz banki. ‚Ich sehe ein Hündchen und einen Menschen und einen Frosch. Und da schläft das Mädchen und der Hund schläft und der Frosch klettert aus dem Glas.‘ (Kinderg-russ 12, 4 J.)
Drei der russischen Kindergartenkinder verwenden – anders als die Mehrzahl ihrer gleichsprachigen Altersgenossen – als Haupttempus das Präsens; wenn bei ihnen präteritale Prädikate auftreten, markieren sie in der Regel einen Nachzustand (analog zur Verwendung Präsens – Perfekt in den deutschen Erzählungen). Vgl. hierzu das folgende Beispiel, dessen zweite Äußerung sich auf ein Bild bezieht, in dem der Junge und der Hund in einem Teich unterhalb eines Abgrundes liegen: (14) Potom olen’ bežitPRÄS, i sobaka. A potom mal’čik i sobačka upaliPF-PRÄT, a olen’ ostanovilsjaPF-PRÄT. ‚Dann läuft der Hirsch, und der Hund. Und dann sind der Junge und der Hund heruntergefallen, und der Hirsch ist stehengeblieben.‘ (Kindergruss 14, 5 J.)
Für die vier- bis sechsjährigen Kindergartenkinder lässt sich festhalten, dass es häufiger als bei den älteren Kindern zu diffusen Äußerungen kommt. Dies wird insbesondere durch die Ambiguität des Präsens sowie einiger weiterer sprachlicher Mittel (vgl. dt. da) befördert. Im Russischen tritt diese Ambiguität weit seltener auf als im Deutschen, da bereits die Kindergartenkinder in ihren Erzählungen deutlich das Präteritum bevorzugen, das nicht deiktisch interpretiert werden kann. Daraus lässt sich die These ableiten, dass der Redetyp im Input russischer Kinder klarer unterscheidbar ist als im Deutschen (wo oft das narrative Präsens auftritt) und daher leichter erworben werden kann. Betrachten wir nun noch die Erzählungen der kleinsten Kinder, der Dreijährigen. Bei allen fünf deutschsprachigen Dreijährigen finden sich praktisch ausnahmslos Äußerungen, die als sprechzeitbezogen aufzufassen sind – sie können charakterisiert werden als mehr oder weniger unver-
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bundene Aneinanderreihung monoprädikativer Äußerungen mit initialem Lokaladverb, vgl. etwa: (15) Und da schlafen die. Da ist der rausgegangen. Da sind die Scherben. Und da kuckte der. Da sind die beiden. (Kinderg-dt 9, 3 J.)
Es entsteht kein temporales Netz, in das die einzelnen Situationen eingebunden werden, es wird kein Ankerpunkt für eine subjektive Referenzzeit gebildet und die einzelnen Äußerungen können nur als an den Sprechzeitpunkt gebunden („guck mal da: die schlafen“, „guck mal da: da sind Scherben“ etc.) verstanden werden. Das in Beispiel (15) verwendete Präteritum in und da kuckte der könnte ein Hinweis darauf sein, dass das hier zitierte Kind aber schon bestimmte sprachliche Formen mit dem Kontext „Erzählen“ assoziiert. Das Bild bei den drei russischsprachigen Dreijährigen ist sehr ähnlich: zwei der Kinder verwenden fast ausschließlich das Präsens, sehr oft treten äußerungsinitiale Lokaladverbien auf und die Prädikate stehen überwiegend unverbunden nebeneinander. Besonders interessant ist die Erzählung des dritten Kindes, vgl. folgendes Beispiel: (16) [Untersuchungsleiterin: a potom čto?] Kind: Potom [sobaka] vyskočilaPF-PRÄT iz doma, pobežalaPF-PRÄT guljat’. a potom mal’čik ego vzjalPF-PRÄT na ruki i rasserdilsjaPF-PRÄT. ‚[Untersuchungsleiterin: und dann?] Kind: Dann sprang [der Hund] aus dem Haus und ging spazieren. Und dann nahm der Junge ihn auf den Arm und ärgerte sich.‘ (Kinderg-russ 2, 3 J.)
Dieses Kind lässt erkennen, dass es sich in einem frühen Stadium des Erwerbs des narrativen Redetyps befindet: Es verwendet das Präteritum als dominierendes Tempus und hat somit ein für das Russische typisches formales Merkmal des Erzählens erworben. Außerdem kann es eine Reihe von Situationen in einen zeitlichen Zusammenhang stellen. Allerdings braucht es dazu die Unterstützung der Untersuchungsleiterin, die durch ihre wiederholte Frage a potom? ‚und dann?‘ im Grunde das narrative Gerüst selbst vorgibt. Die geschilderten Situationen stehen nur manchmal in einem inhaltlichen Zusammenhang (das Ärgern des Jungen hat seine Ursache nicht darin, dass er den Hund auf den Arm genommen hat), letztlich bleibt daher offen, ob das Kind den narrativen Redetyp auch inhaltlich schon erworben hat. Offenbar geht hier das typische formale Merkmal, nämlich die Verwendung des Präteritums, dem Erwerb der inhaltlichen Seite voraus (was sich auch in Beispiel 15 zum Deutschen mit dem vereinzelten Präteritum andeutete). Für die betrachteten dreijährigen Kinder lässt sich zusammenfassen, dass sie den narrativen Redetyp höchstens ansatzweise aufweisen, im Wesentlichen aber bei einer deiktisch orientierten Bildbeschreibung bleiben.
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3.5. Seitenblick: Der Anfang des narrativen Redetyps Offen bleibt allerdings, ob die Erklärung in Bezug auf die Dreijährigen darin zu suchen ist, dass die Kinder noch nicht in der Lage sind, Bildgeschichten als fortlaufende Narration zu interpretieren. Natürlich liegt mit der Bildergeschichten-Nacherzählung nur eine spezielle Variante des Erzählens vor und für andere Varianten könnte sich durchaus ein anderes Bild ergeben. Abschließend möchte ich mich daher kurz der Frage zuwenden, ab wann sich in den sprachlichen Äußerungen der Kinder überhaupt die ersten Reflexe der Lösung vom Sprechzeitpunkt und des Bezugs zur subjektiven Referenzzeit zeigen lassen und dafür einen Blick über das Froschgeschichtenkorpus hinaus werfen. Zu diesem Ziel habe ich eine umfangreiche Tagebuchstudie (Anstatt Ms.) zu zwei deutschsprachigen Kindern daraufhin ausgewertet, in welchem Alter dort die ersten klar narrativ orientierten Äußerungen belegt sind. Als Kriterium galt dabei, dass vom Kind mindestens zwei Situationen versprachlicht werden, die vom Sprechzeitpunkt gelöst sind und miteinander in einer temporalen Beziehung stehen. Dabei zeigte sich, dass die beiden untersuchten Kinder etwa um das Alter von zweieinhalb Jahren herum die Fähigkeit erkennen lassen, Situationen vor ihrem „inneren Auge“ ablaufen zu lassen und sie in Bezug zur subjektiven Referenzzeit zu setzen. Sie verfügen zunächst jedoch noch nicht über die sprachlichen Mittel, um deren Verbindung explizit zu markieren. Dies illustriert der früheste auffindbare Beleg, in dem das Kind einen kurz zuvor gesehenen Filmausschnitt schildert: (17) Christopher Robin bei Winnie Puuh. Von Eule kaputt Haus gegangen. Ferkel. Esel Schwanz. (Tagebuch-Kind 1, 2 J. 4 Mon.)
Die Situationen, die sich das Kind vorstellt, werden nicht vollständig versprachlicht, zum Teil nur durch die jeweils auftretenden Protagonisten angerissen (für Außenstehende bleibt diese „Narration“ daher unverständlich), klar wird aber die narrative Struktur (Christopher Robin ist bei Winnie Puuh, dann geht das Haus von Eule kaputt, dann tritt Ferkel auf und es gibt ein Ereignis mit dem Schwanz des Esels.) Der erste Beleg mit einer expliziten Markierung der temporalen Verhältnisse findet sich einen Monat später: (18) Dann aufgewacht, dann Kathi kommt. (Vor dem Mittagsschlaf geäußert: ‚Wenn ich wieder aufgewacht sein werde, wird Kathi kommen‘) (Tagebuch-Kind 1, 2 J. 5 Mon.)
In derselben Zeit beginnen die beiden Kinder sich zunehmend metasprachlich über Geschichten zu äußern und zunächst andeutungsweise zu zeigen, dass sie formale Charakteristika (eines Morgens, Präteritum) kennen:
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(19) Kind bittet Erwachsenen: Mal du Winnie Puuh-Geschichte erzählen! Erwachsener: Was für eine Winnie Puuh-Geschichte? Kind: „Eines Morgens wachte Winnie Puuh auf“, so geht das, die Geschichte! (Tagebuch-Kind 2, 2 J. 7 Mon.)
Diese Situationen bilden dann wiederum den Einstieg in die ab dieser Zeit häufiger werdende eigene Produktion von kurzen fiktiven Geschichten, in denen immer wieder formale Marker wie eines Tages und vereinzelte präteritale Verbformen vorkommen. Für das Russische sind im Tagebuch von Gvozdev (1981) die ersten narrativen Äußerungen des dort beschriebenen Kindes Ženja ebenfalls in den Monaten nach dem 2. Geburtstag belegt, vgl. z.B. (20) Ščetku našla. Baba čistila ej zuby. Slomalas’. ‚(ich habe) die Zahnbürste gefunden. Oma hat mit ihr Zähne geputzt. Ist kaputtgegangen.‘ (Gvozdev 1981, 80: Ženja, 2 J. 3 Mon.)
Der einzelne Verlauf ist sicherlich individuell verschieden und gerade das Auftreten von geschichtentypischen Elementen wie eines Morgens auch stark davon abhängig, wie häufig die Kinder mit Geschichten konfrontiert sind. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass Kinder vor dem dritten Geburtstag prinzipiell dazu in der Lage sind, die entscheidenden kognitiven Schritte zur Ausbildung des narrativen Redetyps zu vollziehen und dass sie in dieser Zeit auch explizite sprachliche Mittel zur Markierung temporaler Beziehungen erwerben; weiterhin erwerben Kinder in dieser Phase bei entsprechendem Input auch die ersten charakteristischen formalen Marker des narrativen Redetyps. 4. Zusammenfassung Zum Erwerb des narrativen Redetyps lässt sich zusammenfassend feststellen, dass dieser schon vor dem Kindergartenalter beginnt: Es bildet sich die Fähigkeit zur Lösung vom Sprechzeitpunkt und zum Bezug auf eine subjektive Referenzzeit aus, der Erwerb entsprechender formaler Mittel setzt ein. Dreijährige Kindergartenkinder sind aber nur ansatzweise in der Lage, diese Fähigkeiten beim Erzählen einer Bildergeschichte umzusetzen. Kindergartenkinder zwischen vier und sechs Jahren sind hingegen im Erwerb des narrativen Redetyps überwiegend deutlich fortgeschritten. Hier zeigt sich ein Einfluss der in der jeweiligen Sprache vorhandenen Mittel: eindeutige Mittel erleichtern den Erwerb. Typisch für diese Altersstufe ist das Auftreten diffuser Äußerungen, die sowohl deiktisch als auch narrativ interpretiert werden können. Schulkinder (7-10 Jahre) verfügen praktisch uneingeschränkt über den narrativen Redetyp und weisen dieselben Tempuspräferenzen wie die erwachsenen Sprecher ihrer Sprache
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auf, als einziger Unterschied ist zu konstatieren, dass ihre narrativen Mittel noch weniger variantenreich sind. Was den Vergleich des Russischen und des Deutschen am Beispiel der Erzählungen Erwachsener angeht, so ist insbesondere zu konstatieren, dass die beiden Sprachen für diese Textsorte unterschiedliche Tempora präferieren. Im Deutschen werden Bildergeschichten bevorzugt im Präsens dargeboten, formal unterscheiden sie sich dann nicht vom sprechzeitbezogenen Redetyp. Diese formale Übereinstimmung darf jedoch keinesfalls dazu führen, sie als nicht narrativ zu interpretieren: Entscheidend ist hier die Bildung von Bezügen zwischen Situationen und auch deren explizite Markierung durch Temporaladverbien und andere Mittel. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die durchgeführte Analyse sich auf einen speziellen Typ von Narrationen beschränkt, nämlich die Nacherzählung von Bildergeschichten, die ihrerseits zur Subklasse der Olim-Erzählungen gehören, so dass andere Typen noch zu untersuchen wären. Literatur Anstatt, T. (2008). Aspect and tense in storytelling by Russian, German and bilingual children. Russian Linguistics 32/1, 1-26. Bamberg, M. G. W. (1987). The Acquisition of Narratives. Learning to Use Language. Berlin. Berman, R. & Slobin, D. I. (1994). Relating Events in Narrative: A Crosslinguistic Developmental Study. Hillsdale, N.J. Bierwisch, M. (1971). Poetik und Linguistik. In J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, 568-586. Frankfurt/M. Boueke, D., Schülein, F. et al. (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München. Grießhaber, W. (o. J.) (online). Erzählen – Erzählerwerb: Literatur, http://spzwww.uni-muenster.de/~griesha/eps/erz/lit.html (Abruf am 20.7.10). Gvozdev, A. (1981), Ot pervych slov do pervogo klassa. Dnevnik naučnych nabljudenij. Saratov. Hauff, W. (o. J.). Das kalte Herz. In Ders., Sämtliche Märchen. Eggolsheim. Lehmann, V. (2006). Zum Erwerb der mikrostrukturellen narrativen Kompetenz. In T. Berger (ed.), Slavistische Linguistik 2004/2005, 273282. München.
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Lehmann, V. (2008). Der narrative Redetyp und seine Analyse. In R. Hodel & V. Lehmann (Hrsg.), Textkohärenz und Narration. Untersuchungen russischer Texte des Realismus und der Moderne, 179-226. Berlin/New York. Lehmann, V. (in diesem Band). Narrativität aus linguistischer Sicht. Padučeva, E. V. (1996). Semantičeskie issledovanija. Semantika vremeni i vida v russkom jazyke; Semantika narrativa. Moskva. Sappok, Ch. (2004). Die Rolle der Intonation bei Entwicklung und Erwerb narrativer Kompetenzen. Beobachtungen zu Erzählungen russischer Schulkinder. In M. Krause & Ch. Sappok (Hrsg.), Slavistische Linguistk 2002, 245-281. München. Weinrich, H. (2001). Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6. Aufl. München. Wolf, D., Boueke, D. & Schülein, F. (2007). Erzählen nach Bildergeschichten und „freies Erzählen“. Ein Vergleich von Kindertexten aus der Vor- und Grundschulzeit. In K. Meng & J. Rehbein (Hrsg.), Kinderkommunikation – einsprachig und mehrsprachig, 155-182. Münster.
ANTHROPOLOGISCH ORIENTIERTE ERZÄHLBEGRIFFE
MICHAEL SCHÖDLBAUER (Hamburg)
Unter-/Brechungen in der ‚talking cure‘ 1. Was führt Sie zu mir? „Was führt Sie zu mir?“ – Diese Frage kann der Auftakt einer Psychotherapie sein. Mit ihr versucht mancher Therapeut zum Sprechen zu animieren. „Was führt Sie zu mir?“ zeichnet aber schon den Horizont für einen bestimmten Typus der Erzählung vor: Die Frage fordert dazu auf, die eigene ‚Leidensgeschichte‘ zu schildern. Mit der Schilderung der Vorgeschichte und der Symptome führt sich das Gegenüber allererst als Patient, d. h. als Leidender (lat. patiens) ein. Beginn und Verlauf der Therapie sind geprägt von wechselweisen Interaktionserwartungen. In Erstgesprächen erwartet man neben der Schilderung der Beschwerden Äußerungen zur eigenen Biographie, Erinnerungen aus der Kindheit, die ggf. vom Therapeuten ‚hervorgelockt‘ werden. Streckenweise kann sich eine Psychotherapie zwar wie ein Monolog gestalten, der im Extremfall nur vom Ende der 50-minütigen Sitzung (bzw. der „Liegung“ in der klassischen Psychoanalyse) unterbrochen wird. Wenn Therapeuten aber nicht nur zuhören, sondern Dinge tun wie Fragen stellen, kommentieren, deuten – dann wird deutlich, dass Psychotherapie ein Erzählen zu zweit ist, dass das Unterbrechen zu diesem Typus des Erzählens gehört. 2. Zur Geschichte der ‚Redekur‘ „[Es] berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“ (S. Freud).1
An den Anfängen der Psychoanalyse steht die Entdeckung der heilenden Wirkung des Erzählens. Dr. Josef Breuer [1842–1925], der mit Sigmund Freud die ‚Studien über Hysterie‘ veröffentlichte, behandelte eine damals _____________ 1
Freud, in Freud & Breuer 1970, 131.
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21-jährige Frau, die unter sog. Absencen und Zuständen tiefer Verwirrtheit, Lähmungen, Sprachverlust etc. litt. Breuer fiel aber auf, dass die junge Frau in den Zuständen geistiger Abwesenheit... „...einige Worte vor sich hin zu murmeln pflegte, welche den Eindruck machten, als stammten sie aus einem Zusammenhange, der ihr Denken beschäftigte. Der Arzt, der sich diese Worte berichten ließ, versetzte sie nun in eine Art von Hypnose und sagte ihr jedesmal die Worte wieder vor, um sie zu veranlassen, daß sie an dieselben anknüpfe. Die Kranke ging darauf ein...“2
...und kam ins Erzählen, rekapitulierte ihre Leidensgeschichte in umgekehrter Reihenfolge, sprach schließlich von ihren Erlebnissen während der jahrelangen Pflege ihres verstorbenen Vaters, ihren Tagträumen, unterdrückten Regungen, Wünschen und Phantasien am Krankenbett des Vaters. In solchen Erzählungen wurde der innere Zusammenhang zwischen dem Symptom und den Begebenheiten der eigenen Geschichte, den Phantasien und Wünschen offenbar. Die nach-erzählte Krankengeschichte mutet dann wie eine ‚Novelle‘ an, wie Freud schreibt. Die Symptome wurden in der Kur nach und nach „wegerzählt“,3 wie Josef Breuer es nennt, oder „abgesprochen“,4 indem Breuer seine Patientin „den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln ließ“.5 Das Erzählen der eigenen Geschichte heilte; für diese Behandlung prägte die Patientin mit dem Pseudonym Anna O. (Bertha Pappenheim) den Namen „talking-cure“, Redekur. Von welcher Art sind nun diese heilsamen Erzählungen? Zuerst fragt sich, wer hier eigentlich erzählt: Anna O. befand sich ja während ihrer ‚Redekur‘ in einem anderen Bewusstseinszustand. Nach der Hypnose ‚weiß‘ das ‚Ich‘ in der Regel nichts von dem, was ‚es‘ erzählt hat. Fast möchte man statt von einem Erzähler von einem „Es-zähler“ sprechen. Die Erzählung unter Hypnose ist zudem voller Ausdruck, – nicht nur verbaler Art. Sie ist von oft heftigen Affekten begleitet, die – so die damalige Vorstellung – eben abgesprochen, d.h. nachträglich kathartisch ‚abreagiert‘ werden müssen.6 Die in den Anfängen dieser hypnotischen Behandlung entlockte Rede ist dabei in der Hinsicht klassisch erzählend, als die belastenden Ereignisse und Anlässe in chronologischer Form berichtet werden. Dies allerdings _____________ 2 3 4 5 6
Freud 1990, 7. Breuer, in Freud & Breuer 1970, 31. Walter (2006) geht auf diese Krankengeschichte als einen exemplarischen Fall für die Bedeutung der Narrativität in der Psychoanalyse ein; bei ihm finden sich die wichtigsten einschlägigen Stellen und Belege. Breuer, in Freud & Breuer 1970, 29. Breuer, in Freud & Breuer 1970, 31. Die Wirksamkeit der Redekur sahen Breuer und Freud darin: „Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekt derselben den Ablauf durch die Rede gestattet“ (Freud & Breuer 1970, 18).
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umgekehrt, von der jüngsten Zeit an immer weiter in die Vergangenheit zurückgehend. Ob diese Erzählweise wirklich in der Natur der Patientin und ihrer Neurose lag oder eher dem Wisstrieb des Behandlers, dem Wunsch von J. Breuer nach „logischer Konsequenz und systematischer Durchführung“7 geschuldet war, dem Wunsch nach einer chronologischen Erzählung, nach Konsistenz und Zusammenhang – das muss offen bleiben. Das Erzählen unter Hypnose zählt auf den zum Sprechen drängenden Zuhörer, auf den hypnotisierenden Arzt. Die Erzählung von Anna O., so möchte man sagen, erzählt uns auch etwas vom ärztlichen Zuhörer, von seiner Neugier, von der Art, wie er in der Hypnose immer wieder in die Patientin dringt. Zur Erzählung in der Psychotherapie gehören eben zwei, – mindestens.8 Und der ‚Zweite‘ nimmt nicht nur Teil an der Erzählung, als Zuhörer, er wird leicht Teil der Erzählung, Gegenstand der Erzählung: Bei Anna O. schaffte die Hypnose und das allabendliche Zuhören eine intime Atmosphäre: Nach zwei Jahren der Behandlung, am Abend, nachdem alle Symptome glücklich ‚erledigt‘ schienen, traten neue Krankheitszeichen auf: Breuer wurde zu seiner Patientin gerufen, die sich in Unterleibsschmerzen ‚wand‘. Den Ausgang der Krankengeschichte kann man in einem Brief von Sigmund Freund an Stefan Zweig lesen: „Auf die Frage, was mit ihr sei, gab sie zur Antwort: Jetzt kommt das Kind, das ich von Dr. Br. habe.“9 Von dieser Scheinschwangerschaft der Patientin und seiner imaginären Vaterschaft entsetzt, brach Breuer die Behandlung ab und reiste überstürzt mit seiner Frau weg – und zeugte ausgerechnet in diesem Urlaub ein Kind – in der Ehe. Die erste psychotherapeutische Krankenbehandlung zeigte das, was Freud die Mächte der Übertragungsliebe nannte, der Übertragung von Begehrlichkeiten und Wünschen der Patientin, die nun dem Behandler gegenüber gezeigt werden. Es gibt sie, die Befruchtung über das Ohr. Deshalb verwandelt sich im Lauf der psychoanalytischen Behandlung die Frage Was führt Sie zu mir zu der Frage Was verführt Sie hier? In der Übertragung wird der Zuhörer zu einem Teil der ‚Erzählung‘ des Patienten, er findet sich in die Erzählung selbst verwickelt.
_____________ 7 8 9
Breuer, in Freud & Breuer 1970, 31. Aus einer strukturalen Perspektive braucht die Therapie nicht nur den Zweiten, sondern den Dritten. Als ‚Drittes‘ ist zu verstehen: das Unbewusste, das Medium der Sprache, das Symbolische (J. Lacan). Sigmund Freud, Brief an Stefan Zweig, 02.06.1932, zit. n. Walter 2006, 164.
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3. Erzählung oder Gespräch? Monologischer Blick auf ‚Erzählung‘ vs. dialogische ‚Ko-Narration‘ Freud verzichtete fortan auf hypnotische Techniken und entwickelte die eigentliche psychoanalytische Redekur. Wieder war es eine Patientin, die auf ein solches Verfahren drang, indem sie Freud inständig bat, ihr doch einfach einmal zuzuhören, ohne sie zu unterbrechen. Im klassisch analytischen Setting wird im Liegen gesprochen, der Zuhörer ist außerhalb des Blickfelds. Der Analysand erzählt, was ihm in den Sinn kommt. Es gibt aber auch Erzählungen im üblichen Sinn: Schilderungen von Begebenheiten von früher, aktuelle Missgeschicke, Erfolgsstorys, aber auch Erzählungen anderer Art: Traumberichte, Phantasien... Solches Material bietet sich auch für Erzählanalysen an; so gibt es beispielsweise erzählanalytische Untersuchungen psychoanalytischer Erstinterviews. Die weltweit größte Materialsammlung bietet die sog. ‚Ulmer Textbank‘; an der Universitätsklinik in Ulm werden seit den 60-er Jahren Transkripte und Mitschnitte von Psychotherapien gesammelt, transkribiert und analysiert. Wann kann man aber vom Vorliegen einer ‚Erzählung‘ in der Rede des Patienten sprechen? Einige Autoren gehen davon aus, dass eine Erzählung typischerweise besteht aus: 0. Einführung des Themas 1. Orientierung: hinsichtlich Person, Ort, Zeit, Situation 2. Komplikation: Darstellung der Ereignisfolge und Komplikation, die das Ereignis ‚erzählenswert‘ macht 3. Evaluation: Bewertung hinsichtlich der Bedeutsamkeit 4. Auflösung 5. Ggf. Coda: kann die Sprecherperspektive wieder auf die Gegenwart lenken.10 Abweichungen von dieser ‚Normalform‘ können als Hinweis auf klinische Auffälligkeiten verstanden werden.11 Eine Vielzahl von narratologisch orientierten Untersuchungen hat die Forschergruppe um Brigitte Boothe (Zürich) vorgelegt. Boothe schlägt vor, zunächst den Umfang der Erzählung auszumachen, dann Anfang (vgl. 1. Orientierung), die Durchführung mit dem Spannungsbogen (2. Komplikation) und das Ziel (4. Auflösung) zu bestimmen. Dabei soll das _____________ 10 11
Nach Walter 2006, 81 f. Vgl. Walter 2006, 94.
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‚dramaturgische Modell‘ analysiert werden, das hinter der thematischen Organisation der Erzählung steht, um von da aus den in der Erzählung beschlossenen psychischen Konflikt zu bestimmen.12 Dem ‚dramaturgischen Modell‘ Boothes zufolge ist jede Erzählung als ‚Inszenierung‘ auf einer ‚Bühne‘ zu verstehen.13 Boothes sequentielle Analyse betrachtet den erzählenden Patienten als einen Regisseur, der Bühnenpersonal und Requisiten in Aktionen versetzt und der dabei seine eigenen unbewussten Konflikte und Beziehungsmuster inszeniert.14 Boothes Verfahren mit dem Kürzel „JAKOB“ zeichnet die Verbindung der OBJEKTE (Personen, Tiere, Requisiten) und der AKTIONEN im Ablauf der Handlung nach. Ein szenisches Muster besteht aus einer Sequenz der Art: WER (Figur; Akteur) tut WAS (Aktion) in Bezug auf WEN (Objekt) unter welchen UMSTÄNDEN.15 Dabei erklärt Boothe die „in sich zusammenhängenden, monologisch vorgetragenen und als episodische Darstellung in sich abgeschlossenen Mitteilungssequenzen“16 aus analytischen Sitzungen und Psychotherapien zu ihrem Untersuchungsgegenstand. So praktikabel und methodisch notwendig vereinfachend ein solches Vorgehen auch ist, nähert sich eine solche „Erzählforschung“ der Psychotherapie auf eine m. E. monologisch verkürzte Art. Dabei kommt nämlich die zentrale Interaktion zwischen Behandler und Patient, das Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung, wie es in der Psychoanalyse genannt wird, nicht als solche in den Blick.17 Transkriptionen müssen auch sehr detailliert sein, damit nicht wichtige Ausdrucksmomente etwa sprachmelodischer Art und Pausen verloren gehen; übersehen wird auch leicht das, was sonst zur „Szene“ der therapeutischen Stunden zu rechnen ist: wie sich die Patientin zurecht macht, die schweißige Hand des Angstpatienten, die ‚zwängerlische‘ Art des Studenten, während er es sich auf der Couch einrichtet, ängstlich bedacht, sich ja nicht mit dem Schmutz des vorherigen Analysanden zu kontami_____________ 12 13 14 15 16 17
Boothe 1994. Boothe 1994. Unter anderem sollen dabei Wunscherfüllung, Angstspannung, Konflikt, Abwehr und Kompromissbildungen interpretativ erschlossen werden. Boothe 1994, 69 f. Boothe 1994, 80; alle Hervorhebungen innerhalb von Zitaten stammen – wenn nicht anders angegeben – vom Autor. Den Erzählungen des Patienten wird zwar entnommen, was er mit anderen erlebt, wie er die anderen erlebt, auch welche „Rollen“ und Übertragungsangebote er dem Zuhörer/ Therapeuten anbietet, – aber das dialogische therapeutische Geschehen, das Gegen-/Übertragungsgeschehen wird nicht erfasst.
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nieren... – alles Beobachtungen, wie sie entsprechend geschulte Therapeuten in ihren Behandlungsnotizen festhalten. Hier ist der Begriff des ‚szenischen Verstehens‘ (Alfred Lorenzer) wichtig. Szenisches Verstehen lässt sich mit Hans Jörg Walter als Form intensiver ‚unmittelbarer Teilhabe‘ des Behandlers an dem Patienten begreifen, was von den nonverbalen Elementen bis zum Übertragungs-/ Gegenübertragungsgeschehen reicht, wobei es neben diesen unbewussten und vorbewussten Interaktionsformen, die Narration als bewusste Interaktionsform gibt.18 Von einem ‚szenischen Verstehen‘ kann man aber auch auf der narrativen Ebene sprechen. Im Erzählen versetzt nämlich der Patient zum einen sich selbst in die Vergangenheit, in die Szene und dies in einem Modus der ‚Ver-Gegenwärtigung‘, in der ggf. jeder Abstand zur Szene und dem darin Erlebten beim ‚Betroffenen‘ schwinden kann und der Erzähler im Erzählten aufgeht. Erzähltheoretisch gefasst kann hier die Distanz von erzählendem Ich und erzähltem Ich schwinden. In der Schilderung des Vergangenen kann einen das so einholen, dass es einem die Sprache verschlägt.19 Szenisches Verstehen der Erzählung kann aber auch bedeuten, dass der Zuhörer sich in die Szene versetzt erlebt, dass sich der Behandler mit dem erzählten Ich identifiziert; der Therapeut kann sogar von Emotionen und Vorstellungen ergriffen werden, zu denen der Patient bei sich noch keinerlei Zugang hat (man spricht hier von ‚projektiver Identifizierung‘). Gegenüber monologisch verkürzenden Betrachtungen therapeutischer ‚Erzählungen‘ mit Beschränkung auf die Binnenpsyche des Patienten,20 findet man bei Hans Jörg Walter eher Ansätze für den dialogischen Charakter therapeutischen Erzählens. Der italienische Psychoanalytiker Antonio Ferro spricht sogar von der ‚Ko-Narration‘. Ko-Narration meint, dass in der Therapie ein gemeinsames Feld gebildet wird, dass eine Atmosphäre entsteht, in und aus der Erzählhandlungen und andere Handlungen _____________ 18
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„Dass szenisches Verstehen diese Lebenspraxis aufnehmen kann, hat seinen Grund in der ‚praktischen Teilhabe‘ des Analytikers. Damit ist gemeint, dass neben oder unter der mittelbaren Teilhabe über die freien Erzählungen des Patienten und seine Handlungssprache eine unmittelbare Teilhabe darin besteht, dass der Analytiker in das Interaktionsspiel des Analysanden einbezogen wird“ (Walter 2006, 66 f.; vgl. ebd., 92). „Konzepte wie die den Erzählvorgang variierende Distanz zwischen dem ‚erzählenden Ich‘ und dem ‚Ich in der Erzählung‘... oder das ‚Nachspielen eigenerlebter Erfahrung‘ erscheinen für das Begreifen der im Erzählen wirksamen Dynamik wertvoll“ (Walter: 2006, 77); vgl. zur Bedeutung der Unterscheidung von Erzähler und erzähltem Ich Boothe (1994, 96). Hier sei nur angemerkt, dass sich vermeintlich ‚monologische‘ Erzählungen methodisch dialogisieren lassen. Für eine theoretische Fundierung bietet sich Bachtins ‚Karnevalistik‘ und die daran anschließenden Überlegungen zur Intertextualität, aber auch eine trialogische Berücksichtigung des ‚Dritten‘ in der Sprache mit Lacan an (vgl. Schödlbauer 2000).
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generiert werden. Das emotionale Feld ist „Matrix möglicher Geschichten“.21 Ferro schreibt: „Die ko-narrativen Transformationen, die durch die dialogische Zusammenarbeit von Analytiker und Patient geschehen, sind also Kinder des Paares.“22 Ferro versteht unter Narration die dialogische Art und Weise, wie in der Therapie gemeinsam Sinn konstruiert wird. Ferro wendet sich strikt gegen ein Deutungsprivileg des Therapeuten; überdies würden Deutungen oft verfolgend und invasiv erlebt. Der Sinn soll nach Ferro nicht durch Deutungen des Analytikers fest-gelegt werden. Vielmehr soll der Analytiker durch spielerische Ko-Narrationen die Vielfalt der Sinnebenen möglichst lange offen halten (‚ungesättigte‘ Deutungen sensu W. Bion); Deutungen müssten „die Form eines ungesättigten, polysemischen Ereignisses annehmen..., das eine Öffnung des Sinns gestattet“.23 „Bei dieser Vorgehensweise tritt eine ko-narrative Transformation oder sogar eine transformative Ko-narration an die Stelle der Deutung“.24 Die klassische Deutung ist eine Weise, die Erzählung eines Patienten zu unterbrechen. Ferro wendet sich gegen Zäsuren zur Unzeit und plädiert dafür, die Ko-Narration spielerisch zu pflegen und auf die Transformation durch solche Erzählungen zu vertrauen. 4. Wann soll man Erzählen in der Psychotherapie fördern, zulassen, unterbrechen? In Abhängigkeit von der Erkrankung des Patienten, abhängig vom eigenen therapeutischen Verfahren sowie dem eigenen Stil geht man mit dem Patienten als Erzähler sehr unterschiedlich um: ob man den Patienten in seinem Wunsch zu erzählen gewähren lässt, ob man ihn in einer KoNarration dabei unterstützt, Worte für das Erlebte zu finden, das Unverdaute in eine Geschichte zu transformieren (was u. U. eine Bewältigung von Erlebnissen erlaubt),25 bis hin dazu, dass man eine Erzählung brüsk unterbricht oder eine metakommunikative Frage stellt: „Warum erzählen _____________ 21 22
23 24 25
Ferro 2009, 20, 27. Ferro, zit. n. Walter 2006, 71. Im Bezug auf die Behandlung von Anna O. durch Josef Breuer kann man das mit den „Kindern des Paares“ sogar wörtlich nehmen: Die hysterische Scheinschwangerschaft ist eine Frucht der intimen therapeutischen Gespräche, die im Gegenübertragungsagieren des irritierten Therapeuten zu einer überstürzten Zeugung in den erlaubten Bahnen der Ehe führt; dieses Kind Breuers hat gleichsam zwei Mütter. Ferro 2009, 194. Ferro 2009, 10. Passiv Erlittenes wird im Erzählen ein Stück zum aktiven Akt; die Möglichkeiten der Darstellung versprechen eine gewisse Kontrollfähigkeit über das Erzählte. „Der Erzähler als Regisseur [der Ereignisse] stellt Übersicht und Ordnung her“ (Boothe 1994, 60).
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Sie mir das jetzt?“ oder es als ‚Widerstand‘ deutet, wenn der Patient sich in der Schilderung scheinbar belangloser Tagesereignisse ergeht. Die ‚stützende Psychotherapie‘ bei schwerer gestörten, traumatisierten oder psychisch sehr labilisierten Patienten gibt dem Betroffenen den Raum, von seinem alltäglichen Leben und Problemen zu erzählen, der Therapeut wird versuchen, ihn ggf. mehr zum „Regisseur“ seine Erlebens und Handelns zu machen und seine sog. Ich-Funktionen zu stärken; auch in der Psychotherapie Älterer spielt das Erzählen als biographisches Rekapitulieren des eigenen Lebens eine wichtige Funktion; dazu gehört auch das Abschiednehmen von uneingelösten Plänen und Hoffnungen. IchPsychologisch werden kohärente Erzählungen von sich, von der eigenen Geschichte als Korrelat gelingender Integration verstanden. Am anderen Extrem steht die Lacansche Psychoanalyse, welche die meisten Erzählungen als ‚leere Rede‘ (dis)qualifiziert und in der sich der Analytiker im Extremfall die Freiheit nimmt, die Sitzung abzubrechen, indem er einfach das Behandlungszimmer verlässt. Psychoanalyse wirft jedenfalls einen Blick hinter die Kulissen von Kohärenz und Identität des Ichs, die in Erzählungen aufgebaut wird, und hinterfragt dabei auch das Ich als Ich-Erzähler, das Bild, das der Patient von sich entwirft. 5. Die psychoanalytische Grundregel: Der Ein-fall ins Erzählen Lässt die psychoanalytische Technik überhaupt Erzählungen im üblichen Sinne zu? Für die psychoanalytische Behandlung stellte Freud eine ‚Grundregel‘ auf. Die Kur erwartet als „Anforderung an den Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was ihm einfällt“.26 Nichts von dem, was innerlich auftaucht an Phantasien, Erinnerungen, Gefühlen, ... darf zensiert werden, der Analysand soll sich rückhaltlos dem Strom der eigenen Gedanken überlassen und diese äußern. Er soll sich den eigenen Assoziationen überlassen. Das heißt, dass vom Patienten verlangt wird, dass er ‚sich‘ immer wieder unterbricht, sich in Details, immer neuen Geschichten verliert. Diese Methode ist mit den üblichen Maximen der Konversation nicht zu vereinbaren. Psychoanalytischen Erzählungen fehlen also nicht zufällig oft Kohäsion und Kohärenz. Die freie Assoziation hat das Ziel, die Kontrolle des bewussten Ichs zu unterlaufen.27 _____________ 26 27
Freud: GW VIII, 377. „Die subversive infragestellende Arbeit des freien Assoziierens wird gerade im Anfangsstadium der Behandlung als fremd, befremdlich, belastend, peinlich und peinigend erlebt; denn hier fügt sich das Subjekt gerade nicht – wie in der Erzählung – zu einem szenischen Ganzen zusammen, im Gegenteil: Das Subjekt erscheint als aufgebrochen, aufgesprengt“ (Boothe 1994, 13). Vgl. Walter 2006, 127.
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Überließe sich der Analysand immer der sog. ‚freien Assoziation‘, käme kaum dergleichen zustande, was wir üblicherweise eine ‚Erzählung‘ nennen, da jeder Ansatz zur Entwicklung einer Geschichte (nach obigem Normal-Schema) von einem neuen Ein-Fall unterbrochen würde. Schematisch könnte man sagen, dass mit dem bewussten Ich auch die bewusste Regie eines Ich-Erzählers suspendiert ist. Auch wenn der Analysand sich in Erzählungen ergeht, ist der Analytiker gehalten, das, was der Patient sagt, nicht einfach nur nachzuvollziehen; er soll sich der Rede des Patienten ebenso ohne Selektion, ohne Auswahl zuwenden, in einer (Freud:) ‚gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘. Schematisch gesprochen gibt es eine Spannung zwischen einer Form der Psychotherapie, die das Ich des Erzählers stützt, Kohärenz des Ichs über kohärente Erzählungen stiftet, und sog. aufdeckender, psychoanalytischer Psychotherapie, die das Ich und seine Erzählungen immer wieder unterwandert. Wie man in Anschluss an Jerome Bruner sagen kann, dient das Erzählen auch der Herstellung der eigenen Identität; gerade autobiographische Erzählungen tendieren dazu, ein Bild vom Erzähler zu hinterlassen, in dem der sich als kontinuierliche und kohärente Person entwirft.28 Aber eine solche Erzählung lässt sich hinterfragen, ihre Konstitution analysieren. Legt man den Fokus auf Unter-/Brechungen in der ‚talking cure‘, dann wendet man sich den Brüchen der Erzählung, den abgebrochenen Erzählungen und damit auch der Brüchigkeit des Ichs an den Rändern der Erzählung zu, aber auch dem Scheitern von Erinnerung an die eigene Geschichte. Welche Formen der Unter-Brechungen in der Redekur gibt es? – Unterbrechungen gibt es einmal auf Seiten des Patienten: _____________ 28
Boothe sieht „autobiographisches Erzählen als Modellierung im Dienst der Selbstverständigung“ (Boothe 1994, 21). Therapeutisch ist es aber oft angezeigt, solche „Selbstentwürfe in Frage zu stellen“, psychoanalytisch z. B. über die ‚freie Assoziation‘: „Die Dekonstruktion der Selbstverständigung führt zur Auflösung bestehender narrativer Muster, zum Aufbau neuer und anderer Erzählformen“ (Boothe 1994, 12). – Aber auch in Alltagsgeschichten konstituieren wir uns als Ich: Der Ich-Erzähler berichtet ein Ereignis der vergangene Woche. „Erzählend vergewissert sich der Sprecher vor seinem teilnehmenden und kritischen Publikum (hier dem Therapeuten) der eigenen Kontinuität als Person“ (Boothe 1994, 22). „Die erzählerische Thematisierung persönlichen Erlebens gleicht der Errichtung einer Probebühne, auf welche der Erzähler, auftretend als Ich-Figur, aktualisierend nachinszeniert, was ihm als Schritt, Station oder Etappe auf dem bisher zurückgelegten Lebensweg gilt“ (Boothe 1994, 22). Die noch für Eriksons psychosoziales Entwicklungskonzept zentralen Kriterien eines Ichs der Kontinutität und Kohärenz werden in der ‚Postmoderne‘ zunehmend in Frage gestellt bzw. als immer neu zu stiftende Erzähl-Leistung verstanden.
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Was passiert eigentlich, wenn jemand im Reden ‚sich unterbricht‘, frei assoziiert, wenn der Patient plötzlich das Thema wechselt, die Erzählung abbricht, oder wenn er vom Reden ins sog. ‚Agieren‘ kommt?29 – Unterbrechungen gibt es ebenso auf Seiten des Behandlers: Wenn ein Therapeut inter-veniert, wartet er entweder Signale eines Sprecherwechsels ab – oder er unterbricht den Redestrom, sei’s um das Gesagte zu amplifizieren, zu klarifizieren, den Patienten mit etwas zu konfrontieren oder zu deuten. – Es gibt aber auch ‚Brechungen‘ in der Erzählung, Stellen, an denen sich Bedeutungen zerlegen, vervielfachen... Liest man Freuds Die Traumdeutung (1900) oder seine Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904), dann bekommt man über das Verfahren der freien Assoziation einen Sinn für ein anderes Hören: Ein Wort zerlegt sich in verschiedene Bedeutungen, ähnlich wie sich weißes Licht beim Durchtritt durch ein Prisma in seine Spektralfarben zerlegt (Prismenspektrometer).30 Das Prisma in der Therapie wird von all dem gebildet, was der Therapeut in gleichschwebender Aufmerksamkeit in den Stunden aufgenommen hat und was sich irgendwie in seinem Gedächtnis niedergeschlagen hat, – Medium der Brechung ist das Gesamt des Diskurses des Patienten. Erst aus dem Geflecht verschiedener „Erzählfäden“, in der synchronen Schichtung von Erzählungen wird dabei etwas an unbewusstem Sinn ausgefällt. Für das Verständnis und die Analyse solcher synchroner Bedeutungseffekte scheint mir der Erzählbegriff nur bedingt geeignet. Im Folgenden werde ich an einem Fallbeispiel versuchen, den Begriff der Erzählung für das Verständnis therapeutischer Prozesse fruchtbar zu machen, – auch auf die Gefahr hin, darin den Begriff der ‚Erzählung‘ zu ‚strapazieren‘.
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Bestimmte psychopathologische Syndrome erlauben gar keine nachvollziehbaren Erzählungen: ich nenne hier die sog. Logorrhoe, die ‚Ideenflucht‘ bei Manikern oder die assoziative Lockerung, – eine formale Denkstörung bei Schizophrenen. Da es hier gar nicht möglich ist, einen intentionalen Bogen über mehrere Sätze zu halten, kann man kaum mehr von ‚Unterbrechungen‘ sprechen. Auch A. Ferro greift die Metapher des ‚Prismas‘ auf, – allerdings in anderem Sinn: Protoemotionen und andere nicht verarbeitbaren psychischen Elemente werden durch den ‚Apparat zum Denken der Gedanken‘ (Bions Alpha-Funktion) wie durch ein Prisma gebrochen, was ein Spektrum verschiedener möglicher Narrationen ergibt (vgl. das Schema in Ferro 2009, 29).
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6. Phantasieren, Träumen und Agieren: Drei Formen des Erzählens? Die nun folgenden Auszüge von anonymisierten Stundenprotokollen stellen ein besonderes ‚narratives Genre‘ dar.31 Es geht um das Erzählen von Phantasien, an denen der Patient sowohl in der Behandlungsstunde als auch zwischen den Stunden spinnt. In diesen Phantasien – so meine These – wird Vergangenes ‚erzählt‘; diese Phantasien, die um das Interieur des Behandlungszimmers kreisen, handeln m. E. von Traumata, die aber als solche nie erinnerbar waren. In einer späteren Sequenz dieser Therapie tritt sogar Handeln an die Stelle des Sprechens und Erinnerns. Auch ein solches „Agieren“, wie es in der Psychoanalyse genannt wird, wird im Folgenden als ein Erzählen aufgefasst, das in der Behandlung etwas in Szene setzt, was dem Patienten geschehen ist. Der Patient hatte bei Beginn der Psychotherapie keinerlei Zugang zu Erinnerungen vor dem 12. Lebensjahr. In den Erstgesprächen geriet er bei Nachfragen zu seiner kindlichen Entwicklung in Zustände dissoziativer Abwesenheit, bekam extreme Schweißausbrüche und eine Vielzahl anderer Symptome, die an ein Trauma in der Vorgeschichte denken ließen. Einzelne Bruchstücke von Früher drängten sich im Verlauf der Sitzungen bildhaft stereotyp wiederkehrend auf. Absencen und andere Symptome häuften sich, wenn der Patient auf einen Trainer zu sprechen kam, der sich des Patienten in der Kindheit sehr intensiv ‚annahm‘, ihn beschenkte, viel mit ihm zusammen unternahm. Dieser Mann brach aber den Kontakt zum Patienten und dessen Familie mit einem Mal ab, als der Patient 12 Jahre alt war. Der Patient eröffnete die nun folgende Sitzung mit der Ankündigung, dass einige Behandlungsstunden ausfallen müssten – es stand also auch in der Therapie ‚Trennung‘ an – darauf sagte er unvermittelt: [Patient:] Ja ich gucke jetzt wieder in diese Ecke bei Ihnen im Zimmer, das mache ich ja immer, irgendwo muss man ja hingucken. Ja, ich habe schon letztes Mal sagen wollen, als wir über Helmut sprachen, da baute ich ständig hier einen Kasten rum um Ihre Lampe, haha, also echt komisch, die ganze Zeit, so mache ich die Lampe weg mit einer Verkleidung, aus dem gleichen
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Die verwendeten Protokolle wurden vom Therapeuten unmittelbar nach der jeweiligen Sitzung verfasst. Einige kurze Notizen (insbes. Zitate) während der Sitzung haben dabei sein Gedächtnis unterstützt. Dieses Material erlaubt es nicht, wichtige Daten wie z. B „nonverbale, vokale und prosodische Merkmale“ (Deppermann & Lucius-Hoene, 2005, 45), Pausen, Abbruch von Sätzen, etc. zu analysieren oder gar numerisch auszuwerten. Im Sinne der Gegenüberstellung monologischer und dialogischer Erzählungen kann man aber solche Protokolle als Ko-Narrative verstehen: in der Weise, wie sich die Sitzungen im Gedächtnis des Therapeuten niederschlagen, ist das von Patient und Therapeut gebildete Feld beschrieben; Behandlungsprotokolle sind Nacherzählungen, gleichsam Logbücher des konarrativen Therapieprozesses.
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Material wie Ihre Möbel, echt. Und wie plastisch ich das dann vor mir sehe, fast könnte ich zwischen den Stunden das Holz besorgen und fertig. – [Therapeut:]32 Was meinen Sie genau? Dass Sie meine Schrankwand verlängern in ihrer Vorstellung? – Ja, genau um die Lampe rum. Und das Kabel, das ist der Witz, das läuft genau auf der Leiste – obwohl die Lampe ja dann weg ist und Sie kein Kabel mehr bräuchten. Ich habe mich schon früher gefragt: Warum verschwindet die Schnur da hinten hinter dem Schrank. Ich habe mich schon gefragt, was könnte die Lampe denn sein, so symbolisch. – Und sind Sie weiter gekommen? – Nein, nicht richtig. Also Lampe, Licht, – wenn ich hinterfotzig sage: etwas „hinterleuchten“, hinterfragen. – So wie hier? – Ja. Und dann gibt es da ein doppeltes Licht. Das indirekte, einschmeichelnde und den Spot, der kann etwas ganz genau beleuchten. – Vielleicht sind das ja die beiden Seiten, die Sie von der Arbeit mit mir erfahren: Dass Sie sich einerseits ganz gut aufgehoben fühlen ... – Sonst würde ich ja nicht hierher kommen, wenn ich mich nicht wohl fühlen würde hier. Aber ab und zu kommen wir hier ja an Punkte, da spür ich, da will ich nicht hinschauen. Ich merk das ja auch hier, gerade jetzt: ich will das nicht, dass man bohrt, hier im Bauch merke ich das. – Könnte man vielleicht sagen: Die Lampe, der Armleuchter, das bin ich, da muss was Schützendes herum, eine Verkleidung zwischen Sie und mich? – Ja, aber das Kabel, das geht da trotzdem rein, Strom sollen Sie schon haben, haha. Das ist so plastisch, so genau, ein Handwerk, eine Kunst, bis zur Fußleiste. – Aber Sie sagen, diese Phantasien über die Ausstattung meines Zimmers, die kommen, seit von Helmut wieder so die Rede ist. – Ja, auf jeden Fall hat das einen Zusammenhang. ...33 Ja mit dem Kabel, da muss ich jetzt wieder daran denken, das führt irgendwohin, was man nicht weiß. – Könnte das nicht auch gut auf die Therapie passen? Nicht wissen, wo’s hinführt? – Ja, ja, haha. Vielleicht habe ich auch Angst, den Helmut zu entthronen, ich habe ihn ja schon glorifiziert, dies Engagement was er gezeigt hat, für so viele Kinder. ... Also, ich weiß ja auch nicht, wenn man ihn beschuldigen würde, weiß ich nicht, ob ich ihn verteidigen würde, aber ihn selbst demontieren? Aber vielleicht muss man ihn, wenn, dann nicht ganz auflösen. Da bekomm ich aber jetzt arg Bauchweh, grade. Vielleicht ist es aber auch diese sagenhafte Enttäuschung, als er sich nicht mehr um mich gekümmert hat. Wie wollte ich das rausfinden? ... – Könnte es dann nicht sein, dass da in der Ecke, wo man die Verkleidung nicht abmachen sollte, ja vielleicht vielmehr Helmut steht als ich? – Ja. Und die Symbolik: Das war ja so ein Mann, oben breit und unten schmal ganz sportlich, der kam glaube ich vom Turnen vorher, ja der war Turner. Jetzt gucke ich wieder da hin, auf den Schalter.
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In Spiegelstrichen und eingerückt stehen im Folgenden die Interventionen des Therapeuten. Steht das Auslassungszeichen „...“ allein in einer Zeile, wurden Passagen des Protokolls aus Platzgründen weggelassen.
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pe.]
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[Der Therapeut wendet ohne zu überlegen seinen Kopf und blickt zur Lam-
– Welchen, den An- und Ausschalter oder den Drehschalter? – Ach einen Dimmer hat das auch. – Ja, darüber, da wo der Spot befestigt ist, ist ja der Schwanenhals – ... der auch noch nach oben ragt, das könnte ja schon an etwas erinnern, das ist ja wie ein erigiertes Glied. Ja und unten die Hoden, von der Form her, dann die zwei Beine, ist ja witzig. – Könnte es denn sein, dass sie an einer Verkleidung für den nackten Helmut arbeiten? – Ja, aber dass ich da nicht aufhören kann im Kopf und dann bastele ich wieder und dann steht wieder alles in Einzelteilen da, die Lampe mit den Seitenteilen außenherum. Da muss ja etwas im Kopf sein, was mitdenkt und den Körper reagieren lässt, ich spüre das ja jetzt wieder so unangenehm. ... Ja, ich will ihm den Heiligenschein nicht nehmen. ... Ich denke: Helmut zu demontieren, dazu hast Du nicht das Recht, dann muss das eben ruhen. – Für heute auf jeden Fall. –
Abb. 1: Das ‚Corpus Delicti‘: die Lampe, aber auch die Garderobe und Schränke.34
_____________ 34
Zur Zeit der Behandlung war das Mobiliar in einem anderen Zimmer und entsprechend anders angeordnet.
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Helmut war ein etwa 20 Jahre älterer Sporttrainer, der sich in der Kindheit des Patienten auffällig viel um den Patienten ‚gekümmert‘ hat, ihn öfters neu einkleidete, ständig bei ihm zuhause aus- und einging; in der Behandlung erwähnt der Patient scheinbar beiläufig, dass diesem Trainer pädophile Neigungen nachgesagt würden; die hielt auch der Patient zwar für wahrscheinlich, konnte sich selbst aber nicht an sexuelle Übergriffe von dessen Seite erinnern. Erinnerlich war ihm dagegen eine sexuelle Berührung durch einen Mann im Kino (5. Lebensjahr). Unter heftigsten Schweißausbrüchen tauchten in der Therapie Bruchstücke offensichtlich belastender Erinnerungen auf, die aber meist am dunklen Kellereingang des Mietshauses des Patienten endeten. In den hier vorgestellten Stunden wechseln sich Versuche ab, das Geschehen von damals zu ‚beleuchten‘ (gleichsam mit dem ‚Spot‘35 – den er aber als ‚penetrierend‘ erlebt), was aber nicht geht, weil er an dem ‚Heiligenschein‘ festhält, an den ihn der Deckenfluter der Lampe im Behandlungszimmer erinnert. Das Mobiliar des Behandlungszimmers drängt sich dem Patienten in einer berückenden Weise auf. Er stiert geradezu die etwas schräg neben dem Therapeuten positionierte Stehlampe an, kann sich von dem Anblick nicht lösen und will sie weg-machen („die ganze Zeit, so mache ich die Lampe weg mit einer Verkleidung, aus dem gleichen Material wie Ihre Möbel, echt “). Durch die länger bereits laufende Therapie ist der Patient fähig, etwas Abstand zu finden und nach der ‚symbolischen‘ Bedeutung der Lampe zu fragen: dazu könne er „hinterfotzig sagen: etwas hinterleuchten, hinterfragen“. Auch wenn es ‚hinterfotzig‘ klingt, man ist versucht, dieses Wort wörtlich zu nehmen: Das drei Mal wiederholte ‚hinter‘ – verbal gepaart mit einem sehr derben Ausdruck (‚Fotze‘) – lässt an die Schamgegend und das Hinterteil denken. Die Gedanken des Erzählers kreisen wohl nicht zufällig um die „Leiste“, an welcher der Erzähler seine „Kunst“, sein „Handwerk“ erproben möchte; die ‚Leiste‘ ist ja nicht nur eine Bezeichnung für die Fußleiste im Zimmer, sondern evoziert auch die Intimgegend: „Und das Kabel, das ist der Witz, das läuft genau auf der Leiste,– obwohl die Lampe ja dann weg ist und Sie kein Kabel mehr bräuchten.“ Wenn der Therapeut kein Kabel mehr bräuchte – ist er dann die Lampe, die der Patient so obsessiv zu verkleiden, zu bedecken sucht? Der Therapeut stellt in seiner Intervention den Bezug zur therapeutischen Arbeit her – was der Patient aufgreift: „Und dann gibt es da ein doppel_____________ 35
Im Wort ‚Spot‘ kann man auch „Spott“ hören – was auf Gefühle von Scham verweist. Die „Ecke“ des Zimmers, in die der Patient stiert, lässt assoziativ an das ‚in die Ecke gestellt werden‘ denken – eine Situation, die Scham auslösen soll. Scham- und Schuldgefühle spielen bei Traumatisierten eine zentrale Rolle.
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tes Licht. Das indirekte, einschmeichelnde und den Spot, der ganz genau etwas beleuchten lässt.“ Dieses doppelte Licht steht für eine zwielichtige Atmosphäre, in der sich der Patient in diesen Stunden erlebt: Er setzt dem Indirekten den invasiven Spot gegenüber. Das indirekte Licht ist aber nicht einfach angenehm, es wird als ‚einschmeichelnd‘ charakterisiert – es ist nur scheinbar harmlos. Diesen Akzent überhört der Therapeut und reagiert mit Beruhigung, Beschwichtigung: („Dass Sie sich ganz gut aufgehoben fühlen...“). Der Patient unterbricht diesen Versuch, den Patienten gleichsam in Sicherheit zu wiegen – was vielleicht als Einschmeicheln erlebt wird. Der ‚Spot‘ der Therapie kann immer auf etwas geraten, wo der Patient nicht hinsehen will, dann ‚bohrt‘ der Andere und das Bohrende wird unmittelbar im Bauchraum erfahren („dass man bohrt, hier im Bauch merke ich das“; „Da bekomm ich aber jetzt arg Bauchweh, grade“). Der Körper fängt in den Stunden gleichsam zu ‚sprechen‘ an, es bohrt, es schmerzt der Kopf, er transpiriert, die Gliedmaßen werden starr, schmerzen. Noch während der Patient somatisch reagiert, denkt er über die psychische Bedeutung nach („Da muss ja etwas im Kopf sein, was mitdenkt und den Körper reagieren lässt“). Er kommt zwar im ‚Denken‘ nicht weiter, wohl aber setzt sich das Erzählen fort. Es ist eine zunehmend schwüle Atmosphäre, die sich in der Stunde verbreitet um diese „Symbolik“ der Lampe: Dem Patienten gerät die Stehlampe, die hinter dem Therapeuten steht, konkretistisch zum nackten Trainer („oben breit und unten schmal ganz sportlich... [der Schwanenhals,] ... das ist ja wie ein erigiertes Glied. Ja und unten die Hoden, von der Form her, dann die zwei Beine, ist ja witzig“). Das ‚ist ja komisch‘, ‚echt witzig‘, das ‚ist ja der Witz‘ – nach dem Ende einer Stunde hört der Therapeut vom Gang her ein fast ‚irres‘ Lachen. Dieses Lachen, das „haha“ bringt eine neurotischen Abwehr, wie man sie als sog. Reaktionsbildung kennt, an die Grenze – diese Art von Abwehr versagt: ihm, dem Patienten wird komisch, ihm erscheint da etwas komisch, unheimlich an dieser Beziehung zum Trainer, dem der Patient seinen Heiligenschein nicht nehmen will, etwa indem er realisiert, dass der Trainer und sein Engagement, seine Geschenke schein-heilig gewesen sein könnten. ‚Komisch‘ wurde aber in der Gegenübertragung auch dem Therapeuten, der selbst merkwürdige Empfindungen an sich wahrnahm. Der Therapeut notierte, seine Sensationen erinnerten ihn an ein Gefühl im Unterleib und Bauchraum, als schaukele er zu heftig, ein Zuviel an Lust, das umschlägt in Übelkeit... Der Bauch-Raum wird gleichsam zu einem gemeinsamen Raum der Therapie, einer Sphäre der ‚Zwischenleiblichkeit‘ (Merleau-Ponty). Der Bauchraum des Patienten teilt sich hier dem Thera-
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peuten so mit, dass beide in der Mit-Teilung sich gleichsam einen Bauch ‚teilen‘. Mit A. Ferro erweist sich hier das „Feld“ der Therapie als „RaumZeit“-Feld, in dem emotionale Turbulenzen der Begegnung von Patient und Therapeut entstammen, was alles in die Ko-Narration eingeht.36 Der Therapeut erlebt sich in diese Szene der Verkleidung verstrickt und von ihr bestrickt; er ließ sich auch ein Stück verführen zu dieser lüsternen KoNarration – bei all dem beschäftigte ihn eine starke Sorge um den psychischen Zustand des Patienten, dazu die Frage, die auch der Patient thematisiert: wie viel Wissen für den Patienten wirklich erträglich ist, wie viel Abwehr er auch braucht. Der Patient arbeitete ja nicht ohne Not an einer Verkleidung, einer Montage im Zimmer, er hat das zwangsartige Bedürfnis, eine Verkleidung um die Stehlampe zu machen, und die Angst, den hoch verehrten Helmut zu demontieren. Wozu führt die Therapie wohl? Das Kabel aber „führt irgendwohin, was man nicht weiß“, es ist ein Erzählfaden, der sich verliert und der den Patienten doch immer wieder ‚unter Strom‘ setzt. In der nächsten Stunde setzt er sich ächzend, und meint eingangs: Die Lampe ist immer noch da. – Was haben Sie denn gedacht? – Also die Lampe hat sich gewandelt, zur Person,37 ich habe gedacht, ich sehe so einen Schatten und da wollte ich eine Person erkennen, aber das ging nicht. Aber die Lampe, die hat sich nicht verändert. Ich habe gedacht, Sie haben da vielleicht etwas verändert und schauen jetzt, ob es mir auffällt, aber: alles gleich geblieben. Dann dachte ich mir so, in meiner Phantasie, die Lampe ist nun verkleidet worden. – Das könnte Ihnen so passen, dass ich nach den Plänen Ihrer Phantasie nun all das ausführe, was Sie nicht sehen wollen. – ... [Der Patient erinnert sich dann an den Psychologieunterricht, den er während seiner Ausbildung besucht habe, die Kursteilnehmer hätten einen Kartenständer manipuliert:] Wir hatten da auch über einen Versuch mit dem Affen und der Banane gehört, was der Affe so probiert hat, um an die Banane ranzukommen. Und da war ein Kartenständer, da haben wir dann vor der nächsten Stunde bei ihm eine Banane aufgehängt für den Psychologiedozenten – doch der hat das gar nicht gemerkt. Ja jetzt merke ich wieder, da krieg ich ein bisschen Angst. Ich habe ja versucht an das, was die Lampe bedeutet, gefühlsmäßig ranzukommen und nicht über den Kopf. Komisch die Lampe ist wie ein Synonym für irgendetwas, die steht für irgendwas aber für was, diese unschuldige Lampe. – Unschuldig? –
_____________ 36 37
Ferro 2009, 160 ff. Ferro stellt klar, dass der Begriff der ‚Person‘ erzähltheoretisch nicht anthropomorph eingeengt verstanden werden dürfe; in dem Sinne sind die Requisiten der Erzählung – die Lampe – potenziell Personen oder auch Teile davon, etwa erogene Zonen (Ferro 1993, 965).
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Ja, die kann ja nichts dafür, dass sie für etwas steht. Nun bekomme ich noch so ein schlechtes Gewissen, ich weiß auch nicht, vielleicht dass ich damals ausgehalten worden bin von dem Helmut. Da läuten natürlich die Alarmglocken bei mir, da ist die untere Verdachtsschwelle im Bauch. Da ist wieder so ein Schnitt da, das erinnert mich... [Pause.] – An was? – Das will ich nicht, das weiß ich nicht... – Das wollten Sie gleich vergessen, meinen Sie. – Ja. ... Ich komme aber eben doch da an einiges ran, aber das ist, wie wenn ein Stein draufliegt. Jetzt bekomme ich Kopfschmerzen plötzlich. Das ist, wie wenn ich nur einen bestimmten Schalter umlegen müsste. – Und da fixieren Sie wieder die Lampe hier. – Ach das haben Sie bemerkt. Ja eigentlich wollte ich die heute ignorieren, geht aber wohl nicht. Haben Sie den Heiligenschein angestellt? Also beim Erinnern hab ich auch so eine Angst vor einer Art Schneeballeffekt und dann die Frage: Muss ich da ran, muss das sein, alles von Helmut zu erfahren?
Der Patient kommt in diese Stunde mit der Erwartung, dass er den Behandler dazu gebracht habe, dass der diese ihm fast obszön scheinende Lampe irgendwie verändert, das Setting der Therapie manipuliert oder gar die Lampe nach seinen Plänen verkleidet habe; aus seiner Phantasie soll konkrete Realität werden – und das, indem der Therapeut Hand anlegt und handelt. Man kann in dieser Erwartung aber auch eine Aufforderung zur Ko-Narration, vielleicht zum Ko-Agieren sehen. Man könnte viel über die Banane am Kartenständer spekulieren: Der implizite Vergleich des Psychologen mit dem Affen im Experiment ist wenig schmeichelhaft für den Behandler; soll er – wie der Psychologiedozent damals die Banane – übersehen, also ausblenden, was es mit der Lampe alles auf sich hat? In der Lampe zeichnete sich eine Person ab, aber nur negativ zum Licht der Lampe, nämlich als Schatten, der unerkennbar bleibt: „Komisch die Lampe ist wie ein Synonym für irgendetwas, die steht für irgendwas aber für was, diese unschuldige Lampe.“ Der Patient spricht zwar von der Lampe als einem „Symbol“, einem „Synonym“ für etwas. Dabei zeigt sich aber ein starker Konkretismus: Die Steh-Lampe steht für irgendetwas, sie steht vielleicht für etwas, was steht (der Patient nennt die Banane, den Karten-Ständer); in der vorigen Stunde stand sie für eine nackte Person, die jetzt einem Schatten weicht. Dass die Lampe „unschuldig“ ist („die kann ja nichts dafür, dass sie für etwas steht“) – darin kann man einerseits die Einsicht sehen, dass es sich ja ‚nur‘ um eine Lampe handelt, die nicht extra so oder so steht, um ihn auf gewisse Gedanken zu bringen oder um ihm Angst zu machen. Das Un-Schuldige trägt aber durch das Verneinungsmorphem das Zeichen des Verdrängten. Das ‚Un-‘ negiert, dass die fragliche Person irgendwie gleichsam ‚Dreck am Stecken‘ haben könnte: Der verehrte Trainer, Meister Lampe, wird
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exkulpiert. Wie häufig bei Traumatisierten fallen Schuldgefühle auf das Opfer zurück. Er ist es, der ein „schlechtes Gewissen“ bekommt, womöglich „ausgehalten“ worden zu sein – das äußert sich in der „Verdachtsschwelle im Bauch“. Spürt er ein Bauchschneiden? Die Unfähigkeit sich zu erinnern wird als „Schnitt da“ erlebt, die Erinnerung bricht ab, die Abwehr sagt: „das will ich nicht, das weiß ich nicht“. Er bekommt Kopfschmerzen, wenn man den Schalter „umlegt“ (in der Sprache der Stehlampe: wenn man den Spot anmacht). Der Patient braucht eigentlich den Dimmer, muss selbst regulieren, wie weit er sich etwas ansehen will, ob direkt oder indirekt (Person als Schatten). „Haben Sie den Heiligenschein angestellt?“ Einerseits ist in der Frage der Wunsch ausgedrückt, Helmut seinen Heiligenschein zu belassen, andererseits kann man in dem Satz hören, dass der Behandler in der Übertragung derjenige ist, der etwas ‚angestellt‘, etwas begangen hat, sich womöglich vergangen hat, der selbst schein-heilig ist. Wenn der Therapeut in der Gegenübertragung unerklärliche Schuldgefühle, Sensationen im Bauchraum spürt etc., sich selbst „hinter-fotzig“ „schein-heilig“ erlebt, dann ist hier wohl etwas im Gang, was Ferro im Blick hat, wenn er schreibt, das „Feld“ müsse „gewissermaßen die Krankheit des Patienten übernehmen und selbst erkranken“;38 aus diesem von der Übertragungsneurose (Freud) infizierten Raum aus können potenziell transformierende Ko-Narrationen gebildet werden. Springen wir etwa 8 Monate weiter: Die 50 min der Therapiestunde gingen schon dem Ende zu – der richtige Moment, etwas loszuwerden, ohne sich damit auseinandersetzen zu müssen: Traum Also im Moment verarbeite ich viel, ich habe viel Träume: einer: ich sitze in einem Zug-Abteil dem alt gewordenen Helmut gegenüber und bemerke, wie schlechte Zähne er hat. Das ist vielleicht, weil ich momentan auch öfters zum Zahnarzt muss, aber dann ist der Traum schon aus. Komisch, jetzt gucke ich dauernd den Schlüssel da hinten an, wie wenn ich den umdrehen wollte – ob ich mal weggesperrt worden bin? – Für heute sind wir am Ende der Stunde. – [Er erhebt sich äußerst zögernd und langsam.] Habe ich Ihnen das einmal erzählt, bei dieser Erweckungsveranstaltung in der Kirche? Da war der Mantel und der Hut des Predigers vorne, die guckten mich die ganze Zeit an. Bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt und nach vorne ging – die Kirche war voll – und die zur Seite legte. – – Den Schlüssel hier werden Sie aber stecken lassen. Dann wiederschaun. – [Fast ‚irres‘ Lachen des Patienten und Hustenanfall beim Verlassen des Zimmers, Therapeut guckt ihm besorgt hinterher].
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Die Traumszene im Zugabteil erinnert an das Setting der Therapie (face-toface im Sitzen, gegenüber); es geht um die schlechten Zähne und den Zahnarzt, der wohl wieder „bohren“ wird (wie der Therapeut). Der Patient hat nun ein neues Objekt ins Visier genommen: Schloss und Schlüssel der Schrankwand, von deren Anblick er nicht lassen kann, so wie er früher die Stehlampe fixierte; dazu betritt eine neue Figur die Szene: der Prediger – negativ über seine Garderobe mit Mantel und Hut, die den Patienten seinerzeit in der Bekehrungsveranstaltung anguckten. Zur Garderobe muss man sagen, dass neben der Stehlampe im Behandlungszimmer eine Standgarderobe steht, wo die Patienten Hut und Mantel aufhängen können. Hier ein Auszug aus der darauf folgenden Stunde: Wo waren wir letzte Stunde? [Pause.] – Ich erinnere, dass Sie hier so ganz auf den Schlüssel am Schrank fixiert waren. – Ja, das war wie früher schon einmal mit der Lampe hier. – Sie erzählten noch von einer anderen Parallele. – Ja von dem Prediger, stimmt. Also das war vorne ich saß in der 8. Reihe und vorne neben dem Rednerpult war ein Lederhut und ein Mantel wie von einem Cowboy, der Redner kam ja auch aus Texas glaube ich und das hat mich so gestört, dass ich an all den Leuten vorbei musste und es zu Seite gelegt habe. – Was hat Sie daran denn gestört. – Ja komisch: da guckte aus dem Hut einfach das Böse heraus, das war granatenhaft. – Aha, granatenhaft. – Stimmt, wieder mal, etwas Explosives. Das ist jedenfalls Angst machend, diese Kleidungsstücke. Aber jetzt wo wir darüber sprechen, da fällt mir wieder ein, das könnte vom Umriss her mit der Gestalt im Keller, von der ich dachte, dass einmal etwas mit ihr war, zusammenhängen, so ein „Hutzelmännchen“ damals, – nur so eine Idee, die mir eben einfiel. – Nun, wenn Sie eine Parallele sehen vom Schlüssel hier zu der Predigerszene, hier machen Sie ja auch gerne den Vorraum vor dem Behandlungszimmer zur Betstätte. – [Lacht.] Beten kann man überall. – Vielleicht suchen Sie ja jetzt das Böse bei mir? – Bei Ihnen persönlich? Naja, also ich gehe ja davon aus, dass das jeder hat. ... [Der Patient assoziiert dann u. a. zu Schlüssel: Verschlossensein und sich öffnen wollen. Er habe das Gefühl, dass wir hier bisher nur gleichsam die Klappe vor dem Schlüsselloch bewegten um zu sehen wo das Loch ist, aber noch nicht mehr.] Aber wo ist das Bindeglied von der Szene mit dem Schlüssel hier und der Predigerszene? Jetzt wo ich zum Schrank gucke, ist verrückt, aber ich sag’s trotzdem, ist es, wie wenn in dem Schrank ein Gerippe darin ist, ein Gerippe mit Klamotten, wie mit einem heruntergekommenen, zerrissenen Talar. Ich denke an einen Sarg.39 Jetzt sehe ich mich und ein Mädchen, beide so mit 4 oder 5 Jahren vor dem Schrank, das ganz wie so eine Erschreckensszene. Das Mädchen lo-
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Wir werden unten noch einmal auf den „Sarg“ und seine Funktion gesondert eingehen.
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ckig, aber mit Zöpfen. Im Moment würde ich eher sagen meine Schwester Anna also nicht meine Lieblingsschwester. Ja und dann wieder die Frage: warum darf ich nichts fühlen?
Der Patient fordert den Therapeuten auf, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, den Anschluss an die letzte Erzählung der Serie wieder herzustellen: Es geht um eine Person, die sich als heiliger Mann, als Prediger – fast könnte man sagen – „verkleidet“ hat, oder einen als Cowboy verkleideten Prediger: einen Schein-Heiligen. Cowboyhut und Lederjacke „guckten mich die ganze Zeit an“; „granatenhaft“ guckte „das Böse“ aus dem Hut, der Umriss der Kleider ruft die dunkle, erschreckende Erinnerung an die Gestalt im Keller wach, die hier als „Hutzelmännchen“ bezeichnet wird. Wir kommen zur nächsten Stunde: Wir wollten ja bei dem Schlüssel, dort weitermachen. Aber: Ich hatte einen Traum, einen sehr schönen, kurzen Traum: Irgendeine ältere weibliche Person, die ich nicht identifizieren kann und da ist ein Paket mit einem Papier, das weiß ich von meiner Schwester. Das Papier ist so schön, die äußere Schale, ein wenig wie Tapeten: Kariert, aber diagonal: beige-rot-braun, Farben die ich mag. Es ist ein flaches Päckchen DIN A4. Als ich das auspacke, kommt etwas noch schöneres zum Vorschein, bildschön, bildhaft schön. ... Ja und dann der komische Schlüssel. Also der Traum ist vor drei oder vier Tagen gewesen und hinterher ein bildhafter Einfall: da sehe ich nebeneinander direkt einmal das Schlüsselloch und auf der anderen Seite einen Anus. – Was für einen? – Also einen jungfräulichen. Ja das Bild daneben von einem Finger und einem Anus, den er manipuliert, das macht mir aber keine Angst, das macht mir Lust, diese Vorstellung. Das ist ein schönes Erlebnis. – Vorhin sagten Sie: das Geschenk war so schön, so bildschön, wie der Kinderpopo, von dem Sie vielleicht sprachen, sie sagten: „ich hätte es gerne gehabt“. – Ja ich stelle mir das vor, dass das auch so ein Genuss ist für ein Kind, wenn es so gereinigt wird von den Fäkalien, das sehe ich so vor mir. – Und es war ja oft Ihre Schwester, die das gemacht hat. – Ja, das vermute ich jedenfalls. Vielleicht hat sie dabei auch immer gezeigt, dass sie einen „Sohn“, ein Brüderchen hat, das geht da ja gut. – Vielleicht waren Sie deshalb auch immer so schmutzig. – Ja das habe ich mich auch gefragt, ob ich so Aufmerksamkeit wollte. – und vielleicht auch Berührung. – Ja der Hintern in diesem Bild, das ist meiner, so im Alter von 7 oder 8 Jahren – – Was fällt Ihnen denn zum Anus ein? – Also ich erinnere mich jetzt, dass ich eine zeitlang selbst am Anus manipuliert habe. Der Anus den ich sehe ist so ein wenig hervortretend wie ein kleiner Vulkan, das ist so ähnlich eben bei dem Schloss und beides gibt nach, wenn man da hinlangt. ... Das Schloss ich weiß nicht, ob das hier auch so ist, das geht ja heraus, bis man den Schlüssel zuschließt, ist das hier auch so? – Nein. –
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Ach, der lügt. [Der Patient steht plötzlich auf, geht zum Schloss und dreht den Schlüssel im Schloss, lacht dabei.] – Was machen Sie denn da? – Ja ich war so neugierig. – So neugierig wie mit dem Prediger in der Kirche. – Sie meinen, wo ich Hut und Mantel nahm. – Ja irgendwie vergleichen Sie mich ja mit dem. Fällt Ihnen etwas dazu ein? [Pause.] Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Aufstehen auch ein Ausdruck von Protest war dagegen, dass sich alle so beeindrucken ließen von dem Starprediger, den Mann schildern Sie wie einen Scharlatan, einen Betrüger. – Ja, jeder gute Psychologe könnte so etwas wie der. – Dann hätte ich ja auch etwas von einem solchen Scharlatan. – Also bewusst war mir das nicht, als ich das gesagt habe. – Und Sie haben es ja auch angesprochen, – mir gegenüber: der lügt mich an, wie ein Betrüger. – Habe ich das gesagt? – Ja. – Na das kann schon sein, dass ich das unbewusst so verbinde. Ja ich dachte, dass Sie so doof sind, das sind doch überall dieselben Schlösser an so Büromöbeln. Aber klar, wir haben Schiebetüren, hier geht das nicht, siehst Du (!). Zu Schloss fällt mir jetzt ein „verschließen“, das merke ich jetzt auch, dass das im Oberbauch verschlossen ist. Aber dieses Schloss, man steckt den Schlüssel rein [er macht mit Händen koitale Bewegungen, bemerkt es und sagt]: na das passt ja. Ja vielleicht bin ich ja auch enttäuscht, dass Sie die Tür nicht aufbekommen, aber das müsste ich dann auch über mich sein, dass ich es nicht zulasse. – Dann wäre ich so dumm, das Schloss nicht zu knacken [In dem Moment des Wortes lässt der Patient hörbar seine Fingerknochen knacken.] – Was fällt Ihnen denn noch zu dem Bild im Inneren ein. – Also Mohn, komisch, jetzt wird mir so unbehaglich im Bauch, nur bei dem Wort M O H N, M O H N... , komisch. Dabei mag ich das so gerne, Mohnfelder, wogende Mohnfelder, das ist sogar eines meiner Ruhebilder im autogenen Training. Ja da fällt mir ein, dass man mir einmal eine Mohnknospe weggenommen hat, bei dem wenigen, was ich überhaupt hatte, das hat mir nicht gefallen glaube ich. Die war benutzt, oben geritzt, so dass Mohnsaft rauskommen konnte, da denke ich an rot und Blut, oh weh. – Die Mohnknospe erinnert ja auch etwas an Ihr Bild von dem vulkanartigen Anus. Wie war das beim Fiebermessen, Zäpfchen oder so? – Das war nie ein Problem, wenn etwas eingeführt werden sollte. Meine Mutter hatte so ein Klistier, ich denke, dass das so das Familienmittel war, wenn man Verstopfung hatte, aber ich kann mich nicht erinnern. ... [ohne daß der Therapeut es merkt, wird die Stunde überzogen.] Wer weiß, wo uns das noch hinführt.
Nach der Stunde, die um Schlüssel und Schloss kreist, folgt die Traumerzählung von der schönen äußeren Schale, die etwas noch Schöneres („bildschön, bildhaft schön“) birgt, wenn man es „auspackt“. Dann folgt ein „bildhafter Einfall“, in dem das Schloss („Schlüsselloch“) der Schrankwand
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neben einem Anus auftaucht. Das Nebeneinander legt eine Gleichsetzung Schlüsselloch = Anus nahe (wie bei dem anderen „Symbol“ oder „Synonym“: Stehlampe = nackter Mann.) Man kann sich fragen, warum der Anus das Attribut des JungFräulichen bekommt, wenn der Anus im Bild von einem Finger lustvoll autoerotisch stimuliert wird; der Erzähler erkennt in dem Anus ein Bild seines kindlichen Hinterteils. Die anale Autoerotik wird dann in eine Beziehungsgeschichte eingebettet: Der Patient denkt über die Reinigung seines Hinterns nach, dem sich seine älteste Schwester so gerne gewidmet habe, dem „Genuss“, mit dem das für ihn verbunden sein mag, der Stolz, mit dem die viele Jahre ältere Schwester ‚ihren‘ Kleinen präsentiert hat und den Bruder sogar als ihr Kind ausgab. Die in den Stunden zuvor angedeutete und zugleich in der Schwebe gelassene und in den Phantasien umrissene Frage nach sexueller Übergriffigkeit weicht in dieser Sitzung der nach dem eigenen Triebleben, dem Genuss an der analen Stimulation. Die Erzählung vermittelt: Nicht der Trainer war übergriffig, der Patient selbst hat sich Lust verschafft. Hier findet eine Verschränkung der Thematik der sexuellen Übergriffigkeit und der Triebdynamik statt. Der Anus tritt im Bild so plastisch hervor, dass er „wie ein kleiner Vulkan“ anmutet. Der Patient äußert die Annahme, dass das Schloss der Schrankwand auch einer solchen Erhebung fähig wäre: „Das Schloss ich weiß nicht, ob das hier auch so ist, das geht ja heraus, bis man den Schlüssel zuschließt, ist das hier auch so?“ Der Therapeut erwidert „Nein“, was weniger als Auskunft über den Schließmechanismus zu verstehen ist, sondern vielmehr das Setting wahren soll. (Das ‚Nein‘ sagt: ‚In der Therapie wird gesprochen, nicht herumgefingert!‘). Mit dem Ausruf „Ach, der lügt“ ist der Patient schon hinter dem Eckschreibtisch zur Schrankwand gehastet und macht sich an einem der Schlüssel zu schaffen, die im Schloss stecken. Der Patient spricht nicht mehr, phantasiert nicht mehr, sondern agiert; eigentlich hat er das schon in der vorhergehenden Stunde angekündigt („wie wenn ich den umdrehen wollte“). Als er wieder sitzt und über das Zuschließen der Büromöbel spricht, macht er mit den Händen gestisch koitale Bewegungen: auch das eine Form des Erzählens. Während vorher die Frage im Raum schwebte, was dem Patienten wohl in der Kindheit geschehen sein mochte, tritt nun an die Stelle passiven Ausgesetztseins das Tun: Der Patient als „Täter“ greift das Setting an, fingert herum. Das Agieren ist nicht nur eine Form des Widerstands, sondern hat kommunikative Funktion, hat den Wert einer Mitteilung, auf die man antworten kann: Man kann einen Übersetzungsversuch ins Verbale machen, Anschlussmöglichkeiten aufgreifen an vorherige Erzählungen (von der Garderobe des Predigers)...
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Es folgen Kindheitserinnerungen an eine Mohnknospe, das Rot im Inneren der Knospe, der Saft, der aus der angeritzten Knospe fließt, erinnert ihn an Blut, und es geht um Klistierbehandlungen („Das war nie ein Problem, wenn etwas eingeführt werden sollte“, „Wer weiß, wo uns das noch hinführt.“) 7. Synopsis der Fallgeschichte Auch am Ende der Psychotherapie blieb (in der Sprache des Patienten ausgedrückt) das Kabel hinter einer Verkleidung verborgen: Ein detailliertes Erinnern an traumatische Geschehnisse war nicht möglich, aber von dem Erlebten inszenierte sich viel: In Gestalt von Träumen, Phantasien, flashbacks, Erinnerungsfragmenten, kurzen dissoziativen Zuständen, Agieren in Form des Betastens des Schließmechanismus der Schränke sowie Sensationen im Bauchbereich u. v. m. drängte sich der Verdacht auf eine traumatisierende Missbrauchserfahrung auf. An einer Stelle sagte er: „Komisch, ich rieche Helmut jetzt, so seine spezielle Rasierseife oder was das war und sehe ihn ganz plastisch, mit seinem alten schlapprigen Trainingsanzug.“ Auf dem Boden einer brüderlich-kameradschaftlichen Übertragung, die zuweilen in ein vertrauliches „Du“ rutschte, aktualisierte sich die Beziehung zum Trainer im Verhältnis zum Behandler. Die Übertragungssituation bekam nun etwas Obsessives und Verstörendes. In diesem Rahmen tauchten Phantasien der Umgestaltung des Behandlungszimmers auf, in denen der Patient die Stehlampe mit phallischer Symbolik auflud und dabei den Drang hatte, sie verkleiden zu müssen. Letztlich handelt es sich bei dem Umbau des Behandlungszimmers in der Phantasie um eine konkretistische Verbildlichung der psychischen Abwehr. Dabei war die Verleugnung für den Betroffenen psychisch offensichtlich unentbehrlich. Aber im Verdecken, im Verkleiden der Lampe zeichnet sich im Akt des Verkleidens das Verkleidete ab. Hier zeigt sich eine eigentümliche Dialektik, wie sie Christian Kupke an der Dialektik von Sagbarem und Unsagbarem entwickelt: Aber dieser Entzug, diese Negation [des Sagbaren] wird nur am Sagbaren, an dieser Positivität selbst erfahren, und zwar so, dass die Grenze dieses Sagbaren erfahren wird und nicht das Unsagbare selbst oder als solches. ... Daher kann es als solches gerade nicht erfahren werden und sich nur an seinem Anderen erweisen...40
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Kupke 2006, 36.
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Kann man in dem hier vorgestellten Fall von einer „vollständigen Unfähigkeit [sprechen], die traumatische Situation sprachlich darzustellen“?41 Das ist eine Frage des Begriffs sprachlicher Darstellung oder der „Erzählung“: Das Trauma taucht an den Rändern des Sagbaren auf: Das obsessiv wirkende Handwerken in der Phantasie war gefolgt von dem Willen, die „unschuldige“ Stehlampe wieder stehen zu lassen. Schließlich wurde etwas ausagiert, indem der Patient in einem ‚acting out‘ aufsprang, um den Mechanismus der Schlösser der Schränke zu inspizieren. Welche ‚Indizien‘ gibt es für eine Traumatisierung? Nimmt man die klinischen Diagnose der sog. „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (nach den gebräuchlichen klinischen Glossaren ICD-10 bzw. DSM-IV), dann finden sich diagnostische Kriterien, die sich auch bei dem Patienten finden: – Wiedererleben des Ereignisses in Gestalt von Gefühlen, als ob das Ereignis wiederkehrt (Angst, Entsetzen), dazu sog. flashbacks und Nachhallerinnerungen; – Vermeidungsverhalten in Form des Vermeidens von Gedanken und Gefühlen in Bezug auf das Trauma; Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern; – Eingeschränkte Bandbreite des Affektes; – Anhaltende Symptome erhöhter Erregung (Schlafprobleme, bei dem Patienten extremes Schwitzen). Ferner besteht eine dissoziative Amnesie in Bezug auf weite Teile der Kindheit. Das Erinnern an das Trauma, ja an weite Strecken der Kindheit, ist durch das, was schon P. Janet „Dissoziation“ des Erlebens nannte, nur in Bruchstücken, nur fragmentiert möglich. Das Dissoziierte findet sich in der Erzählung in dem Einbruch plötzlicher Einfälle und von Erinnerungsfragmenten. Während des Aussprechens dieser Elemente befindet sich der Patient selbst meist in einem dissoziierten Zustand (Absencen). Die Rede vom ‚Fragmentierten‘ oder ‚Bruchstück‘ weckt allerdings die Erwartung, man könne das Geschehnis als ganzes wieder zusammensetzen; was sich bei dem Patienten aber aufdrängte, war viel zu dürftig und stereotyp (Kellerabgang, Schatten, Geruch...), als dass es sich zu einem narrativen Ganzen zusammensetzen ließe und als erinnerbares oder rekonstruierbares Geschehnis ‚integrieren‘ lassen könnte. Noch ein Wort zu dem „Sarg“, den der Patient im Schrank des Zimmers zu erkennen meint. Der Sarg ist ja das Holz-„Möbel“, das den menschlichen Leib als Leichnam birgt und verdeckt. Der Sarg lässt sich aber auch als ein besonderer Ort ‚im‘ Psychischen verstehen, als Stätte für _____________ 41
Deppermann & Lucius-Hoene 2005, 62.
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ein Gedächtnis, das dem Erinnern entzogen ist. In der Traumaforschung hat sich die Annahme einer Verortung des Traumas in einem Gedächtnis, das vom autobiographischen Gedächtnis abgesondert ist, bewährt (van der Kolk 1997; „dual representation theory“). Abraham und Torok haben für ein solches geheimes Gedächtnis den Gedanken der „Krypta“ entwickelt. Mit Nicolas Abraham und Maria Torok kann man von „’verkrypteten Erinnerungen‘ [sprechen], die der Träger in sich verschließen muß‚ ‚wie in einem Sarg‘, [sie] entziehen sich der Versprachlichung“.42 Der Affekt des Patienten am Rand dieses Sargs ist der Schock (s. o. „Erschreckensszene“). Wenn Abraham & Torok vom „Spuken“ des „Phantoms“ sprechen, dann hat dieses „Phantom“ bei dem Patienten die Gestalt von Phantasien, Gedächtnissplittern, Gerüchen, Bildern, Phantasien, von denen er heimgesucht wird: In der Traumakrypta verwahrt sind die „sensorischen, bildhaften und prozeduralen Gedächtnisformen“ („ich rieche Helmut jetzt, so seine spezielle Rasierseife“), aber aus dem früheren Geschehniszusammenhang gerissen: Ihre Form der Erinnerung aber ist die Wiederholung: die automatische, mechanische Reaktivierung der traumatisch eingeprägten Spur. So durchlebt das Opfer immer wieder Intrusionen, Fragmente von intensiven Bildern und Affekten. Es reinszeniert das Trauma in der wortlosen Starre zwanghafter Iteration, durch sein Verhalten gegenüber anderen oder auch durch kindliches Spielen. 'Posttraumatische Spiele wiederholen das Trauma so wörtlich, daß man, wenn man solche Spiele bemerkt, kaum noch andere Hinweise braucht, um das traumatische Ereignis zu erraten.' [J.L. Hermann, 1993] Und schließlich kehrt die Spur des Traumas wieder im Symptom – in Schmerzen, Somatisierungen, Essstörungen oder Depressionen; Symptome, die ohnmächtig auf ein unaussprechliches Geheimnis hinweisen und gleichzeitig davon ablenken.43
Das kryptische Trauma, das Trauma in der Krypta ist in der Kontinuität der Lebensgeschichte ausgespart, es hat seine eigene Zeit – und das ist die der Wiederholung: Das obsessive Wiederholen, ja der Wiederholungszwang ist die Form des ‚Erinnerns‘, die das in der Krypta Verschlossene verlangt. Das Trauma wird zu einer Singularität; es reißt, wie Bernet formuliert, „ein Loch in das symbolische Gewebe, aus dem die Geschichte des Subjekts besteht.“ Namenlos und unaussprechlich, erzeugt es eine radikale Diskontinuität der inneren Lebensgeschichte, der narrativ konstituierten Subjektivität. Denn Erinnerung im Sinne der Aneignung, so schreibt bereits Janet, bedeutet wesentlich die „Erzählung einer Geschichte“.44
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Braun 2006, 66. Fuchs 2006, 96. Fuchs 2006, 95. Die therapeutische Aufgabe beschreibt Fuchs dahingehend, daß „die Diskontinuität, der ‚Riss im symbolischen Gewebe‘ der Lebensgeschichte ... durch das Erzählen einer neuen Geschichte überbrückt werden [muss]. Dies geschieht, indem das trau-
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Der Plan für den Umbau des Mobiliars ist ein Kompromiss zwischen Aufdecken und Verdecken. Er stellt einen Versuch dar, der Dissoziation des Psychischen etwas Konsistentes entgegenzustellen; der „Dekonstruktion“ des früheren Ideals wird eine „Konstruktion“ entgegengesetzt, an die Stelle der Passivität des traumatischen Widerfahrnisses tritt die Aktivität des Handwerkers. Das Erzählen wechselt zwischen Spot und Dimmer: Unserer Annahme zufolge wird das traumatische dissoziierte ‚Ereignis‘ verkleidet in Phantasien der Verkleidung von symbolisch aufgeladenem Mobiliar, das sich mit dem Geschehnis ‚symbolisch‘ assoziiert (die Lampe ist gleichsam ein Objekt der Übertragung wie der Therapeut). In diesem Sinn ist diese Erzählung ein Beispiel dafür, dass es in der Behandlung nicht immer um die Rekonstruktion des Geschehenen geht, sondern um eine „kreative Erzählung“ und zwar in Form einer „Geschichte im Hier und Jetzt“45 des Behandlungsraums. Die innenarchitektonischen Phantasien sind ein Kompromiss zwischen Abwehr und der Arbeit der Erinnerung. Heizner sieht bei Traumatisierten den typischen „Konflikt zwischen dem Drang, zu enthüllen, und dem Wunsch, das Geschehene zu verdrängen und zu verstecken“:46 Die Verleugnung markiert die Schuld (‚un-schuldige‘ Stehlampe), es kommt zur Bagatellisierung und Verallgemeinerung (das Böse hat doch jeder...). Es bleibt ein Indizienprozess gegen den Trainer: Die Erzählung zeigt einige Auffälligkeiten, wie sie in der Literatur im Falle einer Traumatisierung diskutiert werden: etwa die ‚Dekontextualisierung‘. Die ‚Phantasie‘ wird unangekündigt erzählt, ohne entsprechende Einleitung oder Rahmung; ferner gibt es unmarkierte Sprünge zwischen Fragmenten der traumatischen Episode (Schattengestalt im Keller) und Phantasien in der Erzählzeit.47 Mit Brigitte Boothe kann man bei dem Patienten von einem „Rededuktus der Verstörung“ sprechen.48 Es findet sich in vielen Sitzungen ein „Detail-Konkretismus“,49 der ebenfalls als typisch für Traumatisierte gilt; weitere Hinweise sind die plötzlichen Ein-Fälle von Phantasien, Erinnerungen, dazu der fließende, textuell unmarkierte und unangekündigte _____________
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matische Erlebnis vergegenwärtigt und zugleich in eine vertrauensvolle Beziehung eingefasst wird, die gerade durch ihre vorsprachliche, implizite Dimension dem Patienten hilft, Worte für das Unaussprechliche zu finden“ (Fuchs 2006, 97). Ferro 1993, 951. Thoma 2005, 14. Deppermann & Lucius-Hoene 2005, 63. Boothe 2005, 5. Boothe 2005, 5.
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Übergang von der Phantasie zur Realität, Vergangenheit zur Gegenwart, der erzählenden Zeit zur erzählten Zeit.50 Am Text fallen verschiedene Formen der „Unterbrechung“ auf, etwa das „Einbrechen“ von Erinnerungen im Erzählen, die Zeichen des Traumas sein können. Gisela Thoma schreibt, Erinnerungen und Bilder, die als „gegenwärtig erlebt werden“, drängten sich auf und „unterbrechen begonnene Erzählungen“.51 Ferner ist die Regression auf eine kindliche Redeweise typisch:52 („dass man bohrt, hier im Bauch merke ich das“; „Da bekomm ich aber jetzt arg Bauchweh, grade“), sowie die Somatisierung des Affekts; der Bauch sagt „Stopp“, signalisiert eine ‚Erzählhemmung‘.53 Indem der Therapeut nicht weiter „gebohrt“ hat, hat er die Abwehrformation respektiert; aber er ist auch Zeuge einer Erzählung geworden, die vom Unaussprechlichen spricht – in mehr als einer Weise. Literatur Boothe, B. (1994). Der Patient als Erzähler in der Psychotherapie. Göttingen/ Zürich. Boothe, B. (2005). Editorial [Themenheft: Die Sprache des Traumas]. Psychotherapie & Sozialwissenschaft 7, 3-6. Boothe, B. (2007). ‚Im Dezember bin ich umgekippt‘. Erzählen über Kontrollverlust. Psychotherapie & Sozialwissenschaft 9, 89-117. Braun, Ch. v. (2006). Stille Post. Das Sagen und Versagen der Erinnerung. In M. Heinze, Ch. Kupke & I. Eckle (Hrsg.), Sagbar – Unsagbar: Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen, 55-70. Berlin. Deppermann, A. & Lucius-Hoene, G. (2005). Trauma erzählen – kommunikative, sprachliche und stimmliche Verfahren der Darstellung traumatischer Erlebnisse. Psychotherapie & Sozialwissenschaft 7, 35-73. Ferro, A. (1993). Zwei Autoren auf der Suche nach Personen. Die Beziehung, das Feld, die Geschichte. Psyche 47, 951-972. Ferro, A. (2002). Interpretation, Dekonstruktion, Erzählung oder die Beweggründe von Jacques. Psyche 56, 1-19. Ferro, A. (2008). Die Transformation: Mikrotransformationen, Makrotransformationen und Transformationen durch Narration. Forum Psychoanal 24, 217-228. Ferro, A. (2009). Psychoanalyse als Erzählkunst und Therapieform. Gießen. Freud, S. & Breuer, J. (1970). Studien über Hysterie. Frankfurt/M. _____________ 50 51 52 53
Zur „Zeitebenenverschränkung“ vgl. Deppermann & Lucius-Hoene 2005, 63. Thoma 2005, 13. Vgl. Thoma 2005, 13. Deppermann & Lucius-Hoene 2005, 66.
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Freud, S. (1990). Gesammelte Werke VIII. Frankfurt/M. Fuchs, Th. (2006). Zur Phänomenologie des Schweigens. In Ch. Kupke & I. Eckle (Hrsg.), Sagbar - Unsagbar: Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen, 89-108. Berlin. Kupke, Ch. (2006). Diesseits und/oder jenseits des Binarismus? Einige Annotate zum Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem. In Ch. Kupke & I. Eckle (Hrsg.), Sagbar – Unsagbar: Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen, 27-53. Berlin. Schödlbauer, M. (2000). Psyche – Logos – Lesezirkel: ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger. Würzburg. Thoma, G. (2005). Die Gestaltung traumatischer Erfahrungen im narrativen Prozess, Psychotherapie & Sozialwissenschaft 7, 7-33. Walter, H. J. (2006). Erzählen: Psychoanalytische Reflexionen. Wien/Berlin.
INGA RÖMER (Wuppertal)
Narrativität als philosophischer Begriff. Zu Funktionen und Grenzen eines Paradigmas Die Philosophie beginnt erst dann, wenn man aufhört, Geschichten zu erzählen. Die Geschichten der alten Philosophen über das Seiende, so der Fremde in Platons Dialog Sophistes,1 vermögen keine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung mit dem Seienden zu erreichen. Aufgrund dieses schon in den Anfängen der Philosophiegeschichte formulierten Verdikts gegen die Narrativität scheinen Philosophie und Narrativität einander ausschließende Begriffe zu sein. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch hat der Begriff der Narrativität in den Humanwissenschaften eine Renaissance erfahren, die bis heute andauert. Im Zuge dieses zuweilen als „narrative turn“ bezeichneten Forschungsgeschehens hat der Begriff der Narrativität auch in der Philosophie weitreichende Aufmerksamkeit gefunden. Im Rückblick auf die philosophische Tradition ist gar zuweilen von einer „Erzählvergessenheit der Philosophie“ gesprochen worden.2 Über die ersten Ansätze bei Hannah Arendt und Wilhelm Schapp hinaus haben insbesondere die Konzeptionen von Alasdair MacIntyre, Paul Ricœur, David Carr und Charles Taylor dem Begriff der Narrativität seit den achtziger Jahren dazu verholfen, philosophisch affirmativ diskutiert zu werden.3 Diese neu entdeckte Wertschätzung der Narrativität blieb allerdings keineswegs unumstritten. Die einen Kritiker halten zwar an der philosophischen Relevanz des Narrativitätsbegriffes fest, vertreten jedoch die Auffassung, dass der Anwendungsbereich des Narrativitätsbegriffes innerhalb der Philosophie erheblich kleiner sei, als von den frühen Ansätzen zur Narrativität _____________ 1 2 3
Vgl. Platon 1991, 242c-243c. Vgl. Eichler 2007, 117. Diese Formulierung verweist auf Heideggers Rede von der Seinsvergessenheit der Philosophie. Vgl. Arendt 1967, 242; Schapp 1953; MacIntyre 1995, insbesondere 273-300; Ricœur 19881991;. 1996; Carr 1986; Taylor 1996, insbesondere 52-104. Seit den neunziger Jahren und bis heute andauernd hat diese Tradition narrativer Ansätze in der Philosophie wesentliche Ergänzungen gefunden. Vgl. insbesondere Tengelyi 1998 sowie Thomä 1998.
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behauptet wurde.4 Die anderen sprachen sich geradezu in einem „iconoclastic turn“ schlichtweg „gegen die Narrativität“ als philosophischen Begriff aus.5 Derzeit scheint eine „‚postpolemische Phase‘“ erreicht zu sein,6 in der die philosophischen Befürworter der Narrativität die Einwände der Kritiker von innerhalb und außerhalb des „Narrativitätsdiskurses“ aufnehmen und in ihren Ansätzen zu berücksichtigen versuchen. Das Resultat ist eine vielseitige Differenzierung des Narrativitätsbegriffes sowie eine kritische Diskussion seines Anwendungsbereiches. Aufgrund der Breite, in der der Narrativitätsbegriff in der Philosophie diskutiert wird, ist es keineswegs möglich, in einem Aufsatz eine erschöpfende Behandlung anzustreben. Daher werde ich mich in Auseinandersetzung mit zentralen Stimmen der Forschungsliteratur darauf konzentrieren, einige hervorstechende Grundzüge der Funktionen und Grenzen des Narrativitätsbegriffes innerhalb der Philosophie herauszuarbeiten und zu diskutieren. Ziel ist es, einen Beitrag zu der Frage zu leisten, inwiefern die Narrativität weder ein Allheilmittel für philosophische Fragestellungen noch eine bloße Modeerscheinung darstellt, sondern in ganz bestimmten Gestalten auf ganz bestimmte Probleme zu antworten vermag. Die drei folgenden Abschnitte wenden sich drei philosophischen Kernbereichen zu, innerhalb derer der Narrativitätsbegriff diskutiert wird: (1) die Narrativität der Handlung und ihre Grenzen, (2) die Narrativität des Selbst sowie (3) Narrativität und Ethik. Da der Ansatz von Paul Ricœur als besonders differenziert gelten kann und bereits diversen Kontroversen Rechnung trägt,7 wird seinen Ausführungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. 1. Die Narrativität der Handlung und ihre Grenzen In Ricœurs Trilogie Zeit und Erzählung ist es das philosophische Problem der Zeit, welches einen Rückgriff auf die Narrativität notwendig macht. Zeit, so Ricœur, sei wesentlich aporetisch und könne von keinem philosophischen Begriff hinreichend erschlossen werden.8 Die die Trilogie dominierende Zeitaporie – Ricœur nennt insgesamt drei – ist diejenige zwi_____________ 4 5 6 7 8
Hierzu lassen sich unter anderen William Blattner, Bernhard Waldenfels, Dieter Thomä, Wolfgang Kraus und Dan Zahavi zählen. Ihre Schriften werden weiter unten Beachtung finden. Battersby 2006, 27; Strawson 2005. Kraus 2007, 30. Kraus entlehnt diesen Ausdruck Mark Freeman. Vgl. zu dieser Einschätzung von Ricœur Polkinghorne 2004. Ricœurs komplexe These einer prinzipiellen Aporizität der Zeit kann hier nur angedeutet werden. Vgl. dazu ausführlicher Römer 2010.
Narrativität als philosophischer Begriff
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schen einer erlebten Zeit, in der die Dimensionen der Zukunft, der Gegenwart und der Vergangenheit primär sind, und einer objektiven Zeit des Nacheinander, in der das Spätere auf das Frühere folgt. Aufgrund einer prinzipiellen und theoretisch nicht zu überwindenden Spannung zwischen diesen beiden Perspektiven sei es von vornherein unmöglich, das sich mir lebensweltlich darbietende und immer schon zeitlich erfahrene Geschehen direkt zu begreifen und auszusagen. Dass die Zeiterfahrung trotzdem sagbar bleibt, verdanke sich dem Umstand, dass sich Ricœur zufolge von „einer narrativen Struktur oder zumindest von einer pränarrativen Struktur der Zeiterfahrung sprechen“ (1988, 98) lässt. Diese pränarrative, nicht-begriffliche Vermittlung der ersten Zeitaporie sieht Ricœur vornehmlich im Bereich der Handlung geschehen, die den objektiven Zeitablauf mit subjektiven Sinnelementen verbindet: Wenn ich mich im Alltag beispielsweise zu der Handlung entschließe, jetzt in die Universität zu gehen, so geschieht dies aus der in meiner Vergangenheit gründenden Motivation, meinem Beruf nachgehen zu wollen und aus meinem Vorhaben, meine Forschungsarbeit oder meine Lehrveranstaltung weiterzuführen. Die drei Ekstasen der Zeit, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sowie die sequenzielle Zeit der Welt, werden so innerhalb der Handlung in einer praktischen Verflechtung erfasst, in der die Zeit als eine „Zeit, um etwas zu tun“ erscheint.9 In Hinblick auf diese zeitlich praktische Verflechtung spricht Ricœur von der „elementarste[n] Vorform der Erzählung“ (1988, 99).10 Der „narrative Minimalsatz“ enthalte jedoch noch weitere Elemente als lediglich ein Ziel, ein Motiv, ein handelndes Subjekt und eine aktuelle Handlungsintention. Er laute: „X macht A unter diesen oder jenen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Y unter denselben oder anderen Umständen B macht“ (1988, 92). Die pränarrative Struktur der Zeiterfahrung, welche in der pränarrativen Struktur der Handlung verständlich wird, integriert also auch die vom handelnden Subjekt nicht kontrollierbaren Umstände sowie die Aktionen bzw. Interaktionen der anderen Handelnden und macht damit „so heterogene Begriffe wie Handelnde, Motive und Umstände […] miteinander vereinbar“ (1988, 93). Was Zeit ist und auch was Handlung ist, können wir Ricœur zufolge nur in diesen pränarrativen Minimaleinheiten verstehen, was jedoch nicht _____________ 9 10
Ricœur knüpft hier bis zu einem gewissen Grad an Heideggers Begriff der Innerzeitigkeit an, demzufolge sich Zeit zunächst und zumeist als eine „Zeit, um zu“ darstellt, d. h. eine Zeit des handelnden Besorgens. Vgl. Heidegger 1927, 6. Kapitel. Zu derartigen elementaren Vorformen des Narrativen kann auch das „Kaffeekochen“ gezählt werden, welches Galen Strawson, bestärkt durch eine Bemerkung von Charles Taylor, als „trivial“ bezeichnet und daher nicht als ein Beispiel für einen sinnvollen Narrativitätsbegriff gelten lässt (vgl. Strawson 2005, 12).
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bedeutet, dass die Zeit und die Handlung in diesem pränarrativen Verstehen aufgehen. Es verbleibt vielmehr stets ein Abstand, der es ermöglicht, das in Frage stehende Zeit- und Handlungsgeschehen auch anders aufzufassen. Ricœur hebt diesen Abstand ausdrücklich hervor, wenn er bereits diese Ebene des Pränarrativen als mimesis, als schöpferische Nachahmung von Handlung bezeichnet, die bereits in ihrer primitivsten Form immer schon über eine bloße Kopie, Darstellung oder Repräsentation hinausgeht. Ricœur vertritt daher weder die These, dass das Leben bereits selbst narrativ strukturiert ist,11 noch ist er der Auffassung, dass wir es ursprünglich mit einem formlosen und sinnlosen Material zu tun hätten, welches allererst durch unsere synthetisierenden Leistungen zu sinnhaften narrativen Zusammenhängen geordnet wird.12 Pränarrative Strukturzusammenhänge sind uns ihm zufolge vielmehr immer schon gegeben, während diese zugleich stets für Verschiebungen offen bleiben, weil in ihrem Hintergrund die prinzipiell aporetische Zeiterfahrung steht.13 Dieser Abstand der mimesis lässt den hermeneutischen Charakter von Ricœurs Ansatz deutlich hervortreten: Wir erreichen Zeit und Handlung nie direkt, sondern lediglich über einen Umweg der – pränarrativen – Vermittlung. Diese unhintergehbare Vermittlung aber lässt sich ihrerseits wiederum verschieben, erweitern, differenzieren und vertiefen, weswegen Ricœur die bisher skizzierte mimesis der Präfiguration als mimesis I bezeichnet und damit lediglich als die unterste Stufe in einem narrativ verstandenen hermeneutischen Zirkel versteht. Durch ausdrückliche Konfigurationen der präfigurierten Zusammenhänge auf einer Ebene der mimesis II erzählen wir in einer von Ricœur so genannten „Synthesis des Heterogenen“ ausdrücklich Geschichten,14 die neue Erfahrungen und Zusammenhänge aufdecken und schaffen, während die als mimesis III bezeichnete Ebene der Refiguration der Rückwirkung der Konfiguration auf die Präfiguration nachgeht. Wenngleich Ricœur, wie gezeigt, eine nuancierte Zwischenposition vertritt, indem er weder Zeit und Handlung auf Narrativität reduziert, noch ihr pränarratives Verständnis auf eine bloße narrative Konstruktion _____________ 11 12 13 14
Diese Position vertreten trotz aller Unterschiede zwischen ihnen MacIntyre, Carr und zumindest der Tendenz nach auch Taylor. Eine derartige Position schreiben Carr und Janicaud Ricœur zu. Vgl. Carr 1997, 174 u. 178. Vgl. Janicaud 1997, 184. Sie wäre jedoch eher bei Louis O. Mink oder Hayden White zu finden. Vgl. Mink 1970; White 1973. Das Verhältnis der pränarrativen Vermittlung zu dem, was sie vermittelt, wird weiter unten im zweiten Abschnitt erneut aufgegriffen. Andernorts habe ich dargelegt, dass der Ausdruck „Synthesis des Heterogenen“ irreführend ist, weil Ricœur angesichts der dreifachen mimesis auf so etwas wie einen modifizierenden und vertiefenden Synthetisierungsprozess des von vornherein nie ganz Heterogenen abzielt (vgl. Römer 2010, Kapitel 4.3.3).
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zurückführt, scheint sein Ansatz wesentliche Aspekte zu vernachlässigen. So ist eine erste Gruppe von Kritikern zwar mit der Bedeutung, die Ricœur der Narrativität für die Zeiterfahrung zuschreibt einverstanden, findet jedoch, dass er sich zu stark auf die Handlung konzentriert und dabei andere, ebenfalls narrativ zugängliche Ebenen der Lebenswelt vernachlässigt. Insbesondere die Passivität gerate bei Ricœur zu Unrecht aus dem Blick. Hier ließe sich nun zwar einwenden, dass die Erzählung für Ricœur durchaus das Handeln und Leiden der Menschen sowie die einige Passivität enthaltende Zeiterfahrung erzählt. Nichtsdestotrotz trifft es zu, dass die Passivität bei ihm auf der Ebene der mimesis I vorwiegend als Hintergrund der Aktivität in Form der Umstände einer Handlung oder als Gegenstück zur Aktivität der anderen Handelnden Berücksichtigung findet. Nicht nur Umstände einer Handlung oder das Erleiden von Handlungen anderer Handelnder jedoch haben pränarrative Züge, sondern, so hebt Susanne Kaul in einer Auseinandersetzung mit einer Passage aus Rilkes Malte Laurids Brigge hervor, es können ganze Geschichten befindlich, beispielsweise in Schreckmomenten, erschlossen werden: Angesichts einer bloßen Mauer kann eine Stimmung oder Befindlichkeit entstehen, die ohne Gedächtnisleistung und ohne Reflexion Geschichten der Kindheit unmittelbar erschließt.15 Bernhard Waldenfels wiederum betont, dass Handlungen zurückweisen auf „Abgründe des Pathischen, auf all das, was uns zufällt, einfällt, auffällt, was uns überrascht, überkommt, kurz: was uns widerfährt“ und als ein solches „in bestimmte Ordnungen einbricht, ohne sich naht- und schmerzlos in sie einzufügen.“16 Marc Richir und László Tengelyi unterstreichen im Ausgang von dem späten Merleau-Ponty das Aufkommen von spontanen Sinnbildungen, die durch keine konstituierende oder synthetische Leistung zustande kommen, sondern am Rande der Ordnungen, so auch der narrativen, auftauchen und diese unterminieren.17 Während der von Kaul geleistete Aufweis einer narrativen Passivität der Befindlichkeit das Ricœur'sche Modell einer pränarrativen Struktur der Handlung zu ergänzen vermag, weisen Waldenfels, Richir und Tengelyi auf Widerfahrnisse und spontane Sinnbildungen hin, die jede pränarrative Struktur stören. Diese Störungen jedoch scheinen wiederum nicht eigentlich auf einen gesonderten Bereich des absolut Nicht-Narrativen zu verweisen, sondern sie sind vielmehr Anlässe zum Mehr- und Anderserzählen sowie zu einer Sinnverschiebung des pränarrativen Verstehens, wenn sie als Störungen der pränarrativen Ordnung erfahren werden. _____________ 15 16 17
Vgl. Kaul 2003, 88-93. Waldenfels 2004, 55. Vgl. Richir 2001, 378, und Tengelyi 2007, Erster Teil, Erster Abschnitt.
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Was aber geschieht, wenn wir von dem pränarrativen Verstehen der Lebenswelt zum ausdrücklichen Erzählen von Geschichten und damit zur mimesis II übergehen? Ricœur macht mit Geschichtserzählung und Fiktionserzählung zwei große Klassen von Erzählungen aus. Durch Erzählungen der Vergangenheit, die jedoch niemals bloße Repräsentationen des Vergangenen sind, sowie durch fiktionale Erzählungen vermögen wir uns einerseits dem, was gewesen ist, verstehend zu nähern und andererseits das, was denkbar ist, was hätte sein können oder noch sein könnte, zu erforschen. Da eine ausführliche Diskussion dieser Zusammenhänge hier nicht möglich ist, möchte ich mich auf die Hervorhebung einiger wesentlicher Aspekte konzentrieren. Erstens ist bei dem Übergang zur mimesis II festzuhalten, dass keine Superzählung alles, was war und sein wird, vollständig zu erfassen vermag. Noch bevor Lyotard 1979 seine These vom Ende der großen Erzählungen formulierte,18 hatte Arthur C. Danto bereits 1965 innerhalb der analytischen Philosophie hervorgehoben, dass es eine allumfassende Erzählung nicht geben kann.19 Ihre Thesen fügen sich in einen allgemeinen Abschied von einem Hegelianischen Denken der Totalität ein, ein Abschied, den Ricœur als ein Ereignis im Denken von der Größenordnung eines Erdbebens bezeichnet (vgl. 1991, 326). Lediglich Erzählungen in der Mehrzahl bleiben möglich. Zweitens ist darüber hinaus zu beachten, dass es Unerzählbares gibt, welches sich immer wieder auch dem vielgestaltigsten Netz von Einzelerzählungen entzieht. Die Ewigkeit und der Mythos stellen Ricœur zufolge innere Grenzen der Refiguration der Zeit durch die Erzählung dar; nichterzählerische Formen, die Zeiterfahrung zu sagen, markieren ihre äußere Grenze (vgl. 1991, 431-436). Die Anfänge und Enden sowie die Brüche zwischen Erzählungen, so Waldenfels, entziehen sich dem narrativen Ordnungsschema (vgl. 2004, Kap. III). Allzu oft zudem vermögen wir zu einer Handlung kein überzeugendes Motiv auszumachen, die Interaktion nicht wirklich zu begreifen und das Wirken der Umstände nicht eigentlich einzugrenzen. Ebenso oft erscheinen uns verschiedene Erzählungen desselben Zusammenhanges gleichermaßen überzeugend oder aber wir vermögen zwischen zwei in sich kohärenten Erzählungen keinen Übergang herzustellen. Das Entfliehen der Zeit angesichts der Schwächen unseres Gedächtnisses und unseres Alterns sowie die Fremdheit des Anderen stellen jede, noch so fragmentarische narrative Ordnung vor eine Heraus-
_____________ 18 19
Vgl. Lyotard 1999. Vgl. Danto 1974.
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forderung, die sie niemals vollends zu überwinden vermag.20 Jede Art von prinzipiellen Konflikten, wie sie sich im Tragischen darstellt, und jede Art von Unvordenklichkeit, sei sie diejenige der Zeit oder des ethischen Gesetzes, führt die Erzählungen an ihre Grenzen – und doch vermag sie diese Grenze als Grenze gewissermaßen „mitzuerzählen“. Wie bereits für die Widerfahrnisse und Sinnbildungen der lebensweltlichen Erfahrung gesagt wurde, ist auch hier hervorzuheben, dass dieses „Unerzählbare“, um mit Waldenfels zu sprechen, „nicht etwa das Negat der Erzählbarkeit“ darstellt, „sondern ihre Kehrseite und Hohlform. Das Unerzählbare wohnt der Erzählung inne, indem es sie zugleich übersteigt und sprengt.“ (2004, 50) Drittens ist schließlich hervorzuheben, dass es im Ausgang von der pränarrativ verstandenen Lebenswelt diverse nicht-narrative Perspektiven gibt. Ein Forscher beispielsweise, der sich in pränarrativen Erfahrungsund Handlungszusammenhängen bewegt, vermag sich von diesen narrativen Strukturen zu distanzieren und Probleme und Fragen zu verfolgen, die keineswegs narrativ strukturiert sind. Wenn er Naturwissenschaftler ist, geht er vom narrativen Verstehen zum Erklären über und wenn er Humanwissenschaftler ist, wechselt er beispielsweise vom narrativen Verstehen zu einer Reflexion auf die Narrativität, auf die Methode des Verstehens und ihren Bezug zu seinem Untersuchungsgegenstand. Die Behauptung der Narrativität der Handlung, so lässt sich sagen, hat also ihre Berechtigung, vorausgesetzt, dass ihre Grenzen deutlich markiert werden: Die theoretisch aporetischen Zeiterfahrungen und die in ihrer Komplexität aus Zielen, Handlungssubjekten, Motiven, Umständen, Interaktion und Ausgang bestehenden Handlungen der Lebenswelt werden immer schon in einer pränarrativen Struktur zugänglich, die sich in ausdrücklichen Erzählungen verschieben, differenzieren, vertiefen und erweitern lässt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Narrativität das Verstehen, die Erfahrung und die Handlung jemals vollkommen erschöpft, vielmehr widerstehen diverse Aspekte immer wieder dem Versuch ihrer narrativen Ordnung oder entziehen sich gar im Rahmen einer theoretischen, forschenden Einstellung der Narrativität überhaupt. Nichtsdestotrotz ließe sich sagen, dass die Narrativität vieles des vermeintlich „Unerzählbaren“ gewissermaßen in seiner Unerzählbarkeit „miterzählen“ kann, ja dass das „Unerzählbare“ gar den Antrieb des Erzählens und Wiedererzählens darzustellen vermag. _____________ 20
Levinas (1992, 95) zufolge sind „die absolut passive ‚Synthese‘ des Alterns“ und der damit verbundene Entzug der Zeit sowie die absolute Andersheit des Anderen dafür verantwortlich, dass jeder Erzählung stets etwas entgeht.
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2. Die Narrativität des Selbst Seit Hume formulierte, er könne in sich so etwas wie ein identisches Subjekt einfach nicht finden, und Nietzsche das Subjekt erneut und mit lauterer Stimme zur Fiktion und Illusion erklärte, ist die Auffassung eines durch die Zeit hindurch bestehenden identischen Subjektes zum Problem geworden. Ist ein Subjekt nur eine Vielheit von Wahrnehmungen, Phantasien, Gefühlen und anderen Erlebnissen? Die Philosophien der narrativen Identität bestreiten dies: Ein identischer Subjektkern, eine Substanz oder eine Grundstruktur des Subjektes sei zwar nicht zu rechtfertigen, dafür aber könne die subjektive Identität durch die Lebensgeschichte fundiert werden. Die ersten einschlägigen Ansätze dieser Art sind im Kontext einer der deontologischen Moralphilosophie und dem Liberalismus gegenüber kritisch eingestellten praktischen Philosophie entstanden: Hauptverteidiger der narrativen Identität, wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor, sind zugleich Vertreter des Kommunitarismus und Hannah Arendt und Ricœur verfolgen in einem weiteren Sinne ebenfalls eine eng an Aristoteles orientierte praktische Philosophie. Der zeitgenössische Individualismus, so ein Grundgedanke von MacIntyre und Taylor, gehe mit einer Identitätskrise einher, die danach verlangt, die Fragen nach der Identität und nach dem guten Leben erneut zu stellen. Um dies zu tun, sei es notwendig, das Leben als eine identitätskonstitutive narrative Einheit zu begreifen, die sich am Guten orientiert.21 Gegner dieser Position, die jedoch an dem Begriff der narrativen Identität festhalten, leugnen die Narrativität des Lebens selbst, halten jedoch eine narrative Erfassung der personalen Identität nichtsdestotrotz für essentiell. Der Naturalist Daniel Dennett beispielsweise versteht das Selbst lediglich als ein Abstraktum in Analogie zum Gravitätszentrum _____________ 21
MacIntyre ist der Auffassung, dass „Geschichten […] gelebt [werden], bevor sie erzählt werden“ (1995, 283), jede Lebensgeschichte „in der umfassenderen und längeren Geschichte einer Reihe von Traditionen eingebettet und […] durch sie verständlich“ wird (297) und die „Suche nach dem guten Leben“ (293) danach strebt, diese narrative Einheit bestmöglich zu leben und zu vervollständigen (vgl. 292). Taylor meint, dass eine unhintergehbare Orientierung nach dem Guten dazu führt, das Leben in narrativer Form zu begreifen: „Da wir nicht umhinkönnen, uns nach dem Guten zu orientieren, weshalb wir unseren Standort im Verhältnis zu ihm bestimmen und dementsprechend die Richtung unseres Lebens festlegen, müssen wir das eigene Leben unbedingt in narrativer Form – als ‚Suche‘ – begreifen.“ (1996, 103) Der Hintergrund dieser auf das ganze gute Leben eines narrativ verstandenen Selbst ausgerichteten Positionen ist bei Aristoteles zu suchen, denn dieser ist der Auffassung, dass „das Gute für den Menschen“ nicht nur „die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besondern Befähigung, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten“ sei, sondern dass „dies auch noch ein volles Leben hindurch“ durchgehalten werden müsse (Aristoteles 2001, 1098a).
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eines physikalischen Objekts.22 Wir seien jedoch, so meint er, virtuose Romanschriftsteller, die um dieses abstrakte Zentrum eines Selbst herum eine Autobiographie konstruierten, in Hinblick auf die die Frage, was das Selbst denn nun wirklich sei, einen Kategorienfehler darstelle. In bestimmten Fällen, wenn man das Verhalten einer Person nicht mehr um ein Zentrum herum zu organisieren vermag, könne sogar von mehreren Selbsten in einer Person gesprochen werden. Das Selbst, ob eines oder mehrere, sei in jedem Fall als ein theoretisches Abstraktum zu begreifen, dessen alleinige Funktion es ist, das Verhalten eines komplizierten Wesens zu verstehen, vorauszusehen und sinnvoll auszulegen. Da Ricœur auch in seiner Theorie der narrativen Identität eine Zwischenposition einnimmt, in der er weder behauptet, dass das Leben und die aus ihm gewonnene Identität immer schon narrativ sind, noch die Auffassung vertritt, dass die narrative Auslegung des Lebens und der Identität des Selbst lediglich eine Konstruktion darstellt, und da er darüber hinaus mit seiner Aristotelisch geprägten Ethik dem Kommunitarismus nahesteht, ohne ihm jedoch wiederum selbst zuzugehören, bietet sich sein Ansatz auch für die Diskussion der Narrativität des Selbst als Leitfaden an. Ricœurs Begriff einer narrativen Identität hat in den Jahren 1980 bis 2004 eine deutliche Veränderung durchlaufen und es kann von einer zunehmenden Fragilisierung dieses Konzeptes gesprochen werden.23 Zunächst geht er, ähnlich wie Hannah Arendt, noch davon aus, dass man über die Erzählung der vollendeten Lebensgeschichte als einer Retrospektion auf das Ganze die narrative Identität gewinnt, welche lediglich durch die Rezeptionsgeschichte einer unsichtbaren Hörerschaft, die sich auf die erzählende Übernahme der Lebensgeschichten der Toten richtet, eine Öffnung behält.24 In Zeit und Erzählung wird die narrative Identität jedoch zur Antwort auf die erste Aporie der Zeit sowie zur „poetische[n] Lösung des hermeneutischen Zirkels“ (1991, 398). Da wir uns selbst in einer reflexiven Wendung über den Umweg des unabschließbaren Zirkels der dreifachen mimesis verstehen und die erste Zeitaporie jede derart gewonnene Identität zusätzlich unterwandert, ist die narrative Identität nun deutlich „keine stabile und bruchlose Identität“ (1991, 399) mehr. Das am Ende der Trilogie lediglich skizzierte Konzept einer narrativen Identität des Selbst wird in Das Selbst als ein Anderer systematisch entwickelt. Die subjektive Identität, so Ricœur, ist nicht als ein idem, als ein Selbes, als eine substantiale oder formale Identität zu verstehen, sondern _____________ 22 23 24
Vgl. Dennett 1992. Ausführlich behandelt habe ich diese Wandlung in Römer 2010, Kapitel 4.4.5. Vgl. Ricœur 1987.
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vielmehr als ein ipse, ein Selbst, dessen Jemeinigkeit des Erlebens, dessen Eigenleib und dessen Zeitlichkeit unhintergehbar sind.25 Das Selbst ist die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“, eine Frage, die auch dann bestehen bleibt und die Jemeinigkeit bezeugt, wenn die Antwort eine Leere und Ratlosigkeit bleibt. Zu diesem Selbst gehören für Ricœur zwei wesentliche Momente. Das erste Moment ist der Charakter. Der Charakter, so Ricœur in diesem Werk, sei nicht etwas Angeborenes, sondern „die Gesamtheit der dauerhaften Habitualitäten“ (1996, 150). Der Habitus aber sei ein in zweifacher Hinsicht erworbener. Zum einen enthält er die Gewohnheiten. Wenn ich mich wiederholt auf die gleiche Weise verhalte, so verfestigt sich diese Verhaltensweise zu einer Gewohnheit, die sich wiederum als ein Charakterzug sedimentiert. Dieser Charakterzug ist jedoch nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern kann durch die Entwicklung neuer Gewohnheiten verändert werden. Die Zeitlichkeit dieser Gewohnheiten aber hat aufgrund der Sedimentation von pränarrativ strukturierten Handlungsformen eine gewisse narrative Struktur und weist zudem einen hohen Grad an Komplexität auf, denn Ricœur differenziert verschieden umfangreiche Handlungskomplexe: In abnehmender Spezifikation und steigendem Umfang unterscheidet er Basishandlungen (bspw. elementare körperliche Handlungen), Praktiken (bspw. Berufe, Künste, Spiele), Lebenspläne (bspw. Berufsleben, Familienleben, Freizeitleben) und schließlich die narrative Einheit eines Lebens überhaupt (vgl. 1996, 188-196 und 214-219). Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass sich ein Komplex von Basishandlungen in genau eine narrative Lebenseinheit fügt, sondern es stehen jeweils viele mögliche umfassende Entwürfe eines Lebens zur Auswahl. Die vielen einzelnen pränarrativen Minimaleinheiten halten viele Wege zur narrativen Einheit eines Lebens offen. Entscheidend ist jedoch, dass die den Charakter konstituierenden Gewohnheiten eine Sedimentation solcher narrativ strukturierter Handlungskomplexe sind: Das Selbst ist zwar in einem eingegrenzten Augenblick ein Selbst mit einem bestimmten Charakter und bestimmten Gewohnheiten, die bestimmte Praktiken und Lebenspläne enthalten, aber diese Gewohnheiten sind sedimentierte, verdichtete Narrative. Es ist dabei auch gar nicht notwendig, dass ich all die Handlungen explizit erinnere, die zu meinen Gewohnheiten geführt haben, ich muss sie nicht erzählen können und doch steckt in ihnen diese komprimierte Narrativität.26 So wie einer fiktiven Figur allererst über die _____________ 25 26
Vgl. Ricœur 1996, Studie 5 und 6. Strawson zählt eine Lebensweise, in der die aus der Vergangenheit resultierenden Gewohnheiten aktuell präsent sind, ohne als solche erinnert zu werden, nicht zu der von ihm so genannten Diachronischen, narrativen Lebensform (vgl. 2005, 7). Wenn man die Gewohnheiten jedoch mit Ricœur als verdichtete, sedimentierte Narrative fasst, so wäre eben diese von Strawson beschriebene Lebensform doch narrativ zu nennen. Strawsons Ableh-
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Geschichte, in der sie erscheint, eine Identität zukommt, so erhält auch die reale Person nur über die Geschichte ihres Lebens und die in dieser erworbenen Gewohnheiten einen Charakter. Das zweite Moment des den Charakter ausmachenden Habitus besteht Ricœur zufolge in der „Gesamtheit der erworbenen Identifikationen“ (1996, 151). Eine Person erkenne sich in „Identifikationen mit Werten, Normen, Idealen, Vorbildern, Helden“ wieder. (ebd.) Diese Identifikation findet jedoch nicht nur mit Personen des Alltags oder der Geschichte statt, sondern auch mit Figuren der fiktionalen Erzählungen. Die historische und die fiktionale Erzählung vermögen mir Vorbilder und Helden zu liefern, in denen ich mich wiedererkenne und denen ich in gewissen Aspekten zu folgen versuche. Auch diese Identifikationen sind komprimierte und sedimentierte Narrative, da sie auf Vorbilder und Helden zurückgreifen, die mir allein im Rahmen narrativer Strukturen zugänglich werden, seien es die pränarrativen Strukturen der Alltagswelt oder die narrativen Strukturen der historischen und fiktionalen Erzählungen. Darüber hinaus jedoch ist zu beachten, dass diese Identifikationen in meinen Habitus eine Selbstbewertung einführen: Ich identifiziere mich mit Etwas oder mit Jemandem, den ich für gut halte. Der über diesen doppelgesichtigen Habitus zustande kommende Charakter hat jedoch einen weiten Spielraum: Einerseits kann er sich einer kernhaften Identität des idem annähern, wenn die Gewohnheiten und Identifikationen weitestgehend konstant bleiben. Er kann sich jedoch auch auflösen, wenn wir nicht mehr zu sagen vermögen, wer wir sind. Insbesondere in diesen Krisen personaler Identität zeigt sich Ricœur zufolge die neben dem Charakter zweite Grundkomponente des Selbst: Wenn der Charakter sich aufzulösen droht und jede Spur der Selbigkeit aus der Selbstheit verschwindet, vermögen das Versprechen und das gehaltene Wort eine Selbst-Ständigkeit zu garantieren. Wenn ich dem Anderen ein Versprechen gebe, so zählt dieser darauf, dass ich dieselbe bleibe, gleichwie sich mein Habitus verändern mag. Der Grenzfall einer derartigen „puren“ Selbst-Ständigkeit scheint jedoch nicht einmal mehr eine verdichtete Narrativität zu enthalten: Es gibt keine Geschichten mehr, die in der Form von charakterlichen Sedimentationen eine Narrativität des Selbst erkennen lassen, sondern die Identität des Selbst wird hier nur noch durch das Worthalten gegenüber dem Anderen gesichert. Die narrative Identität siedelt Ricœur daher auch explizit im „Zwischenbereich“ (1996, 203) von Charakter und Selbst-Ständigkeit an: „Indem sie den Charakter narrativisiert, gibt die Erzählung ihm seine Bewe_____________
nung der Narrativität hat in weiten Teilen damit zu tun, dass er einen sehr engen Narrativitätsbegriff zugrunde legt.
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gung zurück, die in den erworbenen Dispositionen und den sedimentierten Identifikationen-mit verschwunden war“ (ebd.); diese narrative Ausbreitung des Charakters in der Erzählung gehe zudem mit Bewertungen einher, die das in Frage stehende erzählte Leben als ein gutes oder schlechtes Leben ausweisen; und schließlich fände die derart bereits mit ethischen Momenten versehene narrative Identität ihren Grenzpunkt in dem ethischen Begriff einer nicht mehr narrativen Selbst-Ständigkeit, die durch das gehaltene Wort Verantwortung gegenüber dem Anderen übernimmt. Die Identität liegt Ricœur zufolge weder in einer einzigen Lebensgeschichte, die lediglich auszusagen ist, noch in einer narrativen Konstruktion: Das Leben, so heißt es andernorts, sei vielmehr eine Tätigkeit und ein Begehren auf der Suche nach Erzählung.27 Diese Suche aber vermag niemals endgültig auf die narrative Identität zu führen und sie scheitert gar zuweilen an einem Selbst, das nur noch die ethische Selbst-Ständigkeit des Versprechens erkennen lässt. Um das Ricœursche Modell einer narrativen Identität kritisch zu beleuchten, möchte ich im Folgenden zunächst einige zentrale Positionen der aktuellen Debatte um die narrative Identität skizzieren. Die bereits mehrere Jahrzehnte andauernde Diskussion um diesen Begriff hat dazu geführt, dass Positionen, wie diejenigen von Hannah Arendt, MacIntyre, Carr und Taylor, die sich vorwiegend an dem Ganzen einer Lebensgeschichte orientieren, in den Hintergrund getreten sind. Die Befürworter einer narrativen Identität verlegen sich zunehmend darauf, ihre Ansprüche bescheidener zu formulieren, ohne jedoch das Konzept der narrativen Identität vollends preiszugeben. Als der radikalste Gegner der Narrativität im Allgemeinen und der narrativen Identität im Besonderen kann Galen Strawson gelten. Er ist der Auffassung, dass diejenigen Befürworter einer narrativen Identität, wie Charles Taylor und Paul Ricœur, welche meinen, wir müssten aufgrund unserer Orientierung am Guten unser Leben als Suche nach einer Geschichte verstehen, „durch die Empfindung ihrer eigenen Bedeutsamkeit oder Wichtigkeit motiviert [sind], die sich so bei anderen Menschen nicht findet“, ein Gefühl der Bedeutsamkeit, das zudem häufig durch religiöse Bindungen bestärkt werde (2005, 10). Da Strawson meint, dass die Vertreter der genannten These „nur von sich selbst sprechen“ (2005, 11), sucht er die von ihm sogenannte Episodische Selbst-Erfahrung als eine weitere zentrale Form des Selbstverständnisses zu verteidigen (vgl. 2005, 4). Es gebe viele Menschen, und zu denen zählt Strawson auch sich selbst, die weder narrativ lebten bzw. sich immer schon selbst erzählten, noch eine derartige Selbsterzählung als konstitutiv für ein gutes Leben betrachteten. _____________ 27
Vgl. Ricœur 1991, 434.
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Am Ende seines Aufsatzes tritt sogar eine deutliche Präferenz für die Episodische Lebensform zutage, wenn Strawson schreibt, „ein wahrhaft unbekümmertes Leben, das die Dinge auf sich zukommen lässt, gehört zu den besten, die wir kennen, es ist lebendig, gesegnet, tief“, während die Narrativität „eher ein Leiden oder eine schlechte Gewohnheit denn eine Voraussetzung des gelingenden Lebens“ darstelle (2005, 20, 21). Im Hintergrund dieser Einschätzung steht Strawsons Auffassung, dass ein narratives Selbstverständnis tendenziell zu einer Entfernung „von der Wahrheit des eigenen Seins“ (2005, 19) führe. Obgleich Strawson nicht deutlich macht, was diese zu bewahrende „Wahrheit des eigenen Seins“ ist oder auf welche Weise wir einen Zugang zu ihr erreichen sollen, und obgleich er ebenfalls nicht überzeugend zu rechtfertigen vermag, dass die Episodische Lebensform „tief“ und die narrative eine „schlechte Gewohnheit“ sei, verdient sein Grundeinwand einige Aufmerksamkeit: Insbesondere da die Hauptvertreter einer narrativen Identität, wie bereits gezeigt wurde, aus einer bestimmten praktischen Philosophie stammen, ist den von Strawson formulierten Fragen nachzugehen: erstens, ob die deskriptive These wahr ist, dass Menschen ihr Leben immer grundsätzlich narrativ erfahren bzw. verstehen, und zweitens, ob die normative These wahr ist, dass Menschen nur dann ein gutes Leben führen können, wenn sie sich selbst narrativ verstehen.28 Es finden sich diverse Befürworter einer Position, die man als eine schwache deskriptive These bezeichnen könnte. Sie meinen, dass wir zwar begrenzte Handlungszusammenhänge narrativ verstehen, dieses narrative Verständnis aber nicht, oder nur bedingt, auf unser gesamtes Leben ausgedehnt werden könne. William Blattner vertritt zwar mit David Carr die Auffassung, dass zielgerichtete Handlungssequenzen aufgrund ihrer durch Anfang, Mitte und Ende strukturierten Form narrativen Charakter haben.29 Carr selbst jedoch argumentiert darüber hinaus dafür, dass sich elementare Handlungssequenzen und Ereignisse, die in unserer Erfahrung auftreten, zu umfassenderen narrativen Einheiten zusammenschließen, und zwar nach „demselben Prinzip“ (1986, 52), das die einzelnen Elemente als narrativ ausweist. Diese Ausweitung auf umfassendere Einheiten und erst recht auf die Lebensgeschichte als ganze aber, so meint Blattner, sei nicht überzeugend. Das „Professor sein“ beispielsweise sei nicht im selben Sinne ein Ziel wie das Öffnen der Autotür ein Ziel ist, dessen Erfüllung über die Beziehungen Mittel-Zweck und Anfang-Mitte-Ende eine narrative Struktur aufweist. Wenn das Ziel ist, ein guter Professor zu sein, so kann es nicht in einem Moment am Ende einer Handlungssequenz _____________ 28 29
Für eine ausführlichere Diskussion des Aufsatzes von Strawson vgl. Battersby 2006. Blattner 2000.
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erfüllt sein, sondern seine in der Tätigkeit selbst liegende Erfüllung ist vielmehr an internen Standards zu messen, die für das „guter Professor sein“ gelten (vgl. 2000, 194-197). Weder ein Teilbereich wie ein Beruf noch das Leben als Ganzes seien narrativ strukturiert, weil sie nicht die narrative Struktur der einzelnen Handlungssequenzen aufwiesen. Damit die eigene Tätigkeit im Rahmen eines ganzen Lebens einen Sinn hat, ist es Blattner zufolge nur notwendig, dass die einzelnen Projekte zusammen einen Sinn haben (vgl. 2000, 199). Hier aber scheint Blattner Ricœurs unter Rückgriff auf Aristoteles entwickelter These nahezukommen, derzufolge die einzelnen Praktiken und Lebenspläne in einem „Hin und Her“ (1996, 219) mit der Perspektive auf das Ideal eines guten Lebens zu verstehen sind: Es gibt nicht das bestimmte Ziel X eines guten Lebens, sondern das gute Leben besteht in Tätigkeiten, die immer wieder dahingehend zu prüfen sind, ob sie mit der übergreifenden vagen Vorstellung eines guten Lebens „zusammenpassen“. Ricœur allerdings versteht den Gesamtzusammenhang der praxis durchaus als narrativ und konstitutiv für die narrative Identität, während Blattner bereits die Ebene der von Ricœur sogenannten Lebenspläne und erst recht die Einheit des ganzen Lebens nicht mehr dem Bereich des Narrativen zurechnet. Angesichts dieser Differenz erscheint es sinnvoll, zwei Narrativitätsbegriffe zu unterscheiden, von denen der eine die Narrativität von kleinen Handlungseinheiten in ihrer Mittel-Zweck-Struktur und der andere die Narrativität von umfassenderen Entwürfen eines Lebensplans oder eines ganzen guten Lebens betrifft, welche ebenfalls Anfang, Mitte, Ende, Wendungen, Motive, Handlungsintentionen und Umstände vereinigen und somit durchaus als narrativ, wenngleich in einem anderen Sinne als die durch die MittelZweck-Struktur geprägten Handlungseinheiten, bezeichnet werden können. Blattner vertritt jedoch nicht nur die Auffassung, dass diese größeren Einheiten nicht narrativ strukturiert sind, sondern ebenfalls – und hier wiederum steht er Strawson und nicht Ricœur nahe –, dass wir statt einer „Stiftung von Kohärenz“ in unserem Leben auch eine „abenteuerlustigere Einstellung“ (2000, 199) annehmen könnten. Dieter Thomä sind einige wertvolle Vorschläge zur Systematisierung der Debatte um die narrative Identität zu verdanken,30 im Zuge derer er deren Anspruch auf philosophische Relevanz, ähnlich wie Blattner, zu_____________ 30
Vgl. Thomä 2007. Thomä unterscheidet in Hinblick auf die Frage nach der Narrativität des Lebens wie Strawson eine deskriptive von einer evaluativen Ebene. Innerhalb der deskriptiven Ebene differenziert er in konstruktivistisch-nominalistische Positionen, die er bei Dennett und Rorty sieht, und realisitsch-ontologische Positionen, welche er bei MacIntyre und Carr ausmacht. Innerhalb der evaluativen Ebene unterscheidet er drei Varianten des Guten, die technische, die teleologische und die deontologische Perspektive auf die Lebensgeschichte.
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gleich herabsetzt, ohne ihn jedoch auflösen zu wollen. Die deskriptive These, dass „man gar nicht anders könne […], als sein Leben insgesamt als eine Erzählung aufzufassen und zu leben“, erscheint Thomä von vornherein „eine zu weitgehende Auffassung zu sein“ (2007, 78). Da er diese deskriptive These ablehnt, konzentriert er sich auf die ethische Frage, ob „das Leben besser sei, wenn es die Form der Erzählung“ annimmt, und verfolgt die „Frage, wie Erzählungen im Leben sinnvoll zu ‚dosieren‘ sind“ (2007, 78, 86).31 Mit Blattner teilt er die „Kritik an der Extrapolation von einzelnen Handlungsmustern zum Leben als ganzen“ und hält eine solche Extrapolation auch nicht für konstitutiv für ein gelungenes Leben. Da eine „Kluft zwischen Erzählung und Leben“ bestünde (1998, 260), sei es erforderlich, „das Eigenrecht des Lebensvollzugs gegenüber der Erzählung“ (1998, 266) zu bewahren und anzuerkennen, dass die Bedeutung der Erzählung nicht darin liegt, die Form des Lebens selbst zu sein. Vielmehr wird sie dann relevant, wenn im Rahmen einer praktischen Selbstbeziehung der Selbstliebe in bestimmten, eingegrenzten Situationen und im Ausgang von der Gegenwart des Lebensvollzugs ein Rückgriff auf Erzählungen nötig erscheint: „Das Ausmaß dessen, was er [d. i. jemand, I. R.] sich über sich selbst erzählt, hängt davon ab, wozu ihn die Situation drängt“ (1998, 269). Für ein gutes Leben aber sei es keinesfalls nötig, das ganze Leben, und erst recht nicht narrativ, in den Blick zu bekommen.32 Neben diesen Positionen, die von dem Modell der einen Lebensgeschichte abrücken und für ein vielgestaltiges Erzählen von pluralen und fragmentarischen Geschichten eintreten, finden sich Ansätze, die eine vornarrative passive Konstitution des Selbst gegen eine vollständige Narrativierung des Selbst hervorheben. Tengelyi entwickelt in einer Auseinander_____________ 31 32
Dieses Vorhaben begründet den an Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung angelehnten Titel von Thomäs Aufsatz. In ähnlicher, jedoch konstruktivistisch orientierter Weise argumentiert Kraus für ein vielgestaltiges performatives Unternehmen der narrativen Selbstkonstruktion, das sich anstatt an der einen Lebensgeschichte an small stories orientiert. Vgl. Kraus 2007, 26. Die Situativität, das Unabgeschlossene und die Ko-Konstruktion von Selbsterzählungen führten in einen offenen narrativen Prozess, in dem ein Netz von small stories in der Spannung von Dispersion und Kohärenz die Narrativierung des eigenen Selbst ausmache. Die in sich geschlossene Selbsterzählung sei dagegen ein voraussetzungsvoller Spezialfall der Selbsterzählung: „Sie setzt eine Erzählsituation voraus (Interview, Therapie u. ä.), deren Zweck genau die Erzeugung einer solchen Narration ist“ (2007, 35). Folgt man dieser These von Kraus, so müsste man sagen, dass jene Richtung der Psychologie, die sich als „Narrative Psychologie“ bezeichnet, einen Sonderfall des Narrativen und nicht eine Präzisierung dessen, was wir alle immer schon tun, darstellt. Das Konzept des narrativen Selbst, welches mit dem Gedanken einer Pluralität von small stories operiert, findet zudem eine gewisse Unterstützung durch die Neurowissenschaft, wenn den Forschungen Gazzanigas zufolge der Geist (mind) nicht vereinheitlicht ist, sondern vielmehr ein problematisch zusammengewürfeltes Bündel von zum Teil autonomen Systemen darstellt. Vgl. den Verweis auf Gazzaniga bei Dennett 1992, 111-114, und Dennetts Diskussion dieser Forschungsergebnisse.
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setzung mit Husserl die Auffassung, dass es ein passives Selbst gebe, welches jeglicher Form von Narrativität vorausgehe.33 Jede angemessene narrative Selbsterzählung müsse sich jedoch auf dieses passive Selbst beziehen, um sich nicht in einer frei schwebenden Konstruktion zu verlieren. Das Selbst werde ursprünglich in einer passiven Sphäre erfahren, in der es sich in einem inneren vorreflexiven Bewusstsein manifestiert. In seiner passiven Konstitution sei es mit Gefühlen vermischt, was wiederum eine ursprüngliche Verbindung von Passivität und Affektivität bezeuge. Die Erfahrungen, die dieses Selbst macht, lagerten sich mit dem Verfließen der Zeit in einer Sphäre der Passivität ab und versänken allmählich in ein Unbewusstsein, ohne zu verschwinden. Durch neue aktuelle Erfahrungen und assoziative Verbindungen können jedoch Teile dieses Abgesunkenen passiv wiedererweckt werden und zu einer Wiedererinnerung führen. Erst diese Wiedererinnerung garantiert Tengelyi zufolge den Bezug zur Wirklichkeit des Selbst: Wenn eine Selbsterzählung sich an diese spontan auftauchenden Wiedererinnerungen hält, so ist ihr garantiert, nicht eine bloß phantasierte Selbstkonstruktion zu sein. Nichtsdestotrotz enthält die Wiedererinnerung keine fertig vorliegende, gelebte Erzählung, sondern nur die materiale Stütze für eine solche. Wiedererinnerungen können sich zudem als Illusionen erweisen oder es kann sich zeigen, dass sie auch ganz anders erzählt werden könnten. Dennoch kann die Erzählung als eine aufgefundene und nicht bloß erfundene Erzählung gelten, wenn sie sich an die passiv auftauchenden Wiedererinnerungen hält. Aufgrund dieser Anknüpfung der narrativen Identität an das nicht-narrativ und passiv konstituierte Selbst spricht Ricœur laut Tengelyi zurecht von einer „entdeckten“ oder „aufgefundenen“ narrativen Identität, ohne die Berechtigung dieser Rede jedoch selbst schon hinreichend ausgewiesen zu haben. Auch Zahavi spricht mit Damasio und Metzinger von einer „vorreflexiven Selbstintimität“,34 die er neben Husserl ebenfalls bei Sartre, MerleauPonty, Heidegger und Henry ausmacht. Ein erfahrungsmäßiges Kernselbst sei als „eine vorlinguistische Bedingung für jede narrative Tätigkeit“ (2007, 191) zu betrachten. Dieses „minimale Erfahrungsselbst“ sei durchaus bereits ein Selbst und keineswegs lediglich eine formale Struktur oder leere Abstraktion (vgl. 2007, 193). Bevor das Selbst in der Lage ist, eine narrative Identität zu bilden, müsse es bereits die Perspektive der ersten
_____________ 33 34
Vgl. Abschnitt 4. in Tengelyi (im Erscheinen). Zahavi 2007, 186.
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Person Singular besitzen und aus dieser Perspektive sich selbst erfahren (vgl. 2007, 200).35 Im Folgenden möchte ich versuchen, eine Perspektive aufzuzeigen, in der die Ricœur'sche Theorie der narrativen Identität vor dem Hintergrund der angeführten Ansätze so modifiziert werden könnte, dass sie einigen zentralen Einwänden und Ergänzungen Rechnung zu tragen vermag. Das Selbst, so eine zentrale Einsicht der Phänomenologie, ist kein Abstraktum, sondern ursprünglich in der vorreflexiven Selbstintimität des gefühlsgeprägten inneren Bewusstseins gegeben, dessen Fluss abgesunkene Erfahrungen bewahrt und anlässlich neuer Erfahrungen als Wiedererinnerungen erneut in das Bewusstsein treten lassen kann. Wenn dieses Selbst pränarrativ strukturierte Handlungs- oder Erfahrungszusammenhänge auffasst, die entweder durch das in Retention, Jetzt und Protention ausgedehnte Feld der Gegenwart oder bereits durch passiv erweckte Wiedererinnerungen fundiert sind, so sinken diese pränarrativen Zusammenhänge in der Folge als Handlungs- oder Erfahrungsgewohnheiten in den passiven Bereich des Charakters zurück. Ebenso sinken Identifikationen mit realen oder fiktiven Charakteren, die allein narrativ zugänglich werden, als bleibende Bestandteile des Charakters in das Selbst zurück. Wir haben es bei diesen zwei Komponenten des Charakters mit komprimierten sedimentierten Narrativen zu tun. Während Ricœur zu der Auffassung tendiert, dass wir den Charakter in einer Erzählung narrativ ausbreiten können, scheint dieser Übergang zu einer identitätskonstitutiven narrativen Lebensgeschichte angesichts der oben angeführten Positionen keinesfalls selbstverständlich. Es stellt sich daher die Frage, ob sich die partiellen sedimentierten narrativen Einheiten von sich aus zu einer Lebensgeschichte zusammenfinden oder ob sie zumindest als eine solche erzählt werden. Es scheint sich jedoch keine Erfahrung ausmachen zu lassen, die bezeugt, dass sich diese partiellen narrativen Einheiten auf passiver Ebene automatisch zu einer einheitlichen Geschichte zusammenfügen. Wir erfahren vielmehr einfach kleine narrative Einheiten, wenn wir handeln und Erfahrungen machen, ohne diese Handlungen und Erfahrungen jedes Mal in unsere Lebensgeschichte einzuordnen. Nichtsdestotrotz machen wir die Erfahrung einer gefühlten Kohärenz zwischen den neu aufkommenden narrativen Einheiten und den bereits abgesunkenen, den Charakter prägenden Einheiten. Diese gefühlte Kohärenz ließe sich jedoch vielleicht eher mit dem Begriff der Stimmigkeit,36 anstatt mit dem der Narrativität präzisieren: Die sedimentierten Gewohnheiten und Identifikationen stehen in einem Verhältnis der _____________ 35 36
In Anlehnung an Husserl ist Zahavi der Auffassung, dass man die narrative Identität an den Personbegriff und nicht an den Begriff des Selbst binden sollte, um das rudimentäre Erfahrungsselbst von dem narrativen Selbst deutlich zu unterscheiden (vgl. 2007, 193). Vgl. zum Zusammenhang von Stimmigkeit und Selbstliebe Thomä 1998, 252.
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Stimmigkeit zueinander, ohne dass sie sogleich im Rahmen der Einheit einer kohärenten Lebensgeschichte erfahren oder erzählt werden. Bereits für die den Realitätsbezug der Erzählungen sichernden Wiedererinnerungen lässt sich sagen, dass sie nur dann geweckt werden, wenn das aktuelle Geschehen einen Bezug zu ihnen aufweist. Tauchen sie jedoch, so ließe sich fragen, nicht besonders dann auf und gehen sie nicht besonders dann mit einem Verlangen nach Erzählung einher, wenn wir uns in Situationen befinden, mit denen wir nicht sogleich zurechtkommen? Wenn ich die Universität betrete, meinen Schlüssel aus der Tasche nehme und das Büro aufschließe, um mit der Arbeit zu beginnen, so kommen mir normalerweise nicht alle anderen ähnlichen Situationen ins Gedächtnis, in denen ich ebendies schon einmal getan habe. Ich handle einfach gewohnheitsmäßig, ohne mich im Rahmen einer Geschichte aufzufassen. Finde ich allerdings meinen Schlüssel nicht in der Tasche oder lässt sich die Tür mit ihm nicht öffnen, so fallen mir sogleich diejenigen Situationen ein, in denen ich schon einmal meinen Schlüssel anstatt in die Tasche in die Manteltasche gesteckt habe oder in denen ich meinen Schlüssel mit demjenigen meines Freundes verwechselte. In diesen Fällen versuche ich das Problem zu lösen, indem ich Hypothesen in Form von möglichen Erzählungen darüber ausprobiere, die mir verständlich machen könnten, weshalb ich mit keinem oder mit dem falschen Schlüssel vor der Tür stehe. Vielleicht fallen mir pränarrative Handlungs- und Erfahrungszusammenhänge ein, in denen ich schon früher einmal meinen Schlüssel verlegt oder vertauscht habe und verstehe mich jetzt aufgrund dieser mir selbst zugeschriebenen Handlungen und Erfahrungen ausdrücklich als eine hin und wieder zerstreute Person. Vielleicht erzähle ich auch einem Kollegen davon, wie mir dies Missgeschick geschehen konnte und dass es mir auch früher schon häufiger geschah. Eine momentane Störung hat hier partielle narrative Einheiten auftauchen lassen, die ich jedoch mit verborgeneren Gewohnheiten meines Selbst in Verbindung bringen konnte. Es gibt aber auch Situationen, und sie sind keineswegs immer so banal wie im soeben angeführten Beispiel, in denen die Störung der Gewohnheiten und damit der bisher in Stimmigkeit miteinander befindlichen sedimentierten narrativen Einheiten in einen Konflikt führen, der nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten lösbar erscheint. Wenn ich mich beispielsweise als einen lebensfrohen sowie den Mitmenschen gegenüber äußerst fürsorglichen Menschen verstehe und in eine Situation gerate, in der ich etwa durch eine Nierenspende einem Familienmitglied das Leben retten könnte, so muss ich mich fragen, wer ich eigentlich bin. Und auf diese Frage wiederum scheint in diesem Fall nur der Versuch der Erzählung einer Lebensgeschichte eine Antwort geben zu können: Sind all die
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Situationen, in denen ich Anderen geholfen habe, lediglich Gelegenheiten gewesen, mich an meiner Hilfsbereitschaft zu erfreuen? War meine Hilfsbereitschaft an die Bedingung geknüpft, dass die eigene Lebensfreude nicht zu sehr eingeschränkt wird? Oder bin ich vielmehr eine, die schon immer dazu bereit war, im Notfall einen Teil der Annehmlichkeit des Lebens für einen Anderen herzugeben? Die Gewohnheiten – Lebensfreude und Fürsorge – sind in diesem Fall bis zum Eintreten des Konflikts stimmig gewesen, rufen angesichts des Konflikts jedoch die narrative Ausbreitung der Gewohnheiten auf den Plan, welche auf die Frage „Wer bin ich eigentlich?“ antworten sollen. Es kann notwendig werden, die für die Gewohnheiten konstitutiven abgesunkenen narrativen Einheiten im Lichte der aktuellen Situation anders zu erzählen, da sich angesichts des Konfliktes ein neuer Sinn und eine tiefere Dimension erschließt. Die angeführten Beispiele sollen andeuten, dass die Suche nach Erzählungen, von partiellen bis zu der der einen Lebensgeschichte, häufig erst dann beginnt, wenn die Gewohnheiten und Identifikationen nicht mehr stimmig sind und eine Störung oder ein Konflikt entsteht, der nach Selbstverständigung und damit nach Erzählung verlangt.37 Das Leben wäre in diesem Falle nicht selbst schon als eine narrative Großeinheit strukturiert und würde auch nicht immer schon als eine solche konstruiert. Und es wäre auch nicht konstitutiv für ein gutes Leben, das Leben als ein narratives Ganzes zu begreifen oder es zumindest als ein solches zu erzählen. Vielmehr hätten wir es im Leben vor dem Hintergrund der ersten Zeitaporie mit immer schon pränarrativ aufgefassten Erfahrungs- und Handlungszusammenhängen zu tun, die in einem Verhältnis der gefühlten Stimmigkeit als Gewohnheiten und Identifikationen in unseren Charakter absinken. Erst bei Auftreten von Störungen und Konflikten suchen wir nach Geschichten oder gar der einen Lebensgeschichte, erzählen wir die kleinen abgesunkenen narrativen Einheiten neu und anders sowie im Zusammenhang miteinander und erst dann wird es konstitutiv für ein gutes Leben, kohärente Geschichten oder gar die eine Lebensgeschichte zumindest annäherungsweise zu finden. Finden wir sie nicht, so bleibt im Grenzfall nur noch ein intim erfahrenes Kernselbst ohne narrative Ausbreitung, das zudem mit einem Worthalten vor dem Anderen seine Identität auf nicht-narrative Weise zu erhalten vermag. Die narrative Identität _____________ 37
Ein weiterer wesentlicher Anlass zu Erzählungen ist, dass, wie beispielsweise in der Therapie oder im Interview, ein Anderer mich dazu auffordert, Teile oder das Ganze meines Lebens zu erzählen. Hier kann ein Konflikt im Spiel sein, dies muss jedoch nicht der Fall sein, denn der Andere kann mich eventuell nur einfach besser kennenlernen wollen, ohne dass dem ein Konflikt vorherging. Allerdings ist auch das Selbst, wie Tengelyi hervorhebt, immer schon ein Selbst, dem Schicksalsereignisse widerfahren und das mit einer Sinnbildung aus Unverfügbarem ringt. Vgl. Tengelyi 1998, 174. Diese Fremdheit im Eigenen kann ebenfalls eine Störung darstellen, die sich in einen Anstoß zum Erzählen wandelt.
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des Selbst kann stimmig oder unstimmig sein, kann sich angesichts von Konflikten vollständig verwandeln oder gar verloren gehen. Niemals jedoch wird das Selbst so sehr ein Anderer, dass es nicht mehr es selbst wäre oder sich vollends auflöste.38 Diese, hier lediglich skizzierte Auffassung würde zwar einem Autor wie Daniel Dennett nicht Recht geben, da sie das Selbst ursprünglich als ein in der ersten Person erfahrenes Selbst und niemals als ein dem Gravitationszentrum von Objekten vergleichbares Abstraktum auffasst. Sie würde jedoch den scheinbar so weit auseinander liegenden Positionen von Galen Strawsons Episodischer Lebensform, Blattners Einschränkung der Narrativität auf Handlungsepisoden, Thomäs und Kraus’ kleinen Geschichten und der von MacIntyre, Taylor und Ricœur angeführten Ausrichtung auf die Einheit einer kohärenten Lebensgeschichte Rechnung tragen: Sind unsere Gewohnheiten und Identifikationen stimmig, so leben wir in der Regel vorwiegend episodisch, allerdings ist dieses stimmige episodische Leben, anders als Strawson meint, eingebettet in kleine, in den Charakter abgesunkene narrative Einheiten; tauchen Unstimmigkeiten aus dieser gewordenen, sekundären Passivität auf, so suchen wir diese durch ein Wieder-, Neu- und Einheitlich-Erzählen der abgesunkenen narrativen Einheiten zu beheben, beschränken uns dabei manchmal auf kleine Geschichten, gehen jedoch zuweilen auch so weit, die Geschichte eines Lebens zu erzählen. 3. Narrativität und Ethik Mit der identitätskonstitutiven Funktion der Narrativität ist eine ethische Funktion eng verknüpft.39 Die vorangehenden Erörterungen zur narrativen Identität haben bereits gezeigt, inwiefern diverse Theorien narrativer Identität in engem Zusammenhang mit der ethischen Frage nach dem guten Leben stehen. In diesem Abschnitt soll es darum gehen, einige weitere zentrale ethisch relevante Aspekte der Narrativität hervorzuheben. Einer der ersten Vertreter einer narrativen Identitätskonzeption war der Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp. Seine viel zitierte These „Die Geschichte steht für den Mann“ (1953, 103) verknüpft er mit einer praktischen Dimension, die ihm aus seinem Beruf vertraut war: Ein Anwalt lerne seine Klienten als Geschichten kennen, in denen er mithilfe des Gesetzes tätig werden soll, er „soll Wege finden, um einem zum Recht zu _____________ 38 39
Vgl. zu dieser Formulierung den unveröffentlichten Vortrag von László Tengelyi aus dem Jahre 2010 „The Theory of Narrative Identity Reconsidered“. Vgl. zum Thema „Narrative Ethik“ den bereits mehrfach angeführten Sammelband, der von Karen Joisten herausgegeben wurde.
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verhelfen, der Richter soll eine Entscheidung treffen“ (1953, 108). Dies aber könnten Anwalt und Richter nur, wenn sie die Geschichte des Falles kennen, denn sie müssten wissen, was unter welchen Umständen und aus welchen Motiven geschehen ist, um angemessen urteilen zu können. Nur wenn beispielsweise deutlich wird, dass jemand innerhalb der Geschichte seines Falles absichtlich einen Anderen getötet hat, kann von Mord gesprochen und die entsprechende Strafe verhängt werden. Zuschreibung und Zurechnung scheinen von der allein narrativ fassbaren Absichtlichkeit einer Tat abzuhängen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dem Handelnden nicht auch Konsequenzen seiner Handlung zugeschrieben und zugerechnet werden können, die er selbst nicht beabsichtigt hat. Mit Donald Davidson vertritt Tengelyi die These,40 dass jemand dann als Urheber seiner Handlung gilt, wenn er die Handlung unter einer ihrer möglichen Beschreibungen absichtlich begangen hat, d. h. dass Ödipus auch der Urheber der Tötung seines Vaters ist, wenngleich er nur die Tötung eines Fremden beabsichtigte. Über Davidson hinaus entwickelt Tengelyi den Gedanken, dass die Beziehung zwischen Handlung und Handlungsfolgen als ein „Erfahrungszusammenhang“ (2007a, 67) zu verstehen ist, in dem der Urheber einer Handlung eine Erfahrung mit seiner eigenen Handlung und deren ungewollten Konsequenzen macht, die wiederum auch sein Selbst verändern kann. Diese Urheberschaft auch der ungewollten Konsequenzen einer Handlung verpflichte zugleich zu einer „Rechenschaftsablegung“ (2007a, 71) für das, was wir bewirkt, obgleich nicht beabsichtigt haben, selbst wenn die Verantwortung für diese Konsequenzen anders geartet ist als die für die ausdrücklich beabsichtigten Taten. Die Handlungen, so Tengelyis Schlussfolgerung, verlangten deshalb nach Erzählungen, „weil sie sich einerseits der Verfügungsgewalt ihres Urhebers entziehen und unbeabsichtigte Folgen herbeiführen, andererseits aber ihrem Urheber gleichwohl samt dieser Folgen – nicht einmal bloß zugeschrieben, sondern sogar – zugerechnet werden“ (2007a, 72). Allein ein narratives Handlungsverständnis vermag diesen Zusammenhang verständlich zu machen und den Handelnden zu einer Rechenschaftsablegung für Ungewolltes zu bewegen. Wenngleich die Narrativität wesentlich für ein umfassendes Handlungsverständnis und ethische Handlungsbewertungen ist, weil nur sie darlegen kann, wie Intentionen, Motive, Umstände, Konsequenzen etc. ineinandergreifen, lässt sich doch mit Thomä sagen, dass letztlich „Verantwortung immer konkret ist“ und daher jeweils dem „präzise eingrenzbaren Fall auf die Spur“ (2007, 92) zu kommen ist. Man sieht sich mit spezifischen, eingegrenzten Vorwürfen, Klagen oder Aufforderungen _____________ 40
Vgl. Tengelyi 2007a.
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konfrontiert, die Andere oder wir selbst an uns richten und denen wir mithilfe konkreter Erzählungen zu begegnen versuchen. Es ist nicht notwendig, auf die Erzählung einer ganzen Lebensgeschichte zurückzugreifen, um Verantwortung für gewollte oder ungewollte Konsequenzen der eigenen Handlungen zu erkennen und zu übernehmen. Vielmehr kann es gar der Übernahme von Verantwortung abträglich sein, wenn anstatt der Übernahme einer konkreten Verantwortung für eine konkrete Handlung und ihre Folgen schlichtweg eine pauschale Verantwortung für das ganze Leben gefordert wird. Während die Narrativität dazu beizutragen vermag, Verantwortung zu konkretisieren, kann sie jedoch aus einer anderen Perspektive auch eine Funktion einnehmen, die ethischen Anforderungen entgegensteht. Levinas hat auf herausragende Weise darauf hingewiesen, dass das Erzählen von Geschichten über Andere sowie ihre Verstrickung in unsere Geschichten tendenziell dazu führt, dass wir ihre Andersheit missachten. Integrieren wir die Anderen in den Horizont unseres narrativen Verstehens, so wird ihre Andersheit in der Aufnahme in eine kohärente Geschichte verdeckt. Sie werden auf eine Rolle und Funktion in einer Geschichte reduziert. Insbesondere die „Geschichte der Geschichtsschreiber“ mit ihrer „universalen Zeit des Historikers“ subsumiert und „verrechnet“ die einzelnen Menschen in einer einzigen „Totalisierung der Geschichte“, in der sie notgedrungen ihre Andersheit einbüßen.41 Andererseits wiederum kann die Narrativität jedoch auch eine ethisch positive Funktion in Hinblick auf den Anderen annehmen. Ricœur zufolge können wir unserer Schuld gegenüber den Menschen der Vergangenheit durch ein erinnerndes Erzählen und Zeugnisablegen zu begegnen versuchen.42 Dabei ist jedoch entscheidend, die Menschen der Vergangenheit niemals auf eine Geschichte zu reduzieren, sondern ihr Schicksal immer wieder neu zu erzählen sowie mithilfe der Fiktionserzählung ihre nicht gelebten Möglichkeiten zu erforschen. In diesem Sinne vermag die Narrativität der ethischen Aufforderung der Anderen auch Gehör zu verschaffen, vorausgesetzt, dass sie sich für ein Mehr- und Anderserzählen offenhält und die einst gewesenen Menschen nicht in einer einzigen Geschichte verrechnet und zusammenfasst. Umgekehrt können jedoch auch die Geschichten der Anderen über uns uns dazu verhelfen, uns kritischer und _____________ 41
42
Levinas 1987, 70. Zahavi (2007, 199) weist darauf hin, dass bei Schapp die für Levinas so entscheidende Begegnung von Angesicht zu Angesicht dem Anderen nichts Wesentliches hinzufügt, da dieser bereits durch seine Geschichte vollständig erfasst wird. Laut Schapp (1953, 105) kommen wir sogar „durch die Geschichten über ihn doch noch dichter und unmittelbarer an das Eigentliche“ des anderen Menschen heran als durch „die nächste Berührung“ mit ihm. Vgl. Ricœur 2004, insbesondere 55-67, und 2004a, insbesondere 114-146.
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besser zu verstehen sowie unsere wahren Motive und etwaigen Inkohärenzen aufzudecken. Ein letzter Gedanke zur ethischen Funktion der Narrativität, der ebenfalls von Ricœur hervorgehoben wurde, verdient noch Erwähnung. Für ein ethisches Handeln, das nicht nur auf eine gute Gesinnung abzielt, ist die Einbildungskraft von herausragender Bedeutung. Ich muss wissen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt und mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, um eine wohlüberlegte und erfolgversprechende Tat ausführen zu können. Die Einbildungskraft vermag Möglichkeiten der Handlung durchzuspielen, unter denen dann eine vom Handelnden in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Die fiktionalen Geschichten aber fördern diese Einbildungskraft, denn, so Ricœur, sie sind „Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen“, Gedankenexperimente, die „auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen“ (1996, 201) darstellen. 4. Schluss Es ist deutlich geworden, dass der Begriff der Narrativität in der Philosophie eine äußerst vielseitige Bestimmung und Anwendung findet. Abschließend möchte ich anhand von drei Fragen einige wesentliche Momente resümieren. 1) Auf welche philosophischen Probleme soll die Narrativität eine Antwort geben? 2) Welcher Begriff von Narrativität soll auf welches philosophische Problem antworten können? 3) Was sind die Grenzen des Narrativitätsbegriffes in der Philosophie? Zu 1): Der Narrativitätsbegriff kann dazu beitragen, die Fragen nach der Handlung, der Zeit und dem Selbst bzw. der für es konstitutiven Lebensgeschichte zu behandeln. Wir können nur dann umfassend verstehen, was eine Handlung ist, wenn wir nicht nur momentane Intentionen des Handelnden, sondern auch seinen Charakter, seine Motive, die Umstände der Handlung, die Handlungen der Anderen und die gewollten sowie die auf das Selbst zurückwirkenden ungewollten Konsequenzen in einer mindestens pränarrativen Struktur erfassen. Allein die Narrativität vermag es, diese heterogenen Aspekte in einem Zusammenhang verständlich zu machen und auch die ethischen Dimensionen derselben, die Fragen der Zuschreibung und Zurechnung, umfassend auszuloten. Der theoretischen Aporizität der Zeit, die Ricœur insbesondere zwischen einer „subjektiven“ und einer „objektiven“ Zeit ausmacht, kann auf herausragende Weise durch die Narrativität begegnet werden. Pränarrative und narrative Strukturen vermögen es, die sukzessive Zeit, ihre Sequenzen sowie im Weiteren auch die Kausalzusammenhänge der Natur mit der als ekstatische Einheit
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erlebten Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die einen Sinnund Motivationszusammenhang herstellt, zu vermitteln. Die größte Aufmerksamkeit erfährt der Narrativitätsbegriff jedoch in Hinblick auf seine Eignung zur Beantwortung der Frage nach der Identität eines Selbst, die, so der Grundgedanke einiger Ansätze, nur über den Umweg der Lebensgeschichte zugänglich wird. Diese starke Position allerdings, so wurde oben gezeigt, gilt als höchst umstritten und viele neuere Ansätze schränken den allumfassenden Anspruch der Narrativität in Hinblick auf die Identität des Selbst verschiedentlich ein, ohne den Gedanken einer narrativen Fassung des Selbst jedoch vollends aufzugeben. Zu 2) Im Zuge der vorangehenden Untersuchungen sind mehrere Narrativitätsbegriffe zur Sprache gekommen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es wurde eine Narrativität der Einzelhandlungen, in der Mittel-Zweck-Zusammenhänge vorherrschen, von einer Narrativität der Lebenspläne und der Lebensgeschichte unterschieden, die derartige Mittel-Zweck-Strukturen entbehrt. Die von Ricœur erörterte pränarrative Struktur der Handlungen und Zeiterfahrungen unterschied sich von der Narrativität der den hermeneutischen Zirkel vertiefenden ausdrücklichen Erzählungen. Diese wiederum gliedern sich auf in wirklichkeitserforschende Geschichts- und möglichkeitserforschende Fiktionserzählungen. Von diesen Konfigurationen ist abermals die Narrativität der Refiguration abzugrenzen. Es erschien darüber hinaus möglich, auch noch von im Charakter sedimentierten pränarrativen Einheiten zu sprechen. Wie unerlässlich es ist, diese Diversität des Narrativitätsbegriffes und seiner Anwendungsbereiche zu benennen, wird besonders deutlich, wenn man sich einem Denker wie Galen Strawson zuwendet, der in erster Linie deshalb zu einem so rigorosen Urteil gegen die Verwendung des Narrativitätsbegriffes in der Philosophie gelangt, weil er einen sehr engen Begriff der Narrativität zugrundelegt. Zu 3) Dass die Narrativität gewissermaßen „nicht alles ist“, machte sich an diversen Grenzen ihres Anwendungsbereiches bemerkbar. Spontane Sinnbildungen, Widerfahrnisse, Abgründe des Pathischen sowie eine grundlegende Passivität des Selbst entziehen sich der narrativen Erfassung. Sodann ist sowohl in Hinblick auf die Geschichte überhaupt als auch in Hinblick auf die Lebensgeschichte eines Einzelnen keine einzige, alles integrierende „Supererzählung“ möglich. Die Anderen lassen sich nicht erschöpfend erzählen, was sowohl einen konstitutiven – ihr jemeiniges Erleben ist uns unzugänglich – als auch einen ethischen – wir verletzen erzählend ihre Andersheit – Grund hat. Zudem kommt unsere Responsivität gegenüber ihren Ansprüchen immer schon zu spät. Die entfliehende Zeit, die Ewigkeit, die Anfänge, Enden und Übergänge zwischen Erzählungen führen die Narrativität an ihre Grenzen. Zudem weist
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eine in Distanzierung zum pränarrativen Verstehen gewonnene Haltung des Erklärens aus dem Bereich des Narrativen heraus. Nichtsdestotrotz aber ließ sich sagen, dass sehr Vieles des vermeintlich Unerzählbaren ein gewissermaßen Miterzählbares darstellt, welches an den Rändern der Narrativität seine Spuren hinterlässt, ohne jemals in ihr aufzugehen. Literatur Arendt, H. (1967). Vita activa oder vom tätigen Leben. München 32005. Aristoteles (2001), Die Nikomachische Ethik. Griech.-dt. Düsseldorf 22007. Battersby, J. L. (2006). Narrativity, self, and self-representation. Narrative 14 (1), 27-44. Blattner, W. (2000). Life is not literature. In J. B. Brough (Hrsg.), The Many Faces of Time, 187-201. Dordrecht. Carr, D. (1986). Time, Narrative, and History. Bloomington/Indianapolis. Carr, D. (1997). White und Ricœur: Die narrative Erzählform und das Alltägliche. In Stückrath, J. & Zbinden, J. (Hrsg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, 169-179, BadenBaden. Danto, A.C. (1974). Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M. Dennett, D. (1992). The self as a center of narrative gravity. In F. Kessel et al. (ed.), Self and Consciousness. Multiple Perspectives, 103-115. Hillsdale. Eichler, K.-D. (2007). Über den Umgang mit Erzählungen bei Platon und Aristoteles. In K. Joisten (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, 117-134. Berlin. Heidegger, M. (1927). Sein und Zeit. Tübingen 171993. Janicaud, D. (1997). Chronos. Pour l’intelligence du partage temporel. Paris. Kaul, S. (2003). Narratio. Hermeneutik nach Heidegger und Ricœur. München. Kraus, W. (2007). Das narrative Selbst und die Virulenz des NichtErzählten. In K. Joisten (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, 25-43. Berlin. Levinas, E. (1987). Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München 42008. Levinas, E. (1992). Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München 21998. Lyotard, J. F. (1999). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien. MacIntyre, A. (1995). Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/M. Mink, L. O. (1970). History and fiction as modes of comprehension. New Literary History 1, 541-58.
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IVONNE KÜSTERS (Dortmund)
Narrationen als Repräsentationen sozialer Prozesse. Erzählungen als empirische Daten in der Soziologie 1. Narrationen in der Soziologie Eine intensive Beschäftigung mit Narrationen findet sich in der Soziologie zum einen in der historischen Soziologie und zum anderen in der qualitativen empirischen Sozialforschung, in letzterer in der Methode der Diskursanalyse und in der Methode des narrativen Interviews.1 In der historischen Soziologie ist in den vergangenen Jahren ein deutlicher Trend zu Narrationsanalysen auszumachen; diese fokussieren die Temporalität und die Ereignisbasierung historischer Prozesse (Schützeichel 2004, 48 ff.). Narrationen werden zunehmend als „genuine[r] Erklärungsmodus für die Genese und den Verlauf von historischen Prozessen“ angesehen, denn sie „stellen ein explanatives Geflecht der Abfolge von Ereignissen und Episoden, Aktionen und Reaktionen, Situationen und Situationsveränderungen dar und sind von daher besonders geeignet, die Prozesse in ihrem zeitlichen Ablauf zu erfassen“ (Schützeichel 2009, 283 f.). „Narration“ wird hier also nicht als zu untersuchender Gegenstand aufgefasst, sondern als wissenschaftlicher Erklärungsansatz, als „explanative Ressource“ (Schützeichel 2004, 49) angewendet. Die Diskursanalyse ist eine der zentralen Methoden der Wissenssoziologie. Das Ziel von wissenssoziologischen Diskursanalysen ist die „Untersuchung der diskursiven Praxis der Konstitution und des Wandels von Bedeutungssystemen“ (Viehöver 2006, 180). Die diskursanalytische Narrationsanalyse geht dabei auch über die Betrachtung einzelner Diskurse hinaus und versucht, allgemein wirksame Strukturprinzipien von Diskur_____________ 1
In Bezug auf narrativ orientierte Methoden sind große Unterschiede zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Soziologie festzustellen. Die unter dem Obergriff „narrative inquiry“ operierenden Ansätze sind stark interdisziplinär orientiert und setzen oftmals Narrationen auch als Instrument der Forschungsreflexion und der Reflexion professioneller Praxis ein (Clandinin 2007, darin insbesondere die Beiträge von Clandinin & Rosiek und Craig & Huber). Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die deutschsprachige Soziologie.
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sen nachzuweisen. Viehöver vertritt hierzu die These, „dass es sich bei Narrationen (…) um ein zentrales diskursstrukturierendes Regelsystem handelt“ (2006, 180; kursiv im Original, IK). Hier wird „Narration“ also als ein formgebender Bestandteil von Diskursen konzeptualisiert. Im Gegensatz zu diesen beiden Auffassungen, die sich also nicht mit einzelnen Narrationen befassen, fasst die soziologische Forschungsmethode, die unter der Bezeichnung „narratives Interview“ firmiert, als Narrationen ausschließlich einzelne Texte oder Textteile, die in Abgrenzung zu Argumentationen und Beschreibungen kategorisiert werden; es werden singuläre Narrationen zum Gegenstand der Analyse gemacht. Angesichts der zunehmenden Betrachtung von Narrationen bzw. Narrativität als theoretischem Ansatz (Brockmeier & Harré 2001) wird diese Auffassung von „Narration“ eng erscheinen. Der vorliegende Beitrag wird die Auffassung und Verwendung von „Narration“ im narrativen Verfahren rekapitulieren und herausarbeiten, welche besonderen Eigenschaften von Erzählungen bei diesem Zugriff betont oder gar hervorgebracht werden. Zugleich soll versucht werden zu zeigen, welches heuristische Potential (nur) so erreicht werden kann. 2. Das narrative Interview In den sechziger und siebziger Jahren formte sich auch in der deutschsprachigen Soziologie zunehmend die Auffassung, dass Gesellschaftsanalyse nicht ohne und sogar vornehmlich durch Sprachanalyse zu leisten sei (Arbeitsgruppe 1973; Arbeitsgruppe 1976; Schütze 1976a), und zwar vor allem durch die Feinanalyse sprachlicher Interaktionen und der in ihnen jeweils aktualisierten Relationen und Ressourcenverteilungen (z. B. von Macht, dazu Schütze 1975). Diese soziologische Variante des „linguistic turn“ führte zu einem „Aufblühen“ (Knoblauch 2003, 583 f.) der Sprachsoziologie und der Soziolinguistik. In diesem Fahrwasser kam es zu einem Erstarken der qualitativen Sozialforschung, und es wurden neue sprachzentrierte Forschungsmethoden (wie z. B. die Konversationsanalyse) entwickelt und etabliert. Mitte der siebziger Jahre wurde das narrative Interview von Fritz Schütze in die sich etablierende qualitative Sozialforschung eingebracht und gehört seitdem zum Kernbestand an qualitativen Forschungsinstrumenten (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, 92). Das narrative Verfahren umfasst sowohl eine ausgearbeitete Datenerhebungstechnik (Schütze 1977) als auch unterschiedliche narrationsanalytische Auswertungstechniken (Schütze 1983; Hermanns 1992; Fischer-Rosenthal & Rosenthal 1997a
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und 1997 b; Rosenthal 2005).2 Auch wenn es ursprünglich in einem anderen Forschungszusammenhang, nämlich einer Untersuchung zur Machtpolitik bei der Zusammenlegung von Gemeinden, entwickelt wurde (Schütze 1977), hat sich eine besonders enge Verbindung zwischen dem narrativen Interview und der soziologischen Biographieforschung (Schütze 1983; Apitzsch & Inowlocki 2000; Völter u. a. 2009) entwickelt, so dass häufig – und zu Unrecht, wie nicht oft genug betont werden kann – narrative mit lebensgeschichtlichen Interviews gleichgesetzt werden. Es ist allerdings so, dass narrative Interviews nur über selbst erlebte Vorgänge geführt werden können; deshalb hat jedes narrative Interview über jedwede Art von Interaktionsprozessen immer auch eine biographische Einfärbung und könnte auch auf den individuellen biographischen Verlauf hin analysiert werden. Ein narratives Interview ist ein Gespräch (oder genauer: eine Face-toFace-Interaktion) zwischen einer Interviewerin und einem Befragten, das durch eine von der Alltagserfahrung deutlich abweichende Redeorganisation und eine stark asymmetrische Verteilung der Sprechanteile geprägt ist: Die Interviewerin stellt dem Befragten zu Beginn des Interviews eine einzige Frage, auch „Erzähl-Stimulus“ genannt. Dieser Stimulus soll den Befragten zu einer Stegreiferzählung (Schütze 1987, 237) veranlassen. Wesentlich dabei ist, dass die Frage sich auf ein vergangenes sowie prozesshaftes und vom Befragten selbst und mit einer gewissen inneren Beteiligung erlebtes Geschehen bezieht und dass der Befragte sich nicht vorweg auf diese Frage vorbereiten konnte. Alle diese Bedingungen sind notwendig für die Anwendbarkeit und das Funktionieren der Methode. Insbesondere die Prozessgestalt (Schütze 1983, 286; Schütze 1987, 50, 243; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, 219, 224; grundsätzlich zu sozialen Prozessen: Miebach 2009) des erfragten Geschehens ist unabdingbar: Nur ein aus der Vielzahl von (vergangenen) Handlungen eines Akteurs separierbarer und zusammenhängend (re)konstruierbarer Handlungsprozess, der einen (vom Erzähler zu bestimmenden) Anfang hat, sich von dort her (zumindest in der Retrospektion) kontinuierlich weiterentwickelt hat und dann zu einem (vorläufigen) Ende gekommen ist, ist „erzählbar“ im Sinne der Methode des narrativen Interviews. Die Methode ist auf repetitive Abläufe, auf routineartiges Handeln (wie das Zurücklegen des täglichen Weges zum Arbeitsplatz) nicht anwendbar, denn immer wiederkehrende Routinen können nur summarisch beschrieben und nicht als singulärer Vorgang erzählt werden, u. a. weil die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit zu gering war, um detailliert erinnert werden zu können (Schütze 1987, _____________ 2
Für eine nach der dokumentarischen Methode der Interpretation vorgehende Auswertung narrativer Interviews siehe Nohl 2009.
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243). Die für den immer noch häufigsten Anwendungsfall der Methode typische „Frage“ wäre die nach der Biographie: die Bitte der Interviewerin an die Interviewten, „mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen“ (Küsters 2009, 50). Viele andere Themen sind jedoch möglich, so zum Beispiel die Saisonplanung eines Konzerthausintendanten: „Schildern Sie mir doch bitte so genau wie möglich die Arbeit an Ihrer laufenden Saison. Also: Womit fing die Arbeit an und wie ging es dann weiter?“ (Küsters 2012). Die danach erfolgenden Aushandlungen zwischen Befragtem und Interviewerin resultieren im geglückten Fall in einer Eingangserzählung, die einige Minuten, aber auch Stunden dauern kann. Diese wird von der Interviewerin nicht unterbrochen – ein dem Alltagsverständnis von Gesprächen (und gerade auch von Interviews) widerstrebendes und für die beiden Interviewakteure deshalb nicht ohne Schwierigkeiten zu bewerkstelligendes Gesprächssetting. Der Interviewer muss versuchen, die Erzählung anzuregen und zu stützen, ohne sie jedoch zu lenken oder durch Fragen oder Kommentare zu unterbrechen; er beschränkt sich meist auf parasprachliche Äußerungen wie „Hm“, um den Erzählfluss zu unterstützen. Die Sprecherrolle verbleibt beim Erzähler, bis dieser die Erzählung beendet und die Sprecherrolle an den Interviewer zurückgibt. Dies kann mit einem Verstummen in Form einer langen Pause geschehen, geschieht aber meist mit einer „Koda“ genannten, ausdrücklichen Schlussformel wie: „Ja. Da bin ich jetzt, heute“ und einer längeren Sprechpause oder eventuell mit einer ausdrücklichen Übergabe der Rede an die Interviewerin (Küsters 2009, 60 f.). Erst danach stellt die Interviewerin weitere, zunächst nur auf die Eingangserzählung bezogene – so genannte „immanente“ – Nachfragen, die wiederum weitere Erzählungen zu bisher Ungesagtem, bloß Angedeutetem produzieren sollen. Ist das Erzählpotential des Erzählers zum Thema ausgeschöpft, werden zuletzt „exmanente“ Nachfragen gestellt; diese steuern anders als die vorangegangenen Fragen häufig auch Bewertungen des Geschehenen an (Küsters 2009, 61-64). Das Ergebnis eines narrativen Interviews ist schließlich ein von der Audioaufnahme her möglichst detailgenau transkribierter Text, der zwar grundsätzlich dialogisch aufgebaut, dabei aber durch das zuvor geschilderte charakteristische Gefälle in den Redeanteilen gekennzeichnet ist. Die Erzählungen selbst enthalten Äußerungen der Interviewerin, insbesondere ihr häufiges, erzählbestätigendes „Hm“. Der Interviewtext ist dabei nicht identisch mit der Stegreiferzählung, besteht nicht aus einer einzigen Erzählung, sondern enthält neben der zentralen Eingangserzählung weitere, meist deutlich kürzere Erzählungen aus den beiden Nachfrageteilen. Diese Erzählungen sind eingebettet in das kommunikative Gerüst des „Gesprächs“. Sie werden zumeist initiiert von Frage-Stimuli, die die Interviewerin setzt; diese werden bis auf wenige Ausnahmen aus dem Erzählten
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generiert. Zugleich finden sich im Interview nicht nur Narrationen, sondern auch Passagen in anderen Darstellungsformen wie Beschreibungen und noch häufiger Argumentationen. Auch sind die meisten Erzählungen keine „reinen“ Erzählungen, sondern durchsetzt mit Sätzen in anderen Darstellungsformen (und umgekehrt). So werden Erzählungen oft mit evaluierenden Argumentationen ein- oder ausgeleitet: „Ich hatte kein einfaches Leben“ wäre ein Beispiel hierfür (Küsters 2009, 57). Häufig sind auch die Binnenabschnitte einer Erzählung gerade am vorübergehenden Wechsel in ein anderes Darstellungsschema erkennbar (Schütze 1987, 257). 3. Die Motivierung des Erzählens während Stegreiferzählungen in narrativen Interviews – ein Beispiel Um die Bedeutung der Anwesenheit einer Interviewerin und deren Auswirkung auf die Gesprächssituation zu verdeutlichen, bevor nachfolgend die hinter der Methode stehenden Erzähltheorie ausführlicher erläutert wird, soll die gemeinsame Erzeugung der Erzählungen im narrativen Interview an einem Beispiel gezeigt werden. Es handelt sich um eine narrative, also auf die Erzählung eines Handlungsprozesses zielende Frage, die in ein Leitfadeninterview eingebaut wurde.3 Interviewerin: Ja. Ja. Für mich wäre es jetzt ganz gut, wenn Sie mir mal ganz konkret, ganz anschaulich, erzählen würden, wie so eine Saisonplanung vonstatten geht. Was Sie machen, was Sie entscheiden, wie Sie entscheiden, was alles so passiert, und was Sie alles berücksichtigen. Erzähler: Das ist- ich weiß nicht, ob man das so ohne Not beantworten kann. Da habe ich neulich einen ganzen, drei Tage einen Kursus drüber gemacht. I: Jetzt ist ja die Not. E: Jetzt ist die Not, ja, aber Ihre, nicht meine. (4 Sekunden Pause) Also, dann mache ich es aber am konkreten Beispiel. I: Ja. E: Also jetzt nicht Orchester im Allgemeinen, sondern dieses Orchester im Besonderen. I: Nein, ganz konkret. E: Es gibt immer eine bestimmte Grundstruktur, die ich auch natürlich für diese Saison vorfinde. Was weiß ich. Ich muss zehn Konzerte in X-STADT machen,
_____________ 3
Zur Kombination von narrativem Interview und Leitfadeninterview siehe Küsters 2009, 185, und in Anwendung Küsters 2010 und 2012. Witzel (1989) hat als Mischung beider Interviewvarianten das „problemzentrierte Interview“ entwickelt.
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acht in Y-STADT und je sechs in anderen Städten, und ich muss mit bestimmten Chören der REGION, und fünf Aufnahmewochen, und dann schleppt mir irgendeiner eine Tournee an, dann gibt es ein paar Gastkonzerte, die jetzt schon so avisiert sind, manche werden noch dazu kommen und so. Und dann muss ich mir für diese- also ich habe- der Nukleus sozusagen des Programms sind immer diese zehn Abonnementskonzerte. (…) Dann habe ich- also ich plane erst mal diese zehn Abonnementskonzerte. Dann gehe ich zum CHEFDIRIGENTEN und sage: „Welche willst du dirigieren?“ Dann legen wir erst mal die Termine fest und auch ansatzweise die Programme. Also nur tendenziell, „Da vielleicht mal einen Brahms“, so, „Beethoven diese Saison nicht so gerne“, „Ich würde ja gerne mal Mahler machen“ und „Können wir nicht mal meinen Chor einsetzen?“ und „Dem Pianisten bin ich noch was schuldig“. So ungefähr. Dann überlege ich mir einen gewissen- ach so, und dann streiche ich erst mal gedanklich die Stücke ab, die die letzten zwei, drei Jahre waren, alles so im Hinterkopf. (…) Ja, und dann in der Zwischenzeit haben sich natürlich dann auch andere viele Dinge ergeben, mit Produktionen und ich weiß nicht was und allerlei Anfragen, mehr Gastspiele und so, und plötzlich hat man dann auch Fleisch um das Skelett seiner Planung, was man am Anfang natürlich nicht hatte. Das dauert aber immer so ein Dreivierteljahr. (6 Sekunden Pause)4
Dieser gekürzte und anonymisierte Interviewausschnitt wird mit einem narrativen Stimulus eingeleitet, der sich auf den mehrmonatigen, eventuell sogar noch längeren Prozess der Saisonplanung eines Orchestermanagers bezieht; der Stimulus enthält dabei aber auch Elemente, die andere Darstellungsformen initiieren können (z. B. Argumentationen auf „wie Sie entscheiden“). Auf den Stimulus folgt eine mehrere Sprecherwechsel umfassende Aushandlung zwischen Erzähler und Interviewerin, auf die dann eine ununterbrochene Erzählung folgt („Es gibt immer…“), die sich insgesamt über vier Transkriptseiten erstreckt. An diesem Ausschnitt ist deutlich zu erkennen, dass Darstellungsformen und Handlungsformen miteinander gekoppelt sind: Der Vorgang der Saisonplanung ist als einzelner Prozess für jede Saison erinnerbar und somit erzählbar. Dennoch folgt er einer „Grundstruktur“, die sich über mehrere Jahre eingestellt hat, die der Befragte eventuell zu Beginn seiner Tätigkeit entwickelt und dann immer wieder angewendet und verfeinert hat; der Vorgang enthält also auch Routineelemente. In der Darstellung ist folgerichtig deutlich ein Changieren zwischen der Beschreibung von Routinehandeln und der Erzählung singulärer Ereignisse festzustellen. Diese Erzählungselemente finden sich dabei allerdings zum Teil sogar in einer Form, die gemäß der Erzähltheorie des narrativen Verfahrens die höchste Authentizität der Erinnerung verspricht: in Form wörtlich erinnerter Dia_____________ 4
Zum Forschungsprojekt „Kulturmanagement und funktionale Differenzierung“, aus dem dieser Interviewausschnitt mit einem Orchestermanager stammt: Küsters 2010 und 2012.
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logsequenzen aus einer real stattgefunden habenden Interaktionssituation (Küsters 2009, 26). In der Aushandlung zeigt sich in exemplarischer Weise, wie das anfängliche Widerstreben des Erzählers durch den Bezug auf die Interviewerin, v. a. durch die bloße Anwesenheit der Interviewerin, überwunden wird, indem der Erzähler sich das Motiv, das Wissensbedürfnis der Interviewerin zu eigen macht. Die Interaktionssituation ist für den Erzähler der Motor, die Erzählung überhaupt zu beginnen und dann auch zu Ende zu führen. Der Erzähler findet zunächst keine „Sinngebung“ (Schütze 1987, 238) für die Antwort auf die Frage nach der Saisonplanung und zeigt deutlich, dass er sie nicht durchführen möchte, weil sie lang und eventuell auch langweilig oder auch komplex wird ausfallen müssen. Schließlich ergibt er sich jedoch in die Wünsche der Interviewerin, nicht unbedingt weil diese ihm relevant erscheinen, sondern vor allem um die Aushandlung endlich zu beenden und einen Konflikt oder Affront in der Interaktion zu vermeiden. Interessant und ungewöhnlich an diesem Interviewausschnitt ist, dass der Interviewte diese besondere und für ihn zunächst problematische Motivlage explizit thematisiert und erkennen lässt, dass er (zumindest bezogen auf die gestellte Frage, eventuell auch auf das Interview als Ganzes) kein eigenes Motiv entwickelt hat, das ihn durch die Erzählung tragen könnte. 4. Die Erzähltheorie des narrativen Verfahrens Um zu verstehen, warum der Umstand, dass der Befragte „für“ die Interviewerin erzählt, für das Funktionieren eines narrativen Interviews so bedeutsam ist, und wie die Methode dies „ausbeutet“, ist ein Blick auf die Erzähltheorie notwendig, die die Grundlage des Verfahrens bildet. Im Gegensatz zu den meisten anderen sozialwissenschaftlichen Interviewverfahren verfügt das narrative Interview über eine ausgearbeitete Grundlagentheorie (Küsters 2009, 24-29; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, 221 ff.). Die Erzähltheorie bezieht sich zum einen auf das Erzählen und seine Ausgestaltung, zum anderen auf das Erinnern des vergangenen Erlebens. 4.1. Erzählen Schütze geht – gestützt auf soziolinguistische Forschungsergebnisse von Labov & Waletzky (1973) und Sacks (1971) – davon aus, dass beim Stegreiferzählen von selbsterlebten Geschehnissen in Face-to-face-Situationen,
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also dem spontanen Erzählen „für“ eine andere Person, drei Formprinzipien wirksam werden, die so genannten „Zugzwänge der Sachverhaltsdarstellung“ (Kallmeyer & Schütze 1977, 162, 187 ff.). Diese wirken zwar in allen Darstellungsformen, also in Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen, in Erzählungen jedoch in viel stärkerer Weise. Die Wirkungsweise der drei Zugzwänge im Erzählschema der Sachverhaltsdarstellung beschreiben Kallmeyer & Schütze (1977, 188) folgendermaßen: 1. Detaillierungszwang. Der Erzähler ist getrieben, sich an die tatsächliche Abfolge der von ihm erlebten Ereignisse zu halten und – orientiert an der Art der von ihm erlebten Verknüpfungen zwischen den Ereignissen – von der Schilderung des Ereignisses A zur Schilderung des Ereignisses B überzugehen. 2. Gestaltschließungszwang. Der Erzähler ist getrieben, die in der Erzählung darstellungsmäßig begonnenen kognitiven Strukturen abzuschließen. Die Abschließung beinhaltet den darstellungsmäßigen Aufbau und Abschluß von eingelagerten kognitiven Strukturen, ohne die die übergeordneten kognitiven Strukturen nicht abgeschlossen werden könnten. 3. Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang. Der Erzähler ist getrieben, nur das zu erzählen, was an Ereignissen als ‘Ereignisknoten’ innerhalb der zu erzählenden Geschichte relevant ist. Das setzt den Zwang voraus, Einzelereignisse und Situationen unter Gesichtspunkten der Gesamtaussage der zu erzählenden Geschichte fortlaufend zu gewichten und zu bewerten.
Der Detaillierungszwang verursacht grundsätzlich die Analogführung von erinnertem Handlungsprozess und Erzählung, aber er bewirkt auch das Einfügen so genannter „Hintergrundserzählungen“ in die Darstellung. Dies geschieht, wenn der Erzähler bemerkt, dass der nun von ihm angesprochene Sachverhalt dem Zuhörer ohne das Einführen von weiteren Informationen nicht verständlich werden kann. E: (…) Also ich habe sehr früh - weil ich auch eine eigene Musikschule hatte, habe ich sehr früh den Job als Musikschulleiter bekommen. Ich war mit 29 Jahren$-> also ich habe drei Bewerbungen abgeschickt und habe drei Stellen gekriegt Initiiert im Grunde genommen durch einen Freund, der Orchesterintendant in Z-STADT geworden war, der VORNAME NACHNAME, der damals- der dann später bei DIRIGENT X auch der große Orchestermanager war Aber ich hatte auch gesehen wie schwer es ist, als Musikschulleiter direkt Intendant eines Sinfonieorchesters zu werden, denn der hat ganz schön
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hart gekämpft und er hat auch Familie gehabt und so, der hatte für nix mehr Zeit, der hat nur noch das gemacht.“ bzw. „