Zeithorizont: Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung 9783495860694, 9783495485385


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German Pages [233] Year 2016

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Inhalt
Vorwort
I. Einleitung: Das Rätsel der Sphinx
II. Zeithorizont – Eine Einführung
II.1 Mensch und Zeithorizont
II.2 Selbstbezogene und selbstlose, lebenszeitimmanente und lebenszeittranszendente Zeithorizonterweiterung
III. Zeithorizont und Kultur
III.1 Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario
III.2 Zeithorizont und Selbstdisziplinierung
III.3 Zeithorizont und Politik
IV. Zeitliche Selbsteinordnung
IV.1 Das vergessene Nachleben der Toten
IV.2 Zwischen Vorfahren und Nachkommen
IV.3 Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität?
IV.4 Die Kette der Generationen
V. Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen
V.1 Modale Lagezeit
V.2 Temporale Emanzipation
VI. Das Prinzip Gegenwart
VII. Die Aufgabe einer neuen Zeithorizont-Kultur
VII.1 Zeithorizont-Humanismus
VII.2[srtn]Zeithorizont-Erziehung
Anmerkungen
Literatur
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Zeithorizont: Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung
 9783495860694, 9783495485385

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Michael Großheim

Zeithorizont Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860694

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B

Michael Großheim Zeithorizont

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Menschen können in den Tag hinein leben oder über den Tag hinaus denken. Nicht nur Einzelne haben so einen kleineren oder einen größeren Zeithorizont, sondern auch ganze Gesellschaften. Der Zeithorizont läßt sich sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft hinein erweitern; so hat man in der Antike die Ahnen verehrt und sich um Nachruhm bemüht. Doch wie steht es um die Zeithorizont-Kultur heute? Für unsere Gesellschaft ist der »short termism« in allen Bereichen, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik und der allgemeinen Lebensorientierung, kennzeichnend und wird zunehmend zum Problem. Wieviel Kurzzeitdenken und -handeln kann sich eine Gesellschaft leisten, ohne ihren Bestand zu gefährden? Der demographische Wandel führt vor, daß wir unseren Zeithorizont erweitern müssen, daß es darauf ankommt, neben den Zeitgenossen auch die Vorfahren und Nachkommen in den Blick zu nehmen, kurz: die eigene Mittelgliedstellung in einer Generationenfolge anzuerkennen. Aber auch im Alltag herrscht vielerorts ein Präsentismus, der Menschen Probleme bereitet. Kinder neigen von sich aus nicht zu größeren Zeithorizonten und werden erst dazu erzogen. Als Erwachsene sind wir gehalten, unser Leben auch in zeitlicher Hinsicht zu gestalten. Eine Gesellschaft, die dem Thema Zeithorizont die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet, bildet ein kulturelles Klima aus, das auch diejenigen stützt, die morgens noch keine Vorstellung davon haben, was sie nachmittags machen wollen. Selbstbestimmung fängt beim Zeithorizont an.

Der Autor: Michael Großheim, geb. 1962, promoviert 1993, habilitiert 2000, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock.

https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Michael Großheim

Zeithorizont Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Peder Severin Krøyer: Skagens Sønderstrand, 1883 Satz, PDF-E-Book und Umschlaggestaltung: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48538-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86069-4

https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I.

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx . . . . . . . . . . . . .

11

II.

Zeithorizont – Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . II.1 Mensch und Zeithorizont . . . . . . . . . . . . . II.2 Selbstbezogene und selbstlose, lebenszeitimmanente und lebenszeittranszendente Zeithorizonterweiterung . . . . . . . . . . . . .

18 18

III. Zeithorizont und Kultur . . . . . . . . . . . . III.1 Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario . . . . . . . . . . . . III.2 Zeithorizont und Selbstdisziplinierung . III.3 Zeithorizont und Politik . . . . . . . . .

. . . . .

47

. . . . . . . . . . . . . . .

47 56 63

IV. Zeitliche Selbsteinordnung . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Das vergessene Nachleben der Toten . . . . . . IV.2 Vorfahren und Nachkommen . . . . . . . . . . IV.3 Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität IV.4 Die Kette der Generationen . . . . . . . . . . . V.

32

. 77 . 77 . 91 . 95 . 103

Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen . . . . . 111 V.1 Modale Lagezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 V.2 Temporale Emanzipation . . . . . . . . . . . . . 124

5 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Inhalt

VI. Das Prinzip Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 VII. Die Aufgabe einer neuen Zeithorizont-Kultur . . . . . . 153 VII.1 Zeithorizont-Humanismus . . . . . . . . . . . . 153 VII.2 Zeithorizont-Erziehung . . . . . . . . . . . . . . 159 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

6 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Für Maximilian und Friedrich, die meinen Zeithorizont erweitert haben.

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Vorwort

Um falschen Erwartungen vorzubeugen, ist es ratsam, an dieser Stelle einige knappe Bemerkungen über den Charakter des vorliegenden Buches voranzuschicken. Was ist es nicht? Zunächst einmal wird hier keine Philosophie der Zeit vorgelegt, und es ist auch nicht an eine Kulturgeschichte der Zeit gedacht. Das Buch leistet weiterhin keinen unmittelbaren Beitrag zur Diskussion um Nachhaltigkeit. Zu all diesen Themen gibt es ausgezeichnete Untersuchungen, die meine Arbeit sehr gefördert haben, zu denen ich aber nicht in Konkurrenz treten möchte. Meine Überlegungen sind am ehesten im Bereich der Kulturphilosophie angesiedelt. Dabei geht es nicht nur darum, die immer noch weitgehend verborgene Bedeutung von Zeithorizonterweiterung für eine Kultur offenzulegen; daneben verfolgt das Buch praktische Absichten. Es ist auch darauf angelegt, den kulturellen »Möglichkeitssinn« zu stimulieren. Es will dafür werben, der Ausbildung von Zeithorizonten besondere Aufmerksamkeit zu widmen und vorhandene Fähigkeiten über den gegenwärtigen Stand hinaus weiterzuentwickeln. Komplizierter ausgedrückt: Das Buch möchte dazu anregen, die bereits hochkultivierte Emanzipation des Ich durch eine entsprechende Emanzipation des Jetzt und des Dieses zu ergänzen (vgl. V.2). Stimulierung des kulturellen Möglichkeitssinns bedeutet hingegen nicht, mit erheblichem intellektuellen Aufwand nachzuweisen, daß alles so sein muß, wie es ist, etwa weil man sich in irgendeiner Variante der »Moderne« befinde, in der eine Art geschichtsphilosophisches Schicksal die Einzelnen am Umdenken hindere. Die vorliegende Übung in kulturellem Möglichkeitssinn findet so gesehen unter erschwerten Bedingungen statt, in einer geistigen Umgebung, die stärker auf eine Versöhnung mit der 9 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Vorwort

kulturellen Wirklichkeit drängt. Zwar ist im Folgenden immer wieder von Kultur die Rede – dennoch handelt es sich nicht um eine kulturwissenschaftliche Studie, die sich mit »kulturellen Konstruktionen« beschäftigt. Das wird wohl am deutlichsten im Abschnitt über das Phänomen Zeit (V.1), der nicht das willkürlich von Menschen Zurechtgemachte in den Blick nimmt (die von Menschen entwickelten Formen der Zeitrechnung etwa), sondern gerade das unwillkürlich Erfahrene (z. B. die modale Dimension von Zeit). Die Arbeit nutzt im Rahmen der Grundlagen die von Hermann Schmitz begründete Neue Phänomenologie, um darüber hinausgehend Vor- und Nachteile von Stilen der Zeithorizontbildung zu reflektieren. Dabei muß an dieser Stelle vor dem naheliegenden Mißverständnis gewarnt werden, daß hier Zeithorizonterweiterung generell positiv bewertet würde. Die Geschichte kennt auch Fälle exzessiver Zeithorizontausbildung, die in der Folge zu entsprechenden Ermüdungserscheinungen führen (vgl. VI.). Auch der gelebten Gegenwart muß ihr Recht widerfahren. Die Arbeit hätte ihre Aufgabe erfüllt, wenn es gelänge, die Aufmerksamkeit für die Ubiquität von Zeithorizonten im menschlichen Leben zu schärfen und ein stärkeres Verständnis für ihren Wert zu wecken, so daß sie – als ein ständig bedrohtes Kulturgut erkannt – auch mit der nötigen Sorge und Pflege bedacht würden. Schließlich ist damit die Hoffnung verbunden, einen kleinen Beitrag zu jenem Aufklärungsprojekt zu leisten, das – jenseits aller einzelnen Epochen – die Menschen eigentlich immerzu beschäftigt, indem sie einen Zustand zu erreichen streben, von dem man sagen kann: Denn sie wissen, was sie tun. Philosophie wäre dann, mit einem Wort Wilhelm Diltheys, nur die höchste Art, bewußt zu machen. Mein Dank gilt den Rostocker Mitarbeitern für Hilfe bei der Korrektur und wichtige Hinweise: Wilko de Buhr, Steffen Kammler, Steffen Kluck, Daniel Witt. Ebenso danke ich Lukas Trabert vom Alber Verlag für die freundliche Betreuung. Hamburg/Rostock, im Februar 2012

Michael Großheim

10 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

I. Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

»Ah! Alte Frau! Rede nur von der Sonne, die schien lange vor meiner Geburt!« Botho Strauß 1 »Da erhob sich unter ihnen Kalchas, der Sohn des Thestor, der weit beste unter den Vogelschauern, Der wußte, was ist und was sein wird und was zuvor gewesen.« Homer, Ilias 2 »Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!« Wilhelm Busch

Im antiken griechischen Mythos versetzt ein Ungeheuer mit Löwenkörper, Vogelflügeln und Menschenkopf die Bewohner der Stadt Theben in Angst und Schrecken. Die Sphinx bedroht alle Menschen, die ihr begegnen, mit dem Tod – aber die Lösung eines Rätsels kann vor diesem Schicksal bewahren. Das furchtbare Mischwesen ist seinen Opfern körperlich deutlich überlegen, aber es tötet sie nicht einfach augenblicklich, sondern erst dann, wenn sie mit ihren Erkenntniskräften versagt haben. Jenes Rätsel, das viele Leben kosten soll, lautet in einer modernen, weit verbreiteten Version: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein in der Zahl seiner Füße; aber eben, wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit bei ihm am geringsten.« Der Überlieferung zufolge verlieren viele Thebaner durch die Frage der Sphinx ihr Leben; dabei ist die Antwort eigentlich ganz naheliegend. Dennoch verblüfft sie immer noch, weil die vom Rätsel geforderte Perspektive auf den Gegenstand so ungewöhnlich ist. 11 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

Der erste Mensch, dem es gelingt, die richtige Antwort zu geben, ist Ödipus: »Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittage seines Lebens auf zwei Füßen; am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.« 3 Der Schnelldenker Ödipus zeigt hier zwar, daß er über eine allgemeine Einsicht verfügt: Er kennt den Menschen. Das weitere Geschehen wird ihn aber gerade als jemanden enthüllen, dessen Selbsterkenntnis den individuellen Bereich ausspart, seine Herkunft, seine Schuld und sein Wesen. Ödipus glaubt als Überwinder der Sphinx und König von Theben endlich eine sichere, zweifelsfreie Identität gewonnen zu haben. Als er schließlich gezwungen wird, auch sich selber zu erkennen, zerbricht er daran. Wer freilich Ödipus so im größeren Kontext, mit seinen Schwächen und in seinem Scheitern, betrachtet, läuft Gefahr, die bemerkenswerte Leistung des Anfangs zu übersehen: Dieser souveräne Rätsellöser ist nämlich imstande, den Menschen allgemein wahrzunehmen wie kein anderer vor ihm. Das Rätsel wird ja nur dadurch überhaupt schwierig und behält auch nur dadurch seine Faszinationskraft, daß offenbar weder die Menschen des mythischen Zeitalters noch die der Gegenwart darin geübt sind, den Menschen wie Ödipus als ein Lebenslaufwesen zu sehen. Es geht hier um die Bilder, die der Ausdruck gedanklicher Einseitigkeiten sind: »Der Mensch« – das ist immer noch ein zeitloses Präparat, ein (meistens männlicher) Erwachsener im besten Alter. Kindheit und Alter spielen im allgemeinen Menschenbild, soweit es sich anschaulich ausprägt, kaum eine Rolle. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß Kinder- oder Altenfeindlichkeit in der Regel nicht grundsätzlicher als Menschenfeindlichkeit gebrandmarkt wird. Selbst Versuche, dem »ganzen« Menschen zur Geltung zu verhelfen, lassen die zeitliche Dimension beiseite. Unser Selbstverständnis ist ein statisches, augenblicksbezogenes, das nur einen bestimmten Ausschnitt aus dem gesamten Lebensverlauf thematisiert. 12 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

Im Folgenden soll es darum gehen, diese sehr weitgehende Vernachlässigung der zeitlichen Selbsteinordnung des Menschen mit historischen Beispielen zu konfrontieren, die ganz andere Zeithorizonte kultivieren. So kann sich die grundsätzliche Möglichkeit eines intensiveren Umgangs mit dem Thema Zeithorizont in einer Kultur abzeichnen. Kulturen lenken die Aufmerksamkeit, sie präformieren, was beachtet und was ignoriert wird. Der Blick auf zeitlich oder räumlich ferne Kulturen kann dabei helfen, die eingeschliffenen Einseitigkeiten der eigenen Kultur zu erkennen. Unsere eigene, trotz aller Säkularisierung immer noch in vielerlei Hinsicht christlich geprägte Kultur kennt einen Gott, der Vater ist – und zwar Vater eines einzigen Sohnes, der selbst kein Vater mehr wird. Dagegen ist Zeus, der wichtigste Gott der griechischen Antike, beides, er ist Vater (sogar vieler Kinder), aber zugleich auch Sohn. Er stellt also keinen Anfang dar, sondern ist wie die Menschen ein Wesen mit Herkunft, eingebettet in eine Generationenreihe. Davon lebt Hesiods »Theogonie«. Durch das genealogische Moment kommt in den griechischen Mythos ein besonderer dynamischer Zug. Die anfänglichen Herrscher Uranos und Kronos werden durch List bezwungen und von ihren eigenen Nachfahren gestürzt; erst Zeus gelingt es, durch Klugheit dieses Schicksal zu vermeiden und für eine gewisse Stabilität der göttlichen Familienverhältnisse zu sorgen. Bis dahin gilt der Satz, daß Nachkommen Gefahr bedeuten. 4 Zeus indessen errichtet seine Position nicht allein auf physischer Überlegenheit wie seine entmachteten Vorgänger. Er kann im Ringen mit Prometheus – gewissermaßen dem verkörperten Zeithorizont der Zukunft – auch seine geistige Überlegenheit unter Beweis stellen. 5 Damit sichert er seine Herrschaft langfristig und ist in der Lage, einen weitgehenden Frieden im Verhältnis der Generationen zu stiften. Bei den Menschen erscheint die Dramatik der göttlichen Verhältnisse in abgeschwächter Form. Der eben am Rätsel des Ödipus gewonnene Zeithorizont des Lebenslaufes läßt sich mit einem an13 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

deren dynamischen Aspekt verbinden, der das Individuum zeitlich einbettet: der permanente Generationenwechsel einer Gesellschaft. Wie wird das Bewußtsein dafür geschult? Plutarch berichtet über Feiern in Sparta: »An bestimmten Tagen wurden drei Chöre dem Alter nach aufgestellt. Der Chor der Greise stimmte an: ›Einst waren wir Jünglinge, waren rüstig‹, darauf antwortete der Chor der jungen Männer: ›Wir sind es noch, erprob es, wenn du willst‹ ; zuletzt sang der Chor der Knaben: ›Wir werden einst noch sehr viel besser sein.‹« 6 Es kommt hier nicht so sehr auf den Aspekt des Wettbewerbs zwischen den Generationen an, der für die Tradierung des spartanischen Kriegerethos sicher von großer Bedeutung war. Entscheidend in unserem Kontext ist die ritualisierte Selbsteinordnung in Lebenszeitmuster und Generationenfolge einer Gesellschaft. Auf diese Weise wird über die gesamte Lebenszeit das Bewußtsein einer sich bewegenden generationellen Einbettung wachgehalten (bzw. erstmalig geweckt). Was man ist, ist man als Vertreter seiner Generation im Verhältnis zu den anderen Generationen. Und man wird das, was die anderen schon sind. Ein weiterer Blick in die Antike soll diese Einführung abrunden. Zwei kurze Beispiele können zeigen, wie wichtig die griechische Kultur das Einüben eines Denkens weit in die Vergangenheit hinein genommen hat: Beispiel 1: Der griechische Historiker Herodot erzählt von Kroisos, dem sagenhaft reichen letzten König der Lyder, der sich für den glücklichsten Menschen hält, von Solon aus Athen aber gewarnt wird, daß man ein Leben nicht vor seinem Ende glücklich nennen könne. Kroisos verwirrt diese Auskunft, er scheint ganz in der Gegenwart zu leben, ohne eine Vorstellung von einem Lebenslauf. Darin liegt gewissermaßen sein Versagen. Bald darauf beginnt Kroisos einen Krieg gegen den Perser-König Kyros und verliert schließlich allen seinen Reichtum und alle Macht. Der tiefe Sturz dieses in der Antike bewunderten Herrschers ist aber kein isoliert zu begreifendes Ereignis; nicht einmal als beispielhafte Vollendung eines Lebenslaufes ist er angemessen erfaßt. 14 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

Der Fall des Kroisos erfüllt nach Herodot ein über fünf Generationen hinweg wirkendes Schicksal und ist damit Teil eines über das Einzelleben hinausgreifenden, nach göttlicher Ordnung verlaufenden Geschehenszusammenhangs. 7 Dies ist die Perspektive des Historikers Herodot, auf die es uns hier vordringlich ankommt. Die abweichende Perspektive seiner Figur Solon im Gespräch mit Kroisos verdient aber ebenfalls kurz hervorgehoben zu werden. Uvo Hölscher erklärt, es handele sich hier um eine »typische und eigentlich griechische Geschichte«: »Sie stellt die Frage nach dem menschlichen Glück; und sie beantwortet sie, indem sie das Leben im Ganzen ins Auge faßt. Glück und Unglück des Lebens, Gelingen oder Mißlingen, zeigen sich erst vom Ende her. Das Leben wird bewertet nicht einfach als Dasein, sondern als Lebenslauf.« 8 Im Denken Solons, wie es von Herodot überliefert wird, steht die Lebenslauf-Perspektive jedoch dermaßen im Vordergrund, daß in ihr allein Glück seinen Ort finden kann als eine Art Abschluß- und Bilanz-Glück, das dem veränderlichen Wachs des Lebens sein Siegel aufdrückt und ihm damit eine Form gibt. Die Vorstellung vom Glück in der Gegenwart dagegen, die uns heute vor allem vertraut ist, wird dadurch in einer Weise entwertet, daß ein grundsätzliches Problem entsteht. Wer die Lebenslauf-Perspektive stark machen will, muß sich also um einen Ausgleich mit der Gegenwarts-Perspektive bemühen.9 Beispiel 2: Der von Aischylos in einer Tragödientrilogie dargestellte Orest tötet seine Mutter und deren Liebhaber, weil diese zuvor seinen Vater heimtückisch ermordet hatten. Obwohl es Orest damit gelingt, wie von göttlicher Seite gefordert den Vater zu rächen, kann er seinen Triumph nicht feiern, denn seine Vergeltung ist als Muttermord zugleich eine neue Katastrophe in der langen leidbeladenen Familiengeschichte. Über dem gegenwärtigen Geschehen steht der Frevel der Ahnen, der – so die Aussicht – auch in Zukunft immer wieder Opfer erzeugen wird. Der momentan agierende Mensch Orest ist verstrickt in einen Fluch, der sein ganzes Geschlecht (die Atriden) über Generationen hinweg 15 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

verfolgt und dem er aus eigener Macht nicht zu entkommen vermag. Vergangenheit ist hier als Ort der Schuld bestimmt, die über lange Zeiträume hinweg zu wirken imstande ist. Diese Erzählungen lehren: Wenn man die eigene Lage richtig einschätzen will, reicht die Perspektive auf das eigene Leben nicht aus; man muß in Generationen denken. Dieses Motiv läßt sich leicht umkehren und in den Dienst einer zukunftsbetonten Zeithorizontbildung stellen. So bezeichnet Solon den Gott Zeus als eine Instanz der Vergeltung, die – auch wenn ihr der eigentlich Schuldige entkommt – doch in der Zukunft die unmittelbaren Nachfahren oder das ganze Geschlecht büßen läßt: »Nun zahlt der eine gleich, der andre später; und entkommt man / auch selbst – vom Götterzorn, wiewohl verfolgt, nicht eingeholt –, / trifft’s einen doch in Zukunft: schuldlos büßen dann die Taten / die Söhne derer, die’s getan, oder der ganze Stamm.«. 10 Wir kennen diese in die Zukunft ausgreifende Version auch aus dem biblischen Kontext: »Ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.« 11 Wir selbst glauben heute nicht mehr an solche generationenübergreifenden schuldhaften Verstrickungen, an so etwas wie den Zorn der Götter, der Familien durch die Zeit hindurch verfolgt. Aber das Motiv der historischen Schuld, die Diskussionen über Umweltzerstörung, Klimawandel, Rohstoffreserven, Atommüllendlagerung, Nachhaltigkeit, Staatsverschuldung, demographischen Wandel und Altersvorsorge zeigen, daß es andere Formen generationenübergreifender Abhängigkeit gibt, die uns sehr wohl plausibel sind. Was das Grundsätzliche dieser Thematik abseits aller moralischen, ökologischen, ökonomischen und soziologischen Spezialfragen angeht, ist unsere Perspektive allerdings noch ungeübt. Hier können die herangezogenen antiken Quellen dazu beitragen, das Bewußtsein für Zeithorizontbildungen zu schärfen. Daneben transportieren diese Texte implizit Einsichten, die auch für eine alternde Gesellschaft in der Moderne Bedeutung besitzen: 16 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Einleitung: Das Rätsel der Sphinx

Der Mensch ist nicht nur als ein momentan existierendes, sondern als ein Lebenslaufwesen zu begreifen. Altern ist nicht einfach ein z. B. körperlicher Vorgang am isolierten Individuum, sondern wesentlich eine Verschiebung der eigenen Stellung in der Generationenfolge einer Gesellschaft. Die Lage eines Individuums ist durch Abhängigkeit von anderen, früheren oder späteren Generationen geprägt.

17 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

II. Zeithorizont – Eine Einführung

II.1 Mensch und Zeithorizont »Was ist der Mensch, Wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut, Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter. Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf, Voraus zu schaun und rückwärts, gab uns nicht Die Fähigkeit und göttliche Vernunft, Um ungebraucht in uns zu schimmeln.« Shakespeare, Hamlet (IV, 4) »Hippie-Sein, das hieß sorglos in den Tag hinein zu leben. Das ist das Grundding.« Michel, nach vierzig Jahren in Goa, zurückblickend12

Als die Menschen ihr Selbstverständnis noch im Verhältnis zu den Göttern zu bestimmen versuchen, markiert der griechische Dichter Semonides den Unterschied mit der Fähigkeit zur Zeithorizontbildung: Allein Zeus überblicke sein Handeln vollständig, nur er sei imstande, mit fernerliegenden Zielen erfolgreich umzugehen. Daran gemessen zeigt sich der entscheidende Mangel der sterblichen Wesen: »Klarsicht gibt’s bei den Menschen nicht. Vielmehr: Von Tag zu Tag verbringen sie wie Weidevieh ihr Leben.« 13 Zwar kennt Semonides neben denjenigen Menschen, für die tatsächlich nur ein einzelner Tag das Ziel ihres Wartens ist, auch solche, die immerhin auf Jahre eingestellt sind, doch wird dieser größere Zeithorizont dann nur von törichten Hoffnungen ausgefüllt. Die menschliche Unterlegenheit gegenüber den Göttern wird in der Folgezeit als anthropologisches Leitkriterium von der Über18 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Mensch und Zeithorizont

legenheit gegenüber den Tieren abgelöst. Nun stehen die Menschen, was die Zeithorizonterweiterung angeht, deutlich besser da. 14 Während der antike Dichter Semonides die Menschen noch dem von Tag zu Tag lebenden Weidevieh einfach gleichsetzt, macht der moderne Altphilologe Friedrich Nietzsche aus diesem eindrucksvollen Bild eine aufschlußreiche Differenz. Er verknüpft den Unterschied zwischen Mensch und Tier mit dem Verhältnis zu Gegenwart und Vergangenheit: Die vorüberweidende Herde weiß nicht, was gestern, was heute ist, sie geht den immer gleichen Tätigkeiten nach, ohne daß zeiterfahrungsbedingte Problem-Gefühle wie Schwermut oder Überdruß drohen. Während der Mensch unter der Last der Vergangenheit leiden kann, lebt das Tier unhistorisch, geht in der Gegenwart auf, bleibt stets kurz angebunden »an den Pflock des Augenblickes«. 15 Nietzsche interessiert hier vor allem die Schattenseite der Zeithorizonterweiterung. 16 Tatsächlich kann für den Menschen die Kombination von erweitertem Zeithorizont und verlorengegangener Anteilnahme am Leben bedrohlich werden; dann stellt man sich z. B. vor, daß noch auf unabsehbare Zeit immer wieder die gleichen allzu bekannten Ereignisse (z. B. der Wechsel der Jahreszeiten) gleichgültig vorübergleiten werden. Goethe berichtet in »Dichtung und Wahrheit« von einem Engländer, der sich aufgehängt hat, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sich täglich an- und auszuziehen. 17 Ein solches Leiden kann sich nicht herausbilden, wenn man nur in den Tag hinein lebt, sondern erst dann, wenn der Zeithorizont entsprechend groß ist, und das ist bei Menschen möglich. 18 Dagegen gibt es keine Anzeichen dafür, daß etwa Zugvögel Lebensüberdruß entwickeln, weil es ihnen unangenehm wäre, schon wieder in den Süden zu ziehen, geplagt von dem Bewußtsein, dies auch noch viele weitere Male tun zu müssen. Bei Nietzsche ist es indessen die dem Menschen vorbehaltene Zeithorizonterweiterung in die Vergangenheit, die in ihrer Ambivalenz untersucht wird. Andere anthropologische Überlegungen nutzen stärker das Verhältnis zur Zukunft, um den Menschen gegenüber dem Tier auszuzeichnen. So macht Kant auf die »über19 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

legte Erwartung des Künftigen« aufmerksam: »Dieses Vermögen, nicht bloß den gegenwärtigen Lebensaugenblick zu genießen, sondern die kommende, oft sehr entfernte Zeit sich gegenwärtig zu machen, ist das entscheidendste Kennzeichen des menschlichen Vorzuges, um seiner Bestimmung gemäß sich zu entfernten Zwecken vorzubereiten, aber auch zugleich der unversiegendste Quell von Sorgen und Bekümmernissen, die die ungewisse Zukunft erregt, und welcher alle Thiere überhoben sind.« 19 Kant legt Wert darauf, daß es sich bei der den Menschen auszeichnenden Erwartung um ein Überlegen handelt, nicht etwa um ein vages Vorausahnen.20 Was man dem Menschen zutrauen kann, ist sicher nicht eine Vorhersage aller Details seiner Zukunft, aber doch z. B. eine allgemeine Abschätzung von individuellen oder kollektiven Handlungsfolgen, wie sie eindrucksvoll etwa die Figur des Odysseus vorführt (vgl. III.2). Auch ist die Erwartung immer abstrakter als die Erinnerung. Hier beziehen wir uns auf reichhaltige Situationen, während wir dort in der Regel auf ein überschaubares Gerüst einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme eingestellt sind. So kann man sich an einen bestimmten Winter in der Vergangenheit erinnern und dabei vielerlei, sei es explizit oder implizit, präsent haben, während die allgemeine Erwartung, daß auf diesen Herbst wieder ein Winter folgen wird (der dann gewisse Vorsorgemaßnahmen erfordert), mit deutlich weniger Bedeutsamkeit geladen ist. 21 Nietzsche und Kant haben den Menschen wegen seines besonderen Verhältnisses zur Zeit bisher nicht einfach nur gefeiert, sie haben zugleich deutlich gemacht, daß sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft die jeweilige Gegenwart belasten können, mit Schwermut oder Sorge. Für einen modernen Anthropologen wie Arnold Gehlen 22 ist die Gegenwart nicht mehr der entscheidende Ausgangspunkt; er sieht den Menschen vom Druck der unmittelbaren Gegenwart gerade entlastet und zur umsichtigen und vorausschauenden Tätigkeit befreit: »Er ist – ein Prometheus – angewiesen auf das Entfernte, auf das Nichtgegenwärtige in

20 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Mensch und Zeithorizont

Raum und Zeit, er lebt – im Gegensatz zum Tier – für die Zukunft und nicht in der Gegenwart.«23 Ein Wesen, das wie der Mensch nach Gehlen dazu aufgerufen ist, »Ferninteressen« zu entwickeln, das wie der Mensch nach Kant die kommende Zeit zu vergegenwärtigen vermag und wie der Mensch nach Nietzsche immerfort am Vergangenen hängt, ein solches Wesen ist allgemein in ganz anderer Weise als das Tier begabt, seinen Zeithorizont zu erweitern. Zeithorizonterweiterung ist eine so verbreitete Betätigung des Menschen, daß sie an vielen Stellen als solche gar nicht auffällt. Einige einfache Beispiele aus ganz verschiedenen Bereichen des Alltagslebens sollen den Spielraum abstecken, den der Mensch bei der Ausgestaltung seines Zeithorizonts hat: – Kinder haben noch keinen besonders weiten Zeithorizont und neigen auch nicht sonderlich dazu, einen solchen zu entwikkeln, so daß die elterliche Ermahnung zur Erweiterung – bekannt unter der Formel: »Das ist später einmal wichtig für dich!« – zumeist nicht auf fruchtbaren Boden fällt. – Bei den Erwachsenen ist z. B. der Zeithorizont eines vorsorgenden Menschen (eines Sparers beispielsweise, der sich also den gegenwärtigen Konsum zugunsten eines zukünftigen versagt) recht groß, während derjenige eines Suchtabhängigen in der Regel sehr eng sein dürfte. – Bestimmte Institutionen reißen den Zeithorizont der beteiligten Menschen für Augenblicke auf, etwa wenn bei der Eheschließung die traditionelle Formulierung fällt: »bis daß der Tod euch scheidet«. – Wer ein Testament verfaßt, zeigt damit, daß ihm die Verhältnisse nach dem Lebensende nicht gleichgültig sind, d. h., er dehnt seinen Zeithorizont über den eigenen Tod hinweg aus. – Wenn die vor einigen Jahren vieldiskutierte Parole »No future!« tatsächlich einmal das Lebensgefühl einer Generation beschrieben hat, könnte man dies als eine Verweigerung von Zeithorizontausbildung begreifen. Ähnliches gilt auch für den Erwachsenen, der in den Tag hinein lebt und dem nichts daran 21 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

liegt, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie lange seine provisorische Existenzform andauern soll. – Wer ein Studium aufnimmt, hat in der Regel den Zeithorizont seiner beruflichen Lebensplanung deutlich erweitert; zugunsten von zeitlich weit entfernten Möglichkeiten leistet er einen Verzicht auf frühzeitige Berufstätigkeit und damit auf entsprechende Konsummöglichkeiten. – An der Universität gibt es heute Studierende, die erst unmittelbar bei der Anmeldung zur Abschlußprüfung auf den Gedanken kommen, sich Prüfungsthemen zu überlegen, und es gibt solche, die dies bereits während ihres Studiums mit vorausgreifendem Blick auf das Examen tun. – In der Anlagewirtschaft gibt es den in Quartalsberichten denkenden »short termism« ungeduldiger Investoren, und es gibt den in Generationen denkenden Familienunternehmer, der weiß, daß die Geschichte seines Unternehmens nicht mit ihm begonnen hat. 24 – Jedes »Wehret den Anfängen!«, das irgendwann im Verlauf der Geschichte von Philosophen, Priestern, Herrschern vertreten worden ist, zeugt von einer Perspektive, die das gegenwärtig Gegebene nicht für sich, sondern im erheblich erweiterten Horizont einer möglichen Zukunft beurteilt. – Ebenso bemühen sich vor allem Philosophen, das Gegebene aus der Vergangenheit als ein Ergebnis sehr langfristiger Entwicklungen schlüssig zu rekonstruieren. Am auffälligsten ist das Bestreben, in beide Richtungen »auf längste Sicht« zu denken 25, wohl bei Friedrich Nietzsche. – Aufrufe »Wider das Vergessen!«, Mahnmale und Gedenktage sind politische Bemühungen zur Ausdehnung des kollektiven Zeithorizonts in die Vergangenheit hinein. Was aber heißt nun »Zeithorizont« genau? Damit ist gemeint die Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus. Dabei ist wichtig zu betonen, daß der Begriff des Zeithorizonts den Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht schlicht 22 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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nivelliert (vgl. V.1). Die Gegenwart hat unter diesen das Daseinsmonopol, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht. Diese Auszeichnung der Gegenwart wird in unserem Kontext ausdrücklich berücksichtigt: Zeithorizontausbildung liegt vor, wenn das Bedenken der Vergangenheit und Zukunft einen Einfluß auf mein gegenwärtiges Denken und Handeln nimmt. Dabei ist eine hochentwickelte Zeitrechnung förderlich, aber nicht unbedingt notwendig. Uhren oder Kalender beispielsweise sind sehr nützliche Werkzeuge der Zeithorizonterweiterung, die mit ihrer Hilfe sozusagen professioneller betrieben werden kann. 26 Aber Zeithorizonterweiterung ist ebenso möglich, wenn man sich schlicht an den Erscheinungsformen von Sonne und Mond orientiert, wenn man nur in Jahreszeiten denkt (etwa auf den kommenden Frühling hofft) oder in die Vergangenheit hinein genealogische Zusammenhänge konstruiert. Zu denken wäre hier an Generationenfolgen, wie sie bei Hesiod oder in der Bibel zu finden sind. Es ist weiterhin wichtig, einer immer wieder naheliegenden Einschränkung des Begriffs entgegenzuwirken. Im Duden stößt man unter dem Stichwort »Zeithorizont« auf folgenden Eintrag: »zeitliche Grenze, bis zu der man vorausschaut, -plant; Zeitraum, den man in Betracht zieht«. 27 Die zweite Formulierung ist mit der oben angebotenen gut verträglich; die erste Bestimmung dagegen setzt einseitig auf die Zukunft und unterschlägt die andere Dimension der Zeithorizonterweiterung, die Vergangenheit. Da diese Neigung häufiger beobachtet werden kann (besonders beim ökonomischen Gebrauch des Begriffs), wird im Folgenden großer Wert darauf gelegt, daß stets möglichst beide Dimensionen zu ihrem Recht kommen. Neben dem Moment der Erweiterung darf nicht in Vergessenheit geraten: »Horizont« heißt immer auch Begrenztheit. Die Grenzmarken können zukünftige oder vergangene Ereignisse sein. Jemand plant beispielsweise, nach seiner Abschlußprüfung eine Reise zu machen; jemand dehnt mit einer Versicherung seine finanzielle Vorsorge aus bis zu seinem Begräbnis; ein Kind ver23 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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anlaßt seinen Großvater, »von früher« zu erzählen, und betreibt damit erste spielerische und zugleich biographisch begrenzte Zeithorizonterweiterung. Die Begrenztheit ist enorm wichtig. Was geschieht, wenn sie unter bestimmten Bedingungen dem Menschen genommen wird, läßt sich z. B. Viktor Frankls Analyse der provisorischen Existenz im Konzentrationslager entnehmen. 28 Das Entscheidende in seiner Darstellung des Lebensgefühls nach der Inhaftierung ist, daß es keinen Entlassungstermin gibt: Die Häftlinge leiden unter der völligen Ungewißheit darüber, ob diese Daseinsform überhaupt ihr Ende finden, und falls ja, wann dieses Ende sein würde. Das führt Frankl zufolge zum Verlust der Fähigkeit, auf die Zukunft hin zu existieren. Er vergleicht die Zeit-Erfahrung der Häftlinge mit der von tuberkulösen Sanatoriumsinsassen, wie sie Thomas Mann im »Zauberberg« schildert, die ebenfalls keinen Entlassungstermin kennen und in einer ebenso »zukunftslosen« Existenz dahinleben. Vor diesem Hintergrund sieht Frankl den Schwerpunkt der inneren Lebensform im Konzentrationslager in einer »retrospektiven Daseinsweise«. Der Zeithorizont wird sozusagen nur in die Vergangenheit ausgedehnt. Was auf der anderen Seite in der Zukunft fehlt, ist ein bestimmtes Ereignis, das als Anziehungspunkt wirken und damit die Grenze eines nach vorn zu bildenden Zeithorizonts darstellen kann; zum gezielten Psycho-Terror gehört offenbar, die Hoffnung auf eine Entlassung so diffus zu machen, daß dieses Ereignis nicht mehr als Verankerung geeignet ist. Der Terror will also das Wesen des Menschen treffen, indem er die Möglichkeit eines Entwurfs in die Zukunft hinein unterbindet. Der Zeithorizont wird so auf den Augenblick, bestenfalls auf den Tag eingeschränkt. In Primo Levis autobiographischem Roman »Ist das ein Mensch?« heißt es: »Auch dieses Heute, das uns in der Frühe noch unüberwindlich und ewig erschien, haben wir Minute für Minute hinter uns gebracht; jetzt liegt es abgeschlossen da, wird augenblicklich vergessen, ist schon kein Tag mehr, hat bei keinem eine Spur von Erinnerung hinterlassen. Wir wis24 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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sen, daß der morgige Tag geradeso sein wird wie der heutige; vielleicht regnet es ein bißchen weniger, oder vielleicht müssen wir, statt Erde auszuheben, zum Karbid, um Ziegel abzuladen. Oder morgen kann der Krieg zu Ende sein, oder wir können alle umgebracht oder in ein anderes Lager transportiert worden sein […]. Doch wer vermöchte ernstlich an morgen zu denken?« 29 Man muß diese nicht körperliche und daher weniger auffällige Gewalt gegen das Bedürfnis des Menschen nach Entfaltung eines Zeithorizontes zum Kern des modernen Terrorinstrumentariums rechnen. Absolute Macht, so erklärt Wolfgang Sofsky in seiner Studie über das Konzentrationslager, »zerstört die Kontinuität der inneren Zeit, kappt die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, sperrt die Menschen in einer ewigen Gegenwart ein. Fern davon, nur die Körper zu beherrschen, bemächtigt sie sich der biographischen Zeit und der Bewegungen des Geistes.« 30 Nur aus der streng formalen Perspektive auf das Phänomen des Zeithorizonts kann man rechtfertigen, an dieser Stelle ein Beispiel aus einem ganz andersgearteten Kontext folgen zu lassen, das ebenso wie das erste die besondere Bedeutung der Begrenztheit unterstreichen soll. Christliche Denker haben namentlich im Mittelalter ein ungeheuer ehrgeiziges Projekt verfolgt, indem sie jeden im Bereich des Vergänglichen möglichen Zeithorizont durch die Orientierung auf die Ewigkeit überboten und damit – wenn man ihre Mahnungen ernst nahm – entwerteten. In einem seit dem ausgehenden Mittelalter stark verbreiteten Werk wird dem Leser im Namen des Herrn beispielsweise eingeschärft: »Ich bin’s, der die Menschen lehrt, das Vergängliche zu verachten und das Unvergängliche hochzuachten, Ekel an dem Gegenwärtigen und Geschmack an dem Ewigen zu haben […].« 31 In der Ewigkeit aber ist keine Zeithorizontbildung möglich, weil es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt. Anders als im Falle des Häftlings, der gezielt in die Enge der Gegenwart eingesperrt wird, verliert sich der christliche Mensch in der Weite, wenn er sich an der Ewigkeit orientiert. 25 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Der Beitrag des Christentums ist allerdings vielfältig und prägt auch die alltäglich gelebte Zeit (man denke nur an die strenge zeitliche Regelung des Klosteralltags oder die Verbreitung der Zeitrechnung durch Kirchturmuhren). Besonderen Sinn für das Moment der Grenze beweist die christliche Kirche mit der Erfindung der regelmäßigen Beichte, die – ebenfalls nur unter formalen Gesichtspunkten – als ein genialer Einfall für den gekonnten Umgang mit (in diesem Fall moralisch konzipierten) Zeithorizonten angeführt werden muß: »Durch das sich immer mehr einspielende System von ›Sünde-Reue-Beichte-Buße-Absolution‹ entstand eine Gliederung der moralischen Zeit des Individuums in überschaubare Einzelabschnitte. Der Bogen der religiösen und sittlichen Anforderungen sollte qualitativ gewiß nicht geschmälert, aber zeitlich nicht überspannt werden. Es ist leichter, in einer erweiterten Gegenwart, zwischen deutlichen Zeitmarken zu leben, einen enger gezogenen Zeithorizont zu haben. Durch die wiederholte Lösung des Druckes von Schuldgefühlen erfolgte einer Befreiung des Menschen von negativer Zukunftserwartung.« 32 Zeithorizont ist oben bestimmt worden als die Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus. Der Ausdruck »Ausdehnung« in dieser Erläuterung zeigt, daß es um etwas geht, das man nicht einfach hat (wie etwa die Erinnerung oder den optischen Gesichtskreis). Den Zeithorizont muß man eigens ausbilden, man muß sich um ihn kümmern, man muß ihn pflegen; ohne entsprechende Bemühungen des Menschen bleibt es bei einer bloßen Möglichkeit. Es gibt ebenso keine Garantie dafür, daß eine einmal erreichte Kultur der Zeithorizontbildung langfristig stabil bleiben wird. Individuell müssen gewisse psychologische Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine vom Umfang her beachtenswerte dauerhafte Zeithorizonterweiterung zustande kommt. Selbstbewußtsein, Sicherheitsgefühl, Besonnenheit, Hoffnung sind hier wichtig. Wenn diese Voraussetzungen bedroht sind, wenn etwa die 26 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Mensch und Zeithorizont

Menschen in Kriegswirren froh sind, den Tag zu überstehen, und nicht an gestern oder morgen denken, dann schrumpft der Zeithorizont auf ein Minimum. Dieser Rückzug auf das zeitlich Nahe läßt sich gut an den Gedichten von Andreas Gryphius zeigen, die die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges reflektieren 33: »Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen, Mein sind die Jahre nicht, die etwa kommen möchten: Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht, So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.«

Zur Erfahrung des langen Krieges gehört für Gryphius die Unbeständigkeit alles Geschaffenen: »Was dieser baut, reißt jener morgen ein; Wo jetzund Städte stehn, wird eine Wiese sein.«

Ähnlich wie Gryphius hat auch sein Zeitgenosse Thomas Hobbes die Lage des Menschen vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung reflektiert und deren Grundzüge dann in seiner politischen Theorie radikalisiert. Der Naturzustand, von Hobbes als ein ständiger Krieg aller gegen alle konzipiert, läßt keine (positive) Zeithorizontbildung mehr zu, und daher kommen keinerlei langfristige Handlungen zustande: kein Ackerbau, keine Schiffahrt, keine anspruchsvolle Baukunst. Hier wird einerseits der enge Zusammenhang zwischen Zeithorizont und Kultur angedeutet (vgl. III.1); zugleich zeigt sich, daß in der Institution des Eigentums das Prinzip der Zeithorizonterweiterung impliziert ist. In der bürgerlichen Gesellschaft kann der Einzelne erwarten, daß er auch noch in ferner Zukunft über sein Eigentum verfügen, ja es sogar auf seine Nachfahren übertragen kann. Diese in ruhigen Zeiten unauffällige, als selbstverständlich hingenommene Aussicht bietet der durch permanenten Krieg geprägte Naturzustand nicht: »In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann.« 34 Fleiß ist hier der Einsatz für ein 27 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Gut, das als Frucht zunächst nur im Zeithorizont vorgestellt wird. Die gedankliche Vorwegnahme des Verlusts in der Erwartung instabiler Besitzverhältnisse ist rudimentäre, nur noch negative Zeithorizonterweiterung. Wiederum ganz ähnlich sieht Gryphius in der bewußten Einschränkung des Zeithorizonts ein geeignetes Mittel, um sich gegen im Krieg wahrscheinliche Verluste zu wappnen: »Auf, Herz, wach und bedenke, Daß dieser Zeit Geschenke Den Augenblick nur Dein. Was Du zuvor genossen, Ist als ein Strom verflossen, Was künftig – wessen wird es sein?«

Für das Zurückgeworfensein auf den Augenblick ist jedoch nicht nur die reine Erfahrung der bedrohten Kontinuität auf der Objektseite verantwortlich, sondern ebenso auf der Subjektseite die Schwierigkeit, angesichts der Unsicherheit der eigenen Existenz den Zustand der Besonnenheit aufrechtzuerhalten, der für Zeithorizontbildung die Voraussetzung ist. 35 Die geeignete historische Gegenfigur zu Gryphius ist in unserem Kontext Francesco Petrarca, der mit jenem die intensive Erfahrung der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen teilt, dies nun aber gerade als Ansporn begreift, in seinen Schriften einen ausgeprägten Zeithorizont in beide Richtungen auszubilden. Einerseits begibt er sich brieflich in fiktive Dialoge mit längst verstorbenen antiken Schriftstellern wie Cicero und Seneca, Horaz und Vergil 36; andererseits spricht er den Jahrhunderte später imaginierten Leser seiner eigenen Schriften in direkter Rede an: »Vielleicht hörst Du einmal etwas über mich – obwohl ein so kleiner und dunkler Name durch die vielen Jahre und Länder kaum zu dir gelangen mag –, und dann wünschest du vielleicht zu wissen, was für ein Mensch ich war und wie es meinen Werken ergangen, besonders jenen, von denen ein Gerücht zu dir drang 28 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Mensch und Zeithorizont

oder deren armen Namen du gehört hast. Die Menschen werden über mich verschieden urteilen; denn jeder spricht ja in der Regel so, wie es ihm die Lust, nicht die Wahrheit eingibt, und man hält weder im Lob noch im Tadel Maß.« 37 Petrarcas besondere Rolle in der europäischen Geistesgeschichte dürfte nicht zuletzt darin liegen, daß er vor dem Hintergrund eines außerordentlich weiten Zeithorizonts einen erstaunlichen Grad der Selbstobjektivierung erreicht. 38 So wie Petrarca sich bemüht, seine antiken Vorgänger zu beurteilen, erwartet auch er selbst, von Späteren beurteilt zu werden, d. h., er sieht sich selbst im Licht der Geschichte, mit den imaginierten Augen der Anderen. Seine weit ausgreifende Zeithorizonterweiterung in die Vergangenheit hinein führt zu einer entsprechenden Zeithorizonterweiterung in die Zukunft und weckt in Petrarca das ausgeprägte Bewußtsein, daß er – wie sein historischer Ansprechpartner Cicero – ein Rezeptionsschicksal haben wird. Das Beispiel Petrarca zeigt zugleich: Zeithorizonterweiterung ist eine Anstrengung des Menschen gegen eine doppelte Beschränktheit, gegen das Gebundensein der Wirklichkeitserfahrung an die Gegenwart und gegen die Endlichkeit der Existenz. Wir streben in unserem Denken über die Gegenwart und über unsere Lebenszeit hinaus. Das haben namentlich Autoren wie Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey zum Ausdruck gebracht, die sich im 19. Jahrhundert um eine Professionalisierung der spezifischen Zeithorizonterweiterung »Geschichtswissenschaft« bemüht haben. 39 Am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte steht eigenartigerweise das sehr persönliche Motiv der Zeithorizonterweiterung. Droysen schreibt über das Interesse an Geschichte: »Wenn wir uns diesen ihren idealen Gehalt zum Bewußtsein bringen, wenn wir uns, wie das, was ist, geworden ist, etwa in erzählender Form vergegenwärtigen, was tun wir da anders als die Geschichte zum Verständnis dessen, was ist, dessen, worin wir uns denkend, wollend, handelnd bewegen, benutzen? Das ist […] einer der Wege, das dürftige und einsame Hier und 29 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

Jetzt unseres ephemeren Daseins unermeßlich zu erweitern, zu bereichern, zu steigern.« 40 Für den Droysen in vielem nahestehenden Dilthey ist geschichtliches Verstehen eine beglückende Horizonterweiterung: »Das […] historische Bewußtsein ermöglicht dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eignen Zeit blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.« 41 Karl Jaspers stimmt in diesen Chor ein: Geschichte, dieser »weiteste Horizont der Menschheit«, befreie uns aus der »bewußtlosen Gebundenheit an das eigene Zeitalter«. 42 Man kann die Beschäftigung mit Geschichte eben auch erklären als den Versuch, eine »auf die Dimension der Zeit bezogene Platzangst« zu überwinden, nicht nur in der Gegenwart zu Hause sein zu müssen.43 An dieser Stelle ist es noch wichtig, eine aus der Sache notwendige Abgrenzung gegenüber einem interessanten Ansatz aus der neueren Geschichtstheorie vorzunehmen. Reinhart Koselleck hat mit »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« zwei Kategorien benannt, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verschränken und dadurch Geschichte und deren Erkenntnis konstituieren: »Im Medium von bestimmten Erfahrungen und von bestimmten Erwartungen zeitigt sich die konkrete Geschichte.« Am Beispiel: »Die Erfahrung der Hinrichtung Karls I. erschloß über ein Jahrhundert später den Erwartungshorizont von Turgot, als er Ludwig XVI. zu Reformen drängte, die ihn vor dem gleichen Schicksal bewahren sollten.« 44 Koselleck nutzt die Kategorien dann zur Darstellung seiner These, daß sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert. Die sich jetzt in die Zukunft erstreckenden Erwartungen lösen sich von dem ab, was alle bisherigen Erfahrungen geboten haben. Weder Kosellecks These noch die Brauchbarkeit seiner Begriffe sollen hier in Zweifel gezogen werden; wichtig ist lediglich eine kritische Klärung des Verhältnisses beider Ansätze. In Kosellecks 30 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Konzept dominiert in der Beziehung zwischen den beiden Kategorien die inhaltliche Komponente: Der Erfahrungsraum erschließt den Erwartungshorizont, d. h., das, was erfahren wurde, prägt das vor, was erwartet wird; entsprechend kommt es zu inhaltlichen Korrekturen, wenn neue Erfahrungen gemacht werden. Das Zeithorizont-Konzept ist demgegenüber formaler: Auf was sich die Aufmerksamkeit in Vergangenheit oder Zukunft richtet, ist hier nicht von Bedeutung. Gleiches gilt für die Art der Beziehung zum Vergangenen oder Künftigen (Erinnerung, Schuld, Trauer, Totenehrung, Vorfreude, Furcht, Hoffnung, Plan etc.). Die Verbindung zwischen der Zeithorizontbildung in die Vergangenheit und in die Zukunft wird dadurch gestiftet, daß beide Bemühungen von demselben Subjekt ausgehen. Und hier spielt z. B. eine Rolle, ob es einem Individuum gelingt, seinen Zeithorizont auf seine eigene – durch grundsätzlich positive Einstellung zur Zukunft im Voraus in Anspruch genommene – Lebenszeit zu erweitern. Es geht also um den Grad der Ausdehnung, einen quasi quantitativen Aspekt.

31 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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II.2 Selbstbezogene und selbstlose, lebenszeitimmanente und lebenszeittranszendente Zeithorizonterweiterung »Wird ein bedeutender Mann nicht Gesetz geben, Einrichtungen schaffen, einen Staat gründen? Was bedeutet das Zeugen von Kindern, was die Ausbreitung des Namens, was die Adoption von Söhnen, was die Sorgfalt bei der Erstellung von Testamenten, was selbst die Denkmäler und Inschriften auf den Gräbern, außer daß wir auch an die Zukunft noch denken?« Cicero 45 »Langfristigkeit ist der Finanzindustrie suspekt. Langfristig argumentieren Leute, die kurzfristig in der Patsche sitzen – Betriebsräte, die um Jobs bangen, und Manager, die Analystenerwartungen enttäuscht haben –, und darum habe ich es bis hierher mit Keynes gehalten: Langfristig sind wir alle tot.« Konstantin Richter, Bettermann. Roman 46

Den Menschen macht – wie Thomas Hobbes betont hat 47 – schon der künftige Hunger hungrig. Es geht dem so vorgreifenden Lebewesen dabei primär um den eigenen Hunger, d. h., die Zuwendung zur Zukunft dient in erster Linie dem eigenen Überlebensinteresse, zunächst und zumeist (wie Heidegger sagen würde) ist sie selbstbezogen. Der naheliegendste (aber nicht einzig mögliche) Rahmen ist die eigene Lebenszeit. Daß sich der Zeithorizont eines Menschen tatsächlich auf seine Lebenszeit bezieht, ist aber empirisch nicht die Regel. Nicolai Hartmann hat skeptisch darauf verwiesen, daß der Mensch im allgemeinen geneigt ist, sich auf das zeitlich Nahe zu beschränken, weil einerseits der Augenblick die Aufmerksamkeit stark in Anspruch nimmt und es andererseits auch eine ausgeprägte Tendenz zum trägen Sichtreibenlassen gibt. Hartmann plädiert daher für einen nüchternen, realistischen Blick: »Es ist schon viel, wenn der Mensch sich zu einer Perspektive aufschwingt, die wenigstens sein eigenes Leben überschaut.«48 Hinzu kommt nach Hartmann, daß die praktische Überschau selten über Ziele wie Wohlstand oder Glück hinaus32 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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gelangt. Dennoch bleibt die Lebenszeit das wichtigste größere Muster für die Zeithorizontbildung. Ihre eine Grenze, der Tod, ist eine Herausforderung für die Fähigkeit eines Menschen zu personaler Emanzipation und damit auch zur fortgesetzten Zeithorizontbildung (vgl. V.2). Darauf beruht die Pointe in Sigmund Freuds Musterbeispiel für Humor 49: Der Delinquent, der an einem Montag zum Galgen geführt wird, sagt: »Na, die Woche fängt ja gut an.« Freud hat bei seinen Interpretationen erstaunlicherweise das Zeitphänomen gar nicht im Blick; dabei lebt sein Beispiel davon, daß der Protagonist kurz vor dem sicheren Ende seines Lebens wie selbstverständlich und mit alltäglicher Gelassenheit einen bisher gewohnten Zeithorizont in Anspruch nimmt, der ihm eigentlich ganz gleichgültig sein müßte, weil er ihn nicht mehr erleben wird. Allerdings ist der Tod eben keine ›natürliche‹ Grenze für Zeithorizonterweiterung. Das habe ich oben bereits mit dem Beispiel des Testaments angedeutet und werde ich später noch anhand von antiken Texten ausführlicher erörtern. An dieser Stelle ist eine kurze, grundsätzliche Auseinandersetzung mit einem Wort des Ökonomen John Maynard Keynes sinnvoll, das weit über seinen ursprünglichen Kontext hinaus wirksam geworden ist und das als ein Kernargument gegen lebenszeittranszendierende Zeithorizonterweiterung angesehen werden könnte. Im Rahmen einer Theorie des Geldes spricht sich Keynes etwas unvermittelt mit eher philosophisch klingenden Worten gegen Zeithorizonterweiterung in der Wirtschaftspolitik aus: »[…] die lange Sicht ist ein schlechter Führer in bezug auf die laufenden Dinge. Auf lange Sicht sind wir alle tot.« 50 Von der langen Sicht wird hier also abgeraten, weil die gegenwärtigen Umstände – mit anderen Worten: die gegenwärtig lebenden Menschen – Maßnahmen fordern, die rasch zu einer Verbesserung der Lage führen, ganz gleich, ob sie längerfristig von Vorteil sind oder nicht. So kann man sich also legitimiert fühlen, kurzfristige Konsumanreize mit staatlichen Prämien zu schaffen, ohne auf die langfristigen Folgen für den Staatshaushalt und den betreffenden Wirtschaftszweig zu achten. 33 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Die Begründung für dieses kurzfristige Denken ohne schlechtes Gewissen liefert bei Keynes die nicht zu bestreitende Tatsache, daß wir auf lange Sicht alle tot sind. Aber was folgt aus dieser Feststellung? Kann das Faktum des Todes tatsächlich Zeithorizontverringerung rechtfertigen? »In the long run we are all dead« – steckt nicht in dem kurzen Satz von Keynes, der so überlegen und mit leichter Ironie daherkommt, ein anderer Satz, der die Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sich nach dem eigenen Ableben ereignet, deutlich häßlicher zum Ausdruck bringt: »Nach mir die Sintflut«? Keynes tut so, als ob der Tod für die zeitliche Orientierung generell das letzte Wort hätte. Der Tod ist zwar, wie gesagt, eine Herausforderung für die Fähigkeit eines Menschen zu personaler Emanzipation und damit auch zur fortgesetzten Zeithorizontbildung, aber keine natürliche Grenze. Um es mit einem extremen Beispiel deutlicher zu machen: Es ist prinzipiell möglich, sich durch personale Emanzipation sogar über die eigene Subjektivität und das eigene Dasein hinwegzusetzen, etwa wenn man sein Leben bewußt opfert wie Sophie Scholl. 51 Die Situation der Opposition in Diktaturen läßt die menschliche Möglichkeit, einen Zeithorizont jenseits des eigenen Todes zu bedenken und im aktuellen Handeln wirksam werden zu lassen, besonders deutlich hervortreten. Ernst Jünger beobachtet im September 1944, daß fanatische Vertreter des untergehenden Regimes beginnen, »eine große Anzahl von Morden auszuführen, die schon auf den Zustand nach ihrem Tode berechnet sind«. Auch wenn es zunächst nicht so wirken mag, ist dies genau genommen ein Handeln, das gerade einen engen Zeithorizont zum Ausdruck bringt, ein Handeln, das nur in entfesselter Weise die letzten Machtchancen zu nutzen sucht, ohne an irgendein Danach zu denken. 52 Jünger entwirft in seinem Tagebuch eine mögliche Reaktion auf diese Morde in letzter geschichtlicher Minute, welche die eigentliche Zeithorizonterweiterung verkörpert: »Wären sie intelligenter, so könnte man ihnen mit Seneca sagen: ›Wie viele ihr auch umbringen werdet, eure Nachfolger werden nicht unter 34 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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ihnen sein.‹« 53 Diese Antwort, aus dem Munde eines vom Tode Bedrohten, transzendiert das eigene Lebensende. Daneben ist auch – auf ganz unspektakuläre Weise – selbstbezogene Zeithorizonterweiterung über das eigene Leben hinaus möglich, und zwar in beide Richtungen: In die Vergangenheit führt z. B. das Interesse an den eigenen Vorfahren (als Gräberkult oder Ahnenforschung), in die Zukunft die Sorge um die Weitergabe des eigenen Besitzes und Vermögens, die Bemühungen um das eigene Bild in der Geschichte (Verfassen von Memoiren) oder das Streben nach Nachruhm. Einige historische Erscheinungsformen solch intensiver Zeithorizontpflege sind uns auffällig fremd geworden. So nutzen wir zwar von der Archäologie geborgene Grabbeigaben, um uns ein Bild längst vergangener Kulturen zu machen, doch fällt es in der Regel schwer, den Aufwand zu verstehen, der hier einzig für die Toten betrieben worden ist. Das wirft ein Licht auf unsere grundsätzliche Haltung zum Thema. Wenn man etwa im Falle steinzeitlicher Bestattungen die unter hohem menschlichem Einsatz erzeugten Grabbeigaben als Ausdruck intensiver Sorge um die Toten verstehen darf, reagieren wir demgegenüber eher selbstbezogen; der Tod nahestehender Menschen ist heute mehr eine psychotherapeutische Aufgabe für die Hinterbliebenen selbst (›Bewältigung‹, ›Trauerarbeit‹) als ein Appell zur Sorge um die Verstorbenen. 54 Dennoch läßt sich daran immer noch Grundsätzliches erkennen. Hans Jonas sieht in der biologischen Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit des Grabes einen Hinweis auf die transanimalische Dimension des Menschen.55 Kein Tier bestatte seine Toten oder beachte sie überhaupt weiterhin. Das im Gräberkult und sonstigen sichtbaren Formen »perpetuierte Gedenken der Verstorbenen« ist Jonas zufolge »einzigartig menschlich«. Diese Anstrengungen zeichneten sich dadurch aus, »daß sie irgendwie dem Augenschein unserer Endlichkeit Trotz bieten«. Sie sind sozusagen steingewordener Ausdruck einer Zeithorizonterweiterung: »Die bewahrende Bindung an die Vorfahren erweitert das flüchtige Jetzt des eigenen Daseins in die Kontinuität der Ge35 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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schlechterfolge.« Hier bewährt sich erneut die anthropologische These vom Menschen als Zeithorizont-Wesen (vgl. II.1). Die grundsätzlichen Möglichkeiten der Zeithorizontbildung können wiederum recht gut in der antiken Kultur studiert werden. Dieser Blick in die Geschichte ist selbst eine Zeithorizonterweiterung; als ein verborgener Vergleich macht er uns auf eine doppelte Vergessenheit unserer eigenen Kultur aufmerksam, die sich im ersten Befremdetsein bei der Begegnung mit den einschlägigen Anstrengungen des Altertums bekundet. Was die Zeithorizonterweiterung in die Vergangenheit hinein angeht, so bietet sich der Umgang der Römer mit ihren Ahnen als besonders eindrucksvolles Beispiel an. In unserem Zusammenhang können dabei natürlich nicht die Detail-Diskussionen der Forschungsliteratur verfolgt werden. 56 Wichtig ist, sich die Eigenart dieser Zeithorizonterweiterung anschaulich zu machen. Ihr Ort ist einerseits das Haus, das die Vorfahren gewissermaßen weiter mitbewohnen. Seneca spricht von denen, »die da Ahnenbilder im Atrium aufstellen und die Namen ihrer Familie in langer Reihe sowie in vielen Verzweigungen der Stammbäume miteinander verbunden im vordersten Teil ihres Hauses anbringen […].« 57 In einem der klassischen Texte zum Thema berichtet Plinius, wie mit Hilfe von Totenmasken aus Wachs für eine optische Anwesenheit der Ahnen unter den lebenden Familienmitgliedern gesorgt wird: »Anders war es bei unseren Ahnen in den Vorhallen zu sehen: keine Bilder fremder Künstler und nicht Bronze oder Marmor; die aus Wachs modellierten Gesichter waren in einzelnen Schränken verteilt, um Bilder zu haben, welche die Leichenbegängnisse edler Geschlechter begleiteten, und bei jedem Verstorbenen war stets die ganze Schar der Familie, so groß sie jemals gewesen war, zugegen.« 58 Im Todesfall verlegt man die vergegenwärtigte Vergangenheit auf die Straße und verleiht ihr noch mehr Anschaulichkeit. Der griechische Historiker Polybios beobachtet in Rom, wie die Ahnengalerie durch Mitwirkung der Lebenden zur Totenparade wird: »Wenn ein angesehenes Mitglied der Familie stirbt, führen sie [die Wachsbilder, d. V.] im Trauerzug mit; sie werden 36 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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von Personen getragen, deren Größe und Aussehen dem Verstorbenen möglichst ähnlich sein sollen. Diese tragen eine Toga mit Purpursaum, wenn sie einen Konsul oder Prätor darstellen, eine Purpurtoga, wenn es sich um einen Zensor handelt, eine Toga mit Goldsaum, wenn es um eine Person geht, die einen Triumph gefeiert oder ähnliche Taten vollbracht hat. Sie fahren auf Wagen, denen Rutenbündel und Beile und die übrigen Insignien des Amtes vorangetragen werden, je nach dem Rang des Amtes, das sie zu Lebzeiten bei ihren Mitbürgern innehatten. Wenn sie zu den rostra [Rednerbühne auf dem Forum, d. V.] gekommen sind, nehmen alle in einer Reihe auf elfenbeinernen Stühlen Platz.« 59 Alle Mitglieder der Familie, ob sie der Gegenwart oder Vergangenheit angehören, sind also anwesend. 60 Mit dieser Betonung der Kontinuität wird zugleich unter den Lebenden, die die Toten repräsentieren, das Bewußtsein des bevorstehenden Rollenwechsels geschult: Die verstorbenen maiores sind die nobiles der Vergangenheit; sie selbst, die nobiles der Gegenwart, sind die maiores der Zukunft.61 Auf der anderen Seite reichen die antiken Modelle zur Zeithorizonterweiterung in die Zukunft hinein. Diese wirken auf den abgeklärten Menschen der Gegenwart befremdlich ambitiös, weil sie aus dem Streben nach Unsterblichkeit gespeist sind. Hier lassen sich kurz gesagt zwei Modelle unterscheiden, entsprechend den anthropologischen Orientierungsmustern der Antike: Dasjenige, das den Menschen im Verhältnis zum Tier betrachtet, hebt hervor, daß sterbliche Wesen durch ihre Fortpflanzungskraft eine kollektive Ersatz-Unsterblichkeit in Gestalt der Kontinuität der Gattung gewinnen können. Dasjenige, das den Menschen eher mit den Göttern vergleicht, spornt zu einer individuellen ErsatzUnsterblichkeit in Gestalt herausragender und zu tradierender Leistungen an, die durch die Kontinuität des Kollektivs gewährleistet wird. Zur Darstellung beider Theorien bietet sich Platons »Symposion« als Ausgangspunkt an. In diesem – in entscheidenden Passagen ziemlich undialogischen – Dialog läßt Platon die weise Priesterin Diotima zunächst 37 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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ausführlich die erste Form des Unsterblichkeitsstrebens präsentieren, die auf der Erhaltung der Art im unaufhörlichen Wechsel von Entstehen und Vergehen beruht: »Wie in der Tierwelt strebt aus dem nämlichen Grunde auch die sterbliche Natur des Menschen danach, soweit wie möglich fortzudauern und ewig zu sein. Sie vermag dies aber nur dadurch, daß sie immer ein neues Junges hinterläßt für das dahinschwindende Alte. […] Denn auf diese Weise erhält sich alles sterbliche Wesen, nicht etwa dadurch, daß es schlechterdings immer dasselbe bleibt wie das Göttliche, sondern dadurch, daß das Abgehende und Veraltende stets ein anderes Neues, von gleicher Art wie es selbst, zurückläßt. Durch diese Einrichtung, Sokrates, hat das Sterbliche Anteil an der Unsterblichkeit, der Körper nicht nur, sondern auch alles andere. Auf andere Weise wäre es unmöglich. Wunder dich also nicht, wenn von Natur ein jedes Wesen seinen Sprößling in Ehren hält. Denn die Unsterblichkeit ist es, um deren willen einem jeden Wesen diese hingebende Fürsorge und Liebe anhaftet.« 62 Aristoteles hat dieses Motiv an mehreren Stellen fortgesetzt. 63 Zwar ist der Weg zur Quasi-Unsterblichkeit hier ein biologischer, der Wunsch danach ist aber ein kultureller. Es spricht viel dafür, daß der relative Erfolg der auch auf den Menschen bezogenen »Soziobiologie« unserer Tage mit ihrer saloppen Rede vom »egoistischen Gen«, das auf seine unbegrenzte Verbreitung aus ist, nur möglich war, weil die eben berührten kulturellen Motive des Fortpflanzungstrebens in Vergessenheit geraten sind. Über die zweite Form der Unsterblichkeit erfährt man von Diotima im »Symposion«, daß die Menschen so sehr von einem gewaltigen Liebesdrang nach Berühmtheit besessen seien, daß sie für unsterblichen Tatenruhm und ehrenreiches Gedenken alles tun würden.64 So seien die beeindruckenden Verhaltensweisen der Vergangenheit zu erklären, über die man immer noch spricht: Alkestis geht für Admetos in den Tod, Achill folgt Patroklos in den Tod, weil sie voraussehen, daß ihrer Taten gedacht werde. Auch wenn Platon selbst dieses Treiben vermutlich aus großer

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Zeithorizonterweiterung

Distanz gesehen hat, es spielt in seiner zeitgenössischen Umgebung offenbar eine große Rolle. 65 Uns heute ist diese Dimension weitgehend verloren gegangen. Hannah Arendt macht dafür den Einfluß des Christentums verantwortlich, der jedes Streben nach Unsterblichkeit als eitel und überflüssig erscheinen läßt. Nicht einmal der Aufstieg der Neuzeit und die damit verbundene starke Tendenz zur Säkularisierung habe ausgereicht, »um das Streben nach Unsterblichkeit, das einmal die Quelle und der Mittelpunkt der Vita activa wie der Politik überhaupt gewesen war, auch nur der Vergessenheit zu entreißen.« 66 Mit deutlichem Bedauern stellt sie fest: Die Moderne ist überhaupt außerstande gewesen, einen Raum zu konstituieren, in dem bestimmte Sachen vor dem Ruin der Zeit bewahrt werden können (vgl. III.4). 67 Die Diagnose des Verlustes verweist auf die heidnische Antike, in der Arendt einerseits ein ausgeprägteres Leiden an der Vergänglichkeit beobachtet und andererseits eine daraus resultierende sozial gestützte, echte Sorge um die Unsterblichkeit. Eine Unsterblichkeit im eigentlichen Sinne wird hier zwar nicht angestrebt (diese gilt weiterhin als wichtigstes Attribut der Götter), aber eine dem Menschen mögliche Ersatzform. Hier liegt nach Arendt die Aufgabe und mögliche Größe der Sterblichen darin, »Dinge hervorzubringen – Werke, Taten, Worte –, die es verdienen, in dem Kosmos des Immerwährenden angesiedelt zu werden« 68 Wichtig ist dabei die Vorstellung von einer Kontinuität des Publikums, das die Leistungen zu würdigen weiß; im Bewußtsein dieses Publikums lebt der Urheber der Werke und Taten weiter. So verschmilzt gewissermaßen der erweiterte Zeithorizont des Individuums mit dem der Gesellschaft: »[…] die Polis war für die Griechen – wie die res publica für die Römer – primär eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Lebens der Einzelnen, der Raum nämlich, der gegen alles nur Vergängliche geschützt und dem relativ Dauerhaften vorbehalten, also geradezu dafür bestimmt war, sterblichen Menschen Unsterblichkeit zu gewähren.« 69 Das Leiden an der Sterblichkeit for39 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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dert das Individuum dazu heraus, sich vor den Augen seiner Umgebung so auszuzeichnen, daß die den einzelnen Menschen überlebende Gesellschaft ihn als Objekt des Gedächtnisses bewahrt. 70 Für die Unsterblichkeit des Menschen sorgt hier also nicht (wie beim Tier) die Kontinuität der Gattung, sondern die Kontinuität des Kollektivs. Diejenigen, die am Zustandekommen einer solchen kulturellen Unsterblichkeit beteiligt sind, können aus ihrer Tätigkeit ein ganz besonderes Selbstbewußtsein ziehen. Der griechische Dichter Pindar steht am ehesten für Hannah Arendts Bild der heidnischen Antike. Pindar entdeckt, daß sein Rühmen von Siegern in sportlichen Wettkämpfen – das deren Namen tatsächlich für mehr als 2500 Jahre bewahrt hat – mehr Dauerhaftigkeit zu verbürgen vermag als die stabilsten Bauwerke, die alle den widrigen Naturgewalten ausgesetzt sind. 71 Ein so flüchtig wirkender Gegenstand wie ein Gedicht ist in der Kontinuitätsstiftung einem Gebilde aus massivem Stein überlegen. Dieses Bewußtsein hat auch noch Horaz: »Errichtet habe ich ein Monument, das Erz überdauert, das den majestätischen Bau der Pyramiden überragt, welches nicht der nagende Regen noch der Nordwind zügellos vermag zu zerstören oder unzählbar der Jahre Folgen und der Zeiten Flucht.« 72

Zuletzt ist damit die selbstbezogene, lebenszeittranszendierende Zeithorizonterweiterung betrachtet worden. Noch aufschlußreicher für unseren Zusammenhang wird es, wenn man den Menschen im Verhältnis zu seinen eigenen Nachkommen betrachtet. Hier gibt es zunächst auch noch eine selbstbezogene Variante. So führt Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« (I, 11) den Mangel wohlgeratener Nachkommenschaft als einen der Gründe an, die das Lebensglück verkümmern lassen. Hat aber das Glück seiner Nachkommenschaft auch einen Einfluß auf das Glück eines Menschen, der sein Leben bereits vollendet hat? In seiner Ant40 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizonterweiterung

wort legt Aristoteles einerseits Wert auf eine Begrenzung: Er hält es für unsinnig, wenn auch der Tote sich mit dem Leben seiner Nachkommen zusammen verändern sollte, bald glücklich wäre, bald unglücklich. Ebenso unsinnig wäre es allerdings auch, wenn nicht für eine gewisse Zeit die Schicksale der Nachkommen die Eltern berühren sollten. Aristoteles betrachtet es als lieblos und der allgemeinen Anschauung zuwiderlaufend, wenn man das Schicksal der Nachkommen überhaupt nicht berücksichtigt für die Bewertung des Lebensglücks eines Menschen. Ungewöhnlich erscheint uns heute, daß hier der Zeithorizont unabhängig von seiner Erfahrbarkeit durch das Referenzsubjekt (die bereits gestorbenen Eltern der Nachkommen) festgelegt wird; das Lebensglück ist offenbar auch nicht auf eine Selbsteinschätzung dieser Personen angewiesen, sondern kann nach deren Tod durch Zeitgenossen der Nachfahren beurteilt werden. Diese Form der Zeithorizonterweiterung, man mag sie für plausibel halten oder nicht, bleibt aber immer noch ganz auf den betreffenden Erzeuger der Nachkommen bezogen. Die Zukunft der Nachgeborenen im eigentlichen Sinne und damit die nicht selbstbezogene, lebenszeittranszendierende Haltung kommt erst ins Spiel, wenn man sich mit Cicero dem Thema der Verantwortung für die Zukunft zuwendet. Diese Überlegungen sind eingebettet in die eben beschriebene römische Kultur der Zeithorizonterweiterung vor allem nach rückwärts in Gestalt des Ahnenkults. Cicero ergänzt diese Tendenz nun durch die Richtung auf die Nachgeborenen. In seiner Schrift über das Alter (De senectute) spricht er über Leute, die sich mit Dingen abmühen, von denen sie wissen, daß sie ihnen nicht zugute kommen werden. Er nutzt hier ein literarisches Beispiel: »›Da pflanzt er Bäume, die einem anderen Jahrhundert Nutzen bringen‹, wie unser Statius in den Synepheben sagt. Der Bauer aber, mag er noch so alt sein, zögert nicht, auf die Frage, für wen er säe, zu antworten: ›Für die unsterblichen Götter, nach deren Willen ich das nicht nur von den Vorfahren erhalten, sondern auch den Nachkommen weitergeben sollte.‹« 73 41 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

Ciceros wichtige Bemerkung soll im Folgenden von zwei Seiten her näher untersucht werden. Zunächst steht der Baum im Mittelpunkt, dann das Handeln des Bauern. 1.) Der konkrete Gegenstand der Bemühungen hat hier eine besondere Bedeutung: Bäume sind Lebewesen, die dem Menschen durch ihre Lebensdauer auffallen; sie kann diejenige des Menschen ganz erheblich übersteigen, d. h. die Beschäftigung mit Bäumen erweitert schon auf sozusagen natürliche Weise den menschlichen Zeithorizont. Bäume sind daher die geeigneten Lehrmeister für eine nicht mehr selbstbezogene, sondern selbstlose Einstellung zur Zukunft der Nachgeborenen. Der Umgang mit Bäumen kann die geistigen Grundlagen des Generationenverhältnisses anschaulich machen. 74 Ciceros Baum-Beispiel erlaubt darüber hinaus einen Perspektivenwechsel im Verhältnis der Generationen, der das Motiv erst vollständig zu erkennen gibt. Der Baum sei hier symbolisch gefaßt, die Intention des Menschen als eine ideale genommen. Dann läßt sich sagen: Wer heute einen Baum pflanzt, denkt dabei an die Nachfahren. Umgekehrt kann man verlangen: Wer heute einen Baum gepflanzt vorfindet, sollte dabei an die Vorfahren denken. An diese doppelte Perspektive erinnert Ernst Jünger in seinem Essay »Der Baum« unter besonderer Berücksichtigung des Phänomens Zeithorizont: »Wer einen Baum pflanzt, denkt für Enkel und Urenkel mit. Dazu gehört ein über den täglichen Verzehr und die schnelle Nutzung, auch über das eigene Leben und Sterben hinauswirkender sorgender Sinn. Er waltet fort; wir fühlen ihn in der Ruhe, dem Frieden, der uns in einem alten Park beglückt. Die Ahnen haben an uns gedacht.« 75 Der Baum als Schule der Zeithorizonterweiterung – dieser Blickwinkel hat seine Evidenz, wenn man sich erst einmal mit ihm vertraut gemacht hat, er ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis einer kulturellen Aufmerksamkeitslenkung. Bezeichnenderweise unter Rückgriff auf das Baum-Motiv wird die selbstlose, lebenszeittranszendierende Einstellung in den Diskussionen der Gegenwart wieder beschworen: »Unsere Vor42 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizonterweiterung

väter wußten, daß man Bäume für seine Enkel und Urenkel pflanzt. Diese Haltung müssen wir wieder lernen.« 76 Was der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hier in der demographischen Debatte von heute als wiederzuerwerbende Grundhaltung empfiehlt, muß zunächst einmal als Verlust anerkannt werden. Verantwortung für die Nachkommen konnte vielleicht in der Antike so motiviert werden, wie Cicero es tut. Beim Schritt in die Moderne ergeben sich mindestens zwei Probleme. Problem 1: Der Bauer bei Cicero beruft sich auf den Willen der unsterblichen Götter. Eine solche Instanz steht uns nicht mehr zur Verfügung, wenn wir die gesellschaftliche Realität berücksichtigen wollen. Daher stellt sich die Frage: Gibt es eine säkulare Grundlage für einen Verpflichtungszusammenhang der Generationen? Diese schwierige Frage wird im Folgenden allerdings nur unter dem Aspekt des Zeithorizontes behandelt werden. 77 Problem 2: Es ist kein Zufall, daß die agrarisch geprägte römische Kultur gerade die Figur eines säenden Bauern in den Mittelpunkt stellt (aus dem Ackerbau stammt z. B. auch der Begriff »cultura«78). Für uns heute gilt dagegen: Die Leit-Modelle für Prozesse des individuellen und gesellschaftlichen Lebens stammen nicht mehr aus dem agrarischen Bereich, der anschaulich und unmittelbar überzeugend mit der Notwendigkeit langfristigen Denkens vertraut machte. 79 Man kann in diesem Zusammenhang die These wagen: Das von vornherein langfristiger konzipierte Modell »Säen und Ernten« ist heute ersetzt durch das dynamische Modell »Input und Output«. In diesem (wesentlich ungeduldigeren) Denkmuster ist eine selbstlose Zeithorizonterweiterung nicht mehr ohne weiteres enthalten. Die Bedeutung der Ungeduld zeigt sich konkret auch an anderer Stelle im Umgang mit der Pflanzenwelt. Sensible konservative Kulturkritiker haben schon früh an den Veränderungen in der Gartenkultur Anzeichen für einen weitreichenden gesellschaftlichen Wandel entdeckt: »Im Verschwinden des Baumes aus unserer Landschaft und in der Ablösung des zeitbrauchenden Schattenspenders durch schnellwüchsiges Klettergehölz kommt das 43 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

Mißtrauen in die Gegenwart zum Ausdruck und das Gewappnetsein auf konvulsivische Veränderungen der Zustände.« 80 Ob man dem auffälligen Wechsel der Vegetationsvorlieben tatsächlich einen solchen Zeithorizont, der mit negativen Erwartungen über die Gegenwart hinausreicht, zubilligen sollte, bleibt fraglich. Es kann auch die simple Ungeduld dafür verantwortlich sein, daß in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Pflanze wie Cotoneaster so beliebt war, weil sie in kürzester Zeit freie Bodenfläche mit pflegeleichtem Grün bedeckte. Und Ungeduld ist nur ein anderes Wort für die Weigerung, sich auf einen größeren Zeithorizont einzulassen. 2.) Das Handeln des für die Nachwelt pflanzenden Bauern: Daß hier ein Musterbeispiel für selbstlose lebenszeittranszendierende Zeithorizonterweiterung vorliegt, wird deutlicher, wenn man zum Vergleich eine moderne Variation der Cicero-Anekdote heranzieht, die auf den ersten Blick verblüffend ähnlich wirkt, doch bei genauerer Betrachtung aufschlußreiche Differenzen offenbart. In Nikos Kazantzakis’ Roman »Alexis Sorbas« berichtet nämlich die Hauptfigur: »Eines Tages kam ich in ein kleines Dorf. Ein steinalter Greis von neunzig Jahren pflanzte einen Mandelbaum. ›He, Großväterchen‹, sagte ich ihm, ›du pflanzt einen Mandelbaum?‹ Er, in seiner gebückten Stellung, wandte sich zu mir um und sagte: ›Ich, mein Sohn, handle so, als wäre ich unsterblich!‹ ›Und ich‹, erwiderte ich ihm, ›handle so, als müßte ich jeden Augenblick sterben.‹« 81 Anders als bei Cicero findet hier ein Dialog statt, in dem zwei verschiedene Ansichten aufeinandertreffen. Beide Positionen, die des pflanzenden Alten und ebenso die der Titelfigur, heben sich deutlich von der Einstellung des Bauern bei Cicero ab. Den Romanfiguren von Kazantzakis fehlt vor allem jede Einbettung in den Generationenzusammenhang, das Denken an die Vorfahren und die Nachfahren. Sie haben eine nur individuelle Perspektive, die sich jeweils im Angesicht der Sterblichkeit herausbildet. Der alte Bauer, mit dem Sorbas spricht, erweitert zwar seinen Zeithorizont in geradezu kühner Weise, indem er offenbar glaubt, 44 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizonterweiterung

die Früchte des Mandelbaumes noch selbst genießen zu können. Er bleibt dabei aber ganz auf seinen eigenen Nutzen bezogen, d. h., er betreibt lediglich selbstbezogene lebenszeitimmanente Zeithorizonterweiterung. Wenn der Bauer sich selbst Unsterblichkeit suggeriert, maßt er sich zudem einen Status an, der bei Cicero den Göttern vorbehalten war. Alexis Sorbas wiederum, der beteuert, so zu handeln, als ob er jeden Augenblick sterben müßte, verzichtet dadurch auf die für Zeithorizontausbildung erforderliche Illusion, daß ein (wenn auch unbestimmt beschränkter) Spielraum zukünftiger Gestaltung vorhanden ist. In dem von Sorbas beanspruchten Bewußtsein, jederzeit sterben zu müssen, ist so etwas wie die herkömmliche lebenszeitimmanente Zeithorizonterweiterung (z. B. das Planen des nächsten Tages) nicht sinnvoll. Befreit von den üblichen Mühen um Zeithorizonte, scheint diese Figur in besonderer Weise dazu imstande zu sein, das Leben zu genießen, weil sie für die Lebenslust in der Gegenwart aufgeschlossen ist. Ganz ähnlich wie Sorbas wirkt in dieser Hinsicht der ärmlich gekleidete Fischer in Heinrich Bölls »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral«, der sich unbeeindruckt zeigt von den Versuchen des in seine ruhige Welt einbrechenden Touristen, ihn zu einem größeren Zeithorizont zu überreden.82 Dieser Fischer deckt nur den Bedarf des Tages und ist damit zufrieden, denn auch zusätzliche und langfristig angelegte Arbeit könnte ihm am Ende nicht mehr bieten als das, was er ohnehin schon tut, nämlich beruhigt im Hafen zu sitzen und in der Sonne zu dösen. Der Tourist bei Böll, der nur im Urlaub seine verborgene Sehnsucht nach Pausen von der anstrengenden Zeithorizonterweiterung ausleben kann, lernt wiederum etwas über die Gefahr, durch Zeithorizonterweiterung über die Gegenwart hinweg zu leben. Daß die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart ein berechtigtes Anliegen ist, sich aber auch in eine Kultur der Zeithorizonterweiterung integrieren läßt, soll später ausführlicher gezeigt werden (vgl. VI.). Die Texte von Kazantzakis und Böll setzen nicht die antike 45 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont – Eine Einführung

Tradition der selbstlosen lebenszeittranszendenten Zeithorizonterweiterung fort, sie machen vielmehr auf Probleme aufmerksam, die der moderne Mensch mit seinem Zeithorizont haben kann. Insbesondere die enorme Beachtung, die die Geschichte von »Alexis Sorbas« weltweit gefunden hat, muß eine Untersuchung herausfordern, die sich um das Thema Zeithorizont bemüht. Von hier aus gesehen stellt Kazantzakis in seinem Roman ein mittlerweile etabliertes kulturkritisches Motiv dar, die Faszination durch die Figur des Kind gebliebenen Erwachsenen, der wie Sorbas nur im Hier und Jetzt lebt und jeden Tag alles mit Erstaunen wie zum ersten Mal sieht. 83 Der sympathische Zeithorizont-Barbar ist sozusagen eine ständige Versuchung für den müde gewordenen Vertreter der Spätkultur.

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III. Zeithorizont und Kultur

III.1 Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario »Wenn man sich nicht dem unvorhersehbaren, willkürlichen Spiel von Stimmungen und Launen, einem regel- und ziellosen Dahintreiben überlassen, wenn man nicht zeitlich von der Hand in den Mund lebend von Augenblick zu Augenblick springen wollte, mußte man uhren- und kalendermäßige Zeiteinteilung nutzen.« Rudolf Wendorff 84 »Unsere Pflicht gegen die Vergangenheit bis zur Reconstruction vergangener Geisteshorizonte Nur Barbaren verzichten darauf. – Barbarei = Geschichtslosigkeit.« Jacob Burckhardt85

Der berühmteste Schiffbrüchige der Weltliteratur, Robinson Crusoe, geht bemerkenswert planvoll vor. Nachdem er eine Reihe von Maßnahmen zur Sicherung seines Lebensunterhaltes getroffen hat, die bereits von besonderem Weitblick zeugen, geht er als nächstes daran, seine Lage zeitlich zu ordnen. 86 Sein Zeithorizont ist durch die Erinnerung an das Leben in der Kultur einerseits und durch die Hoffnung auf das Ereignis der Rettung andererseits bestimmt. Die ersehnte Rückkehr ist jedoch zeitlich vollkommen unbestimmt. Das dadurch entstehende problematische Einstweilen kann Robinson Crusoe nicht ertragen. Er entwickelt mit den vorhandenen Mitteln für sein Insel-Dasein einen Kalender, der es ihm ermöglicht, sich auch über eine sehr lange Frist mit der verlorenen Kultur zu synchronisieren. Die in seiner Vergangenheit von der ganzen Gesellschaft gemeinsam getragene Zeitrechnung 47 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

soll – von ihm allein fortgesetzt – im nahtlosen Anschluß seine kulturelle Wiedereingliederung in der Zukunft vorbereiten. Vor allem im Umgang mit der Zeit erweist sich Robinson Crusoe in der unfreiwilligen Trennung von der Kultur als deren treuester Adept. Die fiktionalen Berichte über das Überleben auf einsamen Inseln werden unterschätzt, wenn man sie nur als Abenteuerliteratur für Kinder wahrnimmt. Das Verschlagensein auf eine einsame Insel ist vielmehr eine paradigmatische Situation, die die Gretchenfrage nach dem Verhältnis zur Kultur aufwirft. Kein literarischer Text führt dies eindrucksvoller vor als William Goldings Roman »Herr der Fliegen« 87, der es verdient, eine philosophische Parabel genannt zu werden. Das Szenario ist folgendes: Nur eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Schülern kann sich nach einem Flugzeugabsturz auf eine unbewohnte Insel im Pazifik retten. Erwachsene, die als Traditionsträger und Normwächter in das Geschehen eingreifen könnten, fehlen vollständig. Philosophisch kann man den Text einerseits lesen als eine Veranschaulichung von Arnold Gehlens These, daß die Kultur das nicht Selbstverständliche, das stets Bedrohte und immer Unwahrscheinliche sei, weil das Instinktleben des Menschen eine natürliche Instabilität besitze: »Wenn die äußeren Sicherungen und Stabilisierungen, die in den festen Traditionen liegen, entfallen und mit abgebaut werden, dann wird unser Verhalten entformt, affektbestimmt, triebhaft, unberechenbar, unzuverlässig. […] Die Bewegungen nach dem Verfall zu sind stets natürlich und wahrscheinlich, die Bewegungen nach der Größe, dem Anspruchsvollen und Kategorischen hin sind stets erzwungen, mühsam und unwahrscheinlich. Das Chaos ist ganz im Sinne ältester Mythen vorauszusetzen und natürlich, der Kosmos ist göttlich und gefährdet.« 88 William Golding nutzt die Insel-Situation anders als sein Vorgänger Defoe; er schafft durch die Isolation einer besonderen Altersgruppe eine gesellschaftliche Laborsituation, in der eine relativ rasche Befreiung vom kulturellen Korsett plausibel werden 48 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario

kann, weil der Habitus der Versuchspersonen noch nicht gefestigt genug ist. Deshalb muß der Autor eine Gruppe von Jungen und nicht von Erwachsenen auf der Insel aussetzen. 89 »Wir haben keinen Halt mehr, und alles geht bergab. Zu Hause waren immer Erwachsene«, klagt einer aus der kleinen Fraktion der Kulturbewahrer (132). Die Gruppe entzweit sich abstrakt gesagt über der Frage, welche Rolle die bisherige Kultur spielen soll. Die einen fordern zunächst ganz selbstverständlich, dann zunehmend verzweifelt die fortgesetzte Geltung der bisherigen Normen, während die anderen in der allmählichen Befreiung von ihnen sich auszuleben lernen. Eine der ersten Maßnahmen auf der Insel ist zwar eine für alle verbindliche Regelung des Rederechts vor der gesamten Gruppe (durch Besitz und Weitergabe einer großen Muschel); doch diese zentrale Institution verliert im Laufe der Auseinandersetzungen sehr schnell ihre Überzeugungskraft und macht dem puren Anspruch der Stärke Platz (47 f., 64, 123, 128 f., 143, 211). An die Stelle der anfänglichen Beratungen tritt ohnehin immer mehr das gemeinschaftsstiftende Ritual des Singens und rhythmischen Tanzens. Wo zunächst noch vernünftige Überlegungen walten, herrschen bald immer stärker Gefühle; vor allem Angst, Haß, Zorn und Scham sind die Grundaffekte, die das Leben der Jungen bestimmen. Schließlich wird auch das bisher durch die Zivilisation aufrechterhaltene Tötungstabu unter den neuen Bedingungen gebrochen. Im Verhalten und im Aussehen nähern sich die Menschen den Tieren an (125, 128, 130), mehr und mehr wird »Wildheit« zum Problem (207, 230, 237 f., 241, 250); das Bemühen, etwa den alten Standard an körperlicher Sauberkeit aufrechtzuerhalten, ist kaum noch vorhanden. Das rasche Abbröckeln der Kultur zeigt sich in Goldings Roman auch daran, daß es trotz frühzeitiger Ermahnungen einzelner Kulturbewahrer bis zum Schluß nicht gelingt, die genaue Zahl der Geretteten zu ermitteln. Am Ende des Romans richtet sich das Erstaunen des erwachsenen Retters gerade darauf, daß hier eine

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Zeithorizont und Kultur

Gruppe von Menschen überlebt hat, die ihre eigene Anzahl nicht kennt (20, 65, 121, 281). So weit könnte man den Text mit Arnold Gehlen als eine Parabel auf die Bedrohtheit und Bewahrungsbedürftigkeit von Kultur lesen. Das eigentliche philosophische Thema des Romans ist jedoch der Konflikt zweier grundverschiedener Zeithorizont-Konzepte, personifiziert in zwei älteren Jungen, die beide einen Führungsanspruch erheben. Am Umgang mit dem Feuer, dem alten Symbol der Kultur, scheiden sich die Geister der Jungen. Das Feuer fordert die besondere Aufmerksamkeit des Menschen, nur mit Disziplin und Organisation kann es dauerhaft unterhalten werden. Doch zu welchem Zweck soll man diese Anstrengung auf sich nehmen: Dient das Feuer der Nahrungszubereitung oder ist es Rettungssignal? 90 Darin stecken die miteinander unvereinbaren Zeithorizont-Konzepte, die den Konflikt aus dem Hintergrund nähren. So wie in der Gruppe der Zivilisations-Apologeten die Vergangenheit mit ihren Regeln weiterhin maßgeblich bleibt, so ist es auch die Zukunft mit der Aussicht auf Rettung, die das Handeln in der Gegenwart bestimmt. Hier besteht ein Interesse am früheren Leben, weil dieses auch wieder das zukünftige sein soll. Nur diese Gruppe macht sich klar, daß es sehr lange dauern kann, daß man vielleicht auf der Insel alt werden wird oder gar sterben muß (19, 49, 131, 248 f.). Die anderen weichen entsprechenden Mahnungen kurzsichtig aus: »Wir haben noch so viel Zeit!« (151). Wichtig ist vor allem die fundamentale Differenz im Verhältnis zur Gegenwart. Während für die Apologeten der Zivilisation, die in Erinnerungen oder in Hoffnungen leben, die Gegenwart nur ein Übergang ist, bietet diese ihren Antipoden, den Schwärmern für die Barbarei, intensive Erfüllung (z. B. den Reiz des Tötens); das Leben besteht hier nicht aus Sehnsucht nach den früheren Umständen und ebensowenig aus leerem Warten auf ein zeitlich ganz unbestimmtes Ereignis, sondern aus Jagen, Essen, Feiern. Es ist kein Leben für die künftige Rettung, sondern ein Leben für den Tag. Der Zeithorizont überschreitet dieses Tages50 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario

maß gar nicht mehr, während er im Falle der Heimkehrwilligen zwischen Vergangenheit und Zukunft auf das äußerste angespannt ist. Die Ausnahmesituation zwingt diese Gruppe von Jungen zu einer für ihr Alter ganz ungewöhnlichen Zeithorizontbildung. Auf der anderen Seite erleben sie Altersgenossen, die ganz in ihrem Jäger-Dasein aufgehen und nicht einmal die Langzeitperspektive eines Bauern erreichen. Für die Zeithorizont-Konzepte beider Gruppen aus Goldings Roman lassen sich philosophische Vertreter finden. So gehört das Dem-Tag-Hingegebensein als Motiv zum festen Repertoire moderner Kulturkritik, die einen ausgeprägten Sinn für den Umgang mit der Zeit hat. Rousseau, der sich in dieser Hinsicht tatsächlich an einem Modell eines »Naturmenschen« orientiert, empfiehlt: »Nur in einer Beziehung wäre ich konsequent: wenn ich das eine tue, kümmere ich mich um nichts anderes, und jeden Tag lebte ich so, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen.« 91 Er beschließt, die unruhestiftende Zeithorizontbildung in die Zukunft hinein aufzugeben und gelassen in den Tag hinein zu leben. 92 In seiner Selbstdarstellung heißt es: »Der Augenblick, in dem er jedem Glücksprojekt entsagte, um dem Tag zu leben, und seine Uhr wegwarf, war einer der süßesten seines Lebens.« 93 Mit dem Abschied von Projekten ist der als befreiend empfundene Verzicht auf Zeithorizonterweiterung verbunden. Rousseau zufolge genießt der Naturmensch ganz ähnlich »sich selbst und sein Dasein, ohne sich groß um das zu kümmern, was die Menschen davon denken, und ohne große Sorge um die Zukunft«. 94 Beim allmählichen Verlassen des Naturzustandes bilden sich Rousseau zufolge zwar Vorstellungen von wechselseitigen Verbindlichkeiten zwischen Menschen, aber diese bleiben auf gegenwärtige und unmittelbar wahrnehmbare Interessen eingeschränkt: »Denn die Voraussicht bedeutete nichts für sie, und weit davon entfernt, sich mit einer fernen Zukunft zu beschäftigen, dachten sie nicht einmal an den nächsten Tag.« 95 Entsprechend gibt es in der Philosophie auch die andere Gruppe, die Kultur-Apologeten. Schon vor Rousseau vergleicht bei51 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

spielsweise Montesquieu die Kurzsichtigkeit despotischer Herrscher mit dem Verhalten gegenwartsbezogener »Naturmenschen«. Er stützt sich dabei auf Briefe europäischer Jesuiten aus der Neuen Welt, die von einem angeblich außerordentlich beschränkten Zeithorizont amerikanischer Ureinwohner berichten: »Wenn die Wilden von Louisiana Früchte haben wollen, schlagen sie den Baum an der Wurzel ab und pflücken die Früchte.« 96 Konkret kehrt die bei Rousseau mit positiver Wertung geschilderte Figur des in der Gegenwart aufgehenden »Kariben« dann bei Kant wieder, jedoch in ganz anderem Licht: »In den Tag hinein (ohne Vorsicht und Besorgniß) leben, macht zwar dem Verstande des Menschen eben nicht viel Ehre; wie dem Caraiben, der des Morgens seine Hangmatte verkauft und des Abends darüber betreten ist, daß er nicht weiß, wie er des Nachts schlafen wird.« 97 Kant geht dabei noch ganz sicher davon aus, daß der Mensch auf diese Weise seine Bestimmung, ein Kulturwesen zu werden, verfehlt. Etwas weniger voraussetzungsvoll wird man sagen können, daß Zeithorizonterweiterung sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft ein Kennzeichen der uns bekannten historischen Hochkulturen darstellt. Und die Analyse des literarischen Textes von Golding kann darüber hinaus die These veranschaulichen (nicht begründen), daß der Abbau von Kultur zu einem wesentlichen Teil in Zeithorizontverminderung besteht. Aus der Perspektive einer Anthropologie des Zeithorizonts kann man sogar die These wagen: Der Mensch steht immer in der Gefahr, auf den Status jenes »Eintagswesens« zurückzufallen, das als ein vieldeutiges Bild das anthropologische Denken in der Antike in Atem gehalten hat. 98 Damit ist zugleich auch ein zentrales Motiv in anderen literarischen Texten des 20. Jahrhunderts angesprochen; die Sorge um ein erreichtes Niveau der Zeithorizontausbildung bewegt die moderne Kulturkritik. 99 Umgekehrt ist es möglich, so etwas wie »kulturellen Fortschritt« mit Zeithorizonterweiterung zu verbinden. Im 19. Jahrhundert beschäftigt sich der Kulturhistoriker Victor Hehn mit der Frage: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem allmähli52 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario

chen Seßhaftwerden des Menschen und den Pflanzen, die er zu seinem Lebensunterhalt anbaut? Hehn interessiert sich für den Übergang vom unsteten Hirtenleben zur festen Ansiedelung, der viele Zwischenstufen aufweist. In seinem Standardwerk über »Kulturpflanzen und Haustiere« unterscheidet er diese Zwischenstufen nach der Art der jeweils kultivierten Pflanzen und den damit verbundenen menschlichen Zeithorizonten. Über den Zeithorizont auf den ersten Stufen des Ackerbaus bemerkt Hehn: »Die Voraussicht ist keine lange, sie geht nur vom Frühling auf den Herbst. Einen bedeutenden Schritt weiter bezeichnet schon die Wintersaat, aber den entscheidenden erst die Baumzucht. Erst mit der letzteren ging das Gefühl örtlicher Heimat und der Begriff des Eigentums auf. Der Baum muß Jahre lang erzogen und getränkt werden, ehe er Frucht gibt.« 100 Für Hehn erreicht die menschliche Kultur in der pflanzlichen Kultur des Weines, der Feige und des Ölbaumes einen Höhepunkt, weil der Mensch hier über viele Jahre erst Pflege investieren muß, ehe er einen Ertrag erwarten kann. In unseren Breiten könnte man an den Walnußbaum denken, der erst ab einem Alter von ca. 15 Jahren Früchte zu tragen beginnt und erst von seinem vierten Lebensjahrzehnt an gute Erträge erwarten läßt. Das Verhältnis einer Gesellschaft zum Baum ist wahrscheinlich einer der besten Indikatoren für den Stand der Zeithorizontkultur. So zeigt sich ein Rückschritt zu kleineren Zeithorizonten im nach wie vor aktuellen Wandel der Waldwirtschaft, den Wilhelm Heinrich Riehl schon Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet und bedauert: »Deutschland hat durch die in neuerer Zeit aus Gründen der Not oder kurzblickender Finanzweisheit immer weiter getriebene künstliche Umwandlung des stolzen Laubholzhochwaldes in kurzlebige Nadelwälder mindestens ebensoviel von seinem eigentümlichen Waldcharakter verloren als durch die völlige Rodung ungeheurer Waldflächen.« 101 Daß kurzfristiges Handeln aus der Not geboren sein kann, merkt Riehl ausdrücklich an. Für eine Wohlstandsgesellschaft hingegen, in der die »Finanzweisheit« tonangebend ist, dürfte dies keine 53 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

Entschuldigung sein, zumal man hier den Bedarf an langwachsenden Gehölzen einfach durch den Import deckt, der auf natürliche Bestände in anderen Teilen der Welt zurückgreift, solange diese noch vorhanden sind. Warum sollten aber die aristokratischen Wirtschaftsbedingungen, die Riehl als Grundlage für langfristiges Handeln annimmt, nicht auf eine bürgerliche Wohlstandsgesellschaft übertragbar sein? Riehl schreibt: »Das wertvollste, anderswie durchaus noch nicht zu ersetzende Werkholz der wuchtigen Eichen- und Buchenstämme, dieser eigenste Schatz des Waldes, kann nur da erzielt werden, wo eine reiche Körperschaft, die hundert Jahre lang auf Zinsen warten kann, den Waldbau betreibt.« 102 Auf der anderen Seite ist eine langfristig angelegte Kultur der Baumzucht auch besonders bedroht, beispielsweise durch mit weitem Zeithorizont vorgenommene gezielte Zerstörungen. Jacob Burckhardt beschreibt in seiner »Griechischen Kulturgeschichte« zunächst spätere Auseinandersetzungen, in denen das Fällen der Bäume wenigstens noch mit einem konkreten Zweck verbunden ist (das Holz soll an anderer Stelle zum Bauen dienen), um dann auf die eigentlichen Frevel zu kommen: »Bei den Griechen dagegen macht man ganze Generationen wütend durch die Ausrottung namentlich des so langsam wachsenden Ölbaumes. Einsichtige wußten, daß das Umhauen der Bäume, überhaupt alles, was über die Zernichtung einer Jahresernte hinausgehe, nicht Entmutigung, sondern ganz unversöhnliche Erbitterung pflanze.« 103 Der Anschlag auf die Baumzucht trifft eine Kultur in ihrem Zentrum, dem generationenübergreifenden Zeithorizont, und erschwert so Versöhnung und Frieden für lange Zeit. So suggestiv das Symbol des Baumes als einer ersten ›Immobilie‹ des Menschen sein mag, entscheidend bleibt historisch die umfassende und fundamentale Zeithorizonterweiterung, die am Ende der Jäger- und Sammlerphase den Umgang gleich mit einer Vielzahl von Nahrungsquellen verändert. Wenn Menschen dazu übergehen, das ganz in der Gegenwart verhaftete bloße Aneignen des Gegebenen durch das planmäßige Anbauen und spätere Ernten zu ersetzen und ebenso die Ungewißheiten und Zufälligkeiten 54 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizontbildung abseits der Kultur: Das Insel-Szenario

des Jagens durch die langfristige Zucht von Tieren abzulösen, dann gehört zu den Voraussetzungen dieses Vorgangs auch ein gänzlich neuer Zeithorizont: »Der Wunsch, über die Bildung und Verteilung lebender Fleischvorräte frei verfügen zu können, führte zur Domestikation und zur Viehhaltung. Die Preisgabe einer rein jägerischen Einstellung dem fleischspendenden Tier gegenüber ist der Ausdruck einer tiefgreifenden Wandlung der gesamten Lebenshaltung, die primär nicht auf ökonomischen Motiven beruht, sondern im Bereich des Geistigen und des Bewußtseins wurzelt.« 104 Es wäre sinnvoll, in das Konzept der »neolithischen Revolution« ausdrücklicher als bisher die Zeithorizonterweiterung aufzunehmen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Wer sich an einem bestimmten Ort niederläßt und dort mit einigem Aufwand dauerhaft günstige Aufenthaltsbedingungen für sich schafft, hat bereits einen größeren Zeithorizont gebildet, seine Entscheidung ist aber zugleich die Grundlage für eine Fülle weiterer Maßnahmen dieser Art. 105 Es liegt nahe, Seßhaftigkeit überhaupt als die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung einer Zeithorizontkultur zu verstehen. 106 Den Auftakt dieses Abschnittes bildete der Blick auf eine philosophische Parabel, die den dramatischen Verlust eines Zeithorizontniveaus thematisiert. Das Ziel unserer Betrachtungen über das Verhältnis des Menschen zur Zeit zwischen Natur und Kultur war es, an Zeithorizonterweiterung als unauffällige, aber folgenreiche Kulturleistung zu erinnern. Praktische Konsequenzen sind auf vielen Feldern denkbar. 107 Die theoretische Grundlage ist die Einsicht, daß Kultur zu einem wesentlichen Teil Selbsterziehung des Menschen zur Zeithorizonterweiterung ist.

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Zeithorizont und Kultur

III.2 Zeithorizont und Selbstdisziplinierung »Die Bedürfnisbefriedigung des Augenblicks wird hinausgeschoben zugunsten einer langfristigen Investitionsperspektive.« Christian Graf von Krockow108

Das Dasein des den Boden bearbeitenden Bauern erfordert ein höheres Maß an Selbstbeherrschung im Vergleich zur Lebensform der mobileren Jäger und Sammler, die in den Raum ausweichen anstatt den Zeithorizont auszudehnen. Der Zeitpunkt der Ernte muß richtig bestimmt, das Geerntete muß eingeteilt und darf nicht vollständig verbraucht werden. Die aus dem Zeithorizont abgeleitete Selbstbeherrschung dient hier einem konkreten Zweck und geschieht nicht um ihrer selbst willen. Es lohnt sich, einmal grundsätzlich zu untersuchen, wie Zeithorizonterweiterung das menschliche Handeln hintergründig leitet. Wer die Selbstbeherrschung verliert und im Affekt ein Verbrechen begeht, der handelt aus einem sehr kleinen Zeithorizont heraus, denn er sieht nur seinen gegenwärtigen Vorteil und nicht den längerfristigen Nachteil, der etwa als Strafe den Rest des eigenen Lebens ganz erheblich beeinträchtigen könnte. Wer dagegen spart, handelt aus einem erweiterten Zeithorizont heraus, denn er hemmt den gegenwärtigen Konsumwunsch für einen in der Zukunft liegenden Zweck (z. B. um der Altersvorsorge willen). Für den Verzicht auf das Verbrechen aus Leidenschaft wäre Selbstbeherrschung nötig; ebendiese macht den Verzicht des Sparers auf sofortigen Konsum möglich. Auch hier gibt es so etwas wie eine paradigmatische Situation, die uns aus den Pioniertagen der Zeithorizontpflege überliefert ist. Anders als der eingangs genannte Robinson Crusoe ist der homerische Odysseus so etwas wie ein mobiler Schiffbrüchiger; er erreicht immer wieder neue Inseln, doch keine von ihnen hält ihn. Mit anderen Worten: Er ist nicht der Gegenwart hingegeben, so verlockend diese auch sein mag (etwa bei Kalypso oder den 56 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Selbstdisziplinierung

Phäaken). Vielmehr behält er stets das in unbestimmter zeitlicher Ferne liegende Ziel, die Rückkehr in die Heimat, im Blick. 109 Bereits im Grundsätzlichen steht die literarische Figur Odysseus also für eine imposante, eigentlich übermenschliche Zeithorizonterweiterung. Noch mehr wird seine Pionierrolle für die Zeithorizontkultur in der angekündigten paradigmatischen Situation deutlich: Odysseus ist mit seinen Gefährten in der Höhle des Kyklopen gefangen und sinnt darüber nach, wie er der Gefahr entkommen kann. Zeitdruck entsteht dadurch, daß der Kyklop zu jeder Mahlzeit zwei aus der Gruppe der Menschen verspeist. Obwohl also Eile geboten ist, tötet Odysseus den Kyklopen indes nicht sofort, weil er vorausbedenkt, daß er ihn noch zur (erst eigentlich lebensrettenden) Entfernung des Felsblocks am Eingang der Höhle benötigt. »Und ich erwog bei mir im mutigen Herzen, ob ich wohl Nah zu ihm tretend, das scharfe Schwert von der Hüfte mir ziehend Stieße ihm in die Brust, wo das Zwerchfell die Leber umfaßt hält, Ihn mit der Hand betastend; doch hemmte mich andere Erwägung, Denn dort wären auch wir dem jähen Verderben erlegen. Denn wir hätten ja nicht von den hohen Türen den schweren Stein, den er vorgesetzt, zu schieben vermocht mit den Händen. So erwarteten wir mit Seufzen das göttliche Frührot.« 110

Zu diesem Zeitpunkt hat Odysseus noch keinen Plan, d. h. er zwingt sich zum Abwarten, ohne daß irgendeine Aussicht auf Abhilfe besteht. Der erlösende Gedanke zur Rettung kommt ihm erst am folgenden Tag, nachdem er die Gewohnheiten des Gegners sorgfältig studiert hat. Weil Odysseus weit vorausgedacht hat, tötet er den Kyklopen nicht, sondern blendet ihn lediglich; dieser selbst ermöglicht daraufhin – genau wie im Plan vorgesehen – wider Willen die Flucht seiner Opfer. 111 Das Grundmuster wiederholt sich nach der Rückkehr des 57 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

Helden in seine Heimat: Erneut gelingt Odysseus eine durch Zeithorizonterweiterung gesteuerte Selbstdisziplinierung. Er führt sich die Situation, die während seiner Abwesenheit entstanden ist, vor Augen. Der schwer zu bezwingende Gegner sind diesmal die zahlreichen Freier, die sich in seinem Hause niedergelassen haben, seine Vorräte verprassen und seine Frau zwingen wollen, einen der ihren zu heiraten. Wieder stellt sich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für ein Vorgehen, und wieder wird sie in der Auseinandersetzung mit einem starken spontanen Impuls entschieden: »[…] Es bellte das Herz ihm im Innern. So wie die Hündin über die zarten Hündchen sich hinstellt Vor einen fremden Mann und voller Kampfeseifer ihn anbellt, So auch bellte sein Herz entrüstet über den Frevel. Gegen die Brust sich schlagend, schalt er sein Herz mit den Worten: ›Halte noch aus, mein Herz! Noch hündischer war’s, was du aushieltst, Damals an dem Tag, als der ungestüme Kyklop die Wackren Gefährten fraß; du ertrugst es, bis deine Klugheit Dich aus der Höhle führte, der du zu sterben schon wähntest.‹« 112

Obwohl die Ausgangslage ähnlich aussichtslos ist wie im ersten Fall, führt der langfristig angelegte Plan wieder zum gewünschten Erfolg. Indem Odysseus sein Handeln an diesem Modell ausrichtet, beginnt er bereits damit, einen Habitus auszubilden. Zu dem, was gewöhnlich angeführt wird, um diesen originellen, wegweisenden Habitus zu charakterisieren (zum Beispiel: er habe vieles erduldet, er sei »vielgewandt«, wie Schleiermacher mit einem Kunstwort übersetzt), muß ein wesentliches Moment hinzugefügt werden: Odysseus beweist seine geistige Überlegenheit nicht allein durch Selbstbeherrschung (im Aufschub des unmittelbaren

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Zeithorizont und Selbstdisziplinierung

Tötungsimpulses), sondern vor allem durch deren Kombination mit Zeithorizonterweiterung. 113 Dieses Motiv behandelt dann Aristoteles auf abstraktere Weise in »De anima« (III, 10): Bei Lebewesen, die so etwas wie einen Zeitsinn besitzen (gedacht ist natürlich an den Menschen), kann es zu einem Konflikt zwischen Überlegung und Begierde kommen: Die Vernunft gibt wegen des Zukünftigen einen Handlungsimpuls in die eine Richtung, die Begierde wegen des Gegenwärtigen einen Handlungsimpuls in die andere Richtung, weil ihr das jetzige Angenehme als das schlechthin Angenehme erscheint und sie das zukünftige nicht sieht. Wer sich getrieben fühlt, eine Zigarette anzuzünden, erfährt den auf das Gegenwärtige gerichteten Handlungsimpuls der Begierde; mit seiner Überlegung, daß diese Sucht auf Dauer seine Gesundheit ruinieren wird, bringt die Vernunft einen auf das Zukünftige gerichteten Handlungsimpuls hinein, der einen großen Zeithorizont eröffnet. Der entscheidende Punkt bei Aristoteles ist die eben am Odysseus-Modell abgelesene explizite Verzeitlichung der Selbstbeherrschung. Deren reine, noch nicht zeitlich gebundene Vorform läßt sich an vielen Stellen bei anderen antiken Autoren beobachten: Platon und Demokrit setzen zuweilen so sehr auf forcierte Selbstdisziplinierung, daß man sich fragen kann, zu welchem konkreten Zweck die Menschen eigentlich immer wieder dazu aufgerufen werden, sich unbedingt selbst zu kontrollieren. Aristoteles dagegen entdeckt die Bedeutung des Zeithorizonts für unser Thema und reduziert damit die verselbständigten Mahnungen der Philosophen auf ein vernünftiges Maß. 114 Aristoteles’ Theorie ist manchen späteren überlegen durch diesen deutlichen Bezug zum Motiv des Zeithorizonts. 115 In John Lockes Behandlung der Selbstbeherrschung etwa geht es zwar auch um Zeit, aber sie spielt eine schwächere Rolle; hier steht im Mittelpunkt das einfache Aufschieben einer Handlung als Schutz vor einem überstürzten Vorgehen, es fehlt die ausdrückliche Konkurrenz des gegenwärtigen und zukünftigen Gutes. Locke erklärt: Die Erfahrung zeige, daß der Geist in den meisten Fällen die Kraft 59 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

besitzt, bei der Verwirklichung und Befriedigung eines Wunsches innezuhalten und dadurch Raum für die Erwägung zu schaffen. Diese Kraft, die Verfolgung eines Wunsches zu unterbrechen, hilft uns Locke zufolge, die Irrtümer zu vermeiden, die entstehen, wenn eine Entscheidung vorschnell ohne ausreichende Prüfung gefällt wird. 116 Natürlich ist das Ziel bei Locke genauso wie bei Aristoteles die richtige Entscheidung. Aber Zeit fungiert hier lediglich als Bedenkzeit, während sie im aristotelischen Vergleich der zeitlich versetzten Güter (oder vermeintlichen Güter) als vom Menschen gut zu verwaltende Lebenszeit in Betracht gezogen wird. Arnold Gehlen nimmt schließlich den aristotelischen Faden wieder auf. Zu den Besonderheiten des menschlichen Antriebslebens zählt er die Hemmbarkeit und die Verschiebbarkeit der Bedürfnisse und Interessen: »Die bloß ausbrechenden zufälligen Triebhandlungen im ›Jetzt‹ müssen grundsätzlich gehemmt werden können, wenn Dauerinteressen lebensnotwendig sind: sie wachsen nur auf den unterdrückten Jetztbewältigungen.« 117 Die Selbstbeherrschung ist bei Gehlen ein Instrument der »Voraussicht«; die Bedürfnisse des Menschen müßten im Interesse des Überlebens versachlicht und »auf die Dauer gestellt« sein. 118 In Gehlens Denken ist das Thema des Zeithorizonts häufig im auffälligen Leitmotiv der »Dauer« versteckt. Die Formel »Dauer« kann in unserem Zusammenhang für zwei Phänomene stehen: 1. für die theoretische Fähigkeit, diejenigen Ziele zu erkennen, die auf Dauer gesehen richtig sind, 2. für die praktische Fähigkeit, diese Ziele auch gegen Ablenkungen des Augenblicks auf Dauer zu verfolgen. David Hume baut seine Beurteilung des Menschen auf der ungleichmäßigen Ausstattung mit diesen Begabungen auf. Die zentrale Schwäche des Menschen sieht Hume darin, daß er die theoretische Fähigkeit besitzt, die praktische jedoch nicht. Zwar hätten alle Menschen die richtige Einsicht: Sie erkennen, daß Gerechtig60 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Selbstdisziplinierung

keit nötig ist zur Aufrechterhaltung von Freiheit und Ordnung, und sie erkennen, daß Freiheit und Ordnung nötig sind zur Erhaltung der Gesellschaft. Aber den Menschen fehlt die Selbstdisziplinierung, sie lassen sich durch von ihren Einsichten abweichende, kurzfristige Neigungen zu Handlungen verleiten, die das eigentlich übergeordnete Dauer-Interesse verletzen: »Unter vielen besonderen Umständen kann ein Mensch glauben, durch Betrug oder Raub seine Interessen mehr zu fördern, als er ihnen mit dem Bruch der sozialen Einigkeit durch diese Ungerechtigkeit schadet. Noch häufiger wird er jedoch durch den Reiz augenblicklicher und oft sehr leichtfertiger Versuchungen von seinen großen und bedeutenden, doch fernen Interessen abgelenkt. Diese große Schwäche der menschlichen Natur ist unheilbar.« 119 »Fern« sind die eigentlichen Interessen nur insofern, als sie außerhalb des relativ engen Zeithorizontes stehen, der das Handeln des in seiner Natur schwachen Menschen bestimmt. Hier bestätigt sich erneut die besondere anthropologische Relevanz der Kategorie »Zeithorizont«. Während Hume in dieser Frage also ein skeptisches Menschenbild vertritt, findet man bei Nietzsche eine eher positive Interpretation vor; der Mensch ist hier ein Wesen, das sich zu entwickeln vermag. Menschwerdung verbindet Nietzsche mit moralischer Zeithorizonterweiterung: »Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also nützlich, zweckmäßig wird: da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus.« Auf einer zweiten Stufe lernt der Mensch, sich über die nur persönlich verstandene Nützlichkeit zu erheben und die Bewertungen Anderer mit einzubeziehen; er handelt nach dem Prinzip der Ehre. Die höchste Stufe der bisherigen Moralität sieht Nietzsche erreicht, wenn der Mensch sich zum Gesetzgeber der Meinungen entwickelt und nach seinem eigenen Maßstab für sich und andere die Wertungen vornimmt. Nietzsches drei Phasen der bisherigen Moralität bilden also einerseits eine Entwicklung des Menschen von der Per61 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

sönlichkeit zur Allgemeinheit ab, andererseits eine Entfaltung des Zeithorizonts vom Augenblick zur Dauer: »Die Erkenntnis befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.« 120 Das Zusammenspiel von theoretischer und praktischer Fähigkeit scheint hier reibungslos vor sich zu gehen. Bei aller Verschiedenheit ihres Denkens stimmen Gehlen, Hume und Nietzsche in diesem wesentlichen Punkt überein: Die Chance, daß Menschen einen Selbstbeherrschung nutzenden, auf Dauerinteressen ausgerichteten Habitus entwickeln, hängt wesentlich von ihrer Umgebung, der jeweils erreichten Zeithorizont-Kultur ab. Diese Einsicht zwingt dazu, die bisherige Nachlässigkeit gegenüber dem Thema zu überdenken.

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Zeithorizont und Politik

III.3 Zeithorizont und Politik »Als ich gestern […] die kleinen Obstbäume behackte und mir wünschte, einen schönen Baumgarten anlegen zu können, dachte ich mir, wieviel Entsagung und Voraussicht doch die beste menschliche Arbeit fordert – wer pflanzt und säet, tut es für die Zukunft – ob er die Ernte sieht – wer weiß es? Und so (ist) es mit der Politik – sie hat doch nur wahren Wert, wenn sie in dieser Gesinnung geschieht.« Else Jaffé 121 »Ein Politiker denkt an die nächste Wahl; ein Staatsmann an die nächste Generation.« James Freeman Clarke 122 »Der Staatsmann, wie gründerhaft er auch wirke, ist nie der erste Schöpfer, sondern immer schon selber Geschöpf der Gemeinschaft, deren Sache er in seine Hände nimmt. Verpflichtet ist er also nicht dem, was er gemacht hat, sondern dem, was ihn gemacht hat – den Ahnen, die das Gemeinwesen an die Jetztzeit haben kommen lassen, der Erbengemeinschaft der Zeitgenossen als seinen unmittelbaren Mandanten, und der Fortsetzung des Überkommenen in die unbestimmte Zukunft.« Hans Jonas 123

Der wichtigste Zeithorizont-Theoretiker in der Antike ist Aristoteles. Er entwirft sowohl für den Einzelnen (vgl. III.2) wie auch für das Kollektiv ein Bündnis zwischen vernünftiger Überlegung und Zeithorizonterweiterung. Zu Beginn seiner »Politik« (I, 2) entwickelt Aristoteles eine Hierarchie der menschlichen Gemeinschaftsbildungen mit der polis als Gipfel. Als überlegen gelten dabei jene Lebewesen oder Gruppen, die in der Lage sind, mit dem Denken vorauszusehen. Es ist bisher zu wenig beachtet worden, daß Aristoteles die Entwicklung vom Haus über das Dorf zur polis an die Erweiterung des Zeithorizonts in die Zukunft hinein knüpft: Die kleinste Gemeinschaft, das Haus, wird als die für den Tag bestehende Gemeinschaft bestimmt, während die erste Ge63 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

meinschaft, die sich wegen eines über den Tag hinausreichenden Bedürfnisses zusammensetzt, das Dorf ist. 124 Mit Hilfe der Sprache vermag der Mensch das Nützliche und Schädliche anzuzeigen, d. h. Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu retten. So wird die nicht mehr um des kurzfristigen bloßen Überlebens, sondern um des langfristigen guten Lebens willen bestehende polis zur zeithorizonterweiternden Verständigungsgemeinschaft. In historischer Hinsicht, beim Blick in die antike Philosophie, erweist sich die Zeithorizonterweiterung demnach als ein grundlegendes Element der Politik. Dieser Zug tritt noch stärker hervor, wenn man ihre Bedeutung für antike Begründungen von Herrschaft und Differenz betrachtet. Wer die Fähigkeit besitzt, mit dem Denken vorauszusehen, ist für Aristoteles der »von Natur aus« Herrschende. Diese Begründung der Überlegenheit durch einen erweiterten Zeithorizont scheint auch noch für Cicero Gültigkeit besessen zu haben; er markiert die Differenz zwischen Römern und Barbaren nämlich über den verschiedenen Umgang mit der Zeit und mahnt: »Wenn es Barbarenart ist, in den Tag hinein zu leben, so müssen unsere Pläne auf die Dauer ausgerichtet sein.« 125 Bei Cicero läßt sich also beobachten, wie Kulturstolz auf Zeithorizonterweiterung aufgebaut wird. An die Bedeutung des Zeithorizonts wird in politischen Kontexten immer wieder erinnert. Stets gilt dabei der Idealfall zeithorizontbewußter Politik als das Unwahrscheinliche oder Gefährdete. So macht sich Kardinal Richelieu in seinem 1688 veröffentlichten »Politischen Testament« Sorgen darüber, daß die Regierenden auch die nötige Voraussicht besitzen. Er erklärt, es sei »für mittelmäßige Geister etwas ganz Gewöhnliches, in den Tag hinein zu leben und sich lieber ihre Bequemlichkeit einen Monat lang zu erhalten, als daß sie sie nur während dieser kurzen Zeit entbehren möchten, um sich vor den Unruhen mehrerer Jahre zu schützen. Sie bedenken das nicht, weil sie immer nur das Gegenwärtige leben und nicht die Zeit durch weise Voraussicht vorausnehmen.« Richelieu möchte so veranlagte Menschen von der Politik fernhalten: »Diejenigen, die in den Tag hinein leben, 64 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Politik

leben für sich glücklich, aber man lebt unglücklich unter ihrer Führung.«126 Richelieu macht auf etwas Wesentliches aufmerksam, das über die bloße Vergewisserung eigener politischer Überlegenheit durch Zeithorizonterweiterung hinausreicht: Es ist ein Klugheitsgebot, Politik mit großem Zeithorizont zu treiben. Warum? Im langfristigen Interesse der Bevölkerung liegt es, wenn Politiker die Tugend der weisen Voraussicht besitzen, die die Unruhen der Zukunft vorwegnimmt und vorbeugendes Handeln in der Gegenwart auslöst. Mit anderen Worten: Es ist Aufgabe der Politik, aus den komplexen, vieldeutigen Situationen des gemeinsamen Lebens die relevanten Probleme zu explizieren 127 und so zu agieren, daß diese Probleme entweder gar nicht erst akut werden oder jedenfalls in wesentlich schwächerer Form auftreten. Otfried Höffe spricht hier von »Zukunftsfähigkeit« in der Politik; es komme darauf an, die Probleme zu »erahnen«.128 Daß zu den Aufgaben der Politik die Früherkennung gesellschaftlicher Probleme gehört, darüber dürfte schnell Einigkeit zu erzielen sein. Anders sieht es aus, wenn es nicht wie bei einem Problem darum geht, ob etwas ist, sondern darum, daß etwas sein möge. Politik hat auch die weitere Aufgabe, langfristige Programme zu explizieren. Damit sind nicht Pläne gemeint, die der Komplexität der Situationen nie gerecht werden können, und auch nicht Utopien, die nur die Bereitschaft zur Zeithorizonterweiterung strapazieren und ermüden (vgl. VI.). Am ehesten könnte man diese gemeinsamen Programme als »Visionen« bezeichnen. 129 Unsere gegenwärtige, defizitäre Zeithorizontkultur kommt auch in einer gewissen »Visionstabuisierung« zum Ausdruck, in dem Umstand, daß Teile der Jugend jeden »mobilisierenden und motivierenden gesellschaftlichen Auftrag« scheuen.130 Stephan Grünewald diagnostiziert, daß wir in einer Gesellschaft im »Stillstand«, im »ewigen Wartestand« leben – man könnte auch sagen: im Zustand der Zeithorizonterweiterungsverweigerung. Was aber für Individuen gilt, gilt auch für Gruppen: »Eine Kultur braucht natürlich übergreifende Leitbilder und vage Zu65 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

kunftsentwürfe, um ihren Mitgliedern ein einigendes Leitbild und eine gemeinsame Richtungsbestimmung zu ermöglichen.« 131 Ohne Wunsch-, Leit- und Schreckbilder ist weder ein Individuum noch eine Gesellschaft imstande, die eigene Zukunft zu gestalten. Bedenken können dabei gegen bestimmte, z. B. historisch belastete Visionen erhoben werden; zu kurz gedacht ist es aber, sich jede gesellschaftliche Vision zu versagen und auf ihre orientierenden und mobilisierenden Potenzen generell zu verzichten. Die überzeugende Einsicht ist das Eine, die historische Realität das Andere. Durch die Jahrhunderte hindurch hält sich der Traum von einer Politik mit großem Zeithorizont, in der Regel formuliert als Kritik an den gerade bestehenden Verhältnissen wie etwa bei Nicolai Hartmann: »Der Typus des Staatsmannes etwa, wie wir ihn in unserer Zeit kennen und wie ihn die Geschichte immer wieder zeigt, handelt nicht aus dem Verantwortungsgefühl für die weitere Zukunft von Volk und Staat heraus, sondern aus der Not oder der Chance des Augenblicks. […] Wir Heutigen kennen überhaupt fast nur die kurzsichtige Augenblickspolitik. Der Blick auf Jahrhunderte, der uns im geschichtlichen Rückschauen so geläufig geworden ist, fehlt uns prospektiv noch fast ganz – gerade dort also, wo er am aktuellsten ist.« 132 Der Vorwurf trifft verschiedene Regierungsformen gleichermaßen. Während die bei Hartmann in der Wir-Form ausgedrückte Kritik anscheinend besonders der zeitgenössischen Form der Demokratie gilt, denken andere Zeitdiagnostiker hier gerade an die Diktatur. Ortega y Gasset veröffentlicht vier Jahre nach Hartmann seine einflußreiche kulturkritische Studie über den »Aufstand der Massen«, die implizit Gebrauch macht vom Kriterium des Zeithorizontes, indem sie den Massenmenschen Eingeschränktheit in dieser Hinsicht attestiert: »Der Massenmensch ist der Mensch, der ohne Ziel lebt und im Winde treibt.« 133 Ortega erklärt dann aber, daß der Triumph der Masse in bestimmten Ländern – offenbar hat er das faschistische Italien im Blick – besonders weit vorangeschritten sei und »daß man dort politisch in den Tag hineinlebt«. Für die in den Händen eines Massenvertreters 66 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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liegende, uneingeschränkt agierende öffentliche Macht konstatiert er: »Keine Zukunft kündigt sich in ihr an; sie erscheint nicht als ein Anfang, dessen weitere Entwicklung man sich vorstellen könnte. Mit einem Wort, sie lebt ohne Lebensplan; sie hat nichts vor.« 134 Hartmann wie Ortega haben jeweils ihre eigene Gegenwart vor Augen; einen weiteren Zeithorizont weist dagegen eine Autorin auf, die von der Antike ausgeht, um moderne Erscheinungen zu analysieren. Hier läßt sich auch erst von einer eigentlichen Theorie jener engen Verbindung von Politik und Zeithorizont sprechen, die Aristoteles zuerst entdeckt hat. Hannah Arendt hat die Vorlesung knapp verpaßt, die Martin Heidegger im Sommersemester 1924 über »Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie« in Marburg gehalten hat. Auch wenn die junge Studentin die Überlegungen Heideggers über die griechische polis damit nicht direkt hören konnte, so dürften sie ihr im Gespräch dennoch bekannt und für die Entwicklung ihres eigenen Konzepts wirksam geworden sein. Das Miteinandersein in der polis, so erklärt Heidegger in seiner Vorlesung, sei ein »Miteinandersein im Besorgen«. Es bestehe eine Gemeinsamkeit des Förderlichen und Guten, Polis sei das »Miteinanderhaben der Welt«. 135 Was die Menschen der polis dieser Theorie zufolge miteinander verbindet, ist das Verfolgen gemeinsamer Programme und das Teilen allgemeiner moralischer Überzeugungen. Die philosophische Brücke von Martin Heidegger zu Hannah Arendt führt über den Weltbegriff; aus dem »Miteinanderhaben der Welt« wird die »gemeinsame Welt«, ein Schlüsselbegriff in »Vita activa«. Ihr Kern ist das, was Arendt die »Öffentlichkeit« nennt.136 Damit ist – pointiert gesagt – der Raum gemeint, in dem Menschen sich voreinander auszeichnen können, in dem sie das Vortreffliche zu verwirklichen suchen, um voneinander Anerkennung zu erlangen. Voraussetzung für den Erfolg dieser Bemühungen ist das, was Heidegger für die polis hervorgehoben hat: gemeinsame Überzeugungen von dem, was förderlich und gut ist. Eine solche gemeinsame Welt verbindet nicht nur – wie wir zu 67 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

denken gewohnt sind – die Zeitgenossen einer jeweiligen Gegenwart miteinander, sie verbindet darüber hinaus diese mit den Zeitgenossen der Vergangenheit, die die gemeinsame Welt hinterlassen haben, und mit denen der Zukunft, denen sie hinterlassen wird: »Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muß die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.« 137 Die gemeinsame Welt kann nur mit einem lebenszeittranszendierenden Zeithorizont erfaßt werden. Sie ist das die einzelnen Lebensläufe Überdauernde. Der Zeithorizont derjenigen, die diese gemeinsame Welt maßgeblich gestalten, der Politiker, muß also entsprechend weit sein. Eine gemeinsame Welt ist für Arendt etwas »Solides«, etwas »Haltbares«, der Vergänglichkeit Trotzendes; sie entspringt dem Willen der Menschen, ihre Zeithorizonterweiterung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu realisieren, durch Wetteifer um perpetuierte öffentliche Anerkennung als Garantie für persönliche Fortdauer. Arendts Musterbeispiel für eine gemeinsame Welt ist die griechische polis, weil sie davon ausgeht, daß dieses Streben nach weltlicher Unsterblichkeit in der Antike noch lebendig, in der Moderne dagegen verkümmert sei (vgl. II.2). Zu dem (in Arendts Augen) verderblichen Einfluß des Christentums kommt noch hinzu, daß die öffentliche Anerkennung in der subjektivistisch geprägten Neuzeit abgewertet wird; nach dieser Schwächung repräsentiert sie statt Haltbarkeit nur noch Flüchtigkeit. 138 Ein gutes Beispiel für diesen bewußten, überhaupt nicht als Verlust empfundenen Verzicht auf Zeithorizonterweiterung im geistigen Leben liefert Ende des 19. Jahrhunderts der seinerzeit vielbeachtete Essayist und Romancier Paul Bourget. In seinem Baudelaire-Essay schreibt er über die französischen Literaten der décadence: »[…] sie haben keine Zukunft mehr. Sie kommen zu einer Veränderung des Wortschatzes, zu sprachlichen Subtilitäten, die den Stil für die kommenden Generationen unbegreifbar machen. In fünfzig Jahren wird der Stil der Brüder Goncourt – ich wähle überzeugte Dekadente – nur noch von Spezialisten verstan68 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Politik

den werden. Was macht das schon? könnten die Theoretiker der Dekadenz antworten. Besteht das Ziel des Schriftstellers darin, sich der allgemeinen Wahl der Jahrhunderte als Dauerkandidat zu stellen?« 139 Bourgets Prognose hat sich zwar so nicht bewahrheitet, aber darauf kommt es hier nicht an. Entscheidend ist der neue Mangel an zeitbezogenem Ehrgeiz, der lässige Umgang mit dem alten Thema Ruhm. In diesem Versuch, das Selbstverständnis der dekadenten Künstler zu formulieren, ist der anspornende Wettbewerb mit Vorfahren und Nachfahren zu einem gleichgültigen Moment geworden. Die Nachwelt stellt für diese – von ihrem Zeithorizont her betrachtet – selbstgenügsame Gruppe keine relevante Öffentlichkeit mehr dar. Arendt würde in diesem Zeugnis einen typischen Ausdruck moderner Subjektivierungstendenzen sehen. Ihrer Analyse zufolge kommt es durch den Verzicht auf Zeithorizonterweiterung zu einer Verkümmerung des Vollsinnes von Politik: »Ohne dieses Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit geben. Denn die Welt ist nicht im gleichen Sinne gemeinsam wie das christliche Gemeinwohl, die allen Christen gemeinsame Sorge um das eigene Seelenheil; das weltlich Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst, wir treten in es ein, wenn wir geboren werden, und wir verlassen es, wenn wir sterben. Es übersteigt unsere Lebensspanne in die Vergangenheit wie in die Zukunft; es war da, bevor wir waren, und es wird unseren kurzen Aufenthalt in ihm überdauern. Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden. Aber nur in dem Maße, in dem sie in der Öffentlichkeit erscheint, kann eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern. Es liegt im Wesen des Öffentlichen, daß es aufnehmen und durch die Jahrhunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten suchen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten. Daß Menschen sich in die Öffentlichkeit überhaupt wagten, ist durch lange Jahrhunderte, 69 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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eigentlich bis zum Anbruch der Neuzeit, nur dem geschuldet gewesen, daß sie ein Eigenes oder ein Gemeinsames dauerhafter machen wollten als ihr irdisches Leben.« 140 Hannah Arendts Theorie des Politischen ist in einem doppelten Sinne aristotelisch. Einmal expliziert und erweitert sie die Nähe von Politik und Zeithorizont, wie sie zu Beginn der »Politik« skizziert wird (Politik I, 2); dann knüpft sie aber auch an das aristotelische Steigerungs- und Vollendungsprinzip an (Politik VII, 14): Das am meisten Wünschenswerte sei für jedes Lebewesen das, was es als Höchstes zu erlangen in der Lage ist. Eben dieses Interesse an der menschlichen Bestform soll nun in der Moderne verlorengegangen sein. In Arendts Konzept spielen zwei Größen zusammen, eine veränderliche (das Streben der Menschen nach einer Art Unvergänglichkeit) und eine unveränderliche (das geschichtliche Eingebettetsein der Menschen in einen von ihnen selbst nicht geschaffenen gesellschaftlichen Zusammenhang 141). Das zuletzt genannte Phänomen hat Wilhelm Dilthey als »objektiven Geist« beschrieben. Damit meinte er »die mannigfachen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinneswelt objektiviert hat. In diesem objektiven Geist ist die Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns. Sein Gebiet reicht von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Sitte, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaften und Philosophie.« 142 Eine Besinnung auf den Zeithorizont kann einem Individuum also bewußt machen, daß es durch das »weltlich Gemeinsame« (Arendt) mit der Vergangenheit verbunden ist. Diltheys »objektiver Geist« steht wie Arendts »gemeinsame Welt« immer schon bereit, wenn ein neuer Mensch sich zu orientieren beginnt: »Aus dieser Welt des objektiven Geistes empfängt von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung. […] Ehe es [ergänze: das Kind; d. V.] sprechen lernt, ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten.« 143 Und wie beide

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bei der Geburt bereits warten, so dauern sie auch weiter, wenn dieser Mensch die Welt verläßt. Der kurze Vergleich von Arendts »gemeinsamer Welt« mit Diltheys »objektivem Geist« sollte zeigen: Wenn es um die Haltbarkeit geht, ist die agonale Aufladung der Öffentlichkeit, deren neuzeitlichen Verlust die Autorin bedauert, gar nicht erforderlich. Zwar ist das antike Streben nach einer öffentlichen Unsterblichkeit eine ausgezeichnete Schule der Zeithorizonterweiterung, aber es kann kein generelles Modell abgeben zur Fundierung jener Phänomene des sozialen Lebens, die – wie Arendt zu Recht betont – die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen. Ihre in unserem Zusammenhang interessante These lautet ja: In der Politik geht es um etwas, das uns überdauert. Ein ausdrücklicher Wille, etwas vor dem Verfall der Zeit in die Zukunft hinein zu retten, ist nicht unbedingt die Voraussetzung dafür, daß etwas Gemeinsames die einzelnen Menschen überdauert. Das soll aber in diesem Rahmen nicht das letzte Wort über Hannah Arendts Ansatz sein. Am Anfang unserer Untersuchung stand ein Plädoyer für eine anthropologische Korrektur: Der Mensch ist nicht in einer statischen Momentaufnahme zu begreifen, sondern als Lebenslaufwesen (vgl. I.). Jetzt wird eine entsprechende Ergänzung auf sozialer Ebene erforderlich: Gesellschaft ist das die Lebenszeit Einzelner Überdauernde, d. h., die gewohnte synchrone Betrachtung muß durch eine angemessene diachrone Perspektive ergänzt werden, die sich z. B. nicht auf die zufällige Lebenszeit des aktuell Gesellschaftsanalyse betreibenden Individuums beschränken darf (und generell nicht an Lebenszeiten von Individuen gebunden werden darf). Gesellschaft wäre dann nicht nur ein Sozialverband zu einer bestimmten Zeit, sondern das dynamische Kollektiv der Vorfahren, Lebenden und Nachfahren. Aristoteles und Arendt hätten dann recht, wenn sie Zeithorizonterweiterung zum Wesen der Politik zählen. Ein Soziologe, der diese Perspektive ernst genommen hat, ist Heinrich Popitz. Er bezieht in seine Begriffsbestimmung von Gesellschaft das Moment des Zeithorizontes mit ein, indem er von 71 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

charakteristischen Phänomenen menschlicher Dauer ausgeht wie der langjährigen Aufzucht der Kinder: »Nicht jede beliebige soziale Einheit soll Gesellschaft heißen. Wir beschränken diesen Begriff auf intensive soziale Zusammenschlüsse von vitaler Bedeutung. Als abgrenzendes Kriterium bietet sich an: soziale Einheiten, in denen Kinder geboren und aufgezogen werden.« 144 Popitz hat hier nicht nur familien- und sippenartige Gebilde im Blick, sondern auch die überformenden Zusammenschlüsse von Stämmen, namentlich die politischen Verbände. Ein wichtiges Merkmal dieser sozialen Einheiten ist Popitz zufolge, daß sie auf eine gewisse Dauer angelegt sind: »Entsprechend entwickeln sie Strukturen, die eine Zukunftsbezogenheit einschließen, eine Kontinuität von heute zu dem, was morgen sein wird. Das ergibt sich bereits aus der Orientierung an der Aufzucht von Kindern. Die Bindung von Mutter und Kind ist die Urform sozialer Kontinuität.« 145 Im Hintergrund wirkt dabei die biologische Tatsache, daß menschlicher Nachwuchs außergewöhnlich lange fürsorgebedürftig ist, so daß hier ein elementarer Anlaß zu Zeithorizontbildung vorliegt. 146 Für den Menschen ist nach Popitz eine unvergleichliche Nachhaltigkeit der Mutter-Kind-Beziehung kennzeichnend; die Verbundenheit kann über die primäre Aufzuchtphase hinaus ausgedehnt werden bis hin zu einer bei anderen Säugetieren unbekannten lebenslangen Bindung zwischen den Generationen. Damit ist dann der Bereich der biologischen Begründung auch überschritten, und kulturelle Faktoren kommen ins Spiel. Inhaltlich begegnet in Popitz’ sozialer Kontinuität von heute zu dem, was morgen sein wird, Diltheys »objektiver Geist« wieder, der die Vergangenheit als beständige Gegenwart bereitstellt. Während Dilthey die Empfänger-Seite stärker betont, liegt Popitz mehr an der Geber-Seite. Allgemein liegt die Pointe dieses Ansatzes darin, Gesellschaft nicht mehr über ihren größeren Umfang oder andere statische Kriterien zu bestimmen, sondern über ihren größeren Zeithorizont. Damit schließt sich der Kreis. Aristoteles’ Verständnis der polis, Arendts »gemeinsame Welt«, Diltheys »objektiver Geist« und Popitz’ Begriff von Gesellschaft als »sozialer 72 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Politik

Kontinuität« verweisen allesamt darauf, daß Politik ihren Schwerpunkt nicht in der kurzfristigen Bewältigung aktueller gemeinsamer Situationen (z. B. einer Flutkatastrophe), sondern im langfristig angelegten Umgang mit zuständlichen gemeinsamen Situationen (z. B. der Bevölkerungsentwicklung) hat. 147 Politik als kluge Verwaltung der Interessen einer Gesellschaft wäre dann also von ihrem Gegenstand her, der lebenszeittranszendierenden gemeinsamen Welt oder den zuständlichen gemeinsamen Situationen, mit Zeithorizonterweiterung verbunden. Dieser Spur soll abschließend noch einmal anhand einer politischen Typologie nachgegangen werden. Der englische Philosoph Michael Oakeshott hat zwei Stile der Politik unterschieden, die er mit den Ausdrücken »Zuversicht« (»faith«) und »Skepsis« (»scepticism«) charakterisiert. Die Skepsis steht der Tradition konservativen Denkens nahe, während die Zuversicht den mainstream neuzeitlichen Regierens charakterisieren soll, den Glauben an die Planbarkeit und Manipulierbarkeit menschlicher Verhältnisse, an den Segen von Zwecksetzung und Machteinsatz. Für unseren Zusammenhang ist vor allem die Haltung der Skepsis aufschlußreich. Was kennzeichnet den skeptischen Politikertypus? Oakeshotts eigenartige Antwort lautet: »ein Bewußtsein der Sterblichkeit, jene amicitia rerum mortalium, durch welche die Lockungen einer von der Politik der Zuversicht vergoldeten Zukunft als schal empfunden werden; der Gedanke, daß die Welt nicht geschaffen ist, um von uns ausgebeutet zu werden, sondern die ›Bühne‹ stellt, auf der wir spielen« 148. Die Freundschaft zu den vergänglichen Dingen war von Augustinus einst verdammt worden, weil sie zu bitteren Verlusterfahrungen führt (z. B. beim Tod von nahestehenden Menschen); Oakeshott interpretiert sie neu als Grundlage für eine Haltung, die ohne Illusionen und ohne Ausflüchte den Abschied akzeptiert und solchermaßen ernüchtert dem Machbarkeitswahn entsagt. Jedes ausgeprägte Bewußtsein der Sterblichkeit führt auch bereits eine Zeithorizonterweiterung mit sich, weil das eigene Leben in seiner 73 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

Begrenztheit anerkannt wird etwa gegenüber dem weitergehenden Leben der Gesellschaft. Im Bewußtsein der gemeinsamen Sterblichkeit kann dann eine diachrone Humanität, eine Freundschaft mit den Vorfahren und Nachkommen, entstehen (vgl. IV.4). Zum Bewußtsein der Sterblichkeit gehört auf der anderen Seite ein Bewußtsein vom Wert der Dauer. Von Edmund Burke inspiriert formuliert Oakeshott ein »Prinzip der Kontinuität«: »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besitzen gleiche Autorität.« 149 Eine Politik der Zuversicht dagegen führe zu einer Fixierung auf die Zukunft. Dadurch drohe die Kontinuität der Tätigkeit abzureißen, da unsere Sympathie für frühere Unternehmungen zerstört werde 150, die aber nach Oakeshott für die politische Erziehung eines Gemeinwesens unerläßlich ist: »Sie ist eine Einführung in eine Erbschaft, an der wir einen lebenslänglichen Nießbrauch haben, und zugleich das Erforschen ihrer angedeuteten Möglichkeiten.« 151 Ein »Nießbrauch« erlaubt zwar dem Nießbraucher die Nutzung sämtlicher Rechte an einem fremden Gegenstand, verpflichtet ihn andererseits aber, die wirtschaftliche Bestimmung der Sache zu bewahren. Hier steckt also ein Moment von »Nachhaltigkeit«. Die Theorie des Konservatismus ist, was ihre Domäne, das Denken der Dauer, angeht, maßgeblich von Edmund Burke bestimmt. Burke kennt ein ganz ähnliches, ebenfalls an der wesentlichen Unversehrtheit des zu Überliefernden interessiertes Prinzip: »Es ist merkwürdig, daß es von der Magna Charta bis auf die Deklaration der Rechte die beständige Maxime in unsrer Konstitution gewesen ist, unsre Freiheiten als ein großes Fideikommiß anzusehen, welches von unsern Vorfahren auf uns gekommen ist, und welches wir wieder auf unsre Nachkommen fortpflanzen sollen als ein ganz besonderes Eigentum der Bürger dieses Landes ohne irgendeine weitere Beziehung auf ein allgemeines oder früheres Recht.« 152 Das englische »entailed inheritance«, wörtlich übersetzt ein »unveräußerliches Erbgut«, gibt Friedrich Gentz mit dem Namen für die alte Institution des »Fideikommiß« wie74 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Politik

der (lat. fidei commissum ›zu treuen Händen belassen‹). Dahinter steht ein unveräußerliches und unteilbares Familienvermögen, dessen Geschlossenheit in der Erbfolge dadurch gewahrt werden soll, daß nur der Ertrag zur freien Verfügung steht. Der Erbende verbraucht nicht, sondern wird selbst Vererbender. Konsum wie Investition sind hier also zweitrangig. Das »Prinzip der Kontinuität« führt insofern selbstverständlich eine Zeithorizonterweiterung mit sich. Oakeshott betont weitere Konsequenzen dieses Prinzips: Eine politische Tätigkeit erwächst nicht aus den Bedürfnissen des Augenblicks oder aus allgemeinen Prinzipien, sondern aus den vorhandenen Traditionen des Verhaltens selbst. 153 Nervöser Aktionismus in der Politik ist aus konservativer Sicht ein Fehler. 154 Die »Politik des gerade akuten Bedürfnisses«155 ist nur eine Politik für die jeweilige unmittelbare Gegenwart. Was trägt dieses Konzept zur Untersuchung der Frage nach dem Zusammenhang von Zeithorizont und Politik bei? Oakeshotts Typenbildung der einander gegenüberstehenden Politikstile von Zuversicht und Skepsis vermag in der heutigen Lage, die nicht mehr durch weit ausgreifende Zukunftsplanung geprägt ist, weniger zu überzeugen als seine Kritik des politischen Rationalismus als solchem. Dem unhistorischen Rationalisten, wie Oakeshott ihn sieht, stellt sich Lebensführung als sprunghaft und diskontinuierlich dar, als die Lösung eines Stroms von Problemen und die Meisterung einer Folge von Krisen.156 Demgegenüber führt Politik aus dem Prinzip der Kontinuität jedenfalls in rein formaler Hinsicht den Vorteil mit sich, daß sie habituell auf größere Zeithorizonte bezogen denkt. Über die konkrete inhaltliche Ausfüllung ist damit noch nichts gesagt, hier können selbstverständlich auch partielle Interessen dauerhaft verfolgt werden. Entscheidend ist die Tatsache, daß hier zumindest ein alternatives Denkmodell vorliegt, an dem man sich orientieren kann. Darüber hinaus kann man nach Anstößen für die Analyse des gegenwärtigen Politikstils fragen. In Oakeshotts Unterscheidung zweier Möglichkeiten, Politik zu betreiben, steht das Vertrauen in 75 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont und Kultur

die Möglichkeit erfolgreicher menschlicher Eingriffe großen Ausmaßes im Mittelpunkt. 157 Dagegen stellt er sein »Prinzip der Kontinuität«, das nicht von der (nur zukunftsbezogenen) Zuversicht geprägt ist, sondern von der Sorge, und zwar der Sorge sowohl um die Tradition wie um die Zukunft. Dadurch gewinnt Politik einen wesentlich größeren Zeithorizont. Vor diesem Hintergrund zeigt der Blick auf unsere eigene aktuelle Lage dann eine unbekümmert um Vergangenheit und Zukunft agierende Augenblickspolitik, der insbesondere die langfristigen Konsequenzen ihres Tuns gleichgültig sind. Hannah Arendt war noch davon ausgegangen, daß Politik sich um Ansehen bei der Nachwelt bemüht. Die Gleichgültigkeit der heutigen Politik mit kleinem Zeithorizont verzichtet nicht nur auf den Erwerb von Nachruhm, ihr ist auch die Verärgerung, der Zorn oder die Verachtung der Nachgeborenen egal. Die Nachwelt spielt weder positiv noch negativ eine Rolle, weder als Ansporn, vor ihr ein gutes Bild abzugeben, noch als Ansporn, vor ihr wenigstens ein schlechtes Bild zu vermeiden.

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IV. Zeitliche Selbsteinordnung

IV.1 Das vergessene Nachleben der Toten »Das gestörte Verhältnis zu den Toten – daß sie vergessen werden und einbalsamiert – ist eines der Symptome fürs Kranksein der Erfahrung heute. […] Die Individuen reduzieren sich auf die bloße Abfolge punkthafter Gegenwarten, die keine Spur hinterlassen oder vielmehr: deren Spur, als irrational, überflüssig, im wörtlichsten Verstande überholt sie hassen. […] In Wahrheit wird den Toten angetan, was den alten Juden als ärgster Fluch galt: nicht gedacht soll deiner werden. An den Toten lassen die Menschen die Verzweiflung darüber aus, daß sie ihrer selbst nicht mehr gedenken.« Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung158 »Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stätten schauten, wie sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Verehrung sich errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserm Auge innig ineinander ein. Und wie aus offenen Schreinen traten die Toten unsichtbar hervor. Sie sind uns immer nah, wo unser Blick voll Liebe auf altbebautem Lande ruht, und wie in Stein und Ackerfurchen ihr Erbe lebt, so waltet ihr treuer Ahnen-Geist in Feld und Flur.« Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen 159

Nicht der Tod, wie vielfach beklagt wird, sondern die Toten sind das eigentlich verdrängte und tabuisierte Thema unserer Gesellschaft. Kein Beleg kann diese These prägnanter stützen als der Umstand, daß ein erstaunliches Buch wie Robert Harrisons »The Dominion of the Dead«, das ausdrücklich die »Macht der Toten« in Erinnerung rufen will, in der deutschen Übersetzung den unoriginellen und ganz pointenfreien Titel »Die Herrschaft des To77 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeitliche Selbsteinordnung

des« erhalten hat. 160 Das Buch ist eine Zeithorizonterweiterung in die Vergangenheit hinein. Harrison will verdeutlichen, daß wir als Menschen »Kinder der Toten« in einem umfassenden Sinne sind. Konkret interessiert er sich für das Wesen und die Formen des »Innewohnens der Toten in der Welt der Lebenden«; gemeint sind z. B. Gräber, Häuser, Gesetze, Wörter, Bilder, Träume, Rituale, Denkmäler, Archive der Literatur. Was angesichts dieser Wiederentdeckung der Toten in dem von ihnen überlieferten Zuhandenen nachdenklich macht, ist die Einsicht, daß zumindest in unserem gegenwärtigen Bewußtsein die aus der Vergangenheit stammenden Werke und Einrichtungen so gar nicht auf die Toten als ihre Erbauer, Gründer, Stifter, Schöpfer und früheren Nutzer verweisen. Um es an einem simplen Beispiel zu verdeutlichen: Eine sogenannte »Altbau-Wohnung« etwa nehmen wir zu ihrem gegenwärtigen, hohen Nutzwert, schätzen insbesondere ihre ästhetischen Vorzüge und das damit verbundene soziale Prestige, doch es läßt sich wohl nur ausnahmsweise beobachten, daß die Ingebrauchnahme dieses von anderen geplanten, errichteten, genutzten und überlieferten Gegenstandes von einem ausgeprägten Erben-Bewußtsein begleitet wäre. Man darf allgemein nicht einmal behaupten, wir seien nur an den gegebenen Resultaten interessiert, denn zum Resultat-Bewußtsein gehört notwendig auch das Bewußtsein eines vorangegangenen Prozesses. Wir sind relativ wenig beeindruckt davon, was wir alles vorfinden. Die Welt der gegenwärtig Lebenden genügt sich selbst und entwickelt keine nennenswerte Neigung zum Andenken.161 Das kann man für selbstverständlich, für schlechthin alternativlos halten, der Philosoph nimmt jedoch das Erstaunliche daran wahr, und sein stark entwickelter Möglichkeitssinn kann sich stets vorstellen, daß es auch ganz anders ist. Es war Martin Heidegger, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß im hergestellten Werk stets eine Verweisung auf den Träger und Benutzer liegt. So begegnen beispielsweise in der Werkwelt eines Handwerkers mit dem in Arbeit befindlichen Zeug die anderen, für die das Werk bestimmt ist, mit. 162 Das am Strand ver78 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das vergessene Nachleben der Toten

ankerte Boot verweist auf denjenigen, dem es gehört und der es benutzt, auch wenn dieser gerade nicht da ist. Heideggers Gedanke verlangt nach einer stärkeren Verzeitlichung: Im hergestellten Werk liegt eine Verweisung auf denjenigen, der es früher hergestellt oder genutzt hat, auch wenn er uns nicht persönlich bekannt ist. Die im umweltlichen Zeugzusammenhang begegnenden Anderen sind dann nicht nur meine Zeitgenossen, sondern auch meine Vorfahren. Soweit kann man Harrisons kritischen Hinweis auf die naive Gegenwartsorientierung unserer Gesellschaft unterstützen und in Gestalt der These von der zeitlichen Verweisung des Zuhandenen auf die verstorbenen Vorfahren fortführen. Darf man hier jedoch im Ernst von einem Herrschaftsverhältnis sprechen? Harrison spricht vom Beherrschtwerden der Lebenden durch die Toten. Zum Beherrschtwerden im eigentlichen Sinne gehört gewöhnlicherweise ein Herrschenwollen auf der anderen Seite – kann diese Intention den Toten zugeschrieben werden? Und wie sollen Menschen, die gar nicht mehr existieren, imstande sein zu herrschen über solche, die gerade in der Blüte ihres Leben stehen? Hat dieses Verhältnis überhaupt etwas mit Herrschaft und Knechtschaft (auch in einem weiteren Sinne) zu tun? Diese Zweifel richten sich nicht nur gegen Harrisons aktuelle Rehabilitierung einer »Herrschaft« der Toten, sondern ebenso gegen die andere Seite, die zuvor im Zeitalter der Revolutionen das Recht der gegenwärtig lebenden Generation auf ihre historische Selbstbestimmung einforderte. Einen solchen Widerspruch der Lebenden im Namen der Freiheit von den Toten formuliert beispielsweise Thomas Paine: »Jedes Zeitalter und jede Generation muß ebenso frei sein, in allen Fällen selbständig zu handeln, wie die vorangegangenen Zeitalter und Geschlechter. Die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, ist die lächerlichste und unverschämteste aller Tyranneien. Der Mensch besitzt kein Eigentum am Menschen, ebensowenig besitzt eine Generation Eigentum an künftigen Generationen. […] Jede Generation ist kompetent und muß es sein für alle Vorhaben, 79 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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die ihre Lage erfordert. Es sind die Lebenden und nicht die Toten, für die gesorgt werden muß.« 163 Die Emanzipation von den Toten wurde im Umkreis der Amerikanischen Revolution intensiv diskutiert. Noch vor Paine entwickelt Thomas Jefferson 1789 in einem Brief den Grundsatz, »›that the earth belongs in usufruct to the living‹ ; that the dead have neither powers nor rights over it. […] the earth belongs to each of these generations during it’s course, fully, and in their own right. […] one generation is to another as one independant nation to another. […] The earth belongs always to the living generation.« 164 Jefferson bemüht sich, mit einem formalen Begriff von Generation einen verzeitlichten Gesellschaftsvertrag zu begründen. Das entscheidende Moment ist die Dauer einer Generation, die er auf 19 Jahre berechnet; es stellt sich die Frage, wo man in der historischen Realität das gedankliche Konstrukt einer solchen Generation ausfindig machen kann. Die Lebenszeit eines Individuums wird von Natur aus durch einen klaren Anfang, die Geburt, und ein ebenso klares Ende, den Tod, markiert – an welchem Nullpunkt der Menschheitsentwicklung soll man aber Jeffersons Generationeneinteilung beginnen lassen? Und müssen die weiteren Zäsuren nach arithmetischen Vorgaben gesetzt werden? Ein entsprechender grundsätzlicher Einwand ist bereits vor Jefferson von David Hume formuliert worden: »Wenn eine Generation von Menschen auf einmal verschwinden und eine neue auftauchen würde, wie im Falle der Seidenwürmer und Schmetterlinge, so könnte die neue Generation […] freiwillig und mit allgemeiner Zustimmung ihre eigene Form politischer Ordnung schaffen, ohne dabei auf die Gesetze oder Vorbilder ihrer Vorfahren Rücksicht nehmen zu müssen. Doch da die menschliche Gesellschaft sich in ständiger Bewegung befindet, wobei zu jeder Stunde ein Mensch diese Welt betritt und ein anderer sie verläßt, ist es unerläßlich für die Stabilität der Regierung, daß die nachfolgende Generation sich der bestehenden Verfassung anpaßt und dem Weg folgt, den ihre Väter in Anlehnung an ihre eigenen Väter ihnen vorgezeichnet haben.« 165 Hume wendet sich hier üb80 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das vergessene Nachleben der Toten

rigens nicht – wie man annehmen könnte – gegen Neuerungen schlechthin, sondern gegen radikale Neuerungen. Seinen Hinweis auf den Umstand, daß es unmöglich sei, in der Lebenswirklichkeit der Menschen auf gewissermaßen natürliche Weise Generationen voneinander zu trennen, hat Dieter Thomä noch um ein wichtiges Moment ergänzt. Menschen kommen eben nicht fertig auf die Welt, sondern wachsen erst in sie hinein. Jeffersons verzeitlichter Gesellschaftsvertrag nimmt keine Rücksicht auf die dringenden Orientierungsbedürfnisse von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, sondern tut so, als ob die Gesellschaft auf einen Schlag aus lauter Erwachsenen bestehe. Damit wird die Geschichtlichkeit der Gesellschaft ignoriert, das Konzept ist statisch und zu simpel. Thomä versteht dagegen mit Hume das zeitliche Zusammenleben der Menschen als ein Spiel von Überlieferung, Anpassung und Abweichung;166 dazu gehört übrigens, daß die Erwachsenen auch ihre Orientierungsverpflichtungen akzeptieren. Insgesamt erweist sich Jeffersons bloß formaler, nicht an historischen Phänomenen abgelesener, wie ein Etikett von außen aufgetragener Generationenbegriff als untauglich für sein Emanzipationsprojekt. Zu dessen Begründung benötigt er nämlich nicht einen neutralen, sondern einen emphatischen Generationenbegriff: Eine neue Generation bildet sich nicht einfach, weil eine bestimmte Zeit vergeht, weil alte Menschen sterben und neue geboren werden, sondern sie entsteht erst, wenn sich innerhalb einer Gruppe von Menschen, die sich altersmäßig nahestehen – z. B. ausgelöst durch ein prägendes Ereignis – ein eigenes Gemeinschaftsbewußtsein entwickelt. Nicht durch von außen berechenbare zeitliche Fristen, sondern durch dieses innere Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit kommt historisch so etwas wie eine neue Generation zustande, die den Anspruch auf Veränderung althergebrachter politischer Formen artikulieren und sich damit polemisch von den Vorfahren abheben könnte. Die Vorfahren schlechthin würde man dabei kaum als Generation bezeichnen können, da sich ihr Umfang viel weiter erstreckt. Wahrscheinlicher ist, daß die neue, durch Opposition zusammengeschweißte 81 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Generation ihr Recht gar nicht gegen »die Toten« durchzusetzen versuchen wird, von denen Jefferson immer wieder spricht, sondern gegen eine Gruppe, die sie als höchst lebendige, etablierte und derzeit herrschende (Eltern-)Generation vorfindet. Diese Einwände richten sich allein gegen inhaltliche Schwächen von Jeffersons Konzept. Wenn man das hier vorgestellte Anliegen der amerikanischen Gründungsväter – die Abwehr von generationeller Fremdherrschaft – allgemeiner betrachtet, kommt es darauf an, auf die praktischen Probleme zu achten, die ein konsequenter Generationen-Separatismus mit sich führen würde. Für die Ebene des Individuums hat Hugo von Hofmannsthal ein entsprechendes Credo der Diskontinuität formuliert: »Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.« 167 Das ist sehr hoch gegriffen. Gegen derartige Vorstellungen von einer nur momentanen Existenz mit der ständigen Möglichkeit zum absoluten Neuanfang lassen sich Einwände erheben, die auch für Kollektive gelten. Odo Marquard hat in diesem Sinne dafür argumentiert, daß Menschen aus einem fundamentalen Zeitmangel in erster Linie Kontinuitätswesen seien, auch wenn sie sich – ihrem Selbstverständnis zufolge – vielmehr durch Autonomie, Kritik, Innovation charakterisiert sehen möchten: »Unser Leben ist kurz; darum können wir nicht beliebig viel Neues erreichen, uns fehlt einfach die Zeit dazu. Das limitiert unsere Veränderungsfähigkeit und bindet uns an das, was wir schon sind, an unsere Herkunft.« 168 Das kann natürlich nicht heißen, daß keinerlei Emanzipation von der Herkunft möglich sei. Es klärt aber über das Ausmaß auf, in dem ein Neuansetzen erfolgen kann. Ein individueller wie kollektiver Momentanismus, wie ihn Hofmannsthal bzw. Jefferson entwerfen, ist zwar eine interessante philosophische Idee, erweist sich in der Lebenspraxis aber als äußerst unrealistisch. Jefferson hat, bedingt durch die historische Situation, vor allem die Emanzipation der gerade lebenden Generation von den Vorfahren im Blick – wie steht es aber auf der anderen Seite um eine eventuelle Emanzipation von den Nachfahren? Sein Konzept bil82 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das vergessene Nachleben der Toten

ligt diesen zwar prinzipiell ein ebensolches Selbstbestimmungsrecht zu wie den Gegenwärtigen, doch sind die Möglichkeiten seiner faktischen Ausübung natürlich in höchstem Maße vom Verhalten der gerade von ihrer Vorfahrenverpflichtung entfesselten Vorgängergeneration abhängig. Für die Probleme unserer Zeit hat er damit im Grunde keine Lösung anzubieten, weil er im Verhältnis der Generationen nur Rechte, keine Pflichten etabliert. Ein Staat der Gegenwart, der Schulden macht, der also mehr Geld ausgibt, als er eigentlich eingenommen hat und diese Mittel nur im Interesse der gerade Lebenden einsetzt, praktiziert streng genommen einen Generationen-Egoismus, der keine Rücksicht auf die Nachfahren nimmt. Nach den heute herrschenden Vorstellungen übernehmen unsere Nachfahren zwar die Pflicht, in Form von Zinszahlung oder Tilgung (in welcher Form auch immer) für unsere Schulden aufzukommen, doch sie gehören gar nicht bzw. nur unwesentlich zu den Nutznießern der ererbten Schulden. Ihre finanziellen Möglichkeiten sind vielmehr eingeschränkt, weil eine Vorfahrengeneration ihr Selbstbestimmungsrecht auf Kosten der Zukunft in Anspruch genommen hat. Theorien, die allein die Emanzipation in den Mittelpunkt stellen, können nicht genug zur Abwehr von Gleichgültigkeit zwischen den Generationen leisten. Entsprechend muß auch erneut die einseitige Thematisierung der Verhältnisse zwischen Vorfahren, Lebenden und Nachfahren unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft kritisiert werden. Wie noch zu zeigen sein wird, spielen hier auch andere Momente eine Rolle: Im Verhältnis zu den Vorfahren geht es ebenso um Gedenken und Dankbarkeit, um Übernahme von Schuld und Verantwortung; im Verhältnis zu den Nachfahren spielen Fürsorge und Verantwortung eine wesentliche Rolle. Schließlich ist darauf zu achten, um welche Inhalte der Streit geführt wird, wo die Schwerpunkte der Argumentation liegen. Jefferson und Paine wehren sich gegen die »Herrschaft der Toten« in politischer Hinsicht; vermutlich geht es ihnen nicht im selben Maß um eine kulturelle Unabhängigkeit von den Vorfahren, denn 83 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeitliche Selbsteinordnung

kaum dürfte jede Generation den Ehrgeiz haben, das Rad neu zu erfinden. Die Reflexion über die Rolle der Vorfahren zeigt also zwei Muster: Einerseits treten sie auf als diejenigen, die die politischen Möglichkeiten der Gegenwart binden und einschränken; in dieser Rolle fordern sie den Freiheitsdrang der gegenwärtig Lebenden heraus. Andererseits treten die Vorfahren als diejenigen auf, die bereits ungeheuer viel zur Erleichterung und Steigerung des gegenwärtigen Lebens geleistet haben; in dieser Rolle dürfen sie Dankbarkeit und Andenken beanspruchen. Die Diskussion über diese doppelte Rolle der Toten soll nun im 19. und 20. Jahrhundert an einigen ausgewählten literarischen und philosophischen Zeugnissen weiter verfolgt werden. Wahrscheinlich 1883 entsteht ein Schlüsseltext dieser Auseinandersetzung, Conrad Ferdinand Meyers Gedicht »Chor der Toten«, in dem eine Perspektive entfaltet wird, die dem Wissenschaftler prinzipiell nicht gestattet ist. Meyer nutzt hier nämlich die Freiheit des Dichters, um im Namen der Toten eine Ansprache an die Lebenden zu halten: »Wir Toten, wir Toten sind größere Heere Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere! Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten, Ihr schwinget die Sichel und schneidet die Saaten, Und was wir vollendet und was wir begonnen, Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen, Und all unser Lieben und Hassen und Hadern, Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern, Und was wir an gültigen Sätzen gefunden, Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden, Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte, Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte, Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele – Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!« 169

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Das vergessene Nachleben der Toten

Das Grundmodell für geschichtliche Vererbung bildet hier wieder jenes bereits von Cicero bekannte Gleichnis aus dem agrarischen Denken, das man unter das Motto »Vom Pflügen zum Ernten« stellen kann (vgl. II.2). Meyer verweist damit auf das generationenübergreifende Produzieren allgemeiner Güter, um danach das gegenwärtige Leben als ein Erzeugnis des Gefühlslebens der Vergangenheit darzustellen und schließlich besonders das Weiterwirken der Toten in den Bereichen Philosophie, Musik, bildende Kunst, Dichtung zu betonen. Entscheidend ist für Meyer der geistige Einfluß auf den Lebenswandel und die Ziele menschlichen Lebens, der gelegentlich sogar in der neueren analytischen Philosophie überraschend betont wird: »Die Toten bleiben Angehörige der Gemeinschaft.« 170 Für die nach 1945 Geborenen wirkt befremdlich, daß die von Meyer beschworene kulturelle Kontinuität zwischen den Toten und den Lebenden ähnlich wie die politische einmal heftig umstritten war. Auch hier gab es Forderungen nach einer Art Selbstbestimmungsrecht der gegenwärtig lebenden Generation, die sich gegen die Verpflichtung zur Überlieferung wendeten. Das Grundmotiv war ein starkes kulturelles Selbstermächtigungsbewußtsein, das sich durch den Blick in die Vergangenheit in seiner Entfaltung gebunden und behindert fühlte. Beherrschend war die Ambition, selbst kulturell zu schaffen, etwas Neues entstehen zu lassen und sich nicht auf die Pflege und Weitergabe des Alten zu beschränken. Die frühesten Spuren dieser eigenartigen Einstellung finden sich im Umkreis von Friedrich Nietzsche. Die (Falsch-)Meldung von der Inbrandsetzung des Louvre löst in ihm das Entsetzen des auf überlieferte Kulturgüter angewiesenen Gelehrten und Philologen aus. 171 Anders fällt die Reaktion seiner Umgebung aus. Cosima Wagner berichtet am 28. Mai 1871: »R[ichard] spricht nun heftig über den Brand [des Louvre] und seine Bedeutung, ›wenn ihr nicht fähig seid, wieder Bilder zu malen, so seid ihr nicht wert, sie zu besitzen‹. Professor Nietzsche sagt, daß für den Gelehrten die ganze Existenz aufhöre bei solchen Ereignissen. 85 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Von Bakunin gesprochen, ob dieser mit ansteckt?« 172 Das Thema läßt Nietzsche nicht mehr los. Zwei Jahre später erklärt er im Rahmen einer Deutung Bakunins, daß dessen Anarchismus sich eigentlich gegen den Fortbestand der bisherigen Bildung des Menschen richte: Das Ziel sei kulturelle Selbstbestimmung unabhängig von der Vergangenheit: »Die neue Generation soll ihre neue Kultur finden.« Und wie ein Echo der Worte Wagners klingt die folgende Erläuterung: »Der Mensch ist nur der Kunst werth, die er selbst schafft.« 173 Verglichen mit dem Standpunkt Wagners plädiert diese Formulierung noch für eine zusätzliche Einschränkung, und zwar hinsichtlich des Umfangs der berechtigterweise besessenen Kulturgüter; doch der Kontext der Äußerung legt eher nahe, daß der Satz (zumindest zu diesem Zeitpunkt) nicht Nietzsches eigene Auffassung zum Ausdruck bringt. Dennoch wird Nietzsche in der Folgezeit zum wichtigsten Motor der Verbreitung für das Motiv des unwilligen Erben in einer hochentwickelten Kultur, der die Menge überlieferter Kulturgüter als eine Last empfindet. 174 Dieses Grundgefühl führt zu einer aggressiven Reaktion, zu einer Verweigerung der Erben, die mehr als Erben sein wollen, die Schöpfer, zeitgemäßer: Konstrukteure sein wollen oder mindestens als deren Anwälte auftreten. 175 Im 20. Jahrhundert spitzt der Nietzsche-Leser Ernst Jünger den Gedanken noch weiter zu: Die Erhaltung des von Vorfahren Überlieferten diene der Kompensation eigener kultureller Unfruchtbarkeit. Das Museum als ein besonderer Ort für die Überlieferung vergangener Kultur werde nur deshalb so wichtig, weil die Schaffenskraft der Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschöpft sei: »Ebenso wie das moderne Naturgefühl ein Kennzeichen für den Zwiespalt ist, der zwischen den Menschen und der Natur besteht, deutet sich im Kulturgefühl die Entfernung des Menschen von der schöpferischen Leistung an – eine Entfernung, wie sie im Abstand des Museumsbesuchers von den ausgestellten Objekten zum Ausdruck kommt.« 176 Diese Objekte präsentieren nicht so sehr sich selbst, sondern vielmehr die beein86 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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druckende Gestaltungskraft der Vergangenheit. In Jüngers Augen vollzieht sich eine Selbstaufgabe, wenn eine Generation sich derart der Einrichtung von Museen widmet. Sie verschreibt sich dem Dienst an den Vorfahren, indem sie sich vor ihrer kulturellen Produktivität verbeugt, anstatt sich mit ihr zu messen. In den Rahmen von Jüngers antimusealen Affekt gehört auch eine provozierende Äußerung aus dem Jahr 1929, die ein geschichtliches Symbol aufruft, das später in der Revision seiner Haltung aufschlußreich wiederkehrt: »Wir besitzen in der Welt den Ruf, daß wir Kathedralen zu zerstören imstande sind. Das will viel heißen in einer Zeit, in der das Bewußtsein der Unfruchtbarkeit ein Museum neben dem andern aus dem Boden treibt.« 177 Das ist eine Anspielung auf die von deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Reims, die in der anschließenden Debatte (an der sich auf deutscher Seite u. a. Max Scheler, Thomas Mann, Friedrich Gundolf und Georg Simmel beteiligten) zu einem Symbol deutscher Barbarei erhoben wurde. Eine der Reaktionen bestand darin, den Vorwurf des Barbarentums trotzig zu akzeptieren und mit einer dem Selbstverständnis nach ›tieferen‹ Kulturtheorie zu verbinden. Das Kriegsereignis wird in neuem Kontext als ein symbolischer Gegenspieler zu einer kulturhistorischen Erscheinung gesehen, dem Ausbau der Museumslandschaft. Drei Jahre später bringt Jünger im »Arbeiter« gegenüber dem bürgerlichen Verlangen nach Verewigung der bestehenden materiellen Kultur das Verlangen nach Zerstörung ins Spiel: »Wir haben eine Art des historischen Fetischismus erreicht, die zum Mangel an Produktionskraft in einem direkten Verhältnis steht. Es ist daher ein tröstlicher Gedanke, daß irgendeiner geheimen Korrespondenz zufolge der Ausbau großartiger Zerstörungsmittel gleichen Schritt mit der Aufspeicherung und Konservierung von sogenannten Kulturgütern hält. Die nachfühlende und nachahmende Durchdringung dieser Güter, das heißt, der Kunst-, Kultur- und Bildungsbetrieb, hat einen Umfang angenommen, der eine Gepäckerleichterung notwendig erscheinen läßt, die man sich 87 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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gar nicht gründlich und umfassend genug vorstellen kann.« 178 Die hier noch unmißverständlich begrüßte Möglichkeit der Zerstörung überlieferter Kulturgüter soll offenbar der gegenwärtig lebenden Generation wieder Gelegenheit zu eigener kultureller Selbstdarstellung verschaffen. Jüngers militärische Metapher der »Gepäckerleichterung« suggeriert zweierlei: einerseits, daß es um die Befreiung von einer Last gehe, und andererseits, daß die Möglichkeit einer relativ bequemen und unproblematischen Distanzierung bestehe. Tatsächlich aber beschreibt Gepäckerleichterung auf euphemistische Weise einen Vorgang, der nicht nur im persönlichen Bereich rasch an seine Grenze führt179; seine breitere historische Realisierung in den Jahren nach 1933 zwingt den Erfinder der Metapher selbst zur grundlegenden Neubesinnung. Die Ausstrahlungskraft des Gedankens der kulturellen »Gepäckerleichterung« wird dabei nicht durch Argumente widerlegt, sondern durch die Erfahrung überwunden.180 Inmitten der »Vernichtungswelt« des Zweiten Weltkrieges entdeckt Jünger den Wert des Musealen. Unter dem Datum des 30. September 1942 berichtet er über einen Besuch in der Pariser Nationalbibliothek, voller Bewunderung für das System von Katalogen: »Die Arbeit der großen Sammlung und Sichtung scheint erst zu beginnen; wir stehen hier vor einer neuen Chinoiserie, vor einem neuen Mandarinentum, das zwar der schöpferischen Kraft entbehrt, doch sauber mit den geprägten Ideogrammen zu verfahren weiß. […] Mit diesen Geistern wird man besser leben, auch werden sie kontrollierbarer sein. Sie sind die Konservatoren in der Vernichtungswelt.« 181 Vom »zwar« zum »doch« – darin drückt sich der Wandel in Jüngers Einstellung aus; die museale Kompensation wird jetzt durchaus zu einer begrüßenswerten Angelegenheit. Hatte er noch wenige Jahre zuvor die Verwandlung von Kirchen in Museen kritisch bewertet, so beeindruckt ihn nun die gelungene Synthese: »Die museale Ordnung gewinnt ihre höchste Form, wenn an den auserlesenen Stücken zugleich Reliquiencharakter haftet – die Kostbarkeit wird durch die Gegenwart uralter 88 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Mächte überhöht.«182 Die Umwertung erfaßt auch das Symbol des Kulturverlusts im Ersten Weltkrieg, die Kathedrale. Im Zweiten Weltkrieg begreift Jünger auf dem Turm der Kathedrale von Laon »die Einheit zwischen jener frühen und unserer Zeit. Ich fühlte, daß sie vor allem mir nicht entgleiten darf, und schwor mir zu, fortan nie zu vergessen, was ich den Ahnen schuldig bin. […] Heute ergriff mich eine Ahnung von diesen Kathedralen als Werken, als Lebenswerken, fern von den toten Maßen der musealen Welt«. 183 Diese Ahnung wird erweitert zu einer Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens. Es ist nicht mehr der unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Anbruch eines neuen Zeitalters, der Jüngers Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern die Einheit mit der Geschichte wird gesucht. Früher beschäftigte ihn der Unterschied zwischen der »abgelaufenen Zeit« und der »heraufziehenden Zeit«, galt der Erste Weltkrieg als ein »Schlußstrich unter das 19. Jahrhundert« und die dynamische Nachkriegszeit als »die entscheidende Zäsur, die zwei Generationen trennt« 184, so wie überhaupt alle großen Ereignisse sowohl als Endpunkte wie Anfangspunkte erschienen, stand im Mittelpunkt das Erscheinen des »wirklich Neuen«, gestiftet durch die »Verschiedenartigkeit zweier Zeitalter, von denen ein werdendes ein untergehendes verschlingt«.185 Nun beklagt Jünger die durch den Zweiten Weltkrieg nicht nur architektonisch zerschnittene Verbindung zum Mittelalter. 186 Vor dem Hintergrund der neugewonnenen Einsicht in den Wert der geschichtlichen Kontinuität erfährt der zuvor im »Arbeiter« pathetisch begrüßte »Schnitt« eine Umwertung. Dort hieß es: »Der tiefe Schnitt, der in unserer Zeit das Leben bedroht, trennt nicht nur zwei Generationen, nicht nur zwei Jahrhunderte, sondern er kündet das Ende tausendjähriger Zusammenhänge an.« 187 Es hat den Charakter einer Revision, wenn Jünger nun am Vorabend des Zweiten Weltkrieges schreibt: »Spät, aber mächtig, beginnt mir einzuleuchten, was Stetigkeit im Leben heißt.« 188 Das Abschiednehmen hat seine Leichtigkeit eingebüßt. Jünger entdeckt mit Freude die Geschichtlichkeit der Dinge, das 89 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Angenehme der Wiederholung und den Wert der periodischen Elemente des Lebens: »Daß wir den Sinn dafür verloren, ist eine der Quellen des Unheils, das uns bedroht.« 189 Ernst Jüngers Experiment mit dem Gedanken der kulturellen Selbstbestimmung und dem Ethos der Diskontinuität ist geeignet, die Konsequenzen historischer Selbstbezogenheit vorzuführen. Dazu gehört z. B. die Lehre, daß ein emphatischer GenerationenSeparatismus, wie Jünger ihn kultiviert hat, immer auch den Generationenkonflikt mindestens in Kauf nimmt, eher aber noch herbeisehnt. Der Kampf wird in diesem Fall der Rezeptions- und Konservierungsmentalität des Bürgers angesagt, die Jünger mit einem mangelnden Willen zur Fruchtbarkeit erklärt. Das Gegenmodell wird als eine Art »schöpferischer Zerstörung« (Schumpeter) angepriesen; die Bereitschaft zur Verabschiedung von Kulturerbe schließt dabei ausdrücklich auch die Bereitschaft zur Zerstörung mit ein. Das eigene Selbstermächtigungsbewußtsein reicht als Legitimation hier jedoch nicht aus. Die kulturelle Eitelkeit jener Lebenden, deren »Werdelust« (Nietzsche) Ernst Jünger artikuliert, wird offenbar durch die Bewahrungsansprüche des bereits Geschaffenen gekränkt. Daß Jünger am Ende die Stetigkeit entdeckt und die ständige Bedrohtheit geschichtlicher Verbindung, deutet eine neue Bereitschaft zu zeitlicher Selbsteinordnung an, die nun im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen stehen soll.

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Zwischen Vorfahren und Nachkommen

IV.2 Zwischen Vorfahren und Nachkommen »Dankbarkeit ist Pflicht […]. Was die Extension dieser Dankbarkeit angeht, so geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenigen, die man nicht mit Gewißheit namhaft machen kann.« Kant, Metaphysik der Sitten 190 »You never actually own a Patek Philippe. You merely look after it for the next generation.« Werbeslogan der Schweizer Uhrenfirma Patek Philippe

Das Bewußtsein, zwischen Vorfahren und Nachkommen zu leben, hat wahrscheinlich zu allen Zeiten den stärksten Anstoß für lebenszeittranszendierende Zeithorizontbildungen dargestellt. Der für Zeithorizont-Phänomene besonders sensible Gesellschaftsanalytiker Alexis de Tocqueville beobachtet in seinem Werk »Über die Demokratie in Amerika« (1835/1840), daß unter bestimmten Umständen sogar eine Art moralische Gleichzeitigkeit der Generationen entstehen kann: »In den aristokratischen Völkern bleiben die Familien während Jahrhunderten im gleichen Stande und oft am gleichen Orte. Das verleiht allen Generationen eine Art von Gleichzeitigkeit. Ein Mensch kennt fast alle seine Ahnen, und er achtet sie; er glaubt schon seine Urenkel zu erspähen, und er liebt sie. Willig nimmt er Pflichten gegenüber den einen wie den andern auf sich, und häufig widerfährt es ihm, daß er persönliche Freuden den Wesen opfert, die nicht mehr oder noch nicht da sind.« 191 Die Kontinuität der Lebensform scheint also – zumindest in den von Tocqueville genannten Schichten – eine selbstlose Zeithorizonterweiterung zu begünstigen. Wichtig ist darüber hinaus, daß hier die einzelnen Personen sich alle auf die Familie (»das Geschlecht«) als eine übergeordnete, objektive Größe beziehen, die die Flüchtigkeit der individuellen Existenzen überdauert. Doch welche Rolle spielt das aristokratische Familienkonzept nach dem Verlust der gesellschaftlichen Führungsrolle des Adels? 91 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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In Nietzsches Augen ist Ende des 19. Jahrhunderts die Überlieferungskraft bedroht; in diesem Sinne nutzt er den familiären Zeithorizont als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal. Abfällig kommentiert er: »Wer vom Pöbel ist, dessen Gedenken geht zurück bis zum Grossvater, mit dem Grossvater aber hört die Zeit auf.« 192 Darauf baut er seine Forderung nach einem »neuen Adel« auf, dessen weiter Zeithorizont sich in Abgrenzung vom alten Adel weniger in die Vergangenheit als in die Zukunft erstrecken soll. Schon Tocqueville selbst diagnostiziert unter den demokratischen Bedingungen eine neuartige Dynamik, ein Kommen und Gehen der Familien, mit der Folge, daß man sich nur noch um die Nächststehenden kümmert, während die Vorangegangenen vergessen werden und von den Folgenden keine Vorstellung mehr existiert. 193 Damit nimmt er bereits den Schritt vom neunzehnten in das zwanzigste Jahrhundert vorweg, von der aristokratischen Familie zur bürgerlichen Familie. 194 Mit dieser beschäftigt sich ein geistesverwandter moderner Beobachter, der Schriftsteller T. S. Eliot, der bei der Frage nach dem Umfang der modernen Familie auf interessante Verwandlungen stößt: »In unserm Zeitalter umfaßt er kaum mehr als die lebenden Mitglieder […] die übliche Familie auf den Plakaten besteht aus den beiden Eltern und ein bis zwei jüngeren Kindern. Was bewundert werden soll, ist nicht die innere Bindung an die Familie, sondern persönliche Zuneigung zwischen ihren Gliedern.« Gegen dieses synchrone Modell der Familie setzt Eliot ein diachrones: »Wenn ich von der Familie spreche, denke ich an ein Band, das einen längeren Zeitraum umspannt: eine Pietät gegenüber den Toten, wie unbekannt sie auch sein mögen, und eine Sorge für die Ungeborenen, seien sie noch so fern. Wenn diese Ehrfurcht gegenüber Vergangenheit und Zukunft nicht im Heim gepflegt wird, kann sie in der Gemeinschaft nie mehr sein als eine konventionelle Vokabel. Dieser Sinn für die Vergangenheit hat nichts zu tun mit den Eitelkeiten und Prätentionen der Genealogie; und dies Verantwortungsgefühl ist ein anderes als das der Verfertiger von Sozialprogrammen.« 195 92 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zwischen Vorfahren und Nachkommen

Die Bindung an die Vorfahren sollte nach Eliot also von Ehrfurcht und Pietät, die Bindung an die Nachkommen durch Sorge und Verantwortung geprägt sein. Generell hat man Grund zu der Befürchtung, daß die diachrone Orientierung (die Zeithorizonterweiterung) eine bedrohte kulturelle Errungenschaft darstellt, die jederzeit verlorengehen kann, um einer bloß synchronen Einstellung Platz zu machen. Selbstlose Zeithorizonterweiterung ist jedenfalls für Edmund Burke eine kulturelle und moralische Leistung, die nicht selbstverständlich ist: »Leute, die nie hinter sich auf ihre Vorfahren blickten, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen.« 196 In der neueren demographischen Debatte erklingen ganz ähnliche Töne, wenn ein prominenter Autor erklärt, sein Ziel sei die Wiedervereinigung mit beiden: den Ahnen und den Enkeln. 197 Das Bemühen um eine genealogische Wiedervereinigung will den Einzelnen der Gegenwart wieder in einem Netz konkreter Verpflichtungen verankern, gebildet aus einer Vorfahrenverpflichtung und einer Nachfahrenverpflichtung. Wie diese auf jener aufbaut, muß aber ausführlicher analysiert werden, als es in Burkes Bonmot geschieht. Die Rekonstruktion muß darüber hinaus zumindest versuchen, einen rationalen Kern des Gedankens ausfindig zu machen. Als Grundlage ist ein Überlieferungsbewußtsein erforderlich, das sich in einer betont nüchtern angelegten Variante folgendermaßen formulieren läßt: ›Ich profitiere von den Leistungen meiner Vorfahren.‹ Die Voraussetzung für die Herausbildung einer generationenübergreifenden Verbundenheit ist das Bewußtsein, etwas erhalten zu haben, das weitergegeben werden muß. Diese Voraussetzung ist jedoch heute sicherlich wenig entwickelt, eventuell abgestorben, denn man muß zur Kenntnis nehmen, daß es gegenwärtig kaum nicht-materielles Erbenbewußtsein gibt. Es war der Begriff des »Erbes«, der bisher zur Veranschaulichung des Lernziels gedient hat; von Burke wurde er um das Moment der Unveräußerlichkeit ergänzt (vgl. III.3). Der vollständige Begriff des Erbes umfaßt beide Richtungen, das Empfangen 93 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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von den Vorfahren ebenso wie das Weitergeben an die Nachfahren. Jede Generation nimmt in der Geschichte beide Rollen ein, ob es ihr bewußt ist oder nicht. Projiziert man nun das Motiv des unveräußerlichen Erbes in die Zukunft und bezieht es von dort auf die Gegenwart zurück, so ergibt sich eine der klügsten politischen Parolen der Geschichte: »Wir haben diese Erde von unseren Kindern nur geborgt!«

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Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität?

IV.3 Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität? »Was du den Eltern Gutes tust, das erwarte im Alter von deinen Kindern.« Thales von Milet 198 »Und der Besitz von Kindern dient nicht nur dazu, der Natur ihren Tribut zu zahlen, sondern auch dem (eigenen) Nutzen. Denn was sie im Vollbesitz ihrer Kräfte an Mühe für den Hilflosen aufwenden, das erhalten sie, wenn sie im Alter selbst hilflos sind, von denen zurück, die jetzt die Kraft dazu haben.« Aristoteles 199 Neoterpe: Das Alter ehr’ ich, denn es hat für mich gelebt. Palaeophron: Die Jugend schätz’ ich, die für mich nun leben soll. Goethe 200 »So wie Ihr heute an uns spart, werden wir uns morgen um Euch kümmern!« Protestplakat Berliner Schüler 1996 201

Wenn wir heute z. B. für Opfer von Naturkatastrophen irgendwo auf der Erde spenden, dann üben wir synchrone Solidarität; unsere Hilfe kann dabei erhebliche räumliche Distanzen überwinden. Anders sieht die Sache dagegen bei zeitlichen Distanzen aus. Man muß sich erst eigens versichern, daß Solidarität allgemein nicht einfach in eben genannten Form aufgeht, daß daneben die nicht minder wichtige diachrone Solidarität existiert, wie Hermann Schmitz sie genannt hat. 202 Relativ selten findet sich in der Geistesgeschichte die Einsicht, daß sich menschliche Kollektive bewußt und gezielt um ihre Zeithorizont-Prägung bemühen müssen. Für Edmund Burke ist der Staat »eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen.« 203 In seiner Nachfolge hat Adam Müller 204 eingeschärft, daß Gesell95 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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schaft oder Staat sowohl eine »Allianz der Zeitgenossen« als auch eine »Allianz der Raumgenossen« darstellt. Der Staat sei nicht bloß die Verbindung vieler nebeneinander lebender, sondern auch vieler aufeinanderfolgender Familien, eine Allianz der vorangegangenen Generationen mit den nachfolgenden, und umgekehrt. Die Dauer hielt Müller für einen vernachlässigten Aspekt der geläufigen Staatstheorien, die sich in der Regel auf den Moment fixierten. Der Gedanke der diachronen Solidarität ist nicht nur in der Theorie der Politik, sondern auch in ihrer Praxis ein Stiefkind. In jeder politischen Kultur wird – bewußt oder unbewußt – eine kollektive Zeithorizont-Prägung vollzogen. Politiker der Gegenwart beispielsweise sind der Versuchung ausgesetzt, sich ihren Zeithorizont durch die Dauer einer Legislaturperiode vorgeben zu lassen. Diese Gefahr macht sich besonders bemerkbar, wenn es um politische Entscheidungen geht, die unmittelbar mehrere Generationen betreffen. Politiker erhöhen beispielsweise ihre eigenen Chancen, wiedergewählt zu werden, wenn sie die Konsummöglichkeiten der gegenwärtig lebenden Menschen durch Aufnahme öffentlicher Kredite steigern. Das geht aber zu Lasten der entsprechenden Möglichkeiten nachfolgender Generationen; da diese nicht über Wählerstimmen Einfluß nehmen können, hat ein Politiker mit kleinem Zeithorizont keinen Grund, Verschuldung grundsätzlich problematisch zu finden. In den letzten Jahren haben Jungpolitiker aller Parteien erkannt, daß durch gegenwartsfixierte Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte ihre eigenen zukünftigen Handlungsmöglichkeiten ganz erheblich beschnitten werden. Aus dieser Einsicht ist eine fraktionsübergreifende Initiative zur institutionellen Verankerung von Generationengerechtigkeit im Grundgesetz entstanden. 205 Die Antragsteller konstatieren, daß politischen Entscheidungen ein Strukturproblem innewohnt, eine Tendenz zur Bevorzugung der Gegenwart und zur Vernachlässigung der Zukunft, die sich beispielsweise in der Bevorzugung des Konsums vor der Investition ausdrücke. Bemerkenswert im Kontext des 96 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität?

Themas diachrone Solidarität ist vor allem die zeitliche Selbsteinordnung der Verfasser: »Dabei erkennen die Antragsteller an, dass sie die gleiche Verantwortung gegenüber ihren Kindern und Enkeln tragen wie gegenüber vorausgegangenen Generationen.« Die politischen Sprecher dieser Gruppe sehen also jede Generation in einer Mittelgliedstellung, die sie zwischen Vorfahren und Nachkommen in einen wesentlich erweiterten Zeithorizont einbettet. Daneben bildet sich gerade in der Gegenwart das Bewußtsein für die Notwendigkeit diachroner Solidarität neu angesichts einer sich abzeichnenden tiefen Krise der Altersversorgung, die die jetzt berufstätige Generation in einigen Jahrzehnten beschäftigen wird. Der allgemeine Hintergrund ist inzwischen bekannt: Wir leben in einer alternden Gesellschaft, bestimmt durch die Kombination von abnehmender Geburtenrate und steigender Lebenserwartung. Selbst nüchterne Analytiker äußern vorsichtige Warnungen: »Eine alternde Gesellschaft ist immer mit steigenden Belastungen infolge des wachsenden intergenerativen Umverteilungsbedarfs verbunden.«206 Ein anderer Beobachter kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Das Hauptproblem der demographischen Entwicklung ist die neue Qualität des Verteilungsproblems mit einem dramatisch ansteigenden Verteilungsstreß zwischen den sozialen Gruppen.«207 Aus der Perspektive der geburtenstarken Jahrgänge äußert ein besorgter Zeitgenosse: »Unser Altern wird nicht gemütlich sein.« 208 Das sind die eher harmloseren Formulierungen, denen dramatischere zur Seite gestellt werden können. So prophezeit ein Vertreter der Dreißig- bis Vierzigjährigen: »Uns droht ein Bürgerkrieg der Generationen.« 209 Eine weitere Autorin warnt vor der »Alterslüge«: »Auch wenn wir in äußerem Frieden leben dürfen: innerhalb der Bevölkerung stehen wir vor einer Zerreißprobe.« 210 Das sind Stimmen aus der Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Deutlich früher schon hat der Ökonom Friedrich August von Hayek ein dramatisches Szenario entworfen: »Bei der Altersver97 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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teilung, der wir uns nähern, besteht kein Grund, daß die Mehrheit über 40 nicht bald versuchen sollte, die jüngeren Jahrgänge für sich arbeiten zu lassen.« Das Ende sieht er so: »Konzentrationslager für die Alten, die sich nicht selbst erhalten können, wird wahrscheinlich das Schicksal einer alten Generation sein, deren Einkommen vollkommen von einer Zwangsausübung auf die Jüngeren abhängt.« 211 Dieses Bild wirkt gegenwärtig ganz übertrieben, aber es ist sinnvoll, sich die möglichen Details bewußt zu machen. Was wären die Machtmittel in einem »Krieg der Generationen«? Die »Alten« könnten über die Mehrheit der Wählerstimmen eine numerische »Diktatur der Alten« anstreben. Ebenso wäre eine vorbeugende Einflußnahme denkbar durch die Ausnutzung noch bekleideter gesellschaftlicher Positionen. Wer an den Schalthebeln der Macht sitzt, ist eben in den seltensten Fällen jung. Den »Jungen« wiederum stünden zwei Wege offen, ein konfliktmeidender und ein konfliktsuchender. Im ersten Fall würde man die immer stärker vorhandene internationale Mobilität nutzen; eine Auswanderung der Leistungsträger wäre das Ergebnis. 212 Auch eine allgemeine Leistungsverweigerung ohne Ortswechsel ist zumindest denkbar, wenn auch nicht in ihren konkreten Formen vorhersehbar. 213 Der zweite, konfliktbereite Weg: Die »Jungen« stellen das Gros des Personals mit medizinischer Kompetenz und militärischer Macht (Ärzte, Pfleger, Polizisten, Soldaten) und sind bereit, diesen Umstand für ihre Interessen einzusetzen. Ob derartige Szenarios tatsächlich eintreten werden, können wir nicht wissen. Um so wichtiger ist es, sich möglichst frühzeitig und möglichst nüchtern mit der wichtigsten Ursache eines »wachsenden intergenerativen Umverteilungsbedarfs« (Peter Schimany) zu beschäftigen. Das konkrete Problem ist vor allem das Umlageverfahren der Rentenversicherung. Ein solches Umlageverfahren betreibt – das ist den wenigsten bewußt – lediglich Altersfürsorge und eben keine Altersvorsorge. Echte Altersvorsorge kann allein erfolgen über – ökonomisch gesprochen – Real98 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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kapital (Geldanlage) oder Humankapital (Kinder). 214 Wenn eine Generation oder mehrere in bestimmtem Umfang den gegenwartsfixierten Konsum der zukunftsorientierten Investition in Humankapital vorziehen, dann verliert das System seine Leistungsfähigkeit. Das umlagefinanzierte Rentensystem wird häufig ohne eine nähere Klärung 215, aber mit einem gewissen Pathos als »Generationenvertrag« bezeichnet. In den letzten Jahren mehren sich nun die Stimmen, die erklären, der »Generationenvertrag« existiere nicht mehr, er sei bereits gekündigt worden. Einer der schärfsten Kritiker der Formel ist der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der hier an seine früheren Stellungnahmen anknüpfen kann: »Tatsächlich ist der Generationenvertrag zwischen den heute Aktiven und der Enkelgeneration längst aufgehoben. Die direkte und indirekte Verschuldung des Gesamtstaates läßt sich ebenso als Kündigungsschreiben interpretieren wie die geringe Geburtenrate, die unzureichende Ausbildung der nächsten Generation und die ungenügende Bildung von Kapital für ihre kommenden Aufgaben. Wenn im Land leidenschaftlich und mit Herzblut gestritten wird, geht es deshalb immer um die Gegenwart.« 216 Die gegenwärtige Vorstellung von einem »Generationenvertrag« krankt an einem zu kleinen Zeithorizont; diese Einsicht muß noch weiter ausgearbeitet werden. Die Idee des Generationenvertrages wurde 1954 von Wilfrid Schreiber, einem Privatdozenten für Sozialpolitik, entwickelt; drei Jahre später diente sie (mit erheblichen Änderungen) als Grundlage für die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Der zentrale Gedanke Schreibers, der allerdings so nicht zur Umsetzung kam, lautet: »Unser Vorschlag kann als ›Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen‹ bezeichnet werden. Die jeweils Erwerbstätigen sorgen dafür, daß die jeweils Alten ihr Renteneinkommen haben, und erwerben damit ihr Anrecht, in ihrem eigenen Alter von den dann Erwerbstätigen mitversorgt zu werden. Dieser Solidar-Vertrag ist nichts anderes als der wahr99 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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haftige und ungekünstelte Vollzug der Tatsachen, die – so oder so – wirksam sind. Das Renteneinkommen der Alten eines ganzen Volkes kann tatsächlich immer nur aus dem laufenden Sozialprodukt entnommen werden.« 217 Hier sind mehrere Aspekte bemerkenswert. Einmal muß das Wort »jeweils« betont werden, das in knapper Form auf den permanenten Generationenwechsel einer Gesellschaft verweist. Die gegenwärtige erwerbstätige Generation ist die Generation der Rentenbezieher von morgen, die dann von einer neuen erwerbstätigen Generation versorgt werden muß. Zu Beginn unserer Überlegungen (vgl. I.) war an Plutarchs Bericht über jene Feiern im antiken Sparta erinnert worden, bei denen Chöre die drei Altersgruppen repräsentierten und so über die gesamte Lebenszeit das Bewußtsein einer sich bewegenden generationellen Einbettung weckten oder wachhielten. Eine derartige Institution, die die bewußte Selbsteinordnung in die Generationenfolge mit ihren jeweiligen Versorgungsaufgaben pflegen würde, wäre in einer geeigneten Form auch für unsere Gesellschaft sinnvoll. Daneben steckt in Schreibers Plan die sog. »Mackenroth-These«, der zufolge aller Sozialaufwand immer nur aus dem laufenden Volkseinkommen erbracht werden kann. 218Auf die sich hier anschließende Diskussion darüber die Frage, ob dem Umlageverfahren oder dem Kapitaldeckungsverfahren der Vorzug zu geben ist, kann hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist nur die einfache Tatsache, daß weder Kinder noch Rentenbezieher Produkte oder Dienstleistungen bereitstellen und Einkommen immer von der jeweils aktiven Generation erzeugt wird. Schließlich beruft sich Schreibers Konzept auf den wahrhaftigen »Vollzug der Tatsachen« – diese Formulierung bleibt rätselhaft, obwohl sie den wichtigsten Gedanken enthält, und muß daher näher expliziert werden. In einem Rückblick auf den ursprünglichen Schreiber-Plan erklärt der katholische Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning, daß es sich um ein Solidar-Verhältnis zwischen drei Generationen handelt. Jeder Versuch, die Versorgung der Alten auf nur zwei Generationen aufzubauen, 100 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Generationenkonflikt oder diachrone Solidarität?

scheitere an der »physischen Unmöglichkeit«: »Es ist nichts zu machen.«219 Die von physischen Tatsachen ausgehende Notwendigkeit zur Drei-Generationen-Solidarität gehört eigenartigerweise nicht zum allgemeinen Wissensbestand.220 Es sind stets nur einzelne Stimmen, die daran erinnern. In unseren Tagen weist der Bevölkerungsforscher Herwig Birg wieder auf diese vergessene Tatsache hin. Es lohnt sich, den Zusammenhang einmal im Detail zu rekonstruieren: Am »Generationenvertrag« sind immer mindestens drei Generationen beteiligt, nicht nur zwei. Das liegt daran, daß das menschliche Leben in der uns bekannten Form zwei Phasen kennt, in denen es auf die Hilfe Anderer angewiesen ist, in denen Generationen-Solidarität erforderlich wird: »Jeder Mensch empfängt zweimal – am Anfang und am Ende seines Lebens – die Unterstützung durch andere Generationen, diesen empfangenen Leistungen stehen entsprechend zwei Gegenleistungen gegenüber – an die Generationen seiner Vorfahren und seiner Nachkommen.« Diese komplexere Situation stand den geistigen Vätern der Rentenreform von 1957 noch klar vor Augen; so hatte Wilfrid Schreiber in seinem ursprünglichen Plan zwei Richtungen der Hilfe vorgesehen. 221 Die politische Umsetzung dieses weitsichtigen Konzepts ist jedoch am Zeithorizont der Politiker gescheitert. Nell-Breuning kritisiert diesen zu kleinen Zeithorizont, wenn er bemerkt, daß im Streit der politischen Parteien immer nur die Finanzierung der laufend auszuzahlenden Renten steht, während der Zusammenhang der drei Generationen vollkommen ausgeblendet werde. 222 Birg fährt in seiner Darstellung fort: »Der Sachverhalt wird mit dem Begriff ›Drei-Generationen-Vertrag‹ richtig bezeichnet, der Ausdruck ›Zwei-Generationen-Vertrag‹ ist hingegen falsch, und er leistet auch dem Irrtum Vorschub, als ob die mittlere Generation allein durch Einzahlungen beispielsweise in die gesetzliche Rentenversicherung schon die Voraussetzungen für ihre eigene Versorgung im Alter erfüllt hätte. Die mittlere Generation gibt mit diesen Einzahlungen jedoch nur die von ihr in der Kin101 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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des- und Jugendphase empfangenen Leistungen an ihre Elterngeneration zurück; ihre eigene Versorgung im Alter muß von der Generation ihrer Nachkommen erwirtschaftet werden. Die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages bzw. die Sicherung der Versorgung im Alter hängt daher entscheidend vom Größenverhältnis der aufeinander folgenden Generationen ab, die Versorgungsleistungen empfangen und erbringen.« 223 Das Erfordernis, drei Generationen in den Blick zu nehmen, erweitert den Zeithorizont. Ein erweiterter Zeithorizont schärft das Bewußtsein für den Rollenwechsel im Verlauf jedes einzelnen Lebens, der durch staatliche Strukturen nur verdeckt, aber nicht beseitigt werden kann: Von Versorgungs-Empfängern in der Kindheit verwandeln wir uns zu (zweifachen) Versorgungs-Gebern im Stadium des arbeitstätigen Erwachsenen, um im Alter wieder zu Versorgungs-Empfängern zu werden. Dieser Rollenwechsel findet unaufhörlich statt und ist auf ein kontinuierliches Fließen angewiesen, mit anderen Worten: es muß genug Nachwachsende geben. Ein solches dynamisches Lebenslaufbewußtsein, das gezielt auf den Rollenwechsel der Generationen vorbereitet, kann von einer Kultur auch institutionalisiert werden. Derartiges berichtet, wie bereits ausgeführt, Plutarch von den Spartanern.224 Daß ein solches dynamisches Lebenslaufbewußtsein nicht einfach zu erlangen ist, illustriert die Geschichte des Ödipus, der als erster Mensch imstande ist, das Rätsel der Sphinx zu lösen, obwohl deren Frage gerade dem Menschsein gilt, allerdings nicht in gewohnt statischer, sondern in dynamischer Perspektive (vgl. I.). Das Sichbewußtmachen der Notwendigkeiten im Versorgungsverhältnis der Generationen hat gezeigt, daß bestimmte politische Probleme von sich aus die Erweiterung des Zeithorizonts über den gewohnten Rahmen hinaus fordern und auch noch die grundsätzlichere Änderung der Lebenseinstellung einer Kultur verlangen: Nötig ist eine Schulung der historischen Selbsteinordnung, genauer eine Schulung des Mittelglied-Bewußtseins. 225

102 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Die Kette der Generationen

IV.4 Die Kette der Generationen »In meiner erweiterten Erfahrung, welche mir die vorgegebene Welt zur Evidenz der Selbstdarstellung bringt, treten die Vorkommnisse auf: Geburt, Altern, Krankheit, Tod, das Generative, und danach verstehe ich mich selbst als dereinst sterbend und als dereinst geboren. Ich erfahre dabei Ältere, die vor mir geboren sind, und habe die Erfahrungsvoraussicht, dass nach mir und allen Genossen meiner Gegenwart neue Generationen kommen werden. Ich verstehe überhaupt die Menschen als generativ in offener beiderseitiger Endlosigkeit zusammenhängend und verstehe, dass das Sein derselben Welt, die ich erfahre, als dieselbe durch die endlose Kette der Generationen hindurch von Menschen erfahren war, im Konnex dieselbe durch einstimmige Erfahrung (und durch wechselseitige Korrektur hindurch) ausgewiesen und als ausweisbare gegeben war und in evidenter Voraussicht sein wird.« Edmund Husserl 226 »In der Kette der Individuen entsteht die allgemeine Lebenserfahrung.« Wilhelm Dilthey 227

Der Philosoph Nicolai Hartmann hat im 20. Jahrhundert an das alte Motiv der »Kette der Generationen« erinnert, und zwar in seiner eindringlichen Mahnung zu diachroner Solidarität: »Überall gibt es die andere Dimension des Zusammenhanges neben der simultanen Gemeinschaft. In jeder kulturellen Beziehung sieht sich der Einzelne noch in eine andere Gemeinsamkeit hineingestellt, in die der Generationsfolge, die ihn sich selbst als kurzlebiges Glied in einer Kette verstehen lehrt. Die sittliche Verantwortung, die ihm daraus erwächst, bedeutet eine Solidarität neuer und größerer Art als die Solidarität der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und des Glaubens.« 228 Wenn Hartmann den Menschen dazu bewegen möchte, sich als kurzlebiges Glied in einer Kette der Generationen zu verstehen, ist diese Bemühung selbst ein Stück in einer bereits bestehenden 103 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Kette geistiger Überlieferung, deren erstes Glied wohl von Goethe in seinem Gedicht »Grenzen der Menschheit« gestiftet wurde: »Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette.« 229

Friedrich Schiller übernimmt das Motiv von Goethe und arbeitet es in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 zu einer Theorie der Beschäftigung mit Geschichte aus, die die beiden Pole in Burkes oben zitierten Bonmot, Vorfahrenverpflichtung und Nachfahrenverpflichtung, in nachvollziehbarerer Weise verknüpft. Schillers Gedanke läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Beschäftigung mit der Geschichte schärft das Dankbarkeitsbewußtsein gegenüber den Vorgängergenerationen. Wenn die Leistungen der Vorfahren als solche durch historisches Studium auffällig werden, betrachtet man sie nicht mehr als selbstverständlichen Besitz, sondern als eine Art Geschenk. Da man die Dankesschuld gegenüber der vorangegangenen Generation nicht mehr abtragen kann, bildet sich der Wunsch, dies wenigstens gegenüber der nachfolgenden Generation zu tun: »Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beytrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Daseyn zu befestigen.« 230 Das Motiv der Kette der Generationen dient den Autoren also dazu, zwischenmenschliche Beziehungen stärker zu verzeitlichen. Dankbarkeit wird in der Regel synchron verstanden und entsprechend eingeübt, z. B. für gerade empfangene Wohltaten. In einen größe-

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ren, mehrere Generationen umfassenden Zeithorizont gestellt, wird sie zur diachronen Dankbarkeit. 231 Cicero hatte dabei die Perspektive desjenigen beleuchtet, der seiner Nachwelt etwas übergibt (vgl. II.2); Schiller rückt jetzt die Position des Empfangenden in den Mittelpunkt, es geht ihm darum, in jeder gegenwärtigen Generation dieses Empfänger-Bewußtsein zu wecken und dadurch die Ursache der Undankbarkeit, die Unaufgeklärtheit, zu beseitigen. Das Überlieferte und zu Überliefernde – bei Cicero im Gleichnis von Säen und Ernten offengelassen – faßt er hier konkreter mit der Trias Wahrheit, Sittlichkeit, Freiheit. Was Schiller in erster Linie ins Auge faßt, der geistige Einfluß der Vergangenheit auf den Lebenswandel und die Ziele menschlichen Lebens, das hat sich auch bei Conrad Ferdinand Meyer als das entscheidende Motiv herausgestellt (vgl. IV.1). Goethe dagegen hat vermutlich vor allem den vitalen Aspekt gemeint, die Weitergabe des Lebens durch seine vergänglichen Träger, 232 die dadurch zu Medien werden. Ein solches Selbstverständnis als Medium wird indessen beim modernen Individuum auf heftigen Protest stoßen; die skizzierte Selbsteinordnung in die Kette der Generationen dürfte als unerträgliche Zumutung empfunden werden. Das Problem, das für moderne Menschen an dem Gedanken der Generationenkette haftet, läßt sich gut an einem literarischen Beispiel aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts verdeutlichen. Wenn Thomas Mann in seinem Roman »Buddenbrooks« den im Untertitel angekündigten »Verfall einer Familie« schildert, dann nimmt er so etwas wie eine literarische Zeithorizonterweiterung vor. Dem Leser wird ein bürgerliches Generationenschicksal vorgeführt, das so keine der beteiligten Personen selbst erfahren könnte. Es geht um das Verhältnis der Generationen, den Wandel der Lebensstile, das Bemühen um Kontinuität bei gleichzeitigem Schwinden der Kraft. Die Verkörperung der Familientradition stellt Konsul Johann Buddenbrook dar. Mit einem Brief will er seine Tochter Tony zur Heirat mit einem ungeliebten Mann bewegen; die Verbindung liegt im Interesse der Familie, das der 105 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Patriarch hier über die Neigungen der Tochter stellt, die einem anderen Mann gelten. Konsul Buddenbrook schreibt an seine Tochter Tony: »Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach rechts oder links zu blicken einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten.« 233 Das angesehene alte Motiv der Kette der Generationen wird bemüht, um Standesdünkel und Krämergeist zu bemänteln; insofern kommt das hehre Ideal hier in Kontakt mit einer profanen Realität. Aber der Kontext hält noch einen darüber hinausgehenden, tragischen Zug bereit. Tonys Verzicht auf ihr individuelles kleines Glück, ihr Gehorsam gegenüber der Familientradition trägt seinerseits zur Katastrophe bei. Der Versuch einer Selbsteinordnung in die Kette der Generationen scheitert, denn was diese Kette erhalten und weitergeben soll, sind weder Kultur noch Vitalität, sondern nur Vermögen und Ansehen. Der Roman will zeigen, daß die Zeit der ökonomisch motivierten Vernunftehen vorbei ist; durch den Anachronismus ihrer Entscheidung wird Tony zur tragischen Heldin des modernen Subjektivismus. Am Ende ruft sich das »Schattenreich der unerlösten Möglichkeiten« (Georg Simmel) schmerzhaft in Erinnerung: Was wäre gewesen, wenn Tony ihrer persönlichen Neigung den Vorzug gegeben hätte? Dieser Tendenz gehört die ganze Sympathie des modernen Individualismus (der bezeichnenderweise in der Regel als synchroner Individualismus kritisiert wird, selten als diachroner). Mit den Bildern aus Goethes Gedicht gesagt: Gegen die Kontinuität der »Kette« will sich der einzelne »Ring«, das Individuum, behaupten. Diesen Umstand hat prägnant Georg Simmel zum Ausdruck gebracht. Man spüre »bei stark individualisierten Menschen höherer Kulturen eine Feindseligkeit gegen ihre Funktion, 106 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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eine Welle in dem durch sie hin weiterrauschenden Lebensstrom zu sein«. 234 Das Bild der Welle, die sich im Strom nicht richtig abheben kann, ist natürlich demütigender für das Individuum als das Bild des gesonderten Gliedes in einer weiterreichenden Kette. Beide Veranschaulichungen treten an das begrenzte LebenslaufBewußtsein des Individuums heran und übersteigen es durch einen großen Zeithorizont, um den Blick für diachrone Zusammenhänge zwischen Menschen zu schärfen. Hier kommt es nun darauf an, zwei Einseitigkeiten gleichermaßen vorzubeugen. Einerseits darf der lebenszeittranszendierende Zeithorizont nicht alleiniger Maßstab für die Lebensgestaltung des Individuums sein (wie im Fall von Tony Buddenbrook), sondern muß durch die angemessene Berücksichtigung der individuellen Gegenwart ergänzt werden (vgl. VI.). Andererseits trübt die rigorose Selbstbehauptung des Individuums gegenüber jeglichen Einordnungen in Allgemeinheiten den Blick für wichtige synchrone wie diachrone Abhängigkeiten. In der Gegenwart dürfte die zuletzt genannte Einseitigkeit verbreiteter sein. Norbert Elias – als Soziologe grundsätzlich skeptisch gegenüber den Neigungen der Philosophen, mit einem weltund gesellschaftslosen Einzelnen anzufangen 235 – sieht die Gründe dafür in einer Mischung aus Motiven, in der sowohl das Interesse an persönlicher Selbstbestimmung wie die Furcht vor der eigenen Endlichkeit eine Rolle spielen. Er beobachtet ein ausgeprägtes Bemühen der Menschen, sich über ihre vielfältigen, auch diachronen Abhängigkeiten hinwegzutäuschen. Ebenso versuche man zu vermeiden, der Begrenztheit des menschlichen Lebens und dem kommenden Zerfall der eigenen Person offen ins Auge zu sehen und daraus Konsequenzen zu ziehen: »Vorerst können Menschen sich selbst offenbar nur selten im Geflecht ihrer Abhängigkeit von anderen Menschen, die gegenseitig sein kann, sehen, also als begrenztes Glied in der Kette der Generationen, als Fackelläufer in der Stafette, der am Ende die vorwärtsgetragene Fackel an Andere weitergibt.« 236 Elias legt also Wert darauf, daß der von ihm beschriebene und beklagte Zustand eine 107 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Sache kultureller Übung ist. Eine entsprechende Pflege des kulturellen »Möglichkeitssinnes« könnte zu anderen Orientierungen führen: Die ausdrückliche Anerkennung der Begrenztheit würde den Blick über Anfang und Ende des eigenen Lebens hinaus befreien und den großen Zeithorizont ermöglichen, der Vorfahren und Nachkommen ins Bewußtsein treten läßt. Beide Perspektiven, die Orientierung des Individuums an seiner jeweiligen Gegenwart und am lebenszeittranszendierenden Zeithorizont, schließen sich nicht aus, sondern können miteinander vermittelt werden. Radikaler Individualismus jedoch ist in gewissem Sinne Zeithorizonterweiterungsverweigerung. 237 Will man diesen Rückzug des Individuums aus seiner diachronen Verknüpfung und damit aus dem Gattungsbewußtsein in zeitlicher Hinsicht einmal relativieren, muß man auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgehen, der alle Individuen zu allen Zeiten gleichermaßen angeht, die Herausforderung durch das Schicksal des Todes. Da ist zunächst auf die enge Beziehung von Kultur und Gräberkultur zu verweisen (vgl. II.2). Daß unter den Menschen die Lebenden die Toten nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, sondern ihnen von jeher mehr oder weniger aufwendige Formen der Bestattung zuteil werden lassen, kann nicht allein mit persönlichen Gefühlen von konkreten Hinterbliebenen erklärt werden. Der Akt des Beerdigens (oder ähnliche Akte) ist zugleich eine Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Sterblichkeit und insofern die Bekundung einer Solidarität der Sterblichen. Menschheit, so erklärt Robert Harrison in »The Dominion of the Dead«, sei keine Spezies: »Sie ist eine Art und Weise, sterblich zu sein und in Beziehung zu den Toten zu stehen. Mensch – human – zu sein heißt vor allem, daß man begräbt.« 238 Ein gemeinsames Sterblichkeitsbewußtsein könnte in der Lage sein, die Basis für ein Verbundenheitsgefühl mit Vorfahren und Nachkommen zu bilden. In diesem Sinne schreibt Harrison: »Sich selbst zu einem Sterblichen machen, bedeutet, dass man lernt, als ein sterbendes Geschöpf zu leben, oder genauer: Es bedeutet zu lernen, wie man die eigene Sterblichkeit zur Grundlage seiner 108 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Beziehung zu denen macht, die das Leben weitertragen werden, aber auch zu denen, die schon gestorben sind.« 239 Die schlimmste Demütigung für das Individuum ist der nüchterne Hinweis auf seine Sterblichkeit. Hat der Gedanke, diesem Individuum zu einem Mittelgliedbewußtsein zu verhelfen, Aussichten auf Erfolg? Das selbstherrliche Subjekt hat bereits die ökologische Kränkung hinter sich gebracht, hat eingesehen, daß es in vielfacher Weise von seiner Umwelt abhängig ist. Es hat diese Einsicht in alltägliche Selbsteinschränkung umgewandelt, betreibt seitdem beispielsweise diszipliniert und geduldig Mülltrennung – in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch ganz unvorstellbar. Es wird auch die neue, die genealogische Kränkung überstehen. Es wird lernen, daß es nicht nur räumlich von seiner Umwelt, sondern auch zeitlich von seiner Einbettung in den Generationenzusammenhang abhängig ist. Wie jeder tiefergehende Lernprozeß ist auch dieser natürlich mit Schmerzen verbunden und nötigt zum Abschied von liebgewordenen Illusionen. Die Einsicht in die genealogische Mittellage erleichtert auch das Bestreben, sich von historischer Eitelkeit zu befreien, die ihre Nahrung aus einer perspektivischen Einseitigkeit, dem ausschließlichen Rückblick auf die Vorfahren bezieht. ›Wie weit man es gebracht hat‹ – diese mal mehr, mal weniger beliebte, aber nie vollständig diskreditierte Distanzierungsgeste gegenüber der Vergangenheit kann sich auf alle möglichen Felder erstrecken. Es sind die mentalitätsbildenden Nebeneffekte der Theorien, auf die es hier ankommt: Fortschrittsphilosophien verschiedener Art erzeugen diese historische Aufsteigermentalität, und auch Geschichtsforschung ist nicht davor geschützt, vorwiegend als Schmeichelei für die Gegenwart zu wirken. Anstelle von Gegenwarts-Hochmut und Geschichts-Verachtung wäre (im Sinne Harrisons) vielmehr ein die gemeinsame Lage anerkennendes Mitgefühl angebracht, eine gewisse Solidarität der geschichtlichen Wesen. 240 Der Abschied vom Habitus der naiven Überlegenheit wird 109 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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vollzogen, wenn man die perspektivische Einseitigkeit überwindet, wenn man sich nicht nur als Subjekt des geschichtlichen Rückblicks, sondern auch als dessen Objekt zu begreifen versucht. Die Mittelgliedstellung bedeutet hier: So wie wir auf unsere Vorfahren schauen, werden auch unsere Nachfahren auf uns zurückblicken. 241 Walter Rathenau hat in diesem Sinne einen »Rückblick der Kommenden« auf seine eigene Zeit entworfen, der nicht die Eitelkeit der Zeitgenossen zu befriedigen sucht: »An diese Zurückgebliebenen ihrer Zeit werden unsere Nachkommen sich erinnert fühlen, wenn sie aus alten Berichten unsere Lebenslage und Denkweise ermitteln.« 242 Die Würdigung der Mittelgliedstellung würde allgemein bedeuten, den Geist Petrarcas zu pflegen (vgl. II.1), wenn auch in einer etwas weniger prätentiösen Form. Die Möglichkeit des Rückblicks versetzt uns nicht in eine schlechthin privilegierte Position: Die Erkenntnis der Schwächen unserer Vorfahren ist nicht mit einer entsprechenden Selbsterkenntnis der gegenwärtig Lebenden verbunden. Am einfachen Beispiel dargestellt: Wenn das erwachsen gewordene Kind die Defizite der eigenen Erziehung begreift und selbst zu vermeiden sucht, bedeutet das nicht, daß es bei allem Bemühen nicht selber Fehler, nämlich neue Fehler machen wird. Goethe hat auf diesen Umstand aufmerksam gemacht: »Denn indem wir die Irrthümer unserer Vorfahren einsehen lernen, so hat die Zeit schon wieder neue Irrthümer erzeugt, die uns unbemerkt umstricken und wovon die Darstellung dem künftigen Geschichtsschreiber, ebenfalls ohne Vortheil für seine Generation, überlassen bleibt.« 243

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V. Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen

V.1 Modale Lagezeit »Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt.« Hugo von Hofmannsthal, Terzinen über Vergänglichkeit 244 »Die Zeit quält die Menschen durch die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist.« Hermann Schmitz 245 »Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernsthaft. Er erklärte dazu, daß das Erlebnis des Jetzt etwas Besonderes für den Menschen bedeute, etwas wesentlich anderes als Vergangenheit und Zukunft; doch dieser so wichtige Unterschied zeige sich nicht in der Physik und könne dort auch nicht auftauchen. Daß dieses Erlebnis von der Wissenschaft nicht erfaßt werden kann, bedeutete ihm einen schmerzlichen, aber unausweichlichen Verzicht.« Bericht von Rudolf Carnap246

Wenn man Zeit so perfekt gliedert und gesellschaftlich organisiert, wie es der abendländischen Kultur in einem langen Prozeß gelungen ist 247, dann hat man einen großartigen Gestaltungsraum gewonnen: Man erhebt sich sozusagen zum Herrn der Zeit, man rechnet mit ihr und nutzt sie, betrachtet sie als einen Gegenstand, aus dem sich etwas machen läßt. Daß man umgekehrt von der Zeit auch (in einem nicht abgegriffenen Sinne des Wortes) betroffen sein kann, daß sie zu einem grundsätzlichen, nicht nur orga111 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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nisatorischen Problem zu werden vermag, gerät dabei in den Hintergrund. Die Uhr und der Kalender haben einen ungeheuren Siegeszug rund um die Welt hinter sich. 248 Unsere Einteilung der Zeit in Sekunden, Minuten und Stunden, in Tage, Wochen, Monate und Jahre hat sich so umfassend durchgesetzt, daß ein Versuch, sich auf das Phänomen der Zeit zu besinnen, sozusagen erst einmal durch diese kulturellen Formen hindurch muß, um zu so etwas wie einer Erfahrung von Zeit zu gelangen. Von Augustins berühmter Ratlosigkeit sind wir weit entfernt, denn Zeit – das ist doch das, was die Uhr mißt. Wenn Konventionen derart erfolgreich der möglichen Verunsicherung durch ein Phänomen vorbeugen, dann muß die philosophische Beirrung eigens geweckt werden. Das ist die Aufgabe der phänomenologischen Devise »Zu den Sachen selbst!«. 249 Sie soll Zweifel wecken, ob man mit Formeln des common sense eigentlich bei der Sache ist oder nur routiniert über sie hinwegredet und »sich nährt aus einem überlieferten und abgegriffenen Wortwissen darüber«. 250 Der kritisch nachfragende Phänomenologe verlangt im Sinne Humes für alle ideas (philosophisch interessante Begriffe und Redewendungen) nach den zugehörigen impressions (den sie deckenden unwillkürlichen Eindrücken) als Ausweisung. Für unser Thema bedeutet das, Fragen zu stellen wie diese: In welchen Situationen erfahren wir »Zeit« eigentlich? Gibt es so etwas wie den »Fluß der Zeit« überhaupt, gibt es tatsächlich »Zeitpunkte«, darf man so einfach von »Zeitstrecken« sprechen? Und auf welche Vorstellung von Zeit greifen wir zurück, wenn wir Zeithorizonterweiterung betreiben? Es gilt also, für das kulturell einstudierte, überlieferte Bild der Zeit nach einem konkreten »Sitz im Leben« zu fahnden. Denjenigen »ideas«, die sich nicht durch entsprechende »impressions« ausweisen können, muß der Status bloßer Konstrukte zugewiesen werden. Eine solche Vergewisserung ist in unserer Untersuchung bisher versäumt worden. Die zuvor entwickelte Theorie des Zeithorizonts hat implizit Gebrauch gemacht von einem ganz be112 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Modale Lagezeit

stimmten, durchaus einseitigen Zeitbegriff. Die Rede vom Zeithorizont nutzt die Möglichkeit des Menschen, in Vergangenheit oder Zukunft Datierungen vorzunehmen. Uns erscheint es ganz selbstverständlich, daß wir von einem bestimmten Tag in der vergangenen oder der kommenden Woche sprechen können. Es muß aber ausdrücklich untersucht und gerechtfertigt werden, wie Menschen sich bei der Bildung von Zeithorizonten auf eine (den Tieren gerade nicht vertraute) Vorstellung wie die Sukzession früherer und späterer Zustände berufen können. Die phänomenologische Klärung des Zeitbegriffs baut hier auf den Arbeiten von Hermann Schmitz auf. 251 Schmitz kritisiert grundsätzlich, daß sich die konventionelle Zeitvorstellung zu sehr am Leitmotiv der Sukzession oder Serie orientiert. Was so entsteht, ist eine Vermengung ganz verschiedener Konzepte, die im Alltag zwar sehr nützlich sein kann, einer Besinnung auf das Phänomen selbst aber erhebliche Hindernisse entgegenstellt. Bevor man die Möglichkeit entdeckt, Zeit als Sukzession früherer oder späterer Zustände aufzufassen, erfährt man das Phänomen auf eine Weise, die auch den Tieren geläufig ist: als einen dramatischen Einbruch. Ein solcher Zugang zum Thema wird mindestens als ungewohnt empfunden werden, wahrscheinlich sogar Widerspruch herausfordern. Der Protest macht sich dabei nicht klar, daß der Hauptstrom der bisherigen Philosophie mit einem verborgenen Leitbild arbeitet, dem erwachsenen, besonnenen Menschen. Der am Schreibtisch nachdenkende Philosoph porträtiert sozusagen sich selbst. Damit wird aber eine ganz unzulässige Einschränkung des thematischen Feldes vorgenommen. 252 Es kommt dagegen darauf an, den Menschen aus seiner statischen Idealisierung als souveränes Vernunftsubjekt herauszulösen und dem Auf und Ab des wirklichen Lebens auszusetzen. Diese Perspektive zeigt ein labiles Wesen, das zwischen Besonnenheit und Bestürzung, »Verselbstigung« und »Entselbstigung« (Goethe) hin und her pendelt. Entsprechend vielfältig gestaltet sich die Zeiterfahrung. 253 Die gesuchte »impression« von Zeit im Sinne Humes, die ur113 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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sprünglichste Zeiterfahrung sozusagen, die wir auch mit den Tieren gemeinsam haben, ist nicht das nüchterne Datieren, das Kalkulieren mit der Zeit als Serie von einzelnen Zeitmomenten, sondern das Plötzliche, das eine gleitende Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens zerreißt und etwas auffällig Neues exponiert: Der Tagträumer, der die Zeit vergessen hat, fährt durch ein lautes Geräusch zusammen. Im Zustand des Dösens hat sich ihm nichts einzeln abgehoben, er hat – wie man sagt – an nichts gedacht, genauer an nichts Einzelnes. Der Tagträumer hat in einem noch nicht nach Raum und Zeit geschiedenen Kontinuum der Dauer und Weite gelebt. Im Schreck als einer intensiven Erfahrung von Gegenwart wird dieses Kontinuum zerrissen, plötzlich tritt etwas Neues auf, die gleitende Dauer sinkt abgeschieden in die Vergangenheit, die vorbei ist, zurück. Diesen Zustand nennt Hermann Schmitz »primitive Gegenwart« – die negative Wertung, die man aus diesem Ausdruck heraushören könnte, ist nicht beabsichtigt, denn »primitive« Gegenwart hat nach Schmitz eine außerordentlich wichtige, ja unverzichtbare Bedeutung für das Personsein des Menschen. Wenn der im Schreck zusammengefahrene Mensch sich besinnt und – vielleicht noch immer in einer gewissen Aufregung – sich nach und nach zurechtlegt, was das eigentlich für ein lautes Geräusch war und woher es kam, dann ist er bereits dabei, den Zustand der primitiven Gegenwart wieder zu verlassen. Er kann sich beispielsweise fragen: Was war das, das mich da eben erschreckt hat? Mit dieser Frage beginnt die Entfaltung der Gegenwart in ihre Momente: Ich, Hier, Jetzt, Dasein, Dieses. 254 In der allerersten Bestürzung waren diese Momente der Gegenwart miteinander verschmolzen. Eine Zeithorizontbildung ist in der primitiven Gegenwart deshalb unmöglich. Immer wenn Menschen sich dieser Verfassung annähern, in Erfahrungen von Angst, Panik, Schmerz, Wut, schrumpft der zuvor in besonnenem Zustand ausgebreitete Zeithorizont zusammen. Das beschreibt der Traumaforscher Jonathan Shay: »Für Kampfsoldaten bricht der Zeithorizont ebenso stark zusammen wie der sittliche

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und gesellschaftliche Gesichtskreis. Es kommt für sie nur darauf an, das Jetzt zu überstehen.« 255 Dieser Begriff von Zeit ist auch deshalb zur Begründung von Zeithorizontbildung untauglich, weil er modale Unterschiede, Sein und Nichtsein, betont: Die Gegenwart ist, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht. Schmitz spricht daher von »Modalzeit«. Mit Modalzeit haben Menschen zu tun, wenn sie ungeduldig oder sehnsüchtig darauf warten, daß etwas Erfreuliches endlich geschieht (wie die Kinder zu Weihnachten), wenn sie froh sind, daß ein bevorstehendes unangenehmes Ereignis noch nicht eingetreten ist (wie der Patient im Wartezimmer des Zahnarztes) oder wenn sie darunter leiden, daß etwas nicht mehr ist, unwiderruflich vorbei ist (beim Abschied von einem Menschen durch Trennung oder Tod). Zeit ist also für Schmitz nicht nur dimensional gegliedert (früher, später, gleichzeitig), sondern auch modal durch die entsprechenden Unterschiede der drei Zeitmodi. 256 Zur Zeithorizontbildung gelangen wir erst, wenn eine zweite Konzeption von Zeit hinzukommt: die Lagezeit. Voraussetzung ist die Entfaltung der Gegenwart, die Abhebung der fünf Momente Ich, Hier, Jetzt, Dasein, Dieses voneinander. Diese fünffache Emanzipation erschließt Möglichkeiten, die wir wie selbstverständlich für Wesenszüge normalen menschlichen Lebens halten. Und tatsächlich ist unser menschlicher Alltag heute eher von entfalteter als von primitiver Gegenwart geprägt. Die Emanzipation des Ich z. B. ermöglicht eine affektive Neutralisierung, eine Vergleichgültigung des zuvor Bedeutsamen 257; der Mensch bekommt die Fähigkeit, sich nüchtern und besonnen über die Sache zu stellen. Der zuvor Erschrockene etwa kann nun erkennen, daß das eben noch überwältigende und nicht weiter bestimmbare Geräusch ›nur‹ die Stimme der Kollegin X war, die ihn um Mitternacht beim gedankenversunkenen Verlassen seines Büros überraschte. Im Augenblick des Erschreckens selbst war ihm diese beruhigende Identifizierung noch nicht möglich. Hinzu kommt die Emanzipation des Dieses und des Daseins, 115 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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die dem Menschen »die Welt als das Feld der freien Einzelheit« eröffnen. 258 Der eben noch bestürzte Mensch z. B. kann sich nun vergegenwärtigen, daß er besagte Kollegin bereits früher einmal auf dem um diese Zeit menschenleeren Flur getroffen hat, er kann also ein bestimmtes Ereignis, das nicht mehr ist, vergegenwärtigen und sich insofern über modale Unterschiede hinwegsetzen. Dieser Emanzipation verdanken Menschen die flexible Reaktionsfähigkeit und besondere Wendigkeit ihres Lebens in Besonnenheit, wenn sie über einzelnes Nicht-mehr- und Noch-nicht-Seiendes verfügen, sich z. B. an einem bestimmten Tag der kommenden Woche miteinander verabreden. Die Emanzipation des Dieses und des Daseins ermöglicht Phantasie, spielerische Identifizierung, datierende Erinnerung und Erwartung, damit Zwecksetzung und Planung.259 Arnold Gehlen thematisiert diese Möglichkeiten unter dem Titel der »Phantasie«; seine Darstellung zeigt, daß dieses Phänomen auf der Entfaltung der fünf Momente (Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich) aufbaut, auch wenn diese nicht eigens ausgeführt wird. Gehlen versteht Phantasie mit Melchior Palagyi als eine »vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen«. Den Menschen, den man in der Philosophie üblicherweise als »Vernunftwesen« charakterisiert, nennt Gehlen daher mit gleichem Recht ein »Phantasiewesen«, weil er in der Lage ist, »sich aus den Klammern der unmittelbaren Raum- und Zeitgegenwart zu befreien«. 260 Dies gelingt dem Menschen, weil er in der entfalteten Gegenwart über Raum, Zeit, Identität, Sein und Nichtsein verfügen kann, so daß z. B. er über einzelnes Abwesendes, Nicht-mehr- oder Nochnicht-Seiendes sprechen kann. In der primitiven Gegenwart ist derartiges nicht möglich. Man kann sich diese Zusammenhänge recht gut veranschaulichen an einem empirischen Beispiel, dem Forschungsbericht des Linguisten Daniel Everett, der 1977 zunächst als Missionar den Stamm der Pirahã aufsuchte, welcher abseits der modernen Zivi116 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Modale Lagezeit

lisation an einem Nebenfluß des Amazonas lebt. 261 Everetts Bemühungen, für das Christentum zu werben, scheiterten kurz gesagt am Zeithorizont der Pirahã; sie konnten mit einem Schöpfungsmythos, mit überlieferten Geschichten, sogar mit Phantasiemärchen, nichts anfangen, weil alle diese Erzählungen über das unmittelbare Erleben des Sprechers oder eines anderen, der das Ereignis gesehen und dem Sprecher berichtet hatte, hinausgingen. Everetts Aufmerksamkeit wandte sich daher dem durch Sprache geformten Weltzugang zu und insbesondere dem, was er das »Prinzip des unmittelbaren Erlebens« nennt. Mit diesem Begriff faßt er eine Reihe von Erscheinungen zusammen: Den Pirahã fehlen Zahlwörter, und sie verzichten auch auf das Zählen 262; sie kennen nicht die dazu erforderlichen, das unmittelbare Erleben überschreitenden Abstraktionen. Sie legen keine Lebensmittelvorräte an, planen nicht für mehr als einen Tag auf einmal und reden nicht über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft. Sie verwenden nur Zeitformen, die relativ zum Augenblick des Sprechens definiert sind, also nicht das Perfekt, Plusquamperfekt und Futur. Die Ausdrücke für Verwandtschaftsbeziehungen reichen in ihrem Bedeutungsspektrum nicht über die Lebenszeit eines Sprechers hinaus (es fehlen z. B. Begriffe für Urgroßeltern). In ihren Mythen geht es nie um Ereignisse, für die es keine lebenden Augenzeugen gibt. Everett faßt zusammen: »Alle Aussagen der Pirahã sind unmittelbar im Augenblick des Sprechens verankert und nicht in irgendeinem anderen Zeitpunkt.« 263 Der Autor ist von dieser Weltsicht zunehmend fasziniert, sieht in der Hingabe an die unmittelbare Gegenwart auch den Grund für das intensive Glücksempfinden der Indianer und macht, anstatt andere zu bekehren, schließlich selbst eine Art Konversion durch. In unserem Kontext soll die von Everett beschriebene Lebensform unter Verzicht auf jede Wertung – weder unter der Rubrik »primitiv« noch unter »glücklich« (wie im populären Titel der deutschen Übersetzung des Buches) – allein der Veranschaulichung phänomenologischer Ergebnisse dienen. Wenn man dem Autor glauben kann, hat man es mit einer Kultur zu tun, die so 117 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen

gut wie keinen Sinn für Zeithorizonterweiterung besitzt. Voraussetzung für die Zeithorizontbildung ist wie gesagt die Entfaltung der Gegenwart, die Abhebung der fünf Momente Ich, Hier, Jetzt, Dasein, Dieses voneinander. Man könnte die Lebensweise der Pirahã folgendermaßen interpretieren: Entweder scheint die Entfaltung der Gegenwart nicht in dem Maße stattzufinden, wie wir es gewohnt sind, oder es besteht kein Interesse an der Ausnutzung ihrer Möglichkeiten. Dies betrifft also insbesondere die Verfügung über Raum, Zeit, Identität, Sein und Nichtsein, konkret das von uns ausgiebig geübte Sprechen über einzelnes Abwesendes, Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Seiendes. Das Beispiel kann also behilflich sein bei dem Versuch, das uns selbstverständlich Erscheinende in unserer Zeiterfahrung auffällig werden zu lassen. In der reinen Modalzeit, so hatten wir gesehen, ist eine Zeithorizontbildung nicht möglich; zu ihr gelangen wir erst, wenn über die Entfaltung der Gegenwart eine zweite Konzeption von Zeit hinzukommt. Die Zeitform, die sich nicht um Modalunterschiede kümmert, ist die Lagezeit; sie teilt die Ereignisse nicht in vergangene, gegenwärtige, zukünftige ein, sondern sortiert sie danach, ob sie früher, gleichzeitig oder später liegen. Mit der reinen Lagezeit arbeitet beispielsweise die Physik, deren Meßdaten auf Dasein, Nichtmehrsein und Nochnichtsein keine Rücksicht nehmen. Aber auch viele Philosophen gehen wie selbstverständlich nur von der Lagezeit aus, wenn sie über Zeit reden. Wie leicht die lagezeitliche Gliederung die modalzeitliche in den Hintergrund drängt, läßt sich besonders gut an zwei Philosophen studieren, deren Denken auf den ersten Blick hervorragend in den Kontext des Nachdenkens über Zeithorizonterweiterung zu passen scheint: Georg Simmel und Martin Heidegger. Beider Werk hängt in vielfältiger Weise zusammen; 264 das gilt namentlich für die Beschäftigung mit dem Thema Zeit in Simmels »Lebensanschauung« und Heideggers »Sein und Zeit«. Heidegger hat mit seiner Betonung des »Sich-vorweg-seins« sicherlich einen wichtigen Beitrag für das Nachdenken über Zeithorizonterweiterung geleistet. 265 Doch sein letztlich harmonisches Konzept von 118 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Modale Lagezeit

Zeitlichkeit ignoriert die der Modalzeit wesentliche Zerrissenheit, wie Hermann Schmitz detailliert gezeigt hat. 266 Heidegger verharmlost insbesondere die Grausamkeit des Abschieds, indem er das Dasein mit einem ungehinderten Vorlaufen, Zurückkommen und Wiederholen einfach über die Zeit herrschen läßt. Sein Ansatz weckt zwar den Sinn für Zeithorizonterweiterungen, geht dabei aber wie selbstverständlich von der erwartenden Einstellung aus, die nach Schmitz erst in entfalteter Gegenwart möglich ist. Da Heidegger sich nicht auf das elementar-leibliche Betroffensein einlassen will, kommt ihm die Idee einer reinen Modalzeit überhaupt nicht in den Blick. Weniger bekannt ist Georg Simmels Philosophie der Zeit, und hier läßt sich der prinzipielle Fehler noch leichter und anschaulicher rekonstruieren. In seinem Spätwerk präsentiert Simmel eine Philosophie des Lebens, die sich bewußt auf die Vieldeutigkeit des Begriffs einläßt. Simmel denkt dabei weniger in biologischen als kulturellen Bahnen. 267 »Leben« kann z. B. das Leben der Kultur sein, aber ebenso das konkrete Leben eines menschlichen Individuums oder auch ein weit darüber hinausreichendes Gattungsleben, in dem Individuen keine Rolle mehr spielen. Wenn Simmel sich mit dem Thema Zeit beschäftigt, geht es vor allem um die Zeiterfahrung des Individuums, die er von modalzeitlichen Relikten befreit. Zwar gesteht er eingangs zu, daß Realität ganz allein an der Gegenwart hafte, während Vergangenheit nicht mehr und Zukunft noch nicht sei. Doch gelte dieser logische Zwang nicht für das subjektiv gelebte Leben, das sich vielmehr als »ein in zeitlicher Ausdehnung Reales« empfinde. 268 Für das Individuum sei daher Gegenwart stets aus einem Stückchen Vergangenheit und einem kleineren Stückchen Zukunft zusammengesetzt. In der Erinnerung an früher Erlebtes gehe es zwar nicht um zeitlos gewordene Inhalte, denn die Lagezeit bleibt für Simmel das unbestrittene Orientierungsschema, indem er Erinnerungen an bestimmte Zeitstellen gebunden sieht. Aber gerade die Erinnerung deutet er nun so, daß die Lagezeit alle Reste der Modalzeit relativiert und nur eine weit ausgedehnte Gegenwart übrig läßt. Im Verhältnis 119 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen

zum früher Erlebten gilt nämlich nach Simmel: »[…] die Sphäre des realen gegenwärtigen Lebens erstreckt sich bis zu ihm zurück. Freilich ersteht damit nicht das Vergangene als solches aus seinem Grabe; aber da wir das Erlebnis nicht als ein gegenwärtiges, sondern als ein dem damaligen Moment verhaftetes wissen, so ist unsere Gegenwart eben keine punktuelle, wie die einer mechanischen Existenz, sondern sozusagen nach rückwärts ausgedehnt. Wir leben in solchen Augenblicken über den Augenblick hinaus in die Vergangenheit hinein.« 269 Immerhin ersteht das Vergangene nicht »als solches aus seinem Grabe« – das wäre die absurde Konsequenz einer vollständigen Ignoranz gegenüber modalen Unterschieden. Aber entscheidend ist, daß Simmel die gelebte Gegenwart entgrenzt. Das läßt sich ebenso an seiner Behandlung der Zukunft beobachten. Zunächst stellt sich hier für Simmel die Frage, an welchem Phänomen die Untersuchung Maß nehmen soll. Eine naheliegende Möglichkeit scheidet er aus: die Ausrichtung des Menschen auf einen zukünftigen Zweck, der als starrer Punkt von der Gegenwart diskontinuierlich geschieden ist. Statt dessen wählt Simmel den menschlichen Willen, der nicht wie der Zweck punktuell, sondern kontinuierlich verstanden wird und so plausibel machen soll, wie das Leben die Gegenwart auch in diese Richtung transzendieren kann: »Mit jeder, im Jetzt verlaufenden Willensbewegung erweisen wir, daß eine Schwelle zwischen dem Jetzt und der Zukunft gar nicht real ist, da wir, wenn wir sie setzen, zugleich diesseits und jenseits ihrer sind.« 270 Das Phänomen des Willens soll Simmel zufolge zeigen, daß die Zukunft nicht mit einer scharfen Grenzlinie von der Gegenwart geschieden ist. Die modalzeitliche Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gilt nach Simmel nicht für »das Leben« (hier ist das individuelle Leben des Menschen gemeint); diese ansonsten durchaus vertraute Trennung wertet er als nur »logisch«, »grammatikalisch«, »begrifflich«, »mechanistisch« ab. Simmel eliminiert die Modalzeit, indem er ihr wichtigstes Merkmal, die Wirklichkeit, in einem bestimmten Sinne auch Vergangenheit 120 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Modale Lagezeit

und Zukunft zuschreibt. Darauf beruht seine Definition von »Leben«, die wegen ihrer Begrifflichkeit Heidegger aufgefallen sein muß: »Die Existenzart, die ihre Realität nicht auf den Gegenwartsmoment beschränkt und damit Vergangenheit und Zukunft ins Irreale rückt – deren eigentümliche Kontinuität vielmehr sich realiter jenseits dieser Scheidung hält, so daß ihr Vergangenheit wirklich in die Gegenwart hineinexistiert, die Gegenwart wirklich in die Zukunft hinausexistiert – diese Existenzart nennen wir Leben.« 271 Kritisch muß man anmerken, daß eine Beschränkung der Realität auf den Gegenwartsmoment natürlich nicht die Phänomene Vergangenheit und Zukunft ins Irreale rückt, sondern lediglich bestimmte vergangene oder zukünftige Ereignisse. Simmel selbst kann ja etwa in seinem Musterbeispiel des sich in die Zukunft erstreckenden Willens nicht meinen, das Gewollte selbst sei real. Real ist allerdings, daß hier ein Zeithorizont ausgebildet wird. Was Simmel mit unzulänglichen Mitteln beschreibt, ist also das Phänomen der Zeithorizonterweiterung in entfalteter Gegenwart nach Schmitz, nicht jedoch das umfassende Phänomen der Zeiterfahrung mit den Komplikationen, die die reine Modalzeit mit sich bringt. Die hier vorgetragenen Überlegungen zur Zeithorizontbildung haben früh betont (vgl. II.1), daß die Gegenwart das Daseinsmonopol besitzt. Dies schlägt sich praktisch nieder: Zeithorizontausbildung, so wurde gesagt, liegt vor, wenn das Bedenken der Vergangenheit und Zukunft einen Einfluß auf mein gegenwärtiges Denken und Handeln nimmt. Und schließlich wurde auch erklärt, daß sie eine Möglichkeit ist, die an den Zustand personaler Emanzipation gebunden ist. Wenn Zeithorizonterweiterung erklärt werden soll, muß neben reiner Modalzeit und reiner Lagezeit noch eine weitere Vorstellung von Zeit ins Spiel kommen, die Aspekte beider Formen miteinander kombiniert. Dies geschieht in der modalen Lagezeit, die der verbreiteten Zeitauffassung am nächsten kommen dürfte. Sie vereint einen modalzeitlichen Anteil, die Einteilung der Ereignisse in vergangene, gegenwärtige und künftige, mit einem lage121 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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zeitlichen Anteil, die Anordnung der Ereignisse als frühere, spätere oder gleichzeitige. Die uns so geläufige Datierung von Ereignissen in Vergangenheit und Zukunft ist erst auf dem Boden der modalen Lagezeit möglich. Gleiches gilt für die Bildung von Zeithorizonten. Obwohl heute Zeithorizonte zumeist in die Zukunft hinein gedacht werden, stellt eigentlich die Übersicht über die Vergangenheit den Ausgangspunkt und das Muster für derartige Planungen dar. Die Menschen gehen wie selbstverständlich davon aus, daß die Gliederung des Vergangenen nach früheren und späteren Zeitpunkten auch in der Zukunft gelten werde. Diese Vorstellung ist zwar nützlich, hat aber nicht unbedingt einen Halt in den Phänomenen: »Die unbefangene Erfahrung garantiert modale Gliederung nur als Grobverteilung auf die drei Massen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen. Die Zukunft stellt sich ungegliedert dar; eine Serienform wird ihr erst durch Projektion von Zeitpunkten und Zeitstrecken auf Grund der teilweise unwillkürlichen, aber durch keine Erfahrung verbürgten Erwartung angetan, die Ordnung des Früheren und Späteren werde sich über die Gegenwart hinaus fortsetzen. Die Vergangenheit bietet solcher Serienform besser Stützpunkte, weil es eine Perspektive in sie hinein gibt, die man psychologisch so umschreibt, daß die Erinnerung allmählich blasser werde; doch ist diese Perspektive nicht streng linear, wie die Serienform der reinen Lagezeit, sondern eher so beschaffen, daß aus einem Nebelmeer des verschwommenen, vieldeutigen Einst Inseln und Spitzen größerer Klarheit und Schärfe herausragen.«272 Schmitz erklärt, daß die modale Lagezeit so etwas wie ein Kompromiß zwischen der unbefangen erfahrenen modalen Zeitgliederung und der reinen Lagezeit ist: »Die Einordnung der Vergangenheit und der Zukunft in die modale Lagezeit gelingt nur dadurch, daß die Gegenwart zu zwei Folgen vergangener und künftiger Gegenwarten vervielfältigt und in Gestalt solcher Augenblicke der Vergangenheit und Zukunft unterlegt wird; dadurch kommen diese beiden nicht mit gleicher Unmittelbarkeit wie sie zur Geltung, sondern gleichsam

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Modale Lagezeit

gebrochen im Medium der Gegenwart, als vergangene und künftige Gegenwarten.« 273 Entscheidend ist dabei, daß in der modalen Lagezeit der Begriff »Gegenwart« doppeldeutig wird: »Vergangenheit und Zukunft sind in der modalen Lagezeit durch Emanzipation des Jetzt aus der primitiven Gegenwart vergegenwärtigt, in dem Sinn, daß sie vollständig mit vergangenen und künftigen, lagezeitlich angeordneten Gegenwarten besetzt ist. Davon ist die Folge, daß Gegenwart einerseits relativ ist, nämlich irgendein Zeitpunkt, der einmal an die Reihe kommt oder kam, gegenwärtig zu sein, und andererseits absolut, nämlich die Gegenwart, die gerade jetzt ist. Diese absolute Gegenwart hat zugleich die sonderbare Eigenschaft, ständig zu wechseln, so daß die modale Lagezeit zu einem Prozeß wird, der darin besteht, daß die Vergangenheit wächst (sich gleichsam in die Zukunft hineinfrißt), die Zukunft entsprechend schrumpft und die Gegenwart sich verschiebt.«274 Die modale Lagezeit besitzt gegenüber der reinen Lagezeit den Vorzug, daß sie mehr an menschlicher Erfahrung abzubilden vermag, weil sie nicht nur Gleichzeitigkeit, sondern auch Gegenwärtigkeit berücksichtigt. Zeithorizontausbildung, so wurde oben gesagt, liegt dann vor, wenn das Bedenken der Vergangenheit und Zukunft einen Einfluß auf mein gegenwärtiges Denken und Handeln nimmt (vgl. II.1). Eine Erweiterung des Zeithorizonts ist möglich, weil Menschen oder Menschengruppen imstande sind, von einer erlebten Gegenwart aus im Rahmen der modalen Lagezeit Folgen vergangener und zukünftiger Gegenwarten zu entwerfen und Zeitpunkte und Zeitstrecken in beide Richtungen zu projizieren. 275 So kann auch von größeren oder kleineren Zeithorizonten die Rede sein. Der Ausgangspunkt derartiger GrößenEinschätzungen – an die übrigens keineswegs der Anspruch präziser Meßbarkeit nach Kalendern o. ä. herangetragen werden muß – ist also stets in der gelebten Gegenwart von Menschen zu suchen.

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V.2 Temporale Emanzipation »Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis’t, den Tag im Tage verthut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämmtliche Tageszeiten! ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere intercaliren. Dadurch wird alles was ein jeder thut, treibt, dichtet, ja was er vor hat, in’s Oeffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Welttheil zu Welttheil, alles velociferisch. So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen. Aber in einem jeden Kreise bedroht ihn der Tagesgeist; und nichts ist nötiger, als früh genug ihm die Richtung bemerklich zu machen, wohin sein Wille zu steuern hat.« Goethe 276 »Die Sucht des Synchronen. Besessen von der Gegenwart ist nicht nur derjenige, der überall Konkurrenten sieht; man trifft auch auf einen Kulturwandel der Aufmerksamkeit, in dem es nur noch darum geht, mit dem, was gerade jetzt passiert, mitzuhalten. […] Die sozialen Netzwerke haben bei den jüngsten politischen Unruhen und Aufständen eine wichtige mobilisierende Rolle gespielt. In vielen anderen Fällen haben sie den Effekt, dass das Leben zum permanenten Updating verkommt. Man erfährt erst über Twitter, was Demi Moore gerade gefrühstückt hat, und dann über Facebook, dass Hinz und Kunz sturzbetrunken sind. Dabei sein ist alles: Das alte olympische Motto avanciert zur Devise einer Welt, in der man so sehr damit beschäftigt ist, zu erfahren, was jetzt gerade alle tun, dass man zu nichts anderem mehr kommt.« Dieter Thomä 277

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Temporale Emanzipation

Nachdem sich in den bisherigen Ausführungen die modale Lagezeit als theoretische Grundlage der Zeithorizontbildung herausgestellt hat, sollen nun unter dem Stichwort »temporale Emanzipation« die weiteren praktischen Möglichkeiten untersucht werden. Worauf es in unserem Zusammenhang besonders ankommt, ist die Tatsache, daß die in der Entfaltung der Gegenwart möglich werdende Emanzipation des Jetzt die Emanzipation des Ich fördern kann. Anders gesagt: Zeithorizonterweiterung verschafft dem Subjekt eine besondere Distanz zum Begegnenden, das nicht einfach akzeptiert werden muß, zu dem man vielmehr Stellung nehmen kann. Zugleich mit dem Zeithorizont entfaltet sich ein Urteilsraum. Was damit gemeint ist, soll zunächst an zwei literarischen Figuren verdeutlicht werden: Die erste von ihnen, Eichendorffs »Taugenichts«, ist gewissermaßen ein Meister des kleinen Zeithorizonts. Er hat keine Lebensplanung, sein Reisen geschieht ohne ein Ziel, er lebt in den Tag hinein, kann nicht mit seinem Geld haushalten. Er läßt alles auf sich zukommen, ist dafür aber auch allem ausgeliefert, was ihm begegnet. Seine auffällige Verträumtheit und Passivität, der Mangel an Initiative, hängt unmittelbar mit seinem äußerst beschränkten Zeithorizont zusammen. Die zweite, ausführlicher zu analysierende Figur ist der Fischerknabe aus Clemens Brentanos Ballade »Auf dem Rhein« (wir folgen hier der Interpretation Emil Staigers in seinem Buch »Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters«). Der Mensch, den Brentano entwirft, entwickelt ähnlich wie der »Taugenichts« von sich aus keine Neigung, einen nennenswerten Zeithorizont auszubilden. Der von tiefem Kummer ergriffene Fischerknabe hat seine Schiffahrt ohne eine Zielvorstellung angetreten und läßt sich treiben; dabei fehlt ihm jede Umsicht: »Der Knabe liegt im Kahne, Lässt alles Rudern sein, Und treibet weiter, weiter, Bis in die See hinein.«

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Staiger schreibt über diese Stelle: »Jeden Blick ins Künftige, jede Richtung gibt er damit preis. Ebenso bleibt aber jede Frage nach dem Woher verwehrt: ›Sein Lieb war ihm gestorben, das glaubt er nimmermehr.‹

Ein Schmerz ist da, an den der Knabe sich nicht zu erinnern wagt. So reisst das Vergangene von ihm ab. Seine Geschichte ist ausgelöscht. Zusammenhänge lösen sich auf. Nichts kündigt sich an, und nichts wirkt nach. Alles ist in diesem Kahn eine Folge von unverbundenem ›Da‹. […] Wem aber seine Vergangenheit verlorengeht, dem ist der Boden unter den Füssen weggezogen. Er gerät in einen Taumel, und wir nennen ihn haltlos.« 278 Diese Zeithorizontarmut, der Mangel an Vorblick und Rückblick, wird gespiegelt in einer vorüberfliegenden Schwalbe, über die es bei Brentano heißt: »Woher, wohin geflogen, Das hat kein Mensch gewusst.«

Das Woher und Wohin fehlt auch dem Fischerknaben. Er hat die menschliche Fähigkeit des ordnenden, überschauenden, planenden Denkens verloren. In Staigers Deutung erscheint der Fischerknabe vor allem als ein Wesen, das keine Besonnenheit besitzt. Was er nicht kann, ist: »das Neue aus Vergangenem besonnen sich zu deuten.« 279 Er überläßt sich – ähnlich wie Eichendorffs »Taugenichts« – einfach dem, was kommt. Die allgemeine Erläuterung, die Staiger nachschickt, macht deutlich, daß es ihm um Zeithorizonterweiterung auf der Basis personaler und temporaler Emanzipation geht: »Besonnen ist der Mensch, der Neues aus Vergangenem, aus dem, was er erfahren, deuten kann, ebenso aus Künftigem, aus dem, was er sich vorgenommen, was er erwartet und was sein soll. Besonnen also ist der Mensch, der die Gegenwart an dem, was war, 126 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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und dem, was sein wird, misst, der also gleichsam eine möglichst lange Strecke seines Daseins jedem Jetzt entgegensetzt, es einfügt und damit bewältigt. Der Fischer dagegen ist ausserstande, dem, was ihn gerade trifft, mit einem Vor-behalt zu begegnen. Er ist ein Jetzt und nichts als Jetzt und fällt so jedem Jetzt anheim. Er ist der übermächtigen Gewalt der Dinge ausgeliefert.« 280 Es geht also um einen Verlust an prinzipiell möglicher Lebensführungskompetenz. Die ausbleibende temporale Emanzipation verurteilt ein Subjekt zur Existenz in einem Gefängnis unmittelbarer Gegenwart. Umgekehrt schafft Aufmerksamkeit für die Dauer Distanz gegenüber den Zumutungen der Gegenwart und relativiert die Bedeutung des Neuen. Dieser Umstand ist uns aus anderen Zusammenhängen durchaus vertraut: Vertreter von Institutionen mit traditionell erheblich erweitertem Zeithorizont – man denke etwa an das englische Königshaus oder den Vatikan – entwickeln wenig Neigungen, jedem aktuellen Anspruch nachzugeben oder jedes gerade heftig diskutierte Problem augenblicklich ernst zu nehmen. 281 Das mag im Einzelfall nicht richtig sein, es ist prinzipiell aber eine beachtliche kulturelle Errungenschaft (vgl. III.). Die spontane Empörung einer ungeduldigen, gegenwartsfixierten Öffentlichkeit über das notorische Zögern dieser Institutionen bringt daher zunächst einmal nur die grundsätzliche Entfremdung des Zeitgeistes gegenüber Langfristorientierungen zum Ausdruck (vgl. VII.). Welche Folgen ein solcher Verzicht auf die befreiende und die Lebensführung fördernde Funktion großer Zeithorizonte haben kann, macht Goethe am konkreten Fall der Geschichtsvergessenheit deutlich: »Wer nicht von dreytausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib im Dunkeln unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben.« 282

Wer so entspannt von Tag zu Tag lebt, lebt mit dem, was der Tag bringt. Die Einordnung in einen großen Zeithorizont hilft da127 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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gegen, das einzelne Begegnende zu distanzieren, es weniger ernst zu nehmen. Das ist ein wesentliches Moment dessen, was man als ›Altersweisheit‹ bezeichnet; alte Menschen haben die Möglichkeit, ihren Vergangenheits-Zeithorizont zu nutzen, um ihre Urteilskraft in der Gegenwart zu stärken. Wenn man dagegen auf das Aufspannen eines Zeithorizonts in Vergangenheit und Zukunft hinein weitgehend verzichtet, etwa weil man gewohnt ist, provisorisch zu leben, nicht am Vergangenen zu hängen, nicht weit vorauszuplanen, um flexibel auf die Herausforderungen des modernen Lebens reagieren zu können, dann praktiziert man die Lebensform der »Modernen Nomaden«, deren Vorzüge und Schwächen Heiner Hastedt eingehend analysiert hat. Zu den spezifischen Problemen des »Modernen Nomaden« rechnet er: »Die eigene und die gesellschaftliche Zukunft ist selbst Teil der Optionen geworden. Ohne auf die Zukunft bezogene Sehnsüchte haben moderne Nomaden, die in ihrem Leben schon vieles gesehen haben, weniger Resistenz gegenüber den Schwankungen des Alltags. Ohne Anker in der Vergangenheit und ohne Zukunftssehnsüchte löst sich alles in Optionen auf.« 283 Abnahme der Widerstandskraft gegenüber den Zumutungen des Zeitgeistes – das ist eine treffende Darstellung der Konsequenzen eines Verzichts auf Zeithorizontbildung für das alltägliche Leben. Hastedts Text beeindruckt als eine nüchterne und umfassende Bestandsaufnahme, die sich wohltuend abhebt von der fast naiven Begeisterung, mit der vor einigen Jahren »postmoderne« Lebensformen begrüßt oder prophezeit wurden.284 Das Konzept postmoderner Existenz läßt sich einerseits unter dem Aspekt der Ironie kritisch betrachten. 285 Andererseits erscheint es problematisch, weil hier voreilig, ohne ausreichende Reflexion der Konsequenzen, Zeithorizonterweiterung überhaupt verabschiedet worden ist. Das war seinerzeit in gewissem Sinne verständlich als eine Art Aufatmen, ausgelöst durch die Befreiung von der Gängelung durch die großen geschichtsphilosophischen Projekte der Moderne (vgl. VII.), doch es wurde, wie jetzt zu zeigen ist, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. 128 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Für den neuen Umgang mit Zeithorizonten sollen hier exemplarisch Texte des Soziologen Zygmunt Bauman herangezogen werden 286, nicht weil dieser Autor ein besonders einfältiger Propagandist der Postmoderne wäre, sondern weil er zu ihren subtilsten Analytikern gehört. Postmoderne, so erklärt Bauman in einem Artikel mit dem aufschlußreichen Titel »Wir sind wie Landstreicher«, sei »jener Zustand der Beliebigkeit, von dem sich nun zeigt, daß er unheilbar ist. Nichts ist unmöglich, geschweige denn unvorstellbar. Alles, was ist, ist bis auf weiteres.« Abgesehen davon, daß man über die Grenzen des Möglichen heute vielleicht etwas zurückhaltender urteilen würde – bemerkenswert ist vor allem Baumans Stilisierung einer neuartigen »Bis auf weiteres«-Mentalität 287, die nicht mehr auf ferne Ziele, lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten setzt. Diese Mentalität wendet sich gegen Entwurf und Plan, gegen alle Sorge um die Zukunft und für die »Befreiung der Handlung von ihren Folgen«. 288 Besonders deutlich wird der hier zugrundeliegende Rückzug auf die Gegenwart am Phänomen der Entscheidung, das seinen gewohnten Festlegungscharakter verlieren soll: »Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit – sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterläßt keine bleibende Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre Folgen, als unangenehm empfunden oder unbefriedigend geworden, nach Belieben kündbar sind.« 289 Die Entscheidung ist für unseren Kontext besonders interessant, weil sie – zumindest nach herkömmlichem Verständnis – nicht ohne einen entwickelten Zeithorizont auskommen kann. In der Postmoderne gilt jedoch Bauman zufolge: Keine Bindung, keine Spuren, keine Verantwortung, d. h., es wird ausdrücklich vermieden, den bisher selbstverständlichen Zeithorizont auszubilden. Für die Postmoderne scheint eine regelrechte Scheu vor Zeithorizonten jenseits der unmittelbaren Gegenwart charakteristisch zu sein. »Die Gegenwart an beiden Enden abzuschneiden«, sei das Ziel des postmodernen Konsumenten. 290 Bauman spricht auch von der »Fragmentierung 129 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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der Zeit in Episoden, jede für sich, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, jede in sich geschlossen und unabhängig«. 291 Ähnlich zeithorizontallergisch klingt eine andere Beobachtung: »Die Moderne baute in Stahl und Beton; die Postmoderne in biologisch abbaubarem Plastik.« 292 Den fundamentalen Wandel von der Moderne zur Postmoderne verdeutlicht Bauman mit Hilfe einer Typologie: Nicht mehr der »Pilger«, der sein Leben als Ganzes im Blick hat und als eine zusammenhängende Geschichte erzählen möchte, der zu warten gelernt hat, Bedürfnisse aufschiebt und mit langem Atem in der Zukunft liegende Zwecke verfolgt, besitze den angemessenen Habitus für die veränderte Umgebung. 293 Es sei vielmehr der »Landstreicher«, der »vernünftig« auf die Chancen und Probleme der Zeit reagiere: »Er weiß nicht, wie lange er dort, wo er ist, noch bleiben wird, und zumeist ist nicht er es, der über die Dauer seines Aufenthaltes befindet. Unterwegs wählt er sich seine Ziele, wie sie kommen und wie er sie an den Wegweisern abliest; aber selbst dann weiß er nicht sicher, ob er an der nächsten Station Rast machen wird, und für wie lange.« 294 Der »Landstreicher« setzt an die Stelle des veralteten Konzepts ›Sparen für die Zukunft‹ die postmoderne Lebensstrategie: »Vermeidung jeglicher Festlegung«. 295 Während der »Pilger« noch Befriedigungsaufschub gepredigt habe, plädiere der »Landstreicher« für Zahlungsaufschub: »War das Sparbuch der Inbegriff des modernen Lebens, so ist die Kreditkarte das Paradigma des postmodernen.« 296 Nichts bringt diesen (keineswegs nur ökonomischen) Präsentismus mit seiner Ignoranz gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns besser zum Ausdruck als der simple Slogan »Travel now, pay later!«, mit dem bezeichnenderweise Kreditkartenunternehmen werben. Inzwischen dürfte sich jedoch der Nimbus, den das Wort »Kredit« im Jahre 1995 vielleicht noch besessen hat, ziemlich verbraucht haben. Auch hier läuft es also wieder auf Zeithorizontbeschränkung hinaus: Die seit der Antike eingeübte Kultur der Selbstdisziplinierung für zukünftige Ziele (vgl. III.2) soll abgeschlossen hinter uns 130 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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liegen, während das neue Zeitalter der leichtsinnigen und kurzsichtigen Konsumentenkultur anbricht. Tatsächlich geht es ja nicht um gesellschaftliche Randerscheinungen. In der postmodernen Welt, so Bauman, ist der Landstreicher nicht mehr eine Marginalität, er soll vielmehr zu einer »Gußform« werden, die dazu bestimmt ist, die »Totalität des Lebens« zu umfassen und abzubilden. Für unseren Kontext ist nicht die in den Spuren Nietzsches erfolgende Verklärung der provisorischen »Wanderer«-Existenz entscheidend 297 – die natürlich nicht unbedingt im konkret-praktischen Sinne, aber zumindest modellhaft-metaphorisch einen Schritt hinter die Seßhaftwerdung des Menschen zurückmacht, welche als eine zentrale Grundlage für die Ausdehnung von Zeithorizonten ausgewiesen wurde (vgl. III.1). Viel wichtiger sind die unmittelbaren Folgen für die Zeithorizontkultur. Die philosophische Verabschiedung des langfristig agierenden »Pilgers« und die auffallend unkritische Begrüßung seines Nachfolgers, des kurzatmigen »Landstreichers«, stellt einen verhängnisvollen Wechsel der kulturellen Leitbilder dar. Im Hinblick auf die Zeithorizontausbildung läßt sich kein nennenswerter Unterschied zwischen der postmodernen »Bis auf weiteres«-Mentalität und dem klassischen ›In-den-Tag-Hineinleben‹ feststellen, bei dem man auch seine Ziele wählt, »wie sie kommen«. Der wichtigste lebenspraktische Preis für den Verzicht auf Zeithorizonterweiterung ist bereits von Hastedt genannt worden: Wer große Zeithorizonte aufgibt, ist weniger resistent gegenüber den Schwankungen des Alltags. Cum grano salis zeigt dieser kurze Exkurs: Die Postmoderne hat einen asthenischen Ironiker – der auf die Herausforderungen seiner Umgebung nur reagiert, und zwar mit kurzfristigen, unverbindlichen Rollenspielen –, zugleich aber einen Zeithorizont-Barbaren zur neuen Leitfigur gemacht. Die an literarischen Figuren (Eichendorff, Brentano) wie an modernen Zeitdiagnosen (Hastedt, Bauman) gewonnene Einsicht läßt sich allgemein so formulieren: Man sollte Zeithorizontbildung höher schätzen lernen, weil die mit ihr verbundene tempo131 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Die Entfaltung der Gegenwart und ihre Folgen

rale Emanzipation die bisher einseitig favorisierte Emanzipation des Ich erst vervollständigt und weil sie dabei insbesondere dem kurzatmigen Ausgeliefertsein an die Tendenzen des Tages vorbeugt.

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VI. Das Prinzip Gegenwart

»Wohl dem, der wie ein Schmetterling sich an den Blumen ergötzt, die er vor sich findet! hat der, welcher mit Gefahren kämpfte und sein Ziel errang, am End etwas bessers? Genuß jedes Augenblickes, fern von Vergangenheit und Zukunft, versetzt uns unter die Götter. Was hat der Mensch und jedes Wesen mehr, als die Gegenwart? Traum ohne Wirklichkeit alles übrige.« Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln 298 »Dich behindert die Richtung Deines Denkens; Du lebst in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und nichts erlebst Du unmittelbar. Wir sind nichts, Myrtil, außer im Jetzt und Hier des Lebens; alles Vergangene stirbt dahin, ehe irgendein Kommendes daraus geboren wird. – Das Hier! Du wirst begreifen, Myrtil, welche Gewalt seiner Gegenwart innewohnt! Denn jeder Augenblick unseres Lebens ist seinem Wesen nach unersetzlich: suche zuweilen Dich ganz darein zu versenken.« André Gide, Uns nährt die Erde 299

Von philosophischer Seite werden die Menschen seit der Antike mit großem Nachdruck davor gewarnt, sich zu sehr mit Zeithorizonterweiterungen zu beschäftigen. Jedenfalls könnte man eine ganze Reihe von Sentenzen auf den ersten Blick so verstehen. Diese Ermahnungen zu einer Besinnung auf die Gegenwart lassen sich recht kontinuierlich durch das Altertum hindurch verfolgen und gehen quer durch die Philosophenschulen. Eine genauere Prüfung soll nun einerseits zeigen, wie vielfältig die Auffassungen in diesem Feld eigentlich sind, und andererseits der Frage nachgehen, ob der Aufruf zu einem gegenwärtigen Leben tatsächlich zur Forderung nach Zeithorizonterweiterung in einem Gegensatz steht. 133 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das Prinzip Gegenwart

Der Sophist Antiphon erklärt beispielsweise: »Es gibt Leute, die nicht ihr gegenwärtiges Leben leben, sondern mit großem Eifer Vorbereitungen treffen, als sollten sie bald irgendein anderes Leben leben, nicht das gegenwärtige; und unterdessen eilt die Zeit ungenutzt davon.« 300 Antiphon gibt also zu bedenken: Wenn etwa ein Mensch seinen Zeithorizont in die Zukunft hinein erweitert, indem er plant, nach einer Phase intensivster beruflicher Arbeit sich mit dem Erwirtschafteten zur Ruhe zu setzen und sich dann dem zu widmen, was ihn eigentlich interessiert, dann droht ihm die Gegenwart aus dem Blick zu geraten. Er lebt über die Gegenwart hinweg, weil er sein eigentliches Leben erst in der Zukunft (unter dann erreichten besseren Bedingungen) beginnen sieht. Derartiges kommt sicherlich vor und mag auch bedenklich sein – aber liegt das Problem hier in der Erweiterung des Zeithorizonts als solcher? Der Vorsokratiker Demokrit wiederum kritisiert eine durch unüberlegte Begierden gesteuerte Verschiebung der Aufmerksamkeit aus der Gegenwart in Vergangenheit wie Zukunft: »Toren gelüstet es nach dem, was nicht (mehr) zuhanden ist, und sie lassen das Gegenwärtige verkommen, was einträglicher als das Gewesene ist.« »Die Knauserigen teilen das Los der Bienen: Sie arbeiten, als liege ihr Leben immer in der Zukunft.« »Die Begierde nach mehr verdirbt, was gegenwärtig zur Verfügung steht, und ist vergleichbar dem Hunde des Äsop.« 301 In Äsops Fabel erblickt ein Hund mit einem Stück Fleisch im Maul beim Schwimmen im Fluß sein Spiegelbild, woraufhin er seine Beute losläßt, um nach dem vermeintlich größeren Stück im Maul des anderen Hundes zu schnappen.302 Am Ende hat er das eine Stück verloren und das andere nicht gewonnen. Mit anderen Worten: Das Hinausstreben über das Gegebene ist unklug, weil es dessen Genuß gefährdet. Demokrit empfiehlt also, einerseits die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Gegebenen und andererseits die Sehnsucht sowohl nach dem vergangenen Vorhandenen wie nach dem möglicherweise in Zukunft zur Verfügung Stehenden drastisch zu beschränken. Nicht der Zeithorizont ist hier das Problem, sondern 134 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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die besondere Einschätzung der Gegenwart mit den daraus folgenden Schwierigkeiten, aus ihr Zufriedenheit zu schöpfen. Aristipp, der Begründer der Schule der Kyrenaiker, bezieht ebenfalls die Vergangenheit in seine Überlegungen mit ein: »Mit allergrößtem Nachdruck schien Aristipp zu sprechen, wenn er den Menschen empfahl, weder für das Vergangene nachzusorgen noch für das Kommende vorzusorgen. Denn so etwas sei ein Zeichen von Wohlgemutheit und ein Beweis heiteren Geistes. Er gebot, das Augenmerk auf dem gegenwärtigen Tag zu halten und wiederum auf dem Teil des Tages, an dem jeder gerade etwas tue oder bedenke. Denn allein das Gegenwärtige, lehrte er, sei unser, weder aber das Frühere noch das Erwartete; denn das eine sei dahin, das Eintreten des anderen verborgen.« 303 Hier macht sich stärker das Interesse an einer stabilen Fassung des Menschen bemerkbar, die durch ausgedehnte Zeithorizonte gefährdet werden kann. Der Verfügungsbereich des tätigen Menschen (das was »unser« ist) beschränkt sich auf das gerade Gegenwärtige; an der Vergangenheit ist nichts mehr zu ändern, die Zukunft entzieht sich ebenfalls menschlichem Einfluß, weil sie noch unbekannt ist. Zeithorizonterweiterung scheint in Aristipps Perspektive lediglich mit Sorge ausgefüllt zu sein, die dann das Wohlbefinden in der Gegenwart bedroht. Im Hellenismus lehrt Epikur ähnlich, jedoch nur mit Blick auf die ablenkende Zukunft: »Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und schiebst dennoch das Erfreuliche auf. Das Leben geht unter Zaudern verloren, und jeder einzelne von uns stirbt in seiner Unrast.«304 Im gleichen Sinne skizziert der römische Stoiker Seneca den Weisen als einen idealen Menschen, dem es gelungen ist, sich auf das Gegenwärtige zurückzuziehen: »Wer immer einem Weisen seinen Reichtum wegnimmt, der läßt ihm all das Seine. Er lebt nämlich so, daß er sich des Heute freut und um Künftiges nicht sorgt.« 305 Allgemein geht es um so etwas wie eine Diätetik des Engagements, die den Menschen vor Niederlagen und Verletzungen des Lebens schützen soll. Wer weniger unternimmt, ist weniger aus135 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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geliefert und kann seltener scheitern; diese Einsicht findet sich schon bei Demokrit 306 und besonders prägnant formuliert bei Seneca. 307 Vor allem die Stoiker empfehlen die Einschränkung auf diejenigen Projekte, deren Verwirklichung weitgehend oder ganz beim Menschen liegt. 308 Nicht der als aussichtslos betrachtete Versuch, den eigenen Einfluß auszudehnen, also durch aktive Anpassung große Ziele zu realisieren, sondern die passive Anpassung, d. h. Zurücknahme der Ziele auf den vorhandenen Einflußbereich, ist das stoische Rezept zur Stabilisierung der menschlichen Fassung. Schließlich wird das Motiv auch in der Dichtung weiter tradiert. Horaz’ berühmte Empfehlung »carpe diem« läßt sich auch als eine Aufforderung zum Verzicht auf Zeithorizonterweiterung lesen: »Zeige dich klug: kläre den Wein, stelle der Hoffnung Flug / Auf das Heute nur ein! Neidisch entflieht, während du sprichst, die Zeit; / Schenk dem kommenden Tag nimmer Vertraun, koste den Augenblick!«309 Im Hintergrund dieser Empfehlung steht die Erfahrung, daß das Leiden an der ungewissen Zukunft den Menschen in der Gegenwart erheblich verunsichern kann. Nicht unfruchtbare Zukunftserforschung ist hier die richtige Antwort auf diese Lage des Menschen, sondern die Einsicht: Was auch kommt, soll geduldig ertragen werden. Zusammenfassend läßt sich über diese Ansätze zu einer Lebenskunst der Zeit folgendes festhalten: In der Antike dominiert das Motiv der (zeitlichen) Beschränkung des affektiven Betroffenseins; es ist Teil eines großangelegten philosophischen Programms zur Stabilisierung der Fassung des Menschen, der sich in der Welt wie ausgesetzt fühlt. 310 Vor allem die Zukunft wird als eine Bedrohung wahrgenommen, und die Philosophen bemühen sich daher darum, das Verhältnis zu ihr affektiv zu neutralisieren. Der Mensch soll z. B. lernen, sich nicht mehr vor dem Tod zu fürchten, damit diese Regung nicht sein Leben in der Gegenwart eintrübt. Der häufig nahegelegte Rückzug auf sich selbst (bzw. auf den Geist als Reservat der Freiheit) hat eben auch eine zeitliche Komponente, den Rückzug auf die Gegenwart. 136 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Diätetik des Engagements ist auch noch das Motiv neuzeitlicher, stark von der Antike beeinflußter Denker wie Montaigne und Rousseau. Montaigne warnt beispielsweise: »Jemehr wir unsere Bedürfniß und unser Eigentum erweitern: desto mehr setzen wir uns den Streichen des Unglücks und den Widerwärtigkeiten aus. Die Laufbahn unserer Begierden muß eingeschränkt seyn, und in den engen Gränzen der nächsten Bequemlichkeiten bleiben.« 311 Ähnlich rät Rousseau vor Zeithorizonterweiterung ab: »Die Vorsorge ist es, die uns ständig über uns hinaustreibt und die uns oft dahin stellt, wohin wir nie gelangen werden! Sie ist die wahre Quelle unserer Leiden. Welcher Wahn treibt den vergänglichen Menschen, immer in eine Zukunft auszuschauen, die er so selten erreicht, und darüber die sichere Gegenwart zu vernachlässigen! […] Jeder dehnt sich sozusagen über die ganze Erde aus und wird daher auf der ganzen großen Oberfläche empfindlich.« 312 Der Ausweg ist auch hier der klassische Rückzug in sich selbst. Zugleich beobachten viele neuzeitliche Autoren, daß die Fähigkeit der Menschen, die (allein wirkliche) Gegenwart zu genießen oder intensiv zu erfahren, abnimmt. Entsprechende Klagen sind verbreitet. Condillac etwa bemerkt über seine berühmte Statue, die er nach und nach mit sämtlichen Fähigkeiten des Menschen ausstattet, daß sie von Furcht und Hoffnung beeindruckt werde: »Beide wetteifern, ihr das Gefühl des gegenwärtigen Augenblicks zu nehmen, um sie dafür mit einer Zeit zu beschäftigen, die noch nicht ist oder sogar niemals sein wird.« 313 Herder will sich selbst »von der gräulichen Unordnung meiner Natur heilen, entweder zu sehr voraus, oder zu spät zu denken; sondern immer die Gegenwart zu geniessen.« 314 Und Goethe bedauert, »daß man eigentlich um der Zukunft willen das Gegenwärtige hintansetze und verliere.« 315 Für derartige Zeugnisse kann man auch Vorläufer in der Antike finden, aber das Nachdenken gilt hier nicht mehr der Bewahrung der Fassung, die durch ausschweifende Anteilnahme gefährdet wird, sondern ist von der Sorge getragen, daß dem Leben 137 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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sozusagen der Inhalt verlorengeht. Man bemerkt, daß es eine vorhergehende grundlegende Einstellung zur Gegenwart gibt, die allgemein darüber entscheidet, was wir aus der konkreten Gegenwart machen. Diese Einstellung wird daher zu einem bevorzugten Gegenstand der Kritik, wie bei Montaigne, der erklärt: »Wir mögen erkennen oder geniessen was wir wollen, so finden wir doch, daß es uns nicht Genüge leistet, und daß wir allezeit nach dem Zukünftigen und Unbekannten schnappen, weil uns die gegenwärtigen Dinge nicht sättigen. Dieses rührt wie mich dünkt nicht daher, daß uns die gegenwärtigen Dinge nicht sättigen könnten, sondern vielmehr daher, daß wir dieselben auf eine verderbte und unordentliche Art geniessen.« 316 Nicht das besondere Angebot der jeweiligen Gegenwart ist also schuld, sondern unsere Einstellung zur Gegenwart, etwa in Gestalt unserer Ansprüche. Die Gegenwart genügt uns nicht, daher richten wir unser Augenmerk auf Vergangenheit und Zukunft. Montaigne scheint dagegen eine Art Aussöhnung mit der Gegenwart vorzuschweben. Nach Montaigne entwickelt Pascal eine ähnliche Kritik an der Tendenz des Menschen, sich nicht an die gegenwärtige Zeit zu halten. Er zeigt dabei ein gewisses Verständnis für den Rückzug aus der Gegenwart, da diese in der Regel dem Menschen Leiden bereite. Die Konsequenz ist allerdings fatal: »Jeder prüfe seine Gedanken. Er wird finden, daß sie ganz mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt sind. Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart, und wenn wir an sie denken, so nur, um aus ihr die Einsicht zu gewinnen, mit der wir über die Zukunft verfügen wollen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; allein die Zukunft ist unser Ziel. Deshalb leben wir nie, sondern hoffen auf das Leben, und da wir uns ständig bereit halten, glücklich zu werden, ist es unausbleiblich, daß wir es niemals sind.« 317 Pascal beunruhigt also die Gefahr, daß der Mensch sein Leben gewissermaßen verpassen könnte. Es ist wiederum die primäre Einstellung, die den Menschen veranlaßt, sich auf die Zukunft zu konzentrieren

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und die Gegenwart zu mediatisieren, sie lediglich als Mittel für etwas anderes zu benutzen. In die Fußstapfen Pascals tritt im 20. Jahrhundert Paul Valéry. Er konstatiert bei dem Menschen, der seinen Zeithorizont erweitert, eine Art Flucht vor der Gegenwart, die nur dann einmal vorübergehend endet, wenn man durch Schmerz oder Lust in sie gezwungen wird: »Der Mensch, der die Zeit hervorbringt, konstruiert nicht nur durch eine Anhäufung, durch eine imaginäre Verallgemeinerung des Augenblicks, durch eine Art Mißbrauch Perspektiven diesseits und jenseits der Reaktionsintervalle, sondern er lebt sogar nur wenig in ebendiesem Augenblick. Er richtet sich hauptsächlich in der Vergangenheit oder Zukunft ein. Er hält sich nur in der Gegenwart auf, wenn er von der Empfindung dazu gezwungen wird: sei es Lust oder Schmerz.«318 Im 20. Jahrhundert kulminiert überhaupt die philosophische Kritik an der Gegenwartsvergessenheit. Einer, der in diesem Sinne immer wieder insistiert, ist Karl Jaspers: »Der Augenblick ist die einzige Realität, die Realität überhaupt im seelischen Leben. Der gelebte Augenblick ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Lebendige, das leibhaft Gegenwärtige, die Totalität des Realen, das allein Konkrete. Statt von der Gegenwart sich in Vergangenheit und Zukunft zu verlieren, findet der Mensch Existenz und Absolutes zuletzt nur im Augenblick.« 319 Zwar ist hier bei Jaspers noch gleichberechtigt von zwei Ablenkungsdimensionen, Vergangenheit und Zukunft, die Rede, doch nimmt gerade im 20. Jahrhundert die Bedeutung der einen auf Kosten der anderen außerordentlich zu. Das hat Helmuth Plessner ausführlich analysiert und folgendermaßen zusammengefaßt: »Je mehr der Schwerpunkt des Lebens in die Zukunft verlagert ist, desto vorläufiger wird die Gegenwart.« »In der uns derart zur Gewohnheit gewordenen Fortschrittshaltung dominiert die Zukunft. Es gibt eigentlich keine Gegenwart mehr. Alle leben über sie hinaus, ihr selbst (und sich selbst) vorweg, ohne in ihr die angewiesene Mitte des Lebens noch zu erkennen.«320 Hier zeich-

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net sich nun ein spezifisch moderner, von antiken Wurzeln weitgehend abgekoppelter Modus der Auseinandersetzung ab. Auch Arnold Gehlen reiht sich unter die Kritiker dieses Futurismus ein. Das mag verwundern, hat er doch in seiner Anthropologie den Menschen gerade als ein prometheisches Wesen gekennzeichnet (vgl. II.1). Doch in der Frühphase seines Denkens, die noch wesentlich unter dem Einfluß des Deutschen Idealismus steht, finden sich eindeutig kulturkritische Züge, die in diese Richtung weisen. Neben gewissen Ansätzen in der »Theorie der Willensfreiheit« (1933) sind für unseren Zusammenhang umfangreiche Stellungnahmen aus der Schrift »Wirklicher und unwirklicher Geist« (1931) relevant. Die Diagnose entspricht hier dem, was bereits entwickelt worden ist: Fast alle Menschen, so Gehlen, leben von der Hoffnung. Aber nur der schaue in die Zukunft, welcher mit der Gegenwart nichts anzufangen wisse. Im Kapitel über das Erlebnis der Zeit betont Gehlen die Bedeutung der Einsicht, »in wie hohem Maße die allermeisten Menschen in einer unermüdlichen Intention auf die Zukunft befangen sind, wie die unenttäuschbare Bereitschaft der Erwartung ihnen jedes Wahrnehmen der Gegenwart – in der ja allein die Realität erreicht werden kann – erschwert, wie zähe die Hoffnung auf irgendwelche ›bessere‹ Zustände die Menschen in einer merkwürdig sehnsüchtigen Vorläufigkeit und strebenden Unruhe erhält.« 321 Gehlen plädiert dafür, daß die Menschen wieder in der Welt ihren Platz finden, in einer wirklichen Situation, anstatt sich vorlaufend im U-topos verankern zu wollen. Mit Plessners und Gehlens Angriffen gegen den modernen Projektwahn ist bereits das Feld der Kulturkritik betreten, die sich des Themas gerne annimmt. Hat sich unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft ein besonderer Habitus herausgebildet, der die alte Neigung der Menschen, über die Gegenwart hinweg zu leben, ins Extrem steigert? Nietzsche weist z. B. darauf hin, daß eine Kultur, die dem Tätigsein, der Arbeit, einen so hohen Stellenwert einräumt, für das Aufgehen im Augenblick keine Achtung aufbringen kann: »Ich habe schon einmal gesagt, daß ein 140 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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solches zweckloses Sich-Behagenlassen am Moment, ein solches Sich-Wiegen auf dem Schaukelstuhl des Augenblicks für unsre allem Unnützen abholde Gegenwart fast unglaubwürdig, jedenfalls tadelnswerth erscheinen muß.« 322 In der Nachfolge Nietzsches stellen Zeitdiagnostiker die besondere Unruhe des tätigkeitsbesessenen modernen Menschen heraus. Max Scheler charakterisiert den neuen herrschenden Typus des Industriezeitalters als den »faustischen« Menschen, der sich bei keiner Gegebenheit beruhigen kann. 323 Und für Oswald Spengler ist die westeuropäische, auf Herrschaft und Technik gegründete Kultur die »faustische«, weil sie alle Grenzen in Raum und Zeit zu überschreiten sucht.324 In der Moderne ist nicht mehr von Einzelnen die Rede, die durch eine falsche Lebenseinstellung etwas zu versäumen drohen und denen man durch Lebenskunst helfen könnte, sondern hier wird der faustische Habitus bereits als repräsentativ aufgefaßt. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr, einer der Wortführer der Wiener Moderne, unternimmt vor diesem Hintergrund eine Kulturkritik des modernen Lebensstils, der besonders in den Großstädten zum Ausdruck komme: »Unbedingte Tätigkeit um der Tätigkeit willen, Tätigkeit, die immer nur neue Tätigkeit erregen soll. Daher das Merkmal des Großstädters: die Ruhelosigkeit, ja das Bedürfnis, ruhelos zu sein. Die großstädtische Nervosität besteht nicht so sehr in Sehnsucht nach Ruhe als vielmehr in Angst vor Ruhe. Die Lebensfrage des Großstädters ist: Was nun? […] Großstädtisch ist das Unvermögen, sich des Tags zu freuen, die Stunde festzuhalten, Gegenwart zu haben. Der Großstädter lebt immer in der Erwartung; was er hat, achtet er gering, es macht ihn ungeduldig, es kann immer noch nicht das Richtige sein, das Richtige soll immer erst noch kommen. Was Zukunft hat, fasziniert ihn; sobald es aber anfängt, aus Zukunft Gegenwart zu werden, erlischt es. […] So verbringt er sein Leben damit, das Leben ungeduldig wegzubringen. […] Morgen gilt ihm mehr als Heute, Heute nur als Vorschuß auf Morgen, die Tätigkeit mehr als die Tat.« 325 141 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Die bisherigen Zeithorizontdiagnosen betrafen das Leben von Individuen. Besonders seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kommt noch eine spezifische Zeithorizonterweiterung ins Spiel, die unter dem Maßstab des Fortschritts den Entwicklungsstand einer Kultur oder der Menschheit insgesamt bewertet. Die jeweilige Gegenwart gewinnt in diesem geschichtsphilosophischen Rahmen ihre Bedeutung nur als Vorstufe der nächstfolgenden, höheren Stufe bzw. als ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Wege zum Status der Vollkommenheit. Sie wird damit zu einem bloßen Mittel; die gegenwärtig lebende Generation z. B. schafft die Voraussetzungen, damit dereinst ein Kollektiv unter idealen Umständen leben kann. Gegen dieses Denken hat schon Herder protestiert, unter Hinweis darauf, daß auch die früheren Kulturstufen nicht allein Mittel darstellten, sondern Mittel und Zweck zugleich seien, indem sie ihren eigenen »Mittelpunkt der Glückseligkeit« in sich tragen. 326 Ebenso richtet sich der Einspruch des Historismus gegen diese geschichtsphilosophische Zeithorizonterweiterung, die die jeweilige Gegenwart zum Mittel herabsetzt, mediatisiert. Die klassische Formulierung, die jeder einzelnen Zeitphase ihr eigenes Recht zurückerstatten möchte, stammt von Ranke: »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.« 327 Was Ranke mit Bezug auf die Geschichtsschreibung der Völker erklärt, wendet Wilhelm Dilthey auf den Lebenslauf des Individuums an. Weder hier noch dort gibt es ein telos, das die Mediatisierung des Moments begründen könnte: »Die Entwicklung besteht aus lauter Lebenszuständen, deren jeder für sich einen eignen Lebenswert zu gewinnen und festzuhalten strebt. Armselig die Kindheit, welche den reiferen Jahren geopfert wird. Töricht die Rechnung mit dem Leben, welche unablässig nach vorwärts drängt und das Frühere zum Mittel des Späteren macht. Irriger kann nichts sein, als für die Entwicklung, welche das Leben ausmacht, in der Reife des Lebens das Ziel zu finden, welchem die früheren Zeiten als Mittel dienen. Wie sollten sie auch dienen, 142 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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ein Ziel zu erreichen, das jedem so ungewiß ist! In der Natur des Lebens liegt vielmehr die Tendenz, jeden Moment mit der Fülle des Wertes zu sättigen! […] Jede Epoche des Lebens hat ihren Wert; aber im Fortschreiten desselben entwickelt sich eine mehr artikulierte, zu höheren Verbindungen geformte Gestalt des Seelenlebens.« 328 Im 19. Jahrhundert konnte die Diskussion noch relativ theoretisch geführt werden. Als jedoch nach 1918 einige Jahrzehnte lang Geschichte mit großem Zeithorizont nicht mehr nur philosophisch bedacht, sondern gemacht werden sollte, in Gestalt einer langfristig angelegten Generationenpolitik zur Realisierung einer sozialen oder biologischen Utopie 329, hatte die Mediatisierung der Gegenwart auf einmal Folgen für das Leben vieler Menschen. Das hatte Martin Heidegger nicht mehr im Blick, als er nach 1933 das »Geschichtlichsein« als eine erhabene Zeithorizonterweiterung von der fernen Zukunft bis weit in die Vergangenheit hinein beschwor. 330 »Geschichte« versteht er in Abweichung vom herkömmlichen Verständnis nicht als eine Abfolge von Begebenheiten in der Zeit, sondern als eine dynamische Zeithorizontbildung in beide Richtungen zugleich: »Geschichte ist die Entrükkung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes.« 331 Die wichtigste Leitfigur für seine Überlegungen zur Geschichte wird in diesen Jahren Hölderlin, als Dichter der zeitlichen Ferne schlechthin.332 Die Zeithorizontthematik ist in ihrer Bedeutung als Interpretationsschlüssel für das Denken Heideggers nach 1930 noch nicht genügend erkannt worden. Was heute immer wieder als politische Äußerung zum nationalsozialistischen Alltag diskutiert wird, war in den meisten Fällen vor allem Ausdruck eines Berauschtseins von der Möglichkeit großer Zeithorizonte (an deren konkreter Ausfüllung Heidegger freilich ein weitaus geringeres Interesse nahm). Weniger beachtet ist infolgedessen die mit der ehrgeizigen Zuwendung zu Projekten und Traditionen verbundene Marginalisierung der Gegenwart. Auf dieses im 20. Jahrhundert besonders virulente Problem 143 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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und seine Folgen für konkrete Menschen macht Helmuth Plessner mit einem Ausblick aufmerksam: »[…] eines Tages enthüllt sich die Depravierung des Gegenwartszustandes zu einem bloßen Provisorium als Verrat am Lebenssinn der an diese Gegenwart gebundenen Generation, als Bedrohung des Menschen durch die Relativierung seiner in diese und keine andere geflochtenen Chance. Dann wird er sich dagegen wehren, durch die Zukunft immer wieder um seine Gegenwart betrogen zu werden und dem Ideal eines Fortschritts die Wirklichkeit seiner Existenz zu opfern.« 333 Jetzt geht es nicht mehr (wie in den antiken Überlegungen) um entgangenes Lebensglück einzelner Menschen, das durch kluge Besinnung wieder eingefangen werden kann, sondern um das Schicksal großer Kollektive, die in der riesenhaften Weite der aufgespannten Zeithorizonte selbst wie Ameisen wirken. Einzelne historische Ereignisse, erst recht aber die Präferenzen und Interessen einzelner Menschen werden in dieser Perspektive marginalisiert. Geschichte kann jetzt als die große »Schlachtbank« betrachtet werden, auf der mit Hegel das Glück der Völker geopfert wird. 334 Die konkreten Konsequenzen für Menschen hängen dann davon ab, auf welcher Seite des Prozesses man steht, ob man Aktivist oder Opfer ist. Für den politischen Aktivisten ist die Orientierung im gigantischen Zeithorizont einer distanzierenden Lebenstechnik vergleichbar: Alles Gegenwärtige erhält seine Bedeutung nur durch den unaufhörlichen Blick auf das Ende. Was immer im Augenblick geschieht, ist für den Aktivisten unmittelbar eingeordnet und überholt; er ist nicht überrascht und nicht betroffen: »Ein Sozialist vergißt nichts, bereut nichts, verflucht nichts: Jedes Ereignis, jedes Geschehen der Geschichte wird sogleich in einem riesenhaften Gedächtnis abgelagert, als dessen Wächter und aufmerksamer Archivar er sich versteht. Der Sozialist weiß nicht, was eine Niederlage ist, eine wirkliche, echte Schmach: Er denkt diese Niederlage stets als Verzug oder als Etappe, als List oder als Gegenstoß in einem geheimnisvollen Gefecht, 144 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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dessen Gang zwar undurchschaubar ist, dessen Ausgang aber keinerlei Zweifel unterliegt.« 335 Die Einordnung in kolossale Zeithorizonte, als Lebenstechnik betrachtet, garantiert also einen hohen Status personaler Emanzipation. So werden »lange Märsche« möglich. Noch deutlicher wird die Verbindung aus Distanz zur Gegenwart und Dominanz der Zukunft, die für die Weltbilder politischer Aktivisten charakteristisch ist, in einem anderen Zeugnis. Als ehemaliger Parteigänger analysiert Stephen Spender die Mentalität des unter Intellektuellen einflußreichen kommunistischen Schriftstellers Edward Upward: »Er hatte sich zu einem Leben revolutionärer Tat entschlossen, und damit betrachtete er die konkreten Ergebnisse einer solchen Tat aus der Ferne. Sein Denken war so ausschließlich auf die Zukunft gerichtet, daß alles, was in der Gegenwart geschah, für ihn meiner Meinung nach eine ebenso gleichgültige Angelegenheit war wie das Schicksal der Menschen, die vor zweihundert Jahren beim Erdbeben in Lissabon umgekommen waren. Er lebte in der Zukunft, und die Gegenwart gehörte für ihn einer finsteren vor-revolutionären Vergangenheit an.« 336 Anders sieht es nun für das von der politischen Zeithorizonterweiterung verschlungene Opfer aus, dessen Zeithorizont vor allem durch die eigene, nicht verlegbare Lebenszeit bestimmt ist. Für ihn geht es um seine Gegenwart, deren Leid ihm nicht durch den Blick auf ein späteres Ziel der Geschichte gemildert wird. Für ein Opfer ist es außerordentlich schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, den eigenen Schmerz als unvermeidlichen Bestandteil einer geschichtlichen Übergangsphase zu begreifen. 337 Muß man also – vorsichtig gefragt – die geschichtsphilosophische Zeithorizonterweiterung im 20. Jahrhundert nicht mitverantwortlich machen dafür, daß die Lebensqualität unzähliger Menschen ganz erhebliche Einbußen erlitten hat, weil ihnen in einem vermeintlich vorhersehbaren Entwicklungsgang lediglich der Status notwendiger Vorstufen zugebilligt wurde? Und auch wenn ihnen nicht unmittelbar eine Opferrolle aufgezwungen, sondern vielleicht nur 145 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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mit Hilfe Adornos suggeriert wurde, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe 338, wenn also die Lebenserfüllung in der geschichtsphilosophisch defizitären Gegenwart diskreditiert und das eigentliche Leben auf eine ideale Zukunft verschoben wird: Muß man da nicht grundsätzlich das Eigenrecht jeder menschlichen Gegenwart gegenüber ambitiösen Zeithorizonterweiterungen stärken? Anders gefragt: Welche Konsequenzen sind aus den zeitethischen Mahnungen von der Antike bis zur Gegenwart für das Konzept der Zeithorizonterweiterung zu ziehen? Sollen Erwachsene jetzt vielleicht eine Präferenz für die Existenzform der Kinder entwickeln, die zweifellos gegenwärtiger leben, aber eben um den Preis eines beschränkten Zeithorizonts? Der Versuch einer Antwort stellt eine Gelegenheit dar, grundsätzliche Mißverständnisse aufzuklären. Zeithorizonterweiterung bedeutet nämlich nicht, sich in Vergangenheit oder Zukunft zu verlieren (wie Jaspers befürchtet) oder sich darin auf Kosten der Gegenwart einzurichten (wie Valéry bemängelt). Hier ist ein Rückblick auf die kurze Erläuterung zu Beginn der Untersuchung angebracht (II.1): Zeithorizonterweiterung ist die Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus. Der Begriff des Zeithorizonts nivelliert den Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht einfach (vgl. V.1). Die Gegenwart hat unter diesen das Daseinsmonopol, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht. Diese Auszeichnung der Gegenwart gilt es jetzt in ihren Konsequenzen zur Kenntnis zu nehmen: Zeithorizontausbildung liegt vor, wenn das Bedenken der Vergangenheit und Zukunft einen Einfluß auf mein gegenwärtiges Denken und Handeln nimmt. Ziel- und Angelpunkt bleibt also stets mein gegenwärtiges Handeln. Ich verschiebe mein Leben nicht, ich wähle lediglich einen größeren Orientierungsrahmen. Wenn Odysseus in der Höhle des Polyphem sein Handeln an einem größeren Zeithorizont ausrichtet, lebt er nicht über die Gegenwart hinweg. 146 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Wiederum kann es bei bestimmten, stark emotional geprägten Arten der Zeithorizonterweiterung durchaus zu den behandelten Problemen kommen. Dazu gehören einerseits übertriebene Sorge und durchgehende Furcht vor dem Tode, die gewissermaßen aus der Zukunft zurückstrahlen und die Qualität des gegenwärtigen Lebens eintrüben können. Ihnen gegenüber kommt es darauf an, die für Zeithorizonterweiterung vorausgesetzte personale Emanzipation zu bewahren und Besonnenheit durchzusetzen. Andererseits sind es emotionale Ausfüllungen von Zeithorizonten wie Sentimentalität, Nostalgie, Melancholie im Verhältnis zur Vergangenheit sowie Sehnsucht, Hoffnung, Erwartung im Verhältnis zur Zukunft, die in der Tat zur zeitlichen Entortung führen. Thomas Mann hat das Phänomen im »Zauberberg« sehr schön am Beispiel des Wartens beschrieben: »Warten heißt: Voraneilen, heißt: Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk, sondern nur als Hindernis empfinden, ihren Eigenwart verneinen und vernichten und sie im Geist überspringen. Warten, sagt man, sei langweilig. Es ist jedoch ebensowohl oder sogar eigentlich kurzweilig, indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen. Man könnte sagen, der Nichtsals-Wartende gleiche einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten, massenhaft durchtriebe.« 339 Eine gewisse Erwartungshaltung ist vielleicht für die westliche Kultur insgesamt kennzeichnend; Hermann Schmitz hat sie sogar eine »Kultur des Idealismus und der Utopie, der Hoffnung und der Projektion« genannt. 340 Die maßgebliche Lebenseinstellung beschreibt er folgendermaßen: »Die Fülle der Möglichkeiten des gegenwärtigen Lebens wird nicht als solche entfaltet, sondern als Stoff und Mittel, womit ein in der Zukunft liegender Zweck herbeigeführt werden soll, verstanden und verbraucht. […] Der Lebenswille des Menschen, der im Bann der Projektionen ins Künftige steht, ist von der Hoffnung abhängig. Dieser Mensch sagt sich: ›Wenn ich nicht dächte, daß noch etwas ganz anderes kommt oder wenigstens kommen kann, hielte ich das Leben nicht mehr aus.‹« 341 147 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Die bewußte Bemühung um den Zeithorizont muß nicht zu einer solchen Kultur der Projektion führen. Den menschlichen Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern, den »Spielraum der Gegenwart« (Hermann Schmitz) zu achten und zu pflegen, steht mit Zeithorizonterweiterung keineswegs grundsätzlich im Widerspruch. Gegenwärtig leben heißt nach Schmitz für die Menschen, »das Augenblickliche, das sie faktisch leben, mehr als eine Weite, eine Dimension von Chancen der Gestaltung und Einwurzelung, zu verstehen, statt nur als Stoff zum Verbrauch und Gelegenheit zum Absprung in das Künftige, dem sie doch planend zugewandt sein könnten, ohne nötig zu haben, ihren Lebenswillen darin zu verankern«. 342 Man kann seine Zukunft planen, ohne die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren. Noch einmal: Nicht die Zeithorizonterweiterung als solche, sondern bestimmte emotional geprägte Formen führen dazu, daß Menschen über die Gegenwart hinweg leben, statt in sie hinein zu leben. Daneben kommt es hier wie bei so vielen Dingen des Lebens natürlich darauf an, das richtige Maß zu finden und die Extreme zu meiden. »Maß« ist in diesem Fall keine räumliche Größe, sondern muß verzeitlicht werden, Maß wird also zum Rhythmus. Eine Vorlage für eine rhythmische Gliederung des Lebens bietet Goethe, wenn er regelmäßige Abwechslung zwischen Besonnenheit und Entfesselung empfiehlt: »[…] genug wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zustande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen oder zu drücken scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben, und die Absichten der Gottheit dadurch zu erfüllen, daß wir, indem wir von einer Seite aus uns zu verselbsten genöthigt sind, von der andern in regelmäßigen Pulsen uns zu entselbstigen nicht versäumen.« 343 Mit anderen Worten: Nicht immer kann der Mensch auf dem höchsten Niveau personaler Emanzipation existieren, nicht immer kann er sein Leben mit dem größten Zeithorizont führen. Dies gilt es anzuerkennen, damit keine Überforderung entsteht. Es gibt einen Rhythmus des Lebens in größeren und kleineren Zeithorizonten, den man akzeptieren kann, auch wenn einem 148 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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prinzipiell an Erweiterungen liegt. Die Phasen der Entselbstung bzw. Horizontbeschränkung müssen zugelassen werden, weil sie die anschließende Verselbstigung in zeitlicher Weite erst wieder ermöglichen. So wird beispielsweise ein Urlaub nicht nur erholsam durch Nicht-Arbeit und leiblich spürbaren Klimawechsel, sondern auch durch den (weitgehenden) Verzicht auf gewohnte und durchaus anstrengende Zeithorizonterweiterung. Und wer ein längerfristiges Projekt verfolgt, das stete Beachtung des Zeithorizonts verlangt, tut gut daran, sich vorübergehend, etwa im Spiel oder Sport, ganz der engen Gegenwart hinzugeben. Mit Urlaub, Spiel und Sport sind bereits konkrete Gelegenheiten zur Sprache gekommen, die über die bisher ausschließlich gehörten kritischen Stimmen hinausführen und auch einmal alltägliche Auswege aus der Misere andeuten: Wie könnte positiv ein erfülltes Leben in der Gegenwart aussehen? Jemand, der sowohl theoretisch wie auch praktisch an Verankerung in der Gegenwart das größte Interesse hat, ist Rousseau. Er fragt nach den Möglichkeiten, gemäß dem Prinzip Gegenwart zu leben: »Gibt es aber einen Zustand, in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz auszuruhen und sich darin ganz zu sammeln, ohne in die Vergangenheit zurückblicken oder in die Zukunft vorgreifen zu müssen, wo alle Zeit ihr gleichgültig ist, wo das Gegenwärtige immer fortdauert, ohne aber seine Dauer merken zu lassen, und […] bloß auf das Gefühl des eigenen Daseins eingeschränkt, welches Gefühl allein die Gegenwart ganz erfüllte«? 344 Rousseau sieht offenbar keine Möglichkeit, die von ihm favorisierte Sammlung in der Gegenwart mit klassischer Zeithorizonterweiterung zu verbinden. Daß dies ein Vorurteil ist, soll nun auch die weitere Suche nach konkreten Weisen, gegenwärtig zu leben, zeigen. Insgesamt haben die Philosophen hier auffällig wenige Vorschläge zu bieten. Ausgerechnet der nüchterne Neukantianer Heinrich Rickert zeigt in seiner Wertphilosophie Sinn für das Thema. Im Rahmen des sozialethischen Lebens, das nach Rickert durch »Zukunftsgüter« charakterisiert ist, stößt er auf eine Grup149 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das Prinzip Gegenwart

pe von Werten, die an das persönliche Leben gebunden ist. Alles persönliche Leben ist seiner Ansicht nach aber nur in der Gegenwart wirklich lebendig und droht daher durch den dauernden Hinweis auf die Zukunft in seinem innersten Wesen problematisch zu werden. Aus der Perspektive der Persönlichkeit »wird der Gedanke, daß in ihrem Dasein alles nur Vorstufe ist, unerträglich.« 345 Die Güter und Werte, die im persönlichen Leben eine Rolle spielen, passen nicht in die üblichen philosophischen Schemata, und Rickert hat sichtlich Schwierigkeiten, mit dieser Materie zurechtzukommen. Unter dem Begriff eines »sich genügenden, in sich ruhenden Gegenwartslebens« zählt er verschiedene menschliche Verhältnisse auf: Liebe, Mütterlichkeit, Güte, Freundschaft, Geselligkeit. 346 Rickert gibt zu, daß es sich zum Teil um »unscheinbare, alltägliche, triviale Dinge« handelt, die zwar in jedem Menschenleben einen großen Raum einnehmen, die man aber vielleicht gerade deshalb nicht für »würdig« hält, Gegenstand philosophischer Untersuchung zu sein. 347 Auch sein eigenes Bekenntnis zu diesen Werten bleibt etwas verlegen. Doch hat Rickert damit, vermutlich ohne tiefere Absicht, auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht, der zu den Symptomen der problematisch gewordenen Zeitorientierung selbst gezählt werden kann: die Mißachtung all jener scheinbar banalen Phänomene des Alltags, von denen aus man in der Philosophie gewöhnlicherweise lieber in entfernte Zeiten oder abstrakte Höhen strebt. Jürgen Habermas machte einmal auf Versuche aufmerksam, gegen den cartesianischen Dualismus von Geist und Körper dritte Kategorien wie Handlung, Sprache und Leib zu »philosophischem Rang« zu erheben. 348 Die Formulierung ist verräterisch: Besaßen diese Phänomene nicht bereits von vornherein und von jeher »philosophischen Rang«, weil sie unbestreitbar in der Lebenserfahrung von Menschen eine zentrale Rolle spielen? Oder haben hier Trends in einem Universitätsfach namens Philosophie das letzte Wort? Der Ausschluß aus dem Bezirk des ausdrücklich Philosophie-Würdigen ist jedenfalls ein verhängnisvoller Akt, denn 150 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das Prinzip Gegenwart

er entzieht die im menschlichen Leben wesentlichen Phänomene des Betroffenseins der theoretischen Besinnung und damit weitgehend der Sprachfähigkeit. Es kommt demgegenüber gerade darauf an, mit Hans Thomae »den Menschen als Ganzen, also in allen seinen Regungen und Daseinsbekundungen – mögen sie noch so banal oder weltfern scheinen – ernst zu nehmen.« 349 Diese Aufforderung beherzigt der Psychiater Erwin Straus, wenn er für die Suche nach Formen der Gegenwärtigkeit den Tanz ins Spiel bringt, als eine ganz »präsentische«, nicht zielstrebige Bewegung: »Im Tanz schreitet das historische Geschehen nicht fort, der Tänzer ist aus dem Fluß des historischen Werdens herausgehoben. Sein Erlebnis ist ein Gegenwärtigsein, das auf keinen Abschluß in der Zukunft hinweist, und darum räumlich und zeitlich nicht begrenzt ist.« 350 Neben dem Tanz bietet sich auch das Fest an. Otto Friedrich Bollnow ordnet dieses Ereignis in den gesuchten Kontext ein: »In der Furcht und in der Hoffnung ist der Mensch nämlich […] sich selber voraus in der Zukunft. Er streckt sich der Zukunft entgegen. Das Fest dagegen – und mit ihm ähnliche gehobene Zustände der Seele – wird als eine solche Erfüllung der Gegenwart erfahren, daß dem Menschen darin die Zukunft überhaupt aus dem Sinn kommt.« 351 Als weitere unscheinbare, alltägliche, triviale Dinge dieser Art – um es mit den Worten Rickerts zu sagen – kann man das Wohnen, die Liebe, den Humor nennen.352 Allgemein bieten die von Hermann Schmitz eingehend untersuchten Phänomene des leiblichen Befindens, die Situationen und die Atmosphären vielerlei Gelegenheiten, den Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern, statt ihn von der Aussicht auf Künftiges, das erhofft, gefordert oder unternommen wird, abhängen zu lassen. Schmitz verfolgt mit seiner philosophischen Arbeit überhaupt das Ziel, »dem explosiv expandierenden Fortschritts- und Erlösungsstreben der Menschheit durch Umlenkung auf Intensität und Differenziertheit des Lebens eine noch viel zu wenig angeeignete Dimension künftiger Bildung zugänglicher zu machen«. 353 151 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Das Prinzip Gegenwart

Rousseau hatte nach einem Zustand gefragt, in dem man sich ganz sammeln könnte, ohne in die Vergangenheit zurückblicken oder in die Zukunft vorgreifen zu müssen. Seine eigene Vision soll hier am Ende nicht unerwähnt bleiben – sie reiht sich in ihrer Unauffälligkeit in die bisher genannten Beispiele ein: »In diesem Zustand bin ich bei meinen einsamen Träumereien auf der Petersinsel oft gewesen, bald in einem Kahn liegend, den ich den Wellen überließ, bald sitzend an den Ufern des unruhigen Sees oder anderwärts am Rand eines schönen Flüßchens oder eines Baches, der murmelnd über den Kiesel hinfloß.«354 Nicht unerwähnt bleiben sollte aber auch, daß dies für Rousseau ein idealer Zustand war, der nach Möglichkeit durch das gesamte Leben hindurch andauern sollte. Gelegentlich, im Sinne der skizzierten Rhythmik des Lebens, ist dies zweifellos eine höchst attraktive Situation. Der Mensch ist aber keine Pflanze. Er hat die Möglichkeit der Zeithorizonterweiterung und es liegt ihm daran, sie auch zu verwirklichen.

152 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

VII. Die Aufgabe einer neuen Zeithorizont-Kultur

VII.1 Zeithorizont-Humanismus »Man kann sich ein Tier zornig, furchtsam, traurig, freudig, erschrocken vorstellen. Aber hoffend? Und warum nicht? Der Hund glaubt, sein Herr sei an der Tür. Aber kann er auch glauben, sein Herr werde übermorgen kommen?« Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen355 »So ist denn das Leben des Thieres eine fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der große Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer Besinnung.« Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 356

Die Fähigkeit zur Ausbildung eines Zeithorizontes über die Gegenwart hinaus ist immer wieder als ein spezifisches Kennzeichen des Menschen betrachtet worden (vgl. II.1). Könnte die Ausrichtung auf eine gezielte Pflege des Zeithorizontes eine Art neuen Humanismus begründen? Der klassische Humanismus – das wird bei oberflächlicher Betrachtung häufig vergessen – hat den Menschen als ein provisorisches Wesen begriffen, das in Distanzierung vom Tier die Aufgabe hat, über sich hinauszuwachsen, um er selbst zu werden. Daher gehört von Anfang an Erziehung in das Konzept des Humanismus, d. h., der unerzogene, naiv als Ganzes betrachtete Mensch ist noch nicht Mensch im Sinne des Humanismus. Insofern ist die strikte Trennung zwischen ›humanistisch‹ und ›humanitär‹ konsequent. Der Neuhumanist Werner Jaeger etwa zieht die »ältere und vulgäre Bedeutung des Humanitä153 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Die Aufgabe einer neuen Zeithorizont-Kultur

ren« 357 ausdrücklich nicht in Betracht; ihm geht es um den »zweiten höheren und strengeren Sinn« von humanitas als »Erziehung des Menschen zu seiner wahren Form, dem eigentlichen Menschsein«. 358 Eine solche umfassende und unerschütterliche Zielvorstellung, wie sie dieser Humanismus voraussetzt, verbunden mit der unbedingten Forderung nach einer Umgestaltung des vorhandenen Menschen, soll unsere Betrachtungen über den Menschen und seine Zeithorizonte nicht leiten. Das Ziel dieses klassischen Humanismus war die forcierte und einseitige Ausbildung derjenigen Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden (vor allem der »Vernunft«). Der alte Humanismus hatte zum Tier im Menschen ein polemisches Verhältnis, er lebte von der Bekämpfung unwillkürlicher Regungen, von der Abwehr der Gefühle und des Leiblichen. Der alte Humanismus mit seiner Erziehung zur Selbstbeherrschung um der Selbstbeherrschung willen hat zu einem Menschen geführt, der zwar weitgehend seiner selbst mächtig geworden ist, der aber nun nicht mehr weiß, was er mit dieser Macht anfangen soll. 359 Ein von der rigiden Unterdrückung unwillkürlicher Regungen absehender, moderater angelegter Zeithorizont-Humanismus könnte den Menschen dazu anhalten, sich auch zeitlich zu entfalten, seine Möglichkeit zur Zeithorizonterweiterung in beide Richtungen zu nutzen und zu kultivieren. Daß das kein utopisches Postulat ist, sondern ein wesentlicher Grundbestandteil historischer Kulturen, ist bereits gezeigt worden (vgl. III.). Unser Plädoyer für Zeithorizonterweiterung beruft sich also auf mehrere Motive: Es geht nicht allein darum, daß ein solches Verhalten individuell klug wäre, daß es das Leben interessanter machte oder in ethischer Hinsicht vertiefen würde. Das ist alles der Fall und wurde an dieser Stelle auch bereits ausführlich thematisiert. Was aber neben diesen Beiträgen zur praktischen Philosophie in der Regel weniger gesehen wird: Es geht auch um eine anthropologische Erweiterung. Die Überlegungen zum Thema Zeithorizont bereichern das bisher zu statische und auf Momentaufnahmen fixierte Selbstverständnis des Menschen um zwei 154 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont-Humanismus

wichtige Aspekte. Menschen können sich als Lebenslaufwesen begreifen (vgl. I.), und sie können ihre Mittelgliedstellung zwischen Vorfahren und Nachfahren beachten (vgl. IV.). Wenn sie ihre Mittelgliedstellung stärker betonen, werden sie sich auch deutlicher bewußt ihrer doppelten Rolle: im unaufhaltsamen Aufsteigen und Vergehen der Generationen sowohl Erbe wie Erblasser zu sein – und zwar in einem mehr als materiellen Sinne. Das Phänomen des Erbens und Vererbens muß dazu erst noch aus dem üblich gewordenen materiellen Reduktionismus befreit werden. Darüber hinaus könnte Zeithorizonterweiterung in anthropologischer Hinsicht auch die Grundlage für eine neuartige Selbstobjektivierung werden, nicht mehr allein durch synchrone, sondern durch darüber hinausgehende diachrone Einordnung in das Menschengeschlecht (vgl. IV). Unauffällige, alltägliche Selbstobjektivierung betreibt derjenige, der versucht, sich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen: »Taking the role of the other« (George Herbert Mead). Läßt sich dieses Bemühen verzeitlichen? Kann man die eigene Gegenwart mit den Augen noch nicht existierender Nachfahren sehen? Oder verleiht man damit nur unzulässigerweise seinen eigenen kulturkritischen Vorbehalten eine überzeitliche Weihe? Walter Rathenau hat mit einem solchen imaginierten »Rückblick der Kommenden« den Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten wollen. 360 Man kann nicht sagen, daß dieser Versuch durchweg gelungen sei. Es ist daher sinnvoll, sich die Grenzen des Projekts zu vergegenwärtigen. Ein fiktiver Rückblick dieser Art kann keine Futurologie sein, es kann nicht um den Anspruch gehen, das ›wirkliche‹ Urteil der Nachwelt vorwegzunehmen. Vielmehr stehen eher pädagogische Zwecke im Vordergrund; die Anleitung zu unzeitgemäßen Betrachtungen soll nämlich aufklären über die eigene Situation und ihre Implikationen. Die traditionelle Kulturkritik hat neben der synchronen Kontrastfolie, dem exotischen Beobachter, stets auch die diachrone genutzt, vor allem den Vergleich mit antiken Kulturen. Dabei geht es darum, auf Fehlentwicklungen, Einseitigkeiten und Vernachlässigungen im eigenen 155 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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kulturellen Nahbereich aufmerksam zu machen, der sich ohne einen Vergleich kaum vergegenständlichen läßt. Diachrone Kulturkritik hat sich bisher in erster Linie als ein Versuch präsentiert, zeitliche Selbstobjektivierung zu betreiben unter Einbeziehung der Vergangenheit. Die Dimension der Zukunft bietet demgegenüber den Vorteil, daß hier aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich einmal Urteile über die jeweilige Gegenwart gefällt werden. Nochmals sei auf die sozusagen pädagogische Funktion des Gedankenexperiments hingewiesen. Der ohne Anspruch auf Tatsächlichkeit entworfene Blick mit den Augen der Nachfahren soll nichts weiter als eine Hilfe zur Selbstobjektivierung sein. Ein Muster dafür könnte eine Überlegung von Harald Welzer abgeben, die hier nicht wegen ihres konkreten Gegenstandes herangezogen wird, sondern wegen ihrer zeithorizonterweiternden Perspektive. Welzer führt über die Erinnerung an das Futur II sozusagen das gegenwärtig ausgestorbene Motiv des Nachruhms in einer zeitgemäßen, ethisch imprägnierten Version wieder ein: »Um Veränderung als positiv definieren zu können, muss wieder die schon lange nicht mehr gestellte Frage aufgeworfen werden, wie wir eigentlich leben wollen, wie unsere Gesellschaft, sagen wir, im Jahr 2025 aussehen soll. In der Grammatik gibt es die interessante Zeitform des Futurums II, das einen künftigen Zustand beschreibt, auf den man zurückblickt: Es wird gewesen sein. Erst aus einer solchen Perspektive, nämlich wer man einmal gewesen sein möchte, lässt sich bestimmen, welche Maßnahmen heute sinnvoll und angemessen sind. Das ist nämlich ins Konkrete übersetzt die Frage danach, ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die den Planeten ruiniert hat, weil sie dumm und ungeprüft Glaubenssätzen von Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gefolgt ist, ohne zu prüfen, wie weit sie tragen – oder ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die die Zeichen der Zeit erkannt und noch rechtzeitig umgesteuert hat.« 361 Erst in einem solchen Zeithorizont kann man sich darüber bewußt werden, was man eigentlich tut. Das tägliche Ausleeren eines gefüllten Mülleimers oder die tägliche Autofahrt zur Arbeit ist ein 156 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

Zeithorizont-Humanismus

gänzlich unauffälliges Geschehen, das erst in der Hochrechnung über längere Zeit und im vorgestellten Blick eines Anderen zu einem Problem werden kann. Wollen wir tatsächlich zu jenen Generationen gehört haben, die naiv und ohne jedes Bedenken ungeheure Mengen von Abfall erzeugt haben, die den Individualverkehr so hemmungslos haben gewähren lassen? Das Urteil der Späteren wird uns dort treffen, wo wir es gar nicht erwarten, beim allzu Selbstverständlichen. Wer man einmal gewesen sein möchte – diese Perspektive setzt natürlich voraus, daß die grundlegenden Bewertungsmaßstäbe der Zukunft keine gänzlich unbekannten sind, daß sie sogar mit den gegenwärtigen weitgehend identisch sind. Eine solche Projektion gehörte auch schon zum alten Nachruhm-Konzept (vgl. III.3). Welzers zeitgemäße Wiederauflage appelliert an die moralische Eitelkeit von Individuen: Nicht nur momentan-ästhetisch ist es einem Menschen nicht gleichgültig, wie er auf andere wirkt, sondern auch zeitlich-ethisch. Die entsprechende Gegenposition hat auch ihr Sprachrohr gefunden: Der Mensch erleichtert seine Existenz von allerlei Sorgen, die allein der imaginierte Blick der Nachgeborenen ihm bereitet, wenn er seine moralische Eitelkeit auf die synchrone Ebene, d. h. die Zeitgenossen, zu beschränken lernt. Dahin gelangt man, indem man die Zukunft als einen großen Raum des Vergessens auffaßt, in dem die eigenen moralischen oder unmoralischen Handlungen keine Richter finden werden, weil sie einfach niemand mehr kennt. Wozu die ständige, angsterzeugende Rücksicht auf nachträgliche Urteile?, fragt sich der Zeithorizont-Skeptiker mit Bedauern über die dadurch entgangenen Lebenschancen. Er feiert lieber die Befreiung von der gewohnten, anstrengenden Zeithorizonterweiterung und verbindet sie mit einer Ermutigung zum sorglosen Leben im Hier und Jetzt. 362 Die Antwort des hier vorgeschlagenen Zeithorizont-Humanismus könnte lauten: Mit dieser Vision eines einfacheren Lebens auf kindlichem Niveau sollen Menschen zum Verzicht auf großartige Möglichkeiten verführt werden. Der psychologische Be157 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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freiungseffekt ist zwar unbestreitbar – doch warum sollte diese Haltung nicht zur Verantwortungslosigkeit führen? Dies wird hier nur beteuert, aber nicht überzeugend begründet. Darüber hinaus ist in diesem Gedankenexperiment unklar, wer mit »wir« gemeint ist. Wenn der Autor Individuen und ihre einzelnen Handlungen im Blick haben sollte, dürfte die Prognose zutreffen, daß diese weitgehend der Vergessenheit anheimfallen. Anders sieht es dagegen schon aus, wenn sich dieses »wir« auf Gruppen gewisser Größe, etwa die Deutschen zu Anfang des 21. Jahrhunderts bezieht. Eine Gruppe dieser Art muß sich schon darauf gefaßt machen, von Späteren mit dem einen oder anderen Vorwurf konfrontiert zu werden. Insofern werden hier auch grundlegende Fakten mißachtet: Menschen sind geschichtliche Wesen, die durch zeitlichen Abstand nicht einfach zu vollständiger Gleichgültigkeit veranlaßt werden. Wer man einmal gewesen sein möchte: An der moralisch aufgeladenen Devise eines Zeithorizont-Humanismus läßt sich gerade etwas deutlich machen, das in der üblichen Rollenverteilung – wenn sich gegenwärtig Lebende von Vorangegangenen distanzieren – leicht in Vergessenheit gerät. Jede Generation ist nicht nur Subjekt moralischer Bewertungen, sondern ebenso Objekt. Jede Generation urteilt nicht nur über vorangegangene, sie wird auch selbst von nachfolgenden beurteilt (vgl. IV.4).

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VII.2 Zeithorizont-Erziehung »Ich will alles, ich will alles – und zwar sofort!« Gitte Haenning 363 »Einmal mehr konnten die Kinder nicht warten, rissen schon auf dem Heimweg die Verpackung auf und aßen die Schokolade. Wie bringt man sie wohl dazu, beim Konsumieren vernünftig abzuwägen und später ans langfristige Sparen und Investieren zu denken? Es wird nicht einfach sein, denn auch unter Erwachsenen ist kurzfristiges Denken und Handeln allgegenwärtig.« Beat Gygi 364

In Harald Welzers Skizze einer Selbstobjektivierung durch Einordnung in einen größeren Generationenzusammenhang wird implizit der Vorwurf erhoben, daß die Gegenwart die Pflege von Zeithorizonten vernachlässigt. Bevor im abschließenden Teil den Möglichkeiten einer Therapie in Gestalt einer Zeithorizont-Erziehung nachgegangen werden soll, müssen Anamnese und Diagnose noch etwas vertieft werden. Die Geschichte zeigt, daß Zeithorizont-Kulturen Schwankungen ausgesetzt sind, daß sie sich entwickeln oder verkümmern. 365 Den folgenden kurzen Blick auf das Schicksal unserer eigenen Zeithorizont-Kultur soll die generelle These leiten: Der Futurismus des 20. Jahrhunderts ist vom Präsentismus des 21. Jahrhunderts abgelöst worden. Mit anderen Worten: Von einer in alle Richtungen entfalteten, ausgewogenen Zeithorizont-Kultur sind wir weit entfernt. Das Zeitalter der großen geschichtsphilosophischen Zeithorizonterweiterungen liegt abgeschlossen hinter uns (vgl. VI.). Nachdem Zeithorizonte zu lange als politische Projektionsräume mißbraucht worden sind, hat sich in großem Rahmen Ernüchterung durchgesetzt. Der Untergang der DDR war in diesem Sinne auch Ausdruck eines Überdrusses an erzwungener Zeithorizonterweiterung: Die Menschen wollten ihre Gegenwart nicht länger einem Versprechen, einer Hoffnung zum Opfer bringen. Die alte, in den fünfziger Jahren geprägte Parole »So wie wir heute arbei159 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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ten, werden wir morgen leben!« sollte mit dem Glücksaufschub versöhnen, sie konnte schließlich aber keine Überzeugungskraft mehr entfalten angesichts eines Lebensgefühls, in dessen Mittelpunkt der Wunsch stand, heute zu leben. Im Westen verlief die Entwicklung in dieser Hinsicht ähnlich. Einen letzten Ausläufer des geschichtsphilosophischen Futurismus bildeten die aus der Studentenbewegung hervorgegangenen politischen Kleingruppen der 1970er Jahre 366, die ihren großen Zeithorizont beim Übergang in die sich formierende ökologische Bewegung beibehalten konnten, im Gestus allerdings von der Gestaltung zur Bewahrung wechselten. Nicht mehr die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft war nun das Ziel, sondern die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Menschheit, beides groß gedacht und mit ausschließlichem Blick auf die Zukunft. Eine Besinnung auf die Vergangenheit in Gestalt der Geschichte ökologischer Gedanken spielte keine Rolle. 367 Die ökologische Kritik war deshalb so gut zu übernehmen, weil hier weiter in großen Zusammenhängen gedacht werden konnte. Inzwischen ist aber auch dieser Rest-Futurismus erlahmt, und ein unspektakulärer Präsentismus beherrscht das Feld. In der vor einigen Jahren geführten Diskussion über die »Spaßgesellschaft« wurde stets der Hedonismus betont, der enge Zeithorizont, das pure Leben in der Gegenwart, jedoch übersehen. Zeithorizontbildung überhaupt scheint diskreditiert zu sein. Der technische und politische Futurismus des 20. Jahrhunderts war immerhin noch von einer fruchtbaren Literatur negativer Utopien begleitet, die die gängigen, großen Zeithorizonte aufgriffen, aber anders ausfüllten. Das von Hannah Arendt so hochgeschätzte Interesse an individuellem Nachruhm, an sozialer Unsterblichkeit (vgl. II.2, III.4) dürfte heute so gut wie ausgestorben sein. Seine Voraussetzung, die Kontinuität der Kollektive, ist kein nennenswertes Thema öffentlicher Diskurse. Zwar bringt die schon länger absehbare, aber erst in den letzten Jahren beachtete demographische Problematik (vgl. IV.) diesen Aspekt wieder in die allgemeine Aufmerksamkeit zurück, aber die Rezeption ist trotz des zunehmenden 160 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Zeitdrucks, trotz beachtlicher Bemühungen um eine entsprechende Bewußtseinsbildung immer noch ziemlich verhalten. Ein deutlicheres Kennzeichen für die dominierende Einstellung unserer Zeit ist die nicht nur fortgesetzte, sondern sogar erheblich gesteigerte Aufnahme staatlicher Schulden. Immerhin hat an dieser Stelle eine gewisse Rückbesinnung auf den Wert weiter Zeithorizonte in der Politik eingesetzt. Die Frage, was mit den ungeheuren Schulden geschehen soll, ist ebenso offen wie die andere Frage, wie man die Sicherheit atomarer Endlager für die nächsten 10000 Jahre gewährleisten will. An diesem Beispiel ist unsere Zeithorizonterweiterungsverweigerung vielleicht am schlagendsten vorzuführen. Mit dem Einsatz von Kernenergie haben wir bereits jetzt unzählige Generationen nach uns in die Pflicht genommen und vertrauen naiv darauf, daß sie über das Wissen, die technischen Möglichkeiten und die politischen Rahmenbedingungen verfügen werden, die nötig sind, um dieses Erbe nicht zu einer tödlichen Gefahr werden zu lassen. Einsam und ohne echte Wirkung bleiben die Mahner, die darauf hinweisen, daß diese Abwälzung auf die Nachfahren zu den Kennzeichen unserer Zivilisation gehört. 368 Der Philosoph Dieter Thomä kommt vor diesem Hintergrund zu dem Fazit: »Wir befinden uns in einer Epoche, die auf schamlose Weise Gegenwarts-versessen und Zukunfts-vergessen ist.« 369 Für einen der einflußreichsten Ökonomen dieser Jahre besteht die Gegenwartsversessenheit vor allem im Verzicht auf geduldgestützte Zeithorizonte: »Wir sind eine Art ›Instant society‹ geworden. Eine Gesellschaft des ›alles jetzt und gleich‹. Möglichst auf nichts warten.« 370 Befindet sich unsere Gesellschaft damit nicht auf einem Zeithorizont-Niveau, das man bei einem Individuum als das eines Kindes bezeichnen würde? Die Suche nach den Gründen für diesen Präsentismus ist schwierig. Die bereits angesprochene Diskreditierung des ausgreifenden geschichtsphilosophischen Gestus spielt sicher eine Rolle. Es gibt nun keine große Zeit-Deutung mehr außer der verblassenden christlichen, die zwar noch unsere Zeitrechnung bestimmt, aber keine lebendigen Zeithorizonte mehr anregt. Man könnte 161 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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hier Wilhelm Perpeets Hinweis aufgreifen, daß es keine Kultur ohne entsprechende Anstrengung gebe, 371 und daraufhin vermuten, daß die Gegenwart an einer allgemeinen Zeithorizontmüdigkeit leide. Zeithorizontbeschränkung läßt sich ebenso als Ausdruck eines Mißtrauens im Hinblick auf stabile Verhältnisse in der Zukunft deuten. Vielleicht ist es die moderne Erfahrung schnell sich verändernder Lebensumstände, die Kulturen daran hindert, ihren Werken den »Stempel der Ewigkeit« aufzudrücken. Mit dieser Formel wollte Jacob Burckhardt den Mentalitätskontrast zwischen seinen Zeitgenossen und den Römern zum Ausdruck bringen. Deren einfachste Nutzbauten, so Burckhardt, nehmen stets einen »monumentalen Charakter« an: »Das Princip, von allem Anfang an so tüchtig und solid als möglich zu bauen, deutet auf einen Gedanken ewiger Dauer hin, dessen sich unsere Zeit bei ihren kolossalsten Nutzbauten nicht rühmen kann, weil sie in der That nur ›bis auf weiteres‹, mit Vorbehalt möglicher neuer Erfindungen und der betreffenden Veränderungen baut.« 372 Dabei ist ein gesundes Mißtrauen gegenüber den Wahrnehmungsgewohnheiten unserer Zeit angebracht, die ebenso neuerungsversessen wie kontinuitätsvergessen ist. Wenn man – auf dem Sockel stehend, den die Leistungen der Vorfahren bilden – seinen Blick auf dasjenige konzentriert, das zu diesem Bestand neu hinzukommt, dann realisiert sich hier nur ein weiteres Mal, was Jakob von Uexküll beobachtet hat: Das Suchbild vernichtet das Merkbild. 373 Was bedeutet es schon, daß technische Systeme schon nach wenigen Jahren durch Neuentwicklungen abgelöst werden, wenn man einmal bedenkt, daß unauffälligere, aber im Alltag wesentlichere Gebrauchsgegenstände zwar in Material und Stilisierung variieren, ansonsten aber in ihren Grundzügen über Jahrtausende konstant geblieben sind – ganz zu schweigen von abstrakteren Dingen wie Begriffsbildungen, die in der Regel überhaupt nicht als intellektuelle Erbschaften bewußt sind und ein äußerst zähes Leben haben. 374 Man könnte hier mit Manfred Fuhrmann – der als Altphilologe berufsbedingt das Verhältnis 162 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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zur Vergangenheit stärker beachtet – eine Art Narzißmus der Gegenwart konstatieren. 375 Wenn sich auch die Suche nach den Gründen derzeit noch schwierig gestaltet, drängen sich dafür die Folgen des Präsentismus immer stärker ins Bewußtsein. Auch wenn für uns die problematischsten Erscheinungen kleiner Zeithorizonte im Bereich der Ökonomie und der Politik erkennbar werden, wichtiger ist doch ihre Einbettung im übergreifenden Kontext der Kultur. Zu Beginn dieser Untersuchung war deshalb der Blick auf andere Zeithorizont-Kulturen gelenkt worden (vgl. I.), und ein eigener Abschnitt war dem Verhältnis von Kultur und Zeithorizont gewidmet (vgl. III.). Nun, bei der Suche nach Perspektiven und Aufgaben, ist darauf zurückzukommen. In einer Analyse aktueller Fehler in Politik und Ökonomie gelangt Wolf Lepenies zu einem entsprechenden Primat der Kultur: »Ein Problem Europas besteht heute darin, dass sich der Wille und die Fähigkeit zur Langfristorientierung dramatisch abgeschwächt haben. Wir leben in einer Alltagswelt, in der sich die Ereigniskultur auf der einen und die Legislaturpolitik auf der anderen Seite ergänzen und in ihrer aufgeregten Kurzatmigkeit noch wechselseitig zu übertreffen suchen. Kein Wunder, dass der sogenannte ›shareholder value‹ als einziger Wert der Industriegesellschaft zu überdauern scheint. Wie kann die Ökonomie weitsichtiger sein als die Kultur, in der sie eingebettet ist?« 376 Punktuelle Klagen über Kurzsichtigkeit findet man allerorten, aber die Probleme isoliert zu betrachten, führt nicht weiter. Es sind eben nicht einfach bestimmte, abgrenzbare Menschengruppen (z. B. »die« Hedge-Fonds-Manager) oder bestimmte gesellschaftliche Bereiche (»die« Wirtschaft), auf die man die Verantwortung konzentrieren kann. Wer in der Wirtschaft den »short termism« der Quartalsberichte kritisiert, sollte sich darüber klar sein, daß in der Politik das ständig bevorstehende Ende irgendwelcher Legislaturperioden einen ähnlichen Erfolgsdruck erzeugt: »Die regelmäßig wiederkehrenden Wahlen setzen die Politiker in Regierung und Opposition unter den Zwang, kurzfristig Erfolge 163 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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vorzuzeigen. Das erfordert ausgeprägte Gegenwartsfixierung in der Politik, prämiert rasch mobilisierbare, massenmedial gut kommunizierbare Leistungen – und führt entsprechend zur Vernachlässigung zukunftsorientierter Anliegen.« 377 Das hängt zusammen mit der schon von Tocqueville konstatierten »Schwierigkeit in der Demokratie, die Leidenschaften zu beherrschen und die Bedürfnisse des Augenblicks zugunsten der Zukunft zu unterdrücken«378 (vgl. III.2). Besonders Sozialpolitik, so der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt, eigne sich für einen »wahlterminorientierten ›Short-termism‹«; die Bundesrepublik Deutschland sei daher als eine »Demokratie im Dauerwahlkampf« zu charakterisieren. 379 Wenn vor diesem Hintergrund eine Politik mit großem Zeithorizont Chancen haben soll, müßte die Dauer der Legislaturperioden verlängert und ihre Anzahl reduziert werden, z. B. durch eine Reform des Föderalismus. Entsprechende Symbolwirkung hätte es bereits, wenn eine repräsentative Figur wie der Bundespräsident für eine Amtszeit von 10 Jahren gewählt würde. Diese Ideen sollen lediglich den kulturellen »Möglichkeitssinn« (Robert Musil) anregen; es kann hier nicht die Aufgabe sein, ein umfassendes Programm konkreter Maßnahmen zu entwickeln, das aus der verfahrenen Lage hinausführt. Die grundsätzliche Frage ist, ob Gesellschaften langfristig überleben können, wenn sie immer stärker dazu übergehen, kurzfristig zu denken und zu handeln. Die Geschichte zeigt in dieser Hinsicht ein klares Bild. In seiner umfangreichen Studie über Erfolg oder Scheitern von Gesellschaften auf lange Sicht kommt Jared Diamond zu dem Ergebnis, daß in den von ihm untersuchten Beispielen zwei Aspekte ausschlaggebend waren: einerseits die langfristige Planung, andererseits die Bereitschaft, zentrale Werte zu überdenken. Der Ausweg setzt Diamond zufolge den Mut voraus, »langfristig zu denken und kühne, couragierte, weitsichtige Entscheidungen zu einer Zeit zu treffen, wenn die Probleme bereits spürbar sind, aber noch keine krisenhaften Ausmaße erreicht haben. Dies ist das genaue Gegenteil der kurzfristigen Reaktionen, 164 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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die so häufig das Handeln unserer gewählten Politiker charakterisieren – der Gedanke, den mein Freund mit seinen guten politischen Verbindungen als ›90-Tage-Denken‹ bezeichnete, das heißt die Konzentration auf Themen, die voraussichtlich im Lauf der nächsten 90 Tage zu einer Krise führen werden.« 380 Man muß an dieser Stelle natürlich darauf achten, daß man nicht anstelle ›der‹ Manager oder ›der‹ Wirtschaft nun ›die‹ Politiker bzw. ›die‹ Politik isoliert verantwortlich macht. Dieter Birnbacher weist zu Recht darauf hin, daß es in einer Demokratie nur zum kleineren Teil an den Regierenden und zum größeren Teil an den Wählern liegt, wieviel Zukunftsbewußtsein in politische Entscheidungen eingeht. 381 Es bleibt also eine Aufgabe der gesamten Kultur, die bei entsprechendem Bewußtsein auch gelöst werden kann. Diamonds Analyse zeigt nicht nur negative, sondern auch positive Beispiele, in denen Gesellschaften etwa im Verhältnis zur Waldzerstörung die notwendigen Umkehrbewegungen zustande gebracht haben. 382 Die Fähigkeit der Demokratie zur Selbstkorrektur ist also gefragt 383, aber einzelne technische Änderungen führen noch nicht zu einer Kultur, die Zeithorizonterweiterungen auf breiter Basis einübt. Die Aufgabe ist eine darüber hinausgehende. Vor allem muß der Zugang zu größeren Zeithorizonten allgemeiner werden, mit anderen Worten: Mehr Menschen muß die Teilhabe an größeren Zeithorizonten ermöglicht werden. Die bestehenden Differenzen zwischen den Individuen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Zeithorizonterweiterung sind zu reduzieren. Schopenhauer zufolge fällt »der geistige Gesichtskreis eines Jeden sehr verschieden aus, nämlich von der bloßen Auffassung der Gegenwart, die selbst das Thier hat, zu dem, der doch auch die nächste Stunde, zu dem, der den Tag umfaßt, selbst noch den morgenden, die Woche, das Jahr, das Leben, die Jahrhunderte, die Jahrtausende«. 384 Wenn man dem Thema Zeithorizont keine gesamtgesellschaftliche Beachtung schenkt, werden diese erheblichen Differenzen in der Ausgangslage bestehen bleiben. Sie abzubauen, ist ein Ziel des oben skizzierten neuartigen Humanismus, zu dem – wie bei sei165 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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nen klassischen Vorläufern – wesentlich das Moment der Erziehung gehört. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, sich einem umstrittenen Buch zu nähern, das man jedoch nicht übergehen darf, wenn die Verschiedenheiten im menschlichen Umgang mit Zeithorizonten betrachtet werden sollen: Edward C. Banfields »The Unheavenly City. The Nature and Future of Our Urban Crisis« (1970). Der Autor, Politikwissenschaftler in Harvard, glaubte seine Leser auf das Buch vorbereiten zu müssen durch die Beteuerung, er sei so wohlmeinend und weichherzig wie sie: »But facts are facts, however unpleasant, and they have to be faced unblinkingly by anyone who really wants to improve matters in the cities.« 385 Die Tatsachen, die Banfield als Zumutung präsentiert, betreffen den charakteristischen Zeithorizont verschiedener sozialer Klassen. Die zentrale These, die ihm viele Anfeindungen eingetragen hat, lautet: »[…] the traits that constitute what is called lower-class culture or life style are consequences of the extreme present-orientation of that class. The lower-class person lives from moment to moment, he is either unable or unwilling to take account of the future or to control his impulses. Improvidence and irresponsibility are direct consequences of this failure to take the future into account.« 386 Banfield legt Wert darauf, von Idealtypen zu sprechen, nicht von konkreten empirischen Individuen. Bemerkenswert ist hier eine Beobachtung, die oben (vgl. III.2 und V.) mit anderen Worten formuliert worden ist: Ein wenig entwickelter Zeithorizont hängt mit Unbeherrschtheit, mangelnder personaler, genauer temporaler Emanzipation zusammen. Banfields weitere Darstellungen der Zeithorizont-Kultur in der Working-Class und der Middle-Class können hier vernachlässigt werden, denn mit dem direkten Übergang zum Zeithorizont der Upper-Class gelingt es, den größten Gegensatz anschaulich zu machen. 387 Das Individuum der Upper-Class erwartet ein langes Leben, schaut nach vorne auf die Zukunft seiner Kinder, Enkel und Urenkel (die Familienlinie) und ist ebenso der Zukunft solch abstrakter Entitäten wie Gemeinschaft, Nation und 166 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Menschheit zugewandt. Es ist zuversichtlich, in einem ziemlich weiten Rahmen die Zukunft seinen Zwecken gemäß gestalten zu können, wenn es sich selbst nur entsprechend anstrengt. Der Vertreter der Upper-Class hat deshalb starke Anreize, in die Verbesserung seiner zukünftigen Situation zu investieren, z. B. bestimmte gegenwärtige Befriedigungen zu opfern, in der Erwartung, daß jemand (er selbst, seine Kinder, die Menschheit etc.) dadurch in den Stand versetzt wird, größere Befriedigungen zu einem späteren Zeitpunkt zu genießen. Diese verschiedenen Zeithorizont-Einstellungen kommen in entsprechenden Verhaltensweisen zum Ausdruck, im Umgang mit finanziellen Ressourcen, mit Gesundheit, mit Ernährung, mit Schulbildung. Banfields Buch ist zwar einige Jahrzehnte alt, und die empirischen Ergebnisse mögen in einer gewandelten Welt nicht mehr durchgehend überzeugend wirken. Doch bleibt seine Untersuchung durch ihre ganz besondere Konzentration auf das Moment des Zeithorizonts weiterhin wegweisend und anregend; es wäre zu wünschen, daß neuere Forschung diesen Spuren folgen würde. Seine These, daß die Lebensstil-Differenzen zwischen den sozialen Klassen erklärt werden können durch kulturelle Differenzen des Zeithorizonts (und nicht primär durch niedriges Einkommen), dürfte nach wie vor Provokationswert besitzen. Doch gibt sie genau betrachtet der Politik nur eine andere Richtung für ihre Aktivitäten an, ausgehend von der Einsicht, daß die bisherige Hauptrichtung, die im simplen Leiten von Geldströmen besteht, unzureichend ist, solange nicht eine das Individuum stärkende Habitus-Politik ergänzend hinzutritt. Banfield betont ausdrücklich, daß er den jeweiligen Zeithorizont als ein soziales, nicht als ein biologisches Produkt betrachtet. 388 Wenn man an den bestehenden Differenzen in der Zeithorizont-Kultur etwas ändern will, kann dies nur durch eine entsprechende Erziehung geschehen. Jede pädagogische Einwirkung, darauf hat Friedrich Schleiermacher hingewiesen, stellt sich dar als Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen künftigen. 389 Erziehung ist also als solche bereits eine Zeithorizonterweiterung, sie kann aber 167 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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auch im besonderen auf diesen Zweck ausgerichtet werden. Für eine Zeithorizont-Erziehung sind konkrete, eingängige Muster erforderlich. Das wichtigste dürfte nach wie vor die Vorstellung vom Lebenslauf eines Menschen darstellen, die z. B. in spielerischer Identifizierung mit verschiedenen Lebensaltern oder Lebensphasen eingeübt werden kann. Hier ist besonders die Pädagogik gefordert, die mit Aufgaben zur Antizipation und zum Perspektivenwechsel entsprechende Bildungsprozesse in Gang zu setzen vermag. 390 Grundlegend ist dabei die Entwicklung eines Lebensplan-Konzepts: »Jede frühzeitige Initiative in diese Richtung erweist sich als eine Investition in die Zukunft, d. h. in die Lebensqualität bis ins hohe Alter. Dies setzt ein Lebensplan-Konzept voraus, bei dem von früher Jugend an neben körperlichen auch finanzielle, soziale, geistige und kulturelle Interessen geweckt und kontinuierlich vertieft werden. Sonst droht die Gefahr, im hohen Alter in eine geistige Leere zu stürzen – eine Hauptursache für die hohen Suizidraten im Alter.« 391 Neben dem zentralen Muster des menschlichen Lebenslaufs könnte die Zeithorizont-Erziehung auch konkrete, anschauliche Persönlichkeitsentwürfe nutzen, etwa solche literarischer Art. Eine Figur des antiken Mythos wie Odysseus war oben (III.2) herangezogen worden, um Verständnis zu wecken für den engen Zusammenhang zwischen Selbstbeherrschung und Zeithorizont. Die von Schopenhauer angesprochene Differenz in der Praxis menschlicher Zeithorizonte spielt hier eine große Rolle. Der homerische Odysseus ist seinen Gefährten bekanntermaßen überlegen durch seinen vielgerühmten Einfallsreichtum für Listen, doch vor allem hat er ihnen einen erheblich erweiterten Zeithorizont voraus. An literarischen Gestalten wie Odysseus kann man sich den Umgang mit Zeithorizonten gewissermaßen abschauen – ähnlich wie auch die Beschäftigung mit Bäumen dazu anregt, den menschlichen Zeithorizont zu erweitern. Bäume, so hieß es oben (vgl. II.2), seien so etwas wie Lehrmeister für eine nicht mehr selbstbezogene, sondern selbstlose Einstellung zur Zukunft der Nachgeborenen. 168 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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Nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Kulturen des Altertums sind ausdrückliche Anstrengungen im Sinne einer Zeithorizonterziehung erkennbar. Für das Alte Testament ist etwa der von dem Theologen Klaus Koch geprägte Begriff des »TunErgehen-Zusammenhangs« zu nennen.392 In einfachen, eingängigen Worten weist das »Buch der Sprichwörter« darauf hin, daß ein bestimmtes Fehl- oder Wohlverhalten zu späterer Zeit ein entsprechendes Ergehen bewirkt. Wenn dabei das Nacheinander besonders betont werden soll, bietet sich die Metaphorik von »Saat und Ernte« bzw. »Samen und Frucht« an. Daneben ist auch das Bild des Weges beliebt, in dem die zeitliche Dimension sozusagen räumlich anschaulich wird. Das Sprüchebuch des Alten Testaments führt beispielsweise vor, wohin kurzsichtige Faulheit oder vorausschauender Fleiß führen werden: »Wer im Sommer sammelt, ist ein kluger Mensch; in Schande gerät, wer zur Erntezeit schläft« (Sprüche 10, 5). »Der Faule pflügt nicht im Herbst; sucht er in der Erntezeit, so ist nichts da« (Sprüche 20, 4). Eingeschärft wird, welche positiven oder negativen Folgen eine bestimmte Einstellung haben wird: »Hochmut kommt vor dem Fall« (Sprüche 16, 18b). »Demut geht der Ehre voran« (Sprüche 15, 33b). »Kommt Übermut, kommt auch Schande« (Sprüche 11, 2a). Die Sprüche zeigen, wie trügerisch ein kleiner Zeithorizont sein kann, wie der Vorteil in der Gegenwart sich langfristig in einen Nachteil verwandelt: »Unrecht Gut gedeiht nicht« (Sprüche 10, 2a). »Vergilt einer Gutes mit Bösem, weicht das Unheil nicht von seinem Haus« (Sprüche 17, 13). »Ein Besitz, schnell errafft am Anfang, ist nicht gesegnet an seinem Ende« (Sprüche 20, 21). »Süß schmeckt dem Menschen das Brot der Lüge, hernach aber füllt sich sein Mund mit Kieseln« (Sprüche 20, 17). »Erhitz dich nicht wegen der Übeltäter, ereifere dich nicht wegen der Frevler! Denn für den Bösen gibt es keine Zukunft, die Lampe der Frevler erlischt« (Sprüche 24, 19 f.). Der Theologe Johann Hinrich Claussen hat diesen »Tun-Ergehen-Zusammenhang« in alttestamentarischen Sprüchen so gedeutet, daß das Erziehungsziel Zeithorizonterweiterung unmit169 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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telbar deutlich wird: »Dieses Konzept bannt zufällige Ereignisse in ein eindeutiges, ethisch bestimmtes Ursache-Folge-Verhältnis: Böse Taten zeitigen böse Folgen, gute Taten zeitigen gute Folgen. Nur das rechte Tun führt zum dauerhaften und wahren, wenn auch zuweilen verspäteten Glück. Die Sprichwörter üben darum im Gestus des ›Du wirst schon sehen‹ eine langfristige Sicht der Dinge ein. Glück und Unglück manifestieren sich nicht im spontanen Erleben, sondern in den Folgen. Der Tor lebt ganz im Augenblick. Erst die Weisheit zeigt, dass das Leben ein langer Weg ist. Der Weise lebt deshalb sein Leben nicht nur. Er führt es auch, indem er es auf ein gutes Ziel ausrichtet. Er genießt die Gegenwart nicht einfach, sondern sieht in ihr den entscheidenden Schritt in eine gute oder schlechte Zukunft.« 393 In diesem Sinne weise sind auch weitere Gestalten der Bibel wie etwa Joseph, der dem Pharao die Vorratsbildung in den guten Jahren nahelegt, oder die klugen Jungfrauen, die mit Blick auf die Ankunft des Bräutigams zu ihren Lampen auch das nötige Öl mitführen. 394 Beide eben behandelten Beispiele aus dem Altertum, die Figur des Odysseus und die alttestamentarischen Sprüche, sind natürlich nicht einfach in eine aktuelle Erziehung übertragbar. Sie zeigen aber einerseits den Einfallsreichtum lange zurückliegender Kulturen in dieser Hinsicht, und andererseits belegen sie, wie wichtig das Thema offenbar genommen worden ist. Beides sollte entsprechende Bemühungen in der Gegenwart anregen. Ein zentrales Thema von Zeithorizonterziehung, schon im Altertum und auch noch in unserer Zeit, ist der Umgang mit materiellen Ressourcen im weitesten Sinne. In der Wirtschaftswissenschaft ist es im 20. Jahrhundert üblich geworden, den für unser Thema relevanten Ausschnitt aus der Zeithorizont-Thematik unter dem Titel der »Zeitpräferenz« zu behandeln. Die fachinterne Diskussion ist inzwischen nur noch schwer zu überschauen.395 Vereinfacht gesagt geht es um folgendes: Individuen, Gruppen und ganze Kulturen bilden bewußt und unbewußt Stile des Umgangs mit Gütern in bezug auf die Zeit aus. Wenn der Akteur dazu neigt, ein Gut sofort zu verbrauchen, spricht man von einer 170 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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hohen Zeitpräferenz. Je weiter der Verbrauch aufgeschoben wird, desto geringer ist die Zeitpräferenz. Entsprechend sind Sparsamkeit und Altersvorsorge mit diesem Habitus verbunden, während Genußsucht und Verschwendung Ausdruck hoher Zeitpräferenz sind. Hierher gehört auch das medial verbreitete Bild des Lottogewinners, der sich schon nach relativ kurzer Zeit wieder in den alten finanziellen Verhältnissen wiederfindet. Eine hohe Zeitpräferenz scheint ein angeborener, ›natürlicher‹ Impuls des Menschen zu sein, der aus wirtschaftlicher Sicht nicht unproblematisch ist: »Diese Gegenwarts-Präferenz spiegelt sich in der Wirtschaft in Zinssätzen oder den Sätzen, mit denen man künftigen Nutzen diskontiert. Die Konzentration aufs Heute kann dominant sein. Wenn Menschen in Experiment-Situationen vor der Wahl stehen, sofort 50 Fr. bar auf die Hand oder in einem Jahr 100 Fr. zu bekommen, entscheiden sich viele für die sofortige Auszahlung. Ähnliches zeigt sich in der Realität: Beim Personalabbau in der amerikanischen Armee standen Abgänger vor der Wahl zwischen einer Einmalzahlung und einer langfristigen Rente. Die meisten wählten die Einmalzahlung, obwohl ihnen die Rente langfristig viel mehr gebracht hätte.« 396 Wie bringt man Kinder und Erwachsene dazu, langfristig zu denken? In diese Richtung wird durchaus vieles unternommen. Ohne daß es im gesellschaftlichen Bewußtsein ausreichend deutlich verankert wäre, spielt Zeitpräferenz-Erziehung nämlich schon in der Gegenwart eine sehr wichtige Rolle. Beispielsweise wird Kindern, die von sich aus wenig Neigung mitbringen, den Einsatz ihrer Mittel aufzuschieben, seit mittlerweile 85 Jahren durch die Institution des »Weltspartags« eine elementare Tätigkeit wie das Sparen nahegebracht. Freilich würde man Zeithorizonterziehung unterschätzen, wenn man sie als eine Sache betrachtete, die mit der Kindheit abgeschlossen wäre. Letzten Endes handelt es sich auch um Erziehung, wenn große Unternehmen inzwischen dazu übergehen, ihren Vorständen einen »Langzeitbonus« zu zahlen. In diesen beiden exemplarischen Fällen geht es darum, durch besondere Belohnungstechniken Selbst171 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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beherrschung einzuüben und einen entsprechenden Habitus entstehen zu lassen. Personale Emanzipation ist auch hier der Schlüssel zu größeren Zeithorizonten. Wenn die vielgeschmähte »Gier« effektiv reduziert werden soll, ist dies nur über die Selbstdisziplinierung der Individuen möglich (vgl. III.2). Eugen Böhm-Bawerk, der Klassiker der Zeitpräferenz-Theorie aus dem 19. Jahrhundert, hat bereits in diesem Sinne deutlich gemacht, daß die Berücksichtigung von zukünftigen Freuden wie Leiden nicht selbstverständlich ist und bei Individuen Charakterfestigkeit, bei Kollektiven einen bestimmten Zivilisationsgrad voraussetzt. 397 Im Fazit zeigt sich: Zeithorizont-Erziehung wird zwar durchaus bereits betrieben, aber nicht mit der nötigen Bewußtheit, sondern eher punktuell und unzusammenhängend, ohne ein übergeordnetes kulturelles Konzept und ohne langfristige Intention. Dabei wächst andererseits an vielen Stellen deutlich die Einsicht, daß langfristige Orientierung not tut. Der Wandel muß aber zugleich umfassend sein und viele kleine Schritte in Gang setzen. Ein erster praktischer Schritt dieser Art wäre, eine Erziehung zu initiieren, die möglichst jedem zu einem Lebenslaufbewußtsein verhilft, ganz in dem Sinne, wie es Nicolai Hartmann formuliert hat: »Es ist schon viel, wenn der Mensch sich zu einer Perspektive aufschwingt, die wenigstens sein eigenes Leben überschaut.«398 Nun haben Soziologen in den letzten Jahren diagnostiziert, daß die »vorgegebenen Normalbiographien« und »standardisierten Lebenslaufprogramme« erodiert seien und langfristige Gestaltungen des eigenen Lebens infolge der außerordentlich gesteigerten »sozialen Dynamisierung« erschwert oder sogar verunmöglicht würden, mit dem Ergebnis: »Die Wahrnehmung eines ungesteuerten und unsteuerbaren ›Dahintreibens‹ in einem Meer an Optionen und Kontingenzen erscheint damit als eine nahezu unvermeidliche Folge der wachsenden Unmöglichkeit, das eigene Leben langfristig zu planen und verbindliche Zukunftsperspektiven zu entwickeln.« 399 Hartmut Rosa, von dem diese vorsichtig formulierte Zusammenfassung stammt, gehört nicht zu denjenigen Soziologen, die den unbestreitbaren Befund – 172 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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die empirisch gut belegte Tendenz, daß Menschen zunehmend darauf verzichten, einen langfristigen Lebens-Plan zu entwerfen – als Übergang zu einem »situativen Selbst« einfach verharmlosen oder gar begeistert begrüßen. Das »situative Selbst« verzichtet nämlich darauf, sich langfristig bindende, kontextübergreifende Lebensziele zu setzen, und damit verliert Rosa zufolge das Leben als Ganzes, im biographischen Vollzug, seine Richtung.400 Die von ihm konstatierte, »im Charakter der situativen Identität angelegte Unfähigkeit (oder Unwilligkeit), zeitstabile Relevanzen zu setzen und entsprechende Handlungsprioritäten im Sinne einer ›Aufgabe‹ zu entwickeln« 401, ist nichts anderes als Zeithorizonterweiterungsverweigerung. Wenn Rosa hier von »Aufgabe« statt von »Plan« spricht, kommt er dem näher, was tatsächlich möglich ist. Eine Planungssicherheit für das ganze Leben kann es natürlich nicht geben, aber konkrete Programme lassen sich auch unter den Bedingungen einer dynamischeren Gesellschaft verfolgen. Anders gesagt: Auch provisorische »Bastelbiographien« können von einem Lebenslaufbewußtsein im Sinne Nicolai Hartmanns begleitet sein. Die Tendenz zu einer Verkümmerung der Zeithorizontkultur muß also keineswegs als schicksalhaft und geschichtsphilosophisch ausweglos akzeptiert werden. Richard Sennett, der mit seiner Studie über den »flexiblen Menschen« ähnliche Entwicklungen analysiert wie Hartmut Rosa, verzichtet weitgehend auf abstrakte Formeln und macht statt dessen lieber deutlich, welche konkreten Probleme den Alltag belasten. Dazu gehört z. B. das Leiden desjenigen, der im familiären Bereich an größeren Zeithorizonten interessiert ist, während er vor allem im beruflichen Bereich mit immer kleineren Zeithorizonten konfrontiert wird: »Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben?« 402 Noch anders stellen sich die Probleme dar bei denjenigen, die – von der Soziologie wenig beachtet – keine langfristigen Ziele mehr verfolgen, die also das von Rosa angesprochene »Dahintreiben« praktizieren. Gerade ihnen gegenüber gilt eine Verpflich173 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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tung zu gesellschaftlicher Zeithorizonterziehung, die nicht auf einer Resignation angesichts der Realität aufbauen kann. Eine Gesellschaft, die dem Thema Zeithorizont die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet, bildet ein kulturelles Klima aus, das auch diejenigen stützt, die morgens noch keine Vorstellung davon haben, was sie nachmittags machen wollen. Selbstbestimmung fängt beim Zeithorizont an. Besteht dann aber nicht die Gefahr, daß die gelebte Gegenwart im Ganzen des Lebenslaufs gewissermaßen untergeht? Friedrich Schleiermacher, der Erziehung als Aufopferung eines gegenwärtigen Momentes für einen zukünftigen bestimmt hat, wirft die Frage auf, ob Menschen überhaupt dazu berechtigt seien, einen Lebensaugenblick als bloßes Mittel für einen anderen zu behandeln. Dieses Problem wurde oben bereits unter anderem Titel grundsätzlich untersucht (vgl. VI.). Die von Schleiermacher gesuchte Harmonie war dort unabhängig vom Erziehungsthema mehr pragmatisch in einem Rhythmus von Zeithorizontausbildung und Gegenwartsorientierung gefunden worden. Nun kann unter der Perspektive des paradigmatischen Zeithorizontes Lebenslauf, die sich für Erziehungsprojekte besonders anbietet, noch ein weiterer Lösungsweg vorgeschlagen werden. Zugleich schließt sich damit der Kreis der Überlegungen. Zu Anfang war nämlich darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Lebenslauf-Thema in antiken Texten eine auffällige Rolle spielt (vgl. I.): Solon versucht Kroisos beizubringen, daß der Mensch ein Lebenslaufwesen ist, das nicht nur den gegenwärtigen Zustand, sondern auch das noch Ausstehende zu berücksichtigen habe. Aristoteles greift Solons Gedanken auf, erinnert in diesem Zusammenhang an das bezeichnende Schicksal des trojanischen Königs Priamos und zählt daher eine gewisse lebenslange Beständigkeit zu den Bedingungen von »eudaimonia« 403; dieser Begriff darf nicht unter dem Einfluß der irreführenden Übersetzung »Glückseligkeit« hedonistisch mißverstanden werden, sondern bezeichnet vielmehr so etwas wie den Erfolg, das Los eines wohl gelingenden Lebens zu haben. 404 Der antike Fokus ist also viel weiter, er betrachtet das Leben als 174 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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ganzes. Immer wenn man antike und moderne Glücksvorstellungen miteinander vergleicht, sticht ins Auge, daß Glück heutzutage vor allem als Momentglück verstanden wird, während wichtige griechische Texte den Akzent auf Lebensglück legen. 405 Wir betonen stärker das einzelne Erfolgserlebnis – das erfüllte Leben im Ganzen thematisieren wir dagegen nur aus dem Rückblick in Todesanzeigen, anstatt es bereits in seinem Verlauf anzustreben, wie Aristoteles empfiehlt. Beide Ansätze, der momentanistische wie der totalistische, haben ihre Einseitigkeiten. Im einen Fall wird der Gesamtkontext des Lebens ausgeblendet, im anderen Fall wird das Gegenwartserlebnis relativiert und entwertet. Es kommt daher darauf an, beide Perspektiven zu integrieren, sowohl dem Teil als auch dem Ganzen sein Recht zukommen zu lassen. In einer kulturphilosophischen Abhandlung hat der Neukantianer Jonas Cohn das Problem anschaulich dargestellt. Weder eine nackte, nur aus vorweggenommenen Erfolgen sich nährende Zeithorizonterweiterung noch ein ganz auf den Augenblick konzentriertes, hedonistisch verstandenes »carpe diem« allein führen zu einem erfüllten Leben: »Alle Zwecktätigkeit ist gerichtet auf die Zukunft und entleert die Gegenwart. […] Nur eine andere Art der Zersetzung ist, wenn jeder Augenblick als Augenblick ausgekostet werden soll. Einheitlos gleitet das leere Dasein des Vergnügungsreisenden dahin.« 406 Wenn man sich daneben vergegenwärtigt, wie auch Kinder von Eindruck zu Eindruck gleiten 407, wird deutlich, daß der Zusammenhang, der Überblick über Vergangenheit und Zukunft des eigenen Lebens, nichts einfach Gegebenes ist, sondern das Resultat von personaler Emanzipation und Zeithorizontbildung. Cohn schlägt für die gewünschte Integration den Begriff der »Gestalt« vor, unter besonderer Betonung der Eigentätigkeit des Menschen. »Lebensgestaltung« müsse zugleich die Augenblicke durch einen gleichbleibenden Hintergrund verbinden und ihnen in dieser Verbindung Eigenrecht und Gestalt geben: »Sobald der Wille da ist, jeden Teil des Lebens nicht dem bloßen Nutzen, dem leeren Phantom der Zukunft zu opfern, ihn auch nicht als folgenlosen Augenblick genießend zu vergeuden, 175 https://doi.org/10.5771/9783495860694 .

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sondern einem Lebensganzen einzufügen, wird auch irgendeine Lebensgestaltung möglich werden.« 408 Lebensgestaltung besteht also darin, eine Lebenslauf-Perspektive für die Orientierung in der jeweiligen Gegenwart zu nutzen. Dann besteht in der damit verbundenen Zeithorizonterweiterung keine Überforderung, und man müßte auch nicht erst das Ende des Lebenslaufes abwarten, um in der Todesstunde das Ganze zu überschauen und von dort aus die Beziehung der Teile festzustellen. 409 Der einzelne Moment gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, vorausgreifenden Lebenslaufkonzepts 410 und nicht erst im Rückblick vom Sterbebett aus.

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Anmerkungen

1 Botho Strauß, Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war. Gedicht, München 1992, S. 9. 2 Erster Gesang, Verse 68–70. Nach: Homer, Ilias, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M./Leipzig 1975, S. 9. 3 Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Bayreuth 1981 (6. Aufl.), S. 160. 4 Diese Einstellung kann sogar in verwandelter Form mit bedenklichen Folgen wiederkehren. Vgl. die klugen Bemerkungen zum »Saturn-Komplex« der Moderne in: Dieter Thomä, Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008, S. 60–74. 5 Hesiod schildert diese geistige Überlegenheit vor allem als Weitblick. Vgl. Hesiod, Theogonie 514, 534, 551 f., 884, 896. 6 Plutarch, Alte Gebräuche der Spartaner (Lykurgos 21), in: ders., Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften, übers. v. Bruno Snell, Zürich 1972, S. 231–237, hier 233. 7 Vgl. Fritz Hellmann, Herodots Kroisos-Logos, Berlin 1934 (= Neue Philologische Untersuchungen, hg. v. Werner Jaeger, Neuntes Heft), S. 100–102. 8 Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1990 (3., durchges. Aufl.), S. 298. 9 Dies soll im Folgenden ausdrücklich geschehen (vgl. VI. und VII.). 10 Solon, fr. 13 West, 25–32; Übersetzung Joachim Latacz. Hier nach: Joachim Latacz (Hg.), Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Band 1: Archaische Periode, Stuttgart 1998 (2., durchges. u. verb. Aufl.), S. 191. 11 Exodus 20, 5. 12 Zit. n. Christoph Hein, Senior Hippie. Vor mehr als vierzig Jahren brachen sie aus Deutschland nach Goa auf. Inzwischen sind aus den Blumenkindern Rentner geworden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. Dezember 2010, S. 42. 13 Semonides, fr. 1 (West). Hier nach: Joachim Latacz (Hg.), Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Band 1: Archaische Periode, Stuttgart 1998 (2., durchges. u. verb. Aufl.), S. 275. 14 Vgl. z. B. Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Briefe des Herrn Maupertuis wegen ihrer Fürtrefflichkeit aus dem Französischen übersetzet, Hamburg 1753, S. 4 (2. Brief): »Unsere Seele, dieses Wesen, dessen vornehmste Eigenschaft ist, daß sie sich ihrer selbst, und der Dinge, die ihrer gegenwärtig sind,

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Anmerkungen

bewust ist, hat noch zwey andere Kräfte, nämlich die Erinnerung und Vorhersehung. Es scheinet, daß die Seele des Menschen durch diese beyden Kräfte sich am meisten von den Seelen der Thiere unterscheide.« – Vgl. ähnlich Wilhelm Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895), hg. v. Helmut Johach und Frithjof Rodi, Göttingen 1982 (= Gesammelte Schriften XIX. Band), S. 356 f. 15 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988 (2. durchges. Aufl.), S. 243–334, hier 248. 16 Hier ist er von Schopenhauer beeinflußt, der die durch Zeithorizonterweiterung bedingte vertiefte Leidensfähigkeit des Menschen betont. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Bd. I, Zürich 1988, S. 72, 133, 390 (das »allein in der Gegenwart und daher in beneidenswerter Sorglosigkeit lebende Tier« sei völlig frei von den quälenden Gedanken des Menschen); Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Bd. II, Zürich 1988, S. 72, 166. 17 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (13. Buch), in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 26, Stuttgart und Tübingen 1829, S. 212. 18 Kant scheint dieselbe Anekdote wie Goethe vor Augen zu haben und interpretiert sie in unserem Sinne mit dem Akzent auf Zeithorizonterweiterung. Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Oswald Külpe, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe Bd. VII, Berlin 1968, S. 117–334, hier 233. 19 Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), in: Kants Werke. Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin 1912, S. 107–123, hier 113. 20 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 185 ff. 21 Die auf die Zukunft verweisenden prospektiven Anteile der eigenen Persönlichkeit haben dagegen wieder den Charakter reichhaltiger, nicht vollständig explizierter Situationen. Vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 95 ff. 22 Weniger beachtet hat kurz vor Gehlen auch der Soziologe Werner Sombart diesen Gedanken formuliert; allerdings ist Gehlens Konzept insgesamt für das Thema »Zeithorizont« ergiebiger, wie noch zu zeigen sein wird. Vgl. Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geistwissenschaftlichen Anthropologie, Berlin 1938, S. 16: »Die Tiere sind durch den Mangel der Begriffe auf die ihnen in der Zeit unmittelbar gegenwärtigen anschaulichen Vor-

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Anmerkungen

stellungen, das ist die realen Objekte, beschränkt: das Leben der Tiere ist eine fortgesetzte Gegenwart. Das Tier lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf. Wir hingegen, vermöge der Erkenntnis in abstracto, umfassen, neben der engeren, wirklichen Gegenwart, noch die ganze Vergangenheit und Zukunft: wir übersehen das Leben frei nach allen Seiten, weit hinaus über die Gegenwart und Wirklichkeit; wir leben fast ausschließlich in Vergangenheit und Zukunft, fast gar nicht in der Gegenwart.« Die Kritik, die Sombart hier am Ende artikuliert, wird später ausführlicher analysiert (vgl. VI.). 23 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Textkritische Edition), Teilband 1, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 1993 (= Gesamtausgabe Bd. 3.1), S. 30. 24 Vgl. Gy. (= Beat Gygi), Kurzfristigkeit als Kurzsichtigkeit, in: Neue Zürcher Zeitung v. 24./25. Dezember 2005; rike. (= Henrike Roßbach), In Generationen denken statt in Quartalsberichten. Familienunternehmer führen ihre Betriebe oft anders als Konzernmanager, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. Juli 2007; Wolfgang Kaden, Neue Banker braucht die Welt, Spiegel Online 1. April 2008. 25 Vgl. Karl Löwith über Nietzsche: »Die wahre Zeit für Nietzsches philosophische Absicht ist also nicht seine eigene, durch Wagner und Bismarck beherrschte, sondern was Nietzsche als erprobter Entdecker der ›Modernität‹ und Verkünder einer ältesten Lehre sah, das ist gesehen auf längste Sicht« (Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1969, S. 208; hier zit. n. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, S. 279 f.). 26 So kann man beispielsweise das Buch des Geologen Charles Lyell »Geological Evidences of the Antiquity of Man« (1863) als einen entscheidenden Durchbruch feiern, weil es Datierungen in die Vergangenheit hinein vornimmt, die weit vor allem liegen, was bis dahin aus dem Alten Testament abgeleitet wurde. Vgl. Hansjürgen Müller-Beck, Die Steinzeit, München 2008 (4., durchges. Aufl.), S. 27. 27 Duden – Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2007 (6., überarb. Aufl.), S. 1966. 28 Vgl. zum Folgenden: Viktor E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 1994 (6. Aufl.), S. 113 ff. 29 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, Frankfurt a. M. 1979, S. 139. 30 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993 (3. Aufl.), S. 88. Vgl. auch die eindrucksvolle Analyse der Kombination von monotoner Arbeitszeit und plötzlicher Gewalt S. 93. Sofskys Resümee lautet: »Terror zerstört den Fluß der Zeit. Er hinterläßt Ohnmacht, Ungewißheit, quälende Angst vor dem nächsten Überfall. So

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war die Zeit der Arbeit zugleich endlos und punktuell, kontinuierlich und disruptiv, ein zielloser Zustand, durchbrochen von Momenten äußerster Gefahr.« Zu der von Frankl beschriebenen Entwertung der Zukunft vgl. S. 103 ff., zum Verhältnis zur Vergangenheit S. 107 ff. 31 Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi. Nach der Übersetzung von Johann Michael Sailer hg. v. Walter Kröber, Stuttgart 2005, S. 153, vgl. 110: »Was der Zeit unterworfen ist, das brauche; was ewig ist, danach strebe. Es kann dich doch kein zeitliches Gut sättigen; du bist ja nicht geschaffen, das Zeitliche zu genießen.« 140 f.: »Dieser Geschmack an dem Schöpfer, an der Ewigkeit und an dem unerschaffenen Lichte, wie ist er doch so durchaus verschieden von dem Geschmack an den Geschöpfen, an der Zeit und an dem erschaffenen Lichte.« 32 Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985 (3. Aufl.), S. 102. 33 Vgl. Wendorff, Zeit und Kultur, S. 212 f. 34 Thomas Hobbes, Leviathan, 13. Kap., hg. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1984, S. 96. 35 Vgl. dazu im Detail die anthropologischen Ausführungen über »Modalzeit und Lagezeit« in Abschnitt V. 36 Vgl. Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München/Wien 2003, S. 194–207. 37 Francesco Petrarca, Brief an die Nachwelt, in: ders., Dichtungen Briefe Schriften, hg. v. Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt a. M./Leipzig 1980, S. 27–38, hier 27. 38 Man sollte hier nicht von einer »Selbstmythisierung« Petrarcas sprechen, wie Stierle dies mit Blick auf das Epos »Africa« tut, in dem Petrarca eine Art »translatio poiesis« von Homer über Ennius zu Petrarca selbst und über ihn hinaus entwirft (vgl. Stierle, Francesco Petrarca, S. 381–386). Petrarca entrückt sich hier nicht in mythische Ferne, und er stilisiert sich auch keineswegs als das Ende einer Entwicklung, sondern versteht sich in historischer Selbstobjektivierung als eine Station unter anderen vor und nach ihm; seinen Zeithorizont dehnt er über das eigene Lebensende hinaus, indem er für die Zeit nach ihm ein neues goldenes Zeitalter der Dichtung prophezeit. Er ist sich darüber klar: Die Nachwelt wird auch ihn selbst in einem Licht sehen, das ihm nicht zugänglich ist. Er hofft nur mit einem gewissen Selbstbewußtsein, daß er in diesem Wettbewerb über die Zeitalter hinweg bestehen kann und nicht vergessen wird. Gerade Stierles große Studie kann man als eine Bestätigung seiner Selbsteinschätzungen nehmen. 39 Vgl. Theodor Schieder, Ohne Geschichte sein? Geschichtsinteresse, Geschichtsbewußtsein heute, Köln 1973, S. 20 f. 40 Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik, hg. v. Erich Rothacker, Halle/Saale 1925, S. 54; vgl. ders., Texte zur Geschichtstheorie, hg. v. Günter Birtsch und Jörn Rüsen, Göttingen 1972, S. 15.

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Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. v. Georg Misch, Leipzig/Berlin 1924, S. 317, vgl. 338 sowie ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1927, 215 f. 42 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München/Zürich 1985 (24. Aufl.), S. 75. 43 Vgl. Gustav Seibt, My Own Private Tradition, in: ders., Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein, Springe 2005, S. 192–203, hier 202 f. 44 Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ders, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375, hier 353. 45 Cicero, Tusculanae disputationes I, 31; hier nach: Cicero, Tusculanae disputationes / Gespräche in Tusculum, übers. u. hg. v. Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart 1997, S. 65. 46 Konstantin Richter. Bettermann. Roman, o. O. (Frankfurt a. M.) 2009, S. 133. 47 Thomas Hobbes, Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Vom Menschen und vom Bürger, hg. v. Max Frischeisen-Köhler, Leipzig 1918, S. 20 (10. Kap., 3). Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, 12. Kap., hg. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1984, S. 82 f. 48 Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 441. 49 Sigmund Freud, Der Humor (1927), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt a. M. 1999, S. 383. Vgl. auch ders., Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1999, Bd. VI, Kap. VII, Abschnitt 7, S. 261. 50 John Maynard Keynes, Ein Traktat über Währungsreform (1924), übers. v. Ernst Kocherthaler, Berlin 1997 (2. Aufl.), S. 83. 51 Vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 311. 52 Bezeichnend für dieses Endzeitdenken, das weitere Zeithorizontbildung abschneidet, ist auch folgende Äußerung Hitlers gegenüber seinem Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below zu Beginn des Jahres 1945: »Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen« (hier zitiert nach: Joachim Fest, Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Eine historische Skizze, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 7). 53 Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949 (2. Aufl.), S. 556 (bei Seneca nicht verifiziert). 54 Es liegt natürlich nahe, hier auf das Fehlen entsprechender kultureller Kontexte (Vorstellungen über das Fortleben der Toten o. ä.) zu verweisen. Das allgemeine Desinteresse gegenüber den Toten (vgl. auch IV.1) kommt aber z. B. auf den Friedhöfen auch in der zunehmenden Bedeutung anonymer Streufelder zum Ausdruck. 41

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Vgl. dazu: Hans Jonas, Werkzeug, Bild und Grab, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 34–49, hier 45 f. 56 Vgl. aus der neueren Forschung: Maurizio Bettini, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, übers. v. D. Zittel, Frankfurt/New York 1992, S. 135– 152; Karl-Joachim Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der Nobilität, in: Hans-Joachim Gehrke/Astrid Möller (Hg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, S. 301–338; Götz Lahusen, Zur Funktion und Rezeption des römischen Ahnenbildes, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, 92 (1985), S. 261–289; Heinrich Drerup, Totenmaske und Ahnenbild bei den Römern, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, 87 (1980), S. 81–129. Vgl. aus der älteren Forschung: Erich Bethe, Ahnenbild und Familiengeschichte bei Römern und Griechen, München 1935; Heinrich Roloff, Maiores bei Cicero, Diss. Göttingen 1938. 57 Seneca, De beneficiis, 3, 28, 2, hier zit. n. Bettini, Familie und Verwandtschaft, S. 138. 58 Plinius, Naturalis historia, 35, 6, hier zit. n. Bettini, Familie und Verwandtschaft, S. 137. 59 Polybios, 6, 53, hier zit. n. Bettini, Familie und Verwandtschaft, S. 144 f. 60 »Man kann die epische Größe des römischen Leichenzuges gar nicht genug unterstreichen. Wer stirbt, wechselt nicht nur metaphorisch zu den maiores: Die Ahnen sind tatsächlich da, um ihm Geleit zu geben. Man stirbt in der Gegenwart der eigenen Vergangenheit, ihrer stolzen Größe« (Bettini, Familie und Verwandtschaft, S. 145). 61 Vgl. Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 320. 62 Platon, Symposion 207 c-d, 208 a-b; hier nach: Platon, Das Gastmahl, übers. v. Otto Apelt, neubearb. v. Annemarie Capelle, Hamburg 1981, S. 99, 101. 63 »Die natürlichste Funktion ist für das Lebewesen, soweit sie vollkommen und nicht Verstümmelungen sind oder von selbst entstehen, ein anderes hervorzubringen wie sie selbst, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, um nach Vermögen am Ewigen und Göttlichen teilzuhaben. Denn danach strebt alles und um dessentwillen handelt alles, was der Natur gemäß handelt. […] Da es (das Leben) nun nicht imstande ist, am Ewigen und Göttlichen in stetiger Dauer teilzuhaben, weil kein Vergängliches als dasselbe und als der Zahl nach eines fortbestehen kann, so nimmt ein jedes auf die Weise daran teil, wie es ihm möglich ist, das eine mehr, das andere weniger. Und nicht es selbst dauert fort, sondern ein Wesen, wie es selbst, eins mit ihm zwar nicht der Zahl, aber der Art nach.« Aristoteles, De anima 415 a 26 – b 7 (Übersetzung: Klaus Oehler); vgl. Aristoteles, De gen. anim. B 1. 731 b 24 – 732 a 1 sowie 55

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allgemein: Klaus Oehler, Ein Mensch zeugt einen Menschen. Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung, Frankfurt a. M. 1963. 64 Vgl. Platon, Symposion 208 c-e. 65 Vgl. aus römischer Zeit: Cicero, Cato maior de senectute/Cato der Ältere über das Alter 82 und Cicero, Tusculanae disputationes/Gespräche in Tusculum I, 109 f. 66 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1996 (8. Aufl.), S. 32, vgl. 69, 71 sowie 401: »Angesichts der möglichen Unsterblichkeit des Einzellebens konnte dem Trachten nach weltlicher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr zukommen, und das, was die Welt an Ruhm und Ehre zu verleihen vermag, wird eitel, wenn die Welt vergänglicher ist als man selbst.« Vgl. auch Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Band II: Das Wollen, München/Zürich 1979, S. 64. – Max Scheler zählt den Ruhm zu den »Sozialpersonwerten«, die über die Existenz ihres Trägers als eines lebendigen Organismus hinaus fortdauern. Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern/München 1980 (6., durchges. Aufl.), S. 555. 67 Daß unsere Zeit vermutlich so viel speichert wie keine zuvor, hängt nicht mit einem Streben nach Unsterblichkeit zusammen. 68 Arendt, Vita activa, S. 29. 69 Arendt, Vita activa, S. 70. 70 Wie das Beispiel Herostrat zeigt, kann diese Möglichkeit auch pervertiert werden. 71 Vgl. Pindar, Sechste Pyth. I–II; Fünfte Nem. Ia; Siebente Nem. Ib–c, in: Pindar, Siegeslieder, übers. v. Uvo Hölscher, hg. v. Thomas Poiss, München 2002, S. 38 ff., 68 ff., 74 ff. 72 Horaz, carm. 3, 30; hier nach: Horaz, Oden und Epoden. Lateinisch/ deutsch, übers. u. hg. v. Bernhard Kytzler, Stuttgart 2000 (7. Aufl.), S. 183. 73 Cicero, Cato maior de senectute / Cato der Ältere über das Alter, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2005, 24 f. (S. 43). Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes / Gespräche in Tusculum I, 31. 74 Über die in unserer Kultur erstaunlich wenig verbreiteten und auch in der ökologischen Debatte nicht ausreichend berücksichtigten Zusammenhänge unterrichtet sehr gut: Georg Meister/Monika Offenberger, Die Zeit des Waldes. Bilderreise durch Geschichte und Zukunft unseres Waldes, Frankfurt a. M. 2010 (3. Aufl.). 75 Ernst Jünger, Der Baum, in: Bäume. Essays von Ernst Jünger und Wolf Jobst Siedler. Gedichte und Bilder, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 55– 67, hier 65. 76 Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a. M. 2005, S. 12. 77 Mit diesem Problem beschäftigen sich ausführlich: Dieter Birnbacher, Ver-

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antwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988; Jörg Tremmel, A Theory of Intergenerational Justice, London 2009. 78 Metaphorische Bedeutungen – darauf weist Wilhelm Perpeet hin – wachsen meist den Wörtern zu, die für den Lebensstil einer Sprachgemeinschaft wichtig sind und diesen charakterisieren. Dazu gehörten bei den Römern »Krieg« und »Ackerbau«. Vgl. Wilhelm Perpeet, Artikel »Kultur, Kulturphilosophie«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 1309–1324. Ausführliche Fassung: Wilhelm Perpeet, Kulturphilosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42–99. 79 Der Ökonom Joseph A. Schumpeter denkt z. B. noch im agrarischen Modell, wenn er von einer »kapitalistischen Ethik« spricht, die »für die Zukunft zu arbeiten einschärft, unabhängig davon, ob man die Ernte selbst einbringen wird oder nicht« (Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1942], Tübingen/Basel 1993 [7. Aufl.], S. 259). 80 Wolf Jobst Siedler, Welt ohne Schatten, in: Bäume. Essays von Ernst Jünger und Wolf Jobst Siedler. Gedichte und Bilder, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 89–101, hier 101. 81 Nikos Kazantzakis, Alexis Sorbas (1946), übers. Alexander Steinmetz, München 2009 (6. Aufl.), S. 42. 82 Vgl. Heinrich Böll, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, in: ders., Werke. Romane und Erzählungen 4 (1961–1970), hg. v. Bernd Balzer, Köln 1994, S. 267–269. 83 Vgl. dazu Kazantzakis, Alexis Sorbas, S. 61, 173. 84 Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985 (3. Aufl.), S. 274 f. 85 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, hg. v. Peter Ganz, München 1982, S. 160. 86 Vgl. Daniel Defoe, Robinson Crusoe. Erster und zweiter Band (1719), übers v. Franz Riederer, Zürich/Düsseldorf 1995 (5. Aufl.), S. 72 f. 87 William Golding, Herr der Fliegen, übers. v. Hermann Stiehl, Frankfurt a. M. 2007 (49. Aufl.). Im Folgenden eingefügte Seitenzahlen in Klammern stammen aus diesem Text. 88 Arnold Gehlen, Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952), in: ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1977 (77.–80. Tsd.), S. 55–68, hier 59. 89 Zur Bedeutung der abwesenden Erwachsenen bei Golding vgl. 30, 47, 83 f., 87, 128 f., 132 f., 195, 239, 279. 90 Je größer die Angst der Jungen im Verlauf der Handlung wird, desto mehr dient das Feuer daneben auch der Abwehr des Unheimlichen, vgl. z. B. 226. 91 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung (1762), übers. v.

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Ludwig Schmidts, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998 (13. Aufl.), S. 380. 92 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, übers. v. Ernst Hardt, Frankfurt a. M. 1985, S. 222, 578. 93 Jean-Jacques Rousseau, Rousseau richtet über Jean-Jacques, in: ders., Schriften, Band 2, hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M. 1988, S. 253–636, hier 467. 94 Rousseau, Rousseau richtet über Jean-Jacques, S. 490. 95 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Ausgabe des integralen Textes, hg. u. übers. v. Heinrich Meier, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1990 (2. durchges. u. erw. Aufl.), S. 179, vgl. 201. 96 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. Übers. u. hg. v. Ernst Forsthoff, 1. Band, Tübingen 1992 (2. Aufl.), S. 85 (V, 13). 97 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe Bd. VII, S. 186. Die Vorlage dazu ist: Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 201. 98 Vgl. dazu Hermann Fränkel, Ephemeros als Kennwort für die menschliche Natur, in: ders., Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hg. v. Franz Tietze, München 1968 (3., durchges. Aufl.), S. 23–39. In dieser älteren Studie spielt das Motiv »Zeithorizont« zwar kaum eine Rolle, doch es würde sich der Versuch lohnen, das hier gesammelte Material einmal entsprechend zu interpretieren. 99 Zwei weitere Beispiele aus dem 20. Jahrhundert: 1. Ernst Jüngers »Auf den Marmorklippen« wird in der Regel oberflächlich als Widerstandsroman rezipiert; genauer betrachtet geht es jedoch um den (an kein zeitliches Vorbild gebundenen) Untergang einer Kultur. Der Konflikt der Zeithorizontkonzepte kommt hier zum Ausdruck in der Einstellung zu Formen der agrarischen Kultivierung. Über die gewaltbereiten Gruppen mit kleinem Zeithorizont, die die alte Kultur bedrohen, heißt es: »In diesen Kreisen wurde es auch üblich, den Bau der Rebe und des Kornes zu verachten und den Hort der echten, angestammten Sitte im wilden Hirtenleben zu sehen« (Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Hamburg 1939/1940 [17. Tsd.], S. 45 f.). – 2. In Aldous Huxleys negativer Utopie »Schöne neue Welt« wird besonderer Wert auf einen beschränkten Zeithorizont gelegt. So soll auf der einen Seite zwischen dem Bewußtwerden eines Wunsches und seiner Erfüllung kein langer Zeitraum liegen. Dazu kommt auf der anderen Seite ein umfassender »Feldzug gegen die Vergangenheit« und »das Alte« (vgl. Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, übers. v. Herberth E. Herlitschka, Frankfurt a. M. 2008 [65. Aufl.], S. 39, 49, 58 f., 64, 216 f., 228). Vor allem aber sorgt die perfekt organisierte Verteilung einer Volks-Droge dafür, daß gar kein alltäglicher Anlaß zur Zeithorizonterweiterung entsteht: »Schließlich überredete sie ihn, vier Somatabletten zu schlucken. Fünf Minuten später waren Vergangenheit und Zukunft wie weggeblasen, nur die Blume der Gegenwart

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blühte rosig« (S. 112). Die von Huxley dargestellte Kultur verläßt daher (bis auf ganz wenige Ausnahmen auf der Regierungsebene) das infantile Niveau nicht (S. 106, 161, 210). 100 Victor Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa. Historisch-linguistische Studien, hg. v. Otto Schrader, Berlin 1911 (8. Aufl.), S. 123. Für Hehn überwindet der Mensch erst hier seine nomadische Lebensform endgültig: »Die Baumzucht war ein Schritt mehr auf der Bahn fester Niederlassung: erst mit ihr und durch sie wurde der Mensch ganz ansässig« (S. 122, vgl. auch S. 582, 608 f.). 101 Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute (1854). Mit einem Nachwort von Hans Jörg Hennecke, Waltrop/Leipzig 2010, S. 67. 102 Ebenda. 103 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Nach dem Text der Erstausgabe durch Jacob Oeri. Mit den Verbesserungen von Felix Staehelin und Samuel Merian aus der kritischen Ausgabe, Band 1, München 1977, S. 282. 104 Hermann Müller-Karpe, Geschichte der Steinzeit, München 1976 (2., durchges. u. erg. Aufl.), S. 55, vgl. 85. 105 Das steckt z. B. als allgemeine These hinter Sätzen wie diesem: »Das Ende der Völkerwanderung leitete in Europa eine Phase ruhigeren Aufbaus ein und machte auch die Germanen mit längeren Fristen vertraut« (Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas [1990], München 1999 [durchges. u. erw. Aufl.], S. 38). 106 Es wird noch zu zeigen sein, daß Aristoteles am Anfang seiner »Politik« die umherschweifenden Menschengruppen stillschweigend übergeht und die Darstellung gleich mit dem Dorf, also einem post-nomadischen Zustand beginnen läßt (vgl. III.3). Kenntnis von solchen Völkern konnte er übrigens durch Herodot haben, der in seinem Geschichtswerk z. B. die Skythen als ein wanderndes Hirtenvolk beschreibt (IV, 11). Herodot berichtet auch von Jägern und Sammlern (z. B. IV, 22 f.). 107 Als Beispiel: Wer heute die Straßen der Römer bewundert, hat den Eindruck, hier sei für die Ewigkeit gebaut worden. Eine in unserem Sinne aufgeklärte Architektur würde sich zwar nicht von diesem weitreichenden Anspruch leiten lassen, aber doch zeithorizontbewußt vorgehen. (Man denke im Gegenzug an ein so fragiles Bauwerk wie das seinerzeit vielbewunderte Münchner Olympiastadion von 1972: An welchen Zeithorizont hat man hier gedacht?) 108 Christian Graf von Krockow, Sport. Eine Soziologie und Philosophie des Leistungsprinzips, Hamburg 1974, S. 28. 109 Auch nach seiner Rückkehr in die Heimat kann Odysseus sich nicht einfach zur Ruhe setzen. Sein Zeithorizont wird abermals beansprucht durch eine Aufgabe, von der er durch eine Prophezeiung erfährt: Er solle so lange

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mit einem Ruder auf der Schulter zu Fuß unterwegs sein, bis er auf Bewohner des Binnenlandes trifft, die das Ruder nicht als solches erkennen, sondern für eine Schaufel halten (Od. XI, 120 ff.). Er wird also nicht durch ein modernes »happy end« erlöst und muß auch auf dem Lande noch eine »Odyssee« hinter sich bringen. 110 Homer, Odyssee IX, 299–306, hier nach: Homer, Odyssee, übers. v. Roland Hampe, Stuttgart 2002, S. 143 f. 111 Weniger prägnant findet sich dieses Motiv, die Überwindung eines übermächtigen Gegners und die erfolgreiche Meisterung einer schwierigen Rückkehr, auch in der Sage von Theseus, der nicht nur den Minotaurus tötet, sondern mit Hilfe des Ariadnefadens auch wieder aus dem Labyrinth zurückfindet. Hier verkörpert Ariadne die Figur mit überlegenem Zeithorizont, während Theseus Kraft und Mut beisteuert. In Odysseus ist beides in einer Person vereinigt. Nach Apollodor ist Daidalos, der Erbauer des Labyrinths, selbst der Urheber für den Einfall, wie der Rückweg gelingen kann (Apollodor 4, 8 f.). 112 Homer, Odyssee XX, 13–21 (Übersetzung: Roland Hampe). 113 Insofern gehört Odysseus auch zu denjenigen, die ihren Zorn (oder andere verwandte Regungen) nicht im Augenblick verschwenden, sondern mit ihm zu wirtschaften verstehen. Vgl. dazu: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 95 f. 114 In seiner Tradition steht dann auch Gracián, wenn er die Notwendigkeit einschärft, Zeithorizonterweiterung und Selbstdisziplinierung miteinander zu verbinden. Vgl. Balthasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647), übers. v. Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1999, S. 31 f. (Nr. 59: »Das Ende bedenken«), 76 (Nr. 151: »Vorausdenken«), 132 (Nr. 268: »Der Kluge tue gleich anfangs, was der Dumme erst am Ende«). 115 Aristoteles’ ausgeprägter Sinn für unser Thema zeigt sich ebenfalls in der von ihm hervorgehobenen Verknüpfung von Zeithorizont und Politik (vgl. unten III.4). 116 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Band I: Buch I + II, übers. v. C. Winckler, Hamburg 1981 (4., durchges. Aufl.), S. 314 f. (Zweites Buch, Kap. XXI, 47). 117 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Textkritische Edition), Teilband 1, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 1993 (= Gesamtausgabe Bd. 3.1), S. 54. 118 Gehlen, Der Mensch, S. 53. 119 David Hume, Über den Ursprung der Regierung, in: ders., Politische und ökonomische Essays, übers. v. Susanne Fischer, hg. v. Udo Bermbach, Teilband 1, Hamburg 1988, S. 31–35, hier 31. 120 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878), in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 91.

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Zit. n. Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, Darmstadt 2005, S. 791 (Nachweis S. 982). 122 Zit. n. Marshall Brown (Hg.), Wit and Humor of Well-known Quotations, Boston 1905 (2. Aufl.), S. 230. 123 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 195. 124 Für Oswald Spengler erscheint dagegen mit dem antiken Staat ein »Bild sorglosester Hingegebenheit an den Augenblick und seine Zufälle«; auf dem Forum antiker Städte, so erklärt er, habe »niemand an das Morgen gedacht, weder für seine Person noch für die Gesamtheit«. Er bewertet den antiken Staat vor dem Hintergrund ägyptischer, frühchinesischer und abendländischer Vorbilder, »deren vorausschauende Gestaltung einen Zukunftswillen verrät, der nicht mehr überboten werden kann« (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 1: Gestalt und Wirklichkeit, München 1977 [4. Aufl.], S. 179; vgl. auch die verwandte Deutung der antiken und neuzeitlichen Tragödie S. 170). Unsere Darstellung der antiken Kultur der Zeithorizonterweiterung zeigt dagegen, daß es sich hier um eine Fehleinschätzung handelt, die ihren Grund darin hat, daß Spengler sich in moderner Manier Zeithorizonterweiterung vorwiegend als willensmäßige denkt. Seine These, daß man in der Antike von einem Tag zum anderen wirtschaftete und »Raubbau« betrieben habe (S. 180), scheint auf den ersten Blick mehr für sich zu haben; man denkt z. B. an Platons Beschreibung des entwaldeten Attika (Kritias 110c–111e). Vgl. dazu einschränkend: Marcus Nenninger, Artikel »Wald«, in: Holger Sonnabend (Hg.), Mensch und Landschaft in der Antike. Lexikon der historischen Geographie, Stuttgart/Weimar 2006, S. 593–595, hier 594 f. Auf der anderen Seite wäre zu überlegen, ob ein erheblich perfektionierter »Raubbau« nicht gerade das Kennzeichen der Moderne ist. Vgl. als eine frühe Kritik des kurzsichtigen Raubbaus durch die technische Zivilisation: Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt a. M. 1980 (6. Aufl.), S. 26–33. 125 Cicero, De oratore II, 169, hier nach: Cicero, De oratore/Über den Redner, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2001 (4. Aufl.), S. 313. 126 Richelieu, Politisches Testament und kleinere Schriften, eingeleitet u. ausgewählt v. Wilhelm Mommsen, übers. v. Frieda Schmidt, Berlin 1926, S. 172 f. Ob der Text tatsächlich von Richelieu stammt oder nicht, kann in unserem Kontext offenbleiben. 127 Vgl. zur Explikations-Aufgabe des Politikers: Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin 1962 (3. Aufl.), S. 269, 273, 298 f., 332 f. 128 Vgl. Otfried Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, München 2009, S. 29, 31: »Zukunftsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit eines Gemeinwesens, sowohl anstehende als auch neu aufkommende Proble121

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me unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume nachhaltig zu lösen.« »Die beste Weise, die Zukunft vorherzusagen, ist: sie selbst zu gestalten. (Freilich handelt es sich nur um eine Quasi-Vorhersage; tatsächlich schränkt man den Kontingenzcharakter ein.) Ohnehin wäre es verfehlt, die Zukunftsfähigkeit auf die Lösung auftretender Probleme zu verkürzen; man muß sie rechtzeitig erahnen. […] Eine gesteigerte Zukunftsfähigkeit sieht voraus, daß bestimmte Entwicklungen Schwierigkeiten hervorrufen können, und sucht die Entwicklungen so zu beeinflussen, daß es zu den Schwierigkeiten gar nicht kommt. Hohe Zukunftsfähigkeit löst viele Probleme, indem sie die Probleme erst gar nicht entstehen läßt.« 129 Vgl. Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig?, S. 187: »Zukunftsfähige Politik agiert nicht nur mit Blick auf die nächsten Monate, bestenfalls einige wenige Jahre. Anstatt sich sorglos und phantasielos dem Hier und Jetzt zu beugen, sucht sie Alternativen, von der Gegenwart aus gesehen: mögliche Welten. Sie lebt aus einem größeren Zukunftshorizont, einem Entwurf, der von heute und morgen verschiedenen, vielleicht sogar grundverschiedenen Lebensverhältnisse. […] Im Fall politischer Zukunftsentwürfe sind beide Grundformen gefragt, der ›negative Entwurf‹ einer Zukunft, die die Politik besser scheut, nämlich Schreckensbilder von Gewalt und Unterdrückung, die schlicht Empörung hervorrufen, und der positive Entwurf einer wünschenswerten Zukunft, etwa ein Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.« Zum Unterschied von Utopie und »realistischer Vision« vgl. S. 189. 130 Stephan Grünewald, Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft, Frankfurt a. M./New York 2006, S. 95, 68. 131 Grünewald, Deutschland auf der Couch, S. 99. Vgl. auch S. 72, 75, 86. 132 Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 444. 133 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, übers. v. Helene Weyl, in: ders., Der Aufstand der Massen. Wesentlich erweiterte und aus dem Nachlaß ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1958, S. 70–258, hier 109. 134 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, S. 108 f. 135 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (= Marburger Vorlesung Sommersemester 1924), hg. v. Mark Michalski, Frankfurt a. M. 2002 (= Gesamtausgabe Bd. 18), S. 49 f., 93. 136 »Öffentlichkeit« ist bei Hannah Arendt einerseits eine Objektivierungsinstanz und andererseits eine Sozialisierungsinstanz: 1.) Was aus der Verborgenheit des privaten, subjektiven Innenlebens heraustritt und vor der Allgemeinheit erscheint, ist für jedermann sichtbar und hörbar. In diesem Gehört- und Gesehenwerden konstituiert sich erst seine Realität. Für den Niedergang der Öffentlichkeit in der Neuzeit macht Arendt die Wucherung der Subjektivität verantwortlich. 2.) »Öffentlich« bezeichnet die Welt selbst, »insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist«. Das Gemeinsame lebt sowohl von seiner Identität wie auch von der Vielfalt der Perspektiven, in der es öffentlich

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gesehen wird. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1996 (8. Aufl.), S. 62 ff. 137 Arendt, Vita activa, S. 68. 138 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 70 f. 139 Paul Bourget, Charles Baudelaire, in: ders., Essais de Psychologie Contemporaine, Paris 1883, S. 3–32, hier 28 (Übersetzung: Rudolf Brandmeyer). 140 Arendt, Vita activa, S. 68 f. – Vgl. die umfangreiche Analyse des Verhältnisses von personalem, objektivem und objektiviertem Geist in: Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin/Leipzig 1933. 141 Vgl. Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, München 1971 (1934), S. 71: »Mit diesem Eingebettetsein des Einzelnen in ein altererbtes Gefüge hängt es zusammen, daß das tätige Leben überhaupt nicht täglich die Weltgeschichte von neuem beginnt und auch nicht die Formen der Gesellschaft und der Kulturtätigkeit unausgesetzt von Grund auf neu erschafft, sondern daß es sich entfaltet jeweils innerhalb eines ›Rahmens‹ vorgeformter Gefüge.« 142 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1927 (= Gesammelte Schriften Bd. VII), S. 208, vgl. 86 sowie Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. v. Georg Misch, Leipzig/Berlin 1924 (= Gesammelte Schriften, Bd. V), S. 180. 143 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 208 f., vgl. 146 f. 144 Heinrich Popitz, Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995, S. 127. 145 Popitz, Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft, S. 128. – In einer detaillierten Untersuchung der »primären sozialen Gehäuse« kommt Popitz zu dem Ergebnis: »Ihr gemeinsamer Nenner ist wohl der Drang nach gesellschaftlicher Kontinuität – oder, wenn man will, dem gesellschaftlichen Weiterleben –, der dazu zwingt, eine Integrationsstruktur für die jeweils Neuen, die Neugeborenen bereitzustellen« (Heinrich Popitz, Soziale Normen, hg. v. Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eßbach, Frankfurt a. M. 2006, S. 202). 146 Geht man von Popitz’ Gesichtspunkt der Fürsorgebedürftigkeit aus, müßte übrigens der Gesellschaftsbegriff noch erweitert werden um eine andere Dimension des Lebens: Gesellschaften sind nämlich nicht nur soziale Einheiten, in denen Kinder geboren und aufgezogen werden. In ihnen werden auch Menschen alt und müssen versorgt werden, d. h. es gibt stets zwei große Gruppen, die auf eine besondere Fürsorge angewiesen sind (vgl. IV.3). 147 Zur abstrakten Einführung des Situationsbegriffs und seiner Bedeutung für die Politik vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 21–31, 55–64, 242–245. Gemeinsame Situationen sind »teils aktuell,

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so daß sich ihr Verlauf in beliebig dichten zeitlichen Querschnitten verfolgen läßt, teils zuständlich, d. h. auf längere Frist in der Weise angelegt, daß es immer erst nach geraumer Zeit sinnvoll ist, zu fragen, wie sich die Situation inzwischen entwickelt hat« (Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 24 f.). Den zuständlichen gemeinsamen Situationen ähneln die nicht-erzählten, sondern erlebten »Geschichten«, in die Menschen verstrickt sind (vgl. Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Leer 1959, S. 3 f.). 148 Michael Oakeshott, Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, hg. v. Timothy Fuller, übers. v. Christiana Goldmann, Berlin 2000, S. 146. 149 Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, übers. v. K. Streifthau, Neuwied/Berlin 1966, S. 140, vgl. 58. 150 Vgl. Oakeshott, Zuversicht und Skepsis, S. 164. 151 Oakeshott, Rationalismus in der Politik, S. 140. 152 Edmund Burke/Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1991, S. 93. 153 Vgl. Oakeshott, Rationalismus in der Politik, S. 135. 154 Oakeshott, Rationalismus in der Politik, S. 31: »Das Leben eines Gemeinwesens aber verliert Rhythmus und Kontinuität, es löst sich in eine Folge von Problemen und Krisen auf. Überkommene Verfahren werden, da sie nicht Technik sind, mit Unwissenheit gleichgesetzt. Jeder Sinn für die Partnerschaft zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wie Burke es nannte, geht verloren.« Oakeshott, Zuversicht und Skepsis, S. 72: Die Politik der Skepsis sei in ihrem Einsatz von Macht ökonomischer als »[…] der kontinuierliche oder sporadische Eingriff in menschliche Tätigkeiten durch ad hoc getroffene Korrekturmaßnahmen, die statt auf einen gleichmäßigen und moderaten Druck zur Wahrung der Ordnung auf eine ständige Aktivierung und Deaktivierung beträchtlicher Machtmittel angewiesen sind«. – Das läßt sich recht gut am Fall eines ehemals einflußreichen deutschen Politikers illustrieren, der zu seiner Zeit in der Regel als Konservativer betrachtet wurde: Edmund Stoibers Regierungsstil ist mit dem Etikett »politischer Aktionismus« gut gekennzeichnet. Man hat ihm zu Recht vorgehalten, daß an die Stelle steten Verwaltungshandelns das Exekutieren von immer neuen Organisations- und Maßnahmeplänen getreten sei. Bezeichnend dafür war – man muß hier einmal ephemere Ereignisse zitieren – Stoibers Reaktion auf den sogenannten »Gammelfleischskandal«: Ein neues Lebens- und Futtermittelgesetz, das gerade einmal ein Jahr in Kraft war und bei seiner Einführung als »Magna Charta für den Verbraucher« (FAZ) gefeiert wurde, sollte nun schon wieder Makulatur sein. Die »FAZ« kommentierte gewissermaßen konservativ, daß der Rechts- und Verwaltungsstaat für den politischen Aktionismus zur »tagesaktuellen Verfügungsmasse« werde (vgl. Albert Schäffer, Gammelfleisch im Wohlfühlland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. September 2006,

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S. 1). Mit anderen Worten: Ein »konservativer« Politiker wie Edmund Stoiber ist – gemessen an den Ansprüchen der konservativen Theorie – gar kein echter Konservativer. 155 Oakeshott, Rationalismus in der Politik, S. 13. 156 Oakeshott, Rationalismus in der Politik, S. 44, vgl. 13. 157 Ein aktuelles Beispiel für diesen immer noch vorhandenen Glauben an Machbarkeit ist das »New Public Management« bzw. das »Neue Steuerungsmodell« in der Verwaltung. 158 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1992 (24.–27. Tsd.), S. 225 f. 159 Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Hamburg 1939/1940 (17. Tsd.), S. 38. 160 Robert Pogue Harrison, The Dominion of the Dead, Chicago 2003, dt.: Die Herrschaft des Todes, übers. v. Martin Pfeiffer, München/Wien 2006. 161 Der Hinweis auf die Kultur der Gedenktage und Jubiläen oder die Konjunktur der Museen nimmt nur die Spitze des Eisberges in den Blick und täuscht über die Masse des darunter Vergessenen hinweg. Weiterhin wäre zu erwägen, wieviel Zuwendung zur Vergangenheit darin tatsächlich steckt. 162 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984 (15. Aufl.), S. 70 f., 117 f.; vgl. dazu kritisch: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 319–325. 163 Thomas Paine, Die Rechte des Menschen (1792), hg. u. übers. v. Wolfgang Mönke, Berlin 1962, S. 129. 164 Thomas Jefferson, Political Writings, ed. by Joyce Appleby and Terence Ball, Cambridge 1999, S. 593, 594, 596 (Brief an James Madison vom 6. September 1789). Vgl. die Briefe an Samuel Kercheval vom 12. Juli 1816 (S. 210– 217, bes. 215 f.) und an John Wayles Eppes vom 24. Juni 1813 (S. 598–604). 165 David Hume, Über den ursprünglichen Vertrag (1748), in: ders., Politische und ökonomische Essays. Teilband 2, übers. v. Susanne Fischer, hg. v. Udo Bermbach, Hamburg 1988, S. 301–324, hier 312 f. 166 Dieter Thomä, Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008, S. 37 f. – Den Hinweis auf Hume verdanke ich dem Buch von Thomä. 167 Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Aufzeichnungen, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1959, S. 93, vgl. 107. Zu den damit zusammenhängenden Problemen vgl. ausführlich: Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, bes. Kap. 3. 168 Odo Marquard, Kleine Anthropologie der Zeit, in: ders., Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 9–12, hier 10. 169 Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Hans Zeller und Alfred Zäch, Bern 1997 (2. Aufl.), S. 355. 170 Michael Dummett, Wahrheit und Vergangenheit, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2005, S. 81.

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»Die Nachrichten der letzten Tage waren so schrecklich, dass ich gar nicht mehr zu einer auch nur erträglichen Stimmung komme. Was ist man, solchen Erdbeben der Cultur gegenüber, als Gelehrter! Wie atomistisch fühlt man sich! Sein ganzes Leben und seine beste Kraft benutzt man, eine Periode der Cultur besser zu verstehen und besser zu erklären; wie erscheint dieser Beruf, wenn ein einziger unseliger Tag die kostbarsten Documente solcher Perioden zu Asche verbrennt! Es ist der schlimmste Tag meines Lebens« (hier zit. n. Friedrich Nietzsche, Chronik in Bildern und Texten, München, Wien 2000, S. 243; Brief Nr. 134 v. 27. Mai 1871). 172 Nietzsche, Chronik in Bildern und Texten, S. 244. 173 Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1869–1874, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 7, München 1999, S. 580. Vgl. ders., Nachlaß 1875–1879, in. ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 8, München 1999, S. 26 (eine Abschrift aus: Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache …, hg. v. G. Bernhardy, II. Deutsche Aufsätze, Halle 1869, S. 833): »›Nur die Fertigkeit, nach der Weise der Alten zu schreiben, nur eignes productives Talent befähigt uns, fremde Productionen gleicher Art ganz zu verstehen und darin mehr als gewisse untergeordnete Tugenden aufzufassen.‹« Ähnlich S. 89: »Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte.« 174 Vgl. zum Motiv der Kultur als Last in der Nachfolge Nietzsches: Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1980 (17. Aufl.), S. 578; Wilhelm Windelband, Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben (1908), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Zweiter Band, Tübingen 1915 (5., erw. Aufl.), S. 244–269, hier 246; Heinrich Rickert, Das Leben der Wissenschaft und die griechische Philosophie, in: Logos XII (1923/24), S. 303–339, hier 306; Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, hg. v. Hermann Nohl, Leipzig/ Berlin 1921 (= Gesammelte Schriften, IV. Band), S. 528; Wilhelm Dilthey, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, hg. v. Paul Ritter, Leipzig/Berlin 1927 (= Gesammelte Schriften, III. Band), S. 210; Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Werke Bd. 3, Tübingen 1922, S. 3 f. – Alle Autoren warnen mit Blick auf das Wirken Nietzsches dringend vor »kultureller Gepäckerleichterung«. 175 Vgl. ausführlich: Michael Großheim, »Die Barbaren des 20. Jahrhunderts«. Moderne Kultur zwischen Konservierungswille und Überlieferungsfeindschaft, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/2000, S. 221–252. 176 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982, S. 234. 177 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht (1929), Stuttgart 1987, S. 94 f. 171

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Jünger, Der Arbeiter, S. 206 f. – Eine ähnlich strikte Weigerung, das Erbe zu übernehmen, läßt sich an den italienischen Futuristen der Zeit beobachten (vgl. z. B. die Interpretation in: Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Gesamtausgabe, Band 16, hg. v. Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1999, S. 42, 190 f.). Ihr rhetorischer Eifer gilt vor allem der Zerstörung aller Horte der Überlieferung, der Museen, Bibliotheken und Akademien jeder Art, sie wollen Italien vom »Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare« befreien (F. T. Marinetti, »Manifest des Futurismus« [1909], zit. n. Hansgeorg SchmidtBiggemann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 78). 179 So schreibt Ernst Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg Anfang 1934: »Nach dem ›Arbeiter‹, in dem ich mich allen Gepäcks entledigt hatte und dem die konsumierende Großstadtluft zuträglich war, ist es jetzt vielleicht an der Zeit, ein wenig neues Fleisch anzusetzen.« Zitiert nach: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern, hg. v. Heimo Schwilk, Stuttgart 1988, S. 146 (Brief an Friedrich Georg Jünger vom 19. Januar 1934). 180 Nach einem Bericht über den Verlust einer umfangreichen Bibliothek im Bombenkrieg heißt es: »Die großen Brände verändern am Bewußtsein des Eigentums mehr als alle Scharteken, die seit Beginn der Welt darüber geschrieben worden sind« (Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 442, vgl. zum Wandel des Eigentumsbegriff dort auch S. 518 f., 538, zur Zerstörung von Büchern und Bausubstanz in den Städten vgl. S. 178, 195, 445, 450, 470, 483, 484, 502 f., 551). 181 Jünger, Strahlungen, S. 174. 182 Ebenda. 183 Ernst Jünger, Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, Berlin 1942, S. 152 f. 184 Jünger, Der Arbeiter, S. 67, 33 f., 250; Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 120. 185 Jünger, Der Arbeiter, S. 250, 18, 157 f. 186 Vgl. Ernst Jünger, Jahre der Okkupation, Stuttgart 1958, S. 122. 187 Jünger, Der Arbeiter, S. 205. 188 Jünger, Gärten und Straßen, S. 31. – Nach der Zeitdiagnose des »Arbeiter« war nichts beständig als die Veränderung; der Sinn für Dauer schien dem Autor im Schwinden zu sein (vgl. Jünger, Der Arbeiter, S. 172, 180, 184). 189 Jünger, Strahlungen, S. 372. 190 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: Kants Werke. Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1914, S. 203–492, hier 455 (Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, §§ 32, 33). 191 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. v. Jacob P. Mayer, übers. v. Hans Zbinden, München 1976, S. 585 f. 192 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I-IV, in: ders., Kritische Stu178

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dienausgabe Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1993 (3. Aufl.), S. 254. 193 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 586, vgl. 587. 194 Die Familie ist hier natürlich nur ein naheliegendes und leicht nachvollziehbares Beispiel für eine mögliche Zeithorizonterweiterung in beide Richtungen. An die Stelle der Familie können auch andere Menschen oder Menschengruppen treten. 195 T. S. Eliot, Beiträge zum Begriff der Kultur, in: ders., Essays I, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–113, hier 43 f. 196 Edmund Burke/Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1991, S. 93. 197 Kurt Biedenkopf, Die Ausbeutung der Enkel. Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft, Berlin 2006 (3. Aufl.), S. 224. Biedenkopf zitiert in diesem Zusammenhang den amerikanischen Ökonomen und Diplomaten Arthur Burns (1904–1987): Ein Volk, das die Stimmen seiner Ahnen nicht hört und die Interessen seiner Nachkommen nicht achtet, hat keine Zukunft. 198 Bruno Snell (Hg.), Leben und Meinungen der Sieben Weisen. Griechische und lateinische Quellen aus 2000 Jahren mit der deutschen Übertragung, München 1938, S. 99 (nach: Demetrios von Phaleron, Die Sprüche der Sieben Weisen). 199 Aristoteles, Oikonomika 1343b 20–24; hier nach: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Band 10. Teil II: Oikonomika: Schriften zu Hauswirtschaft und Finanzwesen, übers. u. erl. v. Renate Zoepffel, Darmstadt 2006, S. 16. 200 Goethe, Palaeophron und Neoterpe, in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 11, Stuttgart und Tübingen 1828, S. 235–251, hier 249. 201 Zitiert nach: Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a. M. 2005, S. 198. 202 Vgl. dazu: Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 30 f.; Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 387; Hermann Schmitz/Wolfgang Sohst, Hermann Schmitz im Dialog, Berlin 2005, S. 90. 203 Edmund Burke/Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1991, S. 93, 193. 204 Vgl. zum Folgenden: Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst (1808/ 09), Berlin 1968, S. 40. 205 Deutscher Bundestag, Drucksache 16/3399: »Bei Verteilungskonflikten zwischen den die Gegenwart bestimmenden Partikularinteressen haben die nicht repräsentierten künftigen Generationen und die schwach repräsentierte junge Generation das Nachsehen. Es ist gerade im Interesse der künftigen Generationen, dass Politik eine langfristige Ausrichtung erhält.«

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Anmerkungen

Peter Schimany, Die Alterung der Gesellschaft. Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 402. 207 Herwig Birg, Generationenstreß. Mit und ohne Nachkommen: Die Demographie wird zum Krisenherd, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. April 2004, S. 39. 208 Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, München 2005, S. 12. 209 Jörg Tremmel, Der Generationsbetrug. Plädoyer für das Recht der Jugend auf Zukunft, Frankfurt a. M. 1996, S. 59. 210 Heidi Schüller, Die Alterslüge. Für einen neuen Generationenvertrag, Berlin 1995, S. 54. 211 Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 377. – Vgl. Schüller, Die Alterslüge, S. 50: »Solange die politische Diskussion die festgetrampelten Argumentationspfade nicht verläßt, gibt es langfristig nur zwei Alternativen: Entweder droht eine zumindest numerische Diktatur der Alten; denn kein Politiker wagt – solange er auf Mehrheitsbeschaffung angewiesen ist, und das ist er in einer Demokratie – Entscheidungen gegen den Willen dieser mächtigen Wählergruppe durchzusetzen. Oder es kommt zu einer Eskalation des Generationenkonflikts mit aggressiven Entladungen gegenüber der zahlenmäßigen Mehrheit, deren Interesse an Besitzstandswahrung die ökonomisch und ökologisch notwendigen ›Bescheidungen‹ verhindert.« 212 Kurt Biedenkopf, Die Ausbeutung der Enkel. Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft, Berlin 2006 (3. Aufl.), S. 47: »Die Älteren werden auf die Leistungs- und Funktionseliten der Enkelgeneration angewiesen sein. Sie, die Enkel, sind es, die dank ihrer Fähigkeiten in Europa und der übrigen Welt die Lebens- und Wirkungsräume aufsuchen können, die ihren Arbeits- und Entwicklungsbedürfnissen am ehesten entsprechen. Nicht Geld wird darüber entscheiden, wer zu den Eliten gehört, sondern fachliches, kulturelles und geistiges Wissen und Können. Das kann man weder enteignen, noch kann man seine Produktivität erzwingen.« 213 Vgl. etwa Helmut Ball, Zukunftsvorsorge und ökonomische Entwicklung. Entscheidungen über Kapitalbildung, Versicherung, Ausbildung, Arbeit und Generationenvertrag aus einzel- und gesamtwirtschaftlicher Sicht, Frankfurt a. M. 1984, S. 174: Künftig sei die »Gefahr einer Leistungsverweigerung« der Nachfolgegeneration nicht von der Hand zu weisen. Hier zitiert nach: Tilman Mayer, Die demographische Krise. Eine integrative Theorie der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 319. 214 Vgl. z. B. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, München 2002 (8. Aufl.), S. 148–150, 253–256; Thomas Apolte, Der dünne Ast der Altersvorsorge. Den Fallen des umlagefinanzierten Rentensystems können die Betroffenen nicht entgehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 2003, S. 13; HansWerner Sinn, Führt die Kinderrente ein! Paare ohne Nachwuchs dürfen nicht 206

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Anmerkungen

länger bevorzugt werden: Ein Plädoyer für Familienförderung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juni 2005, S. 41; Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a. M. 2005, S. 195 f., 207, 224. 215 »›Generationenvertrag‹ ist hier eine politische Metapher, die sich unterschiedlich weit auslegen läßt. Offensichtlich geht es hier nicht um Verwandtschaftsbeziehungen, sondern um soziale Lagerungen im Horizont der Zeit« (Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, S. 202). 216 Kurt Biedenkopf, Die Ausbeutung der Enkel. Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft, Berlin 2006 (3. Aufl.), S. 217. 217 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge des Bundes katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherungen, Köln 1955, S. 28. 218 Vgl. Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Band 4, Berlin 1952, S. 41. 219 Oswald von Nell-Breuning, Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan (Vortrag von 1981), in: Oswald von Nell-Breuning/Cornelius G. Fetsch, Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, Köln 1981, S. 34, vgl. 29–34. 220 Vgl. dazu auch: Hans F. Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II, hg. v. Ulrich Becker u. Franz Ruland, Heidelberg 2008, S. 283 ff. 221 Vgl. Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. In Schreibers Plan war die Drei-Generationen-Solidarität in Gestalt einer besonderen »Kinderrente« berücksichtigt. 222 Oswald von Nell-Breuning/Cornelius G. Fetsch, Drei Generationen in Solidarität – Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, Köln 1981, S. 32. 223 Herwig Birg, Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt, München 2005, S. 129. Vgl. zum Begriff »Drei-Generationen-Vertrag« auch: Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, S. 208. 224 Plutarch, Lykurgos 21 (vgl. I.). 225 Ansätze dazu finden sich in: José Ortega y Gasset, Im Geiste Galileis, in: ders., Gesammelte Werke, Band III, übers. v. Helene Weyl u. a., Stuttgart 1956, S. 386–567, hier 416 ff. 226 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, hg. v. Iso Kern, Den Haag 1973 (= Husserliana Bd. XV), S. 168 f. 227 Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1960 (2. Aufl.) (= Gesammelte Schriften Bd. VIII), S. 79. 228 Hartmann, Ethik, S. 445. 229 Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1756–1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987 (= Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 1), S. 332 f. Zu den Varianten des

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Anmerkungen

Textes vgl. den Kommentar von Erich Trunz in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Band 1: Gedichte und Epen 1, München 1981 (12., neubearb. Aufl.), S. 558 f. 230 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, hg. v. Otto Dann, Stuttgart 2006, S. 28. 231 Vgl. z. B. die instruktiven Ausführungen zum ägyptischen Begriff »maat« in: Jan Assmann, Vergeltung und Erinnerung, in: Studien zu Sprache und Religion Ägyptens, Band 2: Religion. Zu Ehren von Wolfhart Westendorf überreicht von seinen Freunden und Schülern, Göttingen 1984, S. 687–701. Assmann faßt den Grundgedanken an anderer Stelle prägnant zusammen: »Es ist eine Ethik des Aneinander-Denkens und Füreinander-Handelns, eine Ethik gegenseitiger Unvergessenheit. ›Sei eingedenk‹ lautet die Devise, eingedenk des Vorangegangenen und des Kommenden. Handle für die, die gehandelt haben, und handle so, daß andere für dich handeln werden. Stelle dir das Gestern und das Morgen vor Augen: nur so bleibt die Harmonie und Kontinuität des Ganzen gewahrt, in der auch du fortdauern wirst. In der Form eines kategorischen Imperativs heißt das: handle stets so, daß dieses Netz nicht zerreißt, das durch das Aneinander-Denken und Füreinander-Handeln geknüpft ist« (Jan Assmann, Stein und Zeit. Das ›monumentale‹ Gedächtnis der altägyptischen Kultur, in: ders./Tonio Hölscher [Hg.], Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 87–114, hier 98). 232 Eingeschränkt auf die seinerzeit verbreitete Erbfolge vom Vater auf den ältesten Sohn spricht der Soziologe Ferdinand Tönnies mit poetischen Worten von der »Idee eines immer erneuten Lebensfeuers«, das durch die ununterbrochene Reihenfolge von Vätern und Söhnen dargestellt werde (Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie [1887], Darmstadt 1991 [3. Aufl.], S. 9). 233 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a. M. 1977 (366.–387. Tsd.), S. 101 f. – Die Vorlage findet sich in Riehls Theorie der Familie. Hier wird die Auffassung vertreten, daß das Individuum »seinen Eigennutz und seine Fessellosigkeit zum Opfer geben soll an das Haus. Und zwar wird ›das Haus‹ hier nicht blos gedacht als die gegenwärtige Generation, sondern die große historische Kette unserer Familie in Vergangenheit und Zukunft ist es, vor deren Glanz und Macht das Interesse des Einzelnen verschwinden muß« (Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Dritter Band: Die Familie, Stuttgart 1862 [6. Aufl.], S. 212). 234 Georg Simmel, Lebensanschauung (1918), in: ders., Gesamtausgabe, Band 16, hg. v. Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1999, S. 209–435, hier 227. 235 Vgl. z. B. Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1988, S. XVIII, XXVIf., XXXVIIf.

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Anmerkungen

Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt a. M. 1982, S. 55. 237 Diesen Zusammenhang hat schon – wenn auch im speziellen Kontext seiner Philosophie – Schopenhauer gesehen. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band (Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus), Zürich 1988, S. 660 f. 238 Harrison, Die Herrschaft des Todes, S. 12. Er ist hier durch Vico inspiriert, der in § 12 seiner »Neuen Wissenschaft« daran erinnert, daß »bei den Lateinern von ›humando‹, ›beerdigen‹, zunächst und eigentümlich ›humanitas‹ hdie Menschheiti so heißt« (Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [1744], übers v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Teilband 1, Hamburg 1990, S. 11). 239 Robert Pogue Harrison, The Dominion of the Dead, Chicago 2003, S. 71, hier nach: Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, München 2005, S. 201. 240 Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß der skizzierte, nicht-hybride Blick auf die Vergangenheit natürlich nicht bedeutet, für alle historischen Figuren Verständnis zu besitzen. Es geht weniger um eine konkret-historische als um eine allgemein-philosophische Einstellung der Geschichte des Menschengeschlechts gegenüber. 241 Vgl. Michael Großheim, Der historische Sinn. Zur Geschichtsphilosophie des jungen Herder, in: Herderschule Rendsburg 1393–1993. Festschrift zur 600-Jahrfeier, Rendsburg 1993, S. 5–15. 242 Walter Rathenau, Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1913, S. 322. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Steffen Kluck. 243 Goethe, Winckelmann, in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 37, Stuttgart und Tübingen 1830, S. 1–97, hier 9. 244 Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden: Gedichte Dramen I (1891–1898), hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, S. 21. 245 Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 161. 246 Rudolf Carnap, Mein Weg in die Philosophie, übers. v. Willy Hochkeppel, Stuttgart 1999, S. 59. 247 Vgl. den reichhaltigen Überblick bei: Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985 (3. Aufl.). 248 Vgl. Rudolf Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, Opladen 1993. 249 Vgl. Michael Großheim, »Zu den Sachen selbst!« Die neue Sachlichkeit der Phänomenologen, in: Moritz Baßler/Ewout van der Knaap (Hg.), Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts. Festschrift für Helmut Lethen, Würzburg 2004, S. 145–159. 250 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli 1924, hg. v. Hartmut Tietjen, Tübingen 1989, S. 7. Vgl. dazu 236

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Anmerkungen

Heideggers Deutung der Parole »Zu den Sachen selbst!« in: Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1984 (15. Aufl.), S. 28 sowie den Vorläufer dieser Formulierung: Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (= Marburger Vorlesung Sommersemester 1925), hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1979 (= Gesamtausgabe Bd. 20), S. 104. 251 Meine Darstellung orientiert sich an folgenden Texten von Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 247–274; Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 96–119; Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 167–178; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 157– 167; Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 76–89. 252 Für eine fruchtbare Irritation sorgen in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts bereits Autoren, die Kinder, sog. »Primitive« und Geisteskranke berücksichtigen. 253 Gegenwart ist daher auch ein komplexeres, ein nicht ausschließlich zeitliches Phänomen. Schmitz kritisiert die traditionelle Verengung des Blicks auf das Phänomen Gegenwart: »Die bisherige Philosophie und die von ihr geleitete Meinung der Menschen hat von der Gegenwart bisher nur in einem fast kümmerlichen Ausschnitt Kenntnis genommen, nämlich von der zeitlichen Gegenwart, die seit alters einem Punkt verglichen wird, der sich ständig in die Zukunft hinein verschiebt. Diese zeitliche Gegenwart ist […] nur durch ihren Hervorgang aus primitiver Gegenwart möglich und verständlich. Die wirkliche Gegenwart ist alles andere als ein Punkt. Sie hat eine ungeheure Breite und Tiefe. In der Breite umfaßt sie durch Emanzipation des Dieses als Form die ganze Welt, in der Tiefe zieht sie sich auf primitive Gegenwart wie auf einen Punkt zusammen, und die Person ist zwischen Entfaltung in die Breite und Versinken in die Tiefe beständig nach beiden Richtungen unterwegs« (Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 45). Zur Erläuterung vgl. die folgenden Ausführungen. 254 Schmitz hat, einem Gedanken von Minkowski folgend, dessen »Ich-HierJetzt« um Wirklichkeit und Identität ergänzt. Vgl. Eugène Minkowski, Die gelebte Zeit. I. Über den zeitlichen Aspekt des Lebens (1933), übers. v. Meinrad Perrez u. Lucien Kayser, Salzburg 1971, S. 130 f. – Hermann Schmitz, Die Gegenwart (System der Philosophie I), Bonn 1981 (2. Aufl.), S. 205. 255 Jonathan Shay, Achilles in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust (1994), übers. v. Klaus Kochmann, Hamburg 1998, S. 239. Vgl. auch die oben (II.1) angeführten Texte von Andreas Gryphius aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. 256 Vgl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 247. 257 Vgl. z. B. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/ 20) (= Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20), hg. v. Hans-

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Anmerkungen

Helmuth Gander, Frankfurt a. M. 1993 (= Gesamtausgabe Bd. 58), S. 209: »Ich kann die genannten Erfahrungen (als persönliche) gewissermaßen von mir abstoßen, meine persönlichen Beziehungen zu ihnen abbrechen, die betreffenden Verfügbarkeiten gehen mich nichts mehr an […]. Meine Beziehungen zum Erfahrenen sind abgeschnitten. Die Verfügbarkeit verschwindet nicht als Ganzes, aber der Bezugscharakter zu meiner Selbstwelt ist gestört. Allen Erfahrungen kann dies geschehen, daß sie kein Verhältnis mehr zur Selbstwelt haben.« 258 Vgl. Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, S. 58. Nicht in jedem Zustand hat der Mensch »Welt«. Es ist wichtig, sich dieses »labile Aufruhen der Welt als entfalteter Gegenwart auf der primitiven Gegenwart« klarzumachen (Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. IX). 259 Vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 159; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 116. 260 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Textkritische Edition), Teilband 1, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 1993 (= Gesamtausgabe Bd. 3.1), S. 374. 261 Zum Folgenden vgl. Daniel Everett, Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas, übers. v. Sebastian Vogel, München 2010 (2. Aufl.), S. 199 ff. 262 Vgl. dazu auch Everett, Das glücklichste Volk, S. 181. 263 Everett, Das glücklichste Volk, S. 200. 264 Vgl. allgemein: Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991 265 Präziser spricht er vom »Sich-vorweg-im-schon-sein-in-einer-Welt« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984 [15. Aufl.], S. 192). – Vgl. ausdrücklich zum Thema »Zeithorizont«: Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (= Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1983 (= Gesamtausgabe Bd. 29/30), S. 218 ff. 266 Vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 361 ff. 267 Anders als Bergson interessiert sich Simmel nicht für das Leben der Tiere und Pflanzen. 268 Georg Simmel, Lebensanschauung (1918), in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen u. a., hg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1999 (= Gesamtausgabe Bd. 16), S. 209–425, hier 218. 269 Simmel, Lebensanschauung, S. 219. 270 Simmel, Lebensanschauung, S. 220. 271 Simmel, Lebensanschauung, S. 221 f. 272 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 250. 273 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 250. 274 Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, S. 163.

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Anmerkungen

Vgl. dazu aus der Sicht des Kulturhistorikers: Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1985 (3. Aufl.), S. 133, 148 f. 276 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 22, Stuttgart und Tübingen 1829, S. 225 f. 277 Dieter Thomä, Gegenwartsversessenheit. Versuch über eine folgenreiche Zeitkrankheit, in: Neue Zürcher Zeitung v. 9. Mai 2011 278 Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich 1963 (3. Aufl.), S. 71. 279 Sophokles, Oedipus rex, v. 916. 280 Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 72. 281 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß damit alle Stellungnahmen, die von Institutionen mit solchen Zeithorizonten getroffen werden, auch gutzuheißen sind. Es geht hier nur um die Emanzipationsmöglichkeiten, die eine entwickelte Zeithorizont-Kultur bietet. Ähnlich distanziert, wenn auch natürlich viel trivialer, ist bereits die Perspektive eines Lesers, der die Aufgeregtheiten der Tageszeitung nicht pünktlich und regelmäßig zur Kenntnis nimmt, sondern einen angesammelten Bestand nachträglich aus dem Abstand mehrerer Monate in Ruhe überfliegt. Schon der Ausdruck »Journalismus« verweist ja auf den Zeithorizont eines Tages. 282 Goethe, Wanderers Gemüthsruhe, in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 5, Stuttgart und Tübingen 1828, S. 106–111, hier 110. 283 Heiner Hastedt, Moderne Nomaden. Erkundungen, Wien 2009, S. 61. 284 Das Feld der Texte, die hier in Frage kommen, ist sehr weit; es reicht, was das Verhältnis zu den behaupteten Befunden angeht, von neutralen oder distanzierten Zeitdiagnosen bis zur normativ aufgeladenen Projekten. Mit anderen Worten: Einige Autoren beobachten Neuerungen lediglich und versuchen, sie zu beschreiben, andere dagegen erklären den Wandel zu einer Art Schicksal, dem die Gesellschaft nicht nur ausweglos ausgeliefert ist (es gebe kein Zurück, heißt es dann), sondern das auch mit einer Art Berechtigung eintritt und insofern zu begrüßen ist. Dieser Differenziertheit der Stellungnahmen kann man in unserem Rahmen nicht gerecht werden. 285 Vgl. zum unverbindlichen Spiel mit Kurzzeitrollen und zu anderen auf den modernen Ironismus zurückführbaren Verhaltensweisen: Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002 (zur »Postmoderne« vor allem S. 463–474); ders., Ironie als Irrtum, in: KulturSpiegel 3/2006, S. 16–21. 286 Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen (1995), übers. v. Martin Suhr, Hamburg 1997. – Zygmunt Bauman, Wir sind wie Landstreicher, in: Süddeutsche Zeitung v. 16. November 1993, S. 17. Dieser Artikel wurde in der Soziologie aufmerksam rezipiert. Vgl. z. B. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten, 275

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Anmerkungen

Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 13. Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a. M. 1997, S. 24 f. 287 Schon Jacob Burckhardt hat übrigens seinen Zeitgenossen eine solche »Bis auf weiteres«-Mentalität unterstellt, vgl. unten VII.2. 288 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 49. 289 Bauman, Wir sind wie Landstreicher. 290 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 145. 291 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 148. – Hugo von Hofmannsthal hat das schon ganz ähnlich empfunden: »Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes« (Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Aufzeichnungen, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1959, S. 93, vgl. 107). Vgl. zu Hofmannsthals (und anderer) Vorwegnahme des postmodernen Lebensgefühls: Großheim, Politischer Existentialismus, bes. S. 85–143. 292 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 134. 293 Vgl. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 136–143. 294 Bauman, Wir sind wie Landstreicher. – Vgl. zum Zusammenhang von »vernünftigem« Verhalten und kurzfristiger Orientierung auch Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 145: »Im Lebensspiel des postmodernen Konsumenten wechseln die Regeln fortwährend im Laufe des Spiels. Es ist deshalb vernünftig, jedes Spiel ganz kurz zu halten – und das bedeutet für ein derart vernünftig angelegtes Lebensspiel: das eine große allumfassende Spiel in eine Reihe kurzer und kleiner Spiele mit kleinen Einsätzen aufzusplittern.« 295 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 146, vgl. 130 f., 133. 296 Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, S. 16. 297 Friedrich Nietzsche hat in seinem »Zarathustra« und anderenorts den »freien Geist«, den »Wanderer«, geschildert, der seine zufälligen Stellungen, seine jeweiligen Erlebnisse als bloße »Unterkunfts-Hütten« nutzt, nicht als Gehäuse, in denen er »heimisch« wird (Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 11, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988 [2. Aufl.], S. 512). Diesem freien Geist wird die Warnung vor einer Gefahr mit auf den Weg gegeben: »Hüte dich, daß dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht jegliches, das eng und fest ist« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I-IV, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1993 [3. Aufl.], S. 341). 298 Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787), hg. v. Dürten Hartmann-Wülker, Nördlingen 1986, S. 101. 299 André Gide, Uns nährt die Erde (1897), übers. v. Hans Prinzhorn. Uns nährt die Hoffnung, übers. v. Gisela Schlientz, München 1974, S. 51.

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Anmerkungen

Antiphon DK 87 B 53 a; hier nach: Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch-deutsch, hg. u. übers. v. Thomas Schirren u. Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2003, S. 205. 301 Demokrit DK 68 B 202, 227 und 224, hier nach: Demokrit, Fragmente zur Ethik, übers. v. Gred Ibscher, Stuttgart 1996, S. 46/47, 48/49. 302 Vgl. Äsop, Fabeln. Griechisch/deutsch, übers. v. Thomas Voskuhl, Stuttgart 2005, S. 130/131 (Fabel Nr. 133). 303 Aristipp (nach: Aelianus var. hist. 14, 6, vgl. Claudii Aeliani Varia Historia, ed. Mervin R. Dilts, Leipzig 1974, S. 171 f.), hier nach: Malte Hossenfelder, Antike Glückslehren. Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen, Stuttgart 1996, S. 50. 304 Epikur, Weisungen 14, hier nach: Epikur, Briefe. Sprüche. Werkfragmente. Griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 1997, S. 82/83. 305 Seneca, De vita beata/Das glückliche Leben 26, übers. u. hg. v. Gerhard Fink, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 69. 306 Vgl. Demokrit DK 68 B 3; ein verwandter Gedanke DK 68 B 191. 307 »Denn wer viel unternimmt, setzt sich oft dem Zugriff des Schicksals aus.« Seneca, De tranquillitate animi, 13, 2, hier nach: Seneca, De tranquillitate animi / Über die Ausgeglichenheit der Seele, übers. u. hg. v. Heinz Gunermann, Stuttgart 1999, S. 60/61. 308 Vgl. besonders deutlich bei Marc Aurel (III/10): »So wirf nun alles hin und behalte nur das wenige und dazu denke noch daran, daß ein jeder nur den gegenwärtigen Augenblick, den winzigen, lebt; das übrige ist entweder durchgelebt oder liegt im Unbestimmten. Gering also ist die Zeit, die ein jeder lebt, gering der Winkel auf der Erde, wo er lebt; gering aber ist auch der ausgedehnteste Nachruhm, und er kommt zustande durch das Weitergeben von Menschen, die rasch tot sein werden und nicht einmal sich selbst kennen, geschweige denn den vor Zeiten Gestorbenen« (hier nach: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, hg. u. übers. v. Willy Theiler, Zürich/München 1974 [2., verb. Aufl.], S. 64/65). 309 Horaz, Carmina I 11, hier nach: Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Carmina; Oden und Epoden; hg. v. Hans Färber. Sermones et Epistulae übers. und zusammen mit Hans Färber bearb. v. Wilhelm Schöne, München 1979 (8. Aufl.), S. 24/25. 310 Vgl. dazu: Sven Sellmer, Formen der Subjektivität. Studien zur indischen und griechischen Philosophie, Freiburg/München 2005. 311 Michel de Montaigne, Essais. Dritter Theil (1588), übers. v. Johann Daniel Tietz, Zürich 1996, S. 229. 312 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung (1762), übers. v. Ludwig Schmidts, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998 (13. Aufl.), S. 59 f. 313 Condillac, Abhandlung über die Empfindungen (1754), übers. v. E. John300

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Anmerkungen

son, Berlin 1870, S. 185 ff., hier nach: Günter Gawlick (Hg.), Empirismus, Stuttgart 1980 (= Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band 4), S. 336. 314 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historischkritische Ausgabe, hg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart 1992, S. 152, vgl. 30 f., 133 f. 315 Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Goethe’s nachgelassene Werke, Band 48, Stuttgart und Tübingen 1833, S. 59. Vgl. Georg Simmel, Goethe, Leipzig 1921 (4. Aufl.), S. 188 f.: »Goethes Leben war im höchsten, man möchte sagen, im metaphysischen Sinne: Gegenwart. Wie er im Hier lebte, in dem allein der Mensch ›sich umsehen‹ solle, so im Jetzt; das Hier und das Jetzt sind sein Fruchtboden.« 316 Michel de Montaigne, Essais. Erster Theil (1580), übers. v. Johann Daniel Tietz, Zürich 1996, S. 610. 317 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hg. v. Jean-Robert Armogathe, übers. v. Ulrich Kunzmann, Stuttgart 1997, S. 54 f. (Fragment Nr. 47 nach Lafuma, Nr. 172 nach Brunschvicg). 318 Paul Valéry, Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M./Leipzig 1995 (= Werke 7), S. 86. 319 Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1922 (2. durchges. Aufl.), S. 112. Vgl. Karl Jaspers, Mein Weg zur Philosophie (1951), in: ders., Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 323–332, hier 331 f.: »Aber so sehr wir uns des Zwischenseins bewußt sind, wir wissen, daß alles Zwischensein zugleich erfüllte Gegenwart sein kann, daß es für uns keine andere Wirklichkeit als die gegenwärtige gibt, daß Flucht in Vergangenheit oder Zukunft die Wirklichkeit versäumen läßt: das mögliche unendliche Glück des Daseins, welches erfüllt ist von einem Sein quer zur Zeit, die ewige Gegenwart im verschwindenden Fluß der Dinge.« Vgl. auch Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig 1931, S. 166. 320 Helmuth Plessner, Das Problem der Klassizität für unsere Zeit (1936), in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 87–99, hier 92, 96. 321 Arnold Gehlen, Philosophische Schriften I (1925–1933), hg. v. Lothar Samson, Frankfurt a. M. 1978 (= Gesamtausgabe Band 1), S. 219. Vgl. auch die verwandten Äußerungen S. 180 f., ferner S. 218, 227 und – die Konsequenzen für eine Ethik betreffend – S. 370 f. 322 Friedrich Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988 (2. durchges. Aufl.), S. 641–752, hier 664. 323 Vgl. Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, hg. v. Maria Scheler, Bern/München 1980 (3. Aufl.) (= Gesammelte Werke Bd. 8), S. 123;

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ders., Schriften aus dem Nachlaß III: Philosophische Anthropologie, hg. v. Manfred S. Frings, Bonn 1987 (= Gesammelte Werke Bd. 12), S. 207. 324 Vgl. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1932, S. 63 ff. 325 Hermann Bahr, Inventur, Berlin 1912, S. 29 f., vgl. 100 f.: »Uns ist es eigen, mehr in der Zukunft zu leben als in der Gegenwart. Dieser trauen wir wenig zu, wir haben sie fast aufgegeben.« 326 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), in: ders., Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Fünfter Band, Berlin 1891, S. 475–593, hier 509, 527. 327 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Theodor Schieder u. Helmut Berding, München 1971, S. 60. 328 Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. v. Georg Misch, Leipzig/Berlin 1924 (= Gesammelte Schriften, V. Band), S. 219. – Ähnlich spricht sich auch Martin Buber gegen jede Mediatisierung im Lebenslauf aus. Vgl. Martin Buber, Zwiesprache, in: ders., Das dialogische Prinzip, Gerlingen 1992 (6., durchges. Aufl.), S. 137–196, hier 184: »Auch kann kein Augenblick, wenn er sich über sein Verhältnis zur Wirklichkeit auszuweisen hat, sich auf irgendwelche späteren, künftigen berufen, um deren willen, sie zu mästen, er so armselig geblieben sei: ›Kommende Sternengeschicke / rechtfertigen nicht, daß es nicht war, / alle Augenblicke / sind reichsunmittelbar.‹« 329 Vgl. zur Logik des sozialen Projekts beispielhaft die Rekonstruktion in der Biographie eines Adepten: »Wo aber die Strategien sich verselbständigen, wo der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt jede Kalkulation aufhebt und sich nur noch zu einem Kontinuum sinnloser Leiden verdichtet, da kann inmitten der Barbarei ein Zweck als Heil aufscheinen, der unbegreiflich grausame Mittel als ein notwendiges, ein die Not abwendendes Übel zu deuten verspricht« (Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 208) – der Autor versucht hier, die Motivation für Lenins Handeln darzustellen. – Zur Langzeit-Perspektive des biologischen Projekts vgl. Gottfried Benn, Züchtung I (1933), in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Band 3: Essays und Aufsätze, S. 776–784, hier 776: »Wer lange herrschen will, muß weit züchten.« 330 Vgl. dazu z. B. Martin Heidegger, Der deutsche Student als Arbeiter (1933), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 2000 (= Gesamtausgabe Bd. 16), S. 198– 208, hier 200: »[…] Geschichte ›haben‹ bedeutet noch nicht geschichtlich sein; denn dieses besagt: als Volk wissen, daß Geschichte nicht das Vergangene ist, und erst recht nicht das Gegenwärtige, sondern das aus herandrängender Zukunft die Gegenwart durchgreifende Handeln und Tragen. […] Ge-

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schichtlichsein heißt: wissend aus dem Vorgriff in das Kommende handeln, um so das Vergangene in seiner verpflichtenden Kraft zu befreien und in seiner sich wandelnden Größe zu bewahren.« 331 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1936). Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 2003, S. 79. 332 Vgl. z. B. Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (= Freiburger Vorlesung Wintersemester 1934/35), hg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1980 (= Gesamtausgabe Bd. 39), S. 220: Hölderlin hat »eine einzigartige geschichtliche Stellung und Sendung. […] Er ist der Dichter der Deutschen. […] Dichter der Deutschen nicht als genitivus subiectivus, sondern als genitivus obiectivus: der Dichter, der die Deutschen erst dichtet […] Stifter des deutschen Seyns, weil er dieses am weitesten entworfen, d. h. in die weiteste Zukunft hinaus- und vorausgeworfen hat.« 333 Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur (1931), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Band V: Macht und menschliche Natur, Frankfurt a. M. 1981, S. 135–234, hier 166. 334 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1970 (Werke Band 12), S. 35. 335 Bernard-Henri Lévy, Die Barbarei mit menschlichem Gesicht, übers. v. Hans-Ulrich Laukat u. Martin Pfeiffer, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 56. 336 Stephen Spender, in: Ein Gott der keiner war. Mit einem Vorwort von Richard Crossman und einem Nachwort von Franz Borkenau, Köln 1952, S. 211–250, hier 216. 337 Mit Ausnahme der eigenartigen Vertreter einer »unheimlichen Welt absoluter Selbstlosigkeit« (Hannah Arendt). Vgl. Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, S. 154–170 (vor allem 160–163). 338 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften Band 4), hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1980, S. 43. 339 Thomas Mann, Der Zauberberg. Erster Band, Berlin 1925 (= Gesammelte Werke), S. 404. 340 Hermann Schmitz, Nihilismus als Schicksal?, Bonn 1972, S. 35. 341 Schmitz, Nihilismus als Schicksal?, S. 35, vgl. 13 ff. 342 Hermann Schmitz, Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 27; vgl. ders., Nihilismus als Schicksal, S. 14 f., 36. 343 Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Band 25, Stuttgart und Tübingen 1829, S. 217 (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, II, 8). 344 Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in:

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ders., Schriften, Band 2, hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M. 1988, S. 637– 760, hier 699. 345 Heinrich Rickert, Vom System der Werte, in: Logos 4 (1913), S. 295–327, hier 314. 346 Rickert, Vom System der Werte, S. 315. »Das alles erfüllt ganz den lebendigen Moment, das bedarf keiner Einordnung in eine Reihe um bedeutsam zu werden, und gerade darin steckt ein großer Teil vom Sinn unseres persönlichen, aktiven, sozialen Daseins.« 347 Rickert, Vom System der Werte, S. 316. 348 Vgl. Jürgen Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 132–137, hier 134. 349 Hans Thomae, Über philosophische und psychologische Anthropologie. Bemerkungen zu dem Buch von Arnold Gehlen »Der Mensch«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 61 (1941), S. 274–300, hier 299. 350 Erwin Straus, Die Formen des Räumlichen, in: Der Nervenarzt 3 (1930), S. 633–656, hier 655; hier zit. n. Schmitz, Nihilismus als Schicksal?, S. 16. 351 Otto Friedrich Bollnow, Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus, Stuttgart/Köln 1955, S. 96. 352 Vgl. dazu Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 26 f. sowie ders., Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, hg. v. Hermann Gausebeck u. Gerhard Risch, Paderborn 1992 (2. Aufl.), S. 101 f. Zum Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum vgl. Hermann Schmitz, Das Göttliche und der Raum (System der Philosophie III/4), Bonn 1977, §§ 217–219. 353 Hermann Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart (System der Philosophie V), Bonn 1980, S. 194, vgl. 217. 354 Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 699. 355 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2001, S. 992; vgl. § 650: »Wir sagen, der Hund fürchtet, sein Herr werde ihn schlagen; aber nicht: er fürchte, sein Herr werde ihn morgen schlagen. Warum nicht?« 356 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (= Werke in fünf Bänden, Bd. II), S. 72. 357 Auf diese Formulierung seines Lehrers bezieht sich Schadewaldts späteres Bekenntnis, seine Studien hätten ihn zu seiner eigenen Verwunderung dahin geführt, »daß jener andere, wie man gesagt hat, ›nur vulgäre‹ Begriff des Menschlichen als des ›nur Humanitären‹ doch die eigentliche tragende Grundlage unserer Vorstellungen vom Menschen ist und sein muß« (Wolfgang Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Pfullingen 1965, S. 10). 358 Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Erster

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Band, Berlin/Leipzig 1936 (2. Aufl.), S. 13 f. – Ähnlich der Theologe Emil Brunner: »Humanität ist nicht Glaube an die menschliche Wirklichkeit, sondern an die Idee des Menschen, […] Unterwerfung des Gegebenen unter die Zucht, die form- und sinngebende Herrentat des Geistes. Diese Gesetzgebung, diese Grenzsetzung also ist es, was den Geist zum Geist, den Menschen zum Menschen macht« (Emil Brunner, Die Grenzen der Humanität [1922], in: Jürgen Moltmann [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, München 1962, S. 259–279, hier 260). 359 Vgl. Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 11: »Die Vernunft ist unentbehrlich als kritische Instanz und als Werkzeug der Organisation von Mitteln im Dienst gesetzter Zwecke, aber sie versagt und läuft leer, wenn sie autonom Zwecke setzen soll. Diese Hilflosigkeit konnte so lange verborgen bleiben, wie der Zweck in der vernünftigen Organisation selbst bestand, nämlich im Erringen und Behaupten der Kontrolle über die eigenen unwillkürlichen Regungen […]. Nicht mehr drohende Übermacht der Leidenschaften, sondern die Störung des Ergriffenwerdenkönnens und ihre krampfhafte Kompensation ist die Aporie der modernen Kultur.« – Vgl. dazu auch: Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 286 ff. 360 Vgl. Walter Rathenau, Zur Mechanik des Geistes, Berlin 1913 (3. Aufl.), S. 322 f. Charakteristisch ist die Einleitungspassage: »An diese Zurückgebliebenen ihrer Zeit werden unsere Nachkommen sich erinnert fühlen, wenn sie aus alten Berichten unsere Lebenslage und Denkweise ermitteln.« – Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Steffen Kluck. Vgl. auch oben IV.4. 361 Harald Welzer, Perspektiven der Überflußgesellschaft. Deutschlandfunk, Reihe »Wegmarken 2010: Wohlstand ohne Wachstum«, Teil 1, hier nach: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1095078/. – Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Daniel Witt. 362 »Wer wir auch sind, was wir auch tun, in hundert oder tausend Jahren wird es vergessen sein. Sollten wir aus dieser Tatsache nicht die Konsequenzen ziehen? […] Es wäre zweifellos unangenehm, wenn alle Lebenssituationen für alle Zukunft unvergessen blieben. Bedeutet es uns nicht eine fast unfaßbare Freiheit, wenn wir denken können: Morgen – morgen ist das alles vergessen? Ich will damit nicht zur Verantwortungslosigkeit aufrufen. Aber wir brauchen uns um uns selbst keine Sorgen zu machen. Wir brauchen nicht an unseren Nachruf zu denken. Davon sind wir befreit. Wir können hier und jetzt leben« (Jostein Gaarder, Der seltene Vogel. Erzählungen, übers. v. Gabriele Haefs, München 1997, S. 209). – Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Christian Klager. 363 Schlagertext von 1982, Verfasser: Michael Kunze. 364 Gy. (= Beat Gygi), Kurzfristigkeit als Kurzsichtigkeit, in: Neue Zürcher Zeitung v. 24./25. Dezember 2005, S. 9. 365 Für die Geschichte der Zeithorizonterweiterung in die Zukunft hinein

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sehr instruktiv: Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. ansonsten auch hier: Wendorff, Zeit und Kultur (z. B. S. 255 f.). 366 Vgl. aus der Perspektive eines zeitgenössischen philosophischen Kritikers: Helmut Kuhn, Jugend im Aufbruch. Zur revolutionären Bewegung unserer Zeit, München 1970, S. 113 (über die Futurisierung von Demokratie, Philosophie und Theologie), 199 (über die Verneinung des Gegenwärtigen im Namen des Zukünftigen), 201 (über die mit Futurität geladene Zeitstimmung). – Zum Abschied vom utopischen Denken Ende der siebziger Jahre vgl. z. B.: Hilde Spiel, Ohne Traum und Hoffnung? Abschied von Utopia. Das Salzburger Humanismusgespräch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Oktober 1978; Volker Hage, Schlechte Zeiten für die Zukunft. Zur Diskussion über den Utopieverlust unserer Kultur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. Oktober 1980; Sibylle Wirsing, Tod der Hoffnung? Ein Berliner Gespräch: Über den Rückzug auf die Gegenwart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. November 1980. 367 Vgl. zur Geschichte des ökologischen Gedankens: Michael Großheim, Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995. 368 Vgl. Robert Spaemann, Nach uns die Kernschmelze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Oktober 2008, S. 33. 369 Dieter Thomä, Radikalität hat Zukunft, in: Forschung und Lehre 17 (2010), S. 1. Vgl. auch Dieter Thomä, Gegenwartsversessenheit. Versuch über eine folgenreiche Zeitkrankheit, in: Neue Zürcher Zeitung v. 9. Mai 2011. 370 Norbert Walter, Nachhaltigkeit und Finanzwirtschaft, in: unw-Nachrichten 16 (2008), S. 5–10, hier 5. 371 Vgl. Wilhelm Perpeet, Zur Wortbedeutung von »Kultur«, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M. 1984, S. 21–28, hier 21 f. 372 Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Architektur und Sculptur. Hg. von Bernd Roeck u. a. München/Basel 2001 (= Jacob Burckhardt, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung, Basel, Bd. 2), S. 41. 373 Vgl. Jakob von Uexküll, Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Tieren, Hamburg 1956, S. 83. Vgl. zur philosophischen Bedeutung dieses Bonmots: Hermann Schmitz, Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 6, 18 f. 374 Vgl. Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1988, S. 32–37. 375 Vgl. Manfred Fuhrmann, Bildung. Europas kulturelle Identität, Stuttgart 2002, S. 110: »Unsere Zeit ist offenbar so narzisshaft, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie all das, was in vielen Jahrhunderten, in anderen kulturellen Zusammenhängen und in anderen Epochen, von den klügsten Köpfen

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ihrer Zeit gedacht und geschrieben worden ist, nicht erst einmal bei sich selbst belassen und um seiner selbst willen betrachten kann, dass sie vielmehr schon im ersten Zugriff nach dem Nutzen fragen zu müssen glaubt, der für sie dabei herausspringt.« 376 Wolf Lepenies, »Die Erde gehört den Lebenden«. Schwieriges Zeitregiment in der Demokratie: Europa muss wieder lernen, in langfristigen Prozessen zu denken, in: Die Welt v. 25. März 2010. 377 Manfred G. Schmidt, Demokratische und autokratische Regimeeffekte in Deutschlands Sozialpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 56 (2006), S. 149– 164, hier 157. 378 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. v. Jacob P. Mayer, übers. v. Hans Zbinden, München 1976, S. 258. 379 Schmidt, Demokratische und autokratische Regimeeffekte, S. 161. 380 Jared Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, übers. v. Sebastian Vogel, Frankfurt a. M. 2005 (6. Aufl.), S. 644. Der Autor bezieht sich hier auf folgende Stelle zurück (S. 536): »Auch Regierungen handeln immer wieder aus einer kurzfristigen Perspektive heraus: Sie fühlen sich durch bevorstehende Katastrophen überfordert und widmen ihre Aufmerksamkeit ausschließlich den Problemen, die unmittelbar vor der Explosion stehen. So erzählte mir beispielsweise ein Bekannter, der enge Verbindungen zur derzeitigen Bundesregierung in Washington hat, was er in der Hauptstadt erlebte, als er im Jahr 2000 kurz nach den Wahlen zum ersten Mal wieder in das Zentrum der Macht kam: Die neue Regierung hatte sich einen ›90-Tage-Horizont‹ gesetzt. Sie erörterte nur Probleme, die das Potenzial hatten, innerhalb der nächsten 90 Tage zur Katastrophe zu führen.« 381 Vgl. Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, S. 262. Wenn aber langfristige Ziele, wie Birnbacher hier ausführt, den Wählern durchaus vermittelbar sind – so daß es eben keine prinzipielle Unvereinbarkeit von Demokratie und effektiver Zukunftsvorsorge gibt –, dann stellt sich wiederum die Frage, weshalb die Politiker dies denn nicht tun. 382 Vgl. Diamond, Kollaps, S. 645: »Als die Gesellschaften früherer Zeiten vor der Aussicht auf eine katastrophale Waldzerstörung standen, ließen sich die Häuptlinge der Osterinsel und Mangareva von ihren kurzfristigen Sorgen leiten, die shoguns der Tokugawazeit, die Inkakaiser, die Hochlandbewohner Neuguineas und die deutschen Grundbesitzer des 16. Jahrhunderts dagegen dachten langfristiger und forsteten auf.« 383 Hier recht optimistisch: Otfried Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, München 2009. 384 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (= Werke in fünf Bänden, Bd. II), S. 166. – Natürlich glaubt Schopenhauer nicht an die Möglichkeit einer kulturellen Veränderung dieses Zustands.

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Anmerkungen

Edward C. Banfield, The Unheavenly City Revisited, Boston/Toronto 1974, S. XI (aus dem Vorwort zur Erstauflage). Ich ziehe diese Version vor, weil sie auf die Kritik an »The Unheavenly City« reagiert. 386 Banfield, The Unheavenly City Revisited, S. 54, vgl. auch die weitere Charakterisierung S. 61 f. Vgl. zur Rolle der Zeithorizont-Theorie und zum Klassenbegriff die detaillierten Angaben S. 56. 387 Vgl. zum Folgenden Banfield, The Unheavenly City Revisited, S. 57 ff. 388 Banfield, The Unheavenly City Revisited, S. 57. 389 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften, hg. v. Erich Weniger. Erster Band: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, Düsseldorf/München 1957, S. 46. – Den Hinweis auf Schleiermacher verdanke ich meiner Kollegin Martina Kumlehn. 390 Vgl. die detaillierten Überlegungen in: Martina Kumlehn, Religionspädagogik: Alter antizipieren? Herausforderungen für religiöse Bildungsprozesse im Religionsunterricht, in: Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin/New York 2009, S. 497–518. 391 Horst W. Opaschowski/Ulrich Reinhardt, Altersträume. Illusion und Wirklichkeit, Darmstadt 2007, S. 30. 392 Vgl. z. B. Klaus Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament? (1955), in: ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1, hg. v. Bernd Janowski u. Martin Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, S. 65–103. – Georg Freuling, »Wer eine Grube gräbt …« Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, Neukirchen-Vluyn 2004. 393 Johann Hinrich Claussen, Meditation über Lukas 10, 20. Das Glück der Bibel, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit, Heft 1/2005, S. 91. 394 Vgl. Gen 41, 29–40; Mt 25, 1–13. 395 Der Ausdruck »time preference« stammt wohl von dem amerikanischen Ökonomen Frank Fetter. Vgl. Frank Fetter, Economic Principles, 2 vols., New York 1915. Eine gute Einführung bietet: Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, Kap. 2.: Zukunftsbewertung. Klassische Texte zum Thema sind: Eugen von Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins. Zweite Abtheilung: Positive Theorie des Kapitales, Innsbruck 1889, S. 248–299; Ludwig von Mises, Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940), Nachdruck München 1980, S. 434–449. Aus der neueren Literatur vgl. Ulrich Hampicke, Neoklassik und Zeitpräferenz – der Diskontierungsnebel, in: Frank Beckenbach (Hg.), Die ökologische Herausforderung für die ökonomische Theorie, Marburg 1992, S. 127–149. 396 Gy. (= Beat Gygi), Kurzfristigkeit als Kurzsichtigkeit, in: Neue Zürcher Zeitung v. 24./25. Dezember 2005, S. 9. 397 Vgl. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, S. 253, 257, 266 f. 398 Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 441. Vgl. oben II.1. 385

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Anmerkungen

Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 380. – Es ist hier nicht möglich, auf die außerordentlich intensive soziologische Diskussion der letzten Jahre zum Thema »Identität« in der (Post-)Moderne angemessen einzugehen. Um an dieser Stelle das eigentliche Thema, die Zeithorizonterziehung als aktuelle Aufgabe der Kultur, nicht aus den Augen zu verlieren, sollen nur einige Kontrapunkte zu einem gelegentlich auftretenden soziologischen Fatalismus gesetzt werden. 400 Rosa, Beschleunigung, S. 383. 401 Rosa, Beschleunigung, S. 384 f. 402 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, übers. v. Martin Richter, Berlin 2000 (8. Aufl.), S. 31. 403 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 11. 404 Vgl. Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 117 f. 405 Ein ausführlicher Vergleich findet sich in: Christoph Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998. 406 Jonas Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. Ein philosophischer Versuch, Leipzig 1914, S. 163. 407 Vgl. Emile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/03, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt a. M. 1984, S. 174 f. 408 Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur, S. 164. 409 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1927 (= Gesammelte Schriften Bd. VII), S. 233. 410 Vgl. Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie, S. 111–121, vor allem 115–119. 399

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Literatur

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