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German Pages [308] Year 2014
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Begründet von Rudolf W. Keck Herausgegeben von Meike Sophia Baader, Rudolf W. Keck, Elke Kleinau und Karin Priem Wissenschaftlicher Beirat Marc Depaepe, Johanna Gehmacher, Franziska Loetz, Toni Tholen, Daniel Tröhler, Meike W. Werner Band 46
Wolfgang Gippert Elke Kleinau
Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen Auslandserfahrungen deutscher Lehrerinnen zwischen nationaler und internationaler Orientierung (1850–1920)
2014
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: In der Mädchenschule. Nach einem Gemälde von Noé Bordignon. (Photogravüre-Verlag von Rich. Paulussen in Wien.), Pictura Paedagogica Online, Stiftung Universität Heidelberg.
© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22248-2
Vorwort
Der vorliegende Band Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen. Auslandserfahrungen deutscher Lehrerinnen zwischen nationaler und internationaler Orientierung (18501920) dokumentiert die Ergebnisse eines vom Rektorat der Universität zu Köln und der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, das im Zeitraum von 2004 bis 2008 am Forschungs- und Lehrbereich für Historische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Gender History von uns durchgeführt wurde. Zwischenergebnisse und unterschiedliche thematische Perspektiven sind während des Projektverlaufs auf mehreren Tagungen präsentiert, diskutiert sowie in verschiedenen Fachzeitschriften und Sammelbänden publiziert worden. Diese verstreuten Resultate im Rahmen einer Gesamtschau zu bündeln, mit bislang unveröffentlichten Texten zu ergänzen und sie in aktuellen bildungs- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen und -tendenzen zu verorten, ist das Anliegen dieser Publikation. Zur Orientierung sind Hinweise zu den Erstveröffentlichungsorten am Beginn der einzelnen Kapitel vermerkt. In der Bibliografie am Ende des Bandes sind u.a. jene autobiografischen Zeugnisse von Lehrerinnen und Erzieherinnen aufgeführt, die wir über mehrere Jahre hinweg zusammengetragen haben – auch wenn sie nicht Gegenstand der hier präsentierten Analysen sind. Ebenso kann die Zusammenstellung der gedruckten zeitgenössischen Quellen weitere biografisch orientierte Forschungen anregen. Viele Personen haben das Projekt auf unterschiedliche Art und Weise konstruktiv begleitet und aktiv unterstützt: die studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräfte des Forschungs- und Lehrbereichs, Kolleginnen und Kollegen des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften und nicht zuletzt jene Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Fachtagungen, die unsere Teilergebnisse kritisch diskutiert haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. An herausragender Stelle hat sich Petra Götte als erste kritische Leserin und Kommentatorin um das Projekt verdient gemacht. Ihr gebührt unser besonderer Dank ebenso sehr wie Karla Verlinden für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage.
Köln, im August 2013
Elke Kleinau und Wolfgang Gippert
Inhalt
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung .................................................................................................. 11 Zur Konstruktion nationaler Identitäten ............................................. 13 Das Konzept des Kulturtransfers ......................................................... 21 Interdependenzen von Differenzkategorien in Reisetexten ............. 25 Methodische Reflexionen zur Erschließung autobiografischer Zeugnisse .................................................................................................. 33
2.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ............................................................. 43 Anfänge der institutionalisierten Lehrerinnenbildung ....................... 43 Professionalisierungsstrategien der Mädchenschullehrer .................. 45 Lehrerin – lebenslang ausgeübter Beruf oder Statuspassage?........... 47 Professionalisierungsstrategien von Lehrerinnen ............................... 50 Einführung der Oberlehrerinnenprüfung ............................................ 53 Die preußische Mädchenschulreform von 1908: Zulassung zum Abitur und zum akademischen Lehramt ............................................. 54 Berufsperspektiven von Lehrerinnen – das Ausland als Chance ..... 59
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
DEUTSCHE LEHRERINNEN IM EUROPÄISCHEN AUSLAND: NATIONALE SELBSTBEHAUPTUNG UND KULTURTRANSFER................................................ 63 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Deutsche Lehrerinnen in England ........................................................ 65 Zur deutsch-britischen Perzeptionsforschung .................................... 65 Deutsche Migrantinnen und Migranten in England .......................... 70 Der Verein Deutscher Lehrerinnen in England ................................. 77 Konstruktionen nationaler Identität in autobiografischen Zeugnissen ................................................................................................ 83 Das Ausland als Chance und Modell .................................................... 89 Resümee .................................................................................................... 97
8
4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Inhalt
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich ................................................. 101 Zum deutsch-französischen Kulturtransfer ..................................... 101 Deutsche Migrantinnen und Migranten in Paris .............................. 105 Deutsche Lehrerinnen in Paris 1880 bis 1914: Netzwerke und Fortbildung .................................................................................... 110 Kulturelle Selbstvergewisserung in der ‚Fremde‘ ............................. 117 Ambivalenter Kulturtransfer: Das Beispiel Käthe Schirmacher ... 122 Resümee ................................................................................................. 129 Exkurs: Käthe Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung............................................................. 133 Kulturimperialistisches Denken und die ‚Notwendigkeit‘ einer nationalen Erziehung ........................................................................... 135 Zur Nationalisierung der häuslichen und schulischen Mädchenerziehung................................................................................ 138 Frauendienstjahr – Frauendienstpflicht ............................................ 140 ‚Völkische Frauenpflichten‘ in Familie und Gesellschaft ............... 142 Resümee ................................................................................................. 145
DEUTSCHE LEHRERINNEN IM AUßEREUROPÄISCHEN AUSLAND: SELBSTUND FREMDKONSTRUKTIONEN ZWISCHEN NATIONALISMUS, RASSISMUS UND EXOTISMUS ................................................................................................. 147 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Bertha Buchwald: Kulturtransfer oder allein unter ‚Fremden‘? Eine deutsche Lehrerin in Dänemark und in Chile......................... 149 Soziale Herkunft und beruflicher Werdegang .................................. 150 Zwischen deutschem und dänischem Nationalismus – als Erzieherin in Nord-Schleswig ....................................................... 153 Auf dem Weg in die ‚neue Welt‘......................................................... 155 Als Erzieherin in Chile ......................................................................... 158 Zwei Klassen von Chilenen: Indigene und Kreolen, Arme und Reiche .................................................................................. 162 Resümee ................................................................................................. 169
Inhalt
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 9.
9
Auguste Mues: „Man könnte vergessen, daß man nicht in England ist.“ Reise einer deutschen Erzieherin durch das Britische Empire ....................................................................................171 Soziale Herkunft und beruflicher Werdegang ...................................171 Als Erzieherin in englischen Familien: Kulturelle Differenzen und Kulturtransfer .................................................................................176 Vertraute Fremde – Überall ist England ............................................182 Das Fremde in der Fremde – Flora, Fauna, Indigene .....................185 Sozialer Stand, Nationalität, Ethnie ....................................................188 Resümee ..................................................................................................192 Ina von Binzer: „[…] da wird selbst die harmloseste Seele zum Socialpolitiker.“ Eine Lehrerin in Brasilien .......................................195 Biografisches und zur Wahl des Genres ............................................197 Deutscher Wald als Metapher für Heimat .........................................200 Soziale und nationale Alteritäten .........................................................205 ‚Rassische‘ Alteritäten ...........................................................................210 Geschlechtliche Alteritäten ..................................................................213 Resümee ..................................................................................................215
9.6 9.7 9.8 9.9 9.10
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen ..........................................................................217 Frauen und Kolonialismus: Zur Einführung ....................................217 Frauen in christlicher Mission .............................................................221 Bürgerlich-nationale Frauenverbände und die ‚koloniale Frauenfrage‘ ............................................................................................223 Koloniale Frauenbiografien .................................................................228 Lehrerinnen in Deutsch-Südwest: Helene von Falkenhausen und Clara Brockmann ...........................................................................231 Auswanderung als Kulturkritik ............................................................236 Südwestafrika – das ‚gelobte Land‘ für alleinstehende Frauen? .....239 Konstruktionen ‚weißer‘ und ‚schwarzer‘ Weiblichkeiten...............243 Völker ohne Kultur und Geschichte? ................................................249 Resümee ..................................................................................................253
10. 10.1 10.2
Ausblick ...................................................................................................257 Kulturtransferanalysen in der Historischen Bildungsforschung ....258 Offene Fragen und Perspektiven ........................................................263
11.
Bibliografie ..............................................................................................271
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
1.
Einleitung
Auslandsaufenthalte, überwiegend im benachbarten europäischen Ausland, aber auch in Afrika, Asien, Australien, Nord- und Südamerika, lassen sich in den Berufsbiografien vieler Lehrerinnen nachweisen. Im Rahmen des Forschungsprojektes Nation und Geschlecht. Konstruktionen nationaler Identität in Autobiografien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert1 haben wir autobiografische Zeugnisse von Lehrerinnen untersucht, die sich zeitweilig im Ausland aufhielten. Die Motive für diese Auslandsaufenthalte waren vielfältig. Das englisch- und französischsprachige Ausland wurde bevorzugt von Lehrerinnen bereist, die nach ihrer seminaristischen Ausbildung ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern wollten oder eine erste Anstellung suchten. Speziell auf diese Berufsgruppe hin ausgerichtete Netzwerke, bestehend aus Stellenvermittlungen, Lehrerinnenheimen, kirchlichen Anlaufstellen, Pensionen und Sprachkursen, unterstützten die in der Regel allein reisenden jungen Frauen. Im Ausland kamen die Lehrerinnen mit ihnen ‚fremden‘ Kulturen in Kontakt, und sie gewannen berufsbedingt weitreichende Einblicke in die ‚Fremde‘ – vor allem in fremdes Alltags- und Familienleben, aber auch in ausländische Erziehungs-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. In dem Forschungsprojekt haben wir autobiografische Zeugnisse von Lehrerinnen und Erzieherinnen2 untersucht, die rückblickend über ihre Auslandserfahrungen in Zeitungsartikeln, Reiseberichten, Vorträgen, Tagebüchern und Lebenserinnerungen berichteten. Die Thematisierung von ‚Fremdheit‘ war ein zentrales Thema in allen uns vorliegenden EgoDokumenten. Entsprechend der Erkenntnis, dass in der Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ der Blick auf ‚Eigenes‘ und ‚Vertrautes‘ gelenkt wird, lag dem Projekt einerseits die Arbeitshypothese zugrunde, dass die Auslands1
2
Zur Projektskizze vgl. Kleinau, Elke: In Europa und der Welt unterwegs. Konstruktionen nationaler Identität in Autobiographien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Lundt, Bea, Salewski, Michael (in Zusammenarbeit mit Heiner Timmermann) (Hrsg.): Frauen in Europa. Mythos und Realität, Münster 2005, S. 157-172. Bis 1900 waren die Ausbildungsgänge und die Berufsfelder von Lehrerinnen und Erzieherinnen noch nicht eindeutig voneinander getrennt (vgl. Lange, Helene: Erzieherin, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Hrsg. von Wilhelm Rein, Bd. II, Langensalza 1904, S. 543).
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Einleitung
aufenthalte gerade nicht – wie alltagspsychologisch gern angenommen – zu einem förderlichen Kulturaustausch, zu einem Abbau vorhandener Vorurteile und stereotyper Fremdeinschätzung führten. Vielmehr löste der Kontakt mit dem ‚Fremden‘ kulturelle Selbstvergewisserungsprozesse aus, stärkte patriotische Bewusstseinslagen und trug somit eher zu einer Festigung der nationalen Identität reisender Lehrerinnen bei. In einer Zeit, in der das nationale Sendungsbewusstsein in deutschen Schulen mit Sedanfeiern und Kaisergeburtstagen propagiert wurde,3 lag es nahe, das Selbstverständnis der Lehrerinnen dahingehend zu interpretieren, dass hier deutsche Frauen ‚deutschen‘ Geist‘ und ‚deutsches Wissen‘ einer als unter- bzw. fehlentwickelt gedachten Fremde zutrugen. Ob, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß Lehrerinnen zu den aktiven Trägerinnen nationaler Bewegungen gehörten, war bis dato noch nicht systematisch erforscht worden. Wir gingen davon aus, dass die Historische Bildungsforschung hier zweifellos einen mentalitätsgeschichtlichen Beitrag zu der Frage leisten kann, wie sich nationale Identitäten biografisch entwickeln. In dieser Lesart ist die Auseinandersetzung mit dem ‚Fremden‘ oft negativ konnotiert und läuft auf gegenseitige Abgrenzung und Ablehnung hinaus. Kulturbegegnungen können aber auch positive Effekte zeitigen. Vor allem bei Lehrerinnen, die das englisch- oder französischsprachige Ausland bereisten, stellten wir fest, dass sie sich die ‚fremde‘ Kultur aktiv aneigneten, durch Sprachkurse, Literaturstudien, Schulhospitationen, gesellige Konversation, Teilnahme am Alltagsgeschehen, Theater- und Museumsbesuche. Sie fungierten in mehrfacher Hinsicht als ‚Kulturvermittlerinnen‘, indem sie ausländische Kinder in deutscher Sprache unterrichteten oder pädagogische Ideen aus Deutschland ins Ausland zu transferieren suchten. Die ‚Kulturvermittlung‘ erfolgte aber auch Richtung Heimatland: In den Presseorganen der organisierten Lehrerinnen schrieben sie über (Fort-)Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen im Ausland, über innovative Ansätze im ausländischen Bildungswesen und unterstützten damit die bürgerliche Frauenbewegung in ihren Forderungen nach Reformen in der Mädchen- und Frauenbildung. Ein wesentliches Ziel der Auslandsstudien war es letztendlich, nach der Rückkehr in Deutschland Schülerinnen und Schüler in eine fremde Sprache und ‚Kultur‘ einzuführen. Aus diesen Kontexten heraus ging das Projekt neben der zunächst gestellten Frage, welche Bedeutung der Vorstellung von einem einheitlichen Nationalcharakter in den autobiografischen 3
Vgl. Lerch, Edith, Mühlbauer-Hülshoff, Renate: Aufwachsen zwischen Sedantag und 1. Mai. Politische Indoktrination von Kindern im Kaiserreich, in: Berg, Christa (Hrsg.): Kinderwelten, Frankfurt a.M. 1991, S. 155-186.
Einleitung
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Schriften zugemessen wurde, in einem weiteren Schritt der Frage nach, wie sich fremdkulturelle Aneignungs- und Vermittlungsprozesse auf der Folie nationalkultureller Vorstellungen und Prägungen vollziehen. Mit der Publikation unserer Forschungsergebnisse wollen wir dazu beitragen, die bis in die Gegenwart hineinreichenden, verengten Vorstellungen von in sich geschlossenen ‚Nationalkulturen‘ aufzubrechen und die Spuren des ‚Eigenen‘ im ‚Fremden‘ und des ‚Fremden‘ im ‚Eigenen‘ zu erkennen.
1.1
Zur Konstruktion nationaler Identitäten
Forschungen zum Nationalismus haben in Deutschland eine lange Tradition und ungebrochene Konjunktur. Ausgehend von dem Befund, dass nahezu alle europäischen Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg entstanden, ‚Kriegsgeburten‘ waren, und dass Fremdbilder, gesteigert bis zur Xenophobie, ein integraler Bestandteil von nation building und konstitutiv für ein nationales Eigenbewusstsein sind, widmen sich Studien seit den 1990er Jahren verstärkt der Konstruktion von nationalen Selbstund Fremdbildern.4 Dabei wird einerseits jener Mythen- und Symbolhaushalt erforscht, mit dem ‚Nationen‘ ihre Traditionsbildungen betrieben, ihre Existenzlegitimationen konstruierten und ‚Nationalbewusstsein‘, ‚Nationalgefühle‘ bzw. nationale Identitäten zu stiften versuchten.5 Andererseits gilt das Interesse den stereotypen Fremdbildern vom jeweils ‚Anderen‘, die in Abgrenzung zum vermeintlich eigenen ‚Nationalcharakter‘ erfunden und mit Modifikationen über Epochen hinweg tradiert wurden.6 Lange Zeit orien4 5
6
Vgl. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 49. Vgl. u.a. Berding, Helmut (Hrsg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a.M. 1996; Link, Jürgen, Wülfing, Wulf (Hrsg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991; Tacke, Charlotte: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995; Wülfing, Wulf, Bruns, Karin, Parr, Rolf: Historische Mythologie der Deutschen 1789-1918, München 1991; François, Etienne, Siegrist, Hannes, Vogel, Jakob (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich: 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995; Rausch, Helke: Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848-1914, München 2005; Thadden, Rudolf von: Aufbau nationaler Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Giesen, Bernhard (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 493-510. Vgl. u.a. Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001; Jeismann, Michael: Das
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Einleitung
tierte sich die historische Komparatistik am klassischen Paradigma der Vorstellung unterschiedlicher ‚Nationalkulturen‘, die einander gegenüberstünden, je nach Konjunktur Impulse gäben oder Einflüsse empfingen, sich voneinander abgrenzten, konflikthaft begegneten und eigene Identität im direkten Vergleich mit dem Nachbarn ausbildeten. In Anlehnung an konstruktivistische Theorieansätze, wie z.B. Benedict Andersons Interpretation der Nationen als ‚imaginierte Gemeinschaften‘,7 gingen wir davon aus, dass die Nation bzw. das Nationalgefühl interaktiv erzeugt wird und durch den Glauben und die Vorstellung eines Gemeinschaftsgefühls der beteiligten Individuen zum Leben erweckt und am Leben erhalten wird. Nationale Gesellschaften definieren sich immer durch den Bezug auf eine gemeinsame Geschichte, die jedoch nicht als historisch vorgegebene Größe, als Konglomerat unumstößlich historischer Fakten vorhanden ist, sondern durch Kräfte der Gegenwart konstruiert, benutzt, beschworen, kreiert, wieder erinnert oder vergessen wird. Erinnern und vergessen erscheinen dabei nicht als Gegensätze, sondern als zwei Seiten einer Medaille. In der Erinnerung bleibt die Sichtweise derer, die sich historisch durchgesetzt haben, während die Sichtweise der Anderen einer – eventuell nur zeitweisen – kollektiven Amnesie zum Opfer fällt. An der Aufrechterhaltung der Erinnerung wird permanent gearbeitet. Durch die Einführung nationaler Feiertage mit entsprechenden Festakten werden erfolgreich Traditionen und Identitäten konstruiert, die eine neu entstandene Nation vergessen lassen, wie jung sie doch eigentlich ist. In diesem Sinne knüpft Andersons imaginierte Nation an den älteren Begriff der invented tradition an,8 wobei erfundene Traditionen in Form von historischen Versatzstücken an bestimmte ‚brauchbare‘ Konstruktionen der Vergangenheit anknüpfen müssen, um sich erfolgreich durchsetzen zu können.9 Selbst Revolutionen oder soziale Bewegungen, die explizit mit der Vergangenheit brechen, haben „ihre eigene relevante Vergangenheit“.10 Der Bezug auf die Geschichte ist ge-
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Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2. Aufl., Frankfurt a.M., New York [1983] 1993. Vgl. Hobsbawn, Eric, Ranger, Terence (Ed.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Vgl. Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit, Köln, Weimar, Wien 1997, S. 127-187. Hobsbawn, Eric: Das Erfinden von Traditionen, in: Conrad, Christoph, Kessel, Martina (Hrsg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 98.
Einleitung
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kennzeichnet durch eine „fiktive Kontinuität“, d.h., es handelt sich um „Antworten auf neue Situationen, die die Gestalt eines Bezugs auf alte Situationen annehmen oder sich mittels einer quasi obligatorischen Wiederholung ihre eigene Vergangenheit schaffen“.11 Fälle, in denen durch Fälschungen eine weit zurückreichende Vergangenheit jenseits tatsächlicher historischer Kontinuitäten produziert wird, kommen zwar vor, sind aber ausgesprochen selten. Der wie auch immer geartete Bezug auf die Vergangenheit hat die Funktion den nationalen Diskurs zu konstituieren, zu legitimieren und zu disziplinieren. Konstruktivistische Interpretationen von Nationalismus haben zunächst ausschließlich den integrativen Charakter des Konzepts betont. Erst durch massive Kritik, u.a. aus den postcolonial studies,12 rückte die Janusköpfigkeit von Nation und Nationalismus ins Bewusstsein: Integration nach innen, Abgrenzung bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung nach außen. Aber auch innerhalb des von der Nation beanspruchten Territoriums existieren gewaltförmige Verhältnisse, die all jene bis hin zur Verfolgung und Vernichtung bedrohen, die als Nationsfremde eingestuft werden. Das im Nationalismus verhärtete Verhältnis von Selbst- und Fremdbild spielt bei der Konstruktion nationaler Identitäten eine entscheidende Rolle. Nationalistische Argumentationen verfügen bis heute über eine enorme emotionale Ausstrahlungskraft, auf die soziale Bewegungen und politische Parteien immer wieder zurückgreifen,13 trotz der verheerenden Folgen, die sie häufig für die äußeren Beziehungen von Nationalstaaten, die Behandlung von politischen Minderheiten und die Gewährung bzw. Verweigerung demokratischer Rechte im Inneren haben. Auch die geschlechterspezifischen Implikationen der Nationenbildung wurden lange ignoriert. Seit Mitte der 1990er Jahre lassen sich in Deutschland vermehrt Aktivitäten hinsichtlich einer genderorientierten Nationalismusforschung ausmachen. Angela Koch hat überzeugend herausgearbeitet, dass konstruktivistische Ansätze die Vorstellungen einer mit Männlichkeit verbundenen Nation nicht selten unreflektiert reproduzieren und kolportie-
11 12
13
Ebd. Vgl. Conrad, Sebastian, Randeria, Shalini: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M., New York 2002, S. 9-49. Vgl. z.B. die Programme und Verlautbarungen nationalistischer Parteien in Europa, wie z.B. der Wahren Finnen, der Schweden-Demokraten oder der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) etc.
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Einleitung
ren.14 Ute Planert zufolge war das ‚Projekt Nation‘ von Anfang an geschlechterspezifisch ausgerichtet. Männer und Frauen wurden unterschiedliche Räume und Identitäten zugewiesen, die sich funktional ergänzten. Von einem Ausschluss der Frauen aus der Nation, wie es die ältere Forschung noch annahm, könne deshalb keine Rede sein.15 Nation und Geschlecht haben in ihrer gegenseitigen Verschränkung ein neues und ertragreiches interdisziplinäres Forschungsfeld hervorgebracht. Als inhaltliche Schwerpunkte können die Beteiligung von Frauen an nationalen Bewegungen, die diskursive Konstruktion und Verschränkung der Kategorien ‚Nation‘ und ‚Geschlecht‘, nationale Symbole und Repräsentationen, die Entstehung eines nationalen Bewusstseins in den heterogenen Ländern des Deutschen Reiches sowie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Erinnerung benannt werden. Drei Aufgabenbereiche stehen im Fokus weiterführender Untersuchungen: Erstens müssen ‚neue‘, bisher unbeachtet gebliebene historische Akteurinnen und Akteure in den Blick genommen werden – differenziert nach Regionen, Konfessionen, Berufsgruppen, sozialen Schichten und Milieus. Zweitens muss nach noch unbekannten ‚verdeckten‘ Orten geschlechterspezifischer Nationalisierung gesucht werden. Gerade in den vermeintlich unpolitischen ‚privaten‘ Lebenswelten lassen sich ‚nationale Orte‘ aufspüren bzw. Versuche nationaler Mobilisierung im Hinblick auf ihre gender meanings nachzeichnen. Auch das Reisen, durch das immer mehr Frauen und Männer mit ihnen fremden Formen von Kultur in Berührung kamen, könnte weiteren Aufschluss in der Frage nach dem Inhalt und den Symbolen weiblicher und männlicher nationaler Identität geben.16 Drittens müssen bisher ungenutzte Quellenbestände erschlossen werden, die Rückschlüsse auf die Konstitution des Subjekts, auf den Konstruktionsprozess bzw. die Verschränkung von nationaler und geschlechtlicher Identitätsbildung zulassen. Die Analyse von Selbstzeugnissen in Form von Reise- und Erfahrungsberichten, Briefen, Tagebüchern und
14 15
16
Vgl. Koch, Angela: DruckBilder. Stereotype und Geschlechtercodes in den antipolnischen Diskursen der „Gartenlaube“ (1870-1930), Köln, Weimar, Wien 2002. Vgl. Planert, Ute: Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S. 19f. Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard, Tacke, Charlotte: Die Kultur des Nationalen. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des europäischen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig, Wolfgang, Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 282.
Einleitung
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Autobiografien verspricht in dieser Frage weiteren Erkenntnisgewinn. Im Schnittpunkt dieser drei Forschungsaufgaben war unser Projekt angesiedelt. Die Rolle von Lehrerinnen in nationalen Bewegungen ist – von bekannten Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wie Helene Lange und Gertrud Bäumer abgesehen17 – nahezu unerforscht, wie generell die Aufarbeitung der historischen Genese und Rezeption nationalistischer Argumentationsweisen in der Historischen Bildungsforschung als längst überfällig erscheint. Dieser Sachverhalt verwundert, war doch Lehrerinnen und Erzieherinnen als Bildungs- und Kulturvermittlerinnen im ausgehenden Kaiserreich eine tragende Rolle bei der Erziehung der heranwachsenden Generation und mithin bei einer nationalen, geschlechterspezifischen Identitätsstiftung zugedacht.18 Zweifelsohne stellt der Umgang mit dem ‚Fremden‘ eine große pädagogische Herausforderung auch unserer Zeit dar. Es ist erstaunlich, dass sich die Historische Bildungsforschung diesem Thema bisher nur zögerlich angenähert hat,19 obwohl neuere Identitätstheorien davon ausgehen, dass die Konstruktion von Identität immer durch Differenz, durch die Beziehung zum ‚Anderen‘ erfolgt: „Der Fremde ist der Gegenpol der eigenen Identität, er verkörpert den Widersinn, das Feindliche, das Böse, und bedroht das Selbstverständnis“.20 17 18
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Vgl. Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln, Weimar, Wien 2000. Während der nationale Einfluss der männlichen Sozialisationsinstanzen Militär, Burschenschaften und Turnvereine bereits häufiger beleuchtet wurde, steckt die Erforschung der Schule als ‚nationaler Ort‘ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch in den Anfängen (vgl. Planert: Vater Staat und Mutter Germania, S. 20) – zumal mit Blick auf das höhere Mädchenschulwesen. Erste Ansätze zur Erforschung der höheren Knabenschulen finden sich bei Grone, Carolyn: Mehr Schein als Sein? Nation und Männlichkeit an höheren Schulen des Kaiserreichs 1871-1914, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 5, Bad Heilbrunn 1999, S. 107-132; Dies.: Schulen der Nation? Nationale Bildung und Erziehung an höheren Schulen des Deutschen Kaiserreichs von 1871 bis 1914, Diss., Universität Bielefeld 2007; Richter, Anja: Inszenierte Bildung. Schulische Festkultur im 19. Jahrhundert, Jena 2010. Hans H. Karg stellte bereits 1989 mit harschen Worten fest: „Will die Pädagogik heute dort anknüpfen, wo sie in Bezug auf Fremdes und Fremdheit noch kaum hingelangen konnte, so muss sie sich schon anstrengen und Ideen aus ihren Bezugswissenschaften herholen, denn es gibt in ihrer historischen Tradition keinerlei Reflexion im Umgang mit dem Fremden.“ (zit. nach: Wierlacher, Alois: Kulturwissenschaftliche Xenologie. Ausgangslage, Leitbegriffe und Problemfelder, in: Ders. (Hrsg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München 1993, S. 41). Sandfuchs, Uwe: Zum Antagonismus von Kolonisation und Aufklärung sowie einige Folgen für den Fremden als Gegenstand der Wissenschaft, in: Lüth, Christoph u.a.
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Einleitung
‚Fremdheit‘ ist als Forschungsgegenstand in vielen Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Zugangsweisen beheimatet. Die Bandbreite der Publikationen reicht von Studien über Rassismus, Ethnozentrismus, Xenophobie, Stereotype und Vorurteile, über Arbeiten zu Migrations-, Flüchtlings-, Reise- und Tourismusforschung zu Untersuchungen über Außenseiter/innen, Minderheiten und Randgruppen bis hin zu jenen Arbeiten, die sich mit den ‚Imaginationen‘, den Vorstellungen über das ‚Fremde‘ im Kontext von Exotismus, Kolonialismus Orientalismus und Ozeanismus beschäftigen.21 Innerhalb der interdisziplinären Fremdheitsforschung stellen Fremdheitskonstruktionen ein besonders aufschlussreiches Untersuchungsfeld dar,22 basieren doch die erzeugten Bilder und Vorstellungen des ‚Fremden‘ meistens auf Stereotypen und Vorurteilen. Begegnungen mit Fremden können die verschiedenartigsten Resultate hervorbringen. Das Spektrum des möglichen Verhaltens und des Umgangs mit der ‚fremden‘ Kultur bzw. dem ‚Fremden‘ ist zwischen die Pole Exotismus auf der einen und Rassismus auf der anderen Seite gespannt, zwischen gegenseitigem Verständnis, Aneignung und Identifikation, Bestätigungen, Neuerungen und Umorientierungen, aber eben auch Abgrenzung und Ausgrenzung, Verachtung und Unterwerfung bis hin zur Vertreibung und Vernichtung. „Je geschlossener die Selbst- und Weltdeutungen und Sinnsysteme sind, desto weniger Raum lassen sie dem Fremden.“23 Damit ist allerdings noch nicht geklärt, was jeweils als fremd wahrgenommen und wie es erfahren wird. Schon der Versuch einer näheren inhaltlichen Bestimmung des ‚Fremden‘ oder ‚Fremdartigen‘ wirft erhebliche Probleme auf, kann das Fremde doch sächlich-objekthafter Natur sein, die Fremde auf eine geografische Ferne verweisen oder der/die Fremde Menschen als Außenseiter/innen und Nichtzugehörige stigmatisieren.24 Ob etwas als
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22
23 24
(Hrsg.): Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Studien zur Akkulturation in bildungshistorischer Sicht, Köln 1997, S. 17. Vgl. Wierlacher, Kulturwissenschaftliche Xenologie. Der Begriff des Ozeanismus entstand in Anlehnung, aber zugleich auch in Abgrenzung zum Begriff des Orientalismus (vgl. Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981; Dürbeck, Gabriele: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815-1914, Tübingen 2007). Als Fremdheitskonstruktionen bezeichnet Wierlacher „[…] intentionale gesteuerte Fremddarstellungen von Menschen, Kulturen, Subkulturen oder Sachen, die deren Ansehen und Selbstwert zu schwächen, pervertieren oder liquidieren suchen“ (Wierlacher, Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 74). Wimmer, Michael: Fremde, in: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997, S. 1068. Vgl. ebd., S. 1067.
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fremdartig erlebt und mit welchen Bewertungen es konnotiert wird, variiert je nach Situationsdefinitionen, Deutungsmustern und Ordnungsleistungen. Menschen sehen ‚fremde‘ Kulturen immer durch den Filter ihrer eigenkulturellen Vorverständnisse und Vorbilder, denn die Begegnung mit dem ‚Fremden‘ bedingt eine vorhergehende Selbstverortung, eine ‚kulturelle Zentriertheit‘, die es dem Individuum ermöglicht, das Unbekannte wie auch das Andere als von ihm unterschieden wahrzunehmen und beurteilen zu können.25 Das ‚Fremde‘, so Alois Wierlacher, sei darum als „das aufgefasste Andere“, als Ergebnis der Interpretation von Andersheit und Differenz zu definieren.26 ‚Fremdheit‘ ist demnach keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, und das ‚Fremde‘ ist nicht eine einfache Gegebenheit, sondern eine Konstruktion des Subjekts: „Stets müssen die Perspektive, aus der etwas als fremd wahrgenommen wird, und die diese Perspektive leitenden Ordnungen, Deutungsmuster, Gewohnheiten, Erfahrungsmodi und Motive mitreflektiert werden“.27 Jede Bestimmung des ‚Fremden‘ ist folglich an die Feststellung des ‚Eigenen‘ gekoppelt.28 Das Verstehen des ‚Anderen‘ als Fremden wird von der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung grundsätzlich als Tätigkeit verstanden, die auf Akten des ‚Selbstverstehens‘, der Selbstauslegung beruht.29 ‚Fremdheit‘ ist ein ambivalentes Phänomen, das gleichermaßen Faszination wie auch Bedrohung auslösen kann – je nach individueller oder kulturell geprägter Einstellung.30 In historischer Perspektive sind die Vorstellungen und Konstruktionen von kultureller Fremdheit und die Repräsentationen des ‚Anderen‘ in bildlicher und vor allem in literarischer Form bereits vielfach untersucht worden.31 Das Aufdecken und Analysieren von Selbst- und Fremdkonstruktio25
26 27 28 29 30 31
Vgl. Schlieker, Kerstin: Frauenreisen in den Orient zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Weibliche Strategien der Erfahrung und textuellen Vermittlung kultureller Fremde. Marie von Bunsen, Alma Karlin, Ella Maillart, Annemarie Schwarzenbach, Berlin 2003, S. 21. Vgl. Wierlacher: Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 62. Wimmer: Fremde, S. 1069. Vgl. ebd., S. 1068. Vgl. Wierlacher: Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 63 Vgl. Sandfuchs: Zum Antagonismus, S. 17. Die Erforschung des literarischen Bildes vom anderen Land stellt einen zentralen Forschungsbereich der vergleichenden Literaturwissenschaft dar. Die ‚Imagologie‘ – gegenwärtig unter dem Begriff ‚interkulturelle Hermeneutik‘ geführt – wurde um 1950 aus der französischen Komparatistenschule heraus programmatisch entwickelt. Sie untersucht das ‚Bild vom anderen Land‘, was nicht nur Kenntnisse fremder Kulturen, Sprachen und Mentalitäten voraussetzt, sondern vor allem auch eine intensive Beschäftigung mit den Werten und Ansichten der eigenen Kultur verlangt. Als korrelierende Gattung gilt die Reiseliteratur – ein etwas unscharfer Sammelbegriff für Texte, denen eine tatsächliche
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nen ist gegenwärtig auch eines der zentralen Anliegen der historisch ausgerichteten Frauenreiseforschung. Als bevorzugte Quellen dienen verschiedene Textsorten aus dem Genre der Reiseliteratur – Apodemiken, wissenschaftliche Abhandlungen über ‚fremde Völker‘ und Kulturen, Reiseberichte, -skizzen, -briefe und -tagebücher, Autobiografien und Memoiren, die von Reiseunternehmungen handeln, aber auch Reiseführer und fiktionale Abenteuer- und Trivialliteratur, in denen ‚das Fremde‘ zur Sprache kommt. Ungeachtet der Fülle von Arbeiten zum Thema Reisen steht die analytische Auslegung von autobiografischen Reisetexten jedoch noch relativ am Anfang.32 Wenn ‚Fremdheit‘ in einem dialogischen Beziehungsverhältnis zur ‚Eigenheit‘ steht, wenn Vorstellungen von Zugehörigkeit und ‚Anderssein‘ die Voraussetzungen für die Konstruktion von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Identitäten und Distanzierungen sind, dann müssen die von Lehrerinnen verfassten Texte über ihre Auslandsreisen, über ihre Kontakte mit fremden Menschen und Kulturen auch Aufschluss über nationale Identitätskonstruktionen geben. Um diese Konstruktionen aufzudecken, haben wir eine – in Anlehnung an eine in ethnografischen Studien entwickelte Vorgehensweise33 – doppelte Lesart vorgenommen: Zunächst untersuchten wir den Inhalt der Texte daraufhin, was er über das Reiseverhalten der Lehrerinnen aussagt. Dabei konnten wir herausarbeiten, wie ‚Nationalität‘ Kontaktaufnahme und Freundschaftsbeziehungen auf Reisen steuerte, aber auch ein Kriterium für Unterscheidung, Distanzierung und Ablehnung war. Deutsche Infrastruktur im Ausland – deutsche Gasthäuser, Ansiedlungen, Vereine, Konsulate oder kirchliche Einrichtungen – waren Anlaufstellen und erleichterten den Frauen den Aufenthalt in der Fremde. In den Texten wird etwa die Gastfreundschaft von Deutschen im Ausland hervorgehoben, das deutsche Ambiente besonders geschätzt, da es ‚Heimatgefühle‘ geweckt hätte. Auf diese Art und Weise wurde ein nationales Netzwerk mit im Ausland lebenden Deutschen geknüpft. Zudem bewegten sich – jenseits individueller Unterschiede – die Texte reisender Frauen in einem gemeinsamen Diskursfeld, innerhalb dessen Frauen schrieben und in dem ‚Nationalität‘ und ‚Deutsch-Sein‘ verhandelt wurden. Im nächsten
32 33
oder fiktionale Bewegung innerhalb eines fremdkulturellen Raumes gemeinsam ist (vgl. Schlieker: Frauenreisen in den Orient, S. 19). Vgl. dazu Kapitel 1.4. Vgl. Siebert, Ulla: Reise. Nation. Text. Repräsentationen von ‚Nationalität‘ in Reisetexten deutscher Frauen, 1871 bis 1914, in: Frauen & Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Frauen und Nation, Tübingen 1996, S. 49-65; dies.: Grenzlinien: Selbstrepräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914, Münster, New York, München, Berlin 1998.
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Schritt wurden die Texte deshalb nach der Verwendung von Begriffen, Symbolen und Bildern untersucht, die sich als Repräsentationen nationaler Identifikation der reisenden Frauen lesen lassen. Lehrerinnen verwendeten in ihren Autobiografien und Reiseberichten national besetzte Symbole, wie die deutsche Eiche, den deutschen Wald sowie den Weihnachtsbaum. Auch reichsnationale Symbole fanden Verwendung, z.B. die Person des Kaisers oder die Reichsflagge. Darüber hinaus wurde das in den Reisetexten der Frauen transportierte deutsche Selbstbild mit jenen nationalen Zuschreibungen versehen, die dem bürgerlichen Tugendkatalog entsprangen und die bis heute über Deutsche kursieren: Sittsamkeit, Fleiß, Sauberkeit, Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit. Außerdem wurde ‚Nation‘ als Sprach- und Kulturgemeinschaft interpretiert und die Bedeutung der deutschen Sprache besonders hervorgehoben. Trafen die Lehrerinnen im Ausland auf Österreicher/innen oder deutschsprachige Schweizer/innen, so wurden diese – obwohl anderen Nationen zugehörig – zumeist ‚eingemeindet‘. Im Sinne der Dialektik von Selbst- und Fremdbild, in der die dem ‚Anderen‘ zugeschriebenen Wesenszüge eine Widerspiegelung entgegen gesetzter Charakterzüge des ‚Eigenen‘ darstellen, muss im Text das ‚Eigene‘ gar nicht explizit genannt werden: In der negativen und abwertenden Darstellung des ‚Fremden‘ wurde die eigene Aufwertung und der eigene ‚Nationalcharakter‘ automatisch mitgedacht. Die Repräsentationen und Bedeutungen von ‚Nation‘ und ‚Nationalität‘ in Texten von Frauen können mehrdeutig und multifunktionale sein: Auf Reisen konnten sie Unsicherheiten und Ängste gegenüber Fremden kanalisieren und Gruppenbildungsprozesse steuern. Ihre Präsenz in den Texten kann als Loyalität der Autorinnen gegenüber einer ‚imaginierten‘ nationalen Gemeinschaft gedeutet werden. Darüber hinaus boten sich, Siebert zufolge, nationale Symbole und Begriffe als sprachliche Projektionsfläche für reisende Frauen an, um den eigenen Anspruch auf und die Beteiligung am nationalen Projekt zu formulieren.34
1.2
Das Konzept des Kulturtransfers
Festhalten lässt sich, dass sich in den von uns untersuchten autobiografischen Schriften von Lehrerinnen viele Anzeichen für nationale Identitätskonstruktionen ausmachen lassen, die in der Begegnung und in der Ausei34
Vgl. Siebert: Reise. Nation. Text, S. 65.
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nandersetzung mit kultureller Fremdheit aktiviert wurden. Im Verlauf des Projektes gelangten wir jedoch zu der Einsicht, dass eine monokausale Arbeitshypothese – Kontakte mit fremdkultureller Wirklichkeit verstärken nationale Identifikationsmuster – die Gefahr der Produktion einseitig ‚erwünschter‘ Ergebnisse in sich birgt, und dass bei der Komplexität der zugrunde gelegten Quellengattung eine Fokussierung auf die Verschränkung lediglich zweiter Identitätskategorien bzw. Subjektpositionen – Nation und Geschlecht – zu kurz greift. Den ‚Regeln guter wissenschaftlicher Praxis‘ folgend haben wir zusätzliche ‚Lesarten‘ zur Untersuchung des Quellenkorpus gesucht. Im Hinblick auf unsere Forschungen bot das Konzept des Kulturtransfers die notwendige Offenheit und eine gewinnbringende Perspektiverweiterung.35 Als neue Richtung wurde die Kulturtransferforschung aus der Kritik an essentialistischen Nationskonzepten und an Vorstellungen von Kulturräumen als weitgehend geschlossene Daseinsformen am Centre National de la recherche scientifique (CNRS) Mitte der 1980er Jahre entwickelt. Das Konzept bildet einen Gegenentwurf zu einer mehrheitlich betriebenen Geschichtsforschung, die ausschließlich die nationale bzw. regionale Eigenstaatlichkeit betonte und dabei die Elemente des ‚Fremden‘ in der eigenen Kultur ignorierte. Der Transferforschung hingegen geht es um den Nachweis von zahl35
Zur Programmatik vgl. Espagne, Michel, Werner, Michael: Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Hrsg. vom DHI Paris, Band 13, Sigmaringen 1986, S. 502-510; Espagne, Michel: Französischsächsischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Eine Problemskizze, in: Comparativ 2 (1992) 2, S. 100-121; Ders.: Die Rolle der Vermittler im Kulturtransfer, in: Lüsebrink, Hans-Jürgen, Reichardt, Rolf (Hrsg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770-1815, Leipzig 1997, S. 309-329; ders.: Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung, in: Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck 2003, S. 63-75; Lüsebrink, Hans-Jürgen, Reichardt, Rolf: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Fragestellungen, methodische Konzepte, Forschungsperspektive, in: Dies. (Hrsg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770-1815, Leipzig 1997, S. 9-26; Middell, Matthias: Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000) 1, S. 7-41; ders.: Kulturtransfer und transnationale Geschichte, in: Ders. (Hrsg.): Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte [Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag], Leipzig 2007, S. 49-72; Middell, Katharina, Middell, Matthias: Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland, in: Grenzgänge 1 (1994) 2, S. 107-122; Paulmann, Johannes: Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien. Einführung in ein Forschungskonzept, in: Muhs, Rudolf, Paulmann, Johannes, Steinmetz, Willibald (Hrsg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998, S. 21-43.
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reichen Verknüpfungen und Übergangserscheinungen zwischen ‚Kulturbereichen‘. Das Konzept rückt die „vielfältigen Durchdringungs- und Rezeptionsvorgänge zwischen Kulturen“ in den Mittelpunkt, die „Interaktion zwischen sozialen Gruppen und ihren kulturellen Praktiken“ sowie die „Dynamik geistiger und kultureller Austauschprozesse“.36 Kulturtransfer beschäftigt sich mit der Übertragung und dem Austausch von Denkweisen, Wissen und Ideen, Methoden, Technologien und Verfahren sowie Gütern, Produkten und Personen. Dabei werden die Wege und Medien sowie die sprachlichen Bedingungen für die Vermittlung von Kenntnissen über das jeweils andere Land in den Blick genommen. Der Ansatz thematisiert, aus welchen Motiven heraus ‚fremdes‘ Wissen erworben, nach welchen Kriterien es ausgewählt und zu welchen Zwecken die erworbenen Informationen verwendet wurden.37 Die Transferforschung nimmt die spezifische Konstellation der Ausgangs- und der Rezeptionsgesellschaft in den Blick. Dabei wird die traditionelle Perspektive des Kulturvergleichs umgekehrt: Die Einführung eines ‚Kulturguts‘ in einen anderen Kontext, so die Annahme, hänge nicht etwa mit gezielten Expansionsbestrebungen der Ausgangskultur zusammen, sondern mit einer Nachfrage im Aufnahmeland. In diesem Verständnis ist kultureller Transfer ein aktiver Aneignungsprozess, der von der jeweiligen Aufnahmegesellschaft gesteuert wird.38 Dieses Übergewicht des Rezeptionszusammenhangs bei einem Kulturtransfer hat weitreichende Folgen: Die ‚Echtheit‘ einer übernommenen Denkkonstellation, die Frage nach der ‚richtigen‘ Rezeption des Originals spielt im Aufnahmekontext keine bzw. nur eine zweitrangige Rolle: „Es kommt nicht drauf an, ob die Franzosen Hegel, Kant, die deutsche Mineralogie oder Wagner richtig verstanden haben, sondern was sie bewogen hat, den Import zu vollziehen, und was sie aus dem Material gewonnen haben“.39 Vermeintlich ‚fehlerhafte‘ Übertragungen bzw. Veränderungen scheinen im Gegenteil eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme fremder Ideen zu sein. Das Ergebnis eines Transfers kann demnach sehr verschieden sein – von der Annahme fremder Verhaltens- und
36 37 38 39
Middell, Middell: Forschungen zum Kulturtransfer, S. 108f. Vgl. Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 31. Middell, Middell: Forschungen zum Kulturtransfer, S. 110. Vgl. Espagne: Französisch-sächsischer Kulturtransfer, S. 101. Die Philosophie Kants beispielsweise deuteten die Franzosen um 1800 innerhalb weniger Jahre mehrfach um: „Zunächst als universalistischer Aufklärer in französische Debatten eingeführt, wurde er dann zum Repräsentanten eines restaurativen Idealismus und fast gleichzeitig zum strengen Realisten erhoben“ (Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 25).
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Deutungsmuster über die Auswahl einzelner Elemente und ihrer Umdeutung bis hin zur bewussten Zurückweisung.40 Der Ausgangspunkt der Transfertheorie besteht in der Beobachtung, dass sich Gedankenkonstellationen und Praxiszusammenhänge nicht aus eigenem Antrieb verbreiten, sondern dass sie von Vermittlungsinstanzen, von konkreten Gruppen und Personen sowie ihren Netzwerken getragen werden. In der historischen Forschung sind bereits eine ganze Reihe von Kulturvermittlerinnen und -vermittlern identifiziert worden – Händler und Kaufleute, Wissenschaftler und Künstlerinnen, Buchhändler und Verleger, Schriftstellerinnen und Publizisten, aber auch (Kunst-)Handwerker und Reisende. Zudem gilt der Fokus bestimmten Transfermedien wie Zeitschriften, Korrespondenzen, Enzyklopädien und anderen gedruckten Quellen. Das Potential der Kulturtransferforschung wie auch die Einlösung des anspruchsvollen Forschungsprogramms sind längst noch nicht erschöpft. Will sich die Transferforschung als eine „Sozialgeschichte des Kulturaustausch[s]“41 etablieren, dann kann es nicht allein um die Vermittlung der ‚Hochkultur‘ im Sinne der Ideen-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte gehen, die beispielsweise die Forschungen zum deutsch-französischen Verhältnis lange dominierten. Johannes Paulmann, der mit einer Forschergruppe das Konzept auf die deutsch-englischen Beziehungen übertragen hat, weist nochmals nachdrücklich darauf hin, dass es nicht um den Transfer von Kultur, sondern um denjenigen zwischen den Kulturen geht – er spricht deshalb von interkulturellen Transfer.42 Neben geografischen und politischen Kriterien spielen aber auch wirtschaftliche, sprachliche und konfessionelle Phänomene eine wichtige Rolle. Eine Erforschung des Kulturtransfers ‚von unten‘ verlangt die ‚Höhen‘ der Geistesgeschichte zu verlassen und sich in die ‚Niederungen‘ ihrer Popularisierung im Alltäglichen zu begeben. Dadurch geraten weitere Vermittlergruppen und Quellen in den Blick, etwa Vergnügungsreisende, Migrantinnen und Migranten, Reiseberichte und autobiografische Schriften, Belletristik und populärwissenschaftliche Unterhaltungsliteratur.43 40 41 42 43
Vgl. Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 39. Espagne: Die Rolle der Vermittler, S. 310. Vgl. Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 32. In der Erziehungswissenschaft wird das Konzept bislang wenig rezipiert. Zur Rezeption des Konzeptes in der Historischen Bildungsforschung vgl. Kap. 10.2. In der Historischen Bildungsforschung untersucht Christine Mayer Konzepte weiblicher Bildung und Transferprozesse von in England erschienenen Erziehungsratgebern nach Deutschland (vgl.: Mayer, Christine: Female education and the cultural transfer of pedagogical knowledge in the 18th century, in: Paedagogica Historica, 48 (2012) 4, S. 1-16.
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Zuletzt ist noch auf ein entscheidendes Desiderat hinzuweisen: Die Kulturtransferforschung hat sich bisher wenig für Genderfragen interessiert. Zwar liegen vereinzelte Studien zu mehr oder weniger bekannten Kulturvermittlerinnen vor.44 Von einer systematischen Theorieexplikation bzw. empirischen Untersuchung zur Bedeutung von Frauen im europäischen oder gar internationalen Kulturaustausch kann allerdings nicht die Rede sein.45 Ein Bezug auf die in der feministischen Literaturwissenschaft entwickelte Frauenreiseforschung, die wichtige Arbeiten zur Quellenerfassung und -analyse geleistet hat, ist nicht erkennbar. Dabei bietet die Frauenreiseforschung zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine genderorientierte, interkulturelle Transferforschung, zumal die Frage nach der Wahrnehmung der kulturellen ‚Fremde‘ und den Strategien ihrer textuellen Vermittlung durch reisende Frauen in vielen Untersuchungen im Mittelpunkt steht. Studien über Lehrerinnen, die das europäische und außereuropäische Ausland bereisten und als Kulturvermittlerinnen fungierten, können unserer Meinung nach Anregungen für weitere, aufschlussreiche Forschungen mit Genderbezug leisten.
1.3
Interdependenzen von Differenzkategorien in Reisetexten
Für einen differenzierten Umgang mit unserem Forschungsthema war aber noch ein weiterer Ansatz nötig, der neben den Kategorien Nationalität, Kultur und Geschlecht zusätzliche Untersuchungskategorien einführt und zum Schnitt bringt, „[…] der Unterschiede, Ambivalenzen, Widersprüche und Gegensätze zwischen Frauen und auch zwischen Subjektpositionen einer Frau theore44
45
Vgl. z.B. Raschke, Bärbel: Der Briefwechsel zwischen Luise Dorothée von SachsenGotha und Voltaire 1751-1767, Leipzig 1998; Hahn, Barbara: Schriftstellerin zwischen allen Grenzen: Rahel Levin Varnhagen (1771-1833), in: Espagne, Michel, Greiling, Werner (Hrsg.): Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (17501870), Leipzig 1996, S. 243-260. Für den deutsch-französischen Kulturtransfer vgl. König, Mareike (Hrsg.): Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, München 2003; dies.: Konfliktbeladene Kulturvermittlung – Deutsche Dienstmädchen und Erzieherinnen in Paris um 1900, in: Gippert, Wolfgang, Götte, Petra, Kleinau, Elke (Hrsg.): Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 237-255. Für den deutsch-englischen Kulturtransfer vgl. Sauerteig, Lutz: Frauenemanzipation und Sittlichkeit: Die Rezeption des englischen Abolitionismus in Deutschland, in: Muhs, Paulmann, Steinmetz: Aneignung und Abwehr, S. 159-197; Wolff, Kerstin: Ein frauenbewegter interkultureller Ideentransfer. Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland und ihre Aneignung des englischen Abolitionismus, in: Gippert, Götte, Kleinau: Transkulturalität, S. 201-216.
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tisch zulässt und verschiedene Forschungsstränge und Untersuchungsinteressen integriert“.46 In der geistes- und sozialwissenschaftlichen Genderforschung wird seit einigen Jahren heftig über die jeweilige Gewichtung und wechselseitige Verschränkung von Differenzierungskategorien wie Geschlecht, Nation‚ ‚Rasse‘ und Klasse diskutiert. Thematisiert werden aber auch weitere Differenzlinien wie sexuelle Orientierung, Alter, Religionszugehörigkeit und Behinderung. Helma Lutz und Norbert Wenning zählen allein 13 verschiedene bipolare hierarchische Differenzlinien auf,47 wobei die Reihung beliebig fortgesetzt werden kann. Die Verflechtung der Kategorie Geschlecht mit anderen Differenzierungskategorien wurde zwar bereits in den Anfängen der Frauen- und Geschlechterforschung thematisiert,48 allerdings erst in den 1990er Jahren unter den Begriff Intersektionalität gefasst. Im nordamerikanischen Kontext standen die Kategorien Geschlecht und ‚Rasse‘ – bedingt durch die Interventionen ‚schwarzer‘ Feministinnen – früh im Fokus der Forschung, während in Deutschland die Auseinandersetzungen um die jeweiligen Überkreuzungen von Klasse und Geschlecht eng mit der „Geburt“ des neueren Feminismus „aus dem Geist der Studentenbewegung“ und einer spezifischen Theorietradition, dem Marxismus, zusammenhingen.49 Die Interferenzen zwischen Geschlecht und ‚Rasse‘ rückten erst im Zuge von genderorientierten Forschungsarbeiten zum Nationalsozialismus und der sich etablierenden Migrationsforschung stärker ins Blickfeld.50
46 47
48
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Siebert: Grenzlinien, S. 9 Vgl. Lutz, Helma, Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten, in: Dies. (Hrsg.): Unterschiedlich Verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, S. 11-24; vgl. auch Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie, in: Dies., u.a. (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Hetereogenität, Opladen 2007, S. 23-64. Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: „Intersectionality“ – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? in: Casale, Rita, Rendtorff, Barbara (Hrsg.): Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, Bielefeld 2008, S. 33-53; Dies., Klinger, Cornelia: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 7-18. Knapp: „Intersectionality“, S. 39. In der Migrationsforschung wird der Terminus ‚Rasse‘ oftmals durch ‚Ethnie‘ ersetzt, weil der Rassebegriff in Deutschland untrennbar mit der rassistischen Politik des Nationalsozialismus verbunden ist. Da sich das Konzept von Menschenrassen als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen hat, setzen wir ‚Rasse‘, aber auch Bezeichnungen wie ‚farbig‘, ‚weiß‘ oder ‚schwarz‘ im Folgenden in Anführungszeichen, um den Konstruktionscharakter der Begriffe deutlich zu machen.
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Ob Intersektionalität eine Theorie, ein Konzept oder „a methodology for doing feminist research“ darstellt,51 ist in der Forschung hoch umstritten. Wenn es ein Konzept ist, dann ist es gerade die „Offenheit“ bzw. „die Unterbestimmtheit des Konzepts, die einen Gutteil seiner Erfolgsgeschichte ausmacht“.52 Die Hannoveraner Soziologin Gudrun-Axeli Knapp zieht es vor, von einer intersektionellen Perspektive zu reden, die sowohl für die Theoriebildung als auch für empirische Forschungen anregend sein könne,53 und kommt damit dem methodologischen Ansatz des „asking the other question“ recht nahe.54 Gemeint ist damit, sich im Forschungsprozess nicht vorschnell auf die Analyse der offensichtlich relevanten Kategorien zu beschränken, sondern auch nach denen zu fragen, die sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen. Welche Kategorien und wie viele werden überhaupt für eine intersektionelle Analyse benötigt? Die Trias ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht gelten oftmals als unabdingbar, aber keine Kategorie ist, wie Kathy Davis betont, sankrosankt.55 Es gäbe durchaus Überlegungen, Gender als eine Art Ethnie zu betrachten, was den Vorteil hätte, „to resolve the nagging problem of essentialism in gender theory and provide a way to think about gender in a more dynamic and culturally sensitive way“.56 Feministische Forscherinnen müssten „their automatic reliance on ‚gender‘ as a central category of analysis“ hinterfragen.57 Das heißt, es sind durchaus Gelegenheiten und Situationen denkbar, in denen Geschlecht zugunsten einer anderen Differenzkategorie in den Hintergrund treten kann. Vergleichbare Debatten werden seit einiger Zeit auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen geführt, wobei nicht in jedem Fall der Intersektionalitätsbegriff Verwendung findet. In ihrer Studie Grenzlinien beschäftigt sich die Ethnologin Ulla Siebert mit den Selbstentwürfen von Frauen in Reisetexten zwischen 1871 und 1914. Anknüpfend an diskurstheoretische bzw. postmoderne Ansätze in der Ethnologie und in der feministischen Literaturwissenschaft geht sie davon aus, dass sowohl die Positionierung von Frauen im Text als auch der Diskurs über sie nicht nur auf Geschlechterdifferenzen rekurriert, sondern auch auf anderen Beziehungsverhältnissen, die Hierar51 52 53 54 55 56 57
Davis, Kathy: Intersectionality in Transatlantic Perspektive, in: Klinger, Knapp: ÜberKreuzungen, S. 21. Knapp, „Intersectionality“, S. 44. Vgl. ebd. Davis: Intersectionality, S. 21. Vgl. ebd., S. 25. Ebd. Ebd.
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chien implizieren können und zu Ambivalenzen, Widersprüchen und Kollisionen zwischen einzelnen Subjektpositionierungen einer Frau führen können: „Welche Wirkungen zeigen etwa unterschiedliche Diskurse und Identitäten, die sich an sozialer Zugehörigkeit, Nationalität, ‚Rasse‘, Ethnizität, Hautfarbe und Religion festmachen? Welche Selbstverständnisse – ‚als Frau‘, ‚als Deutsche‘, ‚als Bürgerin‘ oder ‚als Adlige‘, ‚als Forschungsreisende‘ oder ‚als Vergnügungsreisende‘ – werden konstruiert, wie überlagern sich diese Identitäten, wie unterscheiden sie sich oder widersprechen sich gar?“58
Ebenso wie gender hätten auch Zuschreibungen wie soziale Herkunft, europäische Herkunft, Nationalität etc. eine je individuelle wie symbolische Bedeutung. Solche Kategorien existierten nicht einfach, sondern sie würden konstruiert und kulturell wie auch subjektiv mit Bedeutung versehen. Subjekte seien Produkte einer „ständig sich wandelnden Selbstinterpretation innerhalb eines sozialen, kulturellen und diskursiven Kontexts“.59 Subjektpositionen würden in unterschiedlichen Kontexten immer wieder neu entworfen und produziert. ‚Weiblichkeit‘ sei in diesem ‚Ensemble Subjekt‘ lediglich eine ‚Teilidentität‘ neben anderen. Diese Subjektpositionen, die über Sprache und Text vermittelt werden, könnten nebeneinander existieren, ließen sich miteinander ins Verhältnis setzen und hingen möglicherweise voneinander ab.60 Ausgangspunkt der Siebert‘schen Überlegungen war folgender Forschungsstand: Die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur war bis in die jüngste Zeit hinein nahezu ausschließlich als eine Geschichte männlicher Mobilität konstruiert und beschrieben worden.61 Im Wesentlichen waren und sind es feministische Literaturwissenschaftlerinnen, aber auch Frauenund Geschlechterforscherinnen aus der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft, die sich seit Mitte der 1980er Jahre mit dem Thema Frauenreisen beschäftigen und dabei eine nicht unerhebliche Menge an Reisetexten von Frauen zu Tage gefördert, Reisemotive und Reisepraxen von Frauen untersucht und einige Reisebiografien nachgezeichnet hatten.62 Allerdings mani58 59 60 61
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Vgl. Siebert: Grenzlinien, S. 10. Ebd., S. 24. Ebd. S. 22. In dem über 700 Seiten umfassenden Standardwerk „Der Reisebericht in der deutschen Literatur“ widmet der Verfasser dem Komplex ‚Frauenreisen‘ ganze fünf Seiten (vgl. Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990, S. 514-519). Für den Zeitraum von 1700 bis 1810 haben Wolfgang Griep und Annegret Pelz in mehr als zehnjähriger Sammelarbeit insgesamt 631 bibliografisch nachweisbare deutschsprachi-
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festierte sich in den frühen Studien vorschnell ein Emanzipationsdiskurs, in dem die reisenden Frauen als ‚Abenteuerinnen‘ stilisiert wurden, in dem Reisen als Befreiungsakt von engen geschlechtsspezifischen Rollenvorgaben und als prinzipielle Offenheit gegenüber ‚anderen‘ Kulturen bzw. Angehörigen ‚anderer‘ Kulturen interpretiert wurde.63 Die Dominanz dieses Diskurses in den Texten über reisende Frauen verdrängte allerdings andere, ihm
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ge Titel an Reiseliteratur von und über Frauen zusammengetragen (vgl. Griep, Wolfgang, Pelz, Annegret (Hrsg.): Frauen reisen. Ein bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Frauenreisen 1700 bis 1810, Bremen 1995). Für das 19. Jahrhundert ermittelte Hiltgund Jehle im Rahmen ihrer Arbeit über die Weltreisende Ida Pfeiffer 400 deutschsprachige Reiseberichte von Frauen (vgl. Jehle, Hiltgund: Ida Pfeiffer. Weltreisende im 19. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte reisender Frauen, Münster, New York 1989, S. 8). Vgl. zudem die nachfolgenden Publikationen: Deeken, Annette, Bösel, Monika: Auf den Spuren reisender Frauen. Frauenreiseliteratur als Gegenstand der Frauenforschung, in: Sozialwissenschaftliche Informationen (1993) 4, S. 260-267; dies.: „An den süßen Wassern Asiens“. Frauenreisen in den Orient, Frankfurt a.M., New York 1996; Felden, Tamara: Frauen Reisen. Zur literarischen Repräsentation weiblicher Geschlechterrollenerfahrung im 19. Jahrhundert, New York, u.a. 1993; Fell, Karolina Dorothea: Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920-1945), Stuttgart 1998; Heinze, Dagmar: Fremdwahrnehmung und Selbstentwurf. Die kulturelle und geschlechtliche Konstruktion des Orients in deutschsprachigen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, in: Hölz, Karl, Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hrsg.): Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000, S. 45-91; Jedamski, Doris, Jehle, Hiltgund, Siebert, Ulla (Hrsg.): ‚Und tät das Reisen wählen!‘ Frauenreisen – Reisefrauen, Zürich, Dortmund 1994; Kuczynski, Ingrid: Verunsicherung und Selbstbehauptung – der Umgang mit dem Fremden in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Fuchs, Anne, Harden, Theo (Hrsg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerreisen bis zur Postmoderne, Heidelberg 1995, S. 55-70; Pelz, Annegret: Reisen durch die eigene Fremde. Reisen von Frauen als autogeographische Schriften, Köln 1993; Potts, Lydia (Hrsg.): Aufbruch und Abenteuer. Frauen-Reisen um die Welt ab 1785, Berlin 1988; Pytlik, Anna (Hrsg.): Die schöne Fremde. Frauen entdecken die Welt. Katalog zur Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vom 9. Oktober bis zum 21. Dezember 1991, Stuttgart 1991; dies.: Träume im Tropenlicht. Forscherinnen auf Reisen. Elisabeth Krämer Bannow in Ozeanien 1906-1910, Marie Pauline Thorbecke in Kamerun 1911-1913, Reutlingen, 1997; Stamm, Ulrike: Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2010. Zu den zentralen Topoi und Schlüsselmetaphern dieses Emanzipationsdiskurses und der Kritik daran vgl. Siebert, Ulla: Frauenreiseforschung als Kulturkritik, in: Jedamski, Jehle, Siebert: ‚Und tät das Reisen wählen!‘, S. 148-173. Siebert geht von der These aus, dass der Wunsch nach Identifikation der Wissenschaftlerinnen mit ‚ihren Heldinnen‘ und Projektionen eigener Wünsche und Sehnsüchte das Interesse von Frauen an ihren ‚reisenden Mitschwestern‘ wachgerufen hätte und für ihre jeweiligen Bedeutungskonstruktionen und Interpretationen über reisende Frauen mitverantwortlich seien (vgl. ebd., S. 154).
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scheinbar widersprechende Themen – wie beispielsweise Rassismus unter Frauen.64 Nur allmählich gerieten Unterschiede zwischen Frauen und Differenzierungen ins Blickfeld der Forschung, die zeigten, dass es die reisende Frau nie gab und dass reisende Frauen nicht nur über ihr Geschlecht definiert werden können. Wichtige Impulse erhielt die neuere Frauenreiseforschung aus ethnologischen bzw. kulturanthropologischen Verstehensansätzen sowie durch diskursanalytische Arbeiten. Sara Mills geht davon aus, dass die Reiseliteratur von Frauen sowohl durch Elemente des Weiblichkeitsdiskurses als auch des kolonialen Diskurses determiniert sei, die jeweils auf die Produktion der Texte einwirken würden. Anders als in den früheren Studien, die vorwiegend mit biografisch-sozialgeschichtlichen Ansätzen arbeiteten, werden Frauen nicht mehr primär als Reisende aufgefasst, sondern vor allem als Textproduzentinnen. Entsprechend werden ihre Reisetexte nicht als ‚Abbild von Wirklichkeit‘ gelesen, sondern als „Ausdruck widerstreitender Diskurse, die vom Subjekt in Text umgesetzt werden“.65 Durch die Arbeit von Sara Mills, aber auch durch andere Studien, die im Kontext der feministischen postcolonial theory entstanden sind,66 gelangten Macht und Hierarchien mehr und mehr in den Blick der Frauen- und Geschlechterforschung. ‚Weiße‘ Frauen, die außereuropäische Länder aufsuchten, bewegten sich im kolonialen bzw. kolonialisierten Raum – und ihre Texte handeln auch von ihren Beziehungen zu und ihren Vorstellungen von den Bewohnerinnen und Bewohnern der bereisten Länder. Reisetexte produzieren ‚Wissen‘ über die ‚Fremde‘. In den verschriftlichten Darstellungen der ‚Fremde‘ wird die eigenkulturelle Prägung des wahrnehmenden Individuums mittransportiert, und zwar derart, „[...] dass die Art und Weise, in der wir die Anderen ‚machen‘‚ gleichbedeutend ist mit der Art und Weise, in der wir uns selbst machen“.67 So spiegelt sich etwa in vielen Reisetexten von Frauen – auch von Lehrerinnen und Erzieherinnen – die Annahme der Autorinnen von der Minderwertigkeit der fremden Gesell-
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Vgl. Siebert: Frauenreiseforschung als Kulturkritik, S. 162. Siebert: Grenzlinien, S. 22. Vgl. in diesem Zusammenhang die Studien: Bechhaus-Gerst, Marianne, Leutner, Mechthild (Hrsg.): Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009; Dietrich, Anette: Weiße Weiblichkeit. Konstruktionen von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007; Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a.M., New York 2005. Siebert: Grenzlinien, S. 46.
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schaft und der Höherwertigkeit der eigenen Kultur wider.68 Das Aufdecken und Analysieren von Fremdheitskonstruktionen, von den Bildentwürfen des ‚Anderen‘ in vertexteter Form ist zwar gegenwärtig eines der zentralen Anliegen der Frauenreiseforschung. Gleichwohl ist es kein leichtes Unterfangen, den Reisebericht als „mentalitätsgeschichtliche Quelle“, als „spezifische Denkungsart des Verfassers“69 bzw. der Verfasserin zu lesen. Ungeachtet der Fülle von Arbeiten zum Thema Reisen, steht die deskriptive Erfassung der Texte von Reisebeschreibungen und deren analytische Auslegung noch ziemlich am Anfang. Vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus wird moniert, dass es der Forschung nach wie vor an der Einsicht in die ‚Grammatik‘ von Reisebeschreibungen mangelt: Es fehle „[...] ein Instrumentarium, das es ermöglicht, Problemen der Intertextualität nachzugehen, Stile und Strukturen mit Hilfe relevanter Fragestellungen zu vergleichen [...] oder die kommunikative Bedeutung von Reisebeschreibungen im kulturellen Kontext ihrer Zeit abzuschätzen“.70 Gerade in der kulturwissenschaftlichen Forschung wurden lange Zeit Fragen nach den Umständen der Textproduktion, nach den rhetorischen Regeln der Texterstellung innerhalb eines historischen und kulturellen Kontextes und nach den Grenzen der Repräsentation und Reproduzierbarkeit fremdkultureller Wirklichkeiten nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.71 In der Debatte über ethnografisches Schreiben, die mit zeitlicher Verzögerung seit Mitte der 1990er Jahre auch in der deutschsprachigen Ethnografie geführt wird, steht die Frage im Mittelpunkt, ob ‚Wirklichkeit‘ in einem Text überhaupt angemessen beschreibbar ist.72 Diese Textdebatte in der postmodernen Ethnologie, so Ulla Siebert, lasse sich für eine kritische Reise- bzw. Reisetextforschung nutzbar machen: „Denn wird die Erzählung im Reisetext als ethnografisches Schreiben verstanden, das die Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem zum Gegen68
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Vgl. Habinger, Gabriele: Anpassung und Widerspruch. Reisende Europäerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Weiblichkeitsideal und kolonialer Ideologie, in: Jedamski, Jehle, Siebert: ‚Und tät das Reisen wählen!‘, S. 193. Scheitler, Irmgard: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780-1850, Tübingen 1999, S. 1. Ebd., S. 4. Vgl. Siebert: Grenzlinien, S. 42. Diese Debatte ist besonders durch den amerikanischen Ethnologen James Clifford angeregt worden. Nach Clifford ist ethnografisches Schreiben auf sechsfache Weise determiniert: kontextuell, rhetorisch, institutionell, gattungsmäßig, politisch und historisch. Er geht davon aus, dass die Ethnologie ihren Gegenstand – die fremde Kultur – nicht beschreiben bzw. nicht repräsentieren kann, sondern dass sie ihn bzw. sie selbst herstellt. Kulturelle Texte werden von Clifford als konstruiert und artifiziell begriffen. Demnach würden Kulturen im Text nicht etwa repräsentiert, sondern erfunden (vgl. ebd., S. 44).
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stand hat, dann stellt sich die Frage, wie Reisetexte vor dem Hintergrund der Krise der Repräsentation zu lesen sind und was sie repräsentieren“.73 Wenn Bezeichnetes und Bezeichnendes im Text niemals zur Deckung gebracht werden könne, dann könnten die Reisetexte als „authentische Darstellungen von Selbstinszenierungen bzw. als authentische Selbstrepräsentationen von Frauen“ gelesen werden.74 In Anlehnung an James Cliffords Betonung des artifiziellen und halbwahren Charakters ethnografischer Texte begreift Siebert Reisetexte als ‚true fictions‘. Sie seien schriftlich verarbeitete Äußerungen von Personen, die Texte mit der Absicht produzieren, ihre Reiseerfahrungen, bzw. das, was sie dafür halten und als mitteilsam erachten, Anderen und sich selbst zu erzählen.75 Wie entscheidet man nun die Frage, welche Differenzkategorien in einem bestimmten Kontext einbezogen und welche (vorerst) zurückgestellt werden? Die Entscheidung, Klasse/Schicht, Nation, Geschlecht und ‚Rasse‘ in den Fokus unserer ‚Fremdheitsforschung‘ zu stellen war – ganz pragmatisch – unserer Forschungsfrage und der Quellenlage geschuldet. ‚Fremdheit‘ kann dabei in vielfältiger Form erfahren werden, als ‚Fremdheit‘ im sozialen, nationalen, religiösen, geschlechtlichen und im ‚rassischen‘ Sinn. Alle genannten Differenzzuschreibungen lassen sich in den von uns gesichteten Texten wiederfinden, ihre Bedeutung unterscheidet sich nicht nur von Autobiografie zu Autobiografie, sondern verliert oder gewinnt auch im jeweiligen Lebenslauf zugunsten anderer Kategorien an Gewicht. Demnach muss danach gefragt werden, welche Kategorien jeweils für die Lehrerinnen in welchen Kontexten die bestimmenden Momente in der Auseinandersetzung mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt waren. Durchgängig thematisiert wurden soziale, nationale, geschlechtliche und – in Ländern mit indigener bzw. mit einer versklavten Bevölkerung afrikanischer Herkunft – ‚rassische‘ Unterschiede zwischen Menschen. Es galt, herauszuarbeiten, welche Bedeutung unterschiedliche Differenzsetzungen und deren jeweilige Überkreuzungen in Prozessen biografischer Arbeit historischer Akteurinnen haben können, und wie in einer individuel-
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Ebd. Unter Selbstrepräsentation versteht Siebert die sprachlich verarbeitete Selbstpositionierung im Text, das Sprechen von einer bestimmten Position aus (vgl. ebd., S. 10). Weiblicher Reisetext wird von Siebert „[...] als ein von einer Frau geschriebener Text definiert, in dem sich diese zu Wort meldet, sich inszeniert und positioniert. Die Selbstdarstellung der Reisenden ist eine im Text inszenierte vor dem Hintergrund ihrer Bedingtheit durch ein Netz mächtiger Diskurse, die auf die Autorin und den Text einwirken. Gleichzeitig ist der Text Teil dieser Diskurse“ (ebd., S. 46).
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len Lebensgeschichte jeweils Identitätsbildungsprozesse, Positionierungen in sozialen Gefügen und Fremdheitserfahrungen ineinandergreifen.
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Methodische Reflexionen zur Erschließung autobiografischer Zeugnisse76
Die Verwendung von autobiografischen Zeugnissen als Quellen für entwicklungspsychologische, erziehungswissenschaftliche, institutionen- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen ist so alt wie die Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin. Schon im 19. Jahrhundert galten die Lebensgeschichten von (männlichen) ‚Pionieren‘ und ‚Klassikern‘ der Pädagogik als Vorbilder und Orientierungshilfen für angehende Lehrerinnen und Lehrer.77 In der Tradition des Bildungsromans wurden Autobiografien jungen Menschen als „Mittel der Bildung zur Persönlichkeit“ an die Hand gegeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen in pädagogisch-praktischer Absicht Sammlungen mit autobiografischen Texten: Sie dienten als „psychologisches Erkenntnismaterial“ für Eltern und Erzieher/innen, als Anhaltspunkte für Schulreformen und als empirische Grundlage für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Pädagogik.78 Wegweisend für die neueren Diskussionen und Forschungen waren die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Wissenschaftliche Erschließung autobiografischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnis auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) im Jahr 1978, die den Beginn einer narrativen, biografisch orientierten Pädagogik markieren.79 Seither finden autobiografische Zeugnisse in unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Forschungsfeldern als Quellen Verwendung: für die Geschichte pädagogischer Institutionen und ihrer Wirkungsweisen, für eine Sozialgeschichte von Kindheit und Jugend sowie vor 76
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Vgl. Gippert, Wolfgang: Vertextete Fremdheit – inszeniertes Selbst. Ansätze zur Erschließung von Selbst- und Fremdkonstruktionen in autobiografischen Schriften deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Hoff, Walburga, Kleinau, Elke, Schmid, Pia (Hrsg.): Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 291-310. Vgl. Glaser, Edith, Schmid, Pia: Biographieforschung in der Historischen Pädagogik, in: Krüger, Heinz-Hermann, Marotzki, Winfried (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, Opladen 1999, S. 347-371. Heinritz, Charlotte: Autobiographien als erziehungswissenschaftliche Quellentexte, in: Friebertshäuser, Barbara, Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim, München 1997, S. 343f. Vgl. Baacke, Dieter, Schulze, Theodor (Hrsg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, Weinheim, München [1979] 1993.
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allem für die Rekonstruktion von Erziehungs-, Sozialisations- und Identitätsbildungsprozessen in der historischen Sozialisationsforschung. Dabei geht es vorzugsweise darum, die ‚Subjektperspektive‘ bzw. die ‚Innenansichten‘ der historischen Akteurinnen und Akteure einzuholen und die verschriftlichten Lebenserinnerungen als „sprachlich gestaltete Bildungsschicksale“ zu interpretieren – so der viel zitierte Topos Jürgen Henningsens.80 Auch in unserem Projekt bildeten autobiografische Schriften in Form von Autobiografien, Tagebüchern und Reiseberichten den zentralen Quellenkorpus. Als Quellenbasis lagen uns rund 70 autobiografische Texte vor, in denen Lehrerinnen, Erzieherinnen und Gouvernanten rückblickend einen oder mehrere Auslandsaufenthalte thematisierten. Neben den autobiografischen Zeugnissen bildeten die gedruckten Quellen den zweiten Materialkorpus des Projekts. Nach der systematischen Auswertung zahlreicher Fachzeitschriften – erwähnt seien an dieser Stelle Die Lehrerin in Schule und Haus, Die Frau, die Deutsche Zeitschrift für Ausländisches Unterrichtswesen sowie Kolonie und Heimat – umfasste der Bestand mehr als 500 Artikel.81 Der Quellenkorpus war allerdings in mehrfacher Hinsicht heterogen: Die Geburtsjahrgänge der Autorinnen umfassten den Zeitraum von 1810 bis in die 1880er Jahre hinein. Die Herkunft, die konkrete Berufstätigkeit und die Lebenswege der reisenden Lehrerinnen und Erzieherinnen differierten zum Teil erheblich voneinander – von ‚einfachen‘ Kindermädchen- und Gouvernantendiensten über spätere journalistische und schriftstellerische Tätigkeiten bis hin zum sozialen und politischen Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung. Der Textumfang der uns vorliegenden Schriften reichte von kurzen Zeitschriftenartikeln über längere Reiseberichte bis hin zu mehrbändigen Lebenserinnerungen. Die Zeitpunkte der Veröffentlichung sind ebenfalls weit gestreut: Während Reiseberichte in der Regel kurz nach den Auslandsaufenthalten verfasst und veröffentlicht wurden, erfolgte die Niederschrift umfangreicherer Lebenserinnerungen entsprechend der Gattungstradition vorwiegend in fortgeschrittenem Alter, mit großer zeitlicher 80
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Henningsen, Jürgen: Autobiographie und Erziehungswissenschaft, Essen 1981, S. 11. Zur Verwendung von autobiografischen Zeugnissen als Quellen in der Erziehungswissenschaft vgl. auch folgende Überblicksdarstellungen: Cloer, Ernst: Pädagogisches Wissen in biographischen Ansätzen der Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung. Methodologische Zugänge, theoretische und empirische Erträge, in: Krüger, Marotzki: Handbuch, S. 165-190; Krüger, Heinz-Hermann: Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, in: Ders., Marotzki: Handbuch, S. 13-32; Schulze, Theodor: Biographisch orientierte Pädagogik, in: Baacke, ders.: Aus Geschichten lernen, S. 13-40. In der Bibliografie am Ende des Bandes sind nur die Belegquellen aufgeführt.
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Distanz zur gelebten Wirklichkeit. Schließlich lassen sich unterschiedliche Reisemotive, Reisebedingungen, Reiseziele und zeitliche Ausmaße der Auslandsaufenthalte feststellen – von kürzeren ‚Vergnügungsreisen‘ in den Mittelmeerraum und in den ‚Orient‘82 über mehrjährige, berufsbedingte Aufenthalte in den europäischen Nachbarländern bis hin zur Auswanderung in die deutschen Kolonien und in die Vereinigten Staaten. Neben der Heterogenität der vorliegenden Quellen gab es wichtige Gemeinsamkeiten, die einen Vergleich der autobiografischen Schriften miteinander aufschlussreich erscheinen ließen: Lehrerinnen und Erzieherinnen gehörten zu den wenigen ‚privilegierten‘ Frauen im Kaiserreich, die eine Berufsausbildung absolvieren und damit auch ein Stück weit Eigenständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit erzielen konnten.83 Mit ihrem Berufsbild verband sich zudem eine gesteigerte, für ledige Frauen keineswegs selbstverständliche geografische Mobilität84 – sei es, dass sie als Gouvernanten oder Gesellschaftsdamen die Familien ihrer Arbeitgeber bei Auslandsreisen begleiteten, dass sie zur Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse das europäische Ausland bereisten oder dass sie hier eine Anstellung als Alternative zum oftmals überfüllten heimischen Arbeitsmarkt suchten.85 Gemeinsam ist den reisenden Lehrerinnen und Erzieherinnen auch – und das ist hier der entscheidende Punkt –, dass sie im Ausland mit ihnen ‚fremden‘ Kulturen in Kontakt kamen und sie dabei berufsbedingt oftmals tiefere Einblicke in die ‚Fremde‘ gewannen, als es ‚gewöhnlichen‘ Touristinnen möglich war. In der bildungshistorischen Forschung erfolgte die Verwendung von autobiografischen Quellen lange Zeit methodisch ‚naiv‘ und mit nur mangelhafter quellenkritischer Reflexion. In die Kritik gerieten vor allem sozialwissenschaftlich orientierte Studien, die Autobiografien als ‚Steinbrüche‘ für 82
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Mit der Bezeichnung ‚Orient‘ verbanden Zeitgenossinnen und -genossen keine geografisch klar umgrenzte Region. Mit ‚Orient‘ konnte entweder das Osmanische Reich, die arabische Halbinsel, Marokko oder Ägypten gemeint sein. Diese Feststellung soll indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entscheidung zur Berufswahl der Lehrerin im 19. Jahrhundert häufig aufgrund familiärer Notlagen erfolgte und/oder die jungen Frauen nur geringe Chancen auf eine standesgemäße Verheiratung hatten und insofern eine Erwerbstätigkeit anstreben mussten. Vgl. Kap. 2. Die Geschichte des Frauenreisens ist auch eine Geschichte der Bedingungen und Bestrebungen, weibliche Mobilität, die sich auf eigenem Entschluss gründete, zu verhindern (vgl. Potts: Aufbruch und Abenteuer, S. 16f.). Zwar war das Frauenreisen infolge des sich etablierenden Massentourismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches mehr (vgl. Siebert: Grenzlinien, S. 72ff.), doch begegnete die fremde Umgebung reisenden Frauen ohne männliche Begleitung häufig gönnerhaft oder mit Herablassung und Missachtung. Vgl. Kleinau: In Europa und der Welt unterwegs, S. 164f.; Siebert: Grenzlinien, S. 33.
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kulturhistorische und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen und Tatbestände auswerteten.86 Das Verfahren, zu vorgegebenen Themenbereichen Zitate aus verschiedenen Autobiografien zur Illustration bzw. als Belege für thesenartig vorformulierte historische Sachverhalte heranzuziehen, vernachlässige die literarische Bedingtheit und den Gattungscharakter der Quellen.87 Neben den Einwänden, die sich gegen naive Erwartungen richten, in den Texten genaue Abbildungen vergangener Wirklichkeiten vorzufinden, wurde häufig die Gefahr bzw. der Hang zur rückblickenden Verklärung, zur Selbststilisierung und Harmonisierung durch die Autobiografinnen und Autobiografen kritisiert – und damit der ‚Wahrheitscharakter‘ und die ‚Authentiziät‘ der Texte in Frage gestellt. Diese Kritik – so Charlotte Heinritz – beruhe indes auf einem fundamentalen Missverständnis und führe in die Irre. Denn die Bedeutung autobiografischen Erzählens liege keineswegs „[...] in der Abbildung von Wirklichkeit, in der Rekonstruktion des vergangenen Lebens, sondern in der Konstitution von Sinn“.88 Autobiografien stellen nachträgliche Beschreibungen vergangener Erlebnisse und Erfahrungen dar, die von einem bestimmten, gegenwärtigen Bewusstseinsstand aus erfolgen. Bewusst oder unbewusst werden aus der Rückschau andere Akzente gesetzt, manche Ereignisse stärker betont, andere heruntergespielt oder fortgelassen. In jeder Retrospektive verschieben sich die Bewertungen und Bedeutungen von Ereignissen, Wahrnehmungen und Empfindungen; dementsprechend werden andere Lebens- und Wirkungszusammenhänge gedacht und konstruiert als im unmittelbaren Erleben selbst. Autobiografien müssen deshalb „als eine im Material der Lebenserinnerung durchgeführte Klärung des Selbstbildes“ gelesen werden.89 Oder anders gewendet: „Lebensgeschichtliches Erzählen führt zur Herstellung und Sicherung des eigenen Identitätsentwurfes“.90 Allerdings 86
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Zur Kritik vgl. etwa Cloer: Pädagogisches Wissen 1999, S. 169ff.; Jacobi, Juliane: Zur Konstruktion und Dekonstruktion des Selbstentwurfs – Historische Kindheits- und Jugendforschung und autobiographische Quelle, in: Benninghaus, Christina, Kohtz, Kerstin (Hrsg.): „Sag mir, wo die Mädchen sind…“. Beiträge zur Geschlechtergeschichte der Jugend, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 278ff. Heinritz weist darauf hin, dass autobiografische Selbstthematisierungen von bereits bestehenden literarischen Mustern und Formtraditionen mit geprägt werden, „[...] indem sie als Vorbild und Folie für die Deutung des eigenen Lebens und der eigenen Identität wirken“ (Heinritz, Charlotte: Auf ungebahnten Wegen. Frauenautobiographien um 1900, Königstein i.T. 2000, S. 15). Ebd., S. 26. Ebd. Ebd.
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muss bedacht werden, dass jeder Mensch im Verlauf seines Lebens biografisch entscheidende Ereignisse immer wieder erinnert, sie reflektiert und seine vorhandenen Erinnerungen aufgrund aktueller Erfahrungen gegebenenfalls neu deutet, umordnet und neu strukturiert. Selbstreflexion bedeute, so Theodor Schulze, „[...] das bereits Erlebte und Erfahrene immer wieder in Übereinstimmung zu bringen, mit den Entwürfen und Vorstellungen, die sich der Einzelne von seinem Leben macht“.91 Auslöser für eine nachträgliche Bearbeitungen von Erinnerungen können aber auch, darauf hat Ulrike Jureit hingewiesen, aktuelle Diskurse sein, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe wirkmächtig sind: „Wenn jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen im Kontext aktueller oder historischer Diskurse umdeutet, so werden möglicherweise die für diese relevanten Diskurse charakteristischen Begrifflichkeiten, Symbolbildungen oder thematischen Zuspitzungen im Lebensrückblick selbst auftauchen.“ 92
Dieser fortlaufende Umarbeitungsprozess führe dazu, dass der Forscherin/ dem Forscher in Erinnerungsquellen „[...] eine möglicherweise über Jahrzehnte variierte Erfahrungssynthese begegnet, die einer Momentaufnahme im Prozess der individuellen Sinn- und Bedeutungskonstruktion gleicht“.93 Eine pädagogisch-biografische Forschung, die autobiografische Texte auf ihre inhärenten Identitätskonstruktionen, auf ihre individuellen, lebensgeschichtlichen Selbstentwürfe und deren Umdeutungen hin untersucht, dabei auch literarische Konventionen und gattungsspezifische Formtraditionen, Entstehungsbedingungen und mögliche Adressatinnen- und Adressatenkreise berücksichtigt und zudem die Schriften an kulturelle Muster und an die jeweils vorherrschenden, historisch-gesellschaftlichen Diskurse rückbindet – eine solche Forschung steckt wohl noch in den Anfängen.94 Während die Diskussionen um die Methode der narrativen Interviews in den vergangenen beiden Jahrzehnten in den verschiedenen Zweigen der Sozialwissenschaften 91 92 93 94
Schulze, Theodor: Lebenslauf und Lebensgeschichte, in: Baacke, Ders.: Aus Geschichten lernen, S. 217. Jureit, Ulrike: Authentische und konstruierte Erinnerung. Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, in: Werkstatt Geschichte 18 (1997) 6, S. 98. Ebd., S. 91. Ähnliches stellten Edith Glaser und Pia Schmid jedenfalls noch vor einigen Jahren fest (vgl. Glaser, Schmid: Biographieforschung, S. 362). Eine Untersuchung von Stilelementen in autobiografischen Schriften bedarf demnach einer diskursanalytischen Rückkopplung – was voraussetzt, dass der/die Interpretierende die jeweils relevanten Diskurse kennt und die entsprechenden Begrifflichkeiten und Symbole einzuordnen weiß.
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zunehmend differenzierter geführt worden sind und methodisch komplexe Forschungsansätze und Auswertungsverfahren hervorgebracht haben,95 ist die Methodendiskussion zur Verwendung von autobiografischen Quellen in der Erziehungswissenschaft verhältnismäßig überschaubar geblieben – zumal wenn es um die konkrete Analyse und um die Interpretation von autobiografischen Texten geht.96 So stellte Charlotte Heinritz in ihrer umfangreichen Studie zu Frauenautobiografien aus der Zeit des Kaiserreichs im Jahr 2000 fest, dass im Bereich der Autobiografieforschung bislang keine ausgearbeiteten Methoden für eine hermeneutische Interpretation vollständiger Autobiografien vorlägen.97 Heinritz hat es sich in ihrer Studie zum Ziel ge95
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Vgl. u.a. Glaser, Barney, Strauss, Anselm L.: Grounded Theory. Strategien qualitativer Sozialforschung, Bern, Göttingen u.a. [1967] 1998; Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim [1983] 1997; Oevermann, Ulrich, Allert, Tilmann u.a.: Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352-434; Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a.M. 1995; Welzer, Harald: Hermeneutische Dialoganalyse. Psychoanalytische Epistemologie in sozialwissenschaftlichen Fallanalysen, in Kimmerle, Gerd (Hrsg.): Zur Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte, Tübingen 1998, S. 111-138; ders.: Erinnern und weitergeben. Überlegungen zur kommunikativen Tradierung von Geschichte, in: BIOS 11 (1998) 2, S. 155-170. Es ist symptomatisch, dass sich etwa im Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung kein eigenständiger Beitrag über Autobiografien als erziehungswissenschaftliche Quellen findet, sondern dass das Thema in verschiedenen Artikeln des Bandes jeweils nur angeschnitten wird. Hilfreiche Ansätze zur Analyse autobiografischer Zeugnisse aus pädagogischer Perspektive finden sich etwa bei Klika, Dorle: Methodische Zugänge zur historischen Kindheitsforschung, in: Friebertshäuser, Prengel: Handbuch, S. 298-305; Jacobi: Konstruktion und Dekonstruktion; Schulze, Theodor: Autobiographie und Lebensgeschichte, in: Baacke, ders.: Aus Geschichten lernen, S. 126-173; ders.: Interpretation von autobiographischen Texten, in: Friebertshäuser, Prengel: Handbuch, S. 323-340 und vor allem in Heinritz: Auf ungebahnten Wegen. Vgl. Heinritz: Auf ungebahnten Wegen, S. 21. Die Analyse und Interpretation von autobiografischen und anderen Erzähltexten ist vorrangig ein Feld der Literaturwissenschaft. Sie liest die Texte allerdings unter ästhetischen Gesichtspunkten genuin als Artefakte, „[...] die geprägt sind von internen und gattungsbezogenen Form- und Bedeutungsspielen, und die entsprechenden ‚Spielregeln‘ werden nun einmal primär von innerliterarischen Traditionen bestimmt und erst sekundär von pragmatischen Kontexten“ (Elit, Stefan: ‚Ich‘ war einmal. Literaturwissenschaftliche Problemhorizonte bei Subjektivität in Texten, in: zeitenblicke 1 (2002) 2. URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/ 02/elit/index.html (05.12.12). Das Interesse der Literaturwissenschaft an autobiografischen Schriften gilt in erster Linie der „jeweils spezifische[n] textuellen Formung in ihrem ‚Funktionieren‘“ (ebd.) – also formalen und begrifflichen Merkmalen und Strukturen, ih-
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setzt, aus den Frauenautobiografien „zentrale Lebensthemen“ herauszuarbeiten, die die jeweiligen Autobiografien dominieren oder den ‚roten Faden‘ der Erzählung bilden. Um die Texte vollständig interpretieren zu können, greift sie auf sequenzanalytische Auswertungsverfahren von narrativen Interviews zurück, die innerhalb der Biografieforschung, namentlich von Fritz Schütze,98 entwickelt wurden. Bei der Sequenzanalyse von Autobiografien wird besonders den Anfängen der Texte und den Anfängen der Lebensgeschichten große Aufmerksamkeit geschenkt, werden doch hier, so Heinritz, Schreibabsichten und -motivationen deutlich und die zentralen Themen entwickelt.99 In der weiteren Textanalyse orientiert sich Heinritz an der von Schütze entwickelten Unterscheidung von verschiedenen Erzählmodi bzw. Sachverhaltsdarstellungen in Form von Argumentation, Beschreibung und Erzählung. Gerade in Erzählungen, die auch als ‚narrative Passagen‘ bezeichnet werden, würden häufig Erlebnisse berichtet bzw. reflektiert, die möglicherweise paradigmatisch für grundlegende Erfahrungen oder Erkenntnisse stehen.100 Solche ‚Schlüsselszenen‘ oder ‚Schlüsselerlebnisse‘ werden in den Texten zumeist kommentierend eingeleitet und mit einem Resümee abgeschlossen, und sie weisen nicht selten auf biografische Entscheidungs- und Umbruchsituationen hin.101 Theodor Schulze hat bereits in dem 1979 publizierten Band Aus Geschichten lernen auf die Bedeutung der Darstellung von ‚kritischen Ereignissen‘ in autobiografischen Texten hingewiesen – auf Situa-
rer konkreten Funktion und Wirkung im Text sowie ihre Einbettung in einen gattungsspezifischen Zusammenhang. 98 Vgl. Schütze, Fritz: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen: Kommunikative Sozialforschung, München 1976, S. 159-260. 99 Vgl. Heinritz: Auf ungebahnten Wegen, S. 22f.. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt auch den so genannten ‚Epitexten‘ – vorangestellten Mottos, Vorwörtern, Einführungen, Widmungen u.Ä. –, denn hier fänden sich ebenfalls Hinweise auf das ‚autobiografische Programm‘ (ebd., S. 23). Außerdem würden hier die ‚Bedeutsamkeitsversprechen‘ gegenüber den Leserinnen und Lesern formuliert und der ‚autobiografische Pakt‘ mit dem Lesepublikum geschlossen (vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. [1973/1975] 1994). 100 Vgl. Heinritz: Auf ungebahnten Wegen, S. 23. Jedes Ereignis – so Heinritz – habe einen „äußeren Ereignis- und einen inneren Erlebnisschritt“ – auch in autobiografischen Texten: „[J]ede Erzählung gibt in der Regel auf beide Fragen: Was ist geschehen? und Wie wurde das Geschehene erlebt und bewertet? eine Antwort“ (ebd., S. 23, [Herv. i. O.]). 101 Ebd., S. 24.
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tionen, die irritieren, in denen Veränderungen eintreten, die Konflikte und Krisen auslösen oder in denen Grenzen überschritten werden müssen.102 Auch jene Lehrerinnen und Erzieherinnen, die im 19. Jahrhundert vorwiegend aus beruflichen Gründen für einige Zeit ins Ausland gingen, überschritten Grenzen – nicht nur in geografischer, sondern vor allem in lebensgeschichtlicher Hinsicht. Sie verließen ihre angestammte, vertraute Umgebung mit ihren gewohnten kulturellen Mustern und begaben sich, oft mit naiven oder verklärten Vorstellungen über das zu bereisende Land, in die ‚Fremde‘. Die plötzliche und unmittelbare Begegnung mit einer anderen Kultur, in der die eigenen, vertrauten Normen, Werte und Codes keine oder nur noch bedingte Gültigkeit haben, können bei Reisenden alle möglichen Arten verstörender Gefühle wie Desorientierung, Hilflosigkeit, Irritation, Angst, Erschrecken und Abwehr hervorrufen – ein Phänomen, das gemeinhin mit dem Begriff ‚Kulturschock‘ bezeichnet wird.103 In solchen Situationen setzen Prozesse der Selbstvergewisserung ein, die das Ziel haben, das gestörte Verhältnis von ‚Ich‘ und ‚Welt‘ zu klären – ein Verhältnis, das man auch ‚Identität‘ nennen kann.104 Wir vermuten, dass solche Ordnungsleistungen, solche Prozesse der Selbstidentifikation, die sich in der Auseinandersetzung der Autobiografinnen mit dem ‚Fremden‘ vollzogen haben, als ‚kritische Ereignisse‘ bzw. ‚Schlüsselerlebnisse‘ in den Texten retrospektiv erinnert worden sind. Sie geben Aufschluss über das ambivalente Verhältnis von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, mithin über die Mechanismen der Herstellung von Selbst- und Fremdheitskonstruktionen. Zum Aufbau der Studie Bei der Auswertung des uns vorliegenden autobiografischen Materials haben wir sowohl längs- als auch querschnittsorientierte Verfahren angewandt. Entsprechend ist der Hauptteil des Bandes in zwei größere thematische Vgl. Schulze: Lebenslauf und Lebensgeschichte, S. 208f. Das Phänomen des Kulturschocks wurde zuerst von dem amerikanischen Anthropologen Kalvero Oberg beschrieben. Der/die Reisende durchläuft mehrere aufeinanderfolgende Phasen, die von anfänglicher Euphorie über Ernüchterung/Irritation bis hin zu Anpassung und Überwindung des Kulturschocks führen (vgl. Oberg, Kalvero: Cultural Shock: adjustment to new cultural environments, in: Practical Anthropology 7 (1960) S. 177-182; Mörth, Ingo: Fremdheit, wohldosiert. Tourismus als Kultur der kontrollierten Begegnung mit dem Fremden, in: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15 URL: http://soziologie.soz.uni-linz.ac.at/sozthe/staff/moerthpub/Fremdheit.pdf (11.10.2010). 104 Vgl. Heinritz: Auf ungebahnten Wegen, S. 13. 102 103
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Komplexe zu den Reisen ins europäische bzw. außereuropäische Ausland gegliedert. Das querschnittorientierte Verfahren bot sich für jene Zeiträume und Regionen an, für die eine Vielzahl von autobiografischen Zeugnissen vorliegen, auch als Erlebnisberichte in Form von Zeitschriftenartikeln. Mit Hilfe dieses Verfahrens konnten wir für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs Strategien nationaler Selbstbehauptung und Kulturtransferprozesse deutscher Lehrerinnen vor allem in England und in Frankreich rekonstruieren (Kap. 3 und Kap. 4). Ein Exkurs widmet sich eingehender der Lehrerin, Journalistin und Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher, die auf der Folie ihrer langjährigen Auslandserfahrungen das Konzept einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung entwickelte (Kap. 5). Für frühere Epochen und/oder weit entfernt liegende geografische Räume – Südwestafrika, Brasilien und Chile, aber auch Australien – liegen teilweise jeweils nur eine einzige, aber dafür sehr umfangreiche und aussagekräftige Autobiografie vor, so dass hier die individuellen Lebensgeschichten einzelner Lehrerinnen, ihre Selbst- und Fremdheitskonstruktionen im Fokus der Untersuchungen standen (Kap. 6: Bertha Buchwald; Kap. 7: Auguste Mues; Kap. 8: Ina von Binzer). Die Schriften von Lehrerinnen, die zeitweise in den deutsch-afrikanischen Kolonien lebten und dort als ‚Kulturträgerinnen‘ fungieren sollten, sind in ein größeres Diskursfeld um die sog. ‚koloniale Frauenfrage‘ im Wilhelminischen Kaiserreich einzuordnen. Ihr kolonialer Blick auf das ‚Fremde‘ eröffnet Perspektiven und Praxen eines spezifisch weiblich-‚weißen‘ Rassismus (Kap. 9). Der Ausblick am Ende des Bandes verortet das hier dokumentierte Projekt in den Kontext von Analysen zu Internationalisierungsphänomenen in der Geschichte von Erziehung und Bildung und wirft weiterführende Fragestellungen auf (Kap. 10). Bevor jedoch den Bildungsreisenden und pädagogischen Arbeitsmigrantinnen auf ihren Unternehmungen ins Ausland gefolgt wird, ist die berufliche Ausgangslage von Lehrerinnen und Erzieherinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu beleuchten (Kap. 2).
2.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
2.1
Anfänge der institutionalisierten Lehrerinnenbildung
Mit der Berufsbezeichnung Lehrerin wird heute in der Regel eine Tätigkeit im öffentlichen Schulwesen verbunden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein blieb jedoch die Lehrerin ein soziales Konstrukt, das höchst unterschiedliche Berufspositionen mit differenten Tätigkeitsprofilen verband. Lehrerinnen waren in Volksschulen, höheren Mädchenschulen sowie deren Vorklassen tätig,1 aber um die Jahrhundertwende arbeitete immerhin noch ein Viertel aller preußischen Lehrerinnen als Hauslehrerin in Familien des Adels und des wohlhabenden Bürgertums.2 Lehrerinnen erwarben ihre berufliche Qualifikation nicht durch ein akademisches Studium, da ein reguläres Hochschulstudium Frauen noch bis 1900 (Baden) bzw. 1908 (Preußen) verwehrt blieb. Die Ausbildung erfolgte in sogenannten Lehrerinnenseminaren, die häufig in Form von Aufbauklassen mit einer höheren Mädchenschule verbunden waren. Beide Institutionen waren in der Regel im selben Gebäude untergebracht: Das Lehrpersonal der höheren Mädchenschulen unterrichtete zumeist auch im Lehrerinnenseminar und die untersten Jahrgangsstufen dienten teilweise als Seminarübungsschule. Im Gegensatz zum höheren Knabenschulwesen erfüllte das höhere Mädchenschulwesen somit neben allgemeinbildenden auch berufsbildende Aufgaben.3 1
2 3
Die Vorklassen umfassten die ersten drei Schuljahre und entsprechen unserer heutigen Grundschulzeit. Im Kaiserreich gab es noch keinen Schultyp, den alle Kinder – ungeachtet ihrer sozialen Herkunft – gemeinsam besuchten. Die Volksschule war die Bildungsanstalt für Kinder aus niederen sozialen Schichten. In den meisten deutschen Staaten erfolgte der Unterricht in der Volksschule geschlechtergemischt. Das höhere Schulwesen war dagegen geschlechtergetrennt organisiert. Mädchen und Jungen aus bürgerlichen Familien gingen in die entsprechenden Vorklassen der höheren Mädchen- bzw. Knabenschulen. Die gemeinsame Beschulung aller Kinder in den ersten vier Schuljahren ist erst eine Errungenschaft der Weimarer Republik. Vgl. Büttner, Rosalie: Die Lehrerin. Forderungen, Leistungen, Aussichten in diesem Berufe, Leipzig 1899, S. 42. Vgl. Käthner, Martina: Der weite Weg zum Mädchenabitur. Der Strukturwandel der höheren Mädchenschulen in Bremen 1854-1916, Frankfurt a.M. 1994; Ehrich, Karin: Städtische Lehrerinnenausbildung in Preußen. Eine Studie zu Entwicklung, Struktur und Funktionen am Beispiel der Lehrerinnen-Bildungsanstalt Hannover 1856-1926, Frankfurt a.M. u.a. 1995; Stolze, Barbara: Ausbildung und Berufstätigkeit von Volksschullehrerinnen in Westfalen 1832-1926. Eine institutionengeschichtliche und berufsbiographische Studie,
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
Im 19. Jahrhundert bot das höhere Mädchenschulwesen in Deutschland keineswegs das Bild eines wohl geordneten öffentlichen Bildungssystems. Organisation, Verwaltung und Finanzierung des Schulwesens war Sache der zahlreichen deutschen Einzelstaaten, wobei Preußen – als der größte und einflussreichste Staat – bildungspolitisch den Ton angab. Kleinere Staaten, wie z.B. die Stadtstaaten Bremen und Hamburg, orientierten sich an preußischen Vorgaben, allein schon um ihren (männlichen) Landeskindern den Zugang zur Universität zu gewährleisten. Staatlich organisiert, finanziert und verantwortet waren in den meisten deutschen Staaten nur das Volksschulwesen und das höhere Knabenschulwesen; der größte Teil der höheren Mädchenschulen hingegen stand in privater Trägerschaft. Privatschulen waren in Preußen zwar genehmigungspflichtig, einheitliche Organisationsvorgaben oder Lehrpläne existierten jedoch nicht. Auch die Dauer des Schulbesuchs war höchst unterschiedlich geregelt. Schulabschlüsse, die mit einer Berechtigung verbunden waren, konnten bis 1908 an einer höheren Mädchenschule nicht erworben werden. Auch die Dauer der Lehrerinnenausbildung war keineswegs einheitlich festgesetzt. Neben dreijährigen Kursen gab es ebenfalls zwei- oder sogar einjährige Kurse. Die Prüfungsordnungen gingen lange von einer einheitlichen Ausbildung für Lehrerinnen an Volksschulen, mittleren und höheren Mädchenschulen aus. Die ministeriellen Vorschriften unterschieden zwar bereits seit 1845 zwischen einem Volksschul- und einem höheren Lehrerinnenexamen, allerdings bestanden bis Ende des Jahrhunderts Prüfungsordnungen, „‚die eine Durchlässigkeit der Laufbahnen‘ von Volksschullehrerinnen und Lehrerinnen für höhere Mädchenschulen beinhalteten“.4 Der Besuch eines Lehrerinnenseminars war nicht Voraussetzung, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Die Vorbereitung auf die Prüfung konnte durch Privatunterricht oder autodidaktisch erfolgen. Die Prüfung selbst wurde von einer königlichen Prüfungskommission abgenommen. Erst gegen Ende der
4
Pfaffenweiler 1995; Kleinau, Elke: Bildung und Geschlecht. Eine Sozialgeschichte des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland vom Vormärz bis zum Dritten Reich, Weinheim 1997; Enzelberger, Sabina: Sozialgeschichte des Lehrerberufs. Gesellschaftliche Stellung und Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern von den Anfängen bis zur Gegenwart, Weinheim, München 2001, S. 81-141; Bieler, Katharina: Im preußischem Schuldienst. Arbeitsverhältnisse und Berufsbiographien von Lehrerinnen und Lehrern in Berlin-Schöneberg 1871-1933, Köln, Weimar, Wien 2007. Nieswandt, Martina: Lehrerinnenseminare. Sonderweg zum Abitur oder Bestandteil höherer Mädchenbildung? in: Kleinau, Elke, Opitz, Claudia (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt a.M., New York 1996, S. 175.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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1880er Jahre erhielten einzelne Einrichtungen das Recht, die Absolventinnen ihrer Seminare selbst zu prüfen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zeigte sich der preußische Staat an der höheren Mädchen- und Frauenbildung ausgesprochen desinteressiert, da das zentrale Motiv, das ihm zum Eingriff in die höheren Knabenbildung bewogen hatte – die Ausbildung von geeigneten Staatsbeamten – im Fall der Mädchenschulen entfiel. Ob und in welcher Form höhere Mädchenschulen und Lehrerinnenseminare eingerichtet wurden, hing von vielfältigen örtlichen Besonderheiten ab: der Größe einer Stadt und dem gesellschaftlichen Bedarf, der zumeist von Eltern aus dem gehobenen Bürgertum formuliert wurde, die für ihre Töchter eine standesgemäße Bildung anstrebten, den bildungs- und berufspolitischen Interessen öffentlicher, privater, weltlicher und kirchlicher Schulträger sowie der politischen Einflussnahme, die Eltern, Schulgründer/inne/n, Schulträger/inne/n sowie den an höheren Mädchenschulen tätigen Lehrerinnen und Lehrern offen stand.
2.2
Professionalisierungsstrategien der Mädchenschullehrer
1872 tagte in Weimar die erste überregionale Versammlung der im höheren Mädchenschulwesen tätigen Schulleiter, (Ober-)Lehrer und Lehrerinnen. Auf dem Programm der Konferenz stand die Frage der Einordnung der Mädchenschulen in das höhere Schulsystem. Gefordert wurde eine einheitliche Kursdauer von zehn Schuljahren. Der Unterricht zweier lebender Fremdsprachen sollte verbindlich vorgeschrieben werden, und in den oberen Klassen sollten akademisch gebildete Lehrer unterrichten. In Fragen der Schulaufsicht, der Lehrerbesoldung und der Bewilligung staatlicher Zuschüsse sollten die öffentlichen höheren Mädchenschulen den höheren Knabenschulen gleichgestellt werden. Privatschulen sollten nur dann mit einer Unterstützung rechnen können, wenn sie dem aufgestellten Normallehrplan entsprachen. In diesen Forderungen schlug sich der Professionalisierungsanspruch der Mädchenschullehrer nieder, die sich ein Jahr nach der Weimarer Konferenz im Deutschen Verein von Dirigenten und Lehrenden höherer Mädchenschulen (später umbenannt in Deutscher Verein für das höhere Mädchenschulwesen) zusammenschlossen. Mädchenschulpädagogen waren entweder seminaristisch gebildete Volksschullehrer, die durch eine Versetzung an eine höhere Mädchenschule sozialen Aufstieg anstrebten, oder aber Lehrer mit einem abgeschlossenen akademischen Studium, die – aufgrund unzureichender Prüfungsleistungen –
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
nicht im Besitz einer vollen Lehrbefähigung waren5 oder denen aus sonstigen Gründen keine Stelle an einer höheren Knabenschule zuteil geworden war. Die 1880er und 1890er Jahre gelten allgemein als eine ausgesprochene Krisenzeit, in der akademisch gebildete Lehrer bis zu zehn Jahren auf eine feste Anstellung im öffentlichen höheren Knabenschulwesen warten mussten.6 Für erwerbslose Berufsanfänger bot sich daher das statusniedrigere Mädchenschulwesen als Ausweichmöglichkeit an. Dafür nahmen sie zunächst in Kauf, dass sie in der sozialen Hierarchie, was die Bezahlung und das gesellschaftliche Prestige anbetraf, weit hinter den Gymnasiallehrern rangierten. Schon aus rein berufspolitischen Gründen mussten die Standesorganisationen der Mädchenschulpädagogen großes Interesse daran haben, „den eigenen Berufsstand durch eine Aufwertung des Schultyps zu heben“.7 Begründet wurde die Notwendigkeit einer verbesserten Schul- und Berufsausbildung bürgerlicher Mädchen damit, dass sich die Heiratschancen der ‚höheren Töchter‘ aufgrund der demografischen Entwicklung und des immer weiter hinausgeschobenen Heiratsalters bürgerlicher Männer ganz erheblich verringert hätten. Die Chancen, eine standesgemäße Ehe einzugehen, wären seinerzeit gesunken und hätten das bürgerliche Modell der ‚Versorgungsehe‘ brüchig werden lassen. Zugleich habe es die gewandelte Familienstruktur nicht mehr erlaubt, die unverheiratet bleibenden Töchter weiterhin zu unterhalten.8 Daher hätte zunehmend die Notwendigkeit bestanden, Mädchen und Frauen auf eine angemessene Erwerbsarbeit vorzubereiten, wofür verstärkt Bildungseinrichtungen geschaffen werden sollten, die über das Volksschulniveau hinausgingen und Einsatzmöglichkeiten für akademisch gebildete Lehrer geboten hätten.
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6 7 8
Vgl. Führ, Christoph: Gelehrter Schulmann – Oberlehrer – Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der Philologen, in: Conze, Werner, Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 428. Vgl. Titze, Hartmut: Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990. Schneider, Anne, Wiedemann, Martina: Höhere Mädchenschulen, in: Brehmer, Ilse, Jacobi-Dittrich, Juliane (Hrsg.): Frauenalltag in Bielefeld, Bielefeld 1986, S. 65. Vgl. Bussemer, Herrad-Ulrike: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim, Basel 1985, S. 28f.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
2.3
47
Lehrerin – lebenslang ausgeübter Beruf oder Statuspassage?
Der gesellschaftliche und familiale Strukturwandel, mit dem die Mädchenschulpädagogen ihre berufspolitischen Forderungen untermauerten, wurde aber auch von jungen Frauen und Mädchen aus bürgerlichen Familien selbst befördert. Vor allem in den Großstädten weigerten sich immer mehr Mädchen die Wartezeit auf den passenden Heiratskandidaten mit mehr oder weniger sinnlosen Beschäftigungen zu vertändeln, um dann im Falle des ‚Sitzenbleibens‘ auf den gering geachteten „Tantenplatz“9 in der Familie abgeschoben zu werden. Oftmals mit, aber häufig auch gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Familien strebten sie eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung an. Während die Forschung lange Zeit davon ausging, dass nur die ‚höheren Töchter‘ aus dem wohlhabenden Bildungs- und dem Wirtschaftsbürgertum in den Lehrberuf drängten, weisen neuere Untersuchungen darauf hin, dass die soziale Herkunft stärker variierte, als bisher angenommen wurde. James C. Albisetti gelangte in seiner Untersuchung zu der Schlussfolgerung, dass vor allem Volksschullehrerinnen in der Regel aus einer höheren sozialen Schicht stammten als Lehrer mit einer vergleichbaren Ausbildung.10 Ilse Brehmer und ihren Mitarbeiterinnen zufolge muss jedoch zwischen angehenden Volksschullehrerinnen und höheren Lehrerinnen sowie zwischen Absolventinnen von evangelischen und katholischen Seminaren differenziert werden. Darüber hinaus bestünden starke regionale Unterschiede. Katholische Ausbildungsstätten, z.B. die Volksschullehrerinnenseminare in Münster und Paderborn, rekrutierten verstärkt Mädchen aus den sozialen Unterschichten,11 während die Städtische Lehrerinnenbildungsanstalt Hannover, an der höhere Lehrerinnen ausgebildet wurden, überwiegend junge Frauen aus den besitzlosen bürgerlichen Mittelschichten anzog.12 Marion Klewitz zufolge reichte im späten Kaiserreich der „statistisch relevante Einzugsbereich“ bei den angehenden preußischen Volksschullehrerinnen „[…] vom agrarischen über das gewerbliche und das kaufmännische Milieu bis hin zur mittleren Beamtenschaft.“ Zudem war jede fünfte Absolventin 9 10 11
12
Ebd. Vgl. Albisetti, James C.: Schooling German Girls and Women. Secondary and Higher Education in the Nineteenth Century, Princeton, New Jersey 1988, S. 143f. Vgl. Brehmer, Ilse, Ehrich, Karin, Stolze, Barbara: Berufsbiographien von Lehrerinnen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Drittel dieses Jahrhunderts, in: Hohenzollern, Johann Prinz von, Liedtke, Max (Hrsg.): Der weite Schulweg der Mädchen. Die Geschichte der Mädchenbildung als Beispiel der Geschichte anthropologischer Vorurteile, Bad Heilbrunn 1990, S. 314; vgl. auch Stolze: Ausbildung und Berufstätigkeit, S. 142. Vgl. Brehmer, Ehrich, Stolze: Berufsbiographien von Lehrerinnen, S. 314.
48
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
eines staatlichen Seminars Tochter eines Lehrers mit seminaristischer Ausbildung. Dieses Merkmal der ‚Berufsvererbung‘ war bei akademisch gebildeten Oberlehrerinnen nicht so häufig anzutreffen. Diese entstammten eher dem bildungsbürgerlichen Milieu: „Neben Lehrtätigkeiten und geistlichen Berufen dominierten bei den Vätern die höheren Verwaltungspositionen. Die Rekrutierung aus der unteren und mittleren Beamtenschaft kam im Vergleich zu Volksschullehrerinnen sehr viel seltener vor. Ein hervorstechendes Merkmal war, daß jeder vierte Vater von Oberlehrerinnen einen akademischen Ausbildungstand aufwies und auf dieser Grundlage im öffentlichen Dienst tätig war.“13
Da der Beruf der Lehrerin als einer der wenigen standesgemäßen Berufe für bürgerliche Frauen galt, entschieden sich viele Mädchen und junge Frauen für den Besuch eines Lehrerinnenseminars, was aber nicht hieß, dass die Berufswahl immer einer inneren Berufung entsprang. Längst nicht alle Frauen übten den erlernten Beruf auch aus bzw. sie übten ihn oftmals nicht lange aus. Hedwig Dohm, die spätere ‚graue Eminenz‘ des ‚radikalen‘ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung beispielsweise, nutzte das Seminar als Fluchtmöglichkeit aus ihrem Elternhaus. Die dort vermittelte Ausbildung fand sie intellektuell völlig unbefriedigend, und die 1853 geschlossene Ehe mit Ernst Dohm bewahrte sie davor, in dem von ihr ungeliebten Beruf tätig werden zu müssen.14 Die junge Anita Augsburg hatte ihrem Vater den Besuch des Lehrerinnenseminars in Berlin abgetrotzt. Sie entfloh dem kleinstädtischen Verden an der Aller, aber nur um sich nach bestandener Lehrerinnenprüfung ihrem eigentlichen Ziel, einer Bühnenkarriere, zu widmen. Nach diversen beruflichen Engagements an renommierten Bühnen sowie der Eröffnung eines Fotoateliers in München entschloss sie sich 1893 zu einem Jurastudium in der Schweiz und war 1897 eine der ersten promovierten Juristinnen Deutschlands.15 Von anderen Frauen wurde die Lehrerinnentätigkeit von vornherein als ein Übergangsstadium in der beruflichen Entwicklung betrachtet. So arbeiteten z.B. die beiden ersten deutschen Ärztin13
14
15
Klewitz, Marion: Zwischen Oberlehrern und Müttern. Professionalisierung im Lehrerinnenberuf (1870-1920), in: Dies., Schildmann, Ulrike, Wobbe, Theresa (Hrsg.): Frauenberufe – hausarbeitsnah? Zur Erziehungs-, Bildungs- und Versorgungsarbeit von Frauen, Pfaffenweiler 1989, S. 77f. Zur Biographie Hedwig Dohms vgl. Brandt, Heike: „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“. Die Lebensgeschichte der Hedwig Dohm, Weinheim, Basel 1989; Meißner, Julia: Mehr Stolz, Ihr Frauen! Hedwig Dohm – eine Biographie, Düsseldorf 1987. Zur Biographie Anita Augsburg vgl. Frederiksen, Elke (Hrsg.): Die Frauenfrage in Deutschland 1865-1915. Texte und Dokumente, Stuttgart 1981, S. 451-453.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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nen, Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus, vor ihrer Studienaufnahme in der Schweiz als (Haus-)Lehrerinnen.16 Für viele junge Mädchen bürgerlicher Herkunft gehörten Lehrerinnenausbildung und Berufsausübung zu einer „Statuspassage […], die mit der Heirat enden konnte“.17 Nicht nur Sitte und Gewohnheit erzwangen in diesem Fall die Berufsaufgabe, sondern auch das 1880 erstmalig per Ministererlass verordnete ‚Lehrerinnenzölibat‘. Die von großen Teilen der Gesellschaft geteilte Begründung lautete, dass die Familienpflichten einer Frau nicht mit einer außerhäuslichen Berufstätigkeit zu vereinbaren seien. Im Falle der Verheiratung einer beamteten Lehrerin ordnete der Erlass die unmittelbare Aufhebung des Dienstverhältnisses an. 1897 wurde diese Regelung in einem weiteren Erlass bestätigt. In einer Phase spürbaren Lehrermangels wurde diese Regelung zehn Jahre später dadurch entschärft, „daß nun die provisorische Beschäftigung verheirateter Lehrerinnen in Ausnahmefällen gestattet wurde“. Ein weiterer Ministerialerlass vom 8. November 1909 hob für verheiratete Lehrerinnen „alle Vorteile der Verbeamtung auf: Unkündbarkeit, Anspruch auf steigende Gehaltssätze sowie Pensionsberechtigung“.18 Auf diese Weise wurden verheiratete Lehrerinnen zu einer billigen und flexiblen Arbeitsmarktreserve, jederzeit kündbar und als Konkurrentinnen einsetzbar gegen ledige Lehrerinnen. Die Zölibatsklausel diente demnach keineswegs nur dazu, das Konkurrenzverhältnis zwischen Männern und Frauen im Bildungssektor zugunsten der Männer zu beeinflussen, sondern sie vertiefte auch die Fraktionierungen innerhalb der Lehrerinnenschaft.19. Um die Jahrhundertwende traten die organisierten Lehrerinnen mehrheitlich für den Zölibat ein, weil sie mit der Aufhebung des Eheverbots berufspolitische Erfolge gefährdet sahen.20
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20
Vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 72f.; vgl. auch Brinkschulte, Eva (Hrsg.): Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung eines Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1994. Haupt, Heinz-Gerhard: Männliche und weibliche Berufskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992) 2, S. 149. Kercher, Brigitte: Beruf und Geschlecht. Frauenberufsverbände in Deutschland 18481908, Göttingen 1992, S. 123. Dieser Interpretation wird gestützt durch die ‚Entdeckung‘ Katharina Bielers, dass die Stellen – zumindest im Schöneberger Volksschulwesen – geschlechtsgebunden waren (vgl. Bieler: Im Preußischen Schuldienst, S. 206). Zum Lehrerinnenzölibat vgl. auch Enzelberger, Sozialgeschichte des Lehrerberufs, S. 111-115; Kleinau: Bildung und Geschlecht, S. 216-229.
50
2.4
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
Professionalisierungsstrategien von Lehrerinnen
Der Ausbau des höheren Mädchenschulwesens lässt sich aber nicht ausschließlich auf die Professionalisierungsbestrebungen der dort tätigen männlichen Lehrkräfte zurückführen. In zunehmendem Maße begannen sich auch die Lehrerinnen zu organisieren, weil sie ihre Interessen im Deutschen Verein für das höhere Mädchenschulwesen nicht angemessen vertreten sahen. Die bürgerliche Frauenbewegung, die sich 1865 im Allgemeinen Deutschen Frauenverein konstituiert hatte, proklamierte unter der Führung von Louise Otto-Peters ein Recht der Frauen auf Erwerb. Für die Ausübung qualifizierter Erwerbsarbeit war daher eine bessere Schul- und Berufsausbildung von Mädchen unabdingbar. Die Frauenbewegung, deren führende Köpfe in Deutschland Lehrerinnen waren, unterstützte zwar die auf der Weimarer Mädchenschulkonferenz gefassten Beschlüsse zur Vereinheitlichung des höheren Mädchenschulwesens, nahm aber Anstoß an dem dahinter stehenden Mädchenbildungsideal, das sie mit der Parole ‚Bildung um des Mannes willen‘ umschrieb.21 Gemäß diesem Verständnis von der Frau als der Gehilfin des Mannes sollten die Schulleitung und der Unterricht in den oberen Klassen der öffentlichen höheren Mädchenschulen weiterhin Männern vorbehalten bleiben. Lehrerinnen wurden auf die unterste Stufe der Schulhierarchie verwiesen. Gegen diese berufliche Dequalifizierung verwahrte sich der Berliner Verein für höhere Töchterschulen, dem sowohl Männer als auch Frauen, vor allem Privatschullehrerinnen und -leiterinnen, angehörten. Die 1873 publizierte Denkschrift dieses Vereins nahm in wesentlichen Zügen bereits die Argumentation vorweg, die später von Helene Lange (1848-1930) in ihrer berühmt gewordenen Schrift Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung, genannt die Gelbe Broschüre, weiter ausgebaut wurde.22 Die Berliner Denkschrift operiert mit dem Begriff der ‚weiblichen Bestimmung‘, zu der die Schülerinnen erzogen werden sollten. Auf ihre spätere Aufgabe als ‚Hausfrau, Gattin und Mutter‘ könnten die Mädchen nur durch Frauen vorbereitet werden. Mit dieser Argumentation schufen sich die organisierten Lehrerinnen „eine Nische im Kampf um ein berufliches Tätigkeitsfeld“. Sie emanzipierten sich selbst von dieser ‚weiblichen Bestimmung‘, die für sie nur die Zuständigkeit 21
22
Vgl. Bäumer, Gertrud: Geschichte und Stand der Frauenbildung in Deutschland, in: Handbuch der Frauenbewegung. Hrsg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer. Bd. III: Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern, Berlin 1902, S. 111. Vgl. Lange, Helene: Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung. Begleitschrift zu einer Petition an das preußische Unterrichtsministerium und das preußische Abgeordnetenhaus, Berlin 1887.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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für Heim und Familie vorsah, nahmen aber zugleich „die tradierte Definition auf, indem sie die Bildung ihrer Klientel auf jene Bestimmung der Frau hin“ einengten, „die nur von weiblichen Lehrkräften vermittelt werden“ konnte.23 Aus der bürgerlichen Frauenbewegung gingen seit 1884 die ersten lokalen Zusammenschlüsse von Lehrerinnen hervor. Die größte berufspolitische Vereinigung war der 1890 in Friedrichroda gegründete und auf nationaler Ebene operierende Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV),24 der zehn Jahre später bereits 16.000 Mitglieder umfasste.25 Der ADLV wurde von 1890-1921 von Helene Lange geleitet. Die streitbare Vorsitzende verknüpfte die Reform des höheren Mädchenschulwesens untrennbar mit der Lehrerinnenfrage und war mit dieser Strategie ungemein erfolgreich. Die grundlegenden Positionen des ADLV finden sich bereits in Helene Langes Werk Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung, die 1887 als Begleitschrift einer Petition an das preußische Unterrichtsministerium und Abgeordnetenhaus verfasst, den Beginn von Langes öffentlich wahrgenommenen bildungspolitischen Engagements markiert. Die Petition, die aus dem Kreis um den freisinnigen Abgeordneten Karl Schrader und seiner Frau Henriette SchraderBreymann, einer Großnichte Friedrich Fröbels,26 hervorgegangen war, stellte zwei konkrete Forderungen, die in der Begleitschrift ausführlich begründet wurden. Zum einen sollten Lehrerinnen auch in der Mittel- und Oberstufe öffentlicher höherer Mädchenschulen unterrichten dürfen, vor allem in den Fächern Deutsch und Religion, und zum anderen sollte der Staat institutionelle Weiterbildungsmöglichkeiten für die wissenschaftliche Qualifizierung von Lehrerinnen bereitstellen.27 23
24
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27
Kraul, Margret: Höhere Mädchenschulen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: (1870-1918): Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Hrsg. von Christa Berg, München 1991, S. 281f. Vgl. Lange, Helene: Unsere Bestrebungen. Vortrag gehalten in der ersten allgemeinen Versammlung deutscher Lehrerinnen zu Friedrichroda am 27. Mai 1890, in: Kleinau, Elke, Mayer, Christine (Hrsg.): Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Eine kommentierte Quellensammlung zur Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte von Mädchen und Frauen, Bd. 1, Weinheim 1996, S. 118-123. Brigitte Kerchner kommt in ihrer Studie Beruf und Geschlecht zu dem Ergebnis, dass sich bis 1890 – dem Gründungsjahr des ADLV – bereits 2.500 Lehrerinnen in 19 lokalen, sieben überregionalen und zwei Auslandsvereinen organisiert hatten. Vgl. Kerchner: Beruf und Geschlecht, S. 80. Vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 159. Vgl. Moltmann-Wendel, Elisabeth: Macht der Mütterlichkeit. Die Geschichte der Henriette Schrader-Breymann. Pädagogin und Gründerin des Berliner Pestalozzi-FröbelHauses, Berlin 2003. Vgl. Lange: Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung, S. 3.
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
In dem Text ist zwar von einer wissenschaftlichen Ausbildung von Lehrerinnen die Rede, aber zu diesem Zeitpunkt war noch nicht an ein Universitätsstudium gedacht. Die Lehrerinnenbildung sollte in eigenständigen Frauenhochschulen erfolgen, die Helene Lange in Anlehnung an englische Frauencolleges in Internatsform organisiert sehen wollte.28 Zwei Jahre später rückte sie unter dem Eindruck, dass eine andersartige Bildung von Frauen nie als gleichwertig anerkannt würde, von dieser Position wieder ab und forderte nun die Öffnung der Universitäten für Frauen.29 Im Gegensatz zum ‚radikalen‘ Flügel der Frauenbewegung, der die Zulassung von Frauen zu allen Studiengängen forderte,30 konzentrierte sich der ‚gemäßigte‘ um Helene Lange auf den Zugang zum Studium der Medizin und zum höheren Lehramt. Politisch gesehen war der Petition zunächst kein Erfolg beschieden, im preußischen Abgeordnetenhaus wurde sie nicht einmal diskutiert. Für die Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland stellte sie jedoch einen entscheidenden Wendepunkt dar. Als Frauen wie Helene Lange klar wurde, dass ‚Vater Staat‘ kein Interesse an der höheren Mädchenbildung zeigte, griffen sie zur Selbsthilfe. Lange gründete in Berlin die sogenannten Realkurse, in denen junge Frauen in einem Zwei-Jahresprogramm auf ein Studium im Ausland, vornehmlich in der Schweiz, vorbereitet wurden.31 Als 1893 eine Zulassung zum deutschen Abitur in greifbare Nähe rückte, wurden die Realkurse in vierjährige Gymnasialkurse umgewandelt.32
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Ebd., S. 51. Lange, Helene: Frauenbildung, Berlin 1889, S. 10f. Albisetti zufolge wurde die Idee einer separaten Frauenhochschule, die der ‚weiblichen Eigenart‘ Rechnung tragen sollte, in den späten 1890er Jahren von der Frauenbewegung nicht mehr vertreten. Die geforderte Gleichheit der Bildungschancen ließ die Orientierung am weiblichen Geschlechtscharakter in den Hintergrund treten und beförderte die organisatorische Angleichung der höheren Mädchen- an die Knabenbildung (vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 157). Vgl. Satzungen des Deutschen Frauenverein Reform für Eröffnung wissenschaftlicher Berufe für die Frauenwelt, in: Kettler, Hedwig: Gleiche Bildung für Mann und Frau! (Bibliothek der Frauenfrage, Heft 6), Weimar 1891, S. 23. An der Universität Zürich konnten sich Frauen seit 1864 als ordentliche Studierende einschreiben. Vgl. Bäumer, Gertrud: Geschichte der Gymnasialkurse für Frauen in Berlin. Hrsg. vom Vorstand der Vereinigung zur Veranstaltung von Gymnasialkursen für Frauen, Berlin 1906, S. 34-40.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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Die Verlängerung der Schulzeit wurde notwendig, weil bis zum Jahr 1900 das humanistische Gymnasium mit seiner Konzentration auf die alten Sprachen der einzige höhere Schultyp war, der die volle Studienberechtigung verlieh. Der schulische Unterbau der Real- bzw. Gymnasialkurse, die neunbzw. zehnklassige höhere Mädchenschule, wartete aber mit einem neusprachlichen Profil auf, so dass die jungen Frauen ein enormes Pensum in den Fächern Latein und Griechisch nachzuholen hatten. Aus den Gymnasialkursen gingen Ostern 1896 – nach einem von externen Prüfern abgenommenen Examen – die ersten sechs staatlich geprüften Abiturientinnen hervor. Bis zur Erlangung der Hochschulreife hatten sie 14 Schuljahre absolvieren müssen, zwei mehr als Jungen.33
2.5
Einführung der Oberlehrerinnenprüfung
Erst die Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen vom 31. Mai 1894 kamen der Petition partiell nach. Seminaristisch gebildete Lehrerinnen konnten nun eine Art ‚Aufbaustudiengang‘ belegen, der zum Unterricht in den höheren Klassen der höheren Mädchenschule berechtigte. Voraussetzung für die Zulassung zur sogenannten Oberlehrerinnenprüfung waren eine fünfjährige Unterrichtstätigkeit, wobei zwei dieser fünf Jahre an einer öffentlichen höheren Schule abgeleistet werden mussten, ein zwei- bis dreijähriges Studium als Gasthörerin an einer Universität oder in besonderen wissenschaftlichen Kursen. Das preußische Unterrichtsministerium hoffte zweifellos mit dieser neu geschaffenen Weiterqualifizierung weitergehenden Forderungen der Frauenbewegung nach einem Mädchengymnasium und zum regulären Hochschulstudium den Wind aus den Segeln zu nehmen. Für den ADLV stellte diese Regelung jedoch keine akzeptable Lösung dar, da ihm die Seminarausbildung als Grundlage für ein Hochschulstudium völlig ungeeignet erschien. Zudem war mit dem erfolgreich abgeschlossenen Oberlehrerinnenexamen weder eine automatische Einweisung in eine entsprechend etatisierte Stelle in den oberen Klassen der höheren Mädchenschule, noch eine Angleichung der Bezahlung an die der männlichen Oberlehrer verbunden. Darüber hinaus kritisierte der ADLV, dass keine staatlichen Einrichtungen zur Vorbereitung auf das Oberlehrerinnenexamen vorgesehen waren, sondern die Gründung wissenschaftlicher Kurse wiederum privater Initiative 33
Vgl. Kraul: Höhere Mädchenschulen, S. 283.
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
überlassen blieb. Getragen wurden die Kurse, die nun in mehreren deutschen Großstädten entstanden, zumeist von lokalen Frauenvereinen. Den Besuch dieser „gebührenpflichtigen Selbsthilfeeinrichtungen“34 konnten sich in der Regel nur Frauen aus bildungsorientierten und wohlhabenden Familien leisten. 1905 wurde dann Frauen nach einem sechssemestrigen Studium – zumeist als Gasthörerinnen – die Erlaubnis erteilt, das Staatsexamen für das höhere Lehramt, pro facultate docendi, abzulegen. Aber anders als bei den männlichen Kollegen begründete das Examen keinen Anspruch auf eine Einstellung im öffentlichen Dienst. Die Dauer der höheren Mädchenschule wurde in den Maibestimmungen einheitlich auf neun Schuljahre festgelegt. Damit blieben die ministeriellen Bestimmungen nicht nur hinter den Forderungen der Frauenbewegung, sondern sogar hinter der Realität zurück, da die meisten höheren Mädchenschulen bereits zehnstufig ausgebaut waren. Diesen wurde erlaubt, fakultativ eine Selekta als zehnte Klasse einzurichten. Während die höheren Mädchenschulen in den meisten deutschen Staaten – so auch in Preußen – zum niederen, berechtigungslosen Schulwesen gehörten,35 konnten Schulen, die mit einem Lehrerinnenseminar verbunden waren, auf Antrag dem Provinzialkollegium, d.h. der Verwaltungsbehörde des höheren Schulwesens, unterstellt werden.36 Wie viele Anträge gestellt und tatsächlich genehmigt worden sind, ist jedoch noch nicht systematisch erforscht worden.
2.6
Die preußische Mädchenschulreform von 1908: Zulassung zum Abitur und zum akademischen Lehramt
Auch mit den 1908 erlassenen Bestimmungen über die Neuordnungen des höheren Mädchenschulwesens konnten sich die preußischen Bildungspolitiker nicht dazu durchringen, das höhere Mädchenschulwesen dem höheren Knabenschulwesen völlig gleichzustellen. Vorerst wurde eine Reihe von Sonderregelungen beibehalten. Mit der preußischen Mädchenschulreform wurden die höheren Mädchenschulen (ab 1912 Lyzeen genannt) generell zehnstufig ausge34 35
36
Enzelberger, Sozialgeschichte des Lehrerberufs, S. 127. Die Kriterien, ob eine Schule verwaltungsmäßig dem höheren oder niederen Schulwesen zugerechnet wurde, waren unterschiedlich. In Bremen war z.B. die Höhe des Schulgeldes eine wesentliche Bemessungsgrundlage. Von daher gehörten die exklusiven höheren Töchterschulen dort auch zum höheren Schulwesen (vgl. Käthner: Der weite Weg). Vgl. Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen in Preußen vom 31. Mai 1894. Nebst einem Anhang, enthaltend die Prüfungs-Ordnungen. Nach amtlichen Quellen ergänzt und erläutert, Berlin 1903.
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baut und der Aufsicht der Provinzialschulkollegien unterstellt.37 Damit war ihre Anerkennung als höherer Schultyp gesetzlich festgeschrieben. Dem Bedürfnis nach weiterführender Bildung wurde mit der Einrichtung von Oberlyzeen Rechnung getragen. Das Oberlyzeum, das auf dem zehnklassigen Lyzeum aufbaute, setzte sich aus der Frauenschule, einem neugeschaffenen zweijährigen, allgemeinbildenden Schultyp, und dem höheren Lehrerinnenseminar zusammen. Das vierjährige Lehrerinnenseminar gliederte sich in drei aufsteigende wissenschaftliche Klassen und eine einjährige Seminarklasse, die der unterrichtspraktischen Ausbildung der Seminaristinnen diente. Das Abschlusszeugnis eines höheren Lehrerinnenseminars führte zunächst nicht zur allgemeinen Hochschulreife. Erst durch eine Verfügung vom 3. April 1909 wurde die Zulassung zum Examen pro facultate docendi nach zweijähriger Berufstätigkeit und sechssemestrigem Studium ermöglicht. Seit 1913 berechtigte das seminaristische Lehrerinnenexamen direkt zum Studium an der Philosophischen Fakultät. Das Unterrichtsministerium schuf damit neben den drei anerkannten Typen höherer Bildung (Humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) einen ‚vierten‘ Weg zum Universitätsstudium. Der reguläre Weg zur Hochschulreife führte für Mädchen über die Studienanstalten, die sich in ihrer Ausrichtung an den Schultypen des höheren Knabenschulwesens orientierten. Studienanstalten waren keine grundständigen Einrichtungen, bei ihrer Konzeption hatte vielmehr das Gabelungsprinzip Pate gestanden. Die gymnasialen (altsprachlich) und realgymnasialen (neusprachlich mit Latein) Studienanstalten zweigten nach dem siebten Jahrgang des Lyzeums ab, die oberrealen (neusprachlich und naturwissenschaftlich) nach dem achten Jahrgang und führten in einem sechs- bzw. fünfjährigen Kursus zum Abitur.38 Diese Regelung bedeutete, dass Mädchen bis zur Hochschulreife immer noch ein Jahr länger zur Schule gehen mussten als
37
38
Zu zeitgleichen Reformen in anderen deutschen Staaten vgl. Ehrich, Karin: Stationen der Mädchenschulreform. Ein Ländervergleich, in: Kleinau, Opitz: Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, Bd. 2, S. 129-148. Andere deutsche Staaten entschieden sich für die Lösung, die Studienanstalten als dreijährige Aufbaukurse auf die höhere Mädchenschule einzurichten. Da das Sprachenpensum in diesem Zeitraum kaum zu bewältigen war, bedeutete diese Entscheidung zugleich eine Festlegung auf den Typ der oberrealen Studienanstalt. Deren naturwissenschaftliche Fächerausrichtung entsprach aber nicht den Studienwünschen der Mädchen, die es mehrheitlich in die neueren Sprachen, Kunstgeschichte, Geschichte und Medizin zog (vgl. Ehrich: Stationen der Mädchenschulreform).
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
Jungen, deren neunjähriger Gymnasialkurs auf einer dreijährigen Vorschule aufbaute.39 Die Mädchenschulreform von 1908 war den Forderungen des ‚gemäßigten‘ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung in vielen Punkten nachgekommen. Strittig blieb die Zulassung der seminaristisch vorgebildeten Lehrerin zum Hochschulstudium. Der ‚vierte Weg‘ stieß beim ADLV auf vehemente Ablehnung, da die seminaristische Ausbildung, so argumentierte die Vereinsvorsitzende Helene Lange, als Grundlage für ein Universitätsstudium ungeeignet sei und auf jeder Sonderregelung, die nur für Frauen gelte, der Verdacht der Zweitklassigkeit laste. Von den Lehrerinnen wurde diese Chance zur Weiterqualifizierung allerdings eifrig genutzt. Im Wintersemester 1911/1912 studieren in Preußen „700 Frauen mit dem Reifezeugnis eines Realgymnasiums, 184 mit dem eines Gymnasiums, 43 mit dem einer Oberrealschule, zusammen 927 mit Abitur. Denen standen 759 ohne Reifezeugnis gegenüber, d.h. im Wesentlichen Studentinnen des ‚vierten Weges‘.“40 Ein weiterer Streitpunkt zwischen der Frauenbewegung und dem Unterrichtsministerium ergab sich durch die Verfügung, dass Studienanstalten nur dort eingerichtet werden durften, wo zuvor für ein traditionelles Bildungsangebot in Form einer Frauenschule gesorgt worden war. Dabei litt die allgemeinbildende Frauenschule, die ihren Schwerpunkt in den Fächern Pädagogik, Hauswirtschaft, Bürgerkunde und soziale Hilfstätigkeit41 hatte, zunächst an mangelnder Nachfrage seitens fortbildungswilliger Schülerinnen. Erst ihre Verknüpfung mit berufsbildenden Funktionen – ab 1911 war z.B. der Besuch des ersten Frauenschuljahres Vorbedingung für eine Kindergärtnerinnenausbildung – sicherte der Frauenschule ein eigenständiges Profil als berufsvorbereitende Schule für nicht akademische ‚Frauenberufe‘.42 Dieser Koppelungsbeschluss machte die ministerielle Präferenz für eine Weiterbildung, die nicht zur Hochschulreife führte, überdeutlich. Reguläres Ziel der höheren Mädchenbildung war nicht das Abitur; diese Laufbahn sollte nur einer Minderheit besonders begabter Schülerinnen vorbehalten sein. Das Gros der Mädchen sollte weiterhin gemäß der ‚weiblichen Bestimmung‘ gebildet werden. Daher fanden die Forderungen des ‚radikalen‘ Flügels der 39 40
41 42
Vgl. Kraul: Höhere Mädchenschulen, S. 287. Huerkamp, Claudia: Frauen, Universitäten und Bildungsbürgertum. Zur Lage studierender Frauen 1900-1930, in: Siegriest, Hannes (Hrsg.): Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988, S. 209. Soziale Hilfstätigkeit ist eine zeitgenössische Bezeichnung für Sozialarbeit – als sie von Frauen noch ehrenamtlich und damit unbezahlt ausgeübt wurde. Vgl. Ehrich, Karin: Stationen der Mädchenschulreform, S. 135.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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Frauenbewegung nach einem grundständigen Mädchengymnasium oder der Öffnung der höheren Knabenschulen für Mädchen im Ministerium kein Gehör. Im Prinzip konnten nach der Mädchenschulreform von 1908 an allen höheren Mädchenschulen zum Abitur führende Studienanstalten eingerichtet werden. Faktisch hatten aber nur die höheren Mädchenschulen in den größeren Städten des Kaiserreichs einen organisatorischen Ausbaustand und ein ausreichend finanzkräftiges Rekrutierungsfeld, um ein Oberlyzeum und eine Studienanstalt einzurichten. Der Umweg über das Lehrerinnenseminar prägte daher den Bildungsweg der Mädchen noch lange über die preußische Mädchenschulreform hinaus. Viele Eltern bestanden zudem darauf, dass ihre Töchter zunächst die Lehrerinnenausbildung absolvierten, bevor sie ein Hochschulstudium aufnahmen. Für diesen Umweg sprachen aus Sicht der Eltern vor allem zwei Gründe: Zunächst einmal wurde Wert darauf gelegt, dass die Mädchen eine abgeschlossene Berufsausbildung erhielten, mit der sie sich im Notfall ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Heiratete ein Mädchen kurz vor oder nach Abschluss der Lehrerinnenbildung, so galt die Bildungsinvestition trotzdem als gut angelegt, da die pädagogische Ausbildung jetzt den eigenen Kindern zugutekommen konnte. Anders verhielt es sich dagegen mit einem abgebrochenen Studium. Hier galt die Bildungsinvestition als verschwendet. Mit dem Umweg über das Lehrerinnenseminar sollten die jungen Frauen demnach ihre Studienmotivation unter Beweis stellen und das Studium erst in einem ‚reiferen‘ Alter beginnen, in dem ein Studienabbruch durch Heirat nicht mehr zu befürchten war. Die 1892 geborene Elisabeth Blochmann, die „‚First-Lady‘ der akademischen Pädagogik“, wie Juliane Jacobi sie genannt hat,43 legte z.B. 1914 das höhere Lehrerinnenexamen ab, bereitete sich daran anschließend auf das humanistische Abitur vor und begann mit Mitte zwanzig ihr Studium in Straßburg. Erst in der Weimarer Republik führte der Weg für die Gymnasiastinnen direkt von der Schulbank ins Lehramtsstudium. Dass die Mädchenschulreform letztendlich auf einen Kompromiss zwischen Ministerium, Mädchenschulpädagogen und ‚gemäßigten‘ Frauenrechtlerinnen abzielte, wird spätestens daran deutlich, dass die Forderung nach mehr Stellen für Lehrerinnen im höheren Mädchenschulwesen nicht erfüllt wurde. Der Lehrkörper an den Lyzeen wurde stärker akademisiert, der Unterricht in den wissenschaftlichen Fächern der Mittel- und Oberstufe sollte 43
Vgl. Jacobi, Juliane: Elisabeth Blochmann: First-Lady der akademischen Pädagogik, in: Brehmer, Ilse (Hrsg.): Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Bd. 1, Pfaffenweiler 1990, S. 256-263.
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jetzt zur Hälfte von akademisch gebildeten Lehrerinnen und Lehrern erteilt werden. Die Einsatzmöglichkeiten der seminaristisch gebildeten Lehrerinnen wurden dadurch eingeschränkt, und durch eine Quotenregelung wurde sichergestellt, dass die Zahl männlicher Lehrkräfte an den Lyzeen nie unter ein Drittel fiel.44 Der Unterricht an den höheren Knabenschulen blieb dagegen weiterhin ein Vorrecht männlicher (Ober-)Lehrer. Bis 1927 standen den 9.129 Studienräten an öffentlichen höheren Knabenschulen in Preußen lediglich zwölf weibliche Kollegen gegenüber.45 Durch den Ausbau des öffentlichen und den zunehmenden Rückgang des privaten Mädchenschulwesens verringerten sich die Karrierechancen der seminaristischen Lehrerinnen noch einmal mehr. In den 1920er Jahren erfuhr das höhere Mädchenschulwesen durch die Einführung der vierjährigen für alle Kinder obligatorischen Grundschule, die Abschaffung der seminaristischen (Volksschul-)Lehrer- und Lehrerinnenausbildung und den damit verbundenen Funktionsverlust des Oberlyzeums eine grundlegende Änderung. Die Einführung der vierjährigen Grundschule hätte die Kursdauer des Lyzeums auf elf Jahre verlängert. Das Lyzeum wurde daher in den Richtlinien für die Umgestaltung von Lyzeen und Oberlyzeen vom 21. März 1923 um eine Jahrgangsklasse verkürzt, so dass die Schulzeit der Mädchen nunmehr derjenigen der Jungen angeglichen war. Das Oberlyzeum wurde in eine grundständige Vollanstalt umgewandelt. Als neusprachliches Gymnasium konzipiert, umfasste sein Lehrplan die beiden modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch und ab 1925 darüber hinaus fakultativen Lateinunterricht. Das neue Oberlyzeum erwies sich bald als die bei weitem attraktivste Schulform unter den zur Hochschulreife führenden Anstalten. Bereits im Jahr 1926 hatte es mit 509 Abiturientinnen nur wesentlich weniger Absolventinnen als die drei anderen Typen von Studienanstalten zusammen.46 Mit der Umwandlung des Oberlyzeums und mit der 1926 erfolgten Verlegung der seminaristischen Volksschullehrer-und Volksschullehrerinnenbildung an die neu gegründeten Pädagogischen Akademien wurde schließlich die seminaristische Lehrerinnenbildung in Preußen abgeschafft. In einigen deutschen Staaten, wie z.B. in Hamburg oder in Thüringen, wurde in den 44
45 46
Bestimmungen über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen. Hrsg. in dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Nr. 8 (1908), S. 707f. Vgl. Huerkamp, Claudia: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen, Göttingen 1996, S. 67. Vgl. ebd., S. 52.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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1920er Jahren die gesamte Lehrer- und Lehrerinnenbildung an die Universitäten verlagert.
2.7
Berufsperspektiven von Lehrerinnen – das Ausland als Chance
Nach erfolgreich abgelegtem Examen sahen die Berufsverläufe von Lehrerinnen sehr unterschiedlich aus. Da das öffentliche höhere Mädchenschulwesen in Zeiten der periodisch wiederkehrenden ‚Überfüllung im Lehrberuf‘ als Arbeitsplatz auch für akademisch gebildete Lehrer äußerst attraktiv war, gelang nur wenigen Lehrerinnen der direkte Berufseinstieg in eine der begehrten Stellen an öffentlichen Mädchenschulen. Sie arbeiteten entweder im Volkschulwesen, obwohl auch dort bevorzugt männliche Lehrer eingestellt wurden, in privaten höheren Mädchenschulen oder sie überbrückten die Wartezeit als Hauslehrerin im In- und Ausland. Die bildungshistorische Forschung, die der geografischen Mobilität von Lehrerinnen lange Zeit wenig Beachtung geschenkt hat, unterscheidet inzwischen vier verschiedene Gruppen von Lehrerinnen,47 die aus unterschiedlichen Motiven ins Ausland gingen. Für die erste Gruppe wird geltend gemacht, dass Auslandserfahrungen die Chancen auf eine Festanstellung im öffentlichen oder privaten Schulwesen im Heimatland erhöht hätten. In vornehmlich englisch- und französischsprachigen Ländern hätten Lehrerinnen ihre in der höheren Mädchenschule und im Seminar erworbenen Fremdsprachenkenntnisse vertieft und damit einen Qualifikationsvorsprung gegenüber den männlichen Oberlehrern erlangt. In der Konkurrenz mit akademisch gebildeten Oberlehrern, die zumeist nicht über derartige Erfahrungen verfügten, hätten die Lehrerinnen bei Bewerbungen ihre Gewandtheit und Sicherheit in der alltagssprachlichen Kommunikation in die Waagschale werfen können. Für eine zweite Gruppe habe ein Auslandsaufenthalt als geeignete Vorbereitung für das 1894 eingeführte Oberlehrerinnenexamen gegolten. Seit dem Erlass der Maibestimmungen von 1894 wurde obligatorisch Französisch ab dem vierten, Englisch ab dem siebten Schuljahr in der höheren Mädchenschule unterrichtet. Gerade in diesen Fächern konnte die Kompetenz weiblicher Lehrkräfte kaum
47
Die Zusammenstellung der Gruppen erfolgte nach Ehrich, Karin: „… ich will ja auch geduldig ausharren“. Käthe Stricker in London 1889-1890, in: Drechsel, Ulrike Wiltrud (Hrsg.): Höhere Töchter. Zur Sozialisation bürgerlicher Mädchen im 19. Jahrhundert, Bremen 2001, S. 142f.
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Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
angezweifelt werden, hatte doch die höhere Mädchenschule traditionell ihren Schwerpunkt in den modernen Fremdsprachen. Während es sich bei diesen beiden ersten Gruppen wohl hauptsächlich um jüngere Lehrkräfte handelte, die für ihre weitere berufliche Zukunft eine Stelle im deutschen höheren Mädchenschulwesen anvisierten, wird eine dritte Gruppe von zumeist älteren, berufserfahrenen Lehrerinnen angenommen, die sich aus ‚Werbungsgründen‘ im Ausland aufhielten. Als Inhaberinnen einer Privatschule oder eines Pensionats versuchten sie, Kontakte zu den Familien potentieller ausländischer Schülerinnen zu knüpfen.48 Über die vierte Gruppe ist in der Forschung bislang am wenigsten bekannt. Sie arbeitete anscheinend langfristig im Ausland. Abgeschreckt von den periodisch wiederkehrenden ‚Überfüllungskrisen‘ hätten sich diese Lehrerinnen völlig aus dem deutschen Schulwesen zurückgezogen, wenn sie denn überhaupt jemals hineingekommen waren. Aus unserem Sample können wir noch eine fünfte Gruppe hinzufügen, die sich allerdings nicht zu Erwerbs-, sondern zu Fortbildungszwecken im Ausland aufhielt: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrerinnen auf deren eigenes Betreiben hin eingerichtet. Sie beantragten bei ihren privaten oder öffentlichen Schulträger/inne/n einen längeren Urlaub zu Studienreisen ins benachbarte europäische Ausland, um ihre wissenschaftlichen, sprach- und landeskundlichen Kenntnisse zu verbessern. Oftmals mussten sie diese Unternehmungen selbst finanzieren. Auch die sogenannten Ferienkurse bildeten für Lehrerinnen attraktive Fortbildungsmöglichkeiten, in denen sie ihre Fremdsprachenkenntnisse vertiefen konnten. Solche Kurse, die entweder auf private Initiative hin entstanden oder von Lehrerinnenverbänden organisiert und oftmals in Kooperationen mit lokalen Universitäten durchgeführt wurden, gab es anfänglich nur im Ausland, beispielsweise in Genf, Lausanne, Paris, Nancy, Oxford, London und Cambridge, später dann auch in deutschen Städten wie Greifswald und Jena. Derartige Fortbildungsmöglichkeiten waren für junge Frauen äußerst attraktiv, zumal Preußen mit einer gesonderten Prüfungsordnung für Lehrerinnen der französischen und der englischen Sprache vom 5. August 1887 die Möglichkeit geschaffen hatte, 48
Vgl. z.B. die Autobiografie von Trinks, Thekla: Lebensführung einer deutschen Lehrerin. Erinnerungen an Deutschland, England, Frankreich und Rumänien, Eisenach 1892; Wedel, Gudrun: Ledig, fromm und geschäftstüchtig. Die Lehrerinnenkarriere der Thekla Trinks als autobiographische Konstruktion, in: Jekutsch, Ulrike (Hrsg.): Selbstentwurf und Geschlecht. Kolloquium des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien an der Ernst-Moritz Arndt Universität Greifswald, Würzburg 2001, S. 33-55.
Ausbildungswege und Berufsperspektiven von Lehrerinnen
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eine Berechtigung für den Unterricht in den neueren Fremdsprachen erwerben zu können, ohne zuvor das höhere Lehrerinnenseminar durchlaufen zu müssen.49 Mit einer Erwerbstätigkeit im Ausland waren zumeist Hoffnungen auf einen höheren Verdienst verbunden. In England konnte eine mit guten Referenzen ausgestattete Lehrerin ein Gehalt erzielen, das einem doppelten bis dreifachen Lehrerinnengehalt in Deutschland gleichkam.50 Aber neben diesen berufsrelevanten Überlegungen haben wohl auch berufsfremde Gründe eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Frauen reisten nämlich auch in ihnen fremde geografische Gefilde, in denen kaum Nachfrage nach deutschen Lehrerinnen bestand. Eine gehörige Portion Abenteuerlust scheint hier im Spiel gewesen zu sein. Und da die wilhelminische Gesellschaft bürgerlichen Mädchen und Frauen gegenüber so sehr auf Sittenstrenge, Anstand und häusliche Tugenden pochte, machte es sich einfach besser, wenn man das Fernweh mit einem Anstellungsvertrag in der Tasche legitimieren konnte.
49 50
Vgl. Doff, Sabine: Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert, München 2002, S. 274f. Vgl. Lange: Erzieherin, S. 543.
3.
Deutsche Lehrerinnen in England
Zahlreiche deutsche Lehrerinnen, Erzieherinnen und Gouvernanten, die sich in der Epoche des Kaiserreichs für einen kürzeren oder längeren Arbeits- oder Fortbildungsaufenthalt im Ausland entschieden, zog es nach Großbritannien.1 Mit dem Verein Deutscher Lehrerinnen in England existierte vor Ort eine zentrale und hilfreiche Einrichtung, welche die jungen Frauen bei ihren Unternehmungen unterstützte. Um die vielschichtigen Erfahrungen der Pädagoginnen in einer für sie fremden Gesellschaft einordnen und interpretieren zu können, um mögliche Erwartungshaltungen, Vorverständnisse und Deutungsmuster zu generieren, werden vorab einige Forschungsergebnisse zur wechselseitigen deutsch-britischen Wahrnehmung im 19. und frühen 20. Jahrhundert skizziert.
3.1
Zur deutsch-britischen Perzeptionsforschung
Als im Mai 1902 der Krieg zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken endete, löste dies in England eine Welle nationaler Begeisterung aus. Thekla Lehnert, die als deutsche Lehrerin in Südengland tätig war, hielt nach dem Besuch eines der vielerorts stattfindenden Freudenfeste in ihrem Tagebuch fest: „Mademoiselle und ich, die beiden Ausländerinnen, werden als solche bei dergleichen Anlässen stets etwas gemieden, wenn auch die anderen Lehrerinnen korrekt höflich sind. Es wird einem eben gezeigt, daß man nicht mit dazu gehört, daß das Nationale doch immer höher steht als das Menschliche, wenigstens für englisches Empfinden, und daß es als etwas Trennendes angesehen wird. An jenem Tag wurde es besonders betont, was ja begreiflich war.“ 2
1
2
Vgl. Gippert, Wolfgang, Kleinau, Elke: Interkultureller Transfer oder Befremdung in der Fremde? Deutsche Lehrerinnen im viktorianischen England, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) 3, S. 338-349; Gippert, Wolfgang: Das Ausland als Chance und Modell: Frauenbildung im viktorianischen England im Spiegel von Erfahrungsberichten deutscher Lehrerinnen, in: Ders., Götte, Kleinau: Transkulturalität, S. 181-199. Lehnert, Thekla: Was ich vom englischen Leben sah. Aus Tagebuchblättern, 2. Aufl., München 1920, S. 107.
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Deutsche Lehrerinnen in England
Ihre Erfahrung, trotz berufsbedingter Integration in einem fremden Land aufgrund der nationalen Herkunft letztlich immer als Fremde angesehen und behandelt zu werden, teilte Thekla Lehnert mit anderen deutschen Lehrerinnen, die zunehmend seit Mitte des 19. Jahrhunderts kurz- oder längerfristig in Großbritannien verweilten. Die wechselseitigen Beziehung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘, von Selbst- und Fremdbildern, mithin von den Konstruktionen des ‚Anderen‘, wie sie in dem Zitat der jungen Frau zum Ausdruck kommt, spielen in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit als fremd wahrgenommenen Ländern und ‚Kulturen‘ wie auch im Prozess der individuellen und nationalen Selbstvergewisserung eine wichtige Rolle. Innerhalb des interdisziplinären Feldes der Xenologie erweist sich die Perzeptionsforschung als ein fruchtbarer Ansatz, der sich mit der Wahrnehmung von (historischer) Realität und den daraus resultierenden Bildern (‚Images‘) von anderen Ländern und den jeweiligen Stereotypen beschäftigt.3 Zur gegenseitigen deutsch-britischen Wahrnehmungen sind in den letzten 15 Jahren mehrere grundlegende Monografien sowie eine Vielzahl von Einzelstudien in Sammelbänden und Zeitschriftenthemenheften erschienen.4 Einige plakative Schlagwörter aus den Titeln können eine Eindruck davon vermitteln, in welchen Bahnen sich die Themen, Fragestellungen und Thesen der vergangenen Jahre bewegen: Da ist Rede von „Vorbild und Rivale,“5 „Verwandtschaft, Vorbild und Rivalität,“6 „Vorbild, Rivale und Unmensch“,7 „Offenheit und Abgrenzung“,8 „Feindbild, Vorbild, Wunsch3
4
5 6
7
8
Vgl. Niedhart, Gottfried: Perzeption und Image als Gegenstand der Geschichte von den internationalen Beziehungen. Eine Problemskizze, in: Wendt, Bernd Jürgen (Hrsg.): Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, Bochum 1984, S. 39-52. Wir verweisen an dieser Stelle nur allgemein auf die Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung sowie auf die Reihe Prinz-Albert-Studien. Epkenhans, Michael: Aspekte des deutschen Englandbildes 1800-1914: Vorbild und Rivale, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 329-342. Paulmann, Johannes: Verwandtschaft, Vorbild und Rivalität: Britisch-deutsche Beziehungen von der Wiener Ordnung bis zum Imperialismus, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 343-366. Pulzer, Peter: Vorbild, Rivale und Unmensch. Das sich wandelnde Deutschlandbild in England 1815–1945, in: Süssmuth, Hans (Hrsg.): Deutschlandbilder in Dänemark und England, in Frankreich und den Niederlanden, Baden-Baden 1996, S. 235-250. Sturm-Martin, Imke, Schönwälder, Karen: Offenheit und Abgrenzung: Großbritanniens Umgang mit Einwanderung und Minderheiten, in: Dies.: Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin, Wien 2001, S. 9-16.
Deutsche Lehrerinnen in England
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bild“,9 „Rivalität und Partnerschaft“,10 „Aneignung und Abwehr“11 oder „Nachahmung – Kritik – Abwehr“.12 Schon aus dieser Titelcollage lässt sich ein wichtiger, grundlegender Konsens in der jüngeren, deutsch-britischen Perzeptionsforschung ableiten: Es hat zu keiner Zeit ein einheitliches deutsches Englandbild existiert, wie umgekehrt disparate Deutschlandbilder unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Gruppen und Entscheidungsträger in Großbritannien vorherrschten. Die Entwicklung der Bilder vom jeweiligen Nachbarland in den letzten anderthalb Jahrhunderten zeigen im Gegenteil, dass nationale Stereotypen überaus vergänglich sind und starkem Wandel unterliegen. Außerdem ist die jeweilige Sicht durchweg sozial zu differenzieren, haben doch die verschiedenen Sozialschichten häufig unterschiedliche Auffassungen über das jeweils andere Land entwickelt.13 Hinzu kommt, dass die gegenseitige Wahrnehmung und Rezeption zumeist einen stark selektiven Charakter aufweist – je nachdem, ob die Wahrnehmungen durch politische, wirtschaftliche und/oder kulturelle Entwicklungen beeinflusst werden, ob sie auf persönlicher Erfahrung beruhen oder (nur) auf medialen Informationen aufbauen u.Ä. Zudem zieht eine als andersartig vorgenommene Deutung nicht notwendigerweise eine negative Wertung nach sich, wie umgekehrt eine Anerkennung einzelner Aspekte der ‚fremden Kultur‘ nicht zwingend eine generelle Wertschätzung des jeweils anderen Landes oder seiner Politik bedingt.14 Trotz der hier skizzierten Deutungsprobleme und trotz notwendiger Differenzierungsanforderungen lassen sich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert einige grobe Entwicklungslinien der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Deutschland und Großbritannien skizzieren: Betrachtet man die beiden Nachbarstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, fallen in mehrfacher Hinsicht gravierende Unterschiede in den Blick. Während Deutschland zersplittert aus einer Vielzahl regional begrenzter Kleinstaaten bestand, war das 9 10 11
12 13 14
Neisen, Robert: Feindbild, Vorbild, Wunschbild. Eine Untersuchung zum Verhältnis von britischer Identität und französischer Alterität 1814-1860, Würzburg 2004. Ritter, Gerhard A., Wende, Peter (Hrsg.): Rivalität und Partnerschaft. Studien zu den deutsch-britischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn, u.a. 1999. Muhs, Rudolf, Paulmann, Johannes, Steinmetz, Willibald: (Hrsg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998. Kleinknecht, Thomas: England als Modell: Nachahmung – Kritik – Ablehnung, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 1-23. Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Das Englandbild der Deutschen und die britische Sicht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Süssmuth: Deutschlandbilder, S. 215-234. Vgl. Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 40.
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Deutsche Lehrerinnen in England
Britische Empire eine Weltmacht, die ihren Besitz kontinuierlich vergrößerte. Während die meisten deutschen Einzelstaaten mehr oder weniger (aufgeklärt-)absolutistisch regiert wurden, herrschte in England bereits eine parlamentarische Monarchie. Wirtschaftlich schließlich stand ein traditionelles, von ständischen Verkrustungen überkommenes Agrarland dem ‚Mutterland‘ einer beschleunigten, an kapitalistischen Prinzipien orientierten Industrialisierung gegenüber.15 Dieses Ungleichgewicht auf verschiedenen Entwicklungsebenen hat die gegenseitige Wahrnehmung wesentlich beeinflusst und von vornherein eine Asymmetrie hervorgebracht: Das Englandbild der Deutschen war lange Zeit determiniert durch die relative Rückständigkeit der deutschen gegenüber der britischen Gesellschaft, in politischer ebenso wie in wirtschaftlicher Hinsicht, während sich die Engländer als erstes industrielles Land der Welt als erfolgreiche und überlegene Nation fühlen konnten.16 Aus britischer Sicht kam dem Begriff ‚Deutschland‘ bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eher eine geografische als eine politische Bedeutung zu. Der bunte territoriale Flickenteppich kleiner Fürstentümer konnte die britische Stellung kaum gefährden. Es entstand in England das Bild vom friedlich-ländlichen Deutschland, in dessen Kleinstaaten die ‚schönen Künste‘, die Architektur, die Malerei und besonders die Musik blühten – ein Bild, das durch die Romantik zusätzlich stabilisiert wurde.17 Die Probleme im deutsch-englischen Verhältnis setzten erst mit der Reichsgründung ein. War die Reaktion der Briten auf die deutsche Nationalstaatseinigung 1871 zunächst eher positiv, kam es in der Folgezeit zu einer zunehmenden Differenzierung der englischen Auffassung über Deutschland und die Deutschen. Als neuer perzeptorischer Rahmen entwickelte sich die ‚Zwei-Deutschland-Theorie‘, ein dichotomisches Wahrnehmungsmodell, das sich aus positiven und negativen Komponenten zusammensetzte: Wertschätzung erfreute sich Deutschland in den Augen britischer Betrachterinnen und Betrachter auf der einen Seite als Kultur- und aufblühender Industriestaat, der durch Lessing, Goethe und Kant, durch ein effizientes Bildungswesen, technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und ein modernes Sozialsystem geradezu vorbildhaft geprägt war. Auf der anderen Seite stießen die offensichtliche Fixierung der Deutschen auf den preußisch-militärisch 15 16 17
Vgl. Epkenhans: Aspekte, S. 330. Vgl. Mommsen: Das Englandbild, S. 216. Vgl. Birke, Adolf M.: Vom Missbrauch zur Partnerschaft. Aspekte deutsch-britischer Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert, in: Großbritannien und Deutschland: Nachbarn in Europa. Hrsg. von d. Niedersächs. Landeszentrale für polit. Bildung Hannover, Hameln 1989, S. 9-28.
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geprägten Obrigkeitsstaat, Untertanenmentalität und Kasernengeist auf entschiedene Ablehnung.18 Umgekehrt wandelte sich in Deutschland nach der Reichsgründung, mit dem erstarkenden nationalen Selbstwertgefühl, mit rasantem wirtschaftlichen Aufschwung und Wachstum sowie eigenen imperialistischen Bestrebungen das Englandbild: Solange England wichtige Impulse für die eigene Industrialisierung geben konnte, blieb seine Funktion als Vorbild wenig angetastet. Dies änderte sich jedoch zu dem Zeitpunkt, an dem der ‚Nachzügler‘ gegenüber dem ‚Pionier‘ ökonomisch aufzuholen begann, sich Deutschland und England als gegenseitige Konkurrenz auf dem Weltmarkt wahrnahmen, die zunehmend als Rivalität im Kampf der Nationalstaaten gedeutet wurde. Dabei verfestigte sich in deutscher Perspektive jenes latente Vorurteil zu einem Stereotyp, das in England wesentlich eine Nation des Handels, des materiellen Erwerbs und der individuellen Gewinnsucht sah.19 Die hier skizzierten Entwicklungslinien und vorgetragenen Stereotypen in der gegenseitigen deutsch-britischen Wahrnehmung sind allerdings grob geschnitzt und behandeln ein komplexes und facettenreiches Thema tendenziell auf gesamtgesellschaftlich-abstraktem Niveau. Auch wenn nationale Vorurteile und Stereotype im Zuge zunehmender imperialistischer Strömungen eine tendenzielle Ausweitung, Vergröberung und Verfestigung erfuhren, wäre es einseitig, in diesen Auffassungen die breite öffentliche Meinung aufgehen zu lassen. Neuere Ergebnisse der Kulturtransferforschung haben grobmaschige Bilder bereits korrigiert und zu einer erheblichen Erweiterung der Perspektive zur deutsch-britischen Perzeption und Rezeption beigetragen. Kleinräumige angelegte Einzelfallstudien weisen für das 19. Jahrhundert zahlreiche Kontakte, gegenseitige Beeinflussungen sowie einen intensiven wirtschaftlichen und wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern nach.20 Solche ‚Gegenströmungen‘ blieben 18
19 20
Vgl. Otto, Frank, Schulz, Thilo: Einleitung: Michel meets John Bull – Aspekte deutschbritischer Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.): Großbritannien und Deutschland. Gesellschaftliche, kulturelle und politische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Rheinfelden 1999, S. 5; Kuropka, Joachim: „Militarismus“ und das „Andere Deutschland“. Zur Entstehung eines Musters britischer Deutschlandinterpretation, in: Wendt: Das britische Deutschlandbild, S. 103-124. Vgl. Mommsen: Das Englandbild, S. 221. Ohne hier dezidiert auf Einzelfalluntersuchungen einzugehen, sei auf die folgenden Studien verwiesen: Alter, Peter: Deutschland als Vorbild britischer Wissenschaftsplanung um die Jahrhundertwende, in: Birke, Adolf M., Kettenacker, Lothar (Hrsg.): Wettlauf in die Moderne. England und Deutschland seit der industriellen Revolution, München, u.a. 1988, S. 51-69; Ashton, Rosemary: The German Idea. Four English writers and the re-
70
Deutsche Lehrerinnen in England
von der Forschung jedoch lange Zeit vernachlässigt, weil sie nur wenig spektakuläre Ausmaße angenommen haben.
3.2
Deutsche Migrantinnen und Migranten in England
Jene deutschen Lehrerinnen und Erzieherinnen, die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt in England entschieden, standen mit ihren Unternehmungen keineswegs alleine dar; sie waren gleichsam ‚Rädchen‘ im mannigfachen Getriebe deutsch-englischer Beception of German thought 1800–1860, Cambridge 1980; Blaicher, Günther: Englische Literatur in Deutschland. Rezeption, Einflüsse, Stellenwert, in: Großbritannien und Deutschland, S. 57-73; ders.: Das Deutschlandbild in der englischen Literatur, Darmstadt 1992; Bosbach, Franz, Büttner, Frank (Hrsg.): Künstlerische Beziehungen zwischen England und Deutschland in der viktorianischen Epoche. Art in Britain and Germany in the Age of Queen Victoria and Prince Albert, München 1998; Brady, Philip: Deutsche Literatur in England. Rezeption, Einflüsse, Stellenwert, in: Großbritannien und Deutschland, S. 47-56; Budde, Gunilla-Friederike: Frischluft, Nannies und Matrosenkleider. Englische Einflüsse auf deutsche Erziehung in Bürgerfamilien des 19. Jahrhunderts, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 311-328; Eisenberg, Christiane: „Deutsches Turnen“ in England: Das Scheitern eines Kulturtransfers, in: Otto, Schulz: Großbritannien und Deutschland, S. 13-32; Filmer-Sankey, William: „German presents the finest model in the world“: E.R. Robson and the Influence of German School Planning in Later 19th Century England, in: Bosbach, Franz, u.a. (Hrsg.): Prinz Albert und die Entwicklung der Bildung in England und Deutschland im 19. Jahrhundert. Prince Albert and the Development of Education in England and Germany in the 19th Century, München 2000, S. 43-54; Fischer, Tilman: Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830–1870), Berlin 2004; Hollenberg, Günter: Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preussen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860-1914, Wiesbaden 1974; Muhs, Rudolf: Englische Einflüsse auf die Frühphase der Industrialisierung in Deutschland, in: Birke, Kettenacker: Wettlauf, S. 31-50, Muhs, Rudolf: Geisteswehen: Rahmenbedingungen des deutsch-britischen Kulturaustauschs im 19. Jahrhundert, in: Ders., Paulmann, Steinmetz: Aneignung und Abwehr, S. 44-70; Ortmanns, Karl Peter: Deutsch in Großbritannien. Die Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache von den Anfängen bis 1985, Stuttgart 1993; Read, Jane: The Dissemination of Friedrich Froebel‘s Kindergarten Ideology in Britain 1850-1900, in: Bosbach: Prinz Albert, S. 33-42; Sauerteig, Lutz: Frauenemanzipation und Sittlichkeit; Schalenberg, Marc: Die Rezeption des deutschen Universitätsmodells in Oxford 1850 – 1914, in: Muhs, Paulmann, Steinmetz: Aneignung und Abwehr, S. 198-226; SchulzForberg, Hagen: Zeitreisen nach London. Deutungen englischer Vergangenheit in Berichten deutscher und französischer Reisender, 1851-1939, in: Bauerkämper, Arndt, Bödeker, Hans Erich, Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt a.M., New York 2004, S. 133-159.
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ziehungen und deutscher Binnenmigration nach Großbritannien, die eine lange Tradition aufweisen. So lassen sich in der deutschen und englischen Geschichte zahlreiche Berührungspunkte der beiden Nachbarländer und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner auf politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Ebene ausmachen. Die wirtschaftlichen Beziehungen über den Kanal hinweg etwa datieren mit der Hanse bis ins 13. Jahrhundert zurück. Nicht hoch genug einzuschätzen ist die Pionier- und Vorbildfunktion Englands für die deutsche Industrialisierung, insbesondere in der Textil- und Eisenindustrie sowie im Maschinenbau. Besonders enge Verbindungen zwischen England und Deutschland bestanden in politischer Hinsicht: Mit der Thronbesteigung Georgs I. im Jahre 1714 als englischer König begann die enge Verflechtung der britischen Monarchie mit den deutschen Höfen, namentlich mit dem Kurfürstentum Hannover.21 In nahezu allen Bereichen der bildenden Kunst und des spezialisierten Handwerks sind die gegenseitigen Einflüsse erkennbar, besonders in der Philosophie und der Musik, wobei der Universität Göttingen eine überragende Bedeutung zukam. Ein wichtiger Berührungspunkt beider Gesellschaften war zudem, dass England schon im 19. Jahrhundert zahlreichen deutschen Flüchtlingen politisches Asyl bot, vor allem nach der missglückten Revolution von 1848/49.22 Aber auch deutsche Schriftstellerinnen, Schriftsteller und Journa21
22
Zu den deutsch-britischen Adelsbeziehungen vgl. Birke, Adolf M., Kluxen, Kurt (Hrsg.): England und Hannover. England and Hanover, München, u.a. 1986; Blankart, Michaela, Hirsch, Siegfried-H. (Hrsg.): The Private Album of Queen Victorias German Governess Baroness Lehzen. Das private Album ihrer Erzieherin Baronin Lehzen, Bamberg 2001; Bosbach: Prinz Albert; Kluxen, Kurt: Prinz Albert – Wegbereiter moderner Kultur- und Sozialpolitik, in: Birke, Adolf M., Ders. (Hrsg.): Viktorianisches England in deutscher Perspektive, München, u.a. 1983, S. 13-19; Netzer, Hans-Joachim: Albert von SachsenCoburg und Gotha. Ein deutscher Prinz in England, München 1988; Paulmann, Johannes: ‚Germanismus‘ am englischen Hof, oder: Warum war Prinz Albert unpopulär? In: Alter, Peter, Muhs, Rudolf (Hrsg.): Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London, Stuttgart 1996, S. 387-415; Wellenreuther, Hermann: England und Hannover. Was war und was blieb aus der Zeit der Personalunion? In: Großbritannien und Deutschland, S. 149-158. Zu den deutschen Exilanten im viktorianischen England vgl. Alter, Peter, Muhs, Rudolf: Begegnungen mit Fontane in London, in: Dies.: Exilanten, S. 3-20; Ashton, Rosemary: Professor Kinkel und Dr. Marx in London nach der Revolution 1848/49: Zwei Porträtskizzen, in: Niedhart, Gottfried (Hrsg.): Grossbritannien als Gast- und Exilland für Deutsche im 19. und 20. Jahrhundert, Bochum 1985, S. 48-57; dies.: Little Germany. Exile and Asylum in Victorian England, Oxford 1986; Birke, Adolf M.: Die Revolution von 1848 und England, in: Ders., Kluxen: Viktorianisches England, S. 49-60; Gillespie, George: Das Englandbild bei Fontane, Moltke und Engels, in: Birke, Kluxen: Viktorianisches England, S. 91-108; Hirschfeld, Gerhard: Deutsche Emigranten in England während des
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listen, Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, Händler, Handwerkerinnen und Handwerker zog es ebenso wie Freizeitreisende über den Kanal, mit der Weltstadt London als bevorzugtes Ziel. Eine besondere Rolle spielte England im Rahmen der deutschen Binnenund Überseeauswanderung, die im 19. Jahrhundert in mehreren großen Schüben verlief und die in den frühen 50er und beginnenden 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Höhepunkte erreichte. Auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen versuchten einerseits zahlreiche deutsche Bauern, Handwerkerinnen und Handwerker sowie Dienstmädchen im benachbarten Königreich Fuß zu fassen; andererseits entwickelte sich der britische Inselstaat aufgrund seiner günstigeren Schifffahrtsverbindungen zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen transatlantischen Migration. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein stellten Deutsche die größte ausländische Gruppe in England dar.23 Betrachtet man die deutschen Einwanderer, die sich um die Jahrhundertmitte in Großbritannien aufhielten, in ihrer Gesamtheit, so ist das herausragende Merkmal dieser Gruppe ihre heterogene soziale Struktur: Die
23
19. und 20. Jahrhunderts, in: Großbritannien und Deutschland, S. 159-171; Lattek, Christine: Im englischen Exil 1852-1859. Der Rückzug einer Demokratin ins Privatleben, in: Malwida von Meysenbug. Ein Portrait. Hrsg. u. mit. e. Nachw. vers. von Gunther Tietz, Frankfurt a.M., Berlin 1985, S. 71-110; Dies.: Die Emigration der deutschen Achtundvierziger in England: Eine reine „school of scandal and of meanness“?, in: Niedhart, Gottfried (Hrsg.): Grossbritannien als Gast- und Exilland für Deutsche im 19. und 20. Jahrhundert, Bochum 1985, S. 22-47; Muhs, Rudolf: Theodor Fontane und die Londoner deutsche Presse. Mit einem unbekannten Brief des Dichters, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 44, Göttingen 2000, S. 36-61; Nürnberger, Helmuth: Fontane und London, in: Wiedemann, Conrad (Hrsg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, Stuttgart 1988, S. 648-661; Sundermann, Sabine: Deutscher Nationalismus im englischen Exil. Zum sozialen und politischen Innenleben der deutschen Kolonie in London 1848–1871, Paderborn u.a. 1997. Die zahlenmäßige Erfassung der deutschen Migrantinnen- und Migrantengruppe in Großbritannien stellt in mehrfacher Hinsicht ein Problem dar: Für die Jahrhundertmitte liegen keine zuverlässigen Zahlen vor; die erste Volkszählung, bei der die Deutschen in Großbritannien separat erfasst wurden, fand 1861 statt. Danach betrug in diesem Jahr die Anzahl von Zuwanderinnen und -wanderern aus den Staaten des Deutschen Bundes 30.313 Personen. Von diesen wurden allein 12.448 in London gezählt. Damit ist allerdings nichts über die Relation zwischen den in Großbritannien ansässigen Deutschen und den deutschen Transmigrantinnen und -migranten ausgesagt. Kirchberger schätzt das numerische Verhältnis für die frühen fünfziger Jahre auf etwa 1:1 ein (vgl. Kirchberger, Ulrike: Aspekte deutsch-britischer Expansion. Die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 41).
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Deutschen waren verschiedener sozialer und regionaler Herkunft und kamen aus unterschiedlichsten Motiven nach England. Einen zahlenmäßig großen Kreis machten die Handwerkerinnen und Handwerker, Arbeiterinnen und Arbeiter im Londoner East End aus, weshalb dieser Stadtteil in der Literatur auch als Little Germany bezeichnet wird.24 Die Rede von einer ‚deutschen Kolonie‘ in London ist allerdings irreführend, erweckt dies doch den Eindruck, die Deutschen in London hätten eine feste, in sich geschlossene Gemeinde gebildet. Ulrike Kirchberger konstatiert hingegen, dass es sich bei den deutschen Migrantinnen und Migranten in Großbritannien eher um einen unzusammenhängenden Personenkreis gehandelt habe, der untereinander nur wenig Kontakt gehabt hätte. Die hohe Fluktuation einerseits und eine schnelle Assimilation in die britische Gesellschaft andererseits hätten der Herausbildung einer festen Gemeindestruktur vor Ort entgegengestanden. Deutsche Institutionen seien nur von einem kleinen Teil der deutschen Migrantinnen und Migranten genutzt worden, zumeist von Neuankömmlingen und Durchreisenden, die auf die deutschen Kirchengemeinden und Wohltätigkeitsvereine angewiesen waren.25 Die Massen der deutschen Überseeauswanderinnen und -wanderer, die in Schiffsladungen über die britischen Hafenstädte gleichsam hineinbrachen, benötigten vorübergehende Unterbringungs- und Verpflegungsmöglichkeiten und mussten häufig eine weiterführende Schiffspassage buchen. Da viele von ihnen nicht englisch sprachen, wandten sie sich an ihre in Großbritannien ansässigen Landsleute, in der Hoffnung, bei ihnen Rat und Unterstützung zu finden. Für manche Deutsche entwickelte sich aus der Betreuung der Überseeauswanderer ein einträglicher Geschäftszweig. So entstand ein Netzwerk aus Hotels, Agenturen, Vereinen und Zeitschriften, das auf die Belange der deutschen Transmigrantinnen und -migranten zugeschnitten war. Häufig kam es allerdings vor, dass sie den Betrügereien von Auswanderungsagenten zum Opfer fielen oder die Aufenthaltsdauer in Großbritannien und die damit verbundenen Kosten unterschätzten. Nicht selten endete die Fahrt ins ‚gelobte Land‘ in den Massenverelendungsquartieren britischer Hafenstädte. Diejenigen deutschen Zuwanderinnen und -wanderer, denen es gelang, etwa in der Metropole London Fuß zu fassen, lebten über das Stadtgebiet verstreut. Gleichwohl hatten auch sie ihre Zentren, allen voran Whitechapel, St. George‘s-in-the-east und Mile End im East End, dem sogenannten ‚Klein24
25
So im Titel der Studie von Ashton: Little Germany. In Analogie verwendet Sundermann in ihrer Untersuchung zum deutschen Nationalismus im englischen Exil den Begriff der „deutschen Kolonie“. Vgl. Kirchberger: Aspekte, S. 7 und S. 20f.
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Deutsche Lehrerinnen in England
Deutschland‘, sowie Soho im West End. Die vergleichsweise kleine Gruppe gut situierter Deutscher – Unternehmer, Kaufleute, Bankiers – lebte dagegen in der Mehrzahl in den teuren Gegenden des West End. Die große Anzahl von Deutschen machte sich im Londoner Stadtbild durchaus bemerkbar. Im Tagebuch Theodor Fontanes von seiner zweiten Englandreise 1852 findet sich dazu folgende Bemerkung: „Die Zahl der Deutschen ist so enorm groß, dass man mitunter auf heimatlichem Boden zu sein glaubt und sich wundert, dass nicht auch die Schilder der Kaufläden deutsche Inschriften tragen. Fast nur die Kinder und die Konstabler, allenfalls auch noch die Kutscher sprechen englisch; wogegen man jeden Kellner, jeden Kommis, jeden Handwerker – namentlich bestimmte Professionen – und jeden Menschen mit unrasiertem Kinn (dies ist das Hauptkennzeichen) deutsch anreden und einer deutschen Antwort gewiß sein kann.“ 26
Tatsächlich waren in bestimmten Berufsgruppen überproportional viele Deutsche anzutreffen. An der Spitze standen die Handwerkerinnen und Handwerker, allen voran die aus Norddeutschland stammenden Zuckersieder. Stark vertreten waren auch die Schneiderinnen und Schneider, deren Zahl zwischen 1861 und 1871 von 1.221 auf 1.675 anstieg und die sich einem extremen Konkurrenzdruck ausgesetzt sahen. Ähnliche Zuwachsraten hatten die deutschen Kellnerinnen und Kellner sowie Friseurinnen und Friseure in den 1860er Jahren in London zu verzeichnen. Gleichfalls groß war die Anzahl der in London ansässigen deutschen Bäcker, Metzger, Uhrmacher, Goldschmiede und Juweliere. Auch in diesen Gewerben herrschte ein großes Überangebot an Arbeitskräften. Als traditionsreichster Berufsstand unter den in London ansässigen Deutschen galten seit jeher die Kaufleute. Die seit dem 11. Jahrhundert bestehenden und durch die Entstehung der Hanse zusätzlich intensivierten Schifffahrts- und Handelsverbindungen zwischen Deutschland und England hatten zur Folge, dass sich in verschiedenen Hafenstädten, vor allem aber in London, deutsche Kaufleute und deren Familien niederließen. In London waren es in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts knapp 500 Unternehmer, Kaufleute und Industrielle, die das Wagnis eingegangen waren und in Großbritannien Firmen gegründet bzw. Zweigniederlassungen ihrer deutschen Stammhäuser eröffnet hatten. Oftmals waren es die Söhne deutscher Handelsfamilien und Unternehmer, die
26
Fontane, Theodor: Wanderungen durch England und Schottland. Hrsg. von HansHeinrich Reuter. 2. Bde., Berlin 1980, S. 117f.
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im Anschluss an ihren Lehraufenthalt in England geblieben waren und sich dem Aufbau des Unternehmens gewidmet hatten.27 Bisher von der Forschung nur randständig behandelt sind die Arbeitsund Lebensbedingungen der deutschen Frauen in Großbritannien. Neben der kleinen Gruppe von Frauen, die mit ihren Männern ins Exil geflüchtet oder die selbst polizeilich verfolgt worden waren, waren es in der Mehrzahl Auswanderinnen aus allen Schichten der Gesellschaft, die damals ihre Hoffnungen auf einen Neubeginn im Ausland setzten. Für viele, die mit ihren Familien auswanderten, galt England nur als zweite Wahl bzw. als Übergangslösung, hofften sie doch über kurz oder lang nach Amerika weiterreisen zu können. Für allein stehende Frauen hingegen war die geografische Nähe zu Deutschland ein wichtiger Aspekt bei der Entscheidung für England. Vorherrschendes Motiv für das Verlassen der Heimat war der Wunsch, den als bedrückend empfundenen heimischen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu entfliehen und sich materiell zu verbessern. Dabei verfügte kaum eines der Mädchen und jungen Frauen, die zumeist bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Verhältnissen entstammten, über eine qualifizierte Ausbildung oder ausreichende Berufserfahrung. Viele verließen sich naiv auf die Versprechungen skrupelloser Arbeitsvermittler und vertrauten darauf, als Dienstmädchen, Kindermädchen oder Köchin in einer wohlhabenden Londoner Familie unterzukommen. Für diejenigen, die im häuslichen Bereich keine Stellung fanden, blieben nur unterbezahlte und die Gesundheit schädigende Hilfsarbeiten in Fabriken und im Handwerk.28 Ähnlich hart war das Los der Frauen, die in London eine Stelle als Gouvernante, Musik- oder Schullehrerin zu finden hofften.29 Sie waren mehr27 28
29
Vgl. Sundermann: Deutscher Nationalismus, S. 71ff. Vgl. ebd., S. 80f. Die Volkszählung von 1861 ermittelte 9.133 weibliche Deutsche, die in England und Wales lebten – alleine 5.252 von ihnen wohnte in London (vgl. Alter, Muhs: Begegnungen, S. 12). Zu den in England tätigen Lehrerinnen, Erzieherinnen und Gouvernanten siehe die folgenden Studien, die sich in der Regel mit biografischen Einzelschicksalen auseinandersetzen: Blankart, Hirsch: The Private Album; Bromberg, Kirstin: Thekla Trinks, in: dies, Heisener, Kornelia, Rothe, Monika: Auf den Spuren der Siegenerinnen. Materialien zu einem Stadtrundgang „Frauen in der Geschichte Siegens“, Siegen 1996, S. 58-63; Budde, Gunilla-Friederike: „Stützen“ der Bürgergesellschaft. Varianten der Rolle von Dienstmädchen in deutschen und englischen Bürgerfamilien des 19. Jahrhunderts, in: Berghoff, Hartmut, Ziegler, Dieter (Hrsg.): Pionier oder Nachzügler? Vergleichende Studien zur Geschichte Großbritanniens und Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung, Bochum 1995, S. 259-280; Drechsel, Ulrike Wiltrud: Über Faszination und Ausgrenzung der Universität in den Anfängen des Frauenstudiums, in: Dickmann, Elisabeth, SchöckQuinteros, Eva (Hrsg.): Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in
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heitlich dem mittleren bis gehobenen Bürgertum zuzurechnen, verfügten über ein gewisses Maß an Bildung und waren in der Regel allein stehend. Letzteres gab in den nicht wenigen Fällen den Anstoß zum Verlassen der Heimat, da sie sich oft als Unverheiratete sozialem Druck ausgesetzt sahen und zudem ihren Lebensunterhalt selbst verdienen mussten. Ungeachtet der Tatsache, dass England Mitte des Jahrhunderts „überschwemmt von deutschen Gouvernanten“ war,30 hielt sich in Deutschland hartnäckig die Vorstellung, die beruflichen Aussichten für Erzieherinnen und Hausangestellte seien nirgends besser als in England. Oftmals folgte Ernüchterung: Sowohl die Verdienstmöglichkeiten als auch die Lebensbedingungen lagen weit unter den erhöhten Erwartungen. Zwar galt das Erlernen der deutschen Sprache seit der Heirat Königin Viktorias mit Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha im Jahre 1840 in gehobenen Kreisen der englischen Gesellschaft als unverzichtbar; doch nur selten resultierte daraus eine bevorzugte Behandlung oder ein auf Vertrauen basierendes Verhältnis zu den Arbeitgebern. Allen vorherrschenden Unkenntnissen und gegenseitigen Vorbehalten zum Trotz übte England, vor allem die Metropole London, auf Deutsche eine große Anziehungskraft aus – als Reiseziel und Bildungsraum, als Ort vielfältigen wirtschaftlichen Austauschs sowie als Zufluchtsstätte in Zeiten existentieller Bedrohung.31 Die ‚deutsche Kolonie‘ an der Themse erfuhr
30 31
Deutschland, Berlin 2000, S. 283-292; Dies.: „Mit großen Erwartungen ...“ Wie Studentinnen in den Anfängen des Frauenstudiums die Universität erlebten, in: Dies. (Hrsg.): Höhere Töchter. Zur Sozialisation bürgerlicher Mädchen im 19. Jahrhundert, Bremen 2001, S. 161-175; Ehrich, Karin: „... ich will ja auch geduldig ausharren.“ Käthe Stricker in London 1889-1890, in: Drechsel: Höhere Töchter, S. 141-160; Hardach-Pinke, Irene: Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt a.M., New York 1993, dies.: German Governesses in England, in: Bosbach: Prinz Albert, S. 23-31; Muhs, Rudolf: Eine Stütze für Germanias „Töchter in der Fremde“. Der „Vereinsbote“ aus London, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2003) 44, S. 38-45; SchmidtBrümmer, Ursula: Zwischen Gouvernantentum und Schriftstellerei: Amalie Bölte in England, in: Alter, Muhs: Exilanten, S. 198-224; Sundermann: Deutscher Nationalismus, S. 80ff.; Walzer, Anke: Käthe Schirmacher. Eine deutsche Frauenrechtlerin auf dem Wege vom Liberalismus zum konservativen Nationalismus, Pfaffenweiler 1991, S. 30ff.; Wedel: Ledig, fromm und geschäftstüchtig. So die Aussage im „Hermann“ (1859), dem wichtigsten deutschen Exilwochenblatt in London (zit. nach Sundermann: Deutscher Nationalismus, S. 81). Vgl. Alter, Muhs: Begegnungen, S. 3. Im gesamten 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien nahezu keine Einwanderungsbeschränkungen. Dies änderte sich erst mit der Verabschiedung des sogenannten ‚Aliens Act‘ von 1905 – eine Reaktion auf die verstärkte Zuwanderung osteuropäischer Juden. Zur britischen Einwanderungs- und Einbürgerungs-
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nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 einen beachtlichen Zuwanderungsschub durch politische Verfolgte. Die etwa 24.000 deutschsprachigen Personen stellten 1861 zwar nur ein halbes Prozent der über drei Millionen umfassenden Londoner Bevölkerung dar; gleichwohl bildeten sie – vom Sonderfall der Iren abgesehen – die größte nationale Minderheit in der britischen Metropole.32 Bei den rund 9.000 weiblichen Deutschen, die 1861 in England und Wales lebten, handelte es sich etwa zur Hälfte um Familienangehörige. Die andere Hälfte machten alleinstehende Frauen aus, von denen über 1.400 als Dienstmädchen arbeiteten. Nahezu die einzige Möglichkeit für bürgerliche Frauen, ihren Lebensunterhalt auf ehrbare Weise zu verdienen, bestand in einer Anstellung als Lehrerin oder Erzieherin: Die englische Volkszählung von 1861 ermittelte 853 deutsche Gouvernanten – eine Zahl, die bis 1881 auf nahezu 1.900 anstieg. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren mehr als 1.000 deutschsprachige Frauen in englischen Schulen und Familien beschäftigt, ferner knapp 100 in Schottland und 150 in Irland.33
3.3
Der Verein Deutscher Lehrerinnen in England
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren Lehrerinnen, die im Ausland eine Anstellung suchten, zumeist auf sich gestellt. Seit den 1870er Jahren entstanden eine Reihe von Einrichtungen, die gezielt Hilfe bei der Organisation von Auslandsaufenthalten anboten. Größere Lehrerinnenseminare in Deutschland unterhielten Stellenvermittlungsbüros. Im Ausland wurden Lehrerinnenvereine ins Leben gerufen, die sich in der Regel dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV) als Zweigvereine anschlossen. Im Jahre 1876 wurde in London unter der Leitung von Helene Adelmann der Verein Deutscher Lehrerinnen in England gegründet, der sich – um potentielle Arbeitgeber zu erreichen – in englischer Sprache Association of German Governesses nannte. 1890 eröffneten zwei Lehrerinnen das entsprechende Pendant in Paris. Weitere Ortsvereine existierten in Italien (Florenz) und in den USA (New York).34 Diese Selbsthilfeeinrichtungen und Interessenvertretungen wurden vor allem geschaffen, um den ledigen jungen Frauen erste Anlaufstellen in der ‚Frem-
32 33 34
politik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert siehe die Beiträge in Schönwälder, Sturm-Martin: Die britische Gesellschaft. Vgl. Alter, Muhs: Begegnungen, S. 6f. Vgl. ebd., S. 12; Muhs: Eine Stütze, S. 38. Vgl. Lange, Helene: Erzieherin, in: Der Vereinsbote 7 (1895) 4, S. 76f.
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de‘ zu bieten, um ihnen sichere Unterkünfte, gut bezahlte und standesgemäße Arbeitsstellen zu vermitteln und sie dadurch vor den Angeboten in unseriösen Zeitungsannoncen und vor zwielichtigen Vermittlungsagenturen zu schützen. Neben dem Stellengeschäft bildeten Fortbildungsangebote, insbesondere die Durchführung von Sprachkursen, ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Vereine. Um die diversen Angebote nutzen zu können, war eine Mitgliedschaft der Frauen im Verein mit entsprechender Beitragszahlung obligatorisch.35 Der Verein Deutscher Lehrerinnen in England unterhielt im gehobenen Londoner Stadtteil Marylebone seit 1879 ein Wohnheim für Mitglieder, die eine Anstellung suchten und das den sinnfälligen Namen Daheim trug – zweckmäßig ausgestattet mit angeschlossenem Stellenvermittlungsbüro. Acht Jahre später kam ein kleines Sanatorium für erkrankte Frauen hinzu und 1894 zudem ein Ferien- und Erholungsheim in der ländlichen Umgebung Londons. In finanzielle Nöte geratene Mitglieder konnten aus einem Fonds kleinere Geldsummen zinsfrei entleihen.36 Seit 1889 gab der Verein, der von Helene Adelmann und Magdalene Gaudian geleitet wurde, mit dem vierteljährlich erscheinenden Vereinsboten ein eigenes Organ in deutscher Sprache heraus, welches die Abonnentinnen an erster Stelle über Vereinsneuigkeiten informierte und zudem Fortbildungsangebote, Urlaubs- und Reiseberichte enthielt. „Was die öffentlichen Aufsatzbeiträge angeht“, resümiert der Historiker Rudolf Muhs, „so kreisen sie im Wesentlichen um vier Schwerpunkte, nämlich die Identität der in Großbritannien tätigen Gouvernante als Frau, als Lehrerin und als Deutsche sowie die Problematik ihrer Stellung zwischen zwei Kulturen“.37 Die regelmäßig abgedruckten Berichte über die jährlich stattfindenden Generalversammlungen geben zudem einen Einblick in wichtige Entwicklungen und (berufsständische) Positionierungen des Londoner Vereins. Nachdem erste Anlaufschwierigkeiten in den späten 1870er Jahren überwunden worden waren, florierte der Verein maßgeblich über sein Stellenvermittlungsgeschäft – nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen und engen Verbindungen zwischen der deutschen und englischen Aristokratie. Ursprünglich als pädagogischer Lesezirkel entstanden, war es Adelmann bald ein wichtiges Anliegen, gegen kommerzielle Stellenvermittler vorzugehen. 35 36
37
Vgl. Kleinau: In Europa und der Welt unterwegs, S. 165ff. Vgl. Gaudian, Magdalene: Die deutsche Lehrerin in England, in: Der Vereinsbote 24 (1912) 1, S. 7; Muhs: Eine Stütze, S. 38. Zur Vereinsgeschichte siehe auch Koenig, H. Z.: Authentisches über die deutsche Erzieherin in England, London 1884. Vgl. Muhs: Eine Stütze, S. 40.
Deutsche Lehrerinnen in England
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Wiederholt warnte sie in einschlägigen Zeitschriften ausdrücklich davor, sich bei der Stellensuche auf unseriöse, private Arbeitsvermittler zu verlassen, die Lehrerinnen aus rein kommerziellen Gründen vermittelten und sich wenig um die Passung von Angebot und Nachfrage kümmerten. Die Engagements kämen oft gar nicht zustande, die Provision des Agenten wäre aber trotz dieser Fehlschläge jedes Mal fällig. Auch ein vorab geschlossener Arbeitsvertrag böte nicht immer Schutz vor übermäßiger Arbeitsbelastung, geringer Bezahlung, schlechter Unterbringung und unzureichender Verköstigung. Dass die vereinbarten Vertragsbedingungen vor Ort nicht immer durchzusetzen seien, müssten vor allem junge Lehrerinnen erfahren, denen oft Aufgaben zugewiesen würden, die eigentlich Dienst- oder Kindermädchen oblägen.38 Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein vermittelte der Verein, der im Durchschnitt etwa 700 Mitglieder zählte, vor Ort jährlich rund 200 Anstellungen, so dass der Vorstand nach 35-jähriger Amtszeit resümieren konnte, seit seinem Bestehen über 7.000 Stellen besetzt zu haben.39 In diesem Zeitraum versuchte der Verein neben dem Ziel der individuellen Hilfeleistung sowohl eine Monopolstellung über den englischen Stellenvermittlungsmarkt für Lehrerinnen zu erlangen, als auch eine strikte Qualitätskontrolle seinen Mitgliedern gegenüber zu erwirken. Die Vorsitzende Helene Adelmann sprach immer wieder deutliche Ermahnungen aus, in denen sie auf die hohen Ansprüche der Engländer/innen gegenüber den deutschen Erzieherinnen verwies und wenig qualifizierten Kräften unmissverständliche Absagen erteilte, die sich auch in den strengen Aufnahmekriterien des Vereins äußerten.40 Dieser berufsständischen Abriegelung nach ‚unten‘ entsprach eine soziale Aufstiegsorientierung nach ‚oben‘: Durch die nahen Verwandtschaftsbeziehungen des englischen und des deutschen Herrscherhauses gelang es, 38
39 40
Vgl. Adelmann, Helene: Zu früh ins Ausland, in: Die Frau 5 (1897/98), S. 137. Adelmanns Zeitschriftenbeiträge folgen meist einem immer wiederkehrenden Muster: Im ersten Teil des Beitrags wird mit drastischen Beispielen vor der Inanspruchnahme kommerzieller Vermittlungsdienste gewarnt, der zweite Teil steht dann im Dienst der Vereinspropaganda. Der Verein Deutscher Lehrerinnen wird als einzig kompetente, seriöse Anlaufstelle für Arbeit suchende deutsche Lehrerinnen präsentiert. Die Vereinsmitglieder waren – Adelmann zufolge – nicht nur Expertinnen für den englischen Stellenmarkt, sie wussten auch aus eigener leidvoller Erfahrung welche Fallstricke die geschäftsmäßigen englischen Umgangsformen („time is money“) für die ‚gemütvollen‘ Deutschen bereithielten (vgl. Adelmann, Helene: Ratschläge für deutsche Erzieherinnen in England, in: Die Frau 2 (1894/95), S. 22). Vgl. Gaudian: Die deutsche Lehrerin, S. 9. Vgl. Bericht über unsere 21. Generalversammlung, in: Der Vereinsbote 1 (1889) 1, S. 3.
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deutschstämmige Mitglieder der englischen Aristokratie für die Vereinsarbeit zu gewinnen, z.B. Lady Cunliffe Owen, eine geborene Gräfin von Reitzenstein.41 Schirmherrin des Vereins in den ersten Jahren seines Bestehens war die Großherzogin Alice von Hessen, eine Tochter Queen Victorias. Die deutsche Kronprinzessin und spätere Kaiserin Friedrich, ebenfalls eine Tochter Queen Victorias, war zwei Mal im Daheim zu Gast,42 ebenso Kaiserin Auguste Viktoria, die Gemahlin Wilhelm II., der bei ihrem Besuch versichert wurde, dass „im Verein das Deutschtum hochgehalten [werde], welches im Auslande den Deutschen so leicht verloren“ gehe.43 Die bedeutenden Persönlichkeiten des englischen und deutschen Adels erwiesen sich als Gönnerinnen und Gönner des Vereins, verliehen ihm ihr Patronat und verschafften ihm damit erst jene gesellschaftliche Respektabilität, ohne die eine erfolgreiche Tätigkeit in England kaum möglich gewesen wäre.44 Die zahlreichen Kontakte des Vereins in aristokratische Kreise wurden im Vereinsboten sorgfältig dokumentiert, und der Vorstand rühmte sich damit, seine Schützlinge vorwiegend in den Kreis der „oberen Zehntausend“ zu vermitteln.45 Aufnahme im Daheim konnten nur eingetragene Mitglieder finden, und längst nicht alle Lehrerinnen genügten den strengen Aufnahmekriterien. Die Vereinsmitglieder, die sich selbstbewusst „die Aristokraten der deutschen Erzieherinnen in England“ nannten, hielten auf ihrer 19. Generalversammlung ausdrücklich fest, der Verein sei „keine Unterstützungskasse für alle Verarmte, die sich Lehrerinnen heißen, für untüchtige Kräfte, welche vom Vereinsvermögen unterstützt werden wollen“.46 Frauen, die die Mitgliedschaft anstrebten, mussten sich persönlich vorstellen, durften nicht jünger als 20 und älter als 50 Jahre sein. Diese Kriterien waren – so Adelmann – dem englischen Arbeitsmarkt geschuldet. Keine „gute Familie oder Schule“ stelle unbesehen eine Lehrerin ein, jüngere und ältere Lehrkräfte seien kaum
41 42
43 44 45 46
Die neunzehnte Generalversammlung des Vereins deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen in England, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 4 (1887/1888) 14, S. 435. Gaudian, Magdalene: Helene Adelmann. Ein Lebensbild, in: Dem Andenken an Helene Adelmann. Hrsg. vom Vorstand des Vereins deutscher Lehrerinnen in England, Berlin 1916, S. 28. Die deutsche Kaiserin im Daheim der deutschen Lehrerinnen und Erzieherinnen in London, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 7 (1890/91) 24, S. 737. Vgl. Muhs: Eine Stütze, S. 43. Gaudian: Helene Adelmann, S. 8. Die neunzehnte Generalversammlung, S. 436.
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mehr vermittelbar.47 Darüber hinaus mussten die um Aufnahme ersuchenden Lehrerinnen „ein scharfes Examen bestehen, alle Papiere und Zeugnisse in vollster Ordnung haben“.48 Wiederholte Bitten, die strengen Aufnahmekriterien zu lockern, wurden vom Vereinsvorstand strikt zurückgewiesen. Bei den deutschen Lehrerinnen erfreute sich das Daheim großer Beliebtheit, weil es für vergleichsweise wenig Geld, 30 Schilling die Woche, eine respektable, saubere und gemütliche Unterkunft bot, die nicht nur manche geistige Anregung gewährte, sondern die Frauen darüber hinaus mit der gewohnten deutschen Kost versorgte.49 Den hohen Grad sozialer Kontrolle, der mit dem Wohnen im Heim verbunden war, scheinen nur wenige Lehrerinnen als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit empfunden zu haben. Das Heim bot Sicherheit, Schutz und Orientierung in einer fremden Umgebung, die ohne männliche Begleitung reisenden Frauen oft mit Herablassung und Missachtung begegnete. Mit seiner Orientierung an der adeligen englischen Gesellschaft und seinen Verbindungen in den Buckingham Palace ist allerdings erst eine Seite der Loyalitätsmedaille des Vereins benannt. Gleichzeitig gerierte sich die Organisation in ihren öffentlichen Verlautbarungen wie in ihrer Alltagskultur unverblümt patriotisch und deutsch-national. Als die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria im Sommer 1891 das Londoner Daheim mit einem Besuch beehrte, versicherte ihr Helene Adelmann: „Eure Majestät wollen glauben, daß an keinem Ort des großen deutschen Vaterlandes wärmere und loyalere Herzen schlagen, als in der deutschen Lehrerinnencolonie Großbritanniens. Wir versichern Eure Majestät, daß während des 14jährigen Bestandes unseres Vereins wir uns stets bemüht haben, dem Vaterland Ehre zu machen, und daß dieses auch fernerhin eine unserer höchsten Aufgaben sein wird.“50
Neben den häufigen Visitationen deutscher oder englischer Persönlichkeiten bildete zweifelsohne das Weihnachtsfest den jährlich wiederkehrenden Höhepunkt im Vereinsjahr, worüber im Vereinsboten stets ausführlich berichtet
47 48 49 50
Ein Wort zur Erwägung an die stellensuchenden Lehrerinnen in England, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 7 (1890/91) 13, S. 404. Ebd., S. 405. Vgl. Jansen, Heinz (Hrsg): Freundschaft über sieben Jahrzehnte. Rundbriefe deutscher Lehrerinnen 1899–1968, Frankfurt a.M. 1991, S. 98. Die deutsche Kaiserin im Daheim, in: Der Vereinsbote 3 (1891) 3, S. 58f.
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wurde.51 Die Artikel – von Vereinsmitgliedern in oftmals kindlich anmutender Couleur verfasst – ähneln sich dahingehend, dass stets das besonders ‚Deutsche‘ an den Festlichkeiten hervorgehoben wurde: angefangen beim ‚deutschen‘ Weihnachtsbaum, über Festschmuck und Fahnen in ‚deutschen‘ Farben hin zu weihnachtlich-vaterländischen Reden, Gedichten und Liedern – mit dem Deutschlandlied und der Kaiserhymne als krönendem Abschluss. So heißt es etwa in einem selbst verfassten Weihnachtsgedicht eines Vereinsmitglieds: „Festesjubel – Weihnachtsglocken/ Tönen traut dem deutschen Sinn,/ Uns zu ziehen, uns zu locken/ Nach des Heimes Räumen hin./ Weihnachtsbaum und deutsche Lieder,/ Pfefferkuchen, Fröhlichkeit/ Bringen zur Erinn‘rung wieder/ Christfest aus der Kinderzeit./ Fern von Eltern und Geschwistern,/ Fern dem lieben deutschen Land,/ Fühlen wir im Heim doch innig,/ Daß wir Deutschland stammverwandt./ Unsre Mütter, unsre beiden,/ Sorgen ja so liebevoll,/ Daß uns Deutschen in der Fremde/ Heimathselig werden soll.“ 52
Solche und andere symbolträchtigen, emotional aufgeladenen Feierlichkeiten, in deren Rahmen nationale Rituale und Traditionen reproduziert wurden, können als Akte kultureller Selbstvergewisserung von Lehrerinnen in der ‚Fremde‘ gedeutet werden.53 Um die Jahrhundertwende sank die Nachfrage nach deutschen Lehrerinnen in England und damit auch die Mitgliederzahlen im Verein. Für die sinkende Nachfrage machte Magdalene Gaudian eine „antideutsche Unterströmung im englischen Volk“ verantwortlich und entschied sich damit für eine Begründung, die sicherlich kriegsbedingt war.54 20 Jahre zuvor hatte Helene Adelmann bereits auf die starke Konkurrenz durch englische Lehrerinnen hingewiesen, denen im Gegensatz zu ihren deutschen Kolleginnen
51
52 53
54
Vgl. exemplarisch Fischer, M.: Weihnachten und Sylvester im Daheim, in: Der Vereinsbote 10 (1898) 1, S. 4-5; Hendewerk, A.: Weihnachten im Daheim, in: Der Vereinsbote 7 (1895) 1, S. 3-4; Langemaß, Gertrud: Weihnachten, in: Der Vereinsbote 19 (1907) 1, S. 4-6; Tornwaldt, M.: Weihnachten im „Daheim“ in London, 1888, in: Der Vereinsbote 1 (1889) 1, S. 9-12. Zit. nach Tornwaldt: Weihnachten, S. 11. Die häufig mit nationaler Symbolik aufgeladene Durchführung traditioneller deutscher Festlichkeiten in der europäischen und außereuropäischen ‚Fremde‘ sind in vielen autobiografischen Schriften von Lehrerinnen dokumentiert. Vgl. auch Kap. 4.4., Kap. 6.4., Kap. 8.2. Gaudian: Helene Adelmann, S. 22.
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ein reguläres Studium offen stand.55 Durch den Ausbau des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland wurden zudem mehr Frauen im Heimatland in den Schuldienst übernommen. Lehrerinnen, die jetzt nach England kamen, waren weniger an einer dauerhaften Stelle, sondern an einer Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse interessiert. Um auch diese Frauen für eine Mitgliedschaft zu gewinnen, beschloss der Vereinsvorstand, sich zukünftig auf die Vermittlung von Sprachkursen zu konzentrieren. Im Daheim wurde Englisch als Umgangssprache eingeführt, der Vereinsbote druckte englischsprachige Beiträge, was bei einigen älteren Mitgliedern nachhaltige Irritationen auslöste.56 In ihrem Nachruf auf Helene Adelmann fühlte Gaudian sich denn auch verpflichtet, die Vereinsgründerin als glühende Patriotin zu schildern, die ein gedankenloses Mitschwimmen im englischen Strom in ihrem Verein nicht geduldet habe. So manche ‚Überläuferin‘ habe sie dazu gebracht, wieder „den deutschen Geist, die Liebe zum Vaterland und zu unserem Kaiserhaus“ zu pflegen.57
3.4
Konstruktionen nationaler Identität in autobiografischen Zeugnissen
Wie erinnerten und beurteilten nun die Lehrerinnen rückblickend ihre Zeit in England? Welche Erlebnisse, Ereignisse und Erfahrungen werden in den autobiografischen Berichten in welchem Licht präsentiert? Was waren die Motive für die meist mehrjährigen Auslandsaufenthalte und wie gestalteten sich die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort? Gelang es den überwiegend jungen Frauen, sich in die ‚fremde Kultur‘ zu integrieren, und war dies überhaupt erwünscht? Welches ‚Bild‘ von England wird in den Schriften in Abgrenzung zur ‚deutschen Nationalkultur‘ retrospektiv erzeugt, welche Fremdzuschreibungen und Selbsteinschätzungen werden vorgenommen? Gibt es Anzeichen für Momente ‚interkulturellen Transfers‘, eines gegenseitigen Austauschs von ‚Wissen‘ oder der Aneignung fremder kultureller Muster? Lehrerinnen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Aufenthalt in England entschieden, handelten in erster Linie aus berufsspezifischen Motiven heraus. Zwar spielte auch der „Reiz des Neuen, Unbekann55 56 57
Vgl. Adelmann, Helene: Vor der Berufswahl. Warnungen und Ratschläge für unsere Großen. Die deutsche Lehrerin im Ausland, in: Die Gartenlaube 12 (1895), S. 198. Vgl. Muhs: Eine Stütze, S. 44. Gaudian: Helene Adelmann, S. 29f.
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ten, Seltsamen“58 eine nicht unerhebliche Rolle, doch in der Mehrheit war es die „eiserne Notwendigkeit“,59 die junge Frauen bewog, eine erste Anstellung im benachbarten Ausland zu suchen. Das Vorhaben, „Sprache, Land und Leute gründlich kennen zu lernen“60 war mit der Hoffnung verknüpft, durch eine Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse die Chancen auf eine Lehrtätigkeit im Heimatland zu erhöhen. Englische Stellenangebote, die versprachen „You would be treatet just as one of our Family“61 waren für deutsche Berufsanfängerinnen verlockend, und viele begaben sich mit naiven Vorstellungen über den englischen Arbeitsmarkt, mit schlechten Sprachkenntnissen und mit wenig Geld ausgestattet nach London. Die englische Metropole, mit ihrem „Treiben und Hasten, wo alles in engbegrenzter Zeit und mit der Uhr in der Hand mitgemacht werden muß“,62 löste bei den jungen Frauen nicht selten Ernüchterung, Desorientierung und erste Fremdheitsgefühle aus: „Meine junge Reisebegleiterin wurde von ihrem Bruder abgeholt und im Nu fortgefahren; ich stand allein und fühlte mich ratlos im Gewühl von Gepäckträgern und Droschkenkutschern, die ihre Dienste anboten. Meinen phantasievollen Plan, mich in London aufzuhalten und mich umzusehen, gab ich sofort auf, denn ich konnte trotz englischer Grammatik, Stundennehmen und Stundengeben in englischer Sprache kein Wort verstehen.“ 63
Vor der Gründung des Vereins Deutscher Lehrerinnen in England im Jahr 1876 war es für Arbeit suchenden Frauen schwierig und mitunter gefährlich, auf eigene Faust eine Unterkunft und eine geeignete Anstellung zu finden. Wie Helene Adelmann berichten auch mehrere Autobiografinnen von Stellenvermittlungsagenturen, die die Situation der auf sich allein gestellten Frauen unbarmherzig ausnutzten: „Gleichwohl habe ich keinen Augenblick vergessen, wie allein ich in jenem schrecklichen Lande war und daß auch jetzt wieder die kleine Barschaft zu Ende ging, die mir nach Zahlung des Agenten noch geblieben war. Was tun? Mich nochmals an einen Agenten wenden? Nimmermehr! Dagegen hatte mir meine 58 59 60 61 62 63
Knapp, Marie: Erlebnisse und Eindrücke in Irland, in: Die Frau 21 (1913/14), S. 407. Bender, Augusta: Auf der Schattenseite des Lebens. Jugendgeschichte einer Autodidaktin, 2 Bde., Baden-Baden 1913/14. Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 1. Ebd. Heerwart, Eleonore: Fünfzig Jahre im Dienste Fröbels. Erinnerungen von Eleonore Heerwart, 2 Bde., Eisenach 1906, S. 206. Ebd., S. 79.
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Hausfrau den Rat gegeben, in den Privatschulen der näheren Umgebung persönlich vorzusprechen und meine Karte abzugeben.“64
Die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort unterschieden sich beträchtlich voneinander. Glücklich konnten sich die Lehrerinnen schätzen, die entsprechend ihrer Qualifikation eine Anstellung finden konnten – vor allem als Sprach- und Musiklehrerinnen im öffentlichen Schulwesen, in Privatschulen oder als ‚Gouvernanten‘ der Töchter höherer und gebildeter Stände. Häufig wurden ausgebildete Lehrerinnen jedoch Opfer falscher Versprechungen der Agenturen und fanden sich auf Stellen als Kindermädchen und Haushaltshilfen wieder. In mehreren Autobiografien finden sich Klagen über schlechte Unterbringung, mangelhafte Nahrung und eine unangemessen hohe Arbeitsbelastung: „Ich wurde in mein Zimmer geführt, ein kaltes Dachzimmer mit einer ganz kleinen Fensterlucke [sic!] und schiefen Wänden. Ein sehr breites Bett, ein Waschtisch und zwei Stühle standen darin. In Bourg-la-Reine war‘s ja damals auch nicht viel besser, aber in England hatte ich mehr Komfort erwartet. [...]. Nach dem Essen musste ich die Kinder baden, kämmen und zu Bett bringen. So also sah die neue Tätigkeit aus! Es galt, sich mit Humor in die Lage zu schicken.“ 65 „Der immerwährende Ärger, die ungewöhnlich knappe Kost und großes Heimweh nahmen mir Appetit und Schlaf, und ich bekam eine bleiche Gesichtsfarbe.“66 „Das englische Leben mit seinen kalten Umgangsformen legte sich mir wie ein eisernes Rost um Kopf und Herz, so daß es mich Mühe kostete, meiner selbst, sowie meiner Zwecke und Ziele bewusst zu bleiben.“67
In nahezu allen autobiografischen Quellen finden sich weiterhin Berichte über windige, vorschnell abgeschlossene Kontrakte und daraus resultierende Probleme mit der Bezahlung. Dass es unter solchen Arbeitsbedingungen nur schwer zu einer persönlichen Annäherung zwischen Arbeitgebern und -nehmern kommen konnte, ist einsichtig. Entgegen den Vorstellungen von einer freundlichen Aufnahme in einen fremden Haushalt sahen sich die zu Dienstbotinnen degradierten Lehrerinnen Demütigungen ausgeliefert, die nicht selten an ihrer Nationalität festgemacht wurden: 64 65 66 67
Bender: Schattenseite, S. 74. Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 4. Mittendorf, Dorette: Erinnerungen aus dem Leben einer Erzieherin, Kassel o.J., S. 16. Bender: Schattenseite, S. 48.
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„Ich arbeite ja gern im Hause, so ungewohnt mir der englische Wirtschaftsbetrieb ist, aber bei jeder Ungeschicklichkeit muß ich hören: ‚Is that German?‘ [...] Sobald ich ahnungslos etwas ein wenig anders mache, als die Hausfrau, heißt‘s: ‚It looks funny. Is that German?‘ [...]. Die Kinder schnappen alles auf, und da sie die Mutter so geringschätzig mir gegenüber sehen, zeigen sie mir auch ihre Verachtung bei jeder Gelegenheit.“68
Das oftmals konfliktbehafte Leben und Arbeiten der jungen Frauen fand auch in schulischen Kontexten, d.h. in Pensionaten, häufig unter einem Dach mit ihren englischen Brotgebern und Schützlingen statt. Auch hier blieb trotz der alltäglichen räumlichen Nähe ein auf nationaler Herkunft beruhendes Maß an Distanz bestehen, das Thekla Lehnert wie folgt einschätzte: „Es ist, als seien wir Menschen zweiten Ranges und sozial so tiefstehend, daß man jede persönliche Berührung vermeidet“.69 In den autobiografischen Berichten finden sich viele verstreute Hinweise auf einen grundlegenden Mangel an sozialen Kontakten, auf die unpersönliche Atmosphäre am Arbeitsplatz sowie auf daraus resultierende Gefühle von Einsamkeit und Heimweh:70 „Ich fühle mich hier recht unglücklich und heimatlos. An meine Angehörigen kann ich ja nicht schreiben, wie es mir geht. Sie würden sich beunruhigen und könnten mir doch nichts nützen. Vielleicht hilft mir das Tagebuch über die trüben Stimmungen hinweg.“71
Trost und Rückhalt konnten die Lehrerinnen in der Pflege deutscher Kultur finden. Die Reproduktion nationaler Traditionen in privater Sphäre stellte für deutsche Frauen im Ausland eine wichtige Betätigung zur kulturellen Selbstvergewisserung dar – mit dem Emotionen bewegenden Weihnachtsfest als jährlichem Höhepunkt.72 Eleonore Heerwart beschreibt, wie sie mit einfachsten Mitteln versuchte, ihre Aufgabe als ‚Kulturträgerin‘ wahrzunehmen und das Weihnachtsfest in der Fremde möglichst ‚deutsch‘ zu gestalten: 68 69 70 71 72
Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 8f. Ebd., S. 42. Diesen Befund stützt auch die Auswertung der Briefe von Käthe Stricker, die von 1898 bis 1900 als Lehrerin in London arbeitete (vgl. Ehrich: geduldig ausharren). Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 15. Auch Heinz-Gerhard Haupt und Charlotte Tacke vermuten, dass private Feste, vor allem Weihnachts- und Hochzeitsfeiern, in ihrer Bedeutung und Erfahrung über den engen Kreis der Familie hinaus mit nationaler Symbolik aufgeladen sind (vgl. Haupt, Tacke: Die Kultur des Nationalen, S. 277).
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„Das Weihnachtsfest wollten wir auf deutsch feiern; einen Baum bekam Miß Barton für vieles Geld, aber was daran hängen? Da fehlten unsere deutschen Wachslichte, Zuckerzeug und dergl., es mußten daher Papierlaternen, Puppen und anderes großes Spielzeug daran gehängt werden. Die Kinder sahen sich den Baum mit Staunen an, denn sie hatten noch keinen gesehen. Ein Knabe frug: Who made that beautiful tree? [...] Wohlan! Ein deutscher Weihnachtsbaum war es nicht. – Symbolik und Poesie fehlten überhaupt der Bescheerung; [sic!] doch waren die Kinder vergnügt und das war allen die Hauptsache.“ 73
Das gemeinsame Feiern von Festen, in deren Kontext verschiedene nationale Kulturmuster zum Ausdruck kamen und die einen ‚interkulturellen Transfer‘ bewirken konnten, stellte die Ausnahme dar. Eine sowohl von Engländern als auch von Deutschen erzeugte und gewahrte Distanz war im alltäglichen Miteinander eher die Regel. Diese Einschätzung drängt sich auf, wenn man die Fülle von Selbsteinschätzungen und Fremdzuschreibungen aus den vorliegenden Autobiografien zusammenträgt. In ihrer Zusammenschau erzeugen sie ein Bild der jeweiligen ‚Nationalcharaktere‘ aus der Sicht der in England tätigen deutschen Lehrerinnen. Sucht man in den Erinnerungsberichten nach ‚deutschen Charakterzügen‘, trifft man auf den bekannten bürgerlichen, hier vorzugsweise weiblich konnotierten Tugendkatalog: Sauberkeit, Sittsamkeit, Fleiß, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Wohltätigkeit, Gutmütigkeit und Großzügigkeit. Aus diesen Qualitätsmerkmalen konstruierten die Autorinnen rückblickend jene Aura, die deutsche Frauen in der Fremde ausgestrahlt hätten. Lehnert versuchte den Anfeindungen ihrer Gastfamilie mit ‚deutscher Gründlichkeit‘ im Bereich der Hygiene zu begegnen: „Ich habe ja häufig genug mit Engländerinnen zusammengelebt, um zu wissen, daß sie ein gewisses Vorurteil gegen die Deutschen haben, was Körperpflege betrifft, und daß man seine Reinlichkeit ihnen gegenüber kräftig betonen muß. Ich bin froh, daß ich mir hier vom ersten Tag an abends heißes Wasser aus der Küche holte, um es recht sichtbar durch die Wohnung auf mein Zimmer zu tragen. Ich mußte doch meine Nation vorteilhaft vertreten!“74
Ein Musterbild der ‚deutschen Frau‘ zeichnete eine Autobiografin anhand des Wirkungskreises ihrer Schwester, in den sie während einer Heimatreise Einblick hatte. Dieses Bild einer von wohlerzogenen Kindern umgebenen Gattin, Hausfrau und Mutter wurde als direkter Kontrast zu den vermeint73 74
Heerwart: Fünfzig Jahre, S. 82. Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 8.
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lich englischen Verhältnissen entworfen. Die kulturell bedingten Differenzen wurden dabei auf unterschiedliche ‚Nationalcharaktere‘ zurückgeführt: „Die Engländer sind als Freunde treu und zuverlässig überhaupt höchst aufopferungsfähig. Sie sind zäh und beharrlich in ihrem Vorhaben. Schön ist auch die Ritterlichkeit der Männer gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Freches Anstarren gibt es hier nicht. Die alleinreisende Frau kann sich überall sicher fühlen. Es herrschen strenge Sittlichkeitsbegriffe. Mag auch manche Scheinheiligkeit und viel Engherzigkeit mit unterlaufen, es weht doch eine reine Luft in der Literatur und anderswo, die wohltuend berührt. Ich glaube, es ist diese Sittenreinheit, die England groß gemacht hat. Als hässlicher Flecken auf dem Bild bleibt aber der Egoismus. Ich glaube, man darf sagen: Der Deutsche tut das Gute aus Nächstenliebe, der Engländer aus Selbstachtung.“ 75
Die Liste der Eigenschaften, die dem ‚typischen‘ Engländer zugeschrieben wurden, ist lang und soll hier nur angedeutet werden: Der „Stockengländer“ sei „steif und kalt“.76 Es fehle ihm die „einfache Häuslichkeit unseres deutschen Familienlebens“,77 hingegen mache seine „Vorliebe für Hunde, Jagen und alle körperlichen Leibesübungen“ einen „starken National-Zug jedes Engländers“ aus.78 Die jungen Edelleute seien ungebildet, „und ihre Ideen gehen selten über die Grenzen des Vaterlandes hinaus“. Generell wolle der Engländer „nur vom Ich und vom Vaterlande hören, und an nichts Interesse nehmen, was nicht darauf Bezug hat“.79 Dieses „Insichgesättigtsein der meisten Engländer“80 bestimme auch grundlegend sein Verhältnis zum ‚Fremden‘: „Sie haben so gar kein Verlangen, etwas Außerenglisches kennen zu lernen, höchstens noch fremde Länder. Aber fremde Menschen, fremde Gerichte, fremde Sitten und Gebräuche, fremde Anschauungen, das ist etwas, wogegen sie sich ganz und gar verschließen. ‚England is quite big enough for us‘, sagte Miß Gibbons zu mir, mit der Versicherung, dass sie nicht mehr vorhabe, ins Ausland zu verreisen. [...] Diese Eigentümlichkeit macht die meisten Engländer auch unfähig, fremde Sprachen geläufig und korrekt zu erlernen. Sie haben dafür nicht das nötige, selbstlose Interesse.“81 75 76 77 78 79 80 81
Ebd., S. 52. Bender: Schattenseite, S. 52. Bölte, Amely: Erzählungen aus der Mappe einer Deutschen in London, Leipzig 1848, S. 32. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Lehnert: Was ich vom englischen Leben sah, S. 91. Ebd., S. 91f.
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Dieser engstirnige, auf nationale Belange verkürzte Charakterzug gehe zudem mit mangelnder Selbstkritik, einer „Neigung zur Selbsttäuschung“ sowie einer großen „Oberflächlichkeit des Denkens“ einher.82 Das zwischenmenschliche Miteinander sei von gegenseitigem Misstrauen geprägt, „das fast kaufmännisch anmutet“ und den Engländer dazu zwinge, ein „System von Self-defance“ auszubilden, in dem sich die viel gerühmte „englische Freiheit mehr als Ellbogenfreiheit“ erweise.83 Aber auch positive Eigenschaften wurden den Engländern zugeschrieben: Besonders in ihrem stark entwickelten Ehrgefühl zeige sich die Natur der Engländer als „echte[n] Germanen“.84 Denn letztlich handle es sich bei den Bewohnern der „meerumspülten Insel“ um ein „stammesverwandte[s] Germanenvolk[ ], das sich unter ganz besonderen Lebensbedingungen sein eigentümliches nationales Dasein geschaffen“ habe.85
3.5
Das Ausland als Chance und Modell
In der Zeitschrift Die Lehrerin in Schule und Haus, dem Zentralorgan für die Interessen der Lehrerinnen und Erzieherinnen im In- und Auslande findet sich im Jahrgang 1886/87 die folgende Anfrage an die Herausgeberin: „Hochgeschätzte Frau! Das lebhafte Interesse, das Sie dem Lehrerinnenstande zuwenden, macht mir Mut, mich in einer Angelegenheit an Sie zu wenden, welche mich und wohl viele andere schon lange beschäftigt [...]: ich meine die vom Staate geförderte Fortbildung bereits geprüfter Lehrerinnen. – [...] Ich habe mir sagen lassen, dass das Ausland uns darin mit gutem Beispiele vorangegangen sei. An der Universität Glasgow existieren sogenannte Correspondence-Classes für Frauen, in denen die Schülerinnen gegen ein bestimmtes Honorar in gewissen, ihrer Auswahl überlassenen Fächern schriftlich fortgebildet werden. Dies geschieht durch Aufgaben und Fragen, welche die Professoren ihnen zur schriftlichen Beantwortung vorlegen. [...] [D]ie Ausarbeitungen werden gewissenhaft korrigiert, mit ausführlichen Anmerkungen versehen und zensiert den Schülerinnen wieder zugesandt. [...] Am Schlusse des Kursus finden sie sich [...] zu mündlichen Examen in Glasgow ein und erhalten ein Zeugnis über ihre Leistungen. [...] Ihnen, geehrte Frau, die Sie vielfache Verbindungen im Auslande haben, ist die von mir geschilderte Institution wahrscheinlich nicht unbekannt, 82 83 84 85
Ebd., S. 52. Ebd., S. 40 u. S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 16.
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und gewiß haben Sie selbst, haben andere schon den Gedanken erfasst, ähnliche Quellen des Wissens hier im Vaterlande den wissensdurstigen Seelen unseres Geschlechts und besonders unseres Standes zu erschließen. [...] Sollte nicht eine Petition um Errichtung schriftlicher Fortbildungs-Klassen für Frauen an Universitäten [...] das rechte Mittel zur Erreichung unseres Zweckes sein?“ 86
Die Verfasserin dieses Petitionsaufrufes, die Lehrerin, Journalistin und Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher,87 bezog sich in ihrer Anfrage auf das britische System des so genannten Brieflichen Unterrichts, das in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von den Universitäten in Cambridge, Edinburgh, Glasgow und Oxford eingerichtet wurde und das Frauen die Möglichkeit bot, sich auf der Basis eines Fernstudiums fortzubilden.88 Die Correspondence Classes stießen in den bürgerlich-frauenbewegten Kreisen Deutschlands auf reges Interesse, vor allem bei Lehrerinnen und Erzieherinnen, die sich mit einer oftmals unzureichenden seminaristischen Ausbildung begnügen mussten und denen bis zur Jahrhundertwende der Zugang zu den deutschen Universitäten ebenso verwehrt blieb, wie die meisten Aufstiegsmöglichkeiten im öffentlichen höheren Schulwesen. Wiederholt wurde in der Lehrerin über das britische schriftliche Studiensystem berichtet, wie generell die Entwicklungen in den europäischen Nachbarländern auf dem Gebiete der weiblichen Bildung in einschlägigen Publikationsorganen aufmerksam zur Kenntnis genommen wurden. Käthe Schirmacher, die jene Fortbildungseinrichtung für Frauen als unbedingt nachahmenswert erachtete, hatte kurze Zeit später die Gelegenheit, sich persönlich ein Bild von der Verfasstheit des englischen Bildungswesen zu machen, als sie im Sommer 1888 für ein Jahr lang eine Anstellung als Oberlehrerin an einer Privatschule für Mädchen, der Blackburne House High School in Liverpool annahm.89 In ihre Heimatstadt Danzig zurückgekehrt, gründete Schirmacher 1889 einen Korrespondenz-Lehrzirkel nach englischem Modell: Die Fremdsprachen versierte Lehrerin bot es künftig fortbildungswilligen Frauen an, gegen eine Honorarzahlung Übersetzungen und selbst verfasste Aufsätze in englischer oder französischer Sprache zu korrigieren – eine Tätigkeit, die sie auch dann noch fortführte, als sie sich
86 87 88
89
Korrespondenz der Redaktion, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 3 (1886/87) 13, S. 401ff. Zur Biografie Käthe Schirmachers vgl. Kap. 4.5. Zum englischen System des Fernstudiums vgl. Lewes, Dorothy: Zum „brieflichen Unterricht“ (Correspondence Classes), in: Die Lehrerin in Schule und Haus 4 (1887/88) 10, S. 304-308. Walzer: Käthe Schirmacher, S. 30ff.
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1893 zu Studienzwecken nach Zürich begab und zwei Jahre später ihren Wohnsitz dauerhaft nach Paris verlegte. Jene Pädagoginnen, die es um die Jahrhundertwende ins benachbarte europäische Ausland zog, gewannen weit reichende Einblicke in die ‚Fremde‘: nicht nur in fremdes Alltags- und Familienleben, sondern auch in ausländische Erziehungs-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Durch ihre berufsbedingten Auslandsreisen, so die weitere These, fungierten die deutschen Lehrerinnen und Erzieherinnen in mehrfacher Hinsicht als Kulturvermittlerinnen: Durch Sprach- und Literaturstudien, Schulhospitationen, durch ihre Teilhabe am kulturellen Leben und an geselliger Konversation, durch Reisebeobachtungen und Alltagsstudien eigneten sich die jungen Frauen einerseits ‚fremde Kultur‘ aktiv an. Zum anderen aber erfolgte die Kulturvermittlung vor allem in Richtung Heimatland: In Autobiografien, Reiseberichten, Fachzeitschriften sowie im Rahmen von Vorträgen berichteten sie ausführlich über ihre im Ausland gesammelten Erfahrungen. Nicht zuletzt wurde dabei immer wieder auf innovative Ansätze im ausländischen Bildungswesen und auf Fortbildungsmöglichkeiten für Frauen hingewiesen, denen ein Modellcharakter zugeschrieben und deren Übertragung nach Deutschland als wünschenswert erachtet wurde. Auch wenn die Zahl der Stellenvermittlungen durch den Verein Deutscher Lehrerinnen in England bis zur Jahrhundertwende relativ konstant blieb – das Geschäft ließ erst nach 1900 unter dem Einfluss der sich verschlechternden deutsch-englischen Beziehungen deutlich nach –, vollzog sich bereits in den beiden Jahrzehnten zuvor ein schleichender Strukturwandel auf dem britischen Arbeitsmarkt für Gouvernanten. Dafür waren vor allem zwei Entwicklungen verantwortlich: Zum einen wurden das Mädchenschulwesen sowie die Fortbildungsmöglichkeiten für Frauen in England im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sukzessive ausgebaut, etwa durch die eingangs erwähnten Correspondence Classes und den damit verbundenen Local Examinations, durch University Extension Summer Meetings sowie durch die Errichtung höherer Schulen und Colleges für Frauen, bis die Universitäten Englands ihnen schließlich ganz die Tore öffneten.90 Die so gebildeten Frauen Englands stellten eine starke Konkurrenz für deutsche Lehrerinnen und Erzieherinnen dar, die den Stellenmarkt für finishing governesses lange Zeit dominiert hatten. Zum anderen verbesserten sich in diesem Zeitraum die Anstellungsmöglichkeiten für Lehrerinnen im öffentlichen Schulwesen Deutschlands – maßgeb90
An der Londoner Universität wurden Frauen seit 1878 zugelassen, in Cambridge ab 1881 (vgl. Calm, Marie: Die höheren Töchterschulen Englands, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 2 (1885/86) 8, S. 230).
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lich durch den Ausbau des Fremdsprachenunterrichts und durch die Zulassung von Frauen zum Lehramt in den Oberstufen der höheren Mädchenschulen. Beides bewirkte, dass deutsche Lehrerinnen einen Auslandsaufenthalt nicht mehr vorrangig mit dem Ziel einer dauerhaften Stellenbesetzung in Erwägung zogen, sondern dass sie die dort vorhandenen Fortbildungsund Qualifizierungsmöglichkeiten nutzen und sich anschließend auf dem heimischen Arbeitsmarkt platzieren wollten. In einschlägigen Publikationsorganen – vor allem in Die Lehrerin in Schule und Haus – berichteten die Pädagoginnen ausführlich von ihren Bildungsreisen und den dabei gesammelten Erfahrungen. In den Jahren zwischen 1880 und 1914 bildete sich durch eine Vielzahl von kürzeren Artikeln und längeren Abhandlungen eine ‚Diskursplattform‘ heraus, auf der die Neuerungen im englischen Bildungswesen für Mädchen und Frauen thematisiert wurden. Einen Ausgangspunkt nahm der Diskurs um die weibliche Bildung in der Konkurrenzsituation auf dem englischen Arbeitsmarkt für Gouvernanten, auf dem deutsche Lehrerinnen und Erzieherinnen durch besser qualifizierte heimische Arbeitskräfte zunehmend verdrängt wurden: „Die Chancen der deutschen Erzieherin“, schrieb Helene Lange rückblickend, „die ja nicht einmal einen Knaben für die Mittelklassen eines Gymnasiums vorbilden konnte, verringerte sich dadurch ganz bedeutend, und wenn auch eine wirklich tüchtige deutsche Erzieherin durch unseren englischen Verein noch immer eine Stellung findet, so ist doch die Konkurrenz scharf [...].“ 91
Um die Misere der mangelhaften Bildung deutscher Lehrerinnen und ihre daraus resultierende Rückständigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt zu belegen, wurden häufig internationale Vergleiche in die Argumentation mit einbezogen und beispielsweise dargelegt, seit wann sich Frauen in anderen europäischen Ländern an den Universitäten immatrikulieren und weiterbilden konnten. Nicht selten wurde dem Problem auch eine nationale Bedeutsamkeit zugeschrieben. Helene Adelmann ließ etwa auf einer Versammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins verlauten: „[W]enn es uns nicht gelingt, der Frau [...] auch in Deutschland das zu erringen, was ihr in jedem anderen civilisirten Land offen steht, so verlieren die deutschen Lehrerinnen und das Deutschthum überhaupt im Ausland an Ansehen.“ 92 91 92
Lange, Helene: Deutsche Erzieherinnen im Auslande, in: Der Vereinsbote 22 (1910) 2, S. 27. Adelmann, Helene: Die deutsche Erzieherin in England, in: Der Vereinsbote 3 (1891) 3, S. 75.
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Der Rekurs auf die Verhältnisse im Nachbarland jenseits des Kanals erschien im Diskurs um die Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland besonders viel versprechend, war doch das Englandbild der Deutschen im 19. Jahrhundert lange Zeit durch die Fortschrittlichkeit der britischen gegenüber einer relativen Rückständigkeit der deutschen Gesellschaft geprägt. Es lag also nahe, sich im Kampf um die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen auf innovative Entwicklungen in England zu berufen: „Die letzten Dezennien haben in England einen großen Umschwung in der weiblichen Bildung hervorgebracht. Während der Mädchenunterricht früher fast ganz in den Händen von Gouvernanten lag, [...] finden wir jetzt überall von Staat oder Gemeinde gegründete Schulen, die in Rücksicht auf ihre Ziele und Prospekte den Namen, welchen man ihnen giebt: High- oder Collegiate-Schools – Hochschulen oder Kollegien – sicher verdienen. Die Spitze dieser Unterrichtsanstalten aber bilden jene Institute, in welchen Frauen Gelegenheit geboten wird, akademische Studien zu machen, ohne eine Universität zu besuchen.“93
Die University Extension-Bewegung, d.h. die Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Universitäten, hatte mit der Errichtung spezieller Hochschulen und der Öffnung der Universitäten für Frauen in Großbritannien in den 1880er Jahren den Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die rund 30 Jahre früher begonnen hatte: Bereits 1849 wurde von der University of London das Bedford College als erstes britisches Frauencollege ins Leben gerufen.94 Weitere Gründungen folgten dem Pionierinstitut für weibliche Bildung in den nächsten Jahrzehnten: Girton und Newnham in Cambridge, St. Margaret‘s Hall in Oxford sowie Royal Holloway, Alexandra und Queen Margaret‘s College in und bei London.95 Ab 1858 führten die altehrwürdigen Universitäten Oxford und Cambridge Local Examinations zunächst für Knaben und Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren durch, aus denen sich dann das System der Correspondence Classes entwickelte. Vorlesungen für Frauen wurden in Oxford ab 1865 angeboten, in Edinburgh ab 1867 und in London ab 1869.96 Seit den 1870er Jahren entsandten 93 94 95 96
Calm, Marie: Eine Frauen-Universität in England, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 1 (1884/85) 6, S. 166. Vgl. Mitteilungen aus dem In- und Auslande, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 19 (1902/03) 35, S. 1039. Vgl. Lengefeld, Selma: Über das L. L. A.-Diplom für Damen an der schottischen Universität St. Andrews, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 12 (1895/96) 20, S. 747. Vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 121.
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die Universitäten Local Lectures – Dozenten, die in verschiedenen Städten Vortragsreihen abhielten und die eine höhere Allgemeinbildung in der Bevölkerung erzielen sollten.97 In den Provinzstädten und in bevölkerungsreichen Gegenden auf dem Land schlossen sich Frauen zu Ladies Educational Associations zusammen, um an dem Korrespondenzsystem partizipieren zu können und um sich gemeinsam auf die Prüfungen vorzubereiten, die schließlich an den Universitäten selbst durchgeführt wurden.98 Unter dem Vorsitz von Prinzessin Louise, Tochter der Queen Victoria, wurde im Jahr 1871 die National Union for the Improvement of Womens Education gegründet. Aus ihr ging ein Jahr später die Girls Public Day School Company hervor – eine Aktiengesellschaft, die bis gegen Ende des Jahrhunderts mehr als 90 öffentliche höhere Mädchenschulen in den größeren Städten Englands stiftete.99 Sogenannte Summer-Meetings – vierwöchige wissenschaftliche Fortbildungsveranstaltungen für den englischen gebildeten Mittelstand beiderlei Geschlechts – erfreuten sich größter Beliebtheit, zumal hier auch Studierende aus dem Ausland zugelassen waren.100 Auf den zunehmenden Andrang fortbildungswilliger junger Frauen aus den Nachbarstaaten reagierten die englischen Hochschulen mit speziellen Angeboten, wie etwa den ein bis drei Monate umfassenden Vacation Courses – Ferienkurse, die seit 1899 in Oxford durchgeführt wurden und die sich vor allem an ausländische Lehrerinnen richteten, die ihre Fremdsprachenkenntnisse vertiefen wollten.101 Diese Weiterbildungschancen waren bei den jungen Frauen nicht zuletzt deshalb sehr 97 98 99 100
101
Vgl. Ohlemann, Anna: Das Oxforder University Extension Meeting von 1901, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 18 (1901/02) 2, S. 79. Vgl. Mitteilungen aus dem In- und Auslande, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 3 (1886/87) 16, S. 506. Vgl. Waetzoldt, Stephan: Das höhere Mädchenschulwesen des Auslandes, in: Wychgram, Jakob (Hrsg.): Handbuch des höheren Mädchenschulwesens, Leipzig 1897, S. 72. An dem Summer-Meeting, das 1901 von der Universität Oxford durchgeführt wurde, nahmen fast 1.200 Besucherinnen und Besucher teil (vgl. Ohlemann: University Extension, S. 80; siehe weiterhin Doering, Johanna: Summer-Meeting in Edinburgh 1899, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 16 (1899/1900) 9, S. 351-352; Haase, Elisabeth: Das summer-meeting in Cambridge, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 13 (1896/97) 10, S. 397399; Loewe, Gertrud: Edinburgh Summer School of Modern Languages and Conference on Modern Language Teaching, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 15 (1898/99) 11, S. 425-427. Vgl. Lage, Bertha von der: Ein Monat in der Isisstadt (Oxford), in: Die Lehrerin in Schule und Haus 17 (1900/01) 10, S. 377-394; Jowitt, L.: Deutsche Lehrerinnen in England, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 20 (1903/04) 17, S. 453-457; Schottki, Tina: Fremde Studentinnen in Oxford, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 21 (1904/05) 4, S. 102-103.
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begehrt, weil mit dem erfolgreichen Abschluss die entsprechenden universitären Auszeichnungen und Titel verliehen wurden, beispielsweise das Lady Literate in Art Degree (L. L. A.), das seit 1876 von der schottischen Universität St. Andrews verliehen wurde. Dieses Diplom, das auch nach dem bestandenen Examen eines Korrespondenzkurses verliehen wurde, berechtigte in Großbritannien nicht nur zum Unterricht in den jeweils absolvierten Fächern; es wurde in Frankreich gar als gleichwertig mit dem brevet supérieur gesetzt und gewährte damit die Zulassung zu den Lehramtsprüfungen an der Sorbonne in Paris.102 In den frauenbewegten Kreisen Deutschlands, die sich maßgeblich aus Lehrerinnen konstituierten, wurden die attraktiven britischen Weiterbildungsmöglichkeiten für Frauen aufmerksam zur Kenntnis genommen. Die zahlreichen Erfahrungsberichte von Lehrerinnen, die in englischen Schulen gearbeitet, die an den High-Schools und Colleges für Mädchen und Frauen hospitiert und die sich im Rahmen von Sprachkursen und wissenschaftlichen Studien weiterqualifiziert hatten, schufen im ausgehenden 19. Jahrhundert eine fundierte argumentative Basis für die Petitionspolitik der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland.103 Die Aneignung und Übertragung von innovativen Ideen, Ansätzen und Methoden aus dem britischen Bildungswesen – theoretisch gewendet: Vorschläge zum Kulturtransfer – spielten im Diskurs um die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen in Deutschland eine tragende Rolle: Die Teilnehmerin eines Sprachkurses in Oxford hob beispielsweise die Möglichkeiten zur internationalen Kontaktpflege dieser Einrichtung anerkennend hervor, denn der „[...] anregende Gedankenaustausch über berufliche Fragen mit englischen und schwedischen Lehrerinnen höherer Lehranstalten war [ihr] [...] sehr wertvoll“.104 Das 1889 von Cecil Reddie gegründete Landerziehungsheim Abbotsholme – ein reformpädagogisches Modellprojekt, das bekanntlich Hermann Lietz ab 1898 in den deutschen Kontext transferierte, – wurde in der Lehrerin als eine Einrichtung hervorgehoben, von der deutsche Erzieher noch „mancherlei“ lernen könnten.105
102 103 104 105
Zu den verschiedenen akademischen Ausbildungsgängen und Titeln für Frauen in Großbritannien vgl. Lengefeld: Über das L. L. A.-Diplom. Zur Petitionspolitik zwischen 1887 und 1894 vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 136ff. Ferienerinnerungen aus Oxford, in: Der Vereinsbote 19 (1907) 4, S. 63. Mecke, Johanna: Das Erziehungsheim zu Abbotsholme, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 16 (1899/1900), S. 264.
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Deutsche Lehrerinnen in England
Auch die ausländischen Bestrebungen auf dem Feld der Koedukation, die auf dem internationalen Frauenkongress in London erörtert wurden, hielt man für nachahmenswert: „Hoffen wir, daß man auch in Deutschland in nicht allzu ferner Zeit einmal den Versuch machen wird, ob es auch für deutsche Knaben und Mädchen möglich und vorteilhaft ist, zusammen unterrichtet zu werden“, lautete ein Resümee.106 „Natürlich können nicht alle Einrichtungen von England auf Deutschland übertragen werden“, äußerte sich eine anonyme Autorin nach ihrem Besuch in einer Londoner High School, „aber ich denke, man könnte manches in Erwägung ziehen, um [...] unsere Schulen zu verbessern“.107 Zu jenen Modellen, die als besonders nachahmenswert eingeschätzt wurden und um die sich eine besonders intensive Berichterstattung und Auseinandersetzung in der Lehrerin entspann, zählten die englische University Extension-Bewegung – namentlich das System des Brieflichen Unterrichts – sowie die Einrichtung von Summer-Meetings. Die Vorsitzende des Vereins FrauenbildungFrauenstudium Selma Lengefeld stellte fest: „Auch in dieser Richtung sind uns die Engländerinnen wieder vorausgegangen, und wir können nichts besser thun [sic!], als uns ihren Ausweg einmal näher anzusehen; wir werden finden, daß sich derselbe in seiner Hauptrichtung auch für uns Deutsche vorzüglich eignet [...].“108
Von einer Einführung des Systems der englischen Correspondence Classes versprach sie sich, dass die „gähnende Kluft [...], die zwischen Töchterschule und Universität“ bestünde, ausgefüllt werde. Zudem erhoffte sie sich eine nachhaltige Wirkung „auf das geistige Niveau gerade der Frauen, die nicht in die Öffentlichkeit treten, sondern heiraten und neue Generationen heranziehen“.109 Die Chancen, eine solche Einrichtung mit den entsprechenden Bildungsabschlüssen in Deutschland einzuführen, schätzte sie allerdings gering ein: „[U]nser Unternehmen überhaupt mit einer Universität in Verbindung zu bringen, wäre, meiner Ansicht nach, ein hoffnungsloses Bemühen, wir müssen uns gänzlich auf Privatkräfte beschränken, wie ja die Corresp. Classes auch von ei106 107 108 109
Coeducation: eine Erziehungsfrage auf dem Londoner Frauenkongreß, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 16 (1899/1900) 4, S. 152. Ein Besuch in der North London Collegiate School for girls, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 9 (1892/93) 24, S. 743f. Lengefeld: Über das L. L. A.-Diplom, S. 750. Ebd., S. 752f.
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gens dazu ernannten Lehrern geleitet werden, die nicht gleichzeitig Universitätsprofessoren, aber häufig noch in der einen oder andern Schule lehrend thätig [sic!] sind.“110
Die Teilnehmerin eines Summer-Meetings in Oxford sah die Transferchancen und Langzeitperspektiven dieser mehrwöchigen Fortbildungsveranstaltungen hingegen weitaus positiver: „Die Übertragung der englischen Summer-Meetings der University Extension nach Deutschland ist um so leichter, als wir bereits eine Einrichtung haben, die nur in diesem Sinne ausgestaltet zu werden braucht: die Ferienkurse für Lehrerinnen. Bonn, Jena, Greifswald, Marburg – vielleicht noch andere Universitäten – bieten den Lehrerinnen jährlich Mittel zur Erwerbung von Fachbildung und Allgemeinbildung. Es erscheint fraglich, ob noch sehr lange ein Bedürfnis nach diesen Kursen bestehen wird, da den Lehrerinnen der Zugang zu geordneten Universitätsstudien geöffnet ist. Gerade dieser Punkt könnte ein weiterer Anlaß sein, um die Ferienkurse für Lehrerinnen mehr den Bedürfnissen der Allgemeinheit anzupassen und dann die ganze deutsche Frauenwelt dazu einzuladen.“111
3.6
Resümee
Der interkulturelle Transfer hat bei der Herausbildung kollektiver Identitäten, die als verschiedene ‚Nationalkulturen‘ definiert wurden, eine entscheidende Rolle gespielt. Nationalkulturen entstanden im Wesentlichen durch Austauschbeziehungen und in Abgrenzung von fremden Traditionen.112 Als ein Ergebnis kann festgehalten werden, dass in den 100 Jahren zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg das wachsende Wissen übereinander und die steigende Zahl und Intensivierung individueller Begegnungen nicht Verständigung, sondern eine wachsende Entfremdung zwischen Deutschland und England bewirkt haben.113 Dieses Ergebnis korrespondiert mit unserer These, dass die Auslandsaufenthalte deutscher Lehrerinnen in England keineswegs eine positive Hinwendung zum ‚Fremden‘ bewirkten.
110 111 112 113
Ebd., S. 755. Ohlemann: University Extension, S. 84. Vgl. Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 26. Vgl. Muhs, Rudolf, Paulmann, Johannes, Steinmetz, Willibald: Brücken über den Kanal? Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, in: Dies.: Aneignung und Abwehr, S. 7.
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Es kam nicht zwangsläufig zu einem förderlichen Kulturaustausch, sondern die Fremdheitserfahrungen dienten der Konstruktion einer nationalen Identität, die bei den Deutschen, deren nationale Einigung erst 1871 vollzogen worden war, noch wenig gefestigt war.114 Selbst wenn wir bei Autobiografien, die nach 1914 erschienen, einen kriegsbedingten Nationalismus in Rechnung stellen müssen, der auf die Zeit davor projiziert wird, so lassen sich eine Reihe von autobiografischen und autobiografisch inspirierten fiktionalen Texten finden, in denen der nationalistische Anspruch deutscher Lehrerinnen deutlich zum Tragen kommt. Deutsche Lehrerinnen, die sich aus beruflichen Gründen für längere Zeit in England aufhielten, sahen sich als ‚Fremde‘ vor Ort mit vielen Problemen konfrontiert: Schwierigkeiten traten vor allem bei der Suche nach einer preiswerten Unterbringung sowie bei der Vermittlung geeigneter Stellen auf. Junge Frauen sahen sich ihren Arbeitgebern gegenüber häufig schutzlos ausgeliefert, mussten Dienstbotenaufgaben übernehmen und um eine gerechte Entlohnung bangen. Eine auf der Basis gegenseitiger Empathie beruhende Integration in familiale oder familienähnliche Kontexte fand vermutlich selten statt. Mangelnde Sozialkontakte zu ‚Schicksalsgenossinnen‘ bewirkten eine tendenzielle Vereinsamung. Der Verein Deutscher Lehrerinnen in England trat an, um dieser Misere Abhilfe zu verschaffen und war in seiner Arbeit auch durchaus erfolgreich. Letztlich war er jedoch von seinem Selbstverständnis her eher eine heimatliche Trutzburg für „Germanias ‚Töchter in der Fremde‘“,115 als dass er Brücken zwischen den beiden Nationen zu bauen suchte. Die interkulturellen Begegnungen zwischen Menschen deutscher und britischer Herkunft bewirkten weniger eine um gegenseitiges Verständnis bemühte Annäherung, sondern sie verfestigten bestehende Vorurteile und Klischees. In den Erinnerungszeugnissen werden die vermeintlich ‚typischen‘ englischen Eigenschaften in den Stand eines ‚Nationalcharakters‘ er114
115
Diese These entwickelten wir in Abgrenzung zu der Vorstellung, Lehrerinnen hätten sich eher durch einen Hang zum Internationalismus ausgezeichnet (vgl. Brandt, Bettina, Grone, Carolyn, Frevert, Ute: Deutschlands Söhne und Töchter. Geschlecht und Nation im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Forschung an der Universität Bielefeld 20 (1999), S. 15). Auch die Auffassung, im deutschen Bildungsbürgertum stelle das Nationale „in der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte nicht das privilegierte Moment individueller Sinngebung dar“ (Günther, Dagmar: Blick zurück im „Nationalen“? Lebenserinnerungen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs, in: Jureit, Ulrike (Hrsg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster, 2001, S. 246), möchten wir für die im Ausland lebenden deutschen Lehrerinnen in Frage stellen. Vgl. Muhs: Eine Stütze.
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hoben. Wenn die Wahrnehmung oder retrospektiv erzeugte ‚Erfindung des Fremden‘ in erster Linie der eigenen Selbstvergewisserung dient, dann festigten die Englandaufenthalte zweifelsohne die nationale Identität der deutschen Lehrerinnen. Die wechselseitige ‚Befremdung in der Fremde‘ überlagerte oftmals die Chancen zu einem fruchtbaren interkulturellen Transfer. Kulturtransferprozesse – hier verstanden als Austausch bzw. Übertragung von Ideen, Konzepten und Methoden im Bereich des Bildungswesens – setzen ein Interesse und Aufnahmebedürfnis seitens der jeweiligen Rezeptionskultur voraus. In den bürgerlich-frauenbewegten Kreisen Deutschlands war die Nachfrage nach innovativen Ansätzen im ausländischen Schul- und Hochschulwesen für Mädchen und Frauen zweifelsohne stark ausgeprägt. Lehrerinnen, die aus beruflichen Motiven heraus das europäische Ausland bereisten, fungierten als ‚Kulturvermittlerinnen‘, indem sie in verschiedenen Transfermedien von solchen Erneuerungen und ihren persönlichen Erfahrungen berichteten. Das reproduzierte ‚Wissen über die Fremde‘ belebte den zeitgenössischen Diskurs über die Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland und untermauerte argumentativ die Petitionspolitik der deutschen Frauenbewegung in ihren Gleichstellungsforderungen. Patriotische Bewusstseinslagen, Bekenntnisse zu Nation, Kaiserreich und Vaterland sowie kulturelle Selbstvergewisserungsprozesse der im Ausland verweilenden Lehrerinnen konnten mit dieser Positionierung durchaus in Einklang gebracht werden. Welche Wirkung das „Ausland als Argument“116 in der Reformdiskussion um die höhere weibliche Bildung letztendlich zeitigte, ist jedoch schwer einschätzbar, da die Rezeptionsgeschichte bislang wenig erforscht ist.117 Gänzlich wirkungslos scheinen die Bemühungen der Lehrerinnen um kulturellen Transfer jedoch nicht geblieben zu sein. In einem Artikel zur Frage der Frauenbildung aus dem Jahre 1890/91 ist etwa vermerkt: „Es liegen Zeugnisse vor, dass gerade dieser besondere Pfeil, nachdem er erst die öffentliche Meinung etwas beunruhigt hatte, nun durch die Haut des preußischen Beamtentums dringt; denn wir hören, dass die Regierung kürzlich einen 116 117
Zymek, Bernd: Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion, Ratingen, Kastellaun 1975. Hier sei jedoch auf das an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführte DFGProjekt „Die deutsch-angloamerikanische Kommunikation über weibliche Bildung zwischen 1890 und 1945“ hingewiesen (vgl. Kersting, Christa: Das Geschlechterverhältnis in den Konstrukten der internationalen Frauenbewegung um 1900 und seine Bedeutung für die Bildung, in: Mietzner, Ulrike, Tenorth, Heinz-Elmar, Welter, Nicole (Hrsg.): Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis, Weinheim, Basel 2007, S. 124-140.
100
Deutsche Lehrerinnen in England
Beauftragten118 nach England geschickt hat, um die Methoden und Einrichtungen der englischen Frauenuniversitäten kennen zu lernen. Und was noch wichtiger ist: es ist kürzlich unter dem Namen ‚Fortbildungskurse für Lehrerinnen‘ in Verbindung mit dem Viktoria-Lyceum in Berlin eine Art von Unterricht eingerichtet worden, welcher thatsächlich [sic!] das bietet, was die Bittstellerinnen verlangt haben [...]. Kurz, es sieht aus, als ob die Frage der höheren Bildung der Frauen in Deutschland sich auf dem Wege zu ihrer Lösung befände.“119
Gleichwohl sollten fast zwei weitere Jahrzehnte vergehen, bis die generelle Zulassung von Frauen zum Studium in allen Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreichs erfolgt war.
118
119
Bei dem „Beauftragten“ handelte es sich um keinen geringeren als den ‚Königlich Preußischen Regierungs- und Schulrat‘ Prof. Dr. Stephan Waetzoldt, der im Auftrag des Ministeriums 1888 nach England reiste, um sich über die Frauencolleges zu informieren (vgl. Waetzold: Das höhere Mädchenschulwesen, S. 72ff.; Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 258). Waetzold leistete maßgebliche Vorarbeiten zur Mädchenschulreform von 1908 und kooperierte eng mit den führenden Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung. Zur Frauenbildungs-Frage, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 7 (1890/91) 1, S. 13.
4.
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
Ebenso wie in England gab es auch in Frankreich verschiedene Anlaufstellen und Netzwerke, welche die jungen reisenden Frauen bei ihrer Suche nach Unterkunft, Arbeit, Sprachkursen u.Ä. unterstützten.1 Gleichwohl bestimmten das ambivalente Spannungsverhältnis von partieller Integration in die französische Gesellschaft einerseits, Differenzwahrnehmung, Fremdheitsgefühle und Ablehnung andererseits den Alltag der zeitweilig in Frankreich lebenden Pädagoginnen aus Deutschland. Feindbilder und kriegerische Auseinandersetzungen hatten die deutschen-französischen Beziehungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wechselseitig stark belastet und einen fruchtbaren ‚Kulturtransfer‘ oftmals unterbunden – wenn auch nicht gänzlich verhindert.
4.1
Zum deutsch-französischen Kulturtransfer
Historische Forschungen zum deutsch-französischen Verhältnis haben in Frankreich und Deutschland eine lange Tradition und erfreuen sich auch gegenwärtig eines ungebrochenen Interesses. In der europäischen Geschichte ist wohl nichts häufiger miteinander verglichen worden als die beiden Nachbarn Deutschland und Frankreich.2 Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben Zeitgenossen immer wieder Vergleiche angestellt, um zu erfahren, warum bestimmte politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle oder philosophische Entwicklungen in Frankreich, nicht aber in Deutschland stattfanden bzw. umgekehrt. Dabei orientierte sich das klassische Paradigma lange Zeit an der Vorstellung zweier ‚Nationalkulturen‘, „[...] die einander gegenüberstehen, je nach Konjunktur Impulse geben oder Einflüsse empfangen, sich voneinander abgrenzen, ja konfliktuell begegnen und eigene Identität im direkten Vergleich mit dem Nachbarn ausbilden“.3 Verschiedene Wissenschaftszweige beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit der 1
2 3
Vgl. Gippert, Wolfgang: Ambivalenter Kulturtransfer. Deutsche Lehrerinnen in Paris 1880 bis 1914, in: Historische Mitteilungen. Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft hrsg. von Jürgen Elvert und Michael Salewski, Bd. 19, 2006, S. 105-133. So die Einschätzung bei: Middell, Middell: Forschungen zum Kulturtransfer, S. 107. Ebd.
102
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Ländern, vor allem die Historische Komparatistik, die Vergleichende Literaturwissenschaft, die Nationalismusforschung sowie die Vorurteils-, Stereotypen- und Perzeptionsforschung. Neben der Erforschung jener Mythen und Symbole, die der nationalen Identitätsstiftung dienten, gilt das Interesse den stereotypen Fremdbildern vom jeweiligen ‚Anderen‘, die in Abgrenzung zum vermeintlich eigenen ‚Nationalcharakter‘ erfunden und mit Modifikationen über Jahrhunderte hinweg tradiert wurden.4 Diese Studien fördern eine Vielzahl zählebiger binärer Oppositionspaare zu Tage, die das ‚Bild‘ von den Menschen im jeweils anderen Land teilweise bis in die Gegenwart hinein prägen.5 Der Fokus auf die dichotome Grundstruktur des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ in der gegenseitigen deutsch-französischen Wahrnehmung könnte leicht zu dem Schluss führen, dass sich im ‚langen‘ 19. Jahrhundert zwei relativ geschlossene Kulturkreise gegenübergestanden hätten, die vorzugsweise darauf bedacht waren, sich voneinander abzugrenzen. Die Kulturtransferforschung hingegen hat für diesen Zeitraum eine Vielzahl wechselseitiger Austausch-, Aneignungs- und Verflechtungsprozesse zwischen Deutschland und Frankreich aufgedeckt. Der Ausgangspunkt der Transfertheorie besteht in der Beobachtung, dass sich Gedankenkonstellationen und Praxiszusammenhänge nicht aus eigenem Antrieb verbreiten, sondern dass sie von Vermittlungsinstanzen getragen werden müssen. Nicht zuletzt um sich von der eher schwammigen Kategorie des ‚Einflusses‘ abzugrenzen, nimmt die Theorie und Forschungspraxis des Kulturtransfers soziologisch erfassbare Vermittlerschichten oder gar einzelne Vermittler in den Blick. Für den deutschfranzösischen Kulturaustausch im 18. und 19. Jahrhundert sind bereits eine ganze Reihe von besonderen Gruppen und Persönlichkeiten identifiziert, die an dem Vorgang beteiligt waren. Insbesondere Handelsbeziehungen spielten dabei eine zentrale Rolle, denn die Notwendigkeit, Produkte abzusetzen 4
5
Vgl. bspw. Höpel, Thomas (Hrsg.): Deutschlandbilder – Frankreichbilder 1700-1850. Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen, Leipzig 2001; Lüsebrink, Hans-Jürgen, Riesz, János (Hrsg.): Feindbild und Faszination. Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789-1983), Frankfurt a.M., Berlin, München 1984; Vogel, Jakob: Nationen im Gleichschritt. Der Kult der ‚Nation der Waffen‘ in Deutschland und Frankreich, 1871-1914, Göttingen 1995. Zu den spiegelverkehrten Zuschreibungen aus deutscher Perspektive zählen etwa: Ursprünglichkeit, biederer Sinn, Aufrichtigkeit, Schlichtheit, Reinheit, Ehrlichkeit, Einfalt, Treue, Tugendhaftigkeit, Tiefgründigkeit und Freiheit auf deutscher Seite und Hinterlist, Raffinesse, Eitelkeit, Künstlichkeit, Leichtigkeit, ‚welscher Tand‘, Wollust und Unzucht als ‚typisch‘ französische Eigenschaften (vgl. Florack: Tiefsinnige Deutsche, S. 16; Jeismann: Das Vaterland der Feinde, S. 81).
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
103
bzw. Rohstoffe oder Luxusgegenstände einzuführen, gehörte von alters her zu den grundlegenden Motivationen internationaler Beziehungen. Die deutschen Immigrantinnen und Immigranten in Paris spielten dabei eine besondere Rolle. Neben den Tätigkeiten von (Kunst-)Handwerkern, Arbeiterinnen und Arbeitern traten diejenigen von Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern, und dies im gegenseitigen Austausch. Als spezifische Vermittlergruppe ließen sich auch Sprachlehrer und Übersetzer bestimmen. Deutsche und französische Kaufleute, Diplomaten, Soldaten, Mediziner, Bankiers, Reisende, Studierende, Buchhändler, Literatinnen und Literaten, Publizisten und Verleger förderten ebenfalls den kulturellen Transfer – die Liste der Akteurinnen und Akteure ließe sich fortsetzen.6 Für den hier zu erörternden Zusammenhang ist noch ein weiteres Phänomen aufschlussreich: die Kulturvermittlung durch Frankreichfeinde. Dass sich die deutsche ‚Nationalkultur‘ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz wesentlich in Abgrenzung von den dominierenden französischen Mustern herausbildete, ist hinreichend belegt.7 Um 1800 gab es in Paris zahlreiche Mittlerinnen und Mittler – zu nennen wären etwa Friedrich und Dorothea Schlegel, Wilhelm von Humboldt und die Schriftstellerin Helmina von Chézy –, deren Leistung sich weitgehend darin erschöpfte, dass sie jede ‚Vermischung‘ ablehnten und gerade dadurch Momente der französischen Kultur nach Deutschland importierten: „Der Vermittler hat damit die Funktion, Feindbilder heraufzubeschwören und durch die Ablehnung eines Gegenmodells die eigene Kultur zu definieren.“8 Gleichwohl bleibt es schwierig, eine angemessene Typologie der sozialen Trägerschichten des Kulturtransfers zu entwerfen. Quantitativ lassen sie sich nur sehr schwer erfassen, zumal verschiedene Vermittlergruppen wie Kunsthandwerker, Kaufleute oder Übersetzer eine verschwindend kleine Minderheit darstellten. Wenn man eine relevante Gruppe von Vermittlern definiert, so Espagne, müsse man sie exemplarisch untersuchen. Er empfahl,
6
7
8
Vgl. Espagne: Die Rolle der Vermittler; ders., Greiling, Werner: Einleitung, in: dies. (Hrsg): Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (17501850), Leipzig 1996, S. 19ff.; Paulmann: Interkultureller Transfer, S. 24. Vgl. etwa See, Klaus von: Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1975; ders.: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994; Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Espagne: Die Rolle der Vermittler, S. 325.
104
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
einzelne Lebensläufe unter die Lupe zu nehmen und das darin ‚Typische‘ hervorzuheben.9 Seit der Entfaltung des Konzeptes hat sich eine breite und erstaunlich vielfältige interdisziplinäre Forschungslandschaft zum deutsch-französischen Kulturaustausch entwickelt, die sich in einer Vielzahl von Sammelbänden und monografischen Studien dokumentiert.10 Der Fokus gilt einerseits den genannten Kulturvermittlern, also einzelnen Persönlichkeiten, bestimmten Berufsgruppen und Sozialschichten, andererseits den Transfermedien wie Zeitschriften, Rezensionen, Korrespondenzen, Enzyklopädien und Monografien. Außerdem geraten der institutionelle Bereich (Universitäten, Akademien, behördliche Organisationen u.a.) sowie Alltagshandlungen und symbolische Rituale (z.B. die Festtags-, Feier- und Gedenkkultur) zunehmend in den Blick der Forschung.11 Bislang lag der Schwerpunkt der Arbeiten auf dem 18. und 19. Jahrhundert, weil Transferprozesse auf wirtschaftlicher und intellektueller Ebene überwiegend an Trägerschichten und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft gebunden waren.12 Hier wiederum nimmt die buch- und pressegeschichtliche Forschung, etwa Studien zur Zirkulation und Rezeption spezieller Wissensbestände in Form von Druckwerken, einen besonderen Stellenwert ein. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten über Handwerker, Kaufleute, Arbeitskräfte- und Technologietransfer sind sowohl für die Untersuchung der sozialen Akteure als auch für die Ausweitung der Analyse auf den Transfer von Produktions- und Handelstechniken bedeutsam.13 Quantitativ ragt in der Forschungstätigkeit das Thema Deutschland und die Französische Revolution heraus. Im Rahmen 9 10
11 12 13
Vgl. ebd., S. 313f. Das Spektrum kann hier allenfalls angedeutet werden. Verwiesen sei auf die Reihe Transfer – Die deutsch-französische Kulturbibliothek, die mittlerweile rund 25 Bände umfasst, u.a.: Espagne, Greiling: Frankreichfreunde; Lüsebrink, Reichardt: Kulturtransfer im Epochenumbruch; François, Etienne, u.a. (Hrsg.): Marianne – Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer 1789-1914, Leipzig 1998; Espagne, Michel, Middell, Matthias (Hrsg.): Von der Elbe an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1999; Vollmer, Annett: Presse und Frankophobie im 18. Jahrhundert, Leipzig 2000; Höpel, Thomas: Emigranten der Französischen Revolution in Preußen 1789-1806, Leipzig 2000. Vgl. außerdem: Mondot, Jean, Valentin, Jean-Marie, Voss, Jürgen (Hrsg.): Deutsche in Frankreich, Franzosen in Deutschland 1715-1789. Institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austausches. Allemands en France, Français en Allemagne, Sigmaringen 1992. Vgl. mehrere Beiträge in dem Band von François u.a.: Marianne – Germania. Vgl. Middell, Middell: Forschungen zum Kulturtransfer, S. 114. Vgl. etwa Pallach, Ulrich-Christian: Deutsche Handwerker im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in: Mondot, Valentin, Voss: Deutsche in Frankreich, S. 89-102.
Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
105
eines Projekts wird etwa die Rekonstruktion einer deutschen ‚Übersetzungsbibliothek‘ der französischen Revolutionspublizistik angestrebt.14 Dabei steht das Problem im Vordergrund, wie neue ‚revolutionäre‘ Begriffe verdeutscht und damit in eine Kultur transferiert wurden, die weder eine Revolution noch deren spezifische politische Begrifflichkeit gekannt hat. Der Fokus auf Sprache und Übersetzungsleistungen als wesentliche Grundlage für Austauschvorgänge lässt wichtige Impulse für die weitere Konzeptualisierungen des Kulturtransfers erwarten. Auch versprechen kleinräumig angelegte Regionalstudien weiteren Erkenntnisgewinn, war doch der deutsch-französische Kulturaustausch von beträchtlicher territorialer Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit geprägt. Neben geografischen und politischen Kriterien spielen bei einer solchen territorialen Perspektive auch wirtschaftliche, ‚ethnische‘, sprachliche und konfessionelle Phänomene eine wichtige Rolle.
4.2
Deutsche Migrantinnen und Migranten in Paris
Frankreich stellte im 19. Jahrhundert im Rahmen der europäischen Binnenwanderung für Deutsche ein Hauptziel dar. Besonders die Metropole Paris übte große Anziehungskraft auf Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler sowie politisch Exilierte aus, aber viel mehr noch auf Handwerker und ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus wirtschaftlichen Gründen vor allem aus dem süddeutschen Raum in die französische Hauptstadt einwanderten. Nach Schätzungen soll die ‚deutsche Kolonie‘ in Paris kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts weit über 60.000 deutschsprachige Personen umfasst haben – damit war sie seinerzeit die größte ausländische Gruppierung in der Metropole.15 Von seiner Zusammensetzung her war der Personenkreis der 14 15
Zur Projektskizze vgl. Lüsebrink, Reichardt: Kulturtransfer im Epochenumbruch, S. 20ff. Für die Zeit vor 1851 liegen keine genauen statistischen Erhebungen vor. Die Zahl der 60.000 Deutschen im Jahr 1848 beruht auf polizeilichen Angaben, die jedoch nur die fest ansässigen Einwanderinnen und Einwanderer erfassten. Dazu gesellte sich die Masse derer, die sich nur vorübergehend in Paris aufhielten, hier einige Wochen oder Monate arbeiteten und sich dann wieder auf Wanderschaft begaben. Vgl. Grandjoc, Jacques: Demographische Grundlagenforschung, in: Transferts. Les rélations interculturelles dans l’espace Franco-Allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988, S. 83ff. Statistische Angaben zur deutschen Kolonie in Paris finden sich zudem bei Schirmacher, Käthe: Die Ausländer und der Pariser Arbeitsmarkt, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXVII, Tübingen 1908, S. 234-259 und S. 477-512 sowie bei König, Mareike: Brüche als gestaltendes Element: Die Deutschen in Paris im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.):
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Deutsche Lehrerinnen in Frankreich
deutschen Einwanderer nach sozialer Herkunft, nach Beruf, Geschlecht, Religionszugehörigkeit und den jeweiligen Motiven für einen kürzeren, längeren oder dauerhaften Aufenthalt in Paris sehr heterogen. Auch verliefen die Migrationsbewegungen keineswegs linear, sondern sie zeichneten sich immer wieder durch Brüche, Neuanfänge und fehlende Kontinuitäten sowie durch zahlreiche Veränderungen infolge der politischen Entwicklungen aus, die Auswirkungen auf Anzahl, Verteilung und Zusammensetzung, auf das Leben und Arbeiten sowie auf die Integration der Deutschen in Paris hatten.16 In einigen hoch spezialisierten Berufszweigen waren Deutsche bereits im 17. und 18. Jahrhundert in der französischen Hauptstadt präsent: Schuster, Schneider und vor allem Kunstschreiner strömten seit den 1730er Jahren nach Paris, um sich entweder moderne Verfahrenstechniken für den Einsatz auf dem heimischen Arbeitsmarkt anzueignen, oder um sich in den zunftfreien lieux privilégiés der Vorstädte niederzulassen. Während viele der sesshaften deutschen Handwerker Französinnen heirateten und sich naturalisieren ließen, ist der Grad der Integration der ‚wandernden Gesellen‘ eher als gering einzuschätzen.17 Zu einem Massenphänomen wurde die deutsche Einwanderung nach Paris seit den 1830er Jahren, als neben den Handwerkern Heerscharen ungelernter Arbeiterinnen und Arbeiter aus den mittellosen Unterschichten auf der Flucht vor der Pauperisierung in der Metropole ihr Glück versuchten. Zugleich warben französische Unternehmer, die etwa den Bau der Festungswerke um die Stadt durchführten, auf der Suche nach billigen Arbeitskräften Arbeiter in Hessen, in der Pfalz und im Rheintal an. Ganze Familien wanderten aus, ganze Dörfer aus Oberhessen organisierten sich, um turnusmäßig und für die geringste Entlohnung in Paris die Straßen zu kehren. Die meisten ‚Gastarbeiter auf Zeit‘ fristeten als Tagelöhner, Lumpensammler, Handlanger und Dienstmädchen isoliert von der französischen Gesellschaft in ihren ‚deutschen Höfen‘ ein elendes Dasein am Rande des Existenzminimums.18 Die Migration der deutschsprachigen Handwerker und Arbeiter nach Paris, so Mareike König, ist durch drei große Zäsuren geprägt: den Revolutio-
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Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, München 2003, S. 9-26. Vgl. König: Brüche, S. 9f. Vgl. Thamer, Hans-Ulrich: Grenzgänger: Gesellen, Vaganten und fahrende Gewerbe, in: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 234f.; König: Brüche, S. 11. Vgl. König: Brüche, S. 12f.; Schirmacher: Die Ausländer, S. 478 sowie Pabst, Wilfried: Subproletariat auf Zeit: deutsche ‚Gastarbeiter‘ im Paris des 19. Jahrhunderts, in: Bade: Deutsche im Ausland, S. 263-268.
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nen von 1848/49, dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914: „Quantitativ erfuhr die deutsche Einwanderung zu diesen drei Zeitpunkten jeweils einen regelrechten Einbruch [...], im ersten Fall durch die freiwillige Rückkehr vieler Deutscher in die Heimat, im zweiten und dritten Fall durch ihre Ausweisung.“19 Nach der Revolution von 1848/49 änderte sich für die in Paris verbliebenen Handwerker und Arbeiter – laut Volkszählung von 1851 waren es noch rund 12.000 Deutsche und Österreicher – wenig: Nach wie vor war die Mehrzahl der deutschen Arbeiter ungelernt, verrichtete schwere körperliche Arbeit, lebte unter ärmsten Verhältnissen, weitgehend ohne Kontakt zur französischen Bevölkerung. Deutsche Gasthäuser und Hotels Garnis, deutsche Kaffeehäuser, Läden und Werkstätten, deutsche Kirchengemeinden mit angeschlossenen Fürsorgestellen, Schulen und Herbergen bildeten jenes Netzwerk in den Quartieren der Vorstädte, das Neuankömmlingen half, Unterkunft und Arbeit zu finden, das Solidarität stiftete und in dem Deutsche in einem eigen kulturellen Milieu an ihrer Religion, an ihren regionalen Sitten und Gebräuchen festhalten konnten.20 Eine deutliche Änderung in der Zusammensetzung erfuhr die ‚deutsche Kolonie‘ in Paris nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Nach der Niederlage von Sedan wurden die Deutschen von der französischen Regierung zunächst ausgewiesen, die deutschen Schulen und kirchlichen Einrichtungen mussten schließen. Erst nach dem Ende der Pariser Kommune setzte der Zuzug von Deutschen sukzessive wieder ein: 1873 wurde die Anzahl der in Paris lebenden Deutschen bereits wieder auf etwa 30.000 Personen geschätzt, wobei diese sehr zerstreut und zurückgezogen lebten und sich nicht selten als Schweizer oder Österreicher ausgaben, um nicht Opfer französischer Vergeltungsmaßnahmen zu werden.21 Mit dem industriellen Aufschwung Deutschlands und im Zuge der Weltausstellungen in der französischen Hauptstadt veränderte sich auch die berufsständische Zusammensetzung der deutschen Einwanderer: Neben ungelernten Arbeitern zog es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt qualifizierte Kräfte nach Paris – Unternehmer, Kaufleute, Nahrungsmittelproduzenten und Angestellte.22 Im
19 20 21 22
König: Brüche, S. 9. Vgl. Pabst: Subproletariat; König: Brüche, S. 17ff. Vgl. König: Brüche, S. 21. So überstieg 1901 die Zahl der deutschen Angestellten im Pariser Hotel-, Haus- und Kontorwesen diejenige der einfachen Arbeiter um mehr als das Doppelte (10.100 : 4.200; vgl. Schirmacher: Die Ausländer, S. 486).
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Gegensatz zur Familienmigration früherer Jahrzehnte waren es nun vermehrt allein stehende, berufstätige junge Leute, die es in die Metropole zog. Entscheidend für den Wandel war vor allem die zunehmende Feminisierung der ‚deutschen Kolonie‘ – ein Trend, der sich seit den 1880er Jahren abzeichnete. Der Anteil der Frauen an der deutschen Zuwanderung nach Paris stieg seitdem kontinuierlich an, von etwa 50 % im Jahre 1881 auf 65 % im Jahre 1906.23 Deutsche Gouvernanten, Erzieherinnen, Kindermädchen und ‚Mädchen für alles‘ strömten jährlich zu Tausenden auf den Pariser Arbeitsmarkt für Dienstboten, der im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg fest in den Händen der deutschen ‚Fräulein‘ lag.24 Der ‚Beruf‘ des Dienstmädchens war vor allem bei jungen Frauen beliebt, die ländlicher Herkunft waren oder aus kleinbürgerlichen Schichten stammten und nur über geringe Schulbildung verfügten. Die Tätigkeit erforderte in der Regel keine Ausbildung und wurde als Zeit des Übergangs, der beruflichen Erfahrung und des Geldverdienens mit dem Ziel der späteren Heirat angesehen. Die jungen Frauen, die ihre Tätigkeit oft mit 16 oder 17 Jahren aufnahmen, planten für einen Auslandsaufenthalt in der Regel eine Dauer von drei bis vier Jahren ein. Es gab zahlreiche Gründe, sich um eine befristete Anstellung als Dienstmädchen in Paris zu bemühen: Die Löhne für eine einfache bonne waren in der französischen Hauptstadt etwa doppelt so hoch wie in Berlin. Eine Tätigkeit in der Metropole, die auch das Erlernen der französischen Sprache förderte, erhöhte die Chancen auf dem heimischen Arbeits- und Heiratsmarkt. Nicht zuletzt stellte der Auslandsaufenthalt eine Möglichkeit dar, heimatlicher Enge und elterlicher Autorität zu entfliehen, und gerade die französische Metropole verhieß wie keine andere europäische Großstadt Freiheit, Abenteuer und Unabhängigkeit.25 Oftmals stellte sich jedoch vor Ort eine ganz andere Situation ein: Deutsche Dienstmädchen waren bei französischen Familien zwar sehr beliebt, galten als fleißig, zuverlässig und im Vergleich zum einheimischen Dienstpersonal als weniger anspruchsvoll. Dennoch war die Ausgangslage für die jungen Frauen in der Großstadt eher ungünstig: Unerfahren, meist ohne finanzielle Mittel und mit nur wenigen Sprachkenntnissen waren sie eine leichte ‚Beute‘ für skrupellose Agenten, die 23 24
25
Ein Beispiel in konkreten Zahlen: 1901 waren 25.568 Deutsche in Paris ansässig – 16.258 Frauen und 9.310 Männer (vgl. König: Brüche, S. 23). Vgl. König, Mareike: ‚Bonne à tout faire‘: Deutsche Dienstmädchen in Paris um 1900, in: Dies.: Deutsche Handwerker, S. 69. Die deutschen Frauen stellten 1901 mit 7.600 Dienstmädchen 43 % des ausländischen weiblichen Dienstpersonals und lagen damit weit vor allen anderen ausländischen Gruppen (vgl. ebd., S. 72). Vgl. König: Deutsche Dienstmädchen, S. 72ff.
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gegen überhöhte Vermittlungsgebühren billige Herbergen und Arbeitsstellen anboten, sie zum Schuldenmachen verleiteten und nicht selten in die Prostitution trieben.26 Aber auch diejenigen Dienstmädchen, die eine gut bezahlte und seriöse Anstellung fanden, litten häufig unter Einsamkeit und mangelnder Integration. Sie trafen sich zwar untereinander, blieben aber national und sozial isoliert. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 endete auch das ‚Abenteuer Paris‘ für die deutschen Dienstmädchen. Erneut wurden alle Deutschen aus Paris ausgewiesen und hatten 48 Stunden Zeit, die Stadt zu verlassen: „Die große Zeit der deutschen ‚Fräulein‘ als ‚bonne à tout faire‘ in Paris fand mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Ende.“27 Lange Zeit hat sich die Forschung zur deutschen Einwanderung in Paris auf die deutschsprachigen Intellektuellen, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler sowie auf Exilanten28 bzw. auf die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten konzentriert.29 Dabei blieb unberücksichtigt, dass Handwerker, gelernte und ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Dienstmädchen im 19. Jahrhundert etwa 95 bis 99 % der Deutschen in Paris ausmachten. Es liegen bislang nur wenige Studien zu diesen Immigrantinnen und Immigranten vor. Die Zeit von 1871 bis 1914 ist für diese Gruppe kaum ausgeleuchtet, und eine Gesamtdarstellung fehlt völlig.30 Zwar wurden Dienstmädchen und Gouvernanten als gesellschaftliche Massenphänomene und als historische Akteurinnen von der Historiografie in jüngster Zeit wieder entdeckt.31 Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in der französischen Hauptstadt wie auch 26
27 28
29
30 31
Käthe Schirmacher, eine zeitgenössische Beobachterin des Pariser Arbeitsmarktes, brachte die missliche Situation vieler junger Frauen folgendermaßen auf den Punkt: „Man bezeichnet in Frankreich die Deutsche der dienenden und halb dienenden Klasse als ‚la Gretchen‘. Ihr Schicksal ist allerdings oft ein ähnliches“ (Schirmacher, Käthe: Die nationalen Schäden der deutschen Einwanderung in Paris, Berlin 1915, S. 17). König: Deutsche Dienstmädchen, S. 91. Zu nennen wären etwa Heinrich Heine, Ludwig Börne, Karl Marx, Friedrich Engels, Richard Wagner, Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke, Jacques Offenbach, August Macke – die Liste ließe mühelos fortsetzen (vgl. König, Mareike: Vorwort, in: Dies.: Deutsche Handwerker, S. 7). Siehe etwa Hudemann, Rainer, Soutou, Georges-Henri (Hrsg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen und Beziehungen. Elites en France et en Allemagne aux XIXème et XXème siècle, München 1994. So König: Brüche, S. 10. Siehe etwa Wierling, Dorothee: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987; Hardach-Pinke: Die Gouvernante.
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in anderen europäischen und außereuropäischen Metropolen sind bislang jedoch nur selten oder gar nicht thematisiert worden, obwohl sie für die ansteigende Feminisierung der Großstädte im 19. Jahrhundert wesentlich mit verantwortlich waren.32 Daneben gibt es eine weitere Gruppe weiblicher Reisender, deren Auslandsaufenthalte noch weitgehend unerforscht sind: jene deutschen Lehrerinnen und Erzieherinnen, die in Paris als Privatlehrerinnen, Gouvernanten oder Gesellschaftsdamen arbeiteten.
4.3
Deutsche Lehrerinnen in Paris 1880 bis 1914: Netzwerke und Fortbildung
Die Reiseunternehmungen deutscher Lehrerinnen ins europäische Ausland, die seit den 1880er Jahren verstärkt einsetzten, wurden in der einschlägigen Publizistik rege diskutiert. Einerseits finden sich Schriften, die durch regelrechte Schreckensszenarien die jungen Frauen von ihren Vorhaben abzubringen suchten, indem sie vor zwielichtigen Agenten, skrupellosen Vermittlungsbüros, schlecht bezahlten Anstellungen, unwürdigen und strapaziösen Arbeitsbedingungen sowie vor der Gefahr der sittlichen Verwahrlosung bis hin zur Prostitution warnten. Nicht selten stützten sie sich auf fiktive ‚Erlebnisberichte‘, die die vermeintlichen Gefährdungen im Ausland möglichst anschaulich, authentisch und damit glaubwürdig erscheinen lassen sollten.33 Mathilde Lammers, die zunächst als Lehrerin in Paris gearbeitet hatte und später dem Bremer Lehrerinnenseminar vorstand, sprach die Empfehlung aus, „nur ein Mädchen mit fester religiös-sittlicher Grundlage, mit starkem und darum biegsamen Willen, mit verständigem, besonnen Urtheil und Selbstbeherrschung ohne Besorgnis in ganz unbekannte Verhältnisse ziehen [zu] lassen“. Gerade in der französischen Hauptstadt, die sie aus eigener An-
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Die Studie von Mareike König: Deutsche Dienstmädchen, in der auf dieses Forschungsdefizit aufmerksam gemacht wird, bildet eine rühmliche Ausnahme. Siehe auch WehnerFranco, Silke: Deutsche Dienstmädchen in Amerika: 1850-1914, Münster, New York 1994. Siehe etwa Einsiedel, Julius: Das Gouvernantenwesen in England. Eine Warnung, Heilbronn 1884. Vgl. ferner die Schriften von Kreyenberg, Gotthold: Das Ausland als Eldorado deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen, in: Rheinische Blätter für Erziehung und Unterricht (1883) VI, S. 543-563 und (1884) I, S. 23-33 sowie Nießen-Deiters, Leonore: Die deutsche Frau im Auslande und in den Schutzgebieten. Nach Originalberichten aus fünf Erdteilen, Berlin 1913.
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schauung kannte, müsse man „jede Umgebung so lange für verdächtig halten, bis das Gegentheil [sic!] klärlich erwiesen“ sei.34 Von solchen moralisierenden und Ängste schürenden Schriften unterschieden sich jene Ratgeber, Broschüren und Zeitungsartikel, die sich um eine realistische Einschätzung der Situation vor Ort bemühten, die konkrete Informationen zur Vorbereitung und Durchführung der Auslandsreisen vermittelten – zu Unterkünften, Stellenangeboten, Sprachkursen u.v.a.m. Mit Blick auf das französisch- und englischsprachige Ausland leistete das Publikationsorgan Die Lehrerin in Schule und Haus in dieser Hinsicht Basisarbeit. Die nachfolgende Zitatcollage aus einem Artikel zur Situation deutscher Lehrerinnen in Paris vermittelt ein differenzierteres Bild von den zweifelsohne nicht unproblematischen Verhältnissen in der französischen Metropole: „Es ist so gut wie unmöglich, eine Stellung in Frankreich von Deutschland aus zu erhalten: Die notwendigste aller Bedingungen ist, daß die Damen sich zunächst nach Paris begeben [...]. Es ist durchaus notwendig, sich der Hoffnung auf ein schnelles Engagement zu entschlagen; die Damen müssen sich mit ihrem Gelde so einrichten, daß sie längere Zeit in Paris zu warten imstande sind [...]. Das Bedürfnis nach deutschen, überhaupt ausländischen Lehrerinnen wird in Frankreich in demselben Maße geringer, wie das vortrefflich organisierte Mädchenschulwesen der Republik an Ausdehnung und Dauer zunimmt [...]. Die Furcht, zu viel auszugeben oder nicht schnell genug eine Stellung zu finden, läßt die deutschen Damen oft einen sehr falschen und schädlichen Ausweg einschlagen. Sie wenden sich an deutsche Agenturen. Diese [...] schicken die Stellungssuchende entweder für eine ganz geringe Bezahlung oder, meistens, zu Bedingungen ‚au pair‘, d.h. freie Station für den Unterricht, in Familien. [...]. Viele Damen, die nicht Lehrerinnen sind und nur in Paris das französische Leben kennen lernen, die Sprache studieren wollen, setzen sich von Deutschland aus mit Pariser Pensionaten in Verbindung. [...] Sie kommt an, zieht ein und findet schon am ersten Abend, daß sie sich in allen ihren Voraussetzungen getäuscht hat. Ungebildete Familie, schlechte Kost, entlegenes, mitunter sogar schlecht beleumundetes Stadtviertel! [...] Alle Pensionen, die von einer Fremden eine Quartalsmiete pränumerando verlangen, sind unbedingt zu vermeiden!“ 35
Ein Artikel aus dem Jahre 1909 hingegen unterstützt die Sprachreisen junger Lehrerinnen ausdrücklich:
34 35
Lammers, Mathilde: Deutsche Lehrerinnen im Auslande, Berlin 1884, S. 11 und S. 31. Wychgram, Jakob: Die deutsche Lehrerin in Frankreich, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 3 (1896/87) 14, S. 420-423.
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„In Paris ist es auch nicht schlimmer, da gelten dieselben Winke, die man etwa, wie folgt, zusammenfassen könnte: Ein junges Mädchen darf sich nur in gut empfohlene Pensionen und Familien begeben, nicht nach 7 Uhr abends allein auf der Straße sein, einsame Straßen, wenn ohne Begleitung, auch am Tage meiden. In gewisse ‚quartiers‘ (den Osten, Montmartre) darf man auch am Tage nicht allein gehen, ebenso nicht allein Ausflüge machen in die Umgegend von Paris. Nicht auf Anreden auf der Straße eingehen, sowohl von Männern als auch von Frauen. Geldtasche und Uhr nicht offen tragen. Am besten nur Schutzleute nach dem Weg fragen. Vorsicht auf den Bahnhöfen vor Leuten, die sich anbieten, Bescheid zu zeigen usw.! Dies müßte man sich zur Regel machen in jeder Großstadt. Darum lasse sich niemand zurückschrecken, sondern wer wirklich gutes Französisch lernen will, gehe nach Frankreich, und zwar nach Paris, wegen der dortigen eleganten, allein maßgebenden Aussprache.“ 36
Trotz der schlechten Arbeitsmarktchancen und trotz aller entsprechenden Hinweise und Warnungen begaben sich viele deutsche Lehrerinnen zwischen 1880 und 1914 nach Paris. Dass die Metropole auf junge, ledige Lehrerinnen eine große Anziehungskraft ausübte, ist leicht verständlich: Neben der Hoffnung auf erste Anstellungen, bessere Verdienst- und Fortbildungsmöglichkeiten, spielte sicherlich auch das Klischee von der ‚Leichtigkeit des Seins‘ in der französischen Hauptstadt und vor allem das immense kulturelle Angebot in Form von weltlichen und kirchlichen Bauwerken, Boulevards, Plätzen und Parks, Museen, Kunstgalerien und Theatern eine erhebliche Rolle – nicht zu vergessen, dass Paris zwischen 1855 und 1900 fünfmal der Ort der internationalen Weltausstellung war. Um die jungen, oftmals unerfahrenen Frauen vor den Gefahren der Großstadt zu schützen, um ihnen erste Anlaufstellen und Unterkünfte bieten zu können, ließen sich verschiedene Organisation in Paris nieder, so der Deutsche Frauenverein, der Verein Katholischer Deutscher Erzieherinnen, die Ortsgruppe Paris des Kaufmännischen Verbandes für weibliche Angestellte e.V. und der Verein Deutscher Lehrerinnen in Paris.37 Bereits im Jahre 1885 begann im Deutschen Reich eine Spendenaktion zugunsten eines Wohnheims, in dem deutsche Erzieherinnen und deutsche Dienstmädchen in Paris während ihrer Stellensuche oder während der Ferienkurse eine Unterkunft finden sollten. Die notwendigen Mittel zum Erwerb eines geeigneten Gebäudes wurden in relativ kurzer Zeit eingeworben, so dass das Wohnheim mit angeschlosse-
36 37
Ratschläge für die deutsche Lehrerin in Frankreich, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 26 (1909/10) 23, S. 664f. Vgl. Nießen-Deiters: Die deutsche Frau, S. 113ff. und S. 144ff.
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nem Stellenvermittlungsbüro im Frühjahr 1886 eröffnet werden konnte.38 Allerdings erwies sich die Mehrfachfunktion der Einrichtung schon bald als Problem, obwohl es getrennte Eingänge für beide Berufsgruppen gab und die Lebensbereiche von Lehrerinnen und Erzieherinnen einerseits und Kinder- bzw. Dienstmädchen andererseits im Haus durchgängig voneinander getrennt waren. Wiederholt wurde in einigen Artikeln darauf hingewiesen, dass es dem Fortkommen der Lehrerinnen nicht förderlich sein könne, wenn sie mit einer aus ihrer Sicht standesgemäß ‚niedrigeren‘ Berufsgruppe unter einem Dach zusammenlebten. Kritikerinnen dieses Modells befürchteten, dass mit der gemeinsamen Stellenvermittlung eine Aufweichung berufsständischer Grenzen einhergehe, welche die examinierten Lehrerinnen in ihrer Qualifikation abwerte und neben wirtschaftlichen Nachteilen vor allem eine Rufschädigung bewirken könnte.39 Nicht zuletzt als Reaktion auf dieses Problem wurde im Jahre 1890 von zwei in Paris ansässigen Lehrerinnen – Emilie Schliemann und S.C. von Harbou – der Verein Deutscher Lehrerinnen in Frankreich als Zweigstelle des ADLV mit Sitz in der ‚8 rue de Villejust‘ gegründet. Der Verein verstand sich als eine „nationale Berufsgenossenschaft“ und nahm als „ordentliche Mitglieder nur deutsche Lehrerinnen“ auf.40 Er finanzierte sich durch die Jahresbeiträge der ca. 400 Mitglieder, ferner durch „Gaben von Gönnern und Freunden“ sowie „durch regelmäßige Beihilfen mehrerer deutscher Städte, insbesondere der Reichshauptstadt Berlin“.41 Von den Mitteln unterhielt der Verein ein Lehrerinnenheim mit Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeiten, einer Bibliothek, einem Stellenvermittlungsbüro sowie Räumlichkeiten, in denen Vorlesungen und Sprachkurse abgehalten wurden. Seit 1892 gab der Verein dreimal jährlich das Pariser Vereinsblatt heraus, welches dazu diente, Bekanntmachungen des Vorstands zu veröffentlichen, den Kontakt mit ‚Ehemaligen‘ aufrechtzuerhalten und die in Paris verweilenden Lehrerinnen über soziale, pädagogische und emanzipatorisch-reformerische Entwicklungen in Deutschland zu informieren. Der Verein hatte in mehrfacher Hinsicht Netzwerkfunktion: Durch seine ausgedehnte Stellenvermittlung – nach eigenen Angaben versorgte er jährlich über 100 Mitglieder mit 38 39 40 41
Meyer, J.: Korrespondenz der Redaktion, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 2 (1885/86) 20, S. 627f. Vgl. Heinzel, Meta: Korrespondenz der Redaktion, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 2 (1885/86) 14, S. 433. Schliemann, Emilie: Der Verein Deutscher Lehrerinnen in Frankreich, in: Die Frau 8 (1900/01), S. 109. Ebd., S. 107.
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Stellen, Tagesbeschäftigungen oder kürzeren Unterrichtsmöglichkeiten – stand der Verein mit zahlreichen gebildeten französischen Familien in Verbindung. Die einzelnen Mitglieder hätten nach Angabe der Vereinsvorsitzenden „mit französischen Hausgenossinnen oder Lehrerinnen, mit denen sie Stunden austauschten, in freundlichem Verkehr“ gestanden.42 Da die Beherbergungskapazität des Heims sowohl räumlich als auch zeitlich begrenzt war, vermittelte der Verein Übernachtungsmöglichkeiten in benachbarten Familienpensionen. Gute Kontakte zu den französischen Unterrichtsbehörden ermöglichten es den Vereinsmitgliedern zudem, in den staatlichen Lehranstalten für Mädchen zu hospitieren, worüber diese wiederum in deutschsprachigen Fachzeitschriften berichteten.43 Große Energien wurden auf die Durchführung von Sprachkursen verwendet, sah der Verein sein Lehrerinnenheim doch nicht in erster Linie als Herberge oder Vermittlungsagentur, sondern als Bildungsstätte an. Die Kurse fanden von Mitte Oktober bis Mitte Juli statt, waren in Einheiten von jeweils drei Monaten angelegt und wurden teilweise in parallel arbeitenden Gruppen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus durchgeführt. Etwa 60 bis 70 deutsche Lehrerinnen besuchten anfänglich innerhalb eines Jahres die Kurse, die sich auf Aussprache, Stilübungen, französische Literatur, Vortrag und Konversation erstreckten. Die Unterrichtseinheiten wurden teilweise von der Vereinsvorsitzenden Emilie Schliemann geleitet, überwiegend jedoch von französischen Dozentinnen und Dozenten der Universität oder des höheren Schulwesens durchgeführt.44 Außer den Kursen, die am Vormittag stattfanden, gab es die Möglichkeit, an Abendkursen teilzunehmen, in denen lautes Lesen und Konversation geübt wurden. Auf Wunsch konnten sich die Kursteilnehmerinnen abschließend einer Prüfung unterziehen und ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Die Vorsitzende berichtete: „Bei der mündlichen Prüfung wird eine allgemeine Kenntnis der hervorragendsten französischen Dichter und Schriftsteller des 17., 18. und 19. Jahrhunderts verlangt. Ferner wird durch eine Leseprobe die Beschaffenheit der Aussprache ermittelt und endlich die Fertigkeit in der gewöhnlichen Unterhaltung erprobt. Die Prüfung wird von dem bewährten Professor der Vereins-Kurse, in Gegenwart mehrerer Vorsteherinnen des Vereins und einiger Professoren hiesiger höherer Staatsschulen abgehalten, welche gemeinsam das Urteil über die Leistun42 43
44
Ebd., S. 109. Siehe etwa Sellmann, Ida: Eine französische Rechenstunde in der École Enfantine zu Paris, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 12 (1895/96) 5, S. 141-143; Pariser Volksschulen, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 24 (1907/08) 5, S. 134-138. Vgl. Schliemann: Der Verein, S. 107.
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gen der Prüflinge abgeben. In dem auszustellenden Zeugnis wird bestätigt, daß die betreffende Lehrerin in der französischen Sprache und Litteratur [sic!] hinreichend bewandert ist, um guten Unterricht darin an Ausländer erteilen zu können.“45
Die Sprachkurse des Vereins Deutscher Lehrerinnen in Frankreich – Schliemann hielt eine mindestens sechs- bis achtmonatige, besser einjährige Studienzeit in Paris für erforderlich46 – waren indes nicht die einzige Möglichkeit, die eigenen Französischkenntnisse in der Metropole zu verbessern. Große Anziehungskraft übten auch die hoch angesehenen Sprachkurse der Alliance française aus, ein 1883 ins Leben gerufener, staatlich geförderter Verein für auswärtige französische Kulturpolitik mit weltweiten Niederlassungen. Nach Aussage einer Kursteilnehmerin verfolgte der Verein das Ziel, „[...] das Studium der französischen Sprache nach allen Richtungen hin zu befördern, um die litterarischen [sic!] und moralischen Bande der Sympathie zwischen Frankreich und den anderen Nationen zu befestigen“.47 Aufgrund der national-kulturpolitischen Bedeutung des Vereins wurden die Kurse überwiegend von Universitätsangehörigen und angesehenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens durchgeführt, wollte man doch „[...] den Lehrenden durch Einrichtung dieser Ferienkurse die Möglichkeit [..] gewähren, aus dem Munde namhafter Franzosen Ansichten über Land, Litteratur [sic!], Kunst und Sprache zu hören“.48 Zudem bot die Metropole nahezu unerschöpfliche 45
46 47 48
Dies.: Zweck und Bedeutung der Vereinskurse des Vereins deutscher Lehrerinnen in Frankreich und der sich daran knüpfenden Prüfung, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 14 (1897/98) 21, S. 840. Die Kurse erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Im Jahr 1908 war die Zahl der Teilnehmerinnen auf 250 angestiegen. Von diesen erwarben allerdings nur 36 nach bestandener Prüfung das begehrte Certificat d‘Études. Die übrigen erhielten lediglich das Certificat d‘Assiduité, also eine Teilnahmebescheinigung. Vgl. dies.: Achtzehnter Jahresbericht 1908 des Vereins deutscher Lehrerinnen in Frankreich, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 25 (1908/09) 28, S. 816. Vgl. dies.: Zweck und Bedeutung, S. 840. Lage, Bertha von der: Die Ferienkurse in Paris. Vortrag, gehalten im Berliner Lehrerinnenverein, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 12 (1895/96) 9, S. 281. Ebd. Die Kursteilnehmerin Bertha von der Lage nennt folgende Professoren, die sie als in Deutschland bekannt voraussetzte: „Mr. Brunot, als Verfasser einer historischen Grammatik, Mr. Jacquinet, als Herausgeber des Britannieus von Racine, Mr. Dominic, als Mitarbeiter der Revue des deux Mondes und Verfasser einer französischen Litteraturgeschichte [sic!]. Außerdem sind zu nennen: Mr. Chailley-Bert, Schwiegersohn von Paul Bert, dem früheren Unterrichtsminister, Mr. George Berr, sociétaire de la Comédie Française, Mr. Clément, agrégé de l‘Université und Lehrer am Collège Stanislas, Mr. Raguet, agrégé de l‘Université und Mr. Carl, Bildhauer“ (ebd., S. 282). Emilie Schliemann wies darauf hin, dass die Kurse und Prüfungen der Alliance française gute Möglichkeiten
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Möglichkeiten, auf autodidaktischem Wege die Sprachkenntnisse und Wissensbestände über die französische Kultur zu erweitern und zu vertiefen. In mehreren Beiträgen der Lehrerin wurden die in Paris verweilenden Kursteilnehmerinnen ausdrücklich dazu ermuntert, die kostenlosen Vorlesungen und Vorträge an der Sorbonne, am Collège de France oder im Louvre zu besuchen, den öffentlich stattfindenden Lehrerinnenprüfungen beizuwohnen, französische Zeitschriften zu studieren, Theaterbesuche wahrzunehmen und, wann immer sich die Möglichkeit böte, Konversation in französischer Sprache zu betreiben. In der Lehrerin wurde ausführlich über die lehrreichen Kulturangebote berichtet: „Die Redner, welche sämtlich dem Institut de France, zum Teil sogar den 40 Unsterblichen angehören, sind oft wirklich recht geistreich, und es ist ein großer Genuß, so aus nächster Nähe ihnen die Worte gleichsam vom Munde ablesen zu können. Hier läßt sich sehr viel für die Aussprache lernen, ebenso Sonntags durch Anhören der französischen Predigt in einer der protestantischen Kirchen, die zum Teil sehr bedeutende Redner haben [...]. Unter den Professoren des Collège de France mache ich namentlich auf Deschavel aufmerksam, der über die Klassiker des 17. Jahrhunderts liest. [...] Ferner besuche man so viel als möglich das Theater, hauptsächlich das Théâtre Française, das ja in Bezug auf Aussprache bekanntlich als Autorität gilt. Es empfiehlt sich, die Stücke vorher zu lesen, weil man dann beim Hören die Aufmerksamkeit weniger auf das Verstehen zu konzentrieren braucht und mehr auf die Aussprache achten kann.“ 49
Neben der Teilhabe an den Angeboten der ‚Hochkultur‘ wurde Sprachlehrerinnen empfohlen, sich ins „frische Leben“50 hinein zu begeben, sich an Ausflügen, Festen und anderen Vergnügungen zu beteiligen, denn der höchste Gewinn eines Auslandsaufenthaltes wäre in der Übung der Aussprache und der Sprachfähigkeit zu sehen. Konversationsmöglichkeiten, so ein Ratgeber, hätten sich gleichsam an jeder Straßenecke ergeben: beim Buchhändler, im Omnibus, in der Markthalle, in Restaurants und Cafés.51 Zudem ließen sich dabei Alltagsstudien betreiben, in denen sich der franzö-
49 50 51
zur Vorbereitung auf die Oberlehrerinnenprüfung für französische Sprache in Deutschland gewesen seien (vgl. Schliemann: Zweck und Bedeutung, S. 841). Für Kolleginnen, die gern einmal nach Paris gehen möchten, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 4 (1887/88) 4, S. 110. Ratgeber für das Studium, S. 49. Vgl. ebd.
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sische ‚Volkscharakter‘ am ehesten offenbare.52 Den Gewinn ihrer Fortbildungsreise nach Paris resümierte eine Sprachlehrerin folgendermaßen: „Bei der alten Methode, die im Durchnehmen der Grammatik, Vokabelabfragen und Übersetzen bestand, da mochte es gleichgültig sein, ob die Lehrerin eine vorzügliche Aussprache hatte und Frankreich aus eigener Erfahrung kannte. Eine Lehrerin aber, die nach neuen Anforderungen unterrichten will, die früh mit dem Sprechen beginnen und ihren Schülerinnen nicht nur von französischer Sprache, sondern auch von französischem Wesen einen Begriff geben will: wie will eine solche Lehrerin auskommen ohne einen Aufenthalt in Frankreich! Vorbildlich französisch sprechen ist nur in Frankreich zu lernen, und französisches Wesen offenbart sich nur in Frankreich! [...] Ein anderer, und vielleicht der schönste Gewinn des Aufenthalts in Frankreich wird freilich nicht so leicht äußerlich hervortreten: das ist die Erweiterung des Gesichtskreises. Wir Lehrerinnen haben ja nicht die schönsten Wanderjahre des Studentenlebens, unsere Seminarjahre verlaufen einförmig und ereignislos, und wann kommen wir einmal in die Ferne anders als vorübergehend? So rufe ich denn allen unternehmungslustigen jungen Kolleginnen zu: Viel Glück für die Reise nach Paris!“ 53
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Kulturelle Selbstvergewisserung in der ‚Fremde‘
So enthusiastisch die Parisaufenthalte in Reiseberichten rückblickend zuweilen auch erinnert wurden – damit ist nur eine Seite der Medaille beleuchtet. Durch den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und die deutsche Annexion Elsaß-Lothringens war das Verhältnis der beiden ‚Nationen‘ zueinander stark belastet. Auch boten Spionage- und Grenzzwischenfälle in den 1880er Jahren sowie die Auseinandersetzungen, die sich aus der Kolonialpolitik der beiden Nachbarstaaten in den folgenden Jahrzehnten ergaben, hinreichende Gelegenheit, den Mythos der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft‘ immer wieder neu zu nähren: „Frankreich ist nicht wie England ein uns befreundetes Land. Feindselige Gefühle trennen noch immer beide Nationen“, mahnte die Vorsitzende des Pariser Lehrerinnenvereins in den frühen 1890er Jahren ihre Kolleginnen, „um sie vor bitteren Enttäuschungen zu bewahren“.54 52
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Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Lage, von der: Die Ferienkurse, S. 327ff. Die Autorin schildert u.a. ihre Eindrücke vom Nationalfeiertag in Paris und bedient dabei die typischen Klischees: „In der Freude am Vergnügen aber sind sie Südmenschen, Scherz und harmlose Fröhlichkeit, Theater, Tanz, Gesang und Ausflüge aufs Land sind ihnen ein Lebensbedürfnis“ (ebd., S. 328). Ratschläge für die deutsche Lehrerin, S. 668. Schliemann, Emilie: Einiges über die Aussichten und Stellungen der deutschen Lehrerinnen in Frankreich, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 10 (1893/94) 20, S. 617.
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Auch warnte ein anderer Zeitgenosse, der mehrere Jahre in Paris gelebt hatte, die Lehrerinnen davor, sich mit allzu naiven Vorstellungen über die französische Gastfreundschaft ins Nachbarland zu begeben: „Denke daran, daß du manches harte, ungerechte Wort über deine Landsleute und dein Vaterland wirst still hinnehmen und hinunterschlucken müssen; denke daran, dass du oft in heißen Thränen [sic!] in deinem Kämmerchen sitzen und dich nach deinem geliebten Vaterland sehnen wirst.“55 Trotz der großen Ausstrahlungskraft der französischen Hauptstadt werden sich die Leserinnen solcher und ähnlicher Zeilen wohl mit gemischten Gefühlen und womöglich stereotypen Vorstellungen über den französischen ‚Volkscharakter‘ in die Fremde begeben haben. Wie wird der deutsch-französische Kulturkontakt nun rückblickend thematisiert bzw. rekonstruiert? Beschränkte er sich auf die weitgehend positiv konnotierte aktive Aneignung französischer Kultur, vor allem der Sprache, der Geschichte und Literatur, oder lassen sich Distanzierungs-, Abgrenzungs- und Abwehrmechanismen erkennen, die Rückschlüsse auf das eigenkulturelle, mitunter nationale Selbstverständnis deutscher Lehrerinnen zulassen? Ihre Ankunft in Paris beschrieb eine junge Lehrerin in der folgenden Textpassage: „Paris! Nach langer ermüdender Reise endlich am Ziel – aber spät abends in einer wildfremden Riesenstadt, deren Gebrause den Ankömmling am Nordbahnhof umfängt wie ein tosendes Meer! Nur schüchtern ringen sich die ersten französischen Worte über die Lippen, – überall fremde Laute! Man wundert sich fast, daß man verstanden wird, und daß man versteht. [...] Was mag die Zukunft bringen? Ob es wohl sehr wehe tut, verpflanzt zu werden in fremdes Erdreich – vielleicht auf lange? Wie mögen sich die Beziehungen gestalten zu den Angehörigen einer anders denkenden und anders fühlenden Nation? [...] Die Droschke hält; Gott sei Dank! es ist richtig No. 8 rue de Villejust. Eine stille Straße, ein vornehm aussehendes Haus, teppichbelegte, gut beleuchtete Treppen und farbiges Glas in den Flurfenstern. Schon dieser erste Eindruck wirkt belebend. Im dritten Stock aber kann man lesen: ‚Lehrerinnenheim‘, und deutsche Laute aus dem Munde der lieben Vorstandsdamen begrüßen die ankommende Lehrerin. Man fühlt sofort, hier wird man Rat und Beistand finden, hier sind die erfahrenen Vermittler der Beziehungen zu dem fremden, anders denkenden Volke. Im Lesezimmer – welch freudige Überraschung – das Bild des deutschen Kaisers! Freundlich, tröstlich grüßt es hernieder, als spräche unser Kaiser: ‚Auch in der Fremde schütze ich meine Untertanen!‘ Gastlich nimmt das Heim vom ersten 55
Noch einmal „Die deutsche Lehrerin in Frankreich“, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 3 (1886/87) 19, S. 593.
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Augenblick den Ankömmling auf. Eine einladende Mahlzeit wird in dem von deutscher Ordnung und Sauberkeit blitzenden Eßzimmer aufgetragen. Wie mutet es so deutsch an, dieses Eßzimmer mit seinen geschnitzten Schränken und Lederstühlen! Und in einem behaglichen Stübchen in einem auffallend weichen Bett darf man sein Haupt zur Ruhe legen. Man ist . . . i m H e i m !“56
Die plötzliche und unmittelbare Begegnung mit einer anderen, ‚fremden‘ Kultur in einer pulsierenden Metropole, die hier beschrieben wird, in der die eigenen, vertrauten Normen, Werte und Codes keine oder nur noch bedingte Gültigkeit hatten, konnten bei den jungen Lehrerinnen alle möglichen Arten verstörender Gefühle wie Desorientierung, Hilflosigkeit, Irritation, Angst, Erschrecken und Abwehr hervorrufen – ein Phänomen, das gemeinhin mit dem Begriff ‚Kulturschock‘ bezeichnet wird.57 In solchen Situationen, in denen Ordnungsleistungen gefragt sind und in denen Prozesse der Selbstvergewisserung einsetzen, spielen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Differenz eine wichtige Rolle. Dass in der Konfrontation mit einem fremden Land, mit fremden Kulturen und fremden Lebensweisen der Blick auf ‚Vertrautes‘ gelenkt wird, und dass ‚Nationalität‘ als Identitätskategorie und Zugehörigkeitskriterium gerade im Ausland zum Tragen kommt, hat nicht zuletzt die Frauenreiseforschung an konkreten Fallbeispielen nachgewiesen:58 ‚Nationalität‘ steuerte auf Reisen Kontaktaufnahme und Freundschaftsbeziehungen.59 Die gemeinsame Sprache erleichterte und beförderte Kontakte zwischen Deutschen und Deutschsprachigen. Deutsche Infrastruktur im Ausland – deutsche Gasthäuser, Ansiedlungen, Vereine, Konsulate, kirchliche Einrichtungen – erleichterten den Frauen den Aufenthalt in der Fremde. In Reiseberichten wurde immer wieder die Gastfreundschaft von Deutschen im Ausland besonders hervorgehoben, das deutsche Ambiente besonders geschätzt, da es, wie in dem oben angeführten Zitat dokumentiert, ‚Heimatgefühle‘ geweckt hätte. Das Lehrerinnenheim in Paris war zweifelsohne ein zentraler Bestandteil dieses nationalen Netzwerkes der im Ausland lebenden Deutschen. Menschen sehen fremde Kulturen immer durch den Filter ihrer eigenkulturellen Vorverständnisse und Vorbilder, denn die Begegnung mit dem Fremden bedingt eine vorhergehende Selbstverortung, eine ‚kulturelle Zent56 57 58 59
Eine Kursistin: Der deutsche Lehrerinnenverein in Paris (8 rue de Villejust), in: Die Lehrerin in Schule und Haus 21 (1904/05) 14, S. 361. Vgl. Schulz-Forberg: Zeitreisen, S. 133ff. Vgl. Siebert: Reise. Nation. Text, S. 49-65. Wir greifen an dieser Stelle und im Folgenden einige Gedankenführungen aus der Einleitung kurz auf (vgl. Kap. 1.1.).
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riertheit‘, die es dem Individuum ermöglicht, das Unbekannte wie auch das ‚Andere‘ von ihm unterschieden wahrzunehmen und beurteilen zu können.60 Das Verstehen des ‚Anderen‘ als Fremden wird von der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung grundsätzlich als Tätigkeit verstanden, die auf Akten des ‚Selbstverstehens‘, der Selbstauslegung beruht.61 Auch den im Ausland lebenden Lehrerinnen wurde verschiedentlich nahe gelegt, sich in der ‚Fremde‘ ihrer nationalen Herkunft stets bewusst zu sein: „Die deutsche Lehrerin“, merkte Emilie Schliemann an, „braucht in einer französischen Familie ihr Deutschtum nicht zu verleugnen.“62 Und Mathilde Lammers schrieb den jungen Frauen im Ausland gar die Rolle einer Sendbotin, einer „Vertreterin ihres Volkes“ zu: „Wer sich aber freut und stolz darauf ist, eine Deutsche zu sein, sollte das immer im Auge behalten, daß man in der Fremde, wo nicht schon eine weitgehende Bekanntschaft mit unserem Volke vorliegt, immer geneigt sein wird, ihre Tugenden als deutsche Tugenden, ihre Fehler als deutsche Untugenden anzusehen. Ich glaube, daß auch wir Frauen, wenn wir uns allein über die Grenze wagen, verpflichtet sind, unserem Vaterlande Ehre zu machen und seine Ehre hochzuhalten.“63
Die Möglichkeit zur gemeinsamen kulturellen Selbstvergewisserung bot sich für deutsche Lehrerinnen in Paris vor allem an jenen Orten, die Netzwerkfunktion hatten – allen voran die deutschen Lehrerinnenheime: „Selbsthilfe, gegenseitige Hilfe, Pflege nationaler Zusammengehörigkeit und heimischer Bräuche, Förderung im Erwerb und im Studium der französischen Sprache, geistige und wirtschaftliche Hebung des Lehrerinnenstandes – das waren die leitenden Ideen unserer Vereinigung“ resümierte ein Vereinsmitglied.64 Zu diesem Zweck bot der Verein Deutscher Lehrerinnen in Frankreich gemeinsame gesellige Unternehmungen an, er organisierte einen Mittagstisch für die Kursteilnehmerinnen und lud Sonntagsnachmittags zu Teestunden, Musikveranstaltungen u.Ä. ein.65 Der Lehrerinnenverein sorgte auch für die Pflege nationaler Traditionen und Rituale mit dem Weihnachts-
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Vgl. Schlieker: Frauenreisen in den Orient, S. 21. Vgl. Wierlacher: Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 63. Schliemann: Einiges über die Aussichten, S. 618. Lammers: Deutsche Lehrerinnen, S. 71f. Die Stellenvermittlung für Lehrerinnen im deutschen Doppelheim zu Paris, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 17 (1900/01) 11, S. 429. Vgl. Schliemann: Achtzehnter Jahresbericht, S. 816.
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fest als jährlichem Höhepunkt. Ein ausführlicher Bericht darüber findet sich im Pariser Vereinsblatt: „Während man es aber in Deutschland auf die sinnigste Art vorbereitet, während dort ein Weihnachtsklang schon lange vorher die Herzen, selbst der Erwachsenen durchzittert, merkt man in Paris nur am Kalender, daß der 24. Dezember herankommt. Unsere gemütreichen deutschen Sitten, die neben dem Zusammensein mit der Familie den Zauber unseres Weihnachtsfestes ausmachen, sucht man hier vergebens, und mit Bangen sehen wir aus der Heimat nach Paris verschlagenen Deutschen dem heiligen Abend entgegen. Traurig genug, daß wir unsere Lieben an diesem Tage entbehren müssen, sollen wir auch die altgewohnten Gebräuche, vor allen Dingen den Tannenbaum missen, und das Fest einsam vertrauern? [...] Nein, wir sind nicht vergessen! Der Verein deutscher Lehrerinnen bereitet allen seinen Mitgliedern und Freunden ein Fest auf deutsche Art, er vereint uns mit unseren Landsmänninnen und zaubert in unserer Seele Heimatbilder und Heimatgefühle hervor. [...] In der Mitte des Saales erhebt sich eine hohe, schlanke Tanne, so dunkelgrün und prächtig, daß sie, obwohl auf französischem Boden gewachsen, uns ein Kind unserer heimatlichen Tannenwälder erscheint, vom Weihnachtmann selbst hierher getragen. [...] Fröhliche Tänze und ein lustiger Reigen um den Weihnachtsbaum, der begleitet von dem uralten, ewigneuen: ‚O Tannenbaum‘, und dem Vaterlandsliede: ‚Deutschland, über alles‘, beschließen das Fest. Wir danken unseren verehrten Vorstandsdamen von ganzem Herzen, daß sie uns auf so schöne Weise über die wehmütige Stimmung des Heilig-Abend in Paris hinweggeholfen haben.“ 66
Dass die in Paris verweilenden deutschen Lehrerinnen dem Weihnachtsfest einen besonders hohen Stellenwert beimaßen, ist keineswegs eine singuläre Erscheinung. Der Versuch, mit zum Teil einfachsten Mitteln und viel Improvisation in der europäischen oder außereuropäischen Fremde traditionelle deutsche Festlichkeiten zu begehen, findet sich auch in anderen autobiografischen Schriften von Lehrerinnen dokumentiert. In der gemeinsamen Pflege deutscher Rituale konnten die Lehrerinnen an emotionsaufgeladenen Tagen wie dem Weihnachtsfest Trost und Rückhalt finden. Gleichzeitig nahm die Reproduktion nationaler Traditionen in weitgehend privater Sphäre im Ausland eine wichtige Funktion als kulturelle Selbstvergewisserung ein. Auch an diesem Beispiel bestätigt sich die Vermutung Heinz-Gerhard Haupts und Charlotte Tackes, dass (halb-)private Feste wie Weihnachts- und Hochzeitsfeiern mit nationaler Symbolik aufgeladen sein können – der Be-
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Unser Weihnachtsfest am 24. Dezember 1909, in: Pariser Vereinsblatt. Organ des Vereins deutscher Lehrerinnen in Frankreich 18 (1910) 1, S. 6f.
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richt aus dem Pariser Vereinsblatt spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.67
4.5
Ambivalenter Kulturtransfer: Das Beispiel Käthe Schirmacher
Zu jenen deutschen Frauen, die sich durch eine umfangreiche Publizistik und durch rege Vortragstätigkeit aktiv am nationalen Diskurs und am deutsch-französischen Kulturtransfer beteiligten, zählt die Lehrerin, Journalistin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher.68 Sie wurde 1865 als drittes Kind einer zunächst wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Danzig geboren und verlebte dort eine glückliche und sorgenfreie Kindheit.69 Der wirtschaftliche Abstieg des väterlichen Unternehmens, aber auch eigene Bildungsaspirationen bewegten sie als Jugendliche zu der Entscheidung, nach dem Besuch der höheren Mädchenschule eine Ausbildung am städtischen Lehrerinnenseminar zu absolvieren, die sie 1883 erfolgreich abschloss.70 Nach einigen weniger erfolgreichen Anstellungen als Lehrerin und Erzieherin in Berlin und Thüringen wurde ihr durch die finanzielle Unterstützung ihres Schwagers und durch ein Stipendium des ADLV ab 1885 ein zweijähriger Studienaufenthalt an der Sorbonne in Paris ermöglicht, der die Lehrbefähigung für das höhere Mädchenschulwesen zum Ziel hatte. Nach dem ersten Studienjahr erreichte Käthe Schirmacher das Certificat d‘aptitude à l‘enseignement, das ihr den Deutschunterricht an französischen Schulen gestattete. 1887 bestand sie schließlich die Agrégation de l‘Université, die französische
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69 70
Vgl. Haupt, Tacke: Die Kultur des Nationalen, S. 277. Zur (Auto-)Biografie siehe Schirmacher, Käthe: Flammen. Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1921; Walzer: Käthe Schirmacher. Biografisch orientierte Werkanalysen bieten die folgenden Beiträge: Gehmacher, Johanna: Der andere Ort der Welt. Käthe Schirmachers Auto/Biographie der Nation, in: Kemlein, Sophia (Hrsg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918, Osnabrück 2000, S. 99-124; dies.: De/Plazierungen – zwei Nationalistinnen in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zu Nationalität, Geschlecht und Auto/biographie, in: Werkstatt Geschichte 11 (2002) 32, S. 6-30; Siebert, Ulla: „Von anderen, von mir und vom Reisen“. Selbst- und Fremdkonstruktionen reisender Frauen um 1900 am Beispiel von Käthe Schirmacher und Emma Vely, in: Höllhumer, Christa u.a. (Hrsg.): Nahe Fremde – fremde Nähe. Frauen forschen zu Ethnos, Kultur, Geschlecht, Wien 1993, S. 177-216. Vgl. Schirmacher: Flammen, S. 6f. Vgl. ebd., S. 10f.
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Oberlehrerinnenprüfung.71 Ihre Rückkehr nach Deutschland – hier hoffte sie auf eine Anstellung im öffentlichen höheren Schuldienst – brachte indes eine herbe Enttäuschung, die sie rückblickend wie folgt erinnert: „In die Freude des Wiedersehens und Erfolges mischten sich aber sehr viele bittere Tropfen. Wer brauchte im Deutschland von 1887 einen weiblichen Oberlehrer? Wer wusste in Deutschland, was der Titel Agrégé bedeutet, welche Leistung dahinter lag? Ja, wer wollte es wissen? [...] Städte, an die ich meine Eingaben richtete, dankten; das preußische Kultusministerium hatte keine Verwendung für solche Pariser Neuheit, und die damalige Frauen- und Frauenbildungsbewegung blieb durchaus ablehnend.“72
Um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, begab sich die junge Frau 1888 zunächst nach England und nahm dort eine Stelle als Oberlehrerin für Deutsch und Französisch an einer High School in Liverpool an. Da Käthe Schirmacher jedoch eine Fortsetzung ihrer akademischen Laufbahn anstrebte, diese sich allerdings in Deutschland nicht verwirklichen ließ, immatrikulierte sie sich 1893 an der Universität Zürich und promovierte zwei Jahre später in Romanistik, deutscher Literatur und Philosophie. Mit dem Auftrag, eine populärwissenschaftliche Biografie über Voltaire zu verfassen, verlegte sie 1895 erneut ihren Wohnsitz nach Paris – er sollte es, mit Unterbrechungen, für die nächsten 15 Jahre bleiben.73 Käthe Schirmacher arbeitete als Korrespondentin für zahlreiche deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften. Sie schrieb sowohl Erzählungen und Romane, die teilweise autobiografisch gefärbt waren, als auch Abhandlungen zu volkswirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen, in denen sie immer wieder auch das deutsch-französische Verhältnis thematisierte.74 Als Essayistin nahm sie auch in französischen Zeitschriften zu politischen Fragen Stellung. Zudem unternahm sie weitläufige Vortrags- und Studienreisen. Die 30-Jährige hatte sich dem radikalen linken Flügel der deutschen und internationalen Frauenbewegung angeschlossen. Sie nahm an allen großen internationalen Kongressen der Bewegung in leitender Position teil, wobei ihre Mehrsprachigkeit eine gewinnbringende Rolle spielte. Die Teilhabe an staat71
72 73 74
Vgl. ebd., S. 12ff.; dies. [alias K. A. Therry]: Das „Certifikat d‘ aptitude“ in Frankreich, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 3 (1886/87) 4, S. 123-126; Walzer: Käthe Schirmacher, S. 21f. Vgl. Schirmacher: Flammen, S. 17. Die letzte Feststellung Schirmachers ist fragwürdig; schließlich hatte ihr der ADLV ein Stipendium für den Studienaufenthalt gewährt. Vgl. Walzer: Käthe Schirmacher, S. 30ff. Vgl. etwa Schirmacher: Die Ausländer; dies.: Deutschland und Frankreich seit 35 Jahren. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Berlin 1906.
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licher Politik blieb ihr indes als Frau jenseits des journalistischen Kommentars verwehrt: So klagte sie in ihrer Autobiografie darüber, dass man in der deutschen Botschaft weder ihre Vorschläge zur Verbesserung der ‚deutschen Kolonie‘ in Paris aufnahm, noch ihre Warnungen hinsichtlich der französischen Außenpolitik hören wollte.75 Paris, so ließe sich annehmen, erscheint als das bestmögliche Lebenszentrum für eine international agierende Persönlichkeit wie Käthe Schirmacher, die Deutschland nicht zuletzt deshalb verlassen hatte, weil dort ihren Interessen enge Grenzen gesteckt wurden und ihre Fähigkeiten offensichtlich nicht gefragt waren. Und rückblickend schreibt sie auch: „Die ersten vier, fünf Jahre hätte ich an keinem anderen Ort der Welt leben mögen.“76 Doch ihr Verhältnis zu Paris war von ‚tiefgreifenden Ambivalenzen‘ gekennzeichnet.77 Angesichts der konfliktreichen deutsch-französischen Beziehungen machte sie verletzende Erfahrungen von Abwehr und Fremdheit: „Schirmacher thematisiert ihr Leben als Ausländerin in Paris“, so die Feststellung von Johanna Gehmacher, „im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Differenz.“78 Kurz nach der Jahrhundertwende vollzog sie schließlich einen deutlichen Einstellungswandel in ihrer politischen Orientierung – sie wandte sich dem deutsch-völkischen Aktivismus zu: „In Politik und Frauenbewegung vollzog sich zwischen 1900 und 1906 für mich die Wetter- oder Sonnenwende. Und zwar weil ich Deutsche und Preuße war. Das Nationale warf mich nach rechts.“ 79
Schirmacher vertrat zunehmend konservative und völkische Positionen. Sie entwickelte antisemitische Verschwörungstheorien zur Erklärung der Weltpolitik und engagierte sich schließlich im 1894 in Posen gegründeten, deutsch-völkischen Ostmarkenverein, der sich den deutschen ‚Volkstumskampf‘ in den gemischtsprachigen Gebieten im Osten des Deutschen Reiches zur Aufgabe gemacht hatte.80 Ab 1904 begann sie in Paris in den bei75 76 77 78 79 80
Vgl. Schirmacher: Flammen, S. 36 und S. 56f.; Gehmacher: Der andere Ort, S. 106f. Vgl. Schirmacher: Flammen, S. 37. So die Einschätzung bei Gehmacher: De/Plazierungen, S. 14. Dies.: Der andere Ort, S. 108. Schirmacher: Flammen, S. 37. Vgl. ebd., S. 48ff. Zum Ostmarkenverein siehe Oldenburg, Jens: Der Deutsche Ostmarkenverein 1894-1934, Berlin 2002 sowie Drummond, Elizabeth A.: „Durch Liebe stark, deutsch bis ins Mark“: Weiblicher Kulturimperialismus und der Deutsche Frauenverein für die Ostmarken, in: Planert: Nation, Politik und Geschlecht, S. 147-164. Zwischen 1906 und 1913 war Käthe Schirmacher auf den fünf Ostdeutschen Frauentagen als
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den Zeitschriften L‘Européen und Le Courrier Européen mit deutsch-nationalen Agitationen. Ihre Artikel richteten sich zunächst gegen die tschechischen Minderheiten in Böhmen, dann auch vermehrt gegen die Polen in Preußen: „Frankreich durfte nicht nur einseitig unterrichtet werden, nicht alles durch die slawische Brille sehen“, schrieb Schirmacher rückblickend. „Drei Jahre hindurch gelang mir diese Aufklärungsarbeit in Paris.“81 Ab 1907 weigerten sich die Zeitschriftenredaktionen jedoch, ihre Arbeiten weiterhin zu veröffentlichen. 1910 verließ Schirmacher schließlich Paris und kehrte nach Deutschland zurück, um hier die völkisch-nationale Politik zum Zentrum ihrer politischen Aktivitäten zu machen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eröffnete Käthe Schirmacher neue Aufgabenfelder: Sie verlegte 1914 ihren Wohnsitz nach Berlin, arbeitete dort als Vortragsrednerin und Schriftstellerin, agitierte für verstärkten nationalen Zusammenhalt und rief zur Unterstützung der deutschen Kriegsführung auf. Für das Auswärtige Amt und das preußische Kultusministerium verfasste sie mehrere Denkschriften, in denen sie u.a. über die Situation der Lehrerinnen in Paris referierte, Vorschläge zur Förderung des ‚Nationalen‘ in Schule und Gesellschaft unterbreitete und Entwürfe zur Wahrung und Verbreitung der deutschen Kultur nach Beendigung des Krieges ersann.82 Diese Schriften sind zwar nach Kriegsausbruch entstanden – und ein kriegsbedingter Nationalismus kann und soll ihnen keineswegs abgesprochen werden. Für den hier zu erörternden Gegenstand ‚weiblicher Kulturtransfer‘ sind sie jedoch insofern von Relevanz, da sich die Ausführungen explizit auf Schirmachers Erfahrungen in Paris beziehen. Sie entwickelte darin Vorschläge zur Gründung einer deutschen Organisation nach französischem Vorbild, kurzum: es geht um die Alliance française, den staatlichen Kulturverein Frankreichs. Die Denkschrift Deutsche Erziehung und feindliches Ausland wurde von Käthe Schirmacher 1916 auf ausdrücklichen Wunsch des preußischen Kultusministers August von Trott zu Solz als Fortsetzung einer ein Jahr zuvor erschienenen Schrift verfasst. Im Wesentlichen geht es in beiden Pamphleten um „praktische Mittel zur Bekämpfung der Alliance française und des
81 82
Referentin zugegen und betrieb aggressive deutsch-völkische Propaganda, indem sie etwa über die angebliche Bedrohung der deutschen Ostprovinzen durch Polen sprach und gleichzeitig an das Nationalbewusstsein der ostdeutschen Frauen appellierte. Vgl. etwa die folgenden Vorträge: Schirmacher, Käthe: Die östliche Gefahr, Posen 1912; dies.: Die Verteidigung der Ostmark, 2. Aufl., Posen 1912; dies.: Was ist National? Posen 1912. Schirmacher: Flammen, S. 48. Vgl. ebd., S. 70ff.; dies.: Die deutsche Vertretung im Ausland, Berlin 1914; dies.: Die nationalen Schäden; dies.: Deutsche Erziehung und feindliches Ausland, Berlin 1916.
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Lehrerinnenelends in Paris“.83 Ausführlich schilderte Schirmacher die Entstehungsgeschichte der Organisation, ihre Struktur und ihre Tätigkeitsbereiche sowie die europäische und außereuropäische Verbreitung des Vereins zur Förderung der französischen Sprache und Kultur. Ohne hier auf nähere Einzelheiten eingehen zu können, sei lediglich der Bewertungstenor angedeutet, den die verschiedenen Aktivitäten der Alliance bei Schirmacher in der Regel erfuhren: „Wo die Alliance Française ihren Fuß hinsetzt, wird wilder, blinder Haß gegen Deutschland ausgestreut. [...] Deutschland hat dieser Lästerschule nichts gleich Wirksames entgegengesetzt. Ein entsprechender Weltverein, der die Kunde von deutscher Kultur hinausträgt, fehlt uns, dem Land der Vereine, gänzlich. [...] In Paris wurden die Ferienkurse der Alliance française am zahlreichsten von Deutschen besucht, die, ungewarnt von ihrer nationalen Vertretung oder ihren Heimatbehörden, von dem deutschfeindlichen Charakter dieses Unternehmens gar keine Ahnung hatten, was ja den Franzosen nicht gerade eine hohe Schätzung unseres Scharfblickes gegeben haben wird.“ 84
Dass dieser „nationale Kampfverein“ auf dem Gebiete der Kultur von deutscher Seite mit allen Mitteln hätte bekämpft werden müsse, stand für die völkische Aktivistin Schirmacher außer Frage. Insbesondere empfahl sie dem Kultusministerium folgende Maßnahmen: (1) Schaffung einer entsprechenden Gegenorganisation auf deutscher Seite, (2) Beförderung der nationalen Erziehung in Deutschland, (3) die Eindämmung deutscher Auswanderung nach Frankreich.85 In ihren Denkschriften bezeichnete es Schirmacher als eine der „verhängnisvollsten Unterlassungen“, dass es versäumt worden sei, einen Weltbund für Deutschkultur zu gründen. Wohl bestünden seinerzeit im Ausland zahlreiche deutsche Vereine und Vereine für das Deutschtum, doch bildeten diese „keinen großen, schlagfertigen Verband“ und besäßen „weder das Ansehen, noch Mittel, Anziehungskraft und Einfluß der Alliance française“.86 Dieses Ziel ließe sich nur erreichen, wenn der von ihr anvisierte deutsche Kulturbund nach gleichem Muster organisiert würde wie das französische Vorbild: Der „Weltbund für Deutschkultur“, so Schirmacher, müsse „staatlich anerkannt sein, mit staatlichen Mitteln arbeiten, als ein Teil der deutschen Diplomatie betrachtet werden“. Als Effekt könnten sich die deut83 84 85 86
Dies.: Deutsche Erziehung, S. 3. Dies.: Die nationalen Schäden, S. 15. Vgl. dies.: Deutsche Erziehung, S. 19. Ebd., S. 20.
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schen Botschaften und Konsulate im Ausland zu „Sammelpunkte[n] deutschen Geisteslebens“ entwickeln, der „deutschen Kultur eine geachtete Stellung geben“, den „Vertretern des Deutschtums gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorteile bieten“ und der „Entdeutschung unserer Auswanderer entgegenwirken.“87 Käthe Schirmacher führte weiterhin aus, dass es sich bei dem Krieg von 1914 um keinen gewöhnlichen Krieg handele, in dem es ‚lediglich‘ um Landbesitz ginge – für sie stand fest, dass die „Vernichtung eines großen Kulturvolkes“, der Deutschen, das eigentliche Kriegsziel sei. Vor diesem Hintergrund würden Frankreich, England und Russland „feindliches Ausland auf Menschenalter hinaus“ bleiben, in denen deshalb künftig auch keine deutsche Kulturarbeit zu betreiben sei.88 Zusammenfassend hielt Schirmacher fest: „Die Bekämpfung der Alliance française vollzöge sich also: durch Nachahmung ihrer Werbearbeit von unserer Seite im neutralen Ausland; durch ihre Ausrottung und ihren Ersatz durch werbende Deutschkulturvereine bei uns und unseren Bundesgenossen; durch unseren Verzicht auf ein solches Werben im feindlichen Ausland.“89
In engem Zusammenhang mit der Vision eines Weltbundes für Deutschkultur stand Schirmachers Annahme, das deutsche Volk sei zum „sittlichen Kulturführer der Menschheit“ bestimmt. Die sittlichen Grundsätze, welche die völkische Propagandistin u.a. bei Herder und Goethe auszumachen glaubte, gelte es einerseits „in allen Deutschen zu vertiefen“, andererseits müsse man sich „von allem entbehrlichen Ausländischen“ befreien: „Wir müssen kerndeutsch, hart und fest im Deutschen werden.“90 Dies war ihrer Ansicht nach die Aufgabe einer künftigen Nationalerziehung, die besonders im öffentlichen Schulwesen anzusetzen habe. Für deren Ausgestaltung machte Schirmacher eine Reihe detaillierter Vorschläge, bis in die konkrete Lehr- und Unterrichtsplanung hinein, differenziert nach Geschlechtern – sie können hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden. Für den Jungenunterricht sah sie vor: Wiederbelebung der germanischen Kultur durch die Beschäftigung mit der germanischen Götterwelt, ihren Sagen, Mythen und Heldenliedern; Körperbildung und Beherrschung der Muttersprache; Kampf gegen die Fremdwörter und Wiederbelebung des deutschen Sprachgefühls; Kulturgeschichte des deutschen Volkes als Hauptfach; Erziehung zum Staatsbürger 87 88 89 90
Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 26.
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durch Einführung in die Verfassungsgeschichte und Staatstheorie; Unterricht in Handels- und politischer Geografie:91 „Das sind die praktischen Forderungen des Schützengrabens an die nationale Erziehung in den höheren Knabenschulen. Sie schaffen viel Ballast weg. Das ist unerlässlich. Im Mittelpunkt unserer Schule muß ‚das Eigene‘ stehen. [...] Das deutsche Selbstgefühl, gerade auf Grund genauer Kenntnis unseres Wesens und unserer Leistungen zu entwickeln, ist Aufgabe auch unserer höheren Schulen. [...] Die [zur Verfügung stehende Lehrzeit und Lernkraft] müssen in erster Linie zur Stärkung unserer völkischen Eigenart dienen und die fremden Elemente in zweite Linie treten. ‚Deutschland über alles‘, muß es auch in der deutschen Schule heißen.“92
Die nationale Unterweisung und Erziehung – hier bewegte sich Schirmachers Argumentation in konservativ-frauenbewegten Bahnen – sei beiden Geschlechtern in gleicher Weise anzugedeihen: Die „Bedeutung der deutschen Frau, Hausfrau, Mutter, Berufsfrau, für den Staat [sei] genau so hoch einzuschätzen, wie die des Mannes“. Beiden Geschlechtern sei ein „bewusstes Deutschtum zu vermitteln“, beiden sei verständlich zu machen, dass „Deutsche in erster Linie nach Deutschland gehören“.93 Ein Teil jener „Schützengrabenforderungen“, die an die höheren Knabenschulen gestellt würden, ließen sich problemlos auf die höheren Mädchenschulen übertragen – vor allem die „gründliche Körperbildung“. Die „Stärkung und Vermehrung des deutschen Volkes an Zahl und Wert“ sei schließlich eine entscheidende Aufgabe der Zukunft: „Bunte Puppen, ästhetisierendes Franzosentum können wir da nicht brauchen, wohl aber einen Turnvater Jahn für die weibliche Jugend, weibliche Jugendwehr und straffe Körperbildung im Frauendienstjahr.“94
Eine entscheidende Veränderung sollte sich nach Schirmachers Vorstellungen im Unterricht der französischen und englischen Sprache vollziehen, die künftig nicht mehr als Pflicht-, sondern lediglich als Wahlfächer auf freiwilliger Basis angeboten werden sollten: „Nichts wird das feindliche Ausland 91 92 93
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Vgl. ebd., S. 27ff. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 27f. In diesem Kontext forderte Schirmacher ferner dazu auf, in den Volksschulen die Mädchen über die rechtlichen Folgen von sogenannten ‚Mischehen‘ mit Ausländern aufzuklären: „Ein siegreiches Herrenvolk wie wir muß diesen Nationalstolz in seinem Recht [auf die deutsche Staatsangehörigkeit] ausprägen“ (ebd., S. 28). Ebd., S. 35.
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deutlicher von seiner Niederlage und den veränderten Zeiten überzeugen“, tönte sie siegessicher, „als diese Änderung des Lehrplans in unseren höheren Schulen.“95 Weil das „feindliche Ausland“ künftig weder als Auswanderungsland noch zur „Sommerfrische“ oder gar als „Kulturorakel“ dienen würde, sei die Beherrschung der französischen Sprache nicht mehr erforderlich. Frankreich hätte seine Funktion als politisches, soziales, literarisches und künstlerisches Vorbild ohnehin längst verloren, selbst die Sprache sei „zersetzt, getrübt, durch die entfesselte Demokratie, der die gesamte aristokratische Kultur Frankreichs zum Opfer“ gefallen sei. Damit läutete Schirmacher auf ideologischer und programmatischer Ebene das „Ende der französisch radebrechenden deutschen Dienstboten, Bonnen, Kinderfräulein und Lehrerinnen“ in Paris ein:96 „Vor dem Kriege waren Sprachlehrer und Sprachlehrerinnen von dem Glauben beherrscht, der Aufenthalt im Ausland verbessere ihre Prüfungs- und Berufsaussichten sehr wesentlich. Daher die Überfüllung der Sorbonne und Ferienkurse mit Deutschen, der Ansturm deutscher Lehrerinnen in Paris. Von maßgebender Seite ist mir versichert worden, dass die Schulbehörden den Auslandsaufenthalt weder gewünscht, noch gefördert, noch hoch eingeschätzt haben. Das müßte in ganz unzweideutiger Weise überall bekannt gegeben werden. Denn selbstverständlich haben unsere deutschen Neusprachlehrer im feindlichen Ausland nichts mehr zu suchen. [...] Der Deutschkulturbund wird, wie ja bereits erwähnt, im feindlichen Ausland vorläufig nicht Wurzel fassen können, die Nachfrage nach deutschen Lehrkräften dort sehr gering, der Aufenthalt für sie sehr unerquicklich sein. Es ist also allgemein davon abzuraten, das Hinausgehen zu erschweren und jedem, der doch hinausgeht, seine Verantwortung für Deutschlands Würde eindringlich klar zu machen.“ 97
4.6
Resümee
Forschungen zum Kulturtransfer beschäftigen sich im weitesten Sinne mit dem wechselseitigen Austausch von Denkweisen, Wissen und Ideen, Ansätzen, Modellen und Konzepten, Methoden, Techniken und Verfahren sowie Gütern und Produkten. Sie gehen von einem vorhandenen Interesse und Aufnahmebedürfnis seitens der jeweiligen Rezeptionskultur aus und untersuchen konkrete Vermittlungsinstanzen in Form einzelner Personen und sozialer Gruppen, Medien und Institutionen, die als ‚Träger‘ im Transfer95 96 97
Ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 42.
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prozess fungieren. Mit jenen deutschen Lehrerinnen, die sich vorwiegend mit dem Ziel der Verbesserung ihrer Französischkenntnisse zwischen 1880 und 1914 nach Paris begaben, ist eine bislang kaum beachtete Vermittlerinnengruppe in den Blick genommen. Als eine vorwiegend rezipierende Gruppierung hatten diese Lehrerinnen im Kontext ihrer eigenen, nationalen Ausgangskultur ein spezifisches Interesse: Mit einer erhöhten Sprachkompetenz ausgestattet erhofften sie sich nach der Rückkehr aus dem Ausland bessere Chancen für eine Platzierung auf dem heimischen Arbeitsmarkt – möglichst im öffentlichen höheren Schulwesen. Es waren also in erster Linie berufsständische Motive, aus denen heraus sich die jungen, ledigen Frauen nach Paris begaben. Die Aneignung der ‚Kulturgüter‘ Fremdsprache, französische Geschichte und Literatur vollzog sich vor Ort allerdings unter ambivalenten Bedingungen: Einerseits standen ihnen hier institutionell organisierte Fortbildungsmöglichkeiten wie der Besuch der Universitäten offen, die ihnen im Herkunftsland verschlossen blieben. Zudem bot ihnen die Metropole vielfältige Gelegenheiten, an der französischen ‚Hoch‘- und ‚Alltagskultur‘ teilzuhaben und sich auf diesem Wege autodidaktisch weiterzubilden. Andererseits sahen sich die Lehrerinnen vielen Problemen gegenübergestellt: Oftmals auf die selbständige Finanzierung ihrer Unternehmungen angewiesen, war es für die jungen Frauen mit zumeist dürftigen finanziellen Ressourcen schwierig, in der französischen Hauptstadt ein Auskommen zu finden, zumal die konkurrierenden Berufsstände der deutschen Kinder- und Dienstmädchen den Pariser Arbeitsmarkt ebenfalls überschwemmten. Statt einer vorübergehenden Anstellung als Privatlehrerin nahmen sie nicht selten die Möglichkeiten wahr, als bonnes zu arbeiten oder sich ihren Unterhalt mittels au pair-Stellen zu sichern. Angesichts der belasteten deutsch-französischen Beziehungen stellten sich bei den Lehrerinnen in der französischen Hauptstadt nicht selten Fremdheitsgefühle, Anfeindungsbefürchtungen und Isolationserfahrungen ein. Die deutschen Netzwerke in Paris suchten dieser Misere Abhilfe zu schaffen, indem sie erste Anlaufstellen und vorübergehende Beherbergung boten, seriöse Anstellungen und Unterkunftsmöglichkeiten vermittelten und neben Fortbildungskursen geselliges Beisammensein organisierten, in dessen Rahmen nationale Traditionen und Rituale gepflegt werden konnten. Damit leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Selbstvergewisserung, die nicht zuletzt emotionalen Rückhalt in einer oftmals auch irritierenden Fremde bot. Die sich in Paris fortbildenden Lehrerinnen fungierten in mehrfacher Hinsicht als Kulturvermittlerinnen in Richtung Heimatland: Im Transferme-
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dium Die Lehrerin und auch in anderen Fachzeitschriften berichteten sie mitunter ausführlich über ihre Erlebnisse in Frankreich. Diese Berichte waren nicht selten negativ gefärbt und als Warnungen an jene jungen Frauen gedacht, die ebenfalls einen Auslandsaufenthalt in Erwägung zogen. Es liegen jedoch auch viele positiv konnotierte Einschätzungen dieser Unternehmungen vor, die eine längere Parisreise ausdrücklich empfahlen, die die Fortbildungsmöglichkeiten und das Kulturangebot der Metropole wertschätzten und die über innovative Ansätze und Methoden im französischen Schulwesen berichteten. In jedem Fall vermittelten diese Texte, aber auch Vorträge, die nach den Parisaufenthalten in Deutschland gehalten wurden, ‚Wissen‘ über die Fremde. Die subjektive Färbung dieses ‚Wissen‘ durch die Kulturvermittlerinnen, aber auch vorherrschende gesellschaftliche Diskurse legten allerdings bestimmte Rezeptions- und Interpretationsweisen nahe. Ambivalenzen ergaben sich auch bei dem Versuch des Kulturtransfers in die Institutionen hinein: Ihr erworbenes Wissen und ihre angeeignete Sprachkompetenz wollten die Lehrerinnen zweckdienlich ins deutsche Bildungswesen hineintransferieren: „Einführung in das Verständnis von geistiger und materieller Kultur, Leben und Sitte des französischen Volkes“, formulierte eine Schuldirektorin das „neue Ziel für den französischen Unterricht“ unter Bezugnahme auf die Bestimmungen über das Mädchenschulwesen vom 31. Mai 1894.98 Doch in ihren Hoffnungen auf eine gehobene Anstellung im öffentlichen Schulwesen wurden viele Lehrerinnen enttäuscht – der Stellenmarkt war klein und hart umkämpft. Zu jenen Lehrerinnen, denen das deutsche höhere Schulwesen trotz ihrer ausgezeichneten Qualifikationen und Fremdsprachkompetenz keine Perspektive bot, gehörte Käthe Schirmacher: Sie kehrte Deutschland zunächst enttäuscht den Rücken zu und lebte lange Zeit in Paris. Über viele Jahre gewann sie weitreichende Einblicke in den französischen ‚Nationalcharakter‘ – so das zeitgenössische Sprach- und Vorstellungskonstrukt. Die Ergebnisse ihrer ‚Studien‘ veröffentlichte sie in zahlreichen Transfermedien: in Zeitungen und Zeitschriften, Romanen, wissenschaftlichen Abhandlungen, Empfehlungen und Denkschriften. Auch während ihrer umfangreichen Vortragstätigkeit im Kontext der internationalen Frauenbewegung und für den deutsch-völkischen Ostmarkenverein fungierte sie vielfach als Kulturvermittlerin, sei es durch Übersetzungstätigkeiten auf internationalen Kongressen 98
Haakh, Elisabeth: „Wie hat der Unterricht im Französischen die Aufgabe zu lösen, die Schülerinnen möglichst einzuführen in das Verständnis der geistigen und materiellen Kultur, Leben und Sitte des französischen Volks?“ in: Die Lehrerin in Schule und Haus 12 (1895/96) 19, S. 689.
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oder durch ihre aggressive Deutschpropaganda. Mit Käthe Schirmacher ist eine besonders zwiespältige Persönlichkeit in den Blick gerückt, die hier keineswegs als stellvertretend oder charakteristisch für den Berufsstand der Lehrerinnen im Deutschen Kaiserreich angeführt werden soll. Vielmehr lässt sich an ihrer Person und an ihren Schriften ein besonders ambivalentes Phänomen beobachten, das Michel Espagne als Kulturvermittlung durch Frankreichfeinde bezeichnet hat. Diese Vermittler haben die Funktion – es sei kurz in Erinnerung gerufen – „[...] Feindbilder heraufzubeschwören und durch die Ablehnung eines Gegenmodells die eigene Kultur zu definieren“.99 Käthe Schirmacher ging sogar noch einen Schritt weiter: Sie schlug vor, ein erfolgreiches französisches Modell kultureller Selbstbehauptung nach Deutschland zu transferieren, regelrecht zu kopieren und als Gegenmittel im seinerzeit vermeintlich stattfindenden Kampf um die kulturelle Vorherrschaft in der Welt einzusetzen. Die Frage nach dem spezifisch weiblichen Anteil bzw. der Teilhabe von Frauen an kulturellen Transferprozessen wirft wesentlich mehr Fragen auf, als hier Einschätzungen vorgenommen und Antworten gegeben werden können. Aus der Perspektive der deutschen Aufnahmekultur lässt sich der Sprach- und Wissenstransfer durch die Lehrerinnen zunächst als ambivalentes Phänomen beschreiben, da die Aneignung ‚fremder Kultur‘ aus berufsständischen Motiven heraus erfolgte, für deren Rezeption allerdings nur eine begrenzte Nachfrage bestand. Ähnlich der Prozess der fremdkulturellen Aneignung auf der Folie nationalkultureller Vorstellungen, erfolgte doch der Bildungserwerb in Paris in einem Klima, das deutschen Lehrerinnen häufig auch ablehnend gegenüberstand. Nicht berücksichtigt werden konnte im Rahmen des Projekts der Aspekt der Wechselhaftigkeit bei (inter-)kulturellen Transferprozessen, also die Frage, wie die französische Bevölkerung den Zuzug der jungen Frauen in die Metropole wahrnahm, welche Diskurse über sie geführt wurden, wie sich die Beziehungen in Arbeitsverhältnissen gestalteten, unter welchen Bedingungen und aus welchen Motiven heraus ‚deutsche Kultur‘ in Form von Sprache aufgenommen, als Literatur rezipiert wurde u.v.a.m. Hieraus ergeben sich weitere Forschungsaufgaben.
99
Espagne: Die Rolle der Vermittler, S. 325.
5.
Exkurs: Käthe Schirmachers Entwurf einer völkischnationalen Mädchen- und Frauenbildung1
Das jahrzehntelange Ringen der bürgerlichen Frauenbewegung um die Verbesserung ihrer Bildungsmöglichkeiten lässt vergessen, dass beispielsweise die schrittweise Angleichung der Mädchenschulbildung an die höhere Knabenbildung auch in der Frauenbewegung nicht unumstritten war. Im zeitgenössischen Diskurs um den Ausbau weiblicher Fortbildungsmöglichkeiten gab es zahlreiche Stimmen, die den Reform- und Gleichstellungsforderungen zwar nicht zwangsläufig entgegenstanden, die von ihrer ideologischinhaltlichen Ausrichtung jedoch dem national-konservativen Lager zugerechnet werden können und die grundlegend eine Tradierung der bestehenden Geschlechterordnung propagierten. In jüngster Zeit untersucht die historische Genderforschung vermehrt die Beteiligung von Frauen in konservativen, deutschnationalen und völkischen Organisationen und Gruppierungen zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik.2 Das Forschungsinteresse gilt dabei dem facettenreichen Spektrum von Vereinen, Verbänden und schließlich auch Parteien, in denen ‚radikale Nationalistinnen‘ politische Aktivitäten entwickeln und entfalten konnten, den verschiedenen Agitationsformen und Handlungsmöglichkeiten ‚rechter‘ Frauen in der Öffentlichkeit sowie der ideologischen Basis und den differenten Diskursen, in denen sich antifeministische, nationa1
2
Vgl. Gippert, Wolfgang: „Ein kerndeutsches, nationalbewußtes, starkes Frauengeschlecht“ – Käthe Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung, in: Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2008) 53/54, S. 52-59. Vgl. exemplarisch: Bruns, Karin: Völkische und deutschnationale Frauenvereine im ‚zweiten Reich‘, in: Puschner, Uwe, Schmitz, Walter, Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung” 1871-1918, München, u.a. 1996, S. 376-394; Hornig, Julia: Völkische Frauenbilder, in: Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2003) 43, S. 37-42; Planert: Nation, Politik und Geschlecht; Puschner, Uwe: Völkische Diskurse zum Ideologem ‚Frau‘, in: Schmitz, Walter, Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, S. 45-75; Schöck-Quinteros, Eva, Streubel, Christiane (Hrsg.): Ihrem Volk verantwortlich. Frauen der politischen Rechten (1890-1933), Organisationen – Agitationen – Ideologien, Berlin 2007; Streubel, Christiane: Frauen der politischen Rechten in Kaiserreich und Republik. Ein Überblick und Forschungsbericht, in: Historical Social Research 28 (2003) 4, S. 103-166.
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listische, völkisch-rassistische wie auch antisemitische Einstellungen und Selbstpositionierungen von Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert widerspiegeln. Im Zuge dieser sozial-, diskurs- und mentalitätsgeschichtlichen Verortung von Frauen im konservativen Milieu werden zunehmend auch einzelne Protagonistinnen völkisch-nationaler Bewegungen genauer in den Blick genommen: ihre Biografien und beruflichen Ambitionen, ihre frauenpolitischen Netzwerke, Aktionsradien und -formen sowie ihre Vorstellungen, Denkstile und Selbstentwürfe. Besonders aufschlussreich erscheint die Frage, wie sich ‚rechte‘ Frauen im Diskurs um die Geschlechterverhältnisse positioniert haben.3 Zu den profiliertesten Aktivistinnen im politischen Lager der Nationalkonservativen gehörte zweifelsohne Käthe Schirmacher. Trotz vorliegender Forschungsarbeiten ist die Forschungslage zum ambivalenten Lebensweg und Werk der Lehrerin, Journalistin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin immer noch steinbruchartig – der umfangreiche Nachlass bislang noch nicht systematisch ausgewertet. In einschlägigen Studien zur bürgerlichen Frauenbewegung sowie zu konservativen und völkischen Frauenorganisationen im Kaiserreich und der Weimarer Republik werden ihre Aktivitäten oft nur punktuell erwähnt. Einzelne Beiträge wenden sich entweder einer bestimmten Lebensphase Schirmachers oder konkreten Schriftstücken zu – ihrer Autobiografie, Reiseberichten oder verschiedenen Vorträgen.4 Dass sie im Rahmen ihrer umfangreichen Publizistik immer wieder grundlegende Themen der Frauenbewegungen erörtert hat, ist in der Forschungsliteratur dokumentiert, vor allem mit Blick auf die Geschlechterbeziehungen, das Frauenstimmrecht, die Bedeutung der Hausarbeit, die Rolle von Frauen im Staat u.a. Weitgehend unbeachtet blieb hingegen, dass sich Schirmacher auch in den zeitgenössischen Diskurs um die Mädchenschulreform einbrachte und ein Konzept völkisch-nationaler Mädchen- und Frauenbildung entwickelte.5 Im Folgenden wird danach gefragt, aus welchen weltanschaulichen Vorstellungen und persönlichen Erfahrungshorizonten heraus Käthe Schirmacher die Notwendigkeit einer nationalen Erziehung des weiblichen Geschlechts ableitete, welche Mittel und Methoden sie für deren praktische 3 4
5
So die Feststellung bei Streubel: Frauen der politischen Rechten, S. 108. Vgl. Altenhöner, Florian: Das ‚Heimatheer deutscher Frauen‘. Propaganda durch bürgerliche Frauen in Berlin 1918 zwischen ‚Aufklärung‘ und Denunziation, in: Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2005) 47, S. 38-43; Drummond: Durch Liebe stark; Gehmacher: Der andere Ort; Gippert: Ambivalenter Kulturtransfer. Für den Exkurs sind rund 30 Schriften Schirmachers ausgewertet worden, die zwischen 1884 und 1925 erschienen sind.
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Umsetzung im häuslichen, schulischen und außerschulischen Bereich vorsah und wie sie die Rolle von Frauen in einer völkisch gedachten Gesellschaftsordnung verortete. So wird einerseits ein Desiderat in der Forschung zu Frauen in radikalnationalistischen Gruppierungen aufgegriffen, das im ideologie- bzw. diskursgeschichtlichen Nachholbedarf besteht. Andererseits wird an die Erkenntnis der neueren Historiografie zur politischen ‚Rechten‘ angeknüpft, die betont, dass die Definition von Geschlechterverhältnissen als zentrales Element dieser Ideologien einzuschätzen ist.6
5.1
Kulturimperialistisches Denken und die ‚Notwendigkeit‘ einer nationalen Erziehung
Käthe Schirmachers Œuvre durchzieht ein kulturimperialistisches, sozialdarwinistisches, mithin rassistisches weltanschauliches Denken, das als ideologische Basis für ihren Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung eingestuft werden kann. Exemplarisch lässt sich ihre geistige Grundhaltung anhand der Ostmarkenvorträge nachzeichnen sowie an ihrer Auseinandersetzung mit der Alliance française, dem staatlich geförderten Kulturverein Frankreichs. Schirmachers politische Umorientierung von einer Frauenrechtlerin mit linksliberalen, feministischen Idealen zu einer Propagandistin aggressiver, deutschnationaler Interessen ist von ihr selbst zeitlich in die Jahre nach der Jahrhundertwende verortet worden. Ihre damalige politische Gesinnung lässt sich u.a. an den Ostmarkenvorträgen ablesen. Den argumentativen Ausgangspunkt bildeten Behauptungen einer ethnisch fundierten und kulturell homogenen Nationsgenese: „Wie entsteht nun ein Volk, eine Nation? Durch Einheit der Geburt, beruhend auf Einheit oder Ähnlichkeit der Umgebung, der Anlagen, der Entwicklung, Geschichte, ausgedrückt vor allem durch Einheit der Sprache.“ 7
Als weiteren Grundpfeiler nationalistischer Traditions- und Mythenbildung verlegte Schirmacher den Existenzbeginn des ‚deutschen Volkes‘ mit dem Verweis auf das Germanentum in die ‚graue Vorzeit‘: 6
7
Diese Hinweise finden sich bei Streubel, Christiane: Forschungen zur politischen Rechten. Allgemeine Geschichte und Geschlechterforschung im Dialog, in: Schöck-Quinteros, dies.: Ihrem Volk verantwortlich, S. 10 und S. 44. Schirmacher: Was ist national, S. 3.
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„Die Deutschen sind ein großes Volk und ein großes Kulturvolk. Ihre Entwicklung ist seit mehr als 2000 Jahren von Bedeutung für die ganze Welt, ihre Sprache [...] eine Welt- und Kultursprache.“8
Einem derart ‚bedeutsamen Kulturvolk‘, so ihre Argumentation, stehe auch die territoriale Expansion durch Eroberung und Kolonisation zu – legitimiert durch eine historische Mission gegenüber vermeintlich weniger zivilisierten Völkern, vor allem in Osteuropa: „Die damals an Preußen abgetretenen Gebiete [...] waren damals schon gemischtsprachige Gebiete, in denen Deutsche und Polen wohnten, die Deutschen aber die Pioniere der Kultur und die höhere Entwicklungsstufe bildeten.“ Posen und Westpreußen seien deshalb „[...] nichts anderes als d e u t s c h e K o l o n i e n, mit deutschem Schweiß und Blut gedüngt.“9
Durch die polnische Nationalbewegung, die sich seit den 1860er Jahren auch in den preußisch annektierten Gebieten formierte, sah Schirmacher die deutsche ‚Kulturarbeit‘ und politische Vorherrschaft massiv bedroht. Das ‚Polentum‘ sei in der Ostmark durch die Mitarbeit von Frauen im Nationalitätenkampf weitaus geschlossener gewesen als das ‚Deutschtum‘. Der ‚nationale Gedanke‘, so ihre Diagnose, hätte in Polen die Geschlechts- und Klassengegensätze überbrückt. Forderungen der polnischen Minderheit nach einer politischen und nationalen Sonderstellung in Ost- und Westpreußen wies Schirmacher in ihren aggressiv formulierten Reden und Schriften entschieden zurück. Hingegen entwickelte sie verschiedene Strategien und äußerte zahlreiche Gedanken zur nationalen Abwehr der ‚polnischen Gefahr‘, die sich nachdrücklich auch an deutsche Frauen richteten. Als wirksamstes Mittel gegen die vermeintliche ‚Polonisierung‘ nannte Schirmacher die planmäßige Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter. Eine königlichpreußische Einrichtung zur „Stärkung des deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen gegen polonisierende Bestrebungen“ war bereits 1886 von Bismarck ins Leben gerufen worden.10 Die Denkschrift Zwanzig Jahre deutsche Kulturarbeit, in der die Tätigkeit der sogenannten Ansiedlungskommission bilanziert wurde, empfahl Käthe Schirmacher deutschen Frauen zur Lektüre. Denn ohne die Mithilfe von ‚kolonisierenden Hausfrauen‘, so ihre Mahnung, wäre die Ostmark nicht zu halten gewesen. Aus dieser
8 9 10
Ebd. Dies.: Die östliche Gefahr, S. 5 [Hervorh. i.O.]. Vgl. dies.: Die Verteidigung der Ostmark, S. 3.
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kulturimperialistischen Weltdeutung leitete sie die Notwendigkeit einer nationalen Erziehung ab: „Wir brauchen nationale Einsicht, nationales Gefühl in allen Stämmen unseres Volkes, in allen Klassen, in beiden Geschlechtern und allen Lebensaltern. [...] Zu solcher Einheit der Erkenntnis muß das deutsche Volk erst erzogen werden.“11
Ein ähnliches Resümee zog Schirmacher aus ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der französischen Kultur in den Jahren zwischen 1895 und 1910. Als Schriftstellerin wie auch als Korrespondentin deutscher, österreichischer und französischer Tageszeitungen und Zeitschriften bezog sie vielfach Stellung in Fragen der deutsch-französischen Beziehungen und Politik, wobei es ihr „höchst reizvoll“ erschien, die „so verschiedene Wesensart beider Völker möglichst scharf herauszuarbeiten“.12 So versuchte sie etwa im Rahmen einer volkswirtschaftlichen Studie anhand der in Paris lebenden und arbeitenden Ausländer/innen ‚nationale Arbeitseignungen‘ zu ergründen.13 Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie den in Paris lebenden deutschen Frauen, wobei ihr Interesse vorrangig den vielen jungen Lehrerinnen und Erzieherinnen galt.14 Die ledigen, oftmals unerfahrenen Berufsanfängerinnen sah Schirmacher als kulturell und national gefährdet an: „Es sind hauptsächlich Dienstboten, Kinderfräulein, Privatlehrerinnen, Erzieherinnen und Künstlerinnen. Mögen sie Volks-, Mittel- oder höhere Schulen besucht haben, gleichviel, sie sind in ihrer Mehrzahl von den Einrichtungen ihrer Staates ununterrichtet, nehmen kein Interesse an Politik und besitzen zum großen Teil kein lebendiges Deutschtum. [...] Für die bildungsfähigen deutschen Frauen lag daher die Versuchung nahe, in Kleidung und Benehmen möglichst französisch zu werden und sich dann überlegen zu fühlen.“ 15
Um Auswanderer vor einer ‚Entdeutschung‘ zu schützen und einer ‚Französisierung‘ entgegenzuwirken, sei es die Aufgabe der Erziehung, das deutsche Selbstwertgefühl zu vertiefen und die deutsche Kultur von ausländischen Einflüssen zu befreien: „Wir müssen kerndeutsch, hart und fest im Deut-
11 12 13 14 15
Dies.: Was ist national, S. 8. Dies.: Flammen, S. 38. Vgl. auch dies.: Paris! Berlin 1900; dies.: Deutschland und Frankreich. Dies.: Die Ausländer, S. 234-259 und S. 477-512. Vgl. Kap. 4.3. Käthe Schirmacher: Die nationalen Schäden, S. 11.
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Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung
schen werden. [...] Erreicht wird es nur durch grundlegende Änderung der deutschen Jugenderziehung.“16
5.2
Zur Nationalisierung der häuslichen und schulischen Mädchenerziehung
Ebenso, wie sich Schirmachers weltanschauliches Denken unsystematisch in ihrem gesamten Werk äußert, liegt ihrem Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung kein Konzept im Sinne einer geschlossenen Explikation zu Grunde. Es handelt sich vielmehr um einzelne, zuweilen mehrfach verwendete Bausteine, die sich in den Denkschriften an das Kultusministerium, in Abhandlungen über ein mögliches Frauendienstjahr und in ihrer Vortragsreihe über Völkische Frauenpflichten finden. Einen Ausgangspunkt finden Schirmachers Darlegungen zur Mädchenund Frauenbildung in der wiederholt formulierten Forderung, dass die nationale Erziehung generell beiden Geschlechtern zu vermitteln sei: „Beiden Geschlechtern ist ein b e w u ß t e s Deutschtum zu vermitteln, beiden ist klar zu machen, dass Deutsche in erster Linie nach Deutschland gehören [...].“ 17
Die Methoden zur ‚deutschen Erziehung‘ im Kindesalter sind entsprechend geschlechtsunspezifisch abgehandelt. Als „Hilfsmittel völkischer Erziehung“ empfahl Schirmacher, das häusliche Umfeld samt der Kinderstube zu einem ‚deutschen Heim‘ auszugestalten – mit einer Einrichtung aus deutschem Kunstgewerbe, deutschen Städte- und Landschaftsbildern, deutschen Zinnsoldaten, Puppen, Bilderbüchern u.a.18 Zudem sollte in der Kindererziehung „das köstlich alt-uralte Erbe“ deutscher Lieder, Märchen- und Sagen als ‚Volksgut‘ seine Verbreitung finden: „Dieses Germanentum soll in der deutschen Kinderstube herrschen [...].“19 Ein „Ausleben der Individualität“ hielt Schirmacher in der Erziehung für ungeeignet, da diese Methode „alle natürlichen Anlagen ungehemmt ins Kraut schießen ließ“.20 Dagegen stellte sie 16 17 18
19 20
Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Vgl. Schirmacher, Käthe: Völkische Frauenpflichten, Charlottenburg 1917, S. 4f. und S. 32f. Als Ratgeberliteratur empfahl sie ein Buch ihrer Lebensgefährtin Klara Schleker: Die Kultur der Wohnung, Leipzig 1911. Schirmacher: Völkische Frauenpflichten, S. 33. Ebd., S. 34.
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die Vermittlung ‚deutscher Tugenden‘: „Das gilt auch für die deutsche Frau, die, gleich dem Mann, zu Ordnung, Reinlichkeit, Wahrhaftigkeit, Gehorsam und Mut zu erziehen ist.“21 ‚Erziehung zum Deutschtum‘ lautet auch die grundlegende Forderung, die Schirmacher an die gesamte Schulbildung stellte – beginnend in der Volksschule. „Das Volksschulwesen“, so ihre Ansicht, „ist der geistigsittliche Ackerbau eines Volkes. Die Volksbildung und Volksleistung sind die Ernte.“22 Der ‚Deutsche Unterricht‘, dem Schirmacher die größte nationale Bedeutung zuwies, sollte als Hauptfach mit der höchsten Stundenzahl versehen werden. Inhaltlich legte sie die Schwerpunkte auf Beherrschung der Muttersprache, ‚völkische‘ Lehrinhalte (deutsche Geschichte, Götterlehre und Sagenwelt, Kolonisation und Kulturaufgaben) sowie auf staatsbürgerlichen Unterricht (Grundlinien der Staats- und Gemeindeorganisationen, Betonung des Zusammenhangs zwischen Einzelnem und Gesellschaft). Die zeitgenössische nationale Erziehung im höheren Mädchenschulwesen schätzte Schirmacher als unzureichend und dringend reformbedürftig ein. Eine oberflächliche, vorrangig an ästhetischen Gesichtspunkten orientierte Bildung würde bei Schülerinnen eine besondere Anfälligkeit für französische Einflüsse bewirken. Um ein „kerndeutsches, nationalbewußtes, starkes Frauengeschlecht“ heranzuziehen, müssten ‚fremdländische Elemente‘ aus dem deutschen Schulwesen verbannt werden.23 Als geeignete Mittel nannte sie Maßnahmen zur nationalen Erziehung in höheren Knabenschulen, die auf Mädchenschulen übertragen werden sollten – mit der körperlichen Ertüchtigung an erster Stelle. Die „Stärkung und Vermehrung des deutschen Volks an Zahl und Wert“ sah Schirmacher als eine entscheidende Aufgabe der Zukunft an, denn „[...] damit steht und fällt nicht nur Deutschland, sondern das Germanentum, dessen einzige große kriegerische Vormacht w i r sind.“24 Wie schon im Konzept für die Volksschule formuliert, sollte auch in den höheren Bildungseinrichtungen für Mädchen der Deutschunterricht einen zentralen Stellenwert einnehmen. Eine besondere Kampfansage galt den Fremdwörtern, von deren „Ausstoßung“ sich Schirmacher eine „Wiederbelebung des deutschen Sprachgefühls“ erhoffte.25 Ebenfalls als Hauptfach bestimmte sie den Geschichtsunterricht, dem sie die Funktion der staatsbürgerlichen Erziehung und der Stärkung des National21 22 23 24 25
Ebd., S. 35. Dies.: Deutsche Erziehung, S. 29. Ebd., S. 35. Ebd. [Hervorh. i.O.]. Ebd., S. 31.
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empfindens der künftigen ‚deutschen Mutter‘ zuwies. Um die Entwicklung des deutschen ‚Selbstgefühls‘ und der ‚völkischen Eigenart‘ in der höheren Mädchenschule zu unterstützen, stellte Schirmacher in ihren Bildungsplänen die neueren Fremdsprachen in den Hintergrund: sie sollten lediglich als Wahlfächer ausgewiesen werden.
5.3
Frauendienstjahr – Frauendienstpflicht
Mit ihren Schriften zum Frauendienstjahr und einer weiblichen Dienstpflicht als Pedant zum Militärdienst der Männer knüpfte Käthe Schirmacher an einen Diskurs an, der in der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und verstärkt im Ersten Weltkrieg auf breiter Basis geführt wurde.26 Auch wenn sehr verschiedene Ansichten über die konkrete Ausgestaltung einer Frauendienstpflicht entwickelt wurden, lag den meisten Entwürfen die Idee zugrunde, durch Maßnahmen des Staates sowie kommunaler, kirchlicher oder anderer Träger heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen im Anschluss an ihre schulische Bildung die Möglichkeit zu bieten, spezifisch ‚weibliche‘ Fähigkeiten und Tugenden zu entwickeln – durch hauswirtschaftliche Schulungen, in der Krankenpflege und Kindererziehung sowie in der sozialen Arbeit und Wohlfahrtspflege. Der Begriff Frauendienstpflicht intendierte, Frauen auf familiale Aufgaben vorzubereiten, ihnen ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Staat und Gesellschaft zu vermitteln und sie zur Übernahme gemeinnütziger, mithin nationaler Aufgaben zu veranlassen bzw. zu verpflichten.27 In Schirmachers Überlegungen zu einem völkischen Bildungssystem nimmt die Frauendienstpflicht eine Schlüsselposition ein, sah sie doch die weibliche Lebensphase zwischen Schule und Ehe als jenen wichtigen Zeitraum an, in dem junge Frauen zu ihren sozialen und politischen Aufgaben 26
27
Vgl. etwa Bäumer, Gertrud: Die deutsche Frau in der sozialen Kriegsfürsorge, Gotha 1916; Cauer, Minna: Frauendienstpflicht. Praktische Vorschläge für eine dem Heeresdienst der Männer entsprechende öffentliche Dienstpflicht der weiblichen Jugend, Tübingen 1916. Vgl. Dammer, Susanne: Mütterlichkeit und Frauendienstpflicht. Versuche der Vergesellschaftung ‚weiblicher Fähigkeiten‘ durch eine Dienstverpflichtung (Deutschland 18901918), Weinheim 1988, S. 13f. Dammer weist darauf hin, dass die Begriffe Frauendienst und Frauendienstpflicht in der zeitgenössischen Literatur synonym verwendet worden sind. Zudem sei der Begriff Pflicht nicht immer mit einer gesetzlich verankerten, obligatorischen Pflicht gleichzusetzen, da die Verwendung häufig auch einen moralischen, appellierenden Charakter hatte (vgl. ebd., S. 14).
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als künftige Hausfrauen, Gattinnen, Mütter und Bürgerinnen erzogen werden sollten. Lassen sich in ihren Vorkriegsschriften durchaus noch Argumentationsfiguren finden, in denen die nationalen Frauenpflichten mit Gleichstellungsforderungen verbunden sind und in denen Schirmacher im emanzipatorischen Sinne an einer generellen gesellschaftlichen Aufwertung weiblicher Tätigkeitsfelder gelegen war – allen voran die unbezahlte Hausarbeit28 –, erfuhren ihre Schriften nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine einseitige Wendung hin zu deutschnationalen, völkischen Begründungszusammenhängen. Ihre Erörterungen entspringen einer Defizitdiagnose: „Es kommt heute jedem zum Bewußtsein: der deutsche Sieg ruht sowohl auf der Wehrfähigkeit des Mannes wie auf der Wehrfähigkeit der Frau. [...] Nur sind Mann und Frau nicht in gleichem Maße für ihre Aufgaben vorbereitet: der deutsche Mann wird in der Wehrfähigkeit bis zur Vollendung gebracht; die Wirtschaftsfähigkeit der deutschen Frau erfährt noch keine gründliche, vollendete Durchbildung.“29
Vor dem Hintergrund der Kriegssituation ließen sich die hauswirtschaftlichen Kompetenzen von Frauen an der ‚Heimatfront‘ als ‚volkserhaltend‘, staatstragend und in ihrer Gesamtheit der Männerkriegsgesellschaft gleichwertig gegenüberstellen. Wenn die deutsche Frau ihre ‚völkischen Pflichten‘ erfüllen soll, so Schirmachers Argumentation, müsse der Staat zunächst seiner Pflicht einer entsprechenden Schulung und Ausbildung nachkommen. Fortbildungsmaßnahmen, die zu einer beruflichen Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt hätten qualifizieren können, hatte sie dabei nicht im Sinn. Wiederholt betonte Schirmacher, dass die Tätigkeiten einer Hausfrau und Mutter als Berufsausübung einzuordnen seien, dass es sich dabei um die Erfüllung des „Staatsbürgertums der Frau in einer seiner Hauptformen“ handele, um die „Wehrpflicht der Frau, ihr Friedens- und Kriegsdienst“.30 Die Inhalte der Schulungen, die in eigens für das Dienstjahr einzurichtenden, staatlichen Anstalten durchgeführt werden sollten, entnahm sie dem Fächerkanon landwirtschaftlicher Haushaltungsschulen. Da die überwiegende Zahl der schulentlassenen Mädchen nur ein sehr geringes Bildungsniveau aufgewiesen hätte, sollte der Unterricht in den Frauendienstschulen entsprechend 28
29 30
Vgl. Schirmacher, Käthe: Zwischen Schule und Ehe, in: Sammlung gemeinnütziger Vorträge. Hrsg. vom Deutschen Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag, Prag 1908, S. 49-58; dies.: Die Frauenarbeit im Hause, ihre ökonomische, rechtliche und soziale Wertung, 2. Aufl., Leipzig 1912. Dies.: Frauendienstjahr, Berlin 1915, S. 3. Dies.: Frauendienstpflicht, Bonn 1918, S. 3.
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schlicht gehalten werden – sehr wenig Theorie, z.B. einfache Nahrungsmittellehre, dafür gründliches praktisches Können, etwa in der Kleiderpflege. Gute Haushaltsführung, so die Feststellung Schirmachers, wirke auf das Volksganze und sei als Landesdienst, Landesbereicherung und Landesverteidigung anzusehen.31 Neben der Steigerung der Qualität häuslicher Frauenarbeit wies Schirmacher dem Frauendienstjahr eine weitere, zentrale bevölkerungspolitische Aufgabe zu, die auf die Funktion von Frauen als biologische Reproduzentinnen der Nation hinwirken sollte. Nach dem Krieg, so ihre Prophezeiung, stünden deutsche Frauen angesichts der hohen Menschenverluste vor größten Mutteraufgaben, so dass der Wert eines ‚kräftigen Frauengeschlechts‘ leicht einsichtig sei. Als Patin eines Modellversuchs zur Frauendienstpflicht32 kam Schirmacher zu der Überzeugung, dass die von ihr propagierten ‚Jungmädchenheime‘ – so ihre Bezeichnung für die ins Leben zu rufenden Anstalten – generell auf dem Land anzusiedeln seien. Der Staat sollte Grund und Boden stellen, den Bau und die Einrichtung der Heime finanzieren sowie die Gehälter landwirtschaftlicher Haushaltungsund Turnlehrerinnen zahlen. Zur Unterweisung in der Säuglings- und Krankenpflege sollten ortsansässige Gemeindeschwestern und Ärzte herangezogen werden. Durch Garten- und Ackerwirtschaft hätten sich die staatlichen ‚Jungmädchenheime‘ teilweise autark erhalten sollen. Vor allem Stadtmädchen sollten im gesunden ländlichen Klima ihre Gesundheit stärken, es lernen, sich in eine Gemeinschaft einzufügen, und so zu „Mutterfreudigkeit und Gemeinsinn“ sowie „völkischer Treue“ erzogen werden.33
5.4
‚Völkische Frauenpflichten‘ in Familie und Gesellschaft
Völkische Frauenpflichten ist der Titel einer Vortragsreihe, die Käthe Schirmacher im Auftrag des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) durchführte und die 1917 in einer rund 80seitigen Monografie veröffentlicht wurde. Dieses Werk kann als Kernschrift ihres völkischen Denkens eingestuft werden. Grundlegend geht Schirmacher darin der Frage nach, wie „deutsche Gesin-
31 32
33
Vgl. dies.: Völkische Frauenpflichten, S. 43. Es handelte sich dabei um eine Mustereinrichtung des Bundes für Frauendienstpflicht, die 1916 in Bodelwitz bei Raudten/Niederschlesien eröffnet wurde. Vgl. dies.: Frauendienstpflicht, S. 11ff.; dies.: Flammen, S. 74. Dies.: Frauendienstpflicht, S. 17.
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nung als Hausfrau, als Mutter, in Erziehung und Beruf, in Geselligkeit, Öffentlichkeit und Staat“ verwirklicht werden könne.34 Die ‚völkischen Pflichten‘ der Hausfrau und Mutter bilden den Auftakt der Vortragsreihe. Um das ‚Deutschtum‘ in ihrem Hausstand erhalten und fördern zu können, stehe an erster Stelle die Sorge der Frau um ein sauberes Heim mit schlichter und zweckmäßiger, deutscher Einrichtung. Auch solle sich die Hausfrau um eine möglichst einfache, fleisch- und fettarme Kost bemühen, um sich äußerlich der ‚germanischen Idealgestalt‘ anzunähern. Ebenfalls sei eine geschmackvolle Kleidung eine „wirklich völkische Aufgabe und ihr Gelingen ein völkischer Dienst“.35 Der als elegant, übertrieben und unanständig eingestuften Pariser Mode stellt sie als geeignete Kleidung die ‚feststehende Tracht‘ entgegen:36 Sie bringe die körperlichen Vorzüge der ‚Volkschaft‘ zur Geltung, bewahre die Frauen vor den Geschmacklosigkeiten der Großstadtkleidung, vererbe sich auf viele Geschlechter und lehre den Stolz auf die ‚eigene Art‘: „Die Tracht ist bodenständig, geschaffen für den Stamm, der sie trägt, geschaffen in der Landschaft, die sie beibehält.“37 Generell wird das weibliche Konsumverhalten angemahnt, denn die völkische Erziehung sei auf diesem Gebiet bislang sträflich vernachlässigt worden: „Überall deutsche Ware fordern, grundsätzlich deutsch kaufen, ist aber erste Pflicht der deutschen Käuferin.“38 Die volkswirtschaftliche Bedeutung und Aufwertung von Hausarbeit und Kaufgewohnheiten bewirke, dass sich ein starkes ‚völkisches Bewusstsein‘ in den Frauen ausbilde: „Denn das deutsche Haus läßt sich vom deutschen Land und Volk nicht trennen, die Hauszelle aus ihrer völkisch-sozialen Umwelt nicht lösen. Haus und Volk, Volk und Haus sind wechselseitig auf Gedeih und Verderb verkettet.“ 39
Dass die ‚völkischen Pflichten‘ der Mutter eindeutig in ihren reproduktiven Aufgaben zu verorten seien und dass es die Hauptaufgabe der Frau sei, den
34 35 36
37 38 39
Dies.: Völkische Frauenpflichten, S. 3. Ebd., S. 7. Allerdings machte Schirmacher keine Angaben darüber, auf welche lokale bzw. regionale Ausgestaltung von Trachten sie sich bezog. In ihrer Vorstellung war eine Tracht gleichzeitig Arbeitskleid, Hauskleid und Gesellschaftskleid. Ferner merkte sie an: „Ansätze zu einer modernen Frauentracht sind in den deutschen Moden der letzten 20 Jahre vorhanden“ (ebd., S. 9). Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14.
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Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung
Bestand des ‚deutschen Volkes‘ zu erhalten und zu mehren, ist eine Grundüberzeugung Schirmachers, die sie in zahlreichen Schriften äußert.40 Eine mögliche berufliche Ausbildung und Tätigkeit von Frauen verortete Schirmacher in ihrem völkischen Gesellschaftsentwurf neben dem ‚Hauptberuf‘ der Hausfrau und Mutter vor allem im sozialen Bereich. Aus ihrer grundlegenden Forderung, dass die deutsche Bevölkerung sich zu einem Landvolk hin zu entwickeln hätte, kreierte sie das Berufsbild der ‚Landpflegerin‘. Jede deutsche Gemeinde, so ihre Vorstellung, sollte eine beruflich geschulte Fachkraft einstellen, welche Schulpflege, Armen-, Säuglings- und Waisenpflege sowie Berufsberatung leisten und an der gesellschaftlichen Basis die Volksbildung anregen sollte. Die entsprechenden Fachkräfte hätten etwa im Rahmen des Frauendienstjahrs herangebildet werden können. Auch würden ländliche Dienstbotenschulen und ländliche Stellenvermittlungen dem Zweck dienen, geeignete Frauen in die Landgemeinden zu stellen: „Hier liegt der große sozial-völkische Frauenberuf, der durch Zusammenschluß der ländlichen Lehrkräfte, jährliche Fortbildungslehrgänge und Tagungen die Vereinsamung der Landgemeinde und der Kleinstadt aufhebt.“41
Gemessen an ihren emanzipatorisch ausgerichteten Schriften vor und kurz nach der Jahrhundertwende sind Schirmachers Ausführungen zur Bedeutung und zu den Aufgaben von Frauen im öffentlich-politischen Leben einer völkisch imaginierten Gesellschaft rückschrittlich. In der Frage nach dem aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen etwa äußerte sich die ehemals radikale Frauenrechtlerin, die seinerzeit der englischen Stimmrechtsbewegung ein ganzes Buch gewidmet hatte,42 dahingehend, dass sie die Einwände völkischer Frauenvereine gegen jedwede politische Betätigung von Frauen durchaus nachvollziehen könne. Andererseits stellte sie fest, dass sie nicht sehe, „wie die wichtigsten Frauenbelänge [sic!] und Frauenbedürfnisse anzuerkennen und zu befriedigen sind, ohne dass die Frau eine politische Macht“ ausübe.43 Insbesondere sah sie für die Zeit nach dem Krieg als bescheidene politische Forderung eine stärkere Beteiligung von Frauen am Gemeindeleben vor, maßgeblich in den Frauen-, Kinder- und Kulturbelangen. Als „tiefste Wurzel“ des Volkstums hätten Frauen im Staat vorrangig die politi40
41 42 43
So verbrämte sie etwa die Mutterschaft als das „weibliche Aequivalent für den Militärdienst des Mannes“ und als „nationale Industrie der Bevölkerung“ (vgl. dies.: Die Frauenarbeit, S. 6 und S. 8). Ebd., S. 47. Dies.: Die Suffragettes, Neuaufl., Berlin [1912] 1976. Dies.: Völkische Frauenpflichten, S. 58.
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sche Verantwortung für das „Deutschtum ihres Hauses, ihrer Kinder, ihres Landes“ sowie für das „Deutschtum unserer Auslandsposten“ zu tragen.44 Um dieser ‚völkischen Pflicht‘ gerecht werden zu können, sollten sich Frauen einer politischen Belehrung unterziehen und sich politische Kenntnisse aneignen, die für ein ‚völkisches Bewusstsein‘ unerlässlich seien – gespeist durch die Schriften Paul Anton de Lagardes,45 Heinrich von Treitschkes, Otto von Bismarcks und anderer ‚geistiger Führer‘ der ‚völkischen Selbsterkenntnis‘ und Selbstschätzung. Die Nationalisierung der Frau im Sinne einer ‚völkischen Erweckung‘ müsse ihrer Politisierung vorangehen: „Anteil am Allgemeinen ist völkische u n d politische Frauenpflicht.“46
5.5
Resümee
Als loses Konglomerat von deutschnationalen, rassistischen Vereinen und Verbänden, Gemeinschaften und Bünden versuchte die ‚völkische Bewegung‘ mit einer schier unübersehbaren Flut an Publikationen Einfluss auf die politische und kulturelle Diskussion zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zu gewinnen. Entsprechend ihrem Charakter einer heterogenen, nationalistisch-reformistischen Such-, Erneuerungs- und Protestbewegung setzte sich ihre synkretistische Weltanschauung aus verschiedensten, diffusen Versatzstücken zusammen, die sich mit Begriffen wie antisemitisch und antislawistisch, antizivilisatorisch und antiurban, sozialdarwinistisch und imperialistisch erfassen lassen. Dieses ideologische Koordinatensystem liegt auch Käthe Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchen- und Frauenbildung zu Grunde. Vor ihrem persönlichen Erfahrungshorizont zahlreicher und langjähriger Auslandsaufenthalte sowie vor der zeitgenössischen Weltkriegssituation entwickelte sie in ihren Schriften eine Weltdeutung, die von einem essentialistischen Nationsverständnis ausgehend eine vermeintliche Höherwertigkeit deutscher Kultur anderen Völkern gegenüber postulierte. Ihre aggressiv ausformulierten Fremd- und Feindbilder, vor allem mit Blick auf die polnischen und französischen Nachbarn, dienten ihr als Ab- und Ausgrenzungsfolie zur Herstellung des eigenen, kulturell homogenen, nach völkischen Vorstellungen entwickelten Gesellschaftsentwurfs. 44 45
46
Ebd., S. 71. Der Orientalist und Kulturphilosoph Paul de Lagarde (1827-1891) entwickelte in seinen Schriften u.a. abstruse Vorstellungen einer deutschen Nationalreligion, die auf aggressivem Antisemitismus basierten. Ebd., S. 76 [Hervorh. i.O.].
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Die vorgesehene Rolle von Frauen in dieser Ordnung war entscheidend für Schirmachers Ideen, Mittel und Methoden zur weiblichen Erziehung und Bildung: In erster Linie auf ihre Funktion als Gebärende des nationalen Kollektivs festgeschrieben, nahm die Körperertüchtigung in ihrem schulischen und außerschulischen Bildungsprogramm einen zentralen Stellenwert ein, mit paramilitärischen und ‚rassenhygienischen‘ ideologischen Anleihen. Die ‚völkische Erziehung‘ verfolgte den Grundsatz, leiblich und geistig gesunde, willensstarke deutsche Menschen heranzubilden, die im vermeintlichen ‚Kampf ums Dasein‘ bestehen sollten. Erziehung und Unterricht hatten Natur-, Heimat- und Vaterlandsliebe zu erzeugen sowie die Leitmotive und Werte ‚deutscher Kultur‘ zu vermitteln, insbesondere deutsche Sprache, Geschichte und Brauchtum. ‚Völkische Erziehung‘, so ein Ergebnis Uwe Puschners, integrierte volkstumsideologische, kulturnationale wie auch lebensreformerische Theoreme47 – eine Feststellung, die auch auf Käthe Schirmachers Erziehungsplan zutrifft. In der Frage nach der Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse als zentralem Element völkischer Ideologie kann festgehalten werden, dass Schirmacher eine Geschlechterordnung entwarf, die auf Gleichheit und Differenz der Geschlechter gründete. Als Deutsche sollten Männer und Frauen gemeinsam ihr ‚Volkstum‘ gegenüber dem imaginierten ‚Anderen‘ schützen, dabei aber durchaus unterschiedliche Aufgaben übernehmen. ‚Völkische Erziehung‘ hatte in Käthe Schirmachers Bildungsentwurf die Funktion, Mädchen und junge Frauen auf ihre ‚originären weiblichen Aufgaben‘ der biologischen Reproduktion, auf Dienstleistungen in der sozialen Arbeit sowie auf ihre künftige Rolle als ‚Kulturträgerinnen‘ vorzubereiten.
47
Vgl. Puschner, Uwe: Lebensreform und völkische Weltanschauung, in: Buchholz, Kai u.a. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 178.
6.
Bertha Buchwald: Kulturtransfer oder allein unter ‚Fremden‘? Eine deutsche Lehrerin in Dänemark und in Chile
Die beiden Grundannahmen des Kulturtransferkonzeptes – Identitätsvergewisserung durch Abgrenzung vom ‚Anderen‘ und Kulturaustausch durch Aneignung, Bestätigung, gegenseitiger Anerkennung – werden nun am Beispiel einer Lehrerin überprüft, die lange Zeit vor der 1871 erfolgten nationalen Einigung der Deutschen beruflich im Ausland tätig war, zunächst in Dänemark, später in Chile.1 Dabei werden wir folgenden Fragen nachgehen: Welche Motive führten Bertha Buchwald – so hieß die Lehrerin – nach Dänemark und dann auf einer Seereise rund um Kap Hoorn nach Lateinamerika? Mit welchen Erwartungen betrat sie den Boden Chiles? Wie nahm sie Menschen, Sitten und Gebräuche im Land wahr? Empfand sie Chile als ‚fremd‘, als Teil einer ‚anderen‘ Kultur? Veränderte der Kontakt mit einer als ‚anders‘ wahrgenommenen Kultur ihre Einstellung zu sich selbst, zu Land und Leuten? War die Konstruktion nationaler Identität für sie das bestimmende Moment in der Auseinandersetzung mit dem ‚Fremden‘? Welchen Eindruck von Land und Leuten vermittelte sie den Daheimgebliebenen, auf deren Drängen hin sie angeblich ihre Lebenserinnerungen niederschrieb: „Nach mannigfachen Aufforderungen, die Geschichte meines Lebens niederzuschreiben, habe ich mich entschlossen, die alten vergilbten Notizen wieder hervorzusuchen, welche eigentlich nur für mich selbst bestimmt waren als Merkzeichen der Erinnerung an eine ferne wechselvolle und arbeitsreiche Zeit. […] [V]ielleicht dienen sie einst einer lieben Großnichte oder deren Kindern als ernste Mahnung zu mutigem Ausharren in schweren Tagen und zu zufriedener, freudiger Dankbarkeit in guten Stunden.“2
Mit dieser demonstrativ zur Schau gestellten Bescheidenheit, die sich in vielen Autobiografien von Frauen findet, wurde ein Topos bedient, der zeitgenössischen Leserinnen und Lesern durchaus vertraut war. Dass Frauen aktiv 1
2
Vgl. Kleinau, Elke: Kulturtransfer oder allein unter ‚Fremden‘? Eine deutsche Lehrerin in Chile, in: Historische Mitteilungen. Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft hrsg. von Jürgen Elvert und Michael Salewski, Bd. 22, 2009, S. 271-287. Buchwald, Bertha: Erinnerungsblätter aus dem Leben einer deutschen Lehrerin, Weimar 1889, Vorwort.
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am literarischen Diskurs ihrer Zeit teilnahmen, schrieben und publizierten, war in dem sozialen Milieu, in dem Bertha Buchwald aufgewachsen war, keineswegs selbstverständlich. Die oben zitierte Eingangssequenz erfüllt demnach vornehmlich die Funktion, die selbstbewusste Teilnahme der Autorin am zeitgenössischen Diskurs zu legitimieren.
6.1
Soziale Herkunft und beruflicher Werdegang
Geboren wurde Bertha Buchwald am 16. November 1816 in Wilhelmshütte, Kreis Gandersheim als Tochter des Leiters der Berg- und Hüttenwerke. Aufgewachsen im ehemaligen Jagdschloss der Herzöge von Braunschweig, verbrachte sie eigenen Angaben zufolge eine „glückliche Kindheit“.3 Die Familie erfreute sich seit mehreren Generationen herzöglicher Patronage. Berthas Urgroßvater väterlicherseits heiratete in den Hofadel hinein, und die Herzogin Christine Luise von Braunschweig-Wolfenbüttel wurde die Patin seiner erstgeborenen Tochter, Berthas Großmutter.4 Berthas Vater hatte seine erste Frau im Kindbett verloren und war nunmehr in zweiter Ehe mit Berthas Mutter, einer Pastorentochter, verheiratet.5 Von den insgesamt elf Kindern „starben zwei bald nach der Geburt“ und ein drittes noch vor der Konfirmation.6 Die Autobiografin war eine typische ‚Vatertochter‘,7 aufgeweckt und wissbegierig. Vom Vater „wie auch vom Hauslehrer verzogen“, half sie dem Vater „beim Rechnen und mannigfachen Schreibereien seines Amtes“,8 sprach mit ihm über Gedichte und gemeinsam Gelesenes9 und streifte ansonsten in ihrer freien Zeit lieber durch Feld, Wald und Flur, als
3 4 5 6 7
8 9
Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 7. In den Autobiografien von Frauen, die im 19. Jahrhundert öffentlich wirksam wurden bzw. den Rahmen überschritten, der ihnen durch Gesellschaft und Familie gesetzt war, lässt sich in der Mehrzahl der Fälle eine intensive Vater-Tochter-Beziehung nachweisen. Vgl. Jacobi-Dittrich, Juliane: „Hausfrau, Gattin und Mutter“. Lebensläufe und Bildungsgänge von Frauen im 19. Jahrhundert, in: Brehmer, Ilse, u.a. (Hrsg.): „Wissen heißt leben …“. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1983, S. 262-281. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 7. Vgl. ebd., S. 8.
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sich wie ihre Schwestern geduldig und diszipliniert in ‚weiblichen‘ Arbeiten zu üben.10 Mit 17 Jahren verließ Bertha das ländlich gelegene Elternhaus und zog zu einer Cousine nach Blankenburg, um dort in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Danach lebte sie eine Zeitlang im Haus eines Onkels und half dort in der Hauswirtschaft und bei der Erziehung der Kinder.11 Mit 18 Jahren kehrte sie ins Elternhaus zurück, um bei den Hochzeitsvorbereitungen einer Schwester zu helfen. Bald danach erfolgte der – durch den Beruf des Vaters bedingte – Umzug der Familie Buchwald nach Karlshütte, einer Eisengießerei.12 Eine plötzlich einsetzende Krankheit des Vaters und der Verlust des väterlichen Vermögens durch einen betrügerischen Kollegen13 hatten zur Folge, dass Bertha beschloss, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Diese Entscheidung sollte sich als richtig erweisen, da der Vater kurze Zeit später verstarb. Obwohl sich Erwerbsarbeit für Töchter aus ‚gutem Hause‘ eigentlich nicht schickte, musste Bertha aufgrund der familiären Notsituation – Tod des Vaters und Verlust des Familienvermögens – eine Erwerbstätigkeit anstreben. Am Beispiel ihrer Biografie bestätigt sich einmal mehr die von James C. Albisetti aufgestellte These, dass in den besitzlosen bürgerlichen Schichten der vorzeitige Tod des Vaters, durch den die Familie häufig in finanzielle Bedrängnis geriet, einer Berufstätigkeit der Töchter förderlich war.14 Welche Berufsmöglichkeiten standen nun Bertha Buchwald, die außer Haushaltsführung und Kindererziehung im Haus eines Verwandten nichts gelernt hatte, offen? Ihre erste Anstellung fand sie 1841 als Stütze der Hausfrau in einer Hamburger Familie. Die Frau des Hauses wurde allerdings als unangenehm und rücksichtslos beschrieben, so dass Bertha sich sehr bald nach einem anderen Engagement umsah. In der Familie H. hatte sie es dann besser getroffen: Sie wurde als Gesellschafterin für die „alte liebenswürdige Großmutter“15 eingestellt, hatte ihr vorzulesen oder vorzusingen. Daneben versuchte sie, sich „in dem vornehmen Haushalte noch überall nützlich zu machen“.16 Nach dem Großen Brand von 1842, der weite Teile Hamburgs 10
11 12 13 14 15 16
Vgl. ebd., S. 7. Zur Bedeutung von Handarbeiten in der Mädchensozialisation vgl. Schmid, Pia: ‚Weibliche‘ Arbeiten – Zur Geschichte von Handarbeit, in: Hoff, Kleinau, Schmid: Gendergeschichte/n, S. 49-71. Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 10. Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. ebd., S. 27f. Vgl. Albisetti: Schooling German Girls and Women, S. 70f. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 29. Ebd., S. 29.
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zerstörte und neben Toten und Verletzten 20.000 Menschen obdachlos machte,17 kam es in der Familie zu Einquartierungen. Bertha Buchwald fühlte sich „angesichts der vielen thätigen Hände nun überflüssig“18 und bat um ihre Entlassung. Sie kam zu einer Familie im benachbarten Langenfelde, in der sie Kinder erziehen und unterrichten sollte. Obwohl sie für diese Arbeit nicht ausgebildet war, gefiel sie ihr und mit Hilfe eines alten Lehrers, Herrn Sönnichsen, wuchs sie in den „Beruf hinein und fand Gelegenheit, bei steter Anerkennung, immer mehr leisten zu können“.19 Der berufliche Werdegang Bertha Buchwalds ist für das frühe 19. Jahrhundert nicht so ungewöhnlich, wie er uns heute erscheinen mag. In den meisten deutschen Staaten war die Lehrerinnenbildung noch nicht institutionalisiert. Vereinzelt gab es Lehrerinnenseminare, aber das Gros der Lehrerinnen bereitete sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein durch Privatunterricht oder autodidaktisch auf die spätere Berufstätigkeit vor.20 Bertha Buchwald absolvierte ihre Lehrerinnenausbildung – auch das ist keineswegs ungewöhnlich – unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers in Form von training on the job. Für die Ausübung des Lehrerinnenberufs war ein Examen noch nicht in allen deutschen Staaten verbindlich vorgeschrieben. Preußen begann 1837 in der Provinz Brandenburg damit, eine Lehrerinnenprüfungsordnung durchzusetzen.21 Hamburg führte erst 1872 eine Prüfungsordnung ein.22 Als die weitgereiste Lehrerin 1861 – nach siebenjähriger Abwesenheit – nach Deutschland zurückkehrte, hatte sich bildungspolitisch einiges geändert. Um in Braunschweig unterrichten zu können, musste sie sich einer Prüfung durch den Oberbürgermeister der Stadt unterziehen. Da Buchwald fast 20 Jahre Unterrichtserfahrungen aufzuweisen hatte, empfand sie dieses „förmliche Verhör“, wie sie es nannte, als reine Schikane.23 Noch zu Lebzeiten ihres Vaters hatte Bertha Buchwald einen Freund ihres Bruders kennengelernt, zu dem sowohl sie als auch eine ihrer Schwestern sich hingezogen fühlten. Lange blieb unklar, wer die Bevorzugte unter den
17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Kopitzsch, Franklin, Tilgner, Daniel (Hrsg.): Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 188. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 30. Ebd., S. 30. Vgl. Kap. 2.1. Vgl. Albisetti, James C.: Professionalisierung von Frauen im Lehrberuf, in: Kleinau, Opitz: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, S. 191. Vgl. Kleinau: Bildung und Geschlecht, S. 207ff. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 119.
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beiden Schwestern war.24 Wie aus anderen Lehrerinnenautobiografien bekannt,25 blieb das ‚happy end‘ aus. Dr. K., der für den Unterhalt seiner verwitweten Mutter und einer Schwester aufzukommen hatte, hatte sich durch Überarbeitung ein Leiden zugezogen, an dem er frühzeitig verstarb. Den Besuch am Grab des Geliebten ließ Bertha Buchwald mit den Worten ausklingen „[…] und trug dann stille, was die Vorsehung mir wieder auferlegt hatte“.26 Sie blieb zeit ihres Lebens ledig, aber im Gegensatz zu späteren frauenbewegten Autobiografinnen, wie z.B. Helene Lange oder Gertrud Bäumer,27 die offensiv für das Lehrerinnenzölibat eintraten, präsentierte sie ihre Ehelosigkeit nicht als selbst gewählten Lebensentwurf, sondern als Schicksal, dem sie sich klaglos zu fügen hatte. Das Ledigsein wurde von ihr jedoch nicht als Makel empfunden, sonst hätte sie wohl einen Heiratsantrag, der ihr in späteren Jahren gemacht wurde, angenommen. Während ihres Aufenthaltes in Chile trug ihr ein nordamerikanischer Geschäftsmann, „ein Yankee vom reinsten Wasser“28 die Ehe an, aber die Lehrerin argwöhnte, dass es ihm vor allem ihre hervorragenden Spanischkenntnisse angetan hätten, die er gewinnbringend für seine Geschäfte habe nutzen wollen.
6.2
Zwischen deutschem und dänischem Nationalismus – als Erzieherin in Nord-Schleswig
Nach mehreren Engagements in Norddeutschland trat Bertha Buchwald im Frühjahr 1849 auf Empfehlung ihres alten Mentors Sönnichsen eine Stelle bei seinem Halbbruder Pastor A. in Nord-Schleswig an. Die Reise erfolgte in den Wirren des ersten schleswig-holsteinischen Krieges (1848-1851), in dem die deutschgesinnten Schleswig-Holsteiner mit der Unterstützung Preußens und des Deutschen Bundes für die Unabhängigkeit des Herzogtums Schleswig kämpften.29 Das Herzogtum war in Personalunion mit dem Königreich Dänemark verbunden und in seiner Bevölkerungszusammensetzung gemischt, d.h. von Deutschen, Dänen und Friesen besiedelt. Bertha Buchwald berichtet, dass die Dänen während der Kriegszeit alle „Deutschgesinnten“ 24 25 26 27 28 29
Vgl. ebd., S. 27. Vgl. z.B. Mues, Auguste: Lebens-Erinnerungen und Reise-Eindrücke einer Erzieherin, Osnabrück 1894. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 31. Vgl. Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 47. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 89. Zur schleswig-holsteinischen Frage vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Studienausgabe, Bd. 2: 1815-1848/49, München 2008, S. 399-402 und S. 742f.
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fortgejagt hätten, der friesischstämmige Pastor A. habe durch seine Rechtschaffenheit allerdings keinen Grund für eine Vertreibung geboten und daher mit seiner Familie bleiben dürfen.30 Während des Krieges hatte das Pastorat verschiedentlich Einquartierungen zu ertragen: Zunächst logierte der dänische Generalstab dort, dann wieder der deutsche.31 Zweifelsohne war Bertha Buchwald deutsch-national gesinnt. Ihre Sympathien lagen eindeutig auf Seiten der preußischen Truppen, und wenn man ihr Glauben schenken darf, die der dänischen Mädchen auch. Nach einem von preußischen Soldaten ausgerichteten Tanzvergnügen hätten die „schwerfälligeren dänischen Burschen“ ebenfalls zum Tanz geladen. Die Mädchen weigerten sich allerdings „dorthin zu kommen und als sie von unserer Pastorin nach der Ursache gefragt wurden, antworteten sie schnippisch: ‚Tausend Dank, nein, die schmucken Preußen können dann doch anders tanzen.‘“32 Diese Reaktion schien Bertha Buchwald sehr verständlich, fand sie doch die dänischen Frauen „ungleich hübscher, beweglicher und sauberer als die Männer mit ihren schweren, plumpen Holzschuhen“.33 Im Dorf waren die Mitglieder der Pastorenfamilie und Bertha Buchwald die einzigen deutschsprechenden Einwohnerinnen und Einwohner. Um den Gottesdienst verfolgen und sich mit der Dorfbevölkerung verständigen zu können, erlernte die Lehrerin die dänische Sprache. Da ihre Tage bis in den Abend hinein mit Unterricht und häuslichen Pflichten wie Weißnähen ausgefüllt waren, blieben dafür nur die Nachtstunden.34 Bertha Buchwald scheint sehr sprachbegabt gewesen zu sein: Neben Englisch und Französisch beherrschte sie innerhalb kurzer Zeit das Dänische so gut, dass sie klassische literarische Werke im Original las.35 Dass trotz dieser hervorragenden Sprachkenntnisse keine persönlichen Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung entstanden, lag nicht nur am Nationalismus als „dominante Rhetorik der Selbstbeschreibung“ der Deutschen wie auch der Dänen,36 sondern auch an der bäuerlichen Herkunft der dänischen Bevölkerung, die damit als nicht standesgemäßer Umgang ausschied.
30 31 32 33 34 35 36
Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 33. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Ebd. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 671.
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6.3
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Auf dem Weg in die ‚neue Welt‘
Sechs Jahre lang blieb Bertha Buchwald bei der Pastorenfamilie in NordSchleswig. Mit der Konfirmation der Töchter und dem Wechsel der Söhne auf das Gymnasium wurden die Dienste einer Hauslehrerin entbehrlich. Buchwald hätte gern in Deutschland, in der Nähe ihrer Geschwister – die Mutter war in der Zwischenzeit gestorben37 – eine Stelle angenommen, aber ihr Bruder Karl, der in Braunschweig als Apotheker ansässig war, vermittelte ihr ein Engagement nach Valparaiso. Die Konditionen schienen äußerst günstig zu sein: Der Arbeitgeber, ein Señor Vives, garantierte nicht nur die Übernahme der Reisekosten, sondern auch das Gehalt sollte bereits während der vier Monate dauernden Überfahrt gezahlt werden. Buchwald bewarb sich und erhielt unter ca. 40 Bewerberinnen den Zuschlag.38 Freudige Überraschung löste diese Nachricht allerdings bei ihr nicht aus, im Gegenteil:39 Eine Erzieherinnenstelle in Südamerika, verbunden mit einer langen Trennung von ihrer Familie, scheint nicht das Ziel ihrer Träume gewesen zu sein. Aber der schriftlich abgeschlossene Kontrakt, der über einen Stellvertreter Vives und den chilenischen Konsul in Hamburg abgewickelt wurde, stellte anscheinend derart attraktive Arbeitsbedingungen in Aussicht, dass die Lehrerin gar nicht in Erwägung zog, die Stellenofferte auszuschlagen und sich nach einem anderen Wirkungskreis umzusehen. In einer Zeit, in der es noch keine gesetzlich geregelten Altersgrenzen, Renten- und Pensionsansprüche für Lehrerinnen gab, war mit einer gut bezahlten Stellung im Ausland die Hoffnung verbunden, einen ‚Notgroschen‘ für die Alterssicherung zurücklegen zu können. Die Entscheidung für die Annahme des Stellenangebots wurde wohl nicht von der Lehrerin allein, sondern im Kreis der Geschwister getroffen. Hier bestätigt sich die These Jürgen Osterhammels, dass Migrationsentscheidungen häufiger in Familien als von „isolierten Einzelnen“ gefällt wurden.40 Dass die äußerst lukrativ wirkende Stelle durch ihren Bruder vermittelt wurde, machte die Zurückweisung des Angebots für Bertha Buchwald nahezu unmöglich. Obwohl die Lehrerin große „Angst und Sorge vor der Zukunft im fernen Welttheile“ äußerte,41 schienen die zugesagten Bedingungen alles aufzuwiegen: die Trennung von den Ge-
37 38 39 40 41
Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter., S. 36. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 250. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 46.
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schwistern, die lange, gefahrvolle Seereise, sogar die Zweifel an der eigenen pädagogischen Eignung und Befähigung: „Es war mir von jeher schwer geworden, regelrechten Unterricht an größere Schüler zu erteilen, ohne selbst dazu gründlich ausgebildet zu sein. Lust und Liebe zur Sache, inniges Gottvertrauen, unermüdlicher Fleiß, der ständig erbetene Rat von Kundigen und die besten Schulbücher ließen mich indeß gut weiter kommen, und noch hatte ich überall Glück mit meinen Zöglingen gehabt. Nun sollte mich das Schicksal in ein schönes, sonniges Land führen. Viel Fremdes erwartete mich da in meinem neuen Wirkungskreise, spanische Sprache, katholische Religion u.s.w., dazu 225 Piaster nebst freier Reise und nach 5 – 7 Jahren eine bedeutende Gratifikation. Das schien sehr viel – aber nun erst aufs Wasser für vier, sage vier Monate!“42
Am 29. April 1855 stach die Fregatte Nicoline von Hamburg aus in See. Neben Bertha Buchwald waren noch eine deutsche Musiklehrerin, die für ein nordamerikanisches Institut engagiert war, deren Bruder sowie zwei Bekannte aus dem dänischen Maugstrup an Bord, die im Goldland Kalifornien ihr Glück machen wollten.43 Die Schiffspassage stellt zweifelsohne einen Höhepunkt in der Erzählung Buchwalds dar. Stilistisch findet das seinen Niederschlag im Wechsel des Erzählduktus‘. Die Erzählung folgt in ihrer Struktur weitgehend dem Muster einer klassischen Autobiografie, lediglich die Überfahrt nach Chile wird in Form von Tagebuchaufzeichnungen präsentiert.44 Neben der Schilderung von Winter, Wetter, Naturerscheinungen, der Bauweise des Schiffes, Beschäftigungen und Ernährungslage an Bord zieht sich die Thematisierung von Heimweh und Angst vor der ungewissen Zukunft in einem unbekannten Land wie ein ‚roter Faden‘ durch den Text. Über den Abschied von ihrer Schwester im Hamburger Hafen ließ Buchwald verlauten: „Schluchzend und zitternd hatte sich […] meine einzige lebende Schwester von mir trennen müssen.“45 Das klingt, als sei sie selbst relativ gefasst gewesen und nur die Schwester habe mit Tränen kämpfen müssen, aber die an dieser Stelle gewählte Formulierung „meine einzige lebende Schwester“ verweist doch auf die beim damaligen Stand der Seefahrt durchaus realistische Angst, sich möglicherweise nicht wiederzusehen. Windstille, gefolgt von einem heftigen Sturm, der den Rahsegler noch auf der Elbe schwer beschädigte, verzögerte nicht nur die Weiterfahrt. Für Buchwald zo42 43 44 45
Ebd. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 43-67. Ebd., S. 44.
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gen sich auch, solange noch „heimatlich[es] Ufer“ in Sichtweite war, Trauer und Abschiedsschmerz deutlich in die Länge.46 Die Tagebuchaufzeichnungen vermitteln ein sehr anschauliches Bild von den Strapazen einer Seereise über den Atlantik und rund um Kap Hoorn, bis heute eine der gefährlichsten Schiffspassagen der Welt. Buchwald zeigte sich außerordentlich interessiert an allem, was an Bord geschah. Ihren Leserinnen und Lesern schien sie vermitteln zu wollen, dass ihre Tage ausgefüllt waren und sie trotz aller Probleme, die es im Alltag zu bewältigen gab, hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Ablenkungen jeder Art sowie intellektuelle Beschäftigungen wie Lesen oder das Verfassen eines Tagebuches galten schon früheren Seereisenden als vorbeugende Maßnahme gegen Heimweh.47 Das Gefühl scheint unterschwellig oft vorhanden gewesen zu sein, auch wenn es selten so deutlich artikuliert wurde wie in der nachfolgenden Textpassage: „Trotz all’ meines Mutes erfasst mich oft Heimweh und innige Sehnsucht nach den Geschwistern daheim, und all die tausend schönen Erinnerungen rufe ich zurück, um mich zu erheitern, aber manche Thräne [sic!] rinnt trotzdem still und ungesehen über meine gelbgebrannten Wangen!“ 48
Bertha Buchwald reiste auf Kosten ihres Arbeitgebers erster Klasse, zu den Mitreisenden zweiter Klasse und den Zwischendeck-Passagieren wurde sorgfältig der soziale Abstand gewahrt. Sie wurden als unangenehm und störend beschrieben, oft sei unter ihnen „wilder Zank und Streit“ ausgebrochen. Noch lästiger wurden sie empfunden, wenn sie „gar zu vergnüglich wurden“. Vor dem „Getöse“ eines mitreisenden Sängerchors und einer „Musikbande“ könne man nur in die Koje flüchten, schrieb die Lehrerin.49 Trotz dieser unverkennbaren sozialen Absatzbewegung blieb Bertha Buchwald bewusst, dass sie auf dieser Fahrt – obwohl auch ihr Gewitter, Sturm, Hunger, tropische Hitze, Eis und Frost nicht erspart blieben – einige Annehmlichkeiten genoss, die sie sich nie hätte leisten können, wäre sie auf eigene Rechnung nach Chile gereist. Die Zwischendeck-Passagiere hätten unendlich mehr zu leiden, notierte sie in ihrem Bordtagebuch.50 Buchwald ge46 47 48 49 50
Ebd., S. 45. Vgl. Bunke, Simon: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg, Berlin, Wien 2009, S. 409. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 60. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 57. Im Zwischendeck reisten fast ausschließlich Auswanderer und Auswanderinnen, zumeist in großen, völlig überfüllten Schlafsälen, da dies die billigste Möglich-
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hörte „zu den wenigen Glücklichen“, die weitgehend von der Seekrankheit verschont blieben,51 aber sie ängstigte sich vor „böse[n] Fieber[n]“, Piraten und Sklavenhändlern, die vor Madeira ihr Unwesen treiben sollten.52 Ende Juli, Anfang August passierte die Nicoline bei eisigen Temperaturen Kap Hoorn. Die Verpflegung an Bord verschlechterte sich zunehmend. Die Schuld daran, dass selbst die Reisenden erster Klasse Hunger und Durst litten, wurde von den Passagieren dem Kapitän zugeschrieben. In die „ewigen Streitereien“ zwischen den Kontrahenten wurde Bertha Buchwald als Vermittlerin eingeschaltet. Dabei setzte sie sich nicht nur für die Interessen ihrer Mitreisenden erster Klasse ein, sondern legte auch „ein gutes Wort“ für die „armen, schlechtbehandelten Schiffsjungen“ ein.53
6.4
Als Erzieherin in Chile
Am 21. August 1855 betrat Bertha Buchwald in Valparaiso chilenischen Boden. Der erste Kontakt mit ihrem Arbeitgeber verlief nicht günstig. Der Mann war der Lehrerin auf den ersten Blick unsympathisch, hinzu kamen sprachliche Verständigungsprobleme. Buchwald hatte zwar an Bord das Studium der spanischen Sprache mit Hilfe einer Grammatik betrieben,54 ihr aktiver Wortschatz ließ aber noch zu wünschen übrig. Da Señor Vives nur spanisch sprach, blieb die Verständigung ziemlich einsilbig. Im Haus der
51 52 53
54
keit für die Überfahrt war. In zwei Textpassagen werden Begegnungen mit großen Auswandererschiffen erwähnt (vgl. ebd., S. 51 und S. 59), auf denen die hygienischen Bedingungen derart katastrophal waren, dass 5 % der Passagiere bei der Überfahrt starben (vgl. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 230). Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 53. Ebd., S. 52. Ebd., S. 65. Obwohl Bertha Buchwald auf dem Schiff in der ersten Klasse untergebracht war, unterschied sich der ‚Komfort‘ auf einem Segler grundlegend von dem auf Dampfschiffen, die einige Jahre später in Mode kamen. Für die Rückreise im Jahr 1861 hatte Bertha Buchwald eine Überfahrt auf einem Steamer gebucht, der sie erst nach Havre de Grace (USA) und von dort aus nach Hamburg brachte. Die Unterbringung scheint zwar nicht luxuriös gewesen zu sein, aber doch gewisse Annehmlichkeiten geboten zu haben (vgl. ebd., S. 115). Die Autobiografie der Lehrerin Auguste Mues, die 18 Jahre später eine englische upper class-Familie nach Australien begleitete, berichtet dagegen von einem Leben an Bord, das dem eines Luxushotels entsprach, und zeugt damit von der rasanten technischen Entwicklung und dem wirtschaftlichen Aufschwung, von dem die großen Reedereien im ausgehenden 19. Jahrhundert profitierten (vgl. Mues: LebensErinnerungen, S. 81 ff. und S. 141ff. sowie Kap. 7.3.) Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 50.
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Familie angekommen, musste die Lehrerin zu ihrem großen Erstaunen feststellen, dass sie statt der zwei Kinder, von denen in ihrem Kontrakt die Rede war, für insgesamt sieben Kinder zuständig sein sollte.55 Als sie Señor Vives darauf ansprach, entgegnete dieser „ganz leichthin, es müsse eben ein kleiner Schreibfehler gewesen sein“.56 Die Zweifel an der Redlichkeit des Hausherrn sollten sich im Laufe des Engagements zur Gewissheit verdichten. Das der Gouvernante zugewiesene Zimmer wies weder Fensterscheiben noch Fußboden auf. Eine „eiserne Bettstelle, ein alter Tisch mit ein paar wackeligen Stühlen“ bildeten das ganze Mobiliar.57 Erst auf Drängen des französischen Hausarztes, der bei einer Erkrankung Buchwalds hinzugezogen wurde, wurde der Raum wohnlicher gestaltet.58 Der weitere Umgang mit der Familie Vives gestaltete sich schwierig. Die sprachliche Verständigung blieb ein Problem. Zuweilen dolmetschte der älteste, bereits erwachsene Sohn auf Englisch zwischen den Eltern und der Gouvernante. Die Kinder wollten partout nicht die deutsche Sprache erlernen, waren, insbesondere wenn sie sich stritten, für die Lehrerin nur schwer zu verstehen, und der Arbeitseifer und die Ausdauer ihrer „störrischen“ Zöglinge ließ insgesamt sehr zu wünschen übrig. Zudem führten die größeren Mädchen, die der ersten Ehe ihres Vaters entstammten, „fortwährend einen unsichtbaren Krieg gegen ihre Stiefmutter“, dem die Erzieherin „machtlos gegenüberstand“.59 Da die Mädchen sich nicht allein mit einem Mann im Zimmer aufhalten durften, musste Bertha Buchwald dem Religionsunterricht der Mädchen, der von einem katholischen Priester erteilt wurde, beiwohnen. Diese Aufgabe wurde von der überzeugten deutschen Protestantin, die sich vielfachen Bekehrungsversuchen ausgesetzt sah, als Zumutung empfunden.60 An den Erziehungs- und Unterrichtsmethoden im Hause Vives übte die Lehrerin scharfe Kritik. Dass biblische Geschichte durch pures Auswendiglernen, d.h. durch die „Methode gedankenlosen Nachplapperns“61 vermittelt wurde, war mit ihren didaktischen Überlegungen, die auf eigenes Nachdenken abzielten, schon nicht zu vereinbaren. Noch mehr missfiel ihr aber, dass die Kinder, wenn sie in der Kirche un-
55 56 57 58 59 60 61
Während ihres Aufenthaltes bei der Familie kamen noch zwei Nachzügler hinzu (vgl. ebd., S. 67f.). Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 71. Vgl. ebd. Ebd., S. 72.
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aufmerksam waren, von der Señora durch energische Stiche mit Stecknadeln ‚ruhig gestellt‘ wurden.62 Im November, d.h. im Sommer der südlichen Halbkugel, übersiedelte die Familie Vives auf das Landgut Orosco. Auf dem feudal organisierten Großgrundbesitz, auf dem Rinderzucht betrieben wurde,63 hatte Bertha Buchwald zusätzlich zu ihren bisherigen Aufgaben noch das Hauspersonal zu beaufsichtigen.64 Im Dezember wollte sich zu ihrem großen Kummer keine richtige Weihnachtsstimmung einstellen. Ihr fehlten „Schnee und Eis, […] Weihnachtsbaum und Lichterglanz“.65 Das Fest werde in Chile völlig anders begangen als in Europa, schrieb sie. Niemand äußere „einen Glückwunsch, keiner hat das Verlangen, andere zu erfreuen, es ist keine andere Feier als nun Tage hintereinander in der Dämmerstunde Gottesdienst“.66 Nun wurde Weihnachten in Europa sehr unterschiedlich begangen. Nur in der gefühlsmäßig aufgeladenen Stimmung, Weihnachten in der ‚Fremde‘ und unter ‚Fremden‘ verbringen zu müssen, verschmolz in der Wahrnehmung Bertha Buchwalds Europa zu einem Kontinent homogen ausgestalteter Weihnachtsbräuche.67 Ihr nächstes Weihnachtsfest verbrachte die Lehrerin in der Familie des protestantischen englischen Predigers in Valparaiso. Das war zwar ebenfalls – wie sie sich eingestehen musste – kein deutsches, aber immerhin „doch ein recht schönes Christfest“.68 Heimisch wurde Bertha Buchwald in der Familie Vives nie. In ihren Aufzeichnungen berichtete die Lehrerin von Stunden, in denen sie sich „verlassen und todestraurig fühlte und den Tod als Erlösung herbeiwünschte“.69 Im zweiten Jahr ihres Engagements steckte sie sich bei der Pflege der Kinder mit Keuchhusten an und wurde sterbenskrank. Die Schwere der Erkrankung führte sie auf „die große Überbürdung mit Arbeit“ und den „ewige[n] 62 63 64 65 66 67
68 69
Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 84f. Vgl. ebd., S. 71f. und S. 76. Ebd., S. 79. Ebd. Auch die im europäischen Ausland tätigen deutschen Lehrerinnen vermissten das traditionelle ‚deutsche‘ Weihnachten und versuchten – sofern ihre Arbeitgeber empfänglich waren – das Fest möglichst ‚deutsch‘ zu gestalten (vgl. Heerwart: Fünfzig Jahre im Dienste Fröbels, Bd. 1, S. 82). Deutsche Lehrerinnen, die auf der südlichen Seite des Globus‘ lebten, berichteten übereinstimmend, dass bei glühender Hitze und üppig wucherndem Pflanzenbewuchs keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen wollte (vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 120 und S. 122; Falkenhausen, Helene von: Ansiedlerschicksale. Elf Jahre in Deutsch-Südwestafrika 1893-1904, Berlin 1905, S. 32). Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 88. Ebd.
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Ärger mit dem Hausherrn zurück, der nicht im mindesten daran dachte, seine im Contracte gemachten Versprechungen zu erfüllen“.70 Neben der miserablen Unterkunft und der großen Kinderzahl, die es zu unterrichten galt, musste die Gouvernante noch Arbeiten wie die Beaufsichtigung des Personals übernehmen, die im Arbeitsvertrag nicht ausgehandelt worden waren. Dass 225 Piaster keineswegs ein angemessenes Salär darstellten, hatte die dänische Haushälterin der Familie der Lehrerin gleich am ersten Arbeitstag zu verstehen gegeben: Jedes Dienstmädchen im Haus verdiene mehr als sie.71 Auf Buchwalds Vorhaltungen hin hatte Señor Vives herablassend entgegnet, der in Hamburg unterzeichnete Vertrag habe nur für sie bindende Kraft, für ihn gälten in Chile andere Gesetze.72 Erbittert schrieb sie, der Mann würde „in ganz Valparaiso nicht anders als ‚der Jesuitengeneral‘ genannt“.73 Damit griff die Protestantin bereitwillig eine politische Stimmungsmache auf, die 1767 zur Vertreibung der Jesuiten aus den spanischen Kolonien geführt hatte. Die Missionsstationen der Jesuiten – Reduktionen genannt – waren Zufluchtsstätten für die Indianer, in denen sie vor der Verschleppung und Versklavung durch die Kolonisatoren sicher waren. Von Beginn an kursierten allerdings Gerüchte, dass die Jesuiten zu ihrem eigenen Vorteil die Indianer zur Ausbeutung von Goldminen anhielten, den Tribut an die spanische Krone unterschlügen und den Abfall der Kolonien von Spanien vorbereiteten. Die nie bestätigten Gerüchte gingen auf spanische und portugiesische Siedler zurück, deren Bestreben nach Landnahme und Freihandel die Reduktionen letztendlich im Weg waren.74 Als alleinstehende Frau, noch dazu als Ausländerin, konnte sich Bertha Buchwald im Streit mit ihrem Arbeitgeber kein Recht verschaffen. Dass sich die vereinbarten Vertragsbedingungen vor Ort nicht immer durchsetzen ließen, war eine Erfahrung, die viele deutsche Lehrerinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machen mussten. Schutz vor der Willkür der Arbeitgeber war eines der erklärten Ziele, das sich die um die Jahrhundertwende entstandenen deutschen Lehrerinnenvereine im Ausland auf die Fahnen geschrieben hatten. Allein unter ‚Fremden‘ musste Buchwald sich selbst helfen, und in ihrer Not griff sie zu einem „für europäische Verhältnisse un-
70 71 72 73 74
Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 90. Ebd. Vgl. Hartmann, Peter Claus: Der Jesuitenstaat in Südamerika 1609-1768, Weissenhorn 1994.
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glaublichen Mittel“.75 Señor Vives war, wie angeblich alle Chilenen, extrem abergläubisch, und Bertha Buchwald drohte nun damit, ihn nach ihrem Tod jede Nacht heimzusuchen. Dann wolle sie ihn „plagen und quälen“, da er sie aus ihrer „friedlichen Heimat gelockt“ hätte und schuld an ihrem Tod sei.76 Die Drohung half: Der Kontrakt wurde aufgelöst, und da sich die pädagogische Befähigung der Lehrerin herumgesprochen hatte, war es nicht schwer, ein neues Engagement zu finden. Buchwald nahm eine Stellung im Haus von Señor Antonio Vergara an, der zu dieser Zeit Minister des Zollwesens war. Hier bewohnte sie „ein paar hübsch eingerichtete Zimmer“, erhielt das doppelte Gehalt und „freie Wäsche“, für die sie bislang einen beträchtlichen Teil ihres Gehaltes hatte ausgeben müssen.77 Neben den beiden Töchtern des Ministers hatte sie noch drei Kinder eines reichen Kaufmanns zu unterrichten. Mit diesem geriet sie bald aneinander, weil sie seine sexuellen Avancen empört zurückwies.78 Der Umgang der Geschlechter schien oftmals den Vorstellungen der Lehrerin von Anstand und Sitte nicht zu genügen. Der Ton, der unter jungen Leuten herrsche, schrieb sie, treibe ihr, der „ehrbaren Deutschen oft die Schamröte in‘s [sic!] Gesicht“.79
6.5
Zwei Klassen von Chilenen: Indigene und Kreolen, Arme und Reiche
Auf dem Landgut der Familie Vives war Bertha Buchwald zum ersten Mal mit Angehörigen der unteren sozialen Schichten Chiles in näheren Kontakt getreten. Mit ihren Schülerinnen habe sie häufig die „Einheimischen“ aufgesucht, damit sie deren „Leben und Treiben“ kennenlerne. Diese seien immer „sehr gastfreundlich“ gewesen und hätten sich gefreut, „wenn ich mich zutraulich mit ihnen unterhielt“.80 Die Formulierung irritiert: Wer war hier wem gegenüber ‚zutraulich‘? In von Europäerinnen und Europäern verfassten Reiseberichten stellte sich die Situation in der Regel umgekehrt dar: Den Indigenen wurde ‚zutrauliches‘ Verhalten attestiert und von diesem oftmals auf ein kindliches Gemüt geschlossen. In dieser unbewussten Verkehrung zeigt sich die tiefe mentale Verunsicherung, die Buchwald in der ‚Fremde‘ 75 76 77 78 79 80
Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 91. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 98. Ebd., S. 110. Ebd., S. 80.
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erfuhr, aber die Beschreibung der Begegnung wird von der Autorin sogleich wieder ins rechte Lot gerückt. Ab und zu habe sie den Frauen, die „meisterhaft zu klöppeln“ verstünden, Spitzen abgekauft.81 Das klingt nach einer „kontrollierten Begegnung“ mit dem ‚Fremden‘ in Form von shopping, wie sie heute im touristischen Kontext üblich ist.82 Die soziale Hierarchie zwischen der bäuerlichen Landbevölkerung, die oft indigener Herkunft war, und den Kreolen, den Nachfahren der spanischen Kolonisatoren, wird im weiteren Verlauf des Textes deutlich markiert: „Man teilt die Bewohner Chiles in zwei Klassen: die Gemeinen, welche von den Indianern abstammen, sind hässlich, von bräunlicher Gesichtsfarbe mit schwarzem, steifem Haar; die Gebildeteren, die spanischer Abkunft sind, unterscheiden sich in jeder Weise vorteilhaft von ihnen, sie sind hübsch, sehr lebhaft und gewandt.“83
Die Arbeits- und Produktionsbedingungen auf der weitläufigen Estancia wurden von Buchwald ausführlich beschrieben, da sie sich eklatant von der Landwirtschaft unterschieden, wie sie in Norddeutschland, wo die Erzieherin aufgewachsen war, betrieben wurde. Ob es nun die Art der (Milch-) Viehhaltung war, die Verarbeitung von Leder zu diversen Gebrauchsgegenständen, die Weizenernte84 oder der Obst- und Gemüseanbau:85 Die Lehrerin war sich anscheinend sicher, mit diesen Themen auf das Interesse ihrer Leserinnen und Leser zu stoßen. Auch Flora und Fauna Chiles wurden ausdrücklich gewürdigt. Die naturkundlich außerordentlich interessierte Gouvernante legte sich eine Sammlung von Blumen, Käfern und Insekten zu, die sie getrocknet mit in die Heimat nehmen wollte.86 Die Beschreibungen der Menschen dagegen sind, ausgenommen die ihrer Arbeitgeber und der anwesenden Europäerinnen und Europäer, zutiefst stereotyp und von Exotismus geprägt. Insbesondere von den Damen des Hauses galt es, sich als gebildete Europäerin abzusetzen. Señora Vives wurde, ihrer spanisch-kreolischen Herkunft entsprechend, ein leidenschaftliches Temperament bescheinigt, das zu „Ausbrüchen einer wahnsinnigen Heftigkeit“ geneigt habe.87 Señora 81 82 83 84 85 86 87
Ebd. Mörth: Fremdheit, wohldosiert, S. 13. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 80f. Vgl. ebd., S. 83ff. Vgl. ebd., S. 101f. Vgl. ebd., S. 113. Einer der von Buchwald importierten Käfer war in Deutschland noch unbekannt und wurde angeblich nach ihr benannt (vgl. ebd., S. 118). Ebd., S. 94.
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Vergara wird als „gutmütig“, aber als ausgesprochen dumm beschrieben. Sie habe nicht nur keine Uhr lesen können, sondern sich auch im Umgang mit ihren Kindern ausgesprochen ungeschickt angestellt. „Fast niemals fasste sie eins ihrer Kinder an, ohne es fallen zu lassen. Sie überließ den Ammen und Wärterinnen vollständig die Sorge für ihre Kleinen, später bekam ich sie dann in die Schulstube.“88 Die einfache Landbevölkerung wurde dagegen nicht als unverwechselbare Individuen, sondern als ‚fremde‘ Masse wahrgenommen. Alle Chilenen, behauptete Buchwald, liebten „ihre Kinder sehr, ebenso auch das Vieh“.89 Die Formulierung unterstellt den Chilenen einen wenig differenzierten Gefühlshaushalt und klingt zynisch, da Buchwald zuvor beschrieben hatte, dass sich „die armen Kleinen“ aus ihren an der Decke aufgehängten Wiegen „recht oft totfallen“.90 Die Frauen wurden von der Lehrerin als anmutig und entzückend graziös empfunden, die Männer – „vom feinsten Kavalier“ bis zum „ärmsten Landmann“ – imponierten im „zwanglos überhängenden Poncho […], mächtige Sporen an den Füßen, am kunstvoll gearbeiteten Sattelzeug den nie fehlenden Lasso hängend“ als stolze Reiter.91 Selbstverständlich würden selbst die kürzesten Wege auf dem Pferderücken zurückgelegt, und die Frauen nähmen auf ihren Ausritten „[…] stets die Guitarre mit auf das Pferd, und wo sich gerade eine kleine Gesellschaft zusammenfindet, beginnt der Tanz, entweder von improvisierten Gesange oder den mollartigen Tönen ihrer Musik begleitet“.92 Die eingehende Beschreibung der Kleidung, die die Landbevölkerung trug, erinnert an die Manie, mit der heutige Touristinnen und Touristen Einheimische in ihrer alltagstauglichen, vermeintlich althergebrachten Tracht fotografieren. Dabei hat die Tracht oft eine relativ kurze Tradition: So geht z.B. der ‚traditionelle‘ Kilt der schottischen Highlander mit seinen jeweiligen Clan Tartans auf die Erfindung eines im 18. Jahrhundert lebenden englischen Industriellen zurück,93 und auch die Kleidung der indigenen Frauen Südamerikas war „das getreue Abbild der Landestrachten der Bäuerinnen von Estremadura, Andalusien und dem Baskenlande“, die den Indigenas von den spanischen Eroberern im 18. Jahrhundert
88 89 90 91 92 93
Ebd., S. 95. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 81. Ebd. Vgl. Trevor-Roper, Hugh: The Invention of Tradition. The Highland Tradition of Scotland, in: Hobsbawn, Ranger: The Invention of Tradition, S. 15-41.
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aufgezwungen wurde.94 Am 18. September, zur Feier der Unabhängigkeitserklärung Chiles, hatte Bertha Buchwald Gelegenheit, die gewandten und geschickten Reiter auf „feurigen Rossen“ bei „ritterlichen Kampfspiele[n]“ zu bewundern und dabei – ganz en passant – eine kulturkritische Spitze gegen das deutsche Bildungssystem loszulassen: „[…] kein jahrelanges Sitzen auf der Schulbank“ hindere „diese geschmeidigen Gestalten […] an der kräftigen Entwicklung und Übung ihres Körpers“.95 Sexuelles Begehren ist in den uns vorliegenden Autobiografien von Lehrerinnen kein Thema, das offensiv behandelt wird,96 aber die hier zitierte Textpassage dokumentiert doch die kaum verhehlte Faszination Buchwalds an männlicher, körperlicher Attraktivität. Am 18. September 1859, dem Unabhängigkeitstag, wurde Bertha Buchwald in Valparaiso Zeugin eines Aufstandes gegen die Regierung Manuel Montt (1851-1861). Im Hause des Ministers Vergara tätig, den sie außerordentlich schätzte, galten ihre Sympathien den Regierungstruppen, die den Aufstand mit Waffengewalt niederschlugen. Die Ursachen der Revolte verbleiben im Dunklen. Im Volk habe es gegärt, berichtete Buchwald, eine Revolution habe in der Luft gelegen. Der Präsident, der sich während seiner Regierungszeit „durch manch große, edle Handlung bewährt“ habe, habe sich Widersacher auf Seiten der Reichen zugezogen.97 Damit könnten die Großgrundbesitzer gemeint sein, die gegen die von Montt eingeleitete und durchgesetzte Bodenreform opponierten. Im weiteren Verlauf der Schilderung ist aber von „bezahlten Pöbelrotten“ die Rede und von „Frauen des Volkes“, die die Aufständischen mit Munition versorgten. Die „vornehmen, an diesem Tage mit den kostbarsten Edelsteinen geschmückten Damen“ hätten in der heiß umkämpften Matriz-Kirche „in Todesangst die Stöße und Fußtritte der Kämpfenden“ erdulden müssen.98 Im Unabhängigkeitskrieg, 94 95 96
97 98
Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents, 19. Aufl., Wuppertal 2007, S. 102. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 82. Eine Ausnahme bildet die anonym erschienene Schrift Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland, Berlin 1861. Die Selbstthematisierung der Protagonistin als schöne, verfolgte Unschuld ist aber so untypisch für eine Lehrerinnenautobiografie, dass wir mit Gudrun Wedel davon ausgehen, dass es sich hier um einen fiktionalen Text handelt. Dafür spricht auch, dass die zweite Auflage unter dem Titel Reisen und galante Erlebnisse einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal und Deutschland, Berlin 1864 herausgegeben wurde. Vgl. Wedel, Gudrun: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 22. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102.
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dessen siegreiche Parole der Nativismus war, hatten sich die Indigenen, Mestizen, aber auch die Nachfahren afrikanischer Sklavinnen und Sklaven auf Seiten der Kreolen gegen die Spanier engagiert. Die 1810 proklamierte Unabhängigkeit Chiles99 hatte aber die durch die Kolonisation geschaffene soziale und ethnische Hierarchie, die „Pigmentokratie“,100 an deren unterster Stelle die Indigenen und die Afroamerikaner/innen platziert waren, nicht verändert.101 Buchwald erlebte demnach einen Aufstand der städtischen indigenen bzw. ‚farbigen‘ Unterschichten gegen die ‚weißen‘ kreolischen Eliten, mit denen sich die Deutsche in dieser Situation – allen sonstigen Abgrenzungstendenzen zum Trotz – identifizierte. Bereits kurz nach dem Ausscheiden aus dem Dienst der Familie Vives hatte Bertha Buchwald ein Angebot erhalten, dass sie in den Süden des Landes geführt hätte. Sie hatte abgelehnt, da es bedeutet hätte, „ganz unter die Indianer zu gehen!“102 Der ferne Süden galt als der unzivilisierte Teil Chiles, dessen planmäßige Kolonisation erst gegen Ende der Regierungszeit des Präsidenten Montt eingeleitet wurde. Der andauernde Widerstand der autochtonen Bevölkerung gegen die Kolonisierung hatte die Spanier gezwungen, der indigenen Ethnie der Araukaner (heute Mapuche genannt) ein eigenständiges Territorium zuzugestehen.103 Zwar kam es immer wieder zu Eroberungsversuchen und kriegerischen Auseinandersetzungen, doch die Grenzziehung hatte bis zum Ende der Kolonialzeit Bestand. Auch das republikanische Chile hatte die Unabhängigkeit der Araukaner ausdrücklich anerkannt. 1861 kam es zu einer gewaltsamen Annexion des Siedlungsgebietes der Mapuche. Aus der Sicht Bertha Buchwalds waren aber nicht die Chilenen, sondern die ‚wilden‘ Indianer die Aggressoren. Die Indianer seien in 99
100 101 102 103
Die chilenische Bevölkerung feiert den 18. September 1810 als den Tag der Unabhängigkeit von der spanischen Krone. Buchwald gibt insofern 1810 als Gründungsjahr der Republik Chile korrekt an. In diversen Nachschlagewerken bzw. Geschichtsdarstellungen werden dagegen verschiedene Daten für den Beginn der Unabhängigkeit Chiles genannt. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass 1810 der Kampf um die Loslösung Chiles von Spanien begann, 1811 eine erste Erhebung und Unabhängigkeitsproklamation stattfand, 1813 eine Rückeroberung Chiles durch die Spanier erfolgte und die letzten militärischen Auseinandersetzungen sich bis 1817 hinzogen (vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 82; Chasteen, John Charles: Born in Blood and Fire. A Concise History of Latin America, 2nd Edition, New York, London 2006; Halperin Donghi, Tulio: Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991. Rehrmann, Norbert: Lateinamerikanische Geschichte. Kultur, Politik, Wirtschaft im Überblick, Reinbek 2005, S. 103. Vgl. Chasteen: Born in Blood and Fire, S. 102ff. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 93. Halperin Donghi: Geschichte Lateinamerikas, S. 43f.
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südchilenische Ansiedlungen eingebrochen, „sie sengten, plünderten und mordeten so fürchterlich, dass alle reicheren Einwohner fliehen mussten“.104 Diese Formulierung irritiert: Wieso mussten ‚alle reicheren Einwohner‘ fliehen? War der Konflikt gar keine Auseinandersetzung zwischen Indigenen und den Nachfahren spanischer Kolonisten, sondern zwischen Armen und Reichen? Fakt ist, dass in Chile die Armen häufig indigener Herkunft waren, aber Buchwald wollte mit ihrer Formulierung wohl eher ausdrücken, dass die Folgen dieser kriegerischen Auseinandersetzung auch für die kreolische Elite des Landes spürbar wurde. Die Familie Vergara, die sich zur Zeit des Aufstandes auf ihrem Landsitz Talagante, 22 Meilen von Valparaiso entfernt, aufhielt, bekam Einquartierung von geflüchteten Verwandten. Die „unmenschlichen Indianer“ drangen, so Buchwald, auf ihren Raubzügen „Geld, Waffen und Pferde stehlend“ auch bis Talagante vor.105 Verfolgt von chilenischen Truppen kam es in der Nähe der Estancia zu einem Gefecht, das der Lehrerin eine schlaflose Nacht bereitete: „[…] [N]ie werde ich diese Nacht mit ihrem ohrenzerreißenden Lärm vergessen; bis in mein entlegenes Schlafzimmer dröhnte das Pferdegetrappel, Schreien, Heulen, daß ich voller Angst meine gesparten paar Goldstücke versteckte.“106
Angst um ihr Leben scheint Bertha Buchwald nicht gehabt zu haben, sondern nur um ihre Ersparnisse, die ihr die Rückkehr nach Deutschland sichern sollten. Letztendlich siegte das chilenische Heer, und einer der Anführer des Aufstands wurde mitsamt seiner Familie ‚zum Verhör‘ nach Valparaiso gebracht, ein öffentlich inszeniertes Schauspiel, das sich Buchwald, begleitet von der englischen Pastorenfamilie, nicht entgehen ließ.107 Im Gegensatz zu den kolonisierten Indigenen oder Mestizen, die die Erzieherin im Norden des Landes kennengelernt und die so augenfällig ihren ‚weißen‘, europäischen Schönheitssinn beleidigt hatten, bezeichnete sie die Indianer im Süden als ‚Wilde‘.108 Sie waren die wirklich ‚Fremden‘, die als bedrohlich ‚anders‘ erlebt wurden und deren Menschsein in Frage gestellt wurde. Dass die Mapuche einen jahrhundertelangen Abwehrkampf gegen Landraub, Vertreibung und die Vernichtung ihres Volkes führten, wurde von Buchwald nicht realisiert. Im Vergleich mit den ‚rassisch Fremden‘ er104 105 106 107 108
Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 112. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 94.
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schienen die ‚weißen‘ Chilenen weniger ‚fremd‘. In einem Akt der Assimilation wurden die siegreichen chilenischen Truppen zu „unser[em] Heer“.109 Den auf drei Jahre abgeschlossenen Kontrakt mit Minister Vergara wollte Buchwald – trotz in Aussicht gestellter höherer Bezahlung – nicht verlängern. Sie zog es vor, mit einer Schwägerin der befreundeten englischen Pastorenfamilie eine kleine Privatschule zu gründen. Das Unternehmen gestaltete sich zunächst finanziell erfolgreich, obwohl Buchwald ihrer Teilhaberin jede pädagogische Kompetenz absprach und sie angeblich die Hauptlast des Unterrichts zu schultern hatte.110 Unter diesen Arbeitsbedingungen litt ihr Gesundheitszustand und vor die Wahl eines längerfristigen Kuraufenthaltes oder die Heimreise gestellt, entschied sie sich auf Anraten ihrer Brüder für die sofortige Rückkehr. Die Zielstrebigkeit, mit der Buchwald in „kürzester Zeit“ ihre Reisevorbereitungen traf,111 erweckt den Eindruck, als hätte sie nur auf diese Aufforderung gewartet, um die Rückkehr in die Heimat zu legitimieren. Weder „bekümmerte[ ]“ Schülerinnen und deren Mütter,112 noch Freunde, wie z.B. die englische Pastorenfamilie, mit der sie einen großen Teil ihrer freien Zeit verbracht hatte, vermochten sie umzustimmen. Dass die Schülerinnen und deren Mütter sie ungern scheiden sahen, davon ist im Text die Rede, aber bei Buchwald selbst ist kein Abschiedsschmerz spürbar. Enge, persönliche Beziehungen scheint sie während ihres Aufenthaltes in Chile nur zu dieser Pastorenfamilie eingegangen zu sein und diese hatten sich anscheinend mit Gründung der Privatschule und der unerfreulichen Zusammenarbeit Buchwalds mit ihrer englischen Teilhaberin deutlich abgekühlt. Für Buchwald war die Rückkehr nach Deutschland noch nicht mit der Rückkehr in die Heimat gleichzusetzen. Sie war zwar glücklich, auf „deutschem Boden angekommen“ zu sein, aber erst „dann ging‘s der Heimat zu!“ Heimat war für sie verbunden mit naturnahen Kategorien wie „grüne[n] Wiesen, üppige[n] Felder[n] und deutsche[m] Wald“ sowie ihren „geliebten, so lang entbehrten Geschwister[n]“.113 Neben der starken familiären Bindung führte Buchwald hier en passant ein neues Bildmotiv für Heimat ein:
109 110 111 112 113
Ebd., S. 112. Ebd., S. 113f. Ebd., S. 115. Ebd. Ebd., S. 117f.
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den ‚deutschen Wald‘, dem in Ina von Binzers autobiografischem Zeugnis eine ungleich prominentere Rolle zukam.114 Mit Unterstützung ihres Bruders Karl eröffnete Buchwald in Braunschweig 1861 eine Privatschule, die zunächst nur von fünf Schülerinnen besucht wurde. 1870 war die Anzahl der Schülerinnen bereits auf 50 angestiegen. Nebenbei erteilte die Lehrerin noch Privatstunden in Englisch, Französisch und Spanisch. Reisen fanden nun innerhalb Deutschlands statt: Anlässe waren freudige Ereignisse wie die Hochzeiten zahlreicher Nichten und Neffen, Kindstaufen, aber auch traurige Ereignisse, wie z.B. der Tod und die Beerdigungen sämtlicher Geschwister. Anlass zu freudigem nationalen Jubel gab 1870 der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges und die nachfolgende Einigung Deutschlands.115 Die Hoffnung, mit dem chilenischen Engagement einen ‚Notgroschen‘ für das Alter zurücklegen zu können, erfüllte sich für Bertha Buchwald nicht. Sie blieb – trotz eines von ihrem Bruder Karl und der Stadt Braunschweig gezahlten Legats – bis ins hohe Alter hinein erwerbsbedürftig und erwerbstätig.116 Dieses arbeitsreiche Leben hinterließ gesundheitliche Spuren, so dass Buchwald sich in den 1870er Jahren – das genaue Jahr ist unbekannt – zur Schließung ihrer Schule veranlasst sah. Auch Privatstunden musste sie wegen ihrer „Kränklichkeit und Gedächtnisschwäche“ absagen.117 Zeitweilig versah sie private Krankenpflegedienste, arbeitete als „Stütze und Gesellschafterin“ im Freundes- und Bekanntenkreis118 und sprang immer wieder als hilfreiche Tante im kinderreichen Haushalt ihrer Nichte Bertha ein, die mit dem bekannten Chemie-Professor und zeitweiligen Rektor der Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin August Wilhelm von Hofmann verheiratet war.119
6.6
Resümee
Während ihres gesamten Aufenthaltes im Ausland blieben Bertha Buchwald die Einwohnerinnen und Einwohner des jeweiligen Landes ‚fremd‘. In Dänemark verhinderten nationale wie soziale Barrieren sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite, dass die Lehrerin mit der einheimischen Bevöl114 115 116 117 118 119
Vgl. Kap. 8.2. Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 126. Vgl. ebd., S. 129ff. Ebd., S. 129. Ebd., S. 129f. Vgl. ebd., S. 133.
170
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kerung in näheren Kontakt kam. Im fernen Chile spielte dagegen der Nationalismus kaum eine Rolle. Indem die Zustände in der ‚neuen‘ Welt ständig mit denen im ‚alten‘ Europa verglichen wurden, konstruierte Buchwald eine vermeintlich homogene europäische Identität, die stark bürgerlich geprägt war und aus ihrer Sicht der chilenischen eindeutig überlegen war. Religiöse Differenzen wurden ausgesprochen deutlich markiert: aufgeklärter Protestantismus gegenüber abergläubischem Katholizismus. Erst die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ‚weißen‘ Kreolen und Indigenen, die als Angehörige einer ‚anderen Rasse‘ noch ‚fremder‘ erschienen, führten bei Bertha Buchwald zu einer partiellen Identifikation mit der kreolischen Elite des Landes. Ihre Auseinandersetzung mit dem ‚Anderen‘ beruht – um mit Todorov zu sprechen – auf „Egozentrismus, auf der Gleichsetzung der eigenen Werte mit den Werten allgemein“.120 Ihre eigenen Werte und Normen stellte die Lehrerin an keiner Stelle in Frage. Privat verkehrte sie fast nur mit Mitgliedern der protestantischenglischen Gemeinde in Valparaiso, d.h. mit Angehörigen des europäischen Bürgertums. Aber auch diese Kontakte scheint sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nicht weiter gepflegt zu haben, wohl aber ihre Sprachkenntnisse, durch die sie in der gebildeten Geselligkeit ihres angeheirateten Neffen zur sprachlichen Verständigung der international zusammengesetzten Gästeschar beitrug.121 Buchwalds mehrjähriger Aufenthalt in der ‚neuen‘ Welt hatte ihr zwar nicht den erhofften sorgenfreien Lebensabend erbracht, aber in ihrem erweiterten Familienkreis galt die Lehrerin als weitgereiste, sprachkundige, naturwissenschaftlich interessierte und gebildete Frau, die sich großer Wertschätzung erfreute.
120 121
Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a.M. 1985, S. 56. Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter, S. 138f. Auf diese Weise lernte Bertha Buchwald den berühmten Altertumsforscher Heinrich Schliemann sowie den Arzt, Archäologen und Politiker Rudolf Virchow kennen.
171
7.
Auguste Mues: „Man könnte vergessen, daß man nicht in England ist.“ Reise einer deutschen Erzieherin durch das Britische Empire
Am 28. Januar 1879 trat eine deutsche Lehrerin und Erzieherin eine Reise an, die sie von England aus über das Kap der guten Hoffnung nach Australien führen sollte.1 Nach zweijähriger Abwesenheit kehrte sie am 29. Januar 1881 über Ceylon, Bombay, Aden, den Suez-Kanal, Malta, Gibraltar und England zurück nach Deutschland. Wer war diese Auguste Mues, die auf dieser Fahrt den Fuß auf drei Kontinente setzte, in späteren Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Russland tätig war und am Ende ihres Berufslebens als 54-Jährige ihre Lebenserinnerungen niederschrieb, in deren Mittelpunkt ihre Reisen in die „schöne, weite Welt“ standen?2 In diesem Kapitel konzentrieren wir uns vornehmlich auf die Reisen, die innerhalb des weitläufigen britischen Kolonialreiches stattfanden, und werden dabei folgenden Fragen nachgehen: Welche Motive führten die Lehrerin nach England und von dort aus auf die Südseite des Globus‘? Mit welchen Erwartungen betrat sie den Boden Australiens? Wie nahm sie Menschen, Sitten und Gebräuche an Bord des Schiffes und in der aufblühenden englischen Kolonie wahr? Empfand sie Australien als ‚fremd‘, als Teil einer ‚anderen‘ Kultur? Veränderte der Kontakt mit einer ‚anderen Kultur‘ ihre Einstellung zu Land und Leute? Kurz: Was macht die Lektüre ihrer 1894 erschienenen Autobiografie heute noch aus kulturgeschichtlicher und bildungshistorischer Perspektive aufschlussreich?
7.1
Soziale Herkunft und beruflicher Werdegang
Geboren im Jahr 1838 als siebtes Kind auf dem landwirtschaftlichen Anwesen ihrer Eltern in der Nähe von Osnabrück verlebte Auguste Mues eigenen Angaben zufolge eine glückliche, unbeschwerte Kindheit, bevor sie den beruflichen Ausbildungsweg einer Lehrerin und Erzieherin einschlug, wie er 1
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Vgl. Kleinau, Elke: „Man könnte vergessen, daß man nicht in England ist.“ – Reise einer deutschen Erzieherin durch das Britische Empire, in: Klaas, Marcel, u.a. (Hrsg.): Kinderkultur(en), Wiesbaden 2011, S. 293-309. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 3.
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Mitte des 19. Jahrhunderts üblich war. Mit der Konfirmation galt die Schulzeit als beendet, und Auguste Mues entschied sich, gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Mutter, als Haustochter in eine Gutsbesitzerfamilie zu ziehen. Dort sollte sie alles lernen, was zur Führung einer Hauswirtschaft notwendig war und nebenbei zwei kleine Mädchen unterrichten. Mues’ Mutter war zunächst der Ansicht, dass ihre junge Tochter dieser Aufgabe noch nicht gewachsen sei. Letztendlich gaben aber wohl die Hartnäckigkeit des jungen Mädchens und die ökonomische Situation der Familie den Ausschlag für die Annahme des Stellenangebots. Schließlich wurde – im Gegensatz zu der von der Mutter favorisierten Detmolder Pension – keine Vergütung verlangt, sondern sogar ein Taschengeld von 25 Thalern in Aussicht gestellt.3 Mit der Entscheidung für dieses Stellenangebot waren – der Autorin zufolge – die Weichen für ihre zukünftige Berufstätigkeit gestellt: „Der Unterricht der liebenswürdigen, aufgeweckten Kinder machte mir so große Freude, dass dadurch der Entschluß in mir reifte, Erzieherin zu werden.“4 Sozialer Stand und Vermögen der Familie lassen sich der Autobiografie nicht eindeutig entnehmen. Der Vater der Autorin entstammte, wie einer anderen Quelle zu entnehmen ist, einer verarmten Osnabrücker Kaufmannsfamilie.5 Aus Gesundheitsgründen – so berichtete Auguste Mues – habe der Vater 1834 das landwirtschaftliche Anwesen, die Musenburg, erworben, sich mit Eifer auf die Arbeit gestürzt und große Erfolge im Obstanbau erzielt. Der Ausbau zu einer ertragreichen Milchwirtschaft wurde aber erst unter Mues’ Bruder Wilhelm in Angriff genommen.6 Dass die Familie nicht übermäßig wohlhabend war, lässt sich u.a. der Tatsache entnehmen, dass das Vorhaben des jungen Mädchens, Erzieherin zu werden, von ihren Eltern keineswegs abgelehnt, sondern nach Kräften unterstützt wurde.7 Nach Beendigung der einjährigen hauswirtschaftlichen Ausbildung und der Rückkehr ins Elternhaus besuchte Auguste Mues zwei Jahre lang die örtliche Mädchenschule, erhielt zusätzlich Privatunterricht in Pädagogik, Sprachen und Musik und sammelte erste Unterrichtserfahrungen in den un-
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Vgl. ebd., S. 30. Ebd. Vgl. Warneck, Gustav: Christiane Kähler, die erste rheinische Missionsschwester in Südafrika, Wuppertal-Barmen [1872] 4. Aufl. 1939, S. 7. Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 6f. Der zehn Jahre jüngeren Helene Lange, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Leitfigur des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung avancierte, wurde dieser Wunsch noch mit der Begründung abgeschlagen, „das habe noch niemand im Oldenburger Lande getan“. (Lange, Helene: Lebenserinnerungen, Berlin [1921] 1927, S. 88.)
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teren Klassen der von ihr besuchten Schule.8 Eine abschließende Prüfung wird nicht erwähnt. Über eine Zeitungsannonce erhielt sie dann – knapp 19-jährig – ihre erste Anstellung als Erzieherin auf einem Gutshof in Ostfriesland und war für den Unterricht von drei Kindern, zwei Jungen und einem Mädchen von sechs, neun und zehn Jahren zuständig. Trotz anfänglichem Heimweh fühlte Auguste sich in der Familie bald heimisch und blieb nicht nur – wie zunächst vereinbart – ein, sondern volle neun Jahre, bis auch der jüngste Zögling ihrem Unterricht entwachsen war.9 In dieser Familie begegnete Auguste Mues ihrer ersten und wohl auch einzigen großen Liebe, einem Vetter ihrer Arbeitgeberin. An eine gemeinsame Zukunft sei aber in Anbetracht der ungesicherten materiellen Verhältnisse des Mannes nicht zu denken gewesen. Nun war es im Bürgertum durchaus üblich, dass Liebende mit der Eheschließung einige Jahre warten mussten, bis der zukünftige Ehemann ein Einkommen erzielt hatte, das eine Familiengründung erlaubte.10 In diesem Fall scheint aber keinerlei Hoffnung auf eine aussichtsreiche berufliche Karriere bestanden zu haben, denn „[…] er war von so vielerlei Missgeschick verfolgt worden, dass er trotz allen Ringens es noch zu nichts gebracht hatte“.11 Kurze Zeit nach der Trennung sei der geliebte Mann dann verstorben. Obwohl in ihrem späteren Leben erneut „die Frage einer Heirat“ an sie herangetreten sei, habe sie doch nie „ähnliche Gefühle“ für einen anderen Mann aufbringen können.12 Ob Auguste Mues zeitweilig mit ihrem Dasein als unverheiratete Frau, in der diskriminierenden Diktion der Zeit als ‚alte Jungfer‘, haderte, ist ungewiss. In ihrer Autobiografie schrieb sie, sie sei „später ganz zufrieden“ mit ihrem Los gewesen und habe niemals ihre „verheirateten Mitschwestern beneidet, denn: ‚Ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder hat auch seine Last.‘“13 Die Ehelosigkeit wird hier nicht wie in späteren Autobiografien frauenbewegter Frauen, die offensiv für das Lehrerinnenzölibat eintraten, als selbstgewählter Lebensentwurf präsentiert,14 sondern als schicksalhafte, göttliche Fügung.
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Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 30. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. Hausen, Karin: „… eine Ulme für das schwanke Efeu“. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Frevert, Ute (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 93. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 37. Ebd. Ebd., S. 38. Vgl. Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 47.
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Ihre zweite Stelle fand Auguste Mues wiederum in einer ostfriesischen Familie, in der sie ein elfjähriges Mädchen mit einer geistigen Behinderung zu unterrichten hatte. Da das Kind kognitiv nur sehr begrenzt förderbar war, empfand die Erzieherin diese Tätigkeit als „fast nutzlos[ ]“, und sie kündigte daher – trotz guter Bezahlung – das Arbeitsverhältnis nach zwei Jahren.15 Das nächste Engagement wurde dann gezielt im Ausland gesucht. Als Begründung wird von der Autorin lediglich angeführt, sie, habe den Wunsch gehegt, „einmal einen weiteren Ausflug zu wagen.“.16 Ob dem Wunsch, in die Ferne zu ziehen, berufliche oder persönliche Motive zugrunde lagen, wird nicht weiter erörtert. Die bislang von der bildungshistorischen Forschung ausfindig gemachten Motive – z.B. die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse oder die Überfüllung des heimischen Erwerbsarbeitsmarktes – scheinen keine, zumindest keine gravierende Rolle gespielt zu haben. Vielleicht war auch eine gehörige Portion Abenteuerlust im Spiel. Im weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, dass die junge Frau die Stellensuche durchaus zielstrebig betrieb und dabei auf ein eng geknüpftes Netz von Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen zurückgreifen konnte. Sie vertraute gerade nicht, wie in der Einleitung ihrer Autobiografie vorgegeben, allein auf die Güte des Herrn. Dort präsentierte sie sich als eine Frau, die das Leben in der ‚Fremde‘ nie bewusst angestrebt habe. Reisen erscheint vielmehr als ein göttliches Privileg, dass Frauen höchst selten widerfahre, und ihr unbegreiflicherweise zuteil geworden sei: „Gott hat mir die Gunst, mich in die schöne, weite Welt zu schicken, in einem Maße erwiesen, wie es einem weiblichen Wesen wohl selten zuteil wird. Ohne daß ich es je gesucht habe, habe ich meinen Fuß auf alle fünf Welttheile [sic!] setzen dürfen. Fast wie ein Wunder erscheint es mir jetzt, und ich bin dankbar für diese Gunst. Aber immer wieder hat es mich zur Heimat zurückgezogen; und wohnen möchte ich nur da, wo ich aufgewachsen bin, wo ich jeden Stein, jeden Baum, jeden Steg kenne.“17
Mit dieser demonstrativ zur Schau gestellten Bescheidenheit wurde zunächst einmal ein Topos bedient, den zeitgenössische Leserinnen und Leser vermutlich durchschaut haben. Er sollte die Teilnahme der Autorin am literarischen Diskurs ihrer Zeit legitimieren. Dazu passt auch, dass Auguste Mues nachdrücklich versicherte, mit der Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen, bei der sie auf Briefe und Tagebuchaufzeichnungen zurückgriff, vor allem 15 16 17
Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 3.
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einem Wunsch ihrer Nichten und Neffen nachzukommen.18 Aber noch ein anderes Moment gilt es hier zu berücksichtigen. Die Autorin entstammte einer protestantischen, stark pietistisch geprägten Familie. Mues’ Onkel hatte sich – nachdem er lange Zeit in St. Petersburg gelebt hatte – 1849 in der Herrnhuter Brüdergemeine Niesky bei Görlitz niedergelassen und seine Söhne das dortige Pädagogium besuchen lassen.19 Die Töchter der Familie hatten in der 13-jährigen Auguste, die ein rechter Wildfang gewesen sein soll, eine „geradezu schwärmerische Liebe und Verehrung“ ausgelöst. Ihnen gegenüber habe sie sich ihrer „knabenhaften Manieren“ geschämt und sich vorgenommen, ihr Verhalten zu ändern.20 Ein dreiwöchentlicher Aufenthalt in Niesky anlässlich der Beerdigung von Mues’ Patentante hinterließ in dem jungen Mädchen einen nachhaltigen Eindruck.21 Eine andere Tante lebte als Missionarswitwe in Stellenbosch am Kap der guten Hoffnung. Christiane Kähler, geborene Mues (1800-1871), brachte es in der Bekehrung der ‚eingeborenen Heiden‘ zu einiger Berühmtheit. Der Missionsforscher Gustav Warneke setzte ihr mit einer Biografie ein bleibendes Denkmal.22 Bestimmte Passagen in der Mues’schen Autobiografie erinnern in Stil und Diktion an pietistisch geprägte Lebenserinnerungen. Das Leben erscheint der Autorin als eine einzige Kette glücklicher Umstände und Fügungen, die sie allein göttlicher Gnade zu verdanken habe.23 Stellten sich doch einmal Widrigkeiten ein, fand sie Trost und Kraft in dem Glauben, dass Gott allein wisse, wozu das alles gut sei.24 Eine erste Stellenofferte aus Konstantinopel wurde von den in Niesky lebenden Cousinen, die nach wie vor großen Einfluss auf die inzwischen mutterlose Auguste Mues ausübten, als zu weit entfernt verworfen. Sie vermittelten den Kontakt zu einer Familie in Kent, die für ihre drei Kinder eine deutsche Erzieherin suchte.25
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Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 11 und S. 17. Einer der prominentesten Schüler des Pädagogiums dürfte der Theologe und Pädagoge Friedrich Daniel Schleiermacher gewesen sein. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 26f. Vgl. Warneke: Christiane Kähler. Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 59. Vgl. ebd., S. 61. Vgl. ebd., S. 39f.
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7.2
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Als Erzieherin in englischen Familien: Kulturelle Differenzen und Kulturtransfer
Trotz „mehrjähriger Konversationsstunden“ erlebte Auguste Mues ihre englischen Sprachkenntnisse als äußerst unzulänglich.26 Dass in Deutschland genossener Fremdsprachenunterricht, sogar ein gutes Fremdsprachenexamen wenig über die tatsächliche Sprachfertigkeit aussagte, diese Erfahrung teilte sie mit anderen im Ausland tätigen Lehrerinnen.27 Die ersten Kontakte mit der englischen Bevölkerung gestalteten sich aber für Auguste Mues ausgesprochen positiv. Auf dem Land aufgewachsen, übten die Menschenmassen und das „Geräusch und Gewirr der alle 5 Minuten abgehenden und ankommenden Züge“ auf dem Londoner Bahnhof „etwas geradezu Sinnverwirrendes“ auf sie aus.28 Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und der Desorientierung, allgemein als ‚Kulturschock‘ bezeichnet, hielt aber nicht lange an. Eine Mitreisende nahm sich ihrer an, organisierte die Weiterfahrt nach Kent, der Schaffner übergab sie fürsorglich der Obhut eines Kollegen,29 und in der Familie Baiss, ihrem neuen Arbeitgeber, wurde die Gouvernante aufs freundlichste aufgenommen. Ihre Stellung innerhalb des großbürgerlichen Haushaltes war nicht die einer Bediensteten, sondern eher die einer guten Freundin. Das Verhältnis zu den erwachsenen Töchtern des Hauses wird sogar als ein „schwesterliches“ bezeichnet.30 Auguste Mues nahm, was nicht allgemein üblich war, die Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie ein und erhielt sogar ein „reizendes Stubenmädchen“, das für ihre persönliche Bedienung bestimmt war.31 „Meine Liebe und Verehrung für die ganze Familie wuchs je länger je mehr. Ich lebte in einer Liebesatmosphäre und hatte ein wirkliches Heimatgefühl. Freunde sagten mir später, daß ich in England keine zweite Stelle wie diese finden würde.“32
26 27
28 29 30 31 32
Ebd., S. 41. Minna Cauer (1841-1922), später eine der führenden Vertreterinnen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, berichtete Ähnliches von ihrem ersten Aufenthalt in Frankreich (vgl. Hardach-Pinke: Die Gouvernante, S. 228). Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 41. Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 41. Ebd., S. 47. Ebd., S. 44. Ebd., S. 46.
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Wie bereits beschrieben lässt sich den Lebenserinnerungen anderer deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen entnehmen, dass sie sich – trotz beruflicher Integration – aufgrund ihrer nationalen Herkunft in England häufig doch als Fremde fühlten und unter Einsamkeit und Heimweh litten. In diesen autobiografischen Schriften wird ein englischer ‚Nationalcharakter‘ konstruiert, der wenig schmeichelhaft und als Gegenpart zum deutschen ‚Nationalcharakter‘ angelegt ist. Der typische Engländer wird als steif, kalt und vornehmlich am schnöden Mammon interessiert beschrieben. Bei Auguste Mues zeigte die Kulturbegegnung ein anderes Ergebnis: Aneignung, Bestätigung, gegenseitige Anerkennung. Der ‚interkulturelle Transfer‘ erfolgte in beide Richtungen:33 Die Erzieherin machte sich sehr schnell die englische Sprache, Sitten und Gewohnheiten zu eigen und führte im Gegenzug deutsche Volks- und Weihnachtslieder und den typisch deutschen Weihnachtsbaum in die Familie Baiss ein.34 Auch wenn Mues gelegentlich Sehnsucht nach der ‚Heimat‘ überkam, so ist der von ihr verwendete Heimatbegriff doch nicht ausschließlich national bestimmt. Heimat ist zunächst einmal die Musenburg, d.h. der Ort, an dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Darüber hinaus war Heimat überall dort, wo sie liebevolle Aufnahme in einem protestantisch gesinnten Haus fand. So bezeichnete sie z.B. die Familie ihres ersten englischen Arbeitgebers, mit der sie auch nach der Beendigung des Dienstverhältnisses in engem Kontakt blieb, als ihre „englische Heimat“.35 Darüber hinaus war der Heimatbegriff für Mues stark jenseitig ausgerichtet. Als Motto stellte sie ihrer Autobiografie die dritte Strophe des Lieds Ich schließe mich aufs neue des reformierten Dichters Gerhard Terstegen (1697-1769) voran: „Ein Tag sagt es dem andern,/ Mein Leben sei ein Wandern/ Zur lichten Ewigkeit./ O Ewigkeit, du schöne,/ Mein Herz an Dich gewöhne,/ Mein Heim ist nicht in dieser Zeit.“36
Auch der Schluss der Autobiografie steht ganz im Zeichen eines transzendenten Heimwehs „nach jenen lichten Höhen, […] zur lichten Ewigkeit“,37 wo die Autorin ein Wiedersehen mit ihren verstorbenen Eltern und Geschwistern erwartete. 33 34 35 36 37
Vgl. Muhs, Paulmann, Steinmetz: Brücken über den Kanal? Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 47 und S. 50. Ebd., S. 59. Ebd., Deckblatt. Ebd., S. 211.
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Zur Entstehung des ‚englischen‘ Heimatgefühls hat wahrscheinlich auch beigetragen, dass die Familie Baiss mit ihrer Erzieherin Freud und Leid teilte. Man durchlebte miteinander schwere Zeiten, z.B. den Tod des jüngsten Kindes der Familie, das an Diabetes starb, sowie den Tod von Mues‘ Vater.38 Trost fand man im gemeinsamen Gebet. Bereits im ersten Jahr ihres Englandaufenthaltes wurde die Beziehung zwischen der Familie Baiss und ihrer Erzieherin auf eine harte Bewährungsprobe gestellt: Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 brach aus. Verhaltene patriotische Gefühle hatte Auguste Mues schon einmal anlässlich des preußisch-österreichischen Kriegs von 1866 geäußert,39 aber mit Beginn des deutsch-französischen Krieges kamen eindeutig deutsch-nationale Töne zum Tragen. Es wäre ihr, so schrieb sie, „damals unerträglich gewesen, in einer Familie zu leben, deren Sympathien nicht ganz auf deutscher Seite waren“.40 Die Erzieherin hatte Glück: Während viele Engländerinnen und Engländer pro Frankreich eingestellt waren, sympathisierte die Familie Baiss – nicht zuletzt aufgrund der freundschaftlichen Beziehungen zu Auguste Mues und ihrer Familie – mit der deutschen Kriegspartei. Erst nach dem Ende des Krieges wurde die Lehrerin in einer Damengesellschaft mit deutschlandkritischen Stimmen konfrontiert. Die anwesenden Damen empörten sich über die ungeheuren Reparationszahlungen, die das Deutsche Reich den „armen Franzosen“ auferlegt hätte, gelangten aber schließlich zu der Einsicht, dass sie sich gegenüber der deutschen Erzieherin nicht taktvoll benommen hätten, und stießen mit ihr „auf das Wohl des großen Bismarck und des edlen Kaiser Wilhelm“ an.41 Mit dem Erwachsenwerden der Zöglinge endete nach vier Jahren das Dienstverhältnis zwischen Auguste Mues und der Familie Baiss. Auf eine in einem kirchlichen Blatt geschaltete Anzeige gingen mehrere Stellenangebote ein. Auguste Mues konnte es sich leisten, wählerisch zu sein und nicht das erstbeste Angebot anzunehmen, weil deutsche Erzieherinnen zu dieser Zeit im viktorianischen England sehr gefragt waren.42 Da die Stellensuche von London aus leichter zu bewerkstelligen war, hatte die fürsorgliche Mrs. Baiss ihre ehemalige Gouvernante im Londoner Erzieherinnenheim in der Harley Street 47 eingemietet. Das Heim, das vornehmlich von Engländerinnen, aber auch von Französinnen und Deutschen frequentiert wurde, stand unter dem 38 39 40 41 42
Vgl. ebd., S. 51f. Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 57.
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Protektorat der englischen Königin und bot für 15 Schillinge die Woche eine saubere und respektable Unterkunft. Die Stimmung in dem Heim wurde von Auguste Mues als nicht sehr angenehm empfunden. Allgemeine Missgunst sei an der Tagesordnung gewesen, insbesondere gegenüber den deutschen Erzieherinnen. Die beiden zeitgleich mit ihr anwesenden Deutschen wurden aber von ihr als derart hochmütig bzw. zwanghaft beschrieben, dass in diesem Fall die Vorbehalte wohl zu Recht bestanden.43 Dem 1876 von Helene Adelmann gegründeten Verein Deutscher Lehrerinnen in England blieb es vorbehalten, ein für deutsche Lehrerinnen reserviertes Heim mit dem sinnigen Namen Daheim zu gründen und es zu einer „Heimat-Oase“44 auszugestalten. Bereits am zweiten Tag ihres Londoner Aufenthaltes gelang es Auguste Mues, eine Anstellung zu finden, die ihr zusagte und die sie in die höchsten Kreise der englischen Aristokratie führte. Diesen Erfolg führte sie nicht auf ihr Können als Erzieherin, auf gute Referenzen oder angenehme Umgangsformen zurück, sondern sie empfand es als Glück, ja als „Bevorzugung“ gegenüber anderen Erzieherinnen,45 die weitaus befähigter gewesen seien als sie. In den zwei Jahren, die Auguste Mues auf dem Landsitz Frogmore Park der Familie Fitz Roy in der Grafschaft Hampshire verbrachte, lernte sie höfische Umgangsformen, die ihr schwer fielen, die sie aber im Nachhinein nicht missen wollte: „Die Erfahrungen der in Frogmore verlebten zwei Jahre möchte ich um vieles nicht aus meinem Leben streichen. Manchen Zwang aber musste ich mir auferlegen; denn ‚Würden bringen Bürden‘. Meine Stellung als finishing Governess bei den fast erwachsenen Mädchen und in dieser Familie war nicht leicht; ich musste meine ganze Kraft zusammen nehmen.“46
Was genau empfand Mues als so belastend, dass es sie ihre ganze Kraft kostete? „Abends wurde immer große Toilette gemacht. Die Familie versammelte sich nach dem Abendessen im Salon, wo gelesen und musiziert wurde. Meine Zöglinge erschienen, auch wenn kein Besuch da war, immer in weißen Kleidern und weißen Atlasschuhen. Auch für mich war für den Salon ein Schleppkleid mit ausgeschnittener Taille unerläßlich. Viel lieber wäre ich oft gemütlich in meinem
43 44 45 46
Vgl. ebd., S. 57. Mörth: Fremdheit wohldosiert, S. 12. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 59. Ebd., S. 60.
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Zimmer geblieben. Bei manchen Gelegenheiten habe ich viel Selbstverleugnung üben müssen und, trotz aller dankenswerten Vorzüge meiner Stellung, doch oft das Joch der Dienstbarkeit empfunden, manchen moralischen Schweißtropfen vergossen. Doch erkenne ich es als eine heilsame Schule an; auch habe ich im Blick nach Oben immer wieder Kraft gefunden zu meinem verantwortlichen Amte.“47
Zum einen wird hier deutlich, dass die Gouvernante über wenig freie Zeit verfügte. Auch die Abendstunden gehörten dem Arbeitgeber. Zum ersten Mal wird die Abhängigkeit von den Wünschen Anderer thematisiert, und sie wurde rückblickend als drückend empfunden. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass der Aufwand an standesgemäßer Lebensführung das Budget der Erzieherin stark belastete. Im Vergleich mit Erzieherinnengehältern, die in Deutschland gezahlt wurden und zwischen 600 und 700 Mark lagen,48 verfügte Auguste Mues zwar über ein staatliches Einkommen in Höhe von 90 Pfund bzw. 1.800 Mark;49 davon mussten aber wohl auch die Kosten für die exquisite Abendgarderobe bestritten werden. Im gesellschaftlichen Verkehr mit den vornehmen Verwandten und Freunden des Hauses – die Familie führte ihre Abstammung auf einen unehelichen Sohn König Charles II. aus dem Hause Stuart zurück, der von seinem Vater den erblichen Adelstitel eines Herzogs von Grafton verliehen bekam50 – stellte sich die Erzieherin durchaus selbstbewusst dar. Eine ihrer aristokratischen Schülerinnen habe sie als „sehr stolz“ charakterisiert, weil sie sich nicht durch jene „Unterwürfigkeit“ auszeichne, die sie anscheinend von ihr erwartet habe.51 „Bei aller Freimütigkeit“, so Auguste Mues, „habe ich es gewiß nicht an der nötigen Bescheidenheit fehlen lassen, […] aber nie habe ich meine Menschenwürde ihnen gegenüber vergessen“.52 Die nachdrückliche Betonung, dass sie sich durch den hohen gesellschaftlichen Rang der Familie nicht habe einschüchtern lassen, verweist auf die mentale Verunsicherung der Lehrerin, die sie noch im Nachhinein mit einer gewissen Überheblichkeit zu überspielen suchte. Dazu eine kleine Szene: Im kostbar ausgestatteten Speisezimmer von 47 48 49 50
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Ebd., S. 61. Vgl. Lange: Erzieherin, S. 544. Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 65 und S. 77. Vgl. Falk, Bernard: The Royal FitzRoys. Dukes of Grafton through Four Centuries, Hutdingen 1950. Die Familie war politisch nicht ohne Einfluss. Mit Augustus FitzRoy, dem 3. Herzog von Grafton, stellte sie einen Premierminister. Augustus’ Sohn Charles amtierte zeitweilig als Gouverneur von New South Wales, sein Enkel Robert als Gouverneur von Neuseeland. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 61. Ebd.
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Frogmore House hing ein lebensgroßes Gemälde des königlichen Vorfahren, das von der bürgerlich-pietistisch geprägten Auguste Mues mit den Worten kommentiert wurde, die Fitz Roys genössen „den zweifelhaften Ruf, von ihm abzustammen“.53 Im bürgerlichen Tugendkanon war die Abstammung von einem sogenannten ‚Bastard‘, d.h. dem nichtehelichen Kind eines Aristokraten und einer nicht standesgemäßen Frau, nun einmal kein Ruhmesblatt, selbst wenn ‚königliches Blut‘ in seinen Adern floss. Das Verhältnis zur Familie gestaltete sich freundlich, war von gegenseitiger Achtung geprägt, erreichte aber nie die familiale Herzlichkeit, die die Beziehung zur Familie Baiss ausgezeichnet hatte. Diese Familie war Mues zur „englischen Heimat“ geworden.54 Dass sich dieses Heimatgefühl gegenüber der Familie Fitz Roy nicht einstellte, ist wohl dem nicht zu überbrückenden Standesunterschied zwischen Angehörigen der englischen Hoch-Aristokratie und ihrer bürgerlichen Gouvernante geschuldet. Mit dem Dienstpersonal scheint es keine Probleme gegeben zu haben. Während andere Gouvernanten oftmals über die Unverschämtheiten der Dienstboten, die ihren gesellschaftlich höheren Stand nicht anerkennen wollten, klagten, berichtete Auguste Mues, dass sie immer gut behandelt worden sei. Das Geheimnis ihres Erfolges sah sie darin, dass sie selbst immer freundlich gewesen sei, aber jeden familiären Umgang vermieden habe. Als sich eine ihrer Schülerin darüber mokierte, dass das „Fräulein“ besser bedient werde als sie selbst, gab ihr die Erzieherin den guten Rat, in Zukunft etwas weniger herrisch aufzutreten.55 Im Haus ihrer Arbeitgeber freundete sich Auguste Mues mit einer jungen deutschen Frau, einer Mrs. Hill an, der sie ihr nächstes Engagement verdanken sollte.56 Nachdem die beiden Töchter der Familie Fitz Roy in die Gesellschaft des Hofes eingeführt und Queen Victoria vorgestellt worden waren, galt ihre Erziehung als abgeschlossen. Ihre Gouvernante suchte und fand innerhalb kürzester Zeit einen neuen Wirkungskreis in der Familie Tindal, in der fünf Mädchen zu unterrichten waren. Auch hier war es ihrer Interpretation zufolge wieder göttliche Fügung und Gnade, dass ihr quasi mühelos eine Stellung in den Schoss fiel, die manche ihre Berufskolleginnen erst nach 53 54 55 56
Ebd., S. 58. Ebd., S. 60. Vgl. ebd. Mrs. Hill, eine geborene von Mumm, entstammte der berühmten Kölner Champagnerund Sektdynastie. Auf ihrer Australienreise konnte Auguste Mues sich im Hafen von Kapstadt von den internationalen Handelsbeziehungen der Firma Mumm überzeugen (vgl. ebd., S. 62, S. 75 und S. 91).
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harten Kämpfen erringen konnten.57 In dieser binationalen Familie, Mrs. Tindal entstammte einer französischen Adelsfamilie,58 wurde sie wie ein „Familienmitglied“ aufgenommen,59 doch nach vier Jahren stellte sich ein Nervenleiden ein, das Mues selbst auf langjährige Überbelastung zurückführte.60 In dieser Situation nahm sie dankbar die Einladung ihrer mittlerweile in St. Louis ansässigen Jugendfreundin Hermine Wülfing an, sie auf einer Vergnügungsreise nach Italien zu begleiten.61
7.3
Vertraute Fremde – Überall ist England
Nach dem Ende der neunwöchigen Reise kehrte die Erzieherin auf die heimatliche Musenburg zurück, wurde aber nach kurzer Zeit nach England zurückgerufen, um der frisch verwitweten Mrs. Hill Gesellschaft zu leisten.62 In dieser Zeit erreichte sie die Anfrage von Mrs. Tindal, ob sie bereit sei, die Familie für ein oder anderthalb Jahre nach Australien zu begleiten. 63 Mr. Tindal hatte als junger Mann große Ländereien in Neu-Süd-Wales günstig erworben und mit Hilfe von Aborigines roden und einfrieden lassen. Dieser Landbesitz, Ramornie genannt, diente der Nutztierhaltung. Nachdem bis 1865 nur die Häute und der Talg der geschlachteten Tiere verkauft worden waren, brachten die gestiegenen Fleischpreise in England die gebildete und geschäftstüchtige Mrs. Tindal, die als eine der ersten Frauen Europas Medizin studiert hatte,64 auf die Idee, das Fleisch der Rinder und Schafe 57 58 59 60
61 62 63 64
Vgl. ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 79. Ebd., S. 67. Zeitgenössische Mediziner diagnostizierten in einem solchen Fall Neurasthenie, wobei diese Diagnose immer dann gestellt wurde, wenn keine organischen Krankheitsursachen auszumachen waren. In der Literatur des fin de siècle wurde Neurasthenie als eine Krankheit beschrieben, die vom Leistungsdruck der modernen technischen Zivilisation herrührte. Daher waren sich die meisten Autoren, die auf diesem Gebiet publizierten, über die größere Anfälligkeit berufstätiger Frauen einig. Als besonders prädestiniert galten Telefonistinnen und – Lehrerinnen (vgl. Radkau, Joachim: Die Männer als schwaches Geschlecht. Die wilhelminische Nervosität, die Politisierung der Therapie und der missglückte Geschlechtsrollentausch, in: Kornbichler, Thomas, Maaz, Wolfgang (Hrsg.): Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung, Tübingen 1995, S. 249-293). Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 69. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 115.
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nach dem von Justus von Liebig entwickelten System in Form von Fleischextrakt und Fleischkonserven zu vermarkten. Mr. Tindal wurde von Liebig persönlich in das Verfahren eingewiesen, ließ die dafür nötigen Maschinen in England bauen und gründete auf seiner Besitzung eine Fleischfabrik, in der täglich 80 Rinder und mehrere 100 Schafe geschlachtet und verarbeitet wurden.65 Im Bewusstsein, eine solche Chance nur einmal im Leben zu erhalten, entschloss sich Auguste Mues, das Stellenangebot anzunehmen. Auch der anfängliche Widerstand ihrer Geschwister vermochte sie nicht umzustimmen.66 Welche Bedeutsamkeit Mues dieser Weltreise und dem Aufenthalt in Australien in der Retrospektive zumaß, wird bereits am Umfang und an der Positionierung dieses Kapitels in der Mitte ihrer Lebensgeschichte deutlich. Dass hier der Höhepunkt der Erzählung angelegt ist, steht außer Frage. Stilistisch findet das seinen Niederschlag im Wechsel des Erzählduktus‘. Das Kapitel besteht aus Briefauszügen, die Auguste Mues während dieser Reise geschrieben haben will. Über die Empfängerinnen und Empfänger der Schreiben schweigt sich die Autorin aus. Sollten die Briefe tatsächlich authentisch sein, dann waren sie wohl für die Mues‘schen Geschwister und nahe Freundinnen und Freunde bestimmt. Die Reise mit der Familie Tindal ermöglichte der Erzieherin einen Komfort, den sie sich als allein reisende Frau niemals hätte leisten können. Die Fahrt zum Fährhafen trat sie in einem Zugabteil erster Klasse an, die Dienerschaft – ein französischer Koch samt Ehefrau und ein deutsches Kammermädchen – war in der zweiten Klasse untergebracht.67 An Bord des Dampfschiffes John Elder erwartete die Lehrerin unerwarteter Luxus, u.a. „ein prächtiges Badezimmer mit marmornen Badewannen“, direkt daneben zur persönlichen Bedienung „die Kajüte der Stewardess“.68 Der Service an Bord war erstklassig. Ein ganzes Heer dienstbarer Geister sorgte dafür, dass täglich die Handtücher und zweimal in der Woche die Bettwäsche gewechselt wurden.69 Die Mahlzeiten waren exquisit, die Unterhaltung durch ein Opernensemble gesichert, an Bord fanden Konzerte und Bälle statt. Die erste Klasse war eine in sich abgeschlossene Welt. In einem Brief vom 5. Februar 1879 hielt Auguste Mues fest:
65 66 67 68 69
Vgl. ebd., S. 79f. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 79f. Ebd., S. 81. Vgl. ebd.
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Auguste Mues – Reise einer deutschen Erzieherin durch das Britische Empire
„Es sind liebenswürdige, hochgebildete Menschen an Bord, ich die einzige Deutsche unter lauter Engländern in der 1. Klasse. Sonst so zugeknöpft, werfen die Engländer hier alle Zurückhaltung ab. Man ist wie in einer großen Familie. Schon jetzt kenne ich fast die Lebensgeschichte Aller.“70
Die Aufgabe der als typisch englisch geltenden Zurückhaltung scheint der homogenen Zusammensetzung der Passagiere geschuldet zu sein. Als Alleinreisende hätte Auguste Mues nicht dazugehört. Sozialer Stand und Nationalität hätten sie von der englischen upper class getrennt. Durch den Anschluss an die Familie Tindal wurde sie in die soziale und nationale Gemeinschaft integriert. Von den Reisenden niederer sozialer Schichten, die zweiter oder dritter Klasse reisten, war die high society sorgfältig durch eine Barriere abgeschirmt. Auch wenn Mues nicht direkt äußerte, dass sie sich als sozialer oder nationaler Fremdkörper in der ersten Klasse empfunden habe, auffällig ist, dass sie – über die Barriere hinweg – das Gespräch mit Reisenden deutscher Nationalität in der zweiten Klasse suchte.71 Dort wäre höchstwahrscheinlich auch ihr Platz gewesen, wenn sie auf eigene Faust und auf eigene Rechnung nach Australien gereist wäre. Nicht nur an Bord, auch in dem Hotel in Sydney, in dem die Familie Tindal Zwischenstation machte, war man entre nous. Die aufstrebende englische Kolonie Australien wurde von Mues nicht als fremd empfunden, weil man glatt „vergessen [könnte], daß man nicht in England ist. Sprache, Lebensweise, Einrichtung der Häuser, Alles wie dort. – Nur die Hitze, [….] erinnert daran, dass wir auf der anderen Seite des Erdballes sind“.72 Das Einzige, was Auguste Mues beklagte, war, dass sie Weihnachten bei „üppigem Sommergrün“ und glühender Hitze feiern musste.73 Trotz ihres Eingebundenseins in die englische community wurde jeder Deutsche von Mues aufmerksam registriert und freudig begrüßt: der Wirt und der ostfriesische Kellner von Pfahlerts Hotel in Sydney, die deutsche Musikkapelle, die unter den Hotelfenstern aufspielte,74 der aus Frankfurt stammende Fotograf, den sie auf einer Ferienreise der Familie im Clarence-Distrikt traf,75 sowie der deutsche Konsul, der einige Tage in Ramornie zu Gast war.76
70 71 72 73 74 75 76
Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 122 und S. 120. Vgl. ebd., S. 95f. Vgl. ebd., S. 128. Vgl. S. 136.
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185
Von Sydney aus setzte die Familie Tindal ihre Reise mit einer mehrtägigen Flussschifffahrt fort. Bei der Ankunft in Ramornie vermerkte Mues mit Ausrufezeichen in ihrem Tagebuch, dass die Familie von „weißen und schwarzen Arbeitern!“ mit Hurrarufen empfangen wurde.77 Als Zeichen seiner philanthropischen Gesinnung fand noch Erwähnung, dass Mr. Tindal Wohnungen für die Arbeiter und eine Schule für deren Kinder hatte bauen lassen. Am Tag der Ankunft wurden Lehrer und Schüler einem Examen unterzogen, das mit dem Absingen der britischen Nationalhymne beendet wurde.78 Das weitläufige Anwesen der Familie Tindal, neben einem Wohnhaus mit „Pferdestall, Küche mit Waschhaus und Milchkeller, Wagenremise, Vorratshaus [sic!]“, Gartenanlagen und Wiesen ausgestattet, lag wohlweislich acht englische Meilen von der Fleischfabrik entfernt.79 Von den infernalischen Ausdünstungen des Schlachthofes und der fleischverarbeitenden Industrie blieben die Tindals somit – im Gegensatz zu ihren Arbeitern – verschont, und das Haus bot zudem den aus England gewohnten Komfort, z.B. das tägliche Bad und die abendliche musikalische Unterhaltung durch ein in Sydney erstandenes Klavier.80 Das Leben im „Busch“81 unterschied sich somit, was die häuslichen Bequemlichkeiten anging, wenig von dem, das die Familie in England geführt hatte. Die Beschreibungen des Alltags in Australien lassen sich als eine schier endlose Abfolge von gegenseitigen Besuchen, abenteuerlichen Ausflügen und Picknicks in malerischer Atmosphäre lesen.
7.4
Das Fremde in der Fremde – Flora, Fauna, Indigene
Fremd erschienen – neben Flora und Fauna – die Ureinwohner Australiens, die als ‚Blacks‘, ‚Neger‘, ‚Schwarze‘, ‚Wilde‘ oder ‚Aboriginer‘ bezeichnet wurden. Vor allem ihre Essgewohnheiten erregten Aufsehen: „Unterwegs sahen wir eine Gruppe ‚Eingeborener‘ (Blacks) um ein Feuer gelagert. Sie hatten eben einen Iguano geröstet (Eidechse von Meterlänge) und rissen mit den Fingern Stücke davon, um sie mit vielen Behagen zu verspeisen.“ 82
77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 101 und S. 97. Vgl. ebd., S. 79, 108, 104. Ebd., S. 77. Ebd., S. 102.
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Die ‚schwarzen‘ Ureinwohnerinnen und Ureinwohner wurden zunächst als unterhaltsame Attraktion betrachtet. Alles, was die Daheimgebliebenen amüsieren könnte, wurde von Auguste Mues brieflich notiert. Im Gegensatz zu deutschen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die die first people europäischer Kolonien als Naturvölker, d.h. als Gesellschaften ohne Kultur und Geschichte, betrachteten,83 schrieb Mues, dass die Aborigines „keine Spur von europäischer Kultur“ zeigten. Das Vorhandensein von europäischer Kultur machte sie an der Kleiderfrage fest: „Wenn sie [die ‚Eingeborenen‘] unter sich sind, tragen sie kein Stückchen Kleidung oder Verzierung. Doch dürfen sie in diesem Naturzustande sich den Besitzungen der Engländer nicht nähern. Gewöhnlich tragen sie Kleidungsstücke, die ihnen von Europäern geschenkt wurden. Zu Mrs. Tindal kamen einmal zwei schwarze Damen, die ein Kind an der Hand führten. Die eine hatte nichts als eine Krinoline an, die andere nur ein Spitzenhäubchen; und das nackte Piccaninni (Baby) hielt einen Sonnenschirm in der Hand! Der Mann der einen stak in einem Frack, der hinten statt vorn zugeknöpft war, und die langen Frackschöße baumelten vor den Knieen!“84
Kleidung und (west-)europäische Umgangsformen wurden im zeitgenössischen Diskurs als Ausdruck der Überlegenheit der westlichen Kultur gegenüber dem ‚Rest‘ der Welt gewertet.85 Die Belustigung über den von der europäischen Norm abweichenden Kleidungstil ist dieser Textpassage zwar deutlich anzumerken, aber Mues sprach den Indigenen nicht jegliche Kultur, sondern nur die europäische ab. Außerdem ist in dieser Textstelle ohne jegliche Ironie von ‚schwarzen Damen‘ die Rede und nicht – wie im deutschen Kolonialdiskurs üblich – von ‚eingeborenen Weibern‘. Der für Ramornie zuständige Pastor Greenway erwies sich als ein wahrer Kenner der Kultur und der Sprachen der Aborigines. Durch ihn fand Auguste Mues nach und nach Zugang zu ihren Sitten und Gebräuchen. Sie beschrieb in ihren Briefen die religiösen Vorstellungen und Praktiken, Initiationsrituale, die Art der sexuellen Werbung, Hochzeits- und Beerdigungspraktiken.86 Um den Daheimgebliebenen ein optisches Bild der Indigenen zu vermitteln, verglich Mues sie mit „Afrikanegern“.87 Deren Erscheinungsbild konnte die Erzieherin als be83 84 85
86 87
Vgl. Kap. 9.9. Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 111f. Vgl. Habinger, Gabriele: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006, S. 179f. Vgl. Mues, Lebens-Erinnerungen, S. 112ff. Ebd., S. 115.
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kannt voraussetzen, hatte doch die in Südafrika als Missionarin wirkende Tante Christiane Kähler sie eingehend in Briefen an Augustes Mues‘ Vater geschildert. Persönliche Kontakte zu den Aborigines wurden von Mues nicht gesucht; sie sprach mit Pastor Greenway über sie, aber nicht mit ihnen. Keine/r der ‚Eingeborenen‘ wird als einzelnes, unverwechselbares Individuum mit Namen angesprochen. Die Erzieherin nahm sie als freundliche, den ‚Weißen‘ wohlgesonnene ‚edle Wilde‘ wahr,88 aber die Verwendung dieses Terminus‘ diente in ihrem Fall nicht wie bei Rousseau der Zivilisationskritik. Dafür waren ihre Moral- und Wertvorstellungen, aber auch ihre Vorstellungen von menschlicher Schönheit, zu unreflektiert ‚weiß‘ und europäisch geprägt: „Die Frauen tragen ihre Säuglinge in einer strohgeflochtenen Tasche auf dem Rücken. Ergötzlich wars, wie wir einmal ein reizendes weißes Baby mit einem schwarzen zusammenhielten und die schwarze Mutter fragten, welches das schönere sei. Natürlich ihr eigenes! Nur schien sie sich zu wundern, wie man noch fragen könnte. Der Geschmack ist eben verschieden.“89
Mues‘ Präferenz für das ‚weiße‘ Baby ist unübersehbar, wird es doch – im Gegensatz zum ‚schwarzen‘ – als reizend bezeichnet. Der auf den ersten Blick das eigene Vorurteil relativierende Schlusssatz wirkt beim genaueren Hinsehen eher wie ein nachsichtiger Seufzer über die Uneinsichtigkeit und Unbelehrbarkeit der ‚schwarzen‘ Mutter, die die Vorherrschaft des ‚weißen‘ Schönheitsideals nicht anerkennen will. Gegen eine zivilisationskritische Sicht der Autobiografie spricht auch, dass an keiner Stelle thematisiert wird, dass es seit Beginn der britischen Kolonisation durch eingeschleppte Krankheiten, Massaker und Vertreibungen aus den angestammten Siedlungsgebieten zu einer drastischen Dezimierung der einheimischen Bevölkerung gekommen war: Zwischen 1788 und 1853 waren ca. 150.000 Sträflinge nach Australien deportiert worden. Im Zuge der Umwandlung Australiens von einer Strafkolonie zu einer Siedlungskolonie waren allein zwischen 1832 und 1842 70.000 freiwillige Einwanderer und Einwanderinnen mit finanzieller Unterstützung der britischen Regierung, philanthropischer Vereinigungen, von Handelsunternehmern und Großgrundbesitzern ins Land gekommen.90 88 89 90
Vgl. ebd. Ebd. Ab 1880 förderte die British Women‘s Emigration Association gezielt die Auswanderung von Frauen, um dem ‚Männerüberschuss‘ in Australien abzuhelfen. Vgl. Wende, Peter: Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München 2008, S. 135. Diese kolonialund bevölkerungspolitische Strategie wurde nach der Jahrhundertwende vom Frauenbund
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Im Gegenzug war die Zahl der Aborigines seit der ‚Entdeckung‘ Australiens von 750.000 auf 250.000 gesunken.91 An diesen gewaltsamen Vertreibungen, die „gelegentlich Ausmaße eines Genozids“ annahmen,92 waren insbesondere Viehzüchter beteiligt, die die Jagdgebiete der Einheimischen beanspruchten.93 Auf diesem Weg dürfte auch Mr. Tindal zu seinem Landbesitz gekommen sein. Diese Entwicklungen werden aber in der Autobiografie nicht thematisiert. Die ‚edlen Wilden‘ erscheinen als fremdartige, touristisch interessante Naturenklave. Die Begegnungen mit ihnen ähneln dem Phänomen, das die moderne Tourismusforschung als „tourist ‚bubble‘“ bezeichnet.94 Damit ist gemeint, dass sich Touristinnen und Touristen in ihrer Urlaubszeit zumeist an Orten – Clubs, Hotelanlagen oder Campingplätzen – aufhalten, „die ausschließlich für sie bestimmt sind und zu denen Einheimische nur als Bedienstete Zugang erhalten“. Von dort aus werden ‚wohldosierte‘ „kontrollierte Erkundungen der Umwelt vorgenommen“.95
7.5
Sozialer Stand, Nationalität, Ethnie
Obwohl sich das Leben in Australien für die upper class nicht gravierend von dem in England unterschied, wurde die Familie Tindal vor der Rückreise komplett neu eingekleidet. Niemand sollte sagen können, sie sähen aus wie „aus dem ‚Busch‘“.96 Da Australien bis zur Jahrhundertwende über keine nennenswerte (Textil-)Industrie verfügte,97 wurden im Mutterland gefertigte Kleidungsstücke importiert. Neben liebgewonnenen ‚Haustieren‘ wurden seltene Pflanzen, Steine, Tierbälge, -felle und -häute von Schlangen, Kängu-
91 92 93
94 95 96 97
der Deutschen Kolonialgesellschaft übernommen, um Frauen zur Auswanderung nach Deutsch-Südwestafrika zu gewinnen (vgl. Kap. 9.2). Vgl. Wende: Das Britische Empire, S. 135, S. 184 und S. 186. Ebd., S. 187. Wie in allen ‚weißen‘ Siedlungsgebieten des Britischen Empire (Nordamerika, Australien, Neuseeland) erließ die britische Regierung spezielle Gesetze zum Schutz der ‚Eingeborenen‘, die aber von den auf räumliche Expansion drängenden Siedlern und lokalen Behörden ignoriert wurden. Durch die europäischen Massenauswanderungen in die Kolonien wurden die Indigenen, sofern sie nicht kriegerischen Auseinandersetzungen oder von Europäern eingeschleppten Krankheiten zum Opfer fielen, in unwegsame und unfruchtbare Reservate abgedrängt (vgl. ebd., S. 105). Mörth: Fremdheit, wohldosiert, S. 18. Ebd. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 138. Vgl. Langenstraßen, Bodo: Die Bevölkerungsverhältnisse der Britischen Kolonialstaaten in Australien unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Einflüsse, Breslau 1912, S. 46.
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ruhs und Vögeln auf die Heimreise mitgenommen.98 In Melbourne wurde ein Abstecher in die International Exhibition unternommen. In der deutschen Abteilung zeigte Auguste Mues sich beeindruckt von „[…] überlebensgroße[n] Bildnisse[n] Kaiser Wilhelm‘s, des Kronprinzen Friedrich und Bismarck’s!“ Kulinarische Köstlichkeiten aus Österreich wie „Wiener Würstel und Lagerbier“ weckten Heimatgefühle, ebenso „ein schöner Cabinetschrank“, der von einem Osnabrücker Tischler hergestellt worden war. „Dies alles machte mir fast mehr Freunde, als die ganze übrige Ausstellung“, schrieb die Erzieherin.99 Auf dem Steamer Rosetta gewann Auguste Mues in der jungen, verwitweten und weit gereisten Comtesse de Béguelin, einer früheren Vorleserin der deutschen Kaiserin Augusta (1811-1890),100 eine angenehme Reisegefährtin. Die beiden Frauen waren die einzigen nicht-englischen Passagiere in der ersten Klasse, aber obwohl die Comtesse nur Französisch sprach, wurde im geselligen Zusammensein mit den englischen Mitreisenden eher die gemeinsame Herkunft aus der upper-class als die trennende nationale Zugehörigkeit betont. Konzerte und Bälle ließen kaum Langeweile an Bord aufkommen, trotzdem wurden Landgänge auf Ceylon und in Bombay als willkommene Abwechslung begrüßt. Ceylon sei die „entzückendste Insel, die wir je gesehen haben“.101 Das turbulente Marktgeschehen mit „unzähligen Affen, bunte[n] Vögel[n], Früchte[n], Kunstgegenstände[n] aller Art“ wurde begeistert beschrieben.102 Irritationen lösten jedoch die Singhalesen aus, weil die Europäerinnen und Europäer bei ihnen die Geschlechtszugehörigkeit nicht eindeutig erkennen konnten. Beide Geschlechter seien vollständig gleich gekleidet, auch bei der Haartracht gäbe es keine Unterschiede. Männer und Frauen seien gleichermaßen „zierliche Gestalten, von dunkelbrauner Hautfarbe“.103 In Bombay wurde ein buntes ‚Völkergemisch‘ ausgemacht, wobei ethnische und religiöse Zuschreibungen wild durcheinandergingen. Als Begleitung der Comtesse wurde Auguste Mues Zeugin einer Leichenverbrennung nach hinduistischem Ritus, einer Zeremonie, die sie sehr ergreifend fand. Der Beschreibung haftet etwas deutlich Voyeuristisches an: Da Andersgläubigen der Zutritt zum Verbrennungsplatz nicht gestattet war, vertrauten sich die beiden Damen einem Führer an, der sie halb verborgen hin98 99 100 101 102 103
Vgl. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 137f. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141f. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd.
190
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ter einer Mauer auf dem muslimischen Friedhof der Totenfeier zusehen ließ.104 Im Gegensatz zu dieser Verbrennungszeremonie löste der Bestattungsritus der Perser,105 die ihre Toten auf hohen Türmen den Geiern zum Fraß überließen, bei den Damen Abscheu und Ekel aus. Nichtsdestotrotz wurden Bau und Funktionsweise der Towers of Silence von Auguste Mues – akribisch und mit genauen technischen Details versehen – beschrieben. Auch wenn die Damen hier keiner Bestattung beiwohnen konnten, so ließ Mues doch allein der Anblick der gierig auf die nächste Leiche wartenden Raubvögel in der Nacht nicht schlafen. 106 In Bombay wurden neben dem Gouverneur von Bengalen eine Reihe hoher Offiziere mit ihren Familien an Bord der Rosetta aufgenommen. Mit dem Friedensvertrag von 1879 war der zweite britisch-afghanische Krieg beendet, und die britischen Militärangehörigen sahen ihrem nächsten Einsatz in den Zulu-Kriegen in Südafrika entgegen.107 Das Bordleben wurde durch die Offiziere sehr belebt, insbesondere Hauptmann B., ein Verwandter der Familie Fitz Roy, mit einem schier unerschöpflichen Gesangsrepertoire begabt, betätigte sich erfolgreich als Entertainer. Neben französischen und italienischen Liedern gab er eines Abends auch Die Wacht am Rhein, im Deutschen Kaiserreich die inoffizielle Nationalhymne der Deutschen, zum Besten. Da es sich um ein anti-französisches Lied handelt, hörte die Comtesse zwar höflich zu, verlangte aber im Gegenzug die Marseillaise zu hören. „Auch die sangen wir ihr zu Gefallen“.108 Mues und die Comtesse gehörten Nationen an, die vor kurzem noch Krieg miteinander geführt hatten. Die nationalen Differenzen waren auf dem europäischen Kontinent durchaus spürbar und wurden auch ausagiert.109 Auf dieser Reise traten sie aber in den Hintergrund, weil das Fremdheitsempfinden gegenüber den Kolonisierten überwog. Als Domestiken waren sie hochwillkommen, auch wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass insbesondere die indigenen Kinder wie kleine ‚Schoßhündchen‘ behandelt wurden: „Zur Bedienung am Schiffe gehören auch sechs reizende Knaben, die weiter nichts zu thun haben, als die riesigen Fächer, welche im Salon über den Speisetischen schweben, durch Ziehen an langen Korden in Bewegung zu setzen! […] 104 105 106 107 108 109
Vgl. ebd., S. 147ff. Die Perser waren einst als Eroberer ins Land gekommen und hatten unter den Mogulkaisern die Führungsschicht gestellt, bevor sie von den Briten verdrängt wurden. Vgl. ebd., S. 149f. Vgl. ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Vgl. Jeismann: Das Vaterland der Feinde.
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191
Die Fächer sind bei der Hitze eine große Wohlthat. […] Die Knaben tragen weite, rote Hosen, weiße Blousen, rote Schärpen und Turbane. Meine Mädchen verwöhnen sie ganz und schenken ihnen öfter ihr ganzes Dessert.“ 110
Die Einstellungen und Verhaltensweisen einer in der zweiten Klasse reisenden Hindufamilie wurden dagegen mit großem Befremden zur Kenntnis genommen. Beim Einnehmen ihrer Mahlzeiten dürfte man diesen Menschen nicht zu nahe kommen, berichtete Auguste Mues. Wenn „der Schatten eines Engländers“ auf ihre Speisen falle, „betrachten sie das Essen als verunreinigt!“111 Aus Sicht dieser Hindufamilie waren Europäerinnen und Europäer unrein. Diese Auffassung stellte die gewohnten hierarchischen Verhältnisse zwischen Kolonisten und Kolonisierten auf den Kopf und wirkte daher auf die anwesenden Europäerinnen und Europäer hochgradig irritierend. Auf der weiteren Reise wurden viele touristische Sehenswürdigkeiten aufgesucht, aber Auguste Mues drängte es zurück in die Heimat, in der sie hoffte, eine „goldene Zeit der Freiheit und der Unabhängigkeit“ zu gewinnen.112 Das australische Engagement hatte der gerade 42-jährigen Erzieherin finanzielle Unabhängigkeit beschert, aber die ersehnte Ruhe auf der Musenburg, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sophie ihren Lebensabend verbringen wollte, war ihr nur neun Monate lang beschieden. Mit Berta Buchwald teilte sie das Schicksal, lange Zeit als hilfreiche Tante im Dienst von Verwandten verbringen zu müssen. Der erste ihr anvertraute Zögling war die 17-jährige Julia, die älteste Tochter ihrer nach St. Louis ausgewanderten Jugendfreundin Hermine Wülfing, die in der Obhut von „Tante Auguste“ ihren Kummer über eine nicht zustande gekommene Verlobung überwinden sollte.113 Nach achtmonatiger Rekonvaleszenz stellte sich bei Julia starkes Heimweh ein, und da Auguste Mues der Freundin schon lange „freilich immer mehr im Scherz“ einen Besuch versprochen hatte,114 begleitete sie das junge Mädchen zurück in die USA. Auch diese Reise wird mit allen touristischen Höhepunkten in der Autobiografie beschrieben. Für weitere Forschungen dürften vor allem die Schilderungen des Alltagslebens in der großen deutschen community des amerikanischen Westens aufschlussreich sein.115 Vier Monate nach ihrer Rückkehr ereilte die Erzieherin ein Hilferuf ihres in St. Petersburg lebenden, verwitweten Vetters Karl. Dass sie nur ungern in 110 111 112 113 114 115
Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 139. Ebd., S. 152f. Ebd., S. 157. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd., S. 165ff.
192
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„Rußlands kalte[n] Norden“ zog, daraus machte Mues keinen Hehl, aber die engen Verwandtschaftsbeziehungen und -verpflichtungen ließen ihr – der Ledigen – letztendlich „keine andere Wahl“.116 In St. Petersburg lebte sie fast ausschließlich in einer deutschen Enklave. Das Erlernen der russischen Sprache bereitete ihr große Schwierigkeiten, was ihrer Integration in die russische Gesellschaft nicht entgegenkam. Mues führte ihr Nicht-HeimischWerden auf ihre mangelhafte Beherrschung der Sprache zurück,117 aber vielleicht fiel ihr das Erlernen der Sprache auch schwer, weil sie sich partout in Russland nicht heimisch fühlte wollte. Schon auf der Fahrt nach St. Petersburg artikulierte sie überdeutlich ihren Widerwillen: Sie rebellierte allerdings nicht gegen die ihr auferlegte Zumutung, für ihren Vetter, einen angesehenen Juristen, den Haushalt zu führen und zwei minderjährige Kinder zu erziehen, sondern projizierte ihren Unmut auf die „endlosen öden Schneeflächen und düsteren Tannenwälder“.118 Nach fast zweijährigem Aufenthalt erforderte Mues’ angegriffener Gesundheitszustand eine mehrmonatige Erholungsreise nach Deutschland. Dort reifte ihr Entschluss, nicht mehr nach St. Petersburg zurückzukehren. Dem Argument, das russische Klima gefährde dauerhaft ihre Gesundheit, vermochte Vetter Karl nichts entgegenzusetzen. Der Entschluss fiel der pflichtbewussten Auguste Mues nicht leicht, aber es wird deutlich, dass es für ledige, nicht an Ehemänner, Kinder oder pflegebedürftige Eltern gebundene Frauen fast keine anderen akzeptablen Gründe gab, sich einer solchen verwandtschaftlichen Verpflichtung zu entziehen.119
7.6
Resümee
Im Unterschied zu den deutschen Lehrerinnen in England, deren Lebenserinnerungen wir ausgewertet haben, erlebte Auguste Mues ihre Zeit als Gouvernante in verschiedenen englischen Familien nicht als ‚Fremde‘ in einem ‚fremden‘ Land. Sie adaptierte relativ rasch englische Sitten und Gebräuche und führte im Gegenzug deutsche Sitten wie deutsches ‚Liedgut‘ und deutsche Weihnachtstraditionen in die Familien ihrer Arbeitgeber ein und blieb mit ihnen – auch nach Beendigung der Arbeitsverhältnisse – freundschaftlich verbunden. Auf der Reise nach Australien, die sie quasi als Familienan116 117 118 119
Ebd., S. 179. Ebd., S. 181. Ebd., S. 180. Ebd., S. 191f.
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gehörige ihres Arbeitgebers unternahm, wurde sie in die englische community integriert. Das Leben an Bord und später in Australien war weitgehend englisch geprägt. Wohnverhältnisse, Essens- und Kleidungsgewohnheiten wurden aus merry old England in die Ferne exportiert. Lediglich Klima, Flora, Fauna sowie die ‚Eingeborenen‘, denen man begegnete, erinnerten daran, dass man sich in einem ‚fremden‘ Land befand. Nationale Differenzen zwischen Europäerinnen und Europäern konnten zurücktreten, weil als wirklich ‚fremd‘ nur diejenigen empfunden wurden, die einer anderen ‚Ethnie‘ angehörten. Auguste Mues gehörte zu den wenigen Glücklichen, denen anscheinend ein weitgehend unbeschwerter Lebensabend beschieden war.120 Krankheiten und Kummer über den Tod der Geschwister blieben nicht aus, aber das in langjährigen Engagements angesparte Geld und die freie Unterkunft in ihrem „Feierabendhäuschen“ auf der Musenburg sicherte ihr zumindest in finanzieller Hinsicht ein sorgenfreies Alter.121
120 121
Mues beendete ihre Autobiografie im Alter von 54 Jahren. Über die weiteren Lebensjahre ist nichts bekannt. Mues: Lebens-Erinnerungen, S. 3.
8.
Ina von Binzer: „[…] da wird selbst die harmloseste Seele zum Socialpolitiker.“ Eine Lehrerin in Brasilien
Migrantinnen und Migranten – unter diesem Begriff werden im heutigen Sprachgebrauch Menschen verstanden, die aus politischen oder wirtschaftlichen Motiven ihr Heimatland verlassen und in die Industrienationen des Westens einwandern. Dass auch deutsche Lehrerinnen als Migrantinnen bezeichnet werden können, diese Assoziation stellt sich nicht automatisch ein. Im 19. Jahrhundert war Deutschland aber kein Einwanderungs-, sondern ein Auswanderungsland,1 und Lehrerinnen gehörten zu denen, die in der Fremde – vorübergehend oder dauerhaft – ihr Auskommen suchten. Auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten waren sie nicht nur im benachbarten Europa, sondern auf allen fünf Kontinenten unterwegs. Sie unterrichteten Kinder in Familien oder Schulen, kamen mit ‚anderen‘ Kulturen in Kontakt und berichteten nach ihrer Rückkehr in Form von Autobiografien, Reiseberichten und anderen Ego-Dokumenten über die von ihnen in der Fremde gemachten Erfahrungen. Die Fremde konnte auf vielfältige Art und Weise erlebt werden: atemberaubend schön, exotisch, faszinierend, aber auch beängstigend unorganisiert, schmutzig, abstoßend und hässlich. Fast immer stellte sich ein Gefühl des Fremd- oder Anderssein ein, und insbesondere in Zeiten persönlicher Krisen hatten Erinnerungen an die ‚gute, alte Heimat‘ Hochkonjunktur. Welche Bedeutung Differenzsetzungen wie Heimat und Fremde in Prozessen biografischer Arbeit historischer Akteurinnen haben können, wird im Folgenden am Beispiel des 1887 erschienenen, autobiografisch inspirierten Briefromans Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien herausgearbeitet.2 Ausgehend von der Frage, wie Heimat und Fremde in diesem autobiografischen Zeugnis konstruiert werden, geht es darum, wie in einer individuellen Lebensgeschichte jeweils Identitätsbildungsprozesse, Positio-
1
2
Vgl. Bade, Klaus J., Oltmer, Jochen: Germany, in: Bade, Klaus J., u.a. (Ed.): The Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe. From the 17th Century to the Present, Cambridge 2011, S. 68ff. Vgl. Kleinau, Elke: Konstruktionen von Heimat und Fremde in autobiografischen Zeugnissen deutscher Lehrerinnen, in: Dies., Rendtorff, Barbara (Hrsg.): Eigen und anders – Beiträge aus der Geschlechterforschung und der psychoanalytischen Pädagogik, Opladen, Berlin, Toronto 2012, S. 51-64.
196
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
nierungen in sozialen Gefügen und Fremdheitserfahrungen ineinandergreifen. Die Thematisierung von Heimat und Fremde, die in dem hier ausgewählten Text ein zentrales Thema bildet, scheint ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein. So lange niemand frage, was Heimat eigentlich bedeute, gingen deutschsprachige Menschen stillschweigend davon aus, sie wüssten, wovon die Rede sei. Sobald aber jemand frage, fingen die Schwierigkeiten an, konstatiert der Literaturwissenschaftler Peter Blickle.3 Im Englischen und im Französischen gebe es keine einfache Entsprechung, weder für Heimat noch für Fremde.4 Historisch betrachtet hat die Idee der Heimat seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen Bedeutungswandel durchlaufen. Blickle zufolge trägt sie sowohl zur Entwicklung des deutschen Nationalstaats bei, sei aber zugleich Ausdruck des Unbehagens mit allem, was mit dieser Entwicklung einhergehe: entfremdetem Großstadtleben, Kapitalismus, Industrialisierung, Technologisierung, Politisierung und Nationalisierung.5 Im 19. Jahrhundert diente der Heimatbegriff zunehmend dazu, „einen Konsens innerhalb von Gemeinschaften zu beschwören, die real eher durch das Anwachsen von Differenzen und Konflikten gekennzeichnet waren“.6 Spätestens mit den großen Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika, mit der Entstehung der sozialen Frage und der Frauenfrage wurde das „Verlassen bisher selbstverständlicher ‚Heimatwelten‘“7 in Deutschland zum Thema individueller wie kollektiver Selbstvergewisserung. Raumgebundene Erfahrungen traten dabei in den Hintergrund zugunsten einer Verbindung von Heimat mit Identitätsfragen, mit ‚heiler‘ Natur, Sprache, genauer gesagt: mit Dialekt, ‚unschuldiger‘ Kindheit und – aus Sicht männlicher Autoren – mit bürgerlichen Weiblichkeits- und Mütterlichkeitskonstruktionen. Thematisiert wurde Heimat von denjenigen, die sich heimatlos fühlten, die unter dem Verlust der Heimat, litten. Heimatlosigkeit kann somit in Anlehnung an Blickle als ein forcierter Individualisierungsprozess begriffen werden, „whereas having a Heimat is the permission to remain asleep in a disindivi3 4
5 6 7
Vgl. Blickle, Peter: Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, Rochester, New York, Woodbridge, UK 2002, S. 2. Vgl. ebd., S. 2 und S. 17. In vielen slawischen Sprachen existieren Äquivalente, deren Bedeutungsunterschiede Blickle am Beispiel des russischen Begriffs rodina herausarbeitet. Rodina stehe für eine mythische, übersexualisierte Mutter-Sohn-Beziehung (vgl. ebd., S. 2). Vgl. ebd., S. 47f. Mitzscherlich, Beate: „Heimat ist etwas, was ich mache“. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung, Pfaffenweiler 1997, S. 44. Ebd.
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
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dualizing world“.8 Geht man von der These aus, dass im Ausland tätige Lehrerinnen einem deutlich sichtbareren Individualisierungsprozess unterlagen als ihre daheim gebliebenen Geschlechtsgenossinnen, weil sie durch ihre hohe geografische Mobilität aus den bürgerlichen Frauen vorgegebenen Rollenzuschreibungen herausfielen, dann müssten sie in ihren autobiografischen Aufzeichnungen verstärkt Fragen nach ihrem individuellen Selbstverständnis aufgeworfen haben. Dieses Verständnis von Heimatlosigkeit als Ausgangspunkt für zunehmende Individualisierung gilt es am Beispiel der in Brasilien tätigen Lehrerin Ina von Binzer zu überprüfen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt, dass Heimatkonstruktionen in Texten von Autorinnen noch ein gravierendes Forschungsdesiderat darstellen.9
8.1
Biografisches und zur Wahl des Genres
Was die soziale Herkunft und den beruflichen Werdegang Ina von Binzers angeht, so sind die biografischen Angaben keineswegs gesichert. Verschiedene Autorinnen und Autoren, wie der in Brasilien tätige Literaturwissenschaftler Christoph Schamm, die US-Amerikanerin June Edith Hahner und Ray-Güde Mertin, die Herausgeberin der zweisprachigen Neuausgabe von Leid und Freud einer deutschen Erzieherin in Brasilien,10 vermitteln zwar biografische Informationen, leider jedoch ohne jeden Quellenbeleg. Weitergehende Recherchen ergaben, dass die Angaben fast alle auf das Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten11 zurückgehen, aber auch dort wird auf jeden Quellenbeleg verzichtet. Dem Lexikon zufolge wurde Ina von Binzer am 3. Dezember 1856 in Brunstorff in Schleswig-Holstein geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins, später zog die Fa-
8 9 10
11
Blickle: Heimat, S. 68. Vgl. ebd., S. 96ff. Vgl. Schamm, Christoph: Kulturschock in Brasilien. Eine Studie zur Interkulturalität in Ina von Binzers Briefroman Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien (1887), in: Revista Contingenta, 3 (2008) 1, S. 27; Hahner, June Edith (Ed.): Women through Women‘s Eyes. Latin American Women in Nineteenth-Century Travel Accounts, Wilmington 1998, S. 119-121; Mertin, Ray-Güde: „Nicht gar so starr germanisch“, in: Binzer, Ina von: Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien. Alegrias e tristezas de uma educadora alemã no Brasil, Frankfurt a.M. 1994, S. 260. Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, bearbeitet von Franz Brümmer, Bd. 1, 6. Aufl., Leipzig (o.J.), S. 185f.
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milie ins sauerländische Arnsberg.12 Der autobiografisch inspirierte Briefroman Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien setzt 1881 mit der Ankunft der Lehrerin in Brasilien ein. Im Text finden sich verstreut einzelne Hinweise auf die familiale Herkunft und frühere Aufenthaltsorte der Protagonistin, wobei die Grenzen zwischen Authentizität und Fiktion nicht immer leicht auszumachen sind. Ulla von Eck, das fiktive und zugleich autobiografische Alter Ego Ina von Binzers,13 bezeichnet sich selbst als „Forstmannskind“,14 dem die großen Buchenwälder Holsteins und Westfalens in lebhafter Erinnerung geblieben sind. Ihre schulische Ausbildung soll Ina von Binzer in einem Bonner Internat abgeschlossen haben. Im Gegensatz zu älteren Kolleginnen, die sich autodidaktisch oder durch Privatunterricht auf ihre spätere Berufstätigkeit vorbereiteten,15 absolvierte Ina von Binzer bereits eine seminaristische Ausbildung. Ihr Lehrerinnenexamen soll sie in Soest abgelegt haben.16 Im Briefroman bezieht sie sich mehrfach auf eine gemeinsam mit der Adressatin, einer Jugendfreundin namens Grete, verbrachte Seminarzeit und dort vermittelte Erziehungslehren,17 die allerdings bei brasilianischen Zöglingen so gar nicht fruchten wollten. Als örtlicher Bezugspunkt wird in den Briefen allerdings nicht Soest, sondern mehrmals Berlin genannt.18 In den Jahren 1881-1884 war Ulla von Eck als Gouvernante in verschiedenen Familien wohlhabender Kaffee- und Zuckerplantagenbesitzer tätig; zwischenzeitlich arbeitete sie kurze Zeit in einer Mädchenschule in Rio de Janeiro und als Gouvernante in einer Familie in São Paulo. Die Erstveröffentlichung von Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien erfolgte 1887. 1956 erschien die erste brasilianische Übersetzung, die ver12 13 14 15
16 17
18
Vgl. Mertin: „Nicht gar so starr germanisch“, S. 260; Wedel: Autobiographien von Frauen, S. 93. Vgl. Schamm: Kulturschock in Brasilien, S. 27. Binzer, Ina von: Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien, Berlin 1887, S. 150. Vgl. Buchwald: Erinnerungsblätter; Mues: Lebens-Erinnerungen; Kleinau, Elke: Klasse, Nation und „Rasse“ – Intersektionelle Perspektiven in der genderorientierten Historischen Bildungsforschung, in: Der pädagogische Blick. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis in pädagogischen Berufen, 18 (2010) 2, S. 68-81. Vgl. Mertin: „Nicht gar so starr germanisch“, S. 260. Vgl. Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 21, S. 91, S. 94 und S. 143. (Zur Passung bzw. Nichtpassung deutscher Erziehungslehren im brasilianischen Alltag vgl. Kleinau, Elke: „Ich glaube, ich bin wirklich eine ganz miserable Lehrerin!“ Pädagogische Szenen aus dem Alltag einer deutschen Lehrerin in Brasilien, in: Ketelhut, Klemens, Lau, Dayana (Hrsg.): Erziehungsgeschichte/n. Kindheiten – Selbstzeugnisse – Reflexionen, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 103-118). Vgl. ebd., S. 211.
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schiedentlich wieder neu aufgelegt wurde.19 Auf dem brasilianischen Markt lösten der Text und seine Autorin vielfach „antiimperialistische Beißreflexe“ aus,20 setzte sich doch Ina von Binzer ausgesprochen kritisch und keineswegs immer vorurteilsfrei mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im zweiten brasilianischen Kaiserreich auseinander. Spätestens mit dem Einzug des cultural turn in den Kulturwissenschaften wurde ihre Rehabilitierung vom Image einer „typisch voreingenommen[n] Bürgerin des primeiro mundo mit rassistischer Tendenz“21 eingeleitet und ihr bisweilen hartes Urteil über Land und Leute im Sinne eines ‚Kulturschocks‘ gedeutet.22 Auf dem deutschen Markt ist der Briefroman seit 1994 in einer zweisprachigen Neuausgabe erhältlich. Die Wahl des Genres ist wohl nicht zufällig erfolgt. Reiseberichte setzten sich im 19. Jahrhundert zunehmend dem Verdacht aus, es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen. Die Briefform stand dagegen in dem Ruf, für Authentizität und Glaubwürdigkeit zu bürgen. Mit ihrer Erzählstrategie23 bezog die Schreiberin die Leserinnen und Leser unmittelbar in das Geschehen mit ein. Sie waren sozusagen live dabei, wie die folgende Schilderung Ulla von Ecks aus dem Badeort Santos zeigt: „Ich sage Dir, dies Haus ist furchtbar poetisch – verzeih‘, ich muß erst diese Wespe vertreiben … also, was ich sagen wollte: das reine Idyll! Draußen rauschen und branden die Wogen – Donner und Doria, das ist heute die fünfte handgroße Spinne! – und die Sonne funkelt darauf und macht sie – schon wieder eine Fliege im Tintenfaß? – glitzern wie Silber. Der Garten ist ein wenig vernachlässigt, aber gerade darum um so roma... na, da sehe ich eben, daß mir die Baraten auch meine neue Schreibmappe schon angefressen haben! – romantischer. Reizend ist es, wenn wir die Schiffe so von weitem hereinkommen sehen – o diese Mosquiten, verzeih den Klex – und die vorhandenen Operngläser wandern, wenn ein großes Fahrzeug in Sicht ist, auch immer sofort heraus, um die Nationalität zu bestimmen. – Ach, ich Ärmste, da wimmelt‘s auf dem Tisch vor mir von Ameisen! Warum habe ich auch den Zucker stehen lassen! Nun heißt‘s erst Pause und Ameisenjagd ...“24
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24
Vgl. Wedel: Autobiographien von Frauen, S. 93. Schamm: Kulturschock in Brasilien, S. 27. Ebd. Vgl. ebd. Zu Erzähl- bzw. Beglaubigungsstrategien in Reiseberichten vgl. Siebert: Grenzlinien, S. 44ff. sowie Gippert, Wolfgang: Abwehr – Annäherung – Aneignung. Fremdheitskonstruktionen und Kulturtransfer in Frauenreiseschriften, in: Kleinau, Rendtorff: Eigen und anders, S. 35-50. Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 173.
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Aus dieser Passage geht bereits hervor, was den Text heute noch lesenswert macht. Als aufmerksame Beobachterin ihrer soziokulturellen Umwelt hält Ulla von Eck alles fest, was ihr fremd, neu und ungewohnt erscheint. Sie schreibt witzig, ironisch, durchaus selbstreflektiert und nimmt sich und ihre anfänglich naiven Vorstellungen von Land und Leuten häufig genug selbst ‚aufs Korn‘. Häufig eingestreute literarische Anspielungen zeugen von ihrer Belesenheit. Die oben zitierte Sequenz einer von Insekten gestörten ‚Idylle‘ wird bei zeitgenössischen Leserinnen und Lesern Erinnerungen an Eduard Mörikes Waldplage wachgerufen haben.25
8.2
Deutscher Wald als Metapher für Heimat
Ulla von Eck kommt mit ausgesprochen romantischen Erwartungen nach Brasilien, die der „seligen Friedrich-Wilhelmstädtischen Operetten-Bühne“ entlehnt sind.26 Gleich in ihrem ersten Brief an Grete mokiert sie sich über die daheim ausgemalten Idyllen „fesch“ aussehender Brasilianer und ihrer Damen, die sich den ganzen Tag dem süßen Nichtstun ergäben und auch von ihrer Gouvernante „nicht so etwas Rohes wie wirklich handfeste ‚Arbeit‘ verlangen“. Sie entwirft das Bild eines tropischen Parks, in dem Papageien und Kolibris umherflattern und die Erzieherin „mit den Kindern im Schatten der Orangenbäume“ ruht, „sie gleichsam spielend die theure Muttersprache“ lehrt, Papageien zähmt, genüsslich Früchte verspeist, Gedichte verfasst und sich mit Blumen schmückt.27 Nur: Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus. Ihr Arbeitgeber Dr. Rameiro entspricht so gar nicht ihren Vorstellungen eines strahlenden Heldentenors,28 und die unaufhörlich kreischenden und keifenden Papageien erwecken nach wenigen Tagen in der Gouvernante unbezähmbare Mordgelüste.29 Der Eindruck des Fremden, des Anderen ist überwältigend. Der Garten der Hausherrin, den sie als „ein Zauberland voll Märchenherrlichkeit“ beschreibt,30 kommt ihrer Vorstellung 25
26 27 28 29 30
Dort heißt es: „Patsch! Hab‘ ich dich, Canaille, oder hab‘ ich dich nicht? [/…] Begierig blättr‘ ich: ja, da liegst du plattgedrückt,/Bevor du stachst, nun aber stichst du nimmermehr“ (Mörike, Eduard: Waldplage, in: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Erster Band: Gedichte [Ausgabe von 1867], hrsg. von Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart 2003, S. 268). Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 6. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 24.
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von einem tropischen Paradies zwar recht nahe, aber die detaillierte Schilderung des Garten Eden endet mit den Worten: „Ich war zuerst ganz berauscht, Grete, und trank all das Zauberische, Schöne, Fremdartige förmlich mit allen Sinnen ein … aber, wunderbar – weißt Du, welcher Eindruck hiervon für mich der nachhaltigste ist? Der des Fremdartigen, ja des absolut Fremden! Ich staune sie an, all diese südliche Pracht, ich bewundere sie, sie berauscht mich momentan mit ihrem verführerischen Zauber – aber ich verstehe sie nicht; ich kann mir nichts mit diesen prächtigen Pflanzen erzählen, ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht.“31
Eine ihrer ersten Fremdheitserfahrungen macht Ulla von Eck demnach an der Begegnung mit der üppigen tropischen Flora fest, und sie verknüpft die botanische Frage sogleich mit einer nationalen: „Es ist doch etwas wunderbares um das Vaterland! Was doch alles so mit dazu gehört! Auch die Blumen und Bäume. Wir wissen doch daheim gleich etwas zu singen unter unsern prächtigen Eichen; welches junge Gemüt kennte nicht unsere reiche deutsche Lindenpoesie, und sowie man sprechen kann, lallt man schon sein weihnachtlich-heimliches ‚O Tannebaum, o Tannebaum‘. Da grüßt man so einen Baum doch gleich ganz anders!“ 32
Dem Zauber der fremdartigen Pracht stellt die Gouvernante die vertrauten heimatlichen Gewächse gegenüber: Zum ‚deutschen Vaterland‘ gehören die Eiche, die Linde und natürlich die Tanne. Im Gegensatz zu den Rausch erzeugenden, sinnenverwirrenden, tropischen Pflanzen ‚sprechen‘ diese zu ihr, sie ‚versteht‘ sie und sie ‚verstehen‘ sie. Der Weihnachtsbaum scheint übrigens nicht nur für Ulla von Eck, sondern für viele Lehrerinnen geradezu ein nationales Symbol gewesen zu sein.33 In Anlehnung an den zeitweilig nach Brasilien ausgewanderten und von ihr verehrten Schweizer Poeten Dranmor, eigentlich Ludwig Ferdinand Schmid (1823-1888),34 ist Ulla von Eck bereit, die ganze Schönheit der tropischen Pflanzenwelt für „eine einz‘ge schneebehang‘ne Tanne“ herzugeben.35 31 32 33 34
35
Ebd. Ebd., S. 25. Vgl. Kap. 3.3 und Kap. 4.4. Vgl. Dewulf, Jeroen: Wenn die Schweizer Heimat exotisch geworden ist. Das Thema der Heimkehr aus Brasilien bei deutschschweizerischen Autoren, in: TRANSIT 2 (2006) 1. URL: http://www.escholarship.org/uc/item/3pg5g2w8 (15.01.2012). Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 25, vgl. auch S. 210. Der deutsche Weihnachtsbaum ist meistens keine Tanne, sondern eine Fichte. Aber hier befindet sich Ina von Binzer in bester literarischer Gesellschaft, denn schon Heine spricht in seiner Harz-
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Zu Weihnachten wird das Heimweh besonders schmerzlich empfunden. Ihr erstes Weihnachtsfest verbringt Ulla von Eck einsam und allein in einem Hotelzimmer in Rio de Janeiro.36 Im Jahr darauf hilft selbst die Einladung bei liebenswerten Landsleuten, wo man mit „deutschen Menschen, deutschen Liedern, deutschem Festtagskuchen“37 das Fest begeht, nicht über die Sehnsucht nach der heimatlichen weißen Weihnacht hinweg. Und wiederum sind es Zeilen eines Schweizer Dichters, mit denen von Eck ihrem Heimweh Ausdruck verleiht. Aus dem zum Volkslied arrivierten Herz, mein Herz, warum so traurig von Johann Rudolf Wyss (1781-1830)38 zitiert sie: „‚S ist zwar schön im fremden Lande,/ Doch zur Heimat wird es nie!“39 Ulla von Ecks Referenzadressen waren in diesem Fall wohl nicht zufällig zwei Schweizer Autoren. Der literarische Heimatdiskurs des 19. Jahrhunderts verknüpfte das Gefühl des Heimwehs zunehmend mit idyllischen Bildern der hochalpinen Schweiz.40 Diese Bilder entfalteten anscheinend eine solche Wirkmächtigkeit, dass selbst eine Autorin, die wie Ina von Binzer in Norddeutschland aufgewachsen war, auf Texte des literarischen Schweizerheimwehs zurückgriff. Zurück zur Szene im Garten der Rameiros: Ob die Lehrerin dort tatsächlich zu Füßen des „mächtige[n] Mangabaum[s]“41 Heinrich Heines Gedicht In der Fremde rezitiert hat, sei dahingestellt. Die Szene mutet reichlich „artifiziell und konstruiert“ an,42 aber der Wald als „Metapher für Heimat“ erfüllt an dieser Stelle die Funktion einer „Projektionsfläche für romantische Phantasien“,43 genauer gesagt: für romantisch-nationale Phantasien. Um diesen ansprechenden Ausdruck zu verleihen, bedient sich Ulla von Eck wiederum bekannter literarischer Vorgaben. Offizielle Referenzadressen sind Heine und Dranmor, zwei deutsche bzw. deutschsprachige ‚Exilautoren‘, denen sie sich – allein in der Fremde und unter Fremden – verbunden fühlte. Für die nationale Aufladung der Waldsequenz spricht nicht zuletzt die von Eck ge-
36 37 38 39 40 41 42 43
reise „hartnäckig von Tannen, wo Fichten gemeint sind“ (Arens, Detlef: Der deutsche Wald, Köln 2010, S. 122). Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 211. Vgl. http://www.volksliederarchiv.de/text1880.html (15.01.2012). Binzer, Leid und Freud einer Erzieherin, S. 211. Vgl. Bunke: Heimweh, S. 508ff. Binzer, Leid und Freud einer Erzieherin, S. 25. Schamm: Kulturschock in Brasilien, S. 30. Lehmann, Albrecht, Schriewer, Klaus: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Der Wald – Ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin, Hamburg 2000, S. 18.
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wählte Grußformel, mit der sie diesen Brief vom 11. Juli 1881 unterzeichnet. Die Unterschrift lautet „Deine deutscheste Ulla“.44 Der Wald spielt auch in weiteren Briefen eine wichtige Rolle. Als die Lehrerin eine neue Stellung auf einer Plantage tief im Landesinneren annimmt, führt die Reise dorthin fünf Stunden lang durch unwegsames ‚Urwald-Gelände‘. Die Wirkung des brasilianischen Regenwaldes auf Ulla von Eck ist hochgradig ambivalent: Der Wald strahlt „etwas Aufregendes, halb Phantastisches und Geheimnisvolles, halb Beängstigendes und Beklemmendes“ aus.45 In seiner Fremdheit ängstigt er sie und lockt doch zugleich. Die „heimische[n] Buchenwälder oder Tannenforsten“46 verkörpern dagegen etwas Sauberes, Geordnetes, das eher an einen unter strikt ökonomischen Gesichtspunkten bewirtschafteten Forst denken lässt. Wenn vom stillen „Waldesdom“ die Rede ist, in dem man von einer „gewisse[n] Feierlichkeit“ übermannt werde,47 gewinnt der Wald geradezu sakralen Charakter. In dieser Waldszene lassen sich somit zwei Sichtweisen wiederfinden, die sich historisch gesehen fast zeitgleich entwickelt haben: die aufgeklärte „Zurichtung [des Waldes] als rationales Konstrukt“ in der sich um 1800 entwickelnden Forstwirtschaft und seine „romantische Verklärung“ in Literatur, Musik und Malerei.48 Die romantische Perspektive überwiegt, selbst bei einer Förstertochter wie Ina von Binzer. Die Konstruktion des Waldes folgt, um mit den Worten des Wiener Volkskundlers Konrad Köstlin zu sprechen, „ähnlichen Mechanismen wie die Ikonisierung des Brotes, bei dessen Fehlen oder ‚falschem Geschmack‘ den in der Fremde weilenden Heimatsehnsüchte überkommen“.49 44 45 46 47
48 49
Binzer, Leid und Freud einer Erzieherin, S. 25. Ebd., S. 150. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150. Im 19. Jahrhundert wurde der im gotischen Stil erbaute Kölner Dom oft mit einer Waldmetapher beschrieben. Das spitz zulaufende Gewölbe wurde mit dem Ineinandergreifen dichter Äste im Wald verglichen, weshalb die Gotik fälschlicherweise auch als deutscher Baustil reklamiert wurde (vgl. Arens, Detlev: Zwischen Waldnutzung und Waldanschauung. Von deutscher Forstwissenschaft und Waldromantik, in: Breymayer, Ursula, Ulrich, Bernd (Hrsg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Dresden 2011, S. 61f.). Arens: Der deutsche Wald, S. 320. Köstlin, Konrad: Der ethnisierte Wald, in: Lehmann, Schriewer: Der Wald, S. 55. Dass bestimmte Speisen heimatliche Gefühle auslösen, diesem Phänomen hat die ZEIT im Frühjahr 2011 unter dem Titel Essen ist Heimat eine Titelgeschichte gewidmet. Die „Eintönigkeit“ der brasilianischen Küche, das „gänzliche Fehlen“ von Brot und auch von Kartoffeln wird denn auch von Ulla von Eck sehr schmerzlich empfunden (Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 16).
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Im frühen 19. Jahrhundert – in der Zeit der napoleonischen Befreiungskriege – entstanden, steht die Metapher vom Wald als Heimat für das einigende Wesensmerkmal ‚deutscher Kultur‘ gegenüber ‚fremder Zivilisation‘.50 In dieser Sichtweise bildete „die waldbezogene deutsche Kultur […] den vermeintlich überlegenden Gegenpol“51 zur ‚unnatürlichen‘, urbanen Zivilisation der französischen Besatzungsmacht. Mitte des 19. Jahrhundert avancierte der Wald bei Wilhelm Heinrich Riehl zum „grünen Symbol nationaler Identität“.52 Der Erhalt des ‚deutschen Waldes‘ sichere den Fortbestand deutscher Kultur und deutschen Volkstums. Den beiden großen Konkurrenznationen Frankreich und England wies Riehl „das gerodete Feld und den gezähmten Park zu, die den Niedergang dieser Länder durch Industrialisierung und Verstädterung anzeigen sollten“.53 Überaus deutlich wird diese Unterscheidung von Kultur und Zivilisation, die ursprünglich dazu diente, die ‚deutsche Kulturnation‘ von der technisch ausgerichteten Zivilisation der Industrienationen England und Frankreich abzugrenzen,54 in einer Szene, in der Ulla von Eck den musikalischen Abschluss einer Mittagseinladung schildert. Nachdem die Gouvernante aufgefordert worden war, auf dem Piano etwas vorzuspielen, und sie feststellen musste, dass ihr Publikum keinen Zugang zum Lied Klein Anna-Kathrin des niederdeutschen Lyrikers Klaus Groth (1819-1899) fand, wurde eine „perfekt“ spielende Dame angekündigt.55 Deren technisch brillianter Vortragsstil fand wiederum keine Gnade vor den Augen Ulla von Ecks. Gleichzeitig quälte die Lehrerin aber auch das Gefühl der Andersartigkeit ihrer Empfindungen: „Ach Grete, bin ich denn so gar starr germanisch, dass ich diese Romanen mit dem besten Willen nicht interessant und geistreich finden kann! Aber es war nichts anderes – mir sprach nichts aus den flinken abgerichteten Fingern, nichts aus dem unbeweglichen wachsgelben Gesicht der Spielerin, in dem die schwarzen Augen wie geistlose Tintenklexe standen, und doch war es wahr: sie spielte: perfeitamente! Ich ärgerte mich über mich selbst, daß ich mich nicht begeistern 50 51 52 53 54
55
Vgl. ebd., S. 60. Breymayer, Ursula, Ulrich, Bernd: „Unter Bäumen“: Ein Zwischenreich. Die Deutschen und ihr Wald, in: Dies.: Unter Bäumen, S. 14-33, hier, S. 20. Ebd., S. 19. Zechner, Johannes: Von „deutschen Eichen“ und „ewigen Wäldern“, in: Breymayer, Ulrich: Unter Bäumen, S. 230-235, hier S. 231. Vgl. Wunder, Heide: Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Historische Anthropologie, in: Fischer Lexikon Geschichte. Hrsg. von Richard von Dülmen, Frankfurt a.M. 1990, S. 67. Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 18.
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konnte und blickte ängstlich im Kreise umher, ob man es mir auch nicht anmerke.“56
Hier wird einerseits das stimmungsvoll vorgetragene plattdeutsche Volkslied künstlerischer Provenienz der seelenlosen virtuosen brasilianischen Fingertechnik gegenübergestellt. Andererseits lässt sich diese Äußerung – wie auch zahlreiche andere – als Ausdruck der Verunsicherung und der wechselseitigen Fremdheit zwischen Ulla von Eck und den ‚romanischen‘ Einheimischen verstehen. Die Gouvernante will um jeden Fall vermeiden, dass man ihr die fehlende Begeisterung ansieht und als grobe, typisch deutsche Unhöflichkeit auslegt. Unterstützung findet Ulla von Eck bei einem anwesenden jungen Italiener, der dem Klavierspiel ebenso wenig abgewinnen kann wie sie. Die Übereinstimmung aber auf „unser gemeinsames Europäertum“57 zurückzuführen, zeugt doch von einem gewissen Bruch in der Logik, denn Italiener sind schließlich – Romanen par excellence.
8.3
Soziale und nationale Alteritäten
Genauso wenig wie die fremde tropische Flora zu Ulla von Eck ‚spricht‘, genauso wenig findet sie, die sich als tief empfindsame deutsche Seele stilisiert, Zugang zu der angeblich oberflächlichen Mentalität der Brasilianerinnen und Brasilianer. Dieses Gefühl des Andersseins, des Fremdseins kulminiert in dem Stoßseufzer nach einem deutschen Lebewesen.58 Dieser Wunsch geht für Ulla von Eck Anfang Oktober 1881 in Erfüllung. Der von der Lehrerin geschilderte ältere Herr, „ein Naturforscher“,59 entspricht aber so sehr der Karikatur eines weltfremden, verschrobenen deutschen Gelehrten, dass die erste Begegnung mit freundlich grüßenden Sklaven auf der Fazenda der Familie Rameiro zu einer grotesken Lachnummer verkommt. Der Professor hält die Sklaven für Kannibalen und ergreift laut schreiend die Flucht. Ulla von Eck kann sich der unfreiwilligen Komik, die diese Szene in sich birgt, nicht verschließen, aber sie ist sich darüber im Klaren, wie sie auf ihre lernunwilligen Schülerinnen, mit denen sie pädagogisch auf ständigem Kriegsfuß lebt,60 wirken muss. Sie sehe ihnen an, schreibt sie, „wie es sie 56 57 58 59 60
Ebd., S. 19f. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 60. Ebd., S. 10.
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entzückt, sich über etwas Deutsches lustig zu machen zu können, und ich bin gewiß, daß sie überzeugt sind, alle Deutschen wären genau wie dieser Professor“.61 Aber er sei doch schließlich „ein Landsmann, und ich höre wieder deutsche Worte! Was das für eine Wonne ist, Grete! Ich könnte den garstigen kleinen Pedanten küssen bloß dafür, daß er ein Deutscher ist!“62 Das Verbindende der gemeinsam gesprochenen Sprache, der ‚Muttersprache‘ spricht aus dieser Sequenz. Bei Blickle findet sich ein extremes Beispiel der Sehnsucht nach Heimat, nach Zugehörigkeit, die durch die gemeinsame Sprache, genauer gesagt: den Dialekt ausgelöst wird. Der Widerstandskämpfer Jean Améry wurde 1943 in Brüssel von einem SS-Offizier beim Drucken von Flugblättern überrascht. Dieser SS-Offizier sprach Amérys heimatlichen Voralberger Dialekt, und Améry beschreibt seine Stimmung schwankend zwischen “[…] trembling fear and at the same time of exuberant familiy-like warmth, because this guy … whose joyfully gratifying task it was to bring as many of my kind as possible on their way to a death camp, seemed to me suddenly a potential friend.”63
Bei Améry, aber auch bei Ulla von Eck, geht es demnach darum, dass deutsch gesprochen wird, nicht um das, was gesprochen wird. Es enthebt von Eck erstens der Mühe, sich beständig in einer fremden Sprache ausdrücken zu müssen, die sie noch nicht fließend beherrscht. Zweitens lässt sich das überschwänglich geäußerte Gefühl der Zuneigung zu dem wenig souverän auftretenden Landsmann wohl darauf zurückführen, dass auf dem einsam gelegenen Landgut gesellschaftlicher Verkehr mit Gleichgesinnten für die Lehrerin kaum möglich war. Und drittens war der Professor als Angehöriger des deutschen Bildungsbürgertums ein durchaus standesgemäßer Umgang. Dass dieses Kriterium eine wichtige Rolle spielt, wird in den Briefen deutlich, die Ulla von Eck aus Petrópolis schrieb. Diesen von Deutschen gegründeten Luftkurort suchte die Lehrerin auf, nachdem sie durch das feucht-kalte Klima und andauernde Überarbeitung schwer krank geworden war. Ihr lang gehegter Wunsch nach Kontakt mit deutschen Landsleuten hätte dort leicht in Erfüllung gehen können. Gesellschaftlichen Verkehr pflegte die Gouvernante allerdings nur mit der Familie eines alten Drechslers. Die übrigen ansässigen Deutschen wurden von ihr als „ganz ungebilde61 62 63
Ebd., S. 59. Ebd., S. 59f. Zit. nach Blickle: Heimat, S. 141.
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207
te Bauern“ charakterisiert und demzufolge als ‚nicht standesgemäß‘ eingestuft.64 Auch in São Paulo, wo sich zahlreiche Deutsche, zumeist Handwerker, niedergelassen hatten, unterhielt sie freundschaftliche Kontakte nur zur Familie des Apothekers, den sie in seiner Funktion als deutschen Konsul kennengelernt hatte. Die Familie wird als hochgebildet „[...] und doch schlicht dabei, klug, liebenswürdig und gastfreundlich“ geschildert.65 Ulla von Eck verkehrte demnach nur mit ‚standesgemäßen‘ Deutschen, aber längst nicht alle werden als sympathische Zeitgenossen porträtiert. Als sie nach der Kündigung bei den Rameiros kurzzeitig erwerbslos war, suchte sie auf Empfehlung ihres in New York lebenden Onkels, der gut gehende Handelsbeziehungen mit Brasilien unterhielt, einen seiner Geschäftsfreunde auf. Der reiche Herr Goldschmidt wurde anscheinend von der Furcht geplagt, die stellungslose Lehrerin könne ihm finanziell zur Last fallen. Als er begriff, dass es ihr gar nicht um Geld ging, wurde der missgestimmte Herr schlagartig freundlich, hilfsbereit und vermittelte den Kontakt zu seiner im Ort lebenden englischen Gouvernante. Auch wenn Ulla von Eck diese Szene unter dem Motto ‚unerfreuliche Begegnungen mit Landsleuten‘ verbuchte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier – möglicherweise unbewusst – das antisemitische Stereotyp vom ‚geizigen Juden‘ bemüht wird. Die bäuerliche Herkunft der meisten deutschen Migrantinnen und Migranten war wahrscheinlich auch der Grund, warum Ulla von Eck oft nicht als Deutsche erkannt wurde. Am Collegio in Rio de Janeiro, einer höheren Töchterschule mit angeschlossenem Pensionat, wurde ihr von der Mutter eines Zöglings bescheinigt, sie entspreche gar nicht dem „deutschen Typ“ und sei immer „sehr gut angezogen!“66 Beim Friseur wurde die Lehrerin für eine Französin oder Russin gehalten. Eine Deutsche könne sie unmöglich sein, parlierte der Friseur auf Französisch, diese seien immer schlecht gekleidet und hätten partout keinen Chic.67 Ulla von Eck hielt die Äußerung der besagten Mutter für ausgesprochen taktlos, und über den Friseur war sie derart erbost, dass sie ihm und seinem Geschäft „ewige Feindschaft“ schwor,68 aber das, was sie als nationale Beleidigung empfand, war wohl eher eine Mischung aus nationalen und sozialen Stereotypen, die mit der Sozialstruktur der deutschen Einwanderung zusammenhingen. In Petrópolis hatte 64 65 66 67 68
Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 82. Ebd., S. 112. Ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 93. Ebd.
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die Lehrerin sich selbst über die ‚ungebildeten‘ deutschen Bauern mokiert. In den Gesprächen im Collegio und im Friseursalon realisierte sie jedoch nicht, dass die fehlende Eleganz, die den deutschen Frauen vorgeworfen wurde, weniger ein Ergebnis ihrer nationalen, denn ihrer sozialen Herkunft war. Vor allem „Angehörige des vierten Standes, d.h. Bauern und Handwerker, aber kaum Angehörige der bürgerlichen Schicht“ waren im 19. Jahrhundert nach Brasilien eingewandert.69 Staatliche Einwanderungspolitik, aber auch der Wunsch der deutschen Einwanderinnen und Einwanderer nach Bewahrung ihrer Traditionen,70 bewirkten, dass die Migrantinnen und Migranten in weitgehend geschlossenen ‚Kolonien‘ siedelten, von der einheimischen Bevölkerung als „isolierte, bäuerliche Randgruppe“ wahrgenommen und dementsprechend mit Vorurteilen bedacht wurden.71 Freundschaftliche Beziehungen zu Brasilianerinnen und Brasilianern entstanden erst gegen Ende des Auslandsaufenthaltes. In der Familie de Souza, Ina von Binzers letzter Arbeitsstelle in Brasilien, fühlte sich die Lehrerin wider Erwarten ziemlich wohl. Die Dame des Hauses wird – im Gegensatz zu den anderen dargestellten Brasilianerinnen – als unermüdlich tätige Hausfrau geschildert, die fleißiger sei „als manche berühmte ‚deutsche Hausfrau‘ und unter schwierigeren Verhältnissen obendrein“.72 Anfänglich hatte Ulla von Eck fast alles an den Brasilianerinnen und Brasilianern missfallen. Sie empfand sie als unordentlich, verschwenderisch, geschmacklos und vor allem als undiszipliniert. Eignen würden sich die Brasilianer nur zum Advokaten, weil „sie da ihr deklamatorisches Talent verwerten können. […] mit dem Pathos, das sie an eine einzige Rede verschwenden, könnte man bei uns bequem deren zehn ausstatten“.73 Alles sei Pomp und Pathos, und doch geriet der Gouvernante dann der Empfang des brasilianischen Kaiserpaares anlässlich der Einweihung einer Eisenbahnstrecke in seiner Schlichtheit zu wenig eindrucksvoll.74 Alle diese Äußerungen lassen sich als Ausdruck der wechselseiti69
70 71 72 73 74
Schamm: Kulturschock in Brasilien, S. 32. Rosalind Arndt-Schug zufolge waren im 19. Jahrhundert 90 % aller Brasiliendeutsche Landwirte. Vgl. Arndt-Schug, Rosalind: „Was nimmt der Auswanderer mit, der sich als Kolonist in Brasilien anzusiedeln gedenkt? Vor allem eine Frau.“ Deutsche Einwanderinnen als Kolonistinnen in Südbrasilien im 19. Jahrhundert, in: Blaschke, Monika, Harzig, Christiane (Hrsg.): Frauen wandern aus: Deutsche Migrantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Bremen 1990, S. 162. Häufig handelte es sich dabei eher um lokale, allenfalls um regionale sowie religiöse Traditionen, weniger um nationale. Schamm, Kulturschock in Brasilien, S. 32. Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 153. Ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 54.
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gen Fremdheit zwischen von Eck und den Einheimischen verstehen, denn die Lehrerin verhehlte keineswegs, dass auch ihr Benehmen, ihr Insistieren auf einen pünktlichen Unterrichtsbeginn, auf einen ungestörten Unterrichtsablauf und ihre Lärmempfindlichkeit, bei ihren Arbeitgebern auf großes Befremden stieß.75 Sie wurde mit ihren Schülerinnen und deren Eltern einfach nicht ‚warm‘.76 Durch solche Erlebnisse fühlte sich die Lehrerin oftmals zurückgesetzt, abgewiesen, gedemütigt, was bei ihr wiederum zu negativen Urteilen über die einheimische Bevölkerung führte. Ihre Einschätzung von Land und Leuten fiel ungleich milder aus, wenn sie sich sozial angenommen und verstanden glaubte. Wie fremd ihr die Brasilianerinnen und Brasilianer letztendlich blieben, wird deutlich, als sie auf der abgelegenen Plantage São Sebastião unvermutet von einer Ansiedlung erfuhr, die nordamerikanischen Ansiedlerinnen und Ansiedlern gehörte – „ganz zivilisierten Menschen!“ entfährt es ihr.77 Gemeinsam mit ihnen besuchte sie einen Gottesdienst, der ihr, obwohl sie eigenen Angaben zufolge keine fleißige Kirchgängerin war,78 in seiner ergreifenden Schlichtheit nachhaltig in Erinnerung blieb. Zum einen stiftete wohl das Wissen, zur protestantischen Diaspora in Brasilien zu gehören, eine Art von Gemeinschaftsgefühl mit Menschen des angloamerikanischen Kulturkreises. Zum anderen fühlte sie sich aber zu ihnen hingezogen, weil ihr schon immer die Sprache, „das Wesen und Sein germanischer Volksstämme“ weitaus sympathischer gewesen sei als das der ‚Romanen‘. Unter dieser Konstruktion werden auch Begegnungen mit Angehörigen der französischen Nation verhandelt, die allesamt noch unter dem nachhaltigen Eindruck des deutsch-französischen Krieges und der nachfolgenden deutschen Einigung zu stehen scheinen. Die anti-französischen Ressentiments waren so nachhaltig im Denk- und Sprachgebrauch der Deutschen verankert, dass Ulla von Eck eine Begegnung mit einem jungen Franzosen ironisch als Begegnung mit dem „galante[n] Erbfeind“ beschrieb.79 Im Collegio fühlte sie sich „trotz der Erbfeindschaft“ noch am meisten zu ihrer französischen Kollegin hingezogen.80 75 76
77 78 79 80
Vgl. ebd., S. 10 und S. 57f. Vgl. ebd., S. 77. Dieses Gefühl des Nichtwarmwerdens ist nicht nur im übertragenen Sinn des Wortes zu verstehen. Die Gouvernante fror, insbesondere in den empfindlich kalten Nächten, „zum größten Gaudium der Familie, die der ‚kalten Deutschen‘ das Recht dazu eigentlich völlig abspricht“ (ebd., S. 27). Ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 116 und S. 167. Ebd., S. 78. Ebd., S. 95.
210
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
Die Brasilianer/innen blieben ihr ‚fremd‘, „[…] fremder sogar als alle anderen Fremden hier, die schon ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit als Gäste auf hiesigen Boden zusammenzieht“.81 Damit thematisierte sie ein Phänomen, das sich bis heute unter Migrantinnen und Migranten findet. Verunsichert durch die Fremde, fremde Sitten und Gebräuche wird der Anschluss an bereits vor Ort befindliche Angehörige aus der Heimat gesucht. Sind solche nicht vorhanden, erfolgt der Zusammenschluss mit Angehörigen ‚verwandter‘ bzw. befreundeter Nationen. Gemeinsame Interessen oder Geschmäcker spielen dabei eine untergeordnete Rolle, oftmals stellt das Fremdheitsgefühl das einzig verbindende Element dar. Träfen diese Menschen in ihrem jeweiligen Heimatland aufeinander, entstünden völlig andere Beziehungen, eventuell sogar gar keine.82
8.4
‚Rassische‘ Alteritäten
Die Wahrnehmung und Beschreibung von ‚Rassenunterschieden‘ findet sich oftmals in Schriften von Lehrerinnen, die das außereuropäische Ausland bereisten. Ulla von Eck nutzt den Begriff ‚Rasse‘ zwar nicht nur, um sich als ‚Weiße‘ von der ‚schwarzen‘ Sklavenbevölkerung Brasiliens, sondern auch um sich kulturell als ‚Germanin‘ von den ‚weißen‘,83 romanischen Brasilianern abzugrenzen. Aber ihre eigentliche Bedeutung gewann die ‚Rassefrage‘ erst in Verbindung mit der Institution der Sklaverei, die in Brasilien als letztem westlichen Land erst 1888 aufgehoben wurde. Bereits auf ihrer ersten Arbeitsstelle, der Kaffeeplantage der Familie Rameiro, wurde die Lehrerin mit der Sklavenfrage konfrontiert. Jegliche Arbeit in Brasilien werde von Sklaven verrichtet, schrieb sie, „[…] denn der Brasilianer arbeitet nicht, und ist er arm, so schmarotzt er lieber bei wohlhabenden Verwandten und Freunden umher, als daß er redlich die Hände rührte. […] ich möchte bloß wissen, was diese Menschen anfangen wollen, wenn einmal die SklavenEmancipation ganz und gar vollzogen ist!“84 Der Sklaverei stand von Eck von Anfang an ablehnend gegenüber, aber als Gleichwertige vermochte sie 81 82 83
84
Ebd., S. 164. Vgl. Mitzscherlich: „Heimat ist etwas, was ich mache“, S. 60. Ulla von Eck bezeichnet sie allerdings nicht als ‚weiß‘, sondern als ‚blaßgelb‘ oder ‚wachsgelb‘ (vgl. Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin, S. 10, S. 19 und S. 91), was man als einen nicht besonders subtilen Hinweis der Autorin auf die angeblich nicht ganz ‚rassereine‘ Abstammung der ‚weißen‘ Brasilianerinnen und Brasilianer interpretieren könnte. Ebd., S. 36.
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
211
die ‚Schwarzen‘ doch nicht anzuerkennen. Die für ihre persönliche Bedienung zuständige „Negerin“ Olympia bezeichnete sie als „das scheußlichste, dicklippigste schwarze Geschöpf […] das je einen hochtragenden Namen trug“,85 und als sie Zeugin einer Taufe von acht ‚schwarzen‘ Kindern wurde, nahm sie diese als „plattnäsige[.], wollköpfige[.] kleine[.] Scheußlichkeiten“ wahr.86 Diese und andere Äußerungen haben ihr bei späteren brasilianischen Rezipienten den Ruf einer Rassistin eingetragen,87 aber diese Einschätzung greift zu kurz. Zu Beginn ihres Brasilien-Aufenthaltes hatten ausschließlich Gefühle von Ecks Ablehnung der Sklaverei bestimmt: Sie hielt sie für inhuman und menschenunwürdig, und für das aufgeklärte deutsche Publikum fehlte auch nicht der Hinweis auf die ‚Bibel‘ der Abolitionisten-Bewegung, auf Harriet Beecher Stowes 1852 erschienenen Roman Onkel Toms Hütte.88 Aus ihrer Sympathie für die Sklavenbefreiungsbewegung machte die Gouvernante keinen Hehl. Die Praktik, mittels eines überdosierten Abführmittels einen gesunden, kräftigen Sklaven in eine „elende, knieschlotternde Kreatur“ zu verwandeln, um auf diese Weise den Preis für den Loskauf zu senken, fand mit einem nachsichtigen Lächeln ihre Zustimmung.89 Im zeitgenössischen ‚Rassedenken‘ war es aber nicht unbedingt ein Widerspruch für die Abschaffung der Sklaverei zu votieren und gleichzeitig eine strikte ‚Rassentrennung‘ zu befürworten. Im weiteren Verlauf ihres Briefromans entwickelte sich von Eck zu einer ernstzunehmenden sozial- und wirtschaftspolitischen Kritikerin der Sklaverei. Hatte sie zuvor für die sofortige Freilassung aller Sklaven plädiert, erkannte sie bald, dass mit der Realisierung dieser Forderung schwerwiegende soziale und ökonomische Probleme verbunden waren. Auf der Fazenda São Francisco wurde sie in Begleitung ihres deutschen Landmanns gewahr, dass es dort alte, nicht mehr arbeitsfähige Sklaven gab. Auf die entsetzte Frage des Professors, wozu die denn noch gebraucht würden, antwortete der Plantagenbesitzer: „Zu nichts‘, […] aber ich kann sie doch nicht ersäufen. Sie sind in meinem Dienst grau geworden, jetzt bekommen sie das Gnadenbrot. Ich habe sie auch freigegeben, aber ich habe nicht das Herz, alte, abgebrauchte Neger mit ihrer
85 86 87 88 89
Ebd., S. 3. Ebd., S. 37. Vgl. Schamm: Kulturschock in Brasilien, S. 27. Binzer, Leid und Freud einer Erzieherin, S. 40. Ebd., S. 121.
212
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
Freiheit und ihrer Arbeitsunfähigkeit in das Elend oder auf den Bettel zu schicken – mögen sie hier sterben.“90
Zeitgenössische Leserinnen und Leser werden den Vergleich von ‚Schwarzen‘ mit Tieren – nur Pferde erhalten das Gnadenbrot und ersäuft werden junge, unerwünschte Katzen – nicht ungebührlich gefunden haben. Ulla von Eck stieß sich jedenfalls nicht an dieser Wortwahl: Eine Seite zuvor hatte sie selbst die Kinder von Sklavinnen als „kleine[.] schwarze[.] Halbaffen“ bezeichnet.91 Bereitwillig übernahm sie auch die Deutung Señor Rameiros, dass es den ‚Schwarzen‘ eher um gute Behandlung denn um Freiheitsideale gehe.92 Die Textstelle ist aber auch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich. Der Sklavenbesitzer thematisierte eine Entwicklung, die sich in der Zeit bis zur endgültigen Aufhebung der Sklaverei noch verschärfen sollte. Nachdem 1885 alle Sklaven über 60 freigelassen werden mussten, nutzten viele Sklavenhalter diese Gelegenheit und entledigten sich ihrer alten, nicht mehr arbeitsfähigen ‚Schwarzen‘. Nicht viel besser gestaltete sich die Situation der ab 1871 frei geborenen Kinder. Auch sie galten vielerorts als „unnütze Esser“,93 und obwohl die Sklavenbesitzer gesetzlich verpflichtet waren, diese Kinder unterrichten zu lassen, wuchsen die meisten ohne jegliche Bildung bzw. Ausbildung auf. Es werde ihnen, so von Eck, „nicht einmal wie früher diese oder jene Handfertigkeit beigebracht, denn – man hat ja später nichts davon‘“.94 Damit werde aber eine historisch einmalige Chance vertan, die ‚Schwarzen‘ zu tüchtigen Menschen und nützlichen Staatsbürgern heranzubilden. Der Brasilianer sei in dieser Hinsicht kein Vorbild. Er sehe „das Nichtstun als ein Attribut des Freien an“, und wie solle man dann erwarten, „daß der in tierischer Unwissenheit erzogene Sklave“ sich über solche Ansichten hinwegsetzen und sich eine eigenständige Meinung bilden könne.95 In den Briefen der Lehrerin wurde die Sklaverei zunehmend zum beherrschenden Thema, wobei die sozioökonomische Situation Brasiliens häufig mit der im hochindustrialisierten Deutschland verglichen wurde. In beiden Staaten sei die Arbeiterfrage eine außerordentlich prekäre, in Deutschland übersteige das Angebot an freien Arbeitskräften bei weitem die Nachfrage,
90 91 92 93 94 95
Ebd. S. 65. Ebd., S. 64. Ebd., S. 42. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 199.
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
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und in Brasilien gäbe es überhaupt kein Angebot an freien Arbeitskräften.96 Eine Lösung des Problems bestehe in der gezielt geförderten Einwanderung europäischer Arbeitskräfte sowie in der Heranziehung eines eigenen Arbeiterstandes. Dafür sei es aber unabdingbar, dass die freien ‚schwarzen‘ Kinder ausgebildet und an eine regelmäßige Arbeit gewöhnt würden.97 Von Eck schlug demnach vor, die vorrangig in Form einer ‚Rassenfrage‘ behandelte nationalökonomische Problematik in eine soziale Frage umzuwandeln. In dem ihr eigenen selbstironischen Stil beschloss sie ihren Brief vom 19. Juli 1882 mit den Worten: „Aber ich merke, daß ich schon wieder predige und dich mit einer vollständigen national-ökonomischen Abhandlung beglückt habe. Du glaubst aber auch nicht, wie sich einem hier alle diese Verhältnisse aufdrängen, und wie sie fast ausschließlich Gesprächsthema sind – da wird selbst die harmloseste Seele zum Socialpolitiker.“98
8.5
Geschlechtliche Alteritäten
Die Begegnungen mit der brasilianischen Männerwelt stellten Ulla von Ecks Selbstwertgefühl auf eine harte Probe. Sie empfand sie als hochgradig aufdringlich. Da die Brasilianerinnen der besseren Stände nie allein das Haus verließen, hatte die Lehrerin auf ihren städtischen Erkundungsstreifzügen so manche Belästigung auszustehen. Als Dame war sie zweifelsohne nicht daran gewöhnt, von fremden Männern auf der Straße angesprochen zu werden. Es kostete sie große Überwindung, diese unerwünschten Annäherungsversuche „ohne Thränen [sic!] einfach zu ignorieren“.99 Die brasilianischen Männer wurden von ihr als höchst ungebührlich im Umgang mit Damen empfunden und blieben ihr mit diesem Verhalten so ‚fremd‘, dass sie sie nicht als geschlechtliche ‚Andere‘ wahrnahm. Der Mann, in den Ulla von Eck sich während ihres Aufenthaltes in Lateinamerika verliebte, war denn auch kein Brasilianer, sondern ein englischer Ingenieur, den sie im Haus des deutschen Konsuls kennenlernte. Gleich bei ihrer ersten Begegnung wird deutlich, dass Mr. Hall, der die Interessen einer großen englischen Maschinenfabrik in Brasilien vertrat, im weiteren Verlauf des Briefromans noch
96 97 98 99
Vgl. ebd., S. 123 und S. 160. Ebd., S. 160. Ebd., S. 162. Ebd., S. 97.
214
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
eine bedeutende Rolle spielen wird.100 Ihrer Freundin gegenüber schwärmte von Eck, er sei fast wie ein Deutscher, habe „aufrichtige große blaue Augen“ und sehe ausgesprochen „männlich“ aus.101 Weitere Begegnungen mit Mr. Hall wurden sorgfältig notiert. Bei einem dieser Treffen überreichte er ihr „ein paar herrliche Rosen“, die er ‚zufällig‘ gerade erstanden hatte.102 Dass die Geschichte nach einer berufsbedingten Trennung in ein happy end mündet, stellt eine Besonderheit in Lehrerinnenautobiografien dar. Die meisten publizierten Lebenserinnerungen stammen von Frauen, die ihr ganzes Leben lang berufstätig und damit – in Zeiten des Lehrerinnenzölibats – unverheiratet blieben. In ihren Jugendjahren erlebten einige von ihnen eine unglückliche, weil unerfüllte Liebe. Soziale und/oder finanzielle Hindernisse machten eine Eheschließung unmöglich, und oft verstarb der auserwählte Mann kurze Zeit nach der durch bürgerliche Konventionen erzwungenen Trennung.103 Dass dieses Motiv der unerfüllten Liebe Toposcharakter hat, liegt auf der Hand. Aber warum ließ Ina von Binzer ihren Briefroman mit einem nachweislich fiktiven, wenn auch nicht unrealistischen Ende ausklingen? Fiktiv ist dieses Ende, weil die Autorin keinen englischen Ingenieur, sondern 1896 einen deutschen Juristen namens Adolf von Bentivegni ehelichte;104 realistisch, weil zeitgenössischen Quellen zufolge Lehrerinnen im selben Zahlenverhältnis, nur später als andere Frauen, heirateten. Abgesehen davon, dass mit einem solchen happy end auch eine Erwartungshaltung zeitgenössischer Romanleserinnen bedient wird, erzählstrategisch erscheint das Ende des Briefromans durchaus stimmig: In der gefühlsmäßig aufgewühlten Stimmung des Verliebtseins fing Ulla von Eck an, sich auf Land und Leute einzulassen, sich heimisch, heimatlich zu fühlen. Die Schilderung der ersten Begegnung mit Mr. Hall endet mit den Worten: „Ach, Gretele, ich bin so froh, daß ich hier bin, so sehr froh! Deine glückliche Ulla“.105 Nach einer längeren berufsbedingten Trennung und einem unverhofften Wiedersehen ließ sie sich zu der Äußerung hinreißen: „Ach Gretele, ich bin so froh! Und es ist doch eigentlich ganz hübsch in Brasilien“.106 Als glücklich Verliebte lassen sich die zuvor kritisierten Zustände und Zeitgenossen in der Fremde an100 101 102 103 104 105 106
Ebd., S. 113. Ebd., S. 116. Ebd., S. 123. Vgl. Buchwald, Erinnerungsblätter; Mues, Lebens-Erinnerungen. Vgl. Wedel, Autobiographien von Frauen, S. 93. Ebd., S. 113. Ebd., S. 178.
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
215
scheinend leichter ertragen. Und so schließt der Roman mit einer Verlobungsanzeige und – der überraschenden Ankündigung der baldigen Rückkehr der ‚überglücklichen‘ Ulla Hall nach Deutschland.107
8.6
Resümee
Heimat ist nicht unbedingt der Ort, an dem man geboren wurde und/oder seine Kindheit verbracht hat. In Anlehnung an Mitzscherlich verstehen wir Heimat als einen vom Subjekt ausgehenden Prozess der „Beheimatung“. Dabei handelt es sich um einen „ständigen und möglicherweise lebenslangen Prozeß, der mit der Aneignung und Gestaltung von Orten, sozialen Beziehungen, kulturellen Orientierungen und der Herstellung von subjektivem Sinn zu tun hat“.108 Die sich durch den Briefroman ziehenden nostalgischen Heimatgefühle, festgemacht an Natur, Landschaft und deutscher Sprache, sind nicht ausschließlich negativ zu verstehen, als Abwehr alles Fremden, sondern sie dienen offensichtlich der kulturellen und der personalen Selbstverortung Ulla von Ecks. Mystifikationen von Kindheit und Weiblichkeit spielen bei ihr, im Gegensatz zu den von Blickle analysierten Texten männlicher Autoren, keine Rolle, was allerdings nicht als generelles Merkmal von Autorinnen-Texten zu werten ist.109 Im letzten Drittel des Textes arbeitet die Gouvernante aktiv an der Entwicklung einer ‚Beheimatungsstrategie‘. Imaginäre Heimatkonstruktionen, verkörpert durch den ‚deutschen‘ Wald und deutschsprachige Poesie, treten in den Hintergrund, sobald sich Ulla von Eck der tatkräftigen Gestaltung realer Orte und realer sozialer Beziehungen zuwendet. Durch Sozialkontakte mit Angehörigen des ‚germanischen‘ bzw. angloamerikanischen Kulturkreises, denen Ulla van Eck sich geistig und kulturell verbunden fühlt, verliert die Fremde an Bedrohlichkeit. Auf die einheimische ‚romanische‘ Bevölkerung vermochte sich die Lehrerin allerdings nicht richtig einzulassen. Dabei könnte durchaus eine Rolle gespielt haben, dass ihr Aufenthalt in Brasilien – wie bei vielen im Ausland tätigen Lehrerinnen – von vornherein als ein zeitlich befristeter angelegt war. Migrationsmotive und Rückkehrkonditionen werden in Ina von Binzers Briefroman – im Gegensatz zu eher ‚klassi107 108 109
Vgl. ebd., S. 225. Mitzscherlich: „Heimat ist etwas, was ich mache“, S. 138. Im kolonialen Diskurs lassen sich durchaus Stimmen von Autorinnen finden, die die Eroberung der Kolonien mit Topoi beschreiben, deren männlich-sexuelle Konnotation nicht zu übersehen ist (vgl. Kap. 9.6).
216
Ina von Binzer – Eine Lehrerin in Brasilien
schen‘ Lehrerinnenautobiografien – nicht ausdrücklich thematisiert. Wir erfahren nur, dass die Lehrerin selbst für die Kosten der Rückreise nach Deutschland aufkommen muss und dass in ihrer Reisekasse – dank der hohen Lebenshaltungskosten in Brasilien – noch „große Ebbe“ herrscht.110 So gesehen sicherte die Heirat mit einem Engländer ihr, wenn schon nicht die baldige Rückkehr nach Deutschland, so doch auf jeden Fall die nach Europa.
110
Binzer: Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien, S. 97.
9.
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
9.1
Frauen und Kolonialismus: Zur Einführung
Der deutsche Kolonialismus wurde aufgrund seiner relativ kurzen Zeitspanne von der Geschichtsschreibung lange als eine Art ‚Fußnote‘ in der Epoche des Kaiserreichs behandelt. Der Ausbruch des Antikolonialkrieges1 in Deutsch-Südwestafrika im Jahr 1904, in dessen Verlauf es zum ersten von den Deutschen verübten Völkermord an den Hereros kam, geriet nahezu in Vergessenheit. Auch steht eine Auseinandersetzung der Historischen Bildungsforschung mit der deutschen Kolonialherrschaft bis heute noch weitgehend aus. Das ist erstaunlich, wurden doch deutsches Großmachtstreben, Siedlungspolitik und wirtschaftliche Ausbeutung mit dem moralischen Auftrag des ‚weißen Mannes‘ legitimiert, vermeintlich ‚unterentwickelten‘ Völkern die angeblichen Segnungen der europäisch-westlichen Zivilisation zu bringen – was durchaus mit kulturmissionarischen und mithin erzieherischen Ambitionen verbunden war. Zudem ist die deutsche Kolonialgeschichte in erster Linie als Geschichte von ‚weißen‘ Männern konstruiert und geschrieben worden – als Geschichte von Pionieren, Forschern und ‚Entdeckern‘, von Missionaren, Händlern und Besatzern, unter dem Fokus von Kolonialpropaganda und -politik sowie unter macht-, wirtschafts- und militärgeschichtlichen Gesichtspunkten. Die Kategorie Geschlecht wurde dabei nicht mitreflektiert. Frauen blieben aus solchen Studien in aller Regel ausgeblendet, ihre Beteiligung am deutschen Kolonialismus dadurch lange Zeit unsichtbar. Angeregt durch geschichtswissenschaftliche Studien aus den USA, Forschungen aus dem Kontext der postcolonial studies und im Zuge einer sich etablierenden Genderforschung, die zunehmend auch die wechselseitige Verschränkung verschiedener Ungleichheitskategorien in den Blick nahm, lassen sich in Deutschland seit Ende der 1980er Jahre vermehrt Forschungsaktivitäten erkennen, welche die Funktionen von ‚weißen‘ Frauen im System kolonialer Herrschaft zum Gegenstand haben. Seither sind zahlreiche Monografien, Sammelbände und Fachbeiträge unterschiedlicher wissenschaftli1
In deutschen Publikationen wird oftmals noch vom Herero-Nama-Aufstand gesprochen, ein Begriff, der unreflektiert die koloniale Sichtweise reproduziert.
218
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
cher Provenienz zur Rolle und aktiven Teilhabe deutscher Frauen im Kolonialismus erschienen:2 organisations- und institutionsgeschichtliche Studien zu den imperialistischen Frauenverbänden und Einrichtungen im Kaiserreich, regionalgeschichtliche Untersuchungen zu den Aufgabenbereichen und zur weiblichen Herrschaftsausübung in den einzelnen Kolonien, Beiträge zur außereuropäischen Frauenmission, biografisch orientierte Analysen zu den Handlungsspielräumen und Agitationsformen einzelner Akteurinnen und Akteursgruppen, nicht zuletzt konstruktivistisch oder diskursanalytisch angelegte Studien zu den rassisierenden Selbst- und Fremdbildern in der zeitgenössischen kolonialen Publizistik, zur Konstruktion von ‚weißer‘ Weiblichkeit, von Geschlecht, ‚Rasse‘ und Klasse im Kontext des deutschen Kolonialismus. Die außereuropäische Mobilität deutscher Frauen, ihre Aktionsradien und Handlungsformen in kolonialen Räumen wurden zunächst von feministisch orientierten Literaturwissenschaftlerinnen seit den frühen 1980er Jahren unter dem Signum Frauenreiseforschung in den Blick genommen. Da die Geschichte des Reisens bis dato ebenfalls vorrangig als eine Geschichte männlicher Mobilität konzipiert und beschrieben worden war, konzentrierte sich das Interesse zunächst darauf, die Existenz reisender Frauen nachzuweisen und auf das umfangreiche Material der Reiseliteratur von Frauen aufmerksam zu machen.3 Es zeigte sich, dass spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert zunächst adelige, dann auch vermehrt bürgerliche Frauen Fernreisen in außereuropäische Länder unternahmen – vorzugsweise in jene, die als ‚orientalisch‘ galten. In der beginnenden Moderne eröffnete sich für einzelne Frauen zunehmend die Möglichkeit, Neuland zu beschreiten – als Forschergattinnen und Kapitänsfrauen, als Ehefrauen von Künstlern, Architekten, Ingenieuren, Kaufleuten, Diplomaten, Kolonialbeamten und Militär2
3
Vgl. Gippert, Wolfgang: Frauen und Kolonialismus – Einblicke in deutschsprachige Forschungsfelder, in: Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2009) 56, S. 6-13. Aus der Fülle der bislang erschienenen Schriften seien hier nur einige der jüngeren Publikationen genannt, z.B. Dietrich, Annette: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktion von ‚Rasse‘ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007; Kundrus, Birthe: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003; dies.: Blinde Flecken. Das Deutsche Reich und seine Kolonien in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Hagemann, Karen, Quataert, Jean H. (Hrsg.): Geschichte und Geschlecht. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a.M., New York 2008, S. 130-154; Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a.M., New York 2006; Wildenthal, Lora: German Women for Empire, 1884-1945, Durham, London 2001. Vgl. Kap. 1.3. sowie die dort aufgeführte Literatur.
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
219
angehörigen, oder allein reisend aus beruflichen Gründen, etwa als Erzieherinnen, Lehrerinnen, Gouvernanten und Hausangestellte. Wichtige Impulse erhielt die Frauenreiseforschung durch ethnologische bzw. kulturanthropologische Lesarten sowie durch diskursanalytische Arbeiten, in denen Frauen nicht mehr primär als Reisende aufgefasst wurden, sondern vor allem als Textproduzentinnen. ‚Weiße‘ Frauen, die im 19. Jahrhundert außereuropäische Länder aufsuchten, bewegten sich im kolonialen bzw. kolonialisierten Raum, und ihre Berichte handeln u.a. auch von ihren Beziehungen zu und ihren Vorstellungen von den Menschen in den bereisten Länder. In vielen Erlebnisberichten von Frauen spiegelt sich die Annahme der Autorinnen von der Minderwertigkeit der ‚fremden‘ Gesellschaft und der Höherwertigkeit der eigenen Kultur wider. Der weiblich-europäische ‚Blick‘ auf das ‚Fremde‘ weist in seiner vertextlichten Form häufig rassisierende Merkmale auf: durch eine Begriffswahl, die ein Vorhandensein verschiedener menschlicher ‚Rassen‘ und ihrer ‚Vermischung‘ impliziert; durch infantilisierende Darstellungen von Menschen anderer Kulturen, die hierarchisierend sind und kulturelle Asymmetrien schaffen; durch Situationsbeschreibungen, die Assoziationen zum Tierreich hervorrufen oder die Menschen stark in die Nähe der Pflanzenwelt rücken.4 Eine grundlegende Figur rassistischen Denkens besteht etwa darin, eine Menschengruppe aufgrund von äußeren Merkmalen zu homogenisieren und ihr vermeintlich ‚natürliche‘ und damit unveränderliche Charaktereigenschaften zu- und damit gleichzeitig andere abzusprechen. In der negativen und abwertenden Darstellung des ‚Fremden‘ wurde die eigene Aufwertung automatisch mitgedacht. Somit trugen die Reiseberichte von Frauen dazu bei, das positive Selbstbild und das ‚weiße‘ Überlegenheitsgefühl der Angehörigen der europäischen Kultur zu bestätigen, zu untermauern und die deutsche Kolonialpolitik zu legitimieren. 4
Siehe etwa die folgenden zeitgenössischen Publikationen: Eckenbrecher, Margarete von: Was Afrika mir gab und nahm. Erlebnisse einer deutschen Frau in Südwestafrika 19021936, Berlin 1940; Falkenhausen, Helene von: Ansiedler-Schicksale. Elf Jahre in DeutschSüdwestafrika 1893-1904, Berlin 1904; Höpker, Lydia: Um Scholle und Leben. Schicksale einer deutschen Farmerin in Südwest-Afrika, Minden 1927; Prince, Magdalene: Eine deutsche Frau im Inneren Deutsch-Ostafrikas. Nach Tagebuchblättern erzählt, 2. Aufl., Berlin 1905. Zur Analyse der rassistischen Stereotypenbildung und zur Konstruktion von ‚Rasse‘ und Geschlecht in diesen Schriften siehe Arndt, Susan, Hornscheidt, Antje (Hrsg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2004; Sadji, Amadou Booker: Das Bild des Negro-Afrikaners in der deutschen Kolonialliteratur (1884-1945), Berlin 1985; Schneider, Rosa B.: „Um Scholle und Leben“. Zur Konstruktion von „Rasse“ und Geschlecht in der kolonialen Afrikaliteratur um 1900, Frankfurt a.M. 2003.
220
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
Eine ähnliche Funktion erfüllte die zeitgenössische koloniale Kinder- und Jugendliteratur, die in Deutschland eine breite Leser/innen/schaft hatte, zählten doch fremdländische Panoramen auf Jahrmärkten, Völkerschauen, Kolonialausstellungen, Bildreklamen, Postkarten und Fotografien mit außereuropäischen Motiven sowie die damit verbundene kommerzielle Ausbeutung kultureller Andersartigkeit zu festen Bestandteilen der Alltags-, Freizeitund Vergnügungskultur des Wilhelminischen Kaiserreichs.5 Ebenso wie Reiseberichte und autobiografische Kolonialerzählungen ermöglichte es die fiktionale Literatur den heranwachsenden Leserinnen und Lesern, ‚fremde‘ Gesellschaften und Kulturen kostengünstig in der geschützten Sphäre der heimischen vier Wände imaginieren und konsumieren zu können. Neben dem Unterhaltungswert, der auf Exotismus und Abenteuerlust beruhte, haftete der Kolonialliteratur ein ausgesprochen pädagogischer Impetus an: Durch die Lektüre sollte das Interesse des jungen Lesepublikums für die deutschen Überseegebiete sowie ihre Bereitschaft für künftige Kolonialaufgaben geweckt werden.6 Ab 1910 erschienen auch mehrere Romane, die sich explizit oder implizit an Mädchen richteten und ihren Handlungsort in der Siedlungskolonie Deutsch-Südwestafrika hatten.7 Darin wurden den jungen Leserinnen ein freies und ungebundenes Leben unter der Sonne Afrikas, neue Berufs- und Existenzmöglichkeiten, Gelegenheiten zur Überschreitung traditioneller Geschlechterrollen sowie ihre Teilhabe an nationalen und politischen Aufgaben und somit an kolonialer Herrschaftsmacht in Aussicht gestellt – durchaus reizvolle Perspektiven angesichts der mühevollen und
5
6
7
Vgl. exemplarisch Wolter, Stefanie: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt a.M., New York 2004; Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt a.M., New York 2005. Vgl. Pellatz, Susanne: Abenteuer Afrika. Kolonialerziehung in der Jugendlektüre der Kaiserzeit (1871-1918), in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 8, Bad Heilbrunn 2002, S. 7-30. Siehe etwa Bake, Elise: Schwere Zeiten. Schicksale eines deutschen Mädchens in Südwestafrika, München 1913; Hodann, Valerie: Auf rauhen Pfaden. Schicksale einer deutschen Farmerstochter in Deutsch-Südwest-Afrika, Dresden 1911.; Koch, Henny: Die Vollrads in Südwest. Eine Erzählung für junge Mädchen, 7. Aufl., Stuttgart 1918. Zur Interpretation vgl. Kirch, Silke: Mission und Submission. Die ‚Frauenfrage‘ in den afrikanischen Kolonien im Spiegel des Mädchenkolonialromans um 1900, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 8, Bad Heilbrunn 2002, S. 31-56; dies.: Reiseromane und Kolonialromane um 1900 für junge Leserinnen, in: Wilkending, Gisela (Hrsg.): Mädchenliteratur in der Kaiserzeit. Zwischen weiblicher Identifizierung und Grenzüberschreitung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 103-164.
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
221
kleinschrittigen Emanzipationserfolge der bürgerlichen Frauenbewegung in der Heimat.
9.2
Frauen in christlicher Mission
Die Kolonisierung außereuropäischer Länder ging in aller Regel mit Maßnahmen zur Missionierung der dort lebenden Menschen einher. Oftmals waren es christliche Missionare, die mit Händlern und Soldaten als erste ihren Fuß auf ‚unentdecktes Neuland‘ setzten und mit ihrer bekehrenden Vorarbeit in der einheimischen Bevölkerung eine Kolonisation in größerem Umfang erst ermöglichten. Durch Sprachunterricht, durch die Verbreitung europäischer Moralvorstellungen und insbesondere durch die ‚Erziehung zur Arbeit‘ fungierten Missionare als Wegbereiter der Kolonialherrschaft.8 Oberstes Ziel der Missionen war es, die sogenannten ‚Heidenkinder‘ zum Christentum zu erziehen und sie gleichzeitig zu ‚zivilisieren‘ – ein Ziel, dem kulturanthropologische Vorstellungen zu Grunde lagen, denen zufolge sich die auf einer niedrigeren Stufe stehenden ‚Naturvölker‘ hin zu einem höher stehenden ‚Kulturvolk‘ erst noch entwickeln müssten. Der Weg dorthin sollte über die Internalisierung deutscher Tugenden führen: Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Sittlichkeit, Fleiß und Pflichterfüllung sowie Loyalität gegenüber den Kolonisierenden und Unterordnung unter ihre Herrschaft. Die Bedeutung von Frauen in den protestantischen und katholischen Missionswerken Afrikas und Asiens ist bislang wenig erforscht; noch gibt es mehr Fragen als gesicherte Befunde.9 Fest steht, dass das missionarische Bil8
9
Die Berliner Missionsgesellschaft beispielsweise, eine der ältesten und größten deutschen Missionsgesellschaften, entsandte bereits 1833 ihre ersten Missionare nach Südwestafrika – und damit rund 50 Jahre, bevor Deutsch-Südwest offiziell als Schutzgebiet des Deutschen Reiches erklärt wurde. Vgl. Heyden, Ulrich van der: Die Berliner Missionsgesellschaft, in: Ders., Zeller, Joachim (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 64. So die Einschätzung von Eckl, Andreas: Grundzüge einer feministischen Missionsgeschichtsschreibung. Missionarsgattinnen, Diakonissen und Missionsschwestern in der deutschen kolonialen Frauenmission, in: Bechhaus-Gerst, Marianne, Leutner, Mechthild (Hrsg.): Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009, S. 132f. Vgl. zudem: Freytag, Mirjam: Frauenmission in China, Münster u.a. 2000; Hauser, Julia: „das hier so furchtbar verwahrloste weibliche Geschlecht aus dem Stande heben zu helfen“. Der emanzipatorische Auftrag Kaiserswerther Diakonissen im Osmanischen Reich (1851-1918), in: Gippert, Götte, Kleinau: Transkulturalität, S. 219-236; Keim, Christine: Frauenmission und Frauenemanzipation. Eine Diskussion in der Baseler Mission im Kontext der frühen ökumenischen Bewegung (1901-1928), Münster 2005; Konrad, Dagmar: Missionsbräute.
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
dungs- und Gemeinschaftsideal einer ‚christlichen Dorfbevölkerung‘ ohne die Unterstützung von Frauen nicht verwirklicht werden konnte, weil männliche Missionare kaum Zugang zu indigenen Frauen fanden.10 Für ihre Bekehrungsarbeit gründeten die Missionsgesellschaften Kindergärten, Waisenhäuser, einfache Dorfschulen, höhere Stations-, Handwerker-, Haushaltungs- und Internatsschulen; sie betrieben Sonntagsschulen und ein christliches Vereinswesen. Den in aller Regel unverheirateten protestantischen Missionaren sollten Frauen an die Seite gestellt werden, die vor allem durch das beispielhafte Vorleben eines christlichen Eheideals die Arbeit der männlichen Missionare ergänzten. Zu diesem Zweck betrieben die evangelischen Missionsgesellschaften seit 1884 die organisierte Aussendung von ‚Missionsbräuten‘ – die Vermittlung heiratswilliger junger Frauen – und lediger weiblicher Missionsangehöriger in die ‚Heidenländer‘ Indien, Afrika oder China.11 In den Missionsstationen vor Ort konnten deutsche Frauen verschiedene Positionen einnehmen: als Missionarsgattinnen, die ihren Mann bei der Missionsarbeit unterstützten und dabei auch Unterrichtsfunktionen übernahmen, als selbständige Missionarinnen oder Missionsschwestern, als ledige Lehrerinnen oder Erzieherinnen, die eigens für diese Zwecke von den Missionsgesellschaften eingestellt wurden. Sowohl die ledigen als auch die verheirateten Missionsmitarbeiterinnen waren – dem europäischen Weiblichkeitsideal, der Bildungs- und Berufshierarchie entsprechend – vor Ort dem Missionar untergeordnet. Innerhalb des kolonialen Herrschaftsgefüges nahmen sie dennoch gegenüber den afrikanischen ‚Kolonialuntertanen‘ übergeordnete Positionen ein – gegenüber männlichen wie weiblichen.12 Als Missionarsgattinnen hatten deutsche Frauen mehrere Aufgabenbereiche: Insbesondere sollten sie dem polygamen ‚verwilderten‘ Eheleben der
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Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Baseler Mission, Münster 2001; Prodolliet, Simone: Wider die Schamlosigkeit und das Elend heidnischer Weiber. Die Baseler Frauenmission und der Export des europäischen Frauenideals in die Kolonien, Zürich 1987. Smidt, Karen: „Germania führt die deutsche Frau nach Südwest“. Auswanderung, Leben und soziale Konflikte deutscher Frauen in der ehemaligen Kolonie DeutschSüdwestafrika 1884-1920. Eine sozial- und frauengeschichtliche Studie, Diss., Magdeburg 1995, S. 29. Auf diese Weise gelangte auch die Tante von Auguste Mues, Christine Kähler, nach Südafrika (vgl. Kap. 7.1). Siehe grundlegend die Studie von Konrad: Missionsbräute. Die Rheinische Mission beispielsweise sandte zwischen 1865 und 1888 insgesamt 15 ‚Missionsbräute‘ nach Südwestafrika; 1909 übten ungefähr 200 Frauen eine Tätigkeit in den deutsch-evangelischen Missionsgesellschaften aus; vgl. ebenfalls Smidt: Germania, S. 29. Vgl. Adick, Christel, Mehnert, Wolfgang: Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten. Eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884-1914, Frankfurt a.M., London 2001, S. 306.
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‚Heiden‘ entgegenwirken und afrikanische Frauen nach dem Muster europäischer Sittlichkeitsideale erziehen. Außerdem widmeten sie sich der Schulung afrikanischer Kinder sowie der Krankenpflege. Das zentrale Ziel deutscher Erziehung in den Kolonien war jedoch die ‚Erziehung des Negers zur Arbeit‘13 als eine Vorbedingung für die wirtschaftliche Ausbeutung wenig oder unqualifizierter, billiger Arbeitskräfte. An den Missionsschulen führten deutsche Frauen ein Arbeitserziehungsprogramm durch, das bürgerlichen Weiblichkeitsvorstellungen entlehnt und speziell auf afrikanische Mädchen und Frauen hin ausgerichtet war: An nahezu allen Missionsschulen, wo eine Missionarsfrau oder eine Ordensschwester vor Ort war, wurde Handarbeitsunterricht erteilt, gab es praktische Unterweisungen in der Haus- und Landarbeit, wurden die Mädchen im Stricken, Stopfen, Nähen, Putzen, Waschen und Plätten angeleitet, aber auch im Lesen, Schreiben und Rechnen. Damit sollten sie auf eine spätere Tätigkeit als Dienstmädchen in ‚weißen‘ Haushalten vorbereitet werden.14 Deutsche Frauen wirkten als ‚Kulturträgerinnen‘ vor allem bei den erzieherischen Aufgaben der Mission zur Durchsetzung deutscher Sitten mit. Dies betraf sowohl die Verbreitung des christlichen Familienideals als auch die ‚Umerziehung‘ der Einheimischen zu deutschen Untertanen und zur Arbeit im Kolonialsystem.
9.3
Bürgerlich-nationale Frauenverbände und die ‚koloniale Frauenfrage‘
Die Anwerbung von Missionarsfrauen und -bräuten stellte nach Smidt die erste Phase der organisierten kolonialen Frauenverschickung dar.15 In der zweiten Phase wurden um 1892/93 vor allem Krankenpflegerinnen, Krankenschwestern und Hebammen zur Verbesserung des Gesundheitswesens in die Kolonie geschickt. Als Akteure traten vor allem die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) sowie der Deutsche Frauenverein für Krankenpflege in den Kolonien in Erscheinung. Im Zuge erster bevölkerungspolitisch motivierter Maßnahmen 13
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Vgl. das zeitgenössische Pamphlet des Südafrikamissionars Merensky, Alexander: Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagenarbeit? Berlin 1912 sowie Nestvogel, Renate: Die Erziehung des ‚Negers‘ zum deutschen Untertan: Zur Kontinuität des herrschaftlich-elitären Umgangs mit anderen Völkern, in: Dies., Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde, Berlin, Hamburg 1987, S. 55-82. Vgl. Adick, Mehnert: Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik, S. 309f. Vgl. Smidt: Germania, S. 28.
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
forcierte die DKG aber auch die Entsendung erster Ansiedlerfrauen und Ansiedlerbräute in die Kolonie. Der bevölkerungspolitische Diskurs entwickelte sich vor dem Hintergrund, dass in die Siedlungskolonie DeutschSüdwestafrika, in der nach kaiserlichen Vorstellungen ein neues ‚junges Deutschland‘ entstehen sollte, vorrangig Männer einwanderten: Soldaten der ‚Schutztruppen‘, Verwaltungsbeamte, Arbeiter für den Eisenbahnbau, Handwerker und künftige Farmer. Der Mangel an deutschen Frauen im heiratsfähigen Alter führte dazu, dass die zumeist ledigen Männer Afrikanerinnen heirateten. Wesentlich häufiger waren indes außereheliche ‚Konkubinatsverhältnisse‘ mit afrikanischen Frauen; auch waren Prostitution und Vergewaltigungen keine Seltenheit. Die sogenannten ‚Mischehen‘, zudem die starke Zunahme illegitimer ‚Mischlingskinder‘16 wurden von Kolonialfunktionären als eine Gefahr für das ‚Deutschtum‘ vor Ort interpretiert. Als besondere Gefährdung wurde die Neigung deutscher Männer angesehen, die Landessitten anzunehmen, wenn sie mit einer afrikanischen Frau zusammenlebten. Die so erfolgte Annäherung an eine ‚andere‘ Kultur wurde mit dem Begriff der ‚Verkafferung‘ umschrieben, was die Furcht vor dem Verlust deutscher Kulturerrungenschaften implizierte. Mit dem Verlust der ‚deutschen Kultur‘ standen jedoch auch nationale Interessen in der Kolonie auf dem Spiel. ‚Mischehen‘ konnten in Südwestafrika seit 1905 weder durch eine standesamtliche noch durch eine kirchliche Trauung legitimiert werden, weil Eheschließungen zwischen ‚Weißen‘ und ‚Schwarzen‘ verboten waren. 1907 wurden alle bereits bestehenden Ehen für ungültig erklärt. Die Rechtslage war nicht unumstritten, da das Verbot lediglich auf einer behördeninternen Verwaltungsordnung beruhte und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) im Deutschen Reich kein Ehehindernis in Form von unterschiedlicher Hautfarbe oder ‚Rasse‘ vorsah. ‚Mischehen‘ hätten also jederzeit rechtsgültig von einem Standesbeamten in 16
Kolonialistische Verlautbarungen erwecken den Eindruck einer stark ansteigenden Zahl von ‚Mischehen‘. Für den Zeitraum von 1891-1913 sind jedoch nur ca. 50 solcher Ehen verzeichnet. Fast 99 % aller ‚Mischlingskinder‘ entstammen einer nicht legitimierten Verbindung (vgl. ebd., S. 146). Wenn im kolonialen Kontext von ‚Mischehen‘ oder Konkubinaten die Rede ist, sind damit (nicht-)legitimierte sexuelle Verbindungen von ‚weißen‘ Männern mit indigenen Frauen gemeint. Obwohl diese Beziehungen gesellschaftlich als Mesalliance gewertet wurden, fanden sich genügend Stimmen, die die sexuelle Not alleinlebender Männer als Entschuldigung anführten. Dagegen wurde jede bestehende oder imaginierte Beziehung einer deutschen Frau mit einem Afrikaner als drohender Verlust ‚weißer‘ Herrschaft erlebt: „Dieser Deutung lag eine Logik zugrunde, die den weiblichen Körper als nationalisierten ‚Volkskörper‘ codierte“ (Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 223).
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
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Deutschland geschlossen werden können und wurden in Einzelfällen auch vollzogen.17 Zudem konnten deutsche Männer ihre ‚schwarzen‘ Freundinnen in der Kapkolonie heiraten, da das Vereinigte Königreich diese Ehen anerkannte. In die ungeklärte Gemengelage passt auch die 1912 verabschiedete Resolution, mit der der deutsche Reichstag den Bundesrat aufforderte, durch ein Gesetz „die Gültigkeit aller Ehen zwischen ‚Weißen‘ und ‚Eingeborenen‘ in allen deutschen Kolonien“ sicherzustellen.18 Das Heiratsverbot stellte für deutsche Männer zunächst kein großes Hindernis im Zusammenleben mit einer Afrikanerin dar.19 Nach und nach sorgten jedoch zunehmende formelle und informelle Diskriminierungen für Empörung unter den betroffenen deutschen Siedlern, die sich in ihrem männlichen sexuellen Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt sahen: Farmen durften nicht mehr an deutsche Männer verkauft, keine Darlehen mehr an sie vergeben werden und Vereine fügten in ihre Statuten Klauseln ein, die Männern die Mitgliedschaft verweigerten, wenn sie mit einer indigenen Frau verheiratet waren oder zusammenlebten.20 1909 traten die §§ 17f. und 106 der Selbstverwaltungsordnung für Deutsch-Südwestafrika in Kraft, die ‚weißen‘ Männer, die in einer ‚Mischehe‘ oder in einem Konkubinat lebten, vom aktiven und passiven Wahlrecht zum Landesrat ausschlossen.21 Auch die afrikanischen Frauen gerieten ins Visier der Kolonialverwaltung. Ab 1912 war die Geburt eines ‚Mischlingskindes‘ anzeigepflichtig, und die Verordnung wurde mit der Bemerkung verschickt, dass die anzeigende Frau wie eine Prostituierte zu behandeln sei.22 Darüber hinaus war die Polizei befugt,
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Vgl. ebd., S. 225. Ebd., S. 220. Das Verbot, ‚Mischehen‘ einzugehen, war 1906 auf Deutsch-Ostafrika, 1912 auf Samoa ausgedehnt worden. Pikanterweise gab es in Togo offiziell keine ‚Mischehen‘, weil dem Gouverneur Adolf Friedrich zu Mecklenburg, einem Bruder des Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft, selbst Beziehungen zu indigenen Frauen und daraus entstandenen ‚Mischlingskindern‘ nachgesagt wurden (vgl. ebd., S. 219). Die niederländische Historikerin Frances Gouda berichtet z.B., dass den Angestellten westlicher Gummi- und Tabakgesellschaften in Sumatra, denen die Heirat mit einer Indonesierin untersagt worden war, geradezu nahegelegt wurde, sich eine einheimische Konkubine zuzulegen (vgl. Gouda, Frances: „Das unterlegene“ Geschlecht der „überlegenen“ Rasse. Kolonialgeschichte und Geschlechterverhältnisse, in: Schissler, Hanna (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1993, S. 197. Vgl. Kundrus: Moderner Imperialisten, S. 260. Vgl. dies.: „Die Farbe der Ehe“. Zur Debatte um die kolonialen Mischehen im Deutschen Kaiserreich, in: Ernst, Waltraud, Bohle, Ulrike (Hrsg.): Geschlechterdiskurse zwischen Fiktion und Faktizität, Hamburg 2006, S. 143; dies.: Moderne Imperialisten, S. 260. Vgl. dies.: Moderne Imperialisten, S. 249.
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
ein ‚rassegemischtes‘ Paar zu trennen, wenn sie die öffentliche Ordnung als gefährdet ansah.23 In der dritten Einwanderungsphase, die 1898 einsetzte, hatte es sich die DKG zur Aufgabe gemacht, als ‚Vorbeugemittel‘ gegen ‚rassegemischte‘ Beziehungen ledige und heiratswillige deutsche Frauen, vornehmlich Dienstmädchen oder andere Frauen aus unteren sozialen Schichten in die Kolonie zu entsenden. Die verkappte Heiratspolitik hatte Erfolg: Von den 24 ledigen Frauen, die 1898/99 nach Südwestafrika einwanderten, waren innerhalb kürzester Zeit alle Frauen, bis auf zwei, verheiratet.24 Erst in der vierten, ab 1907 einsetzenden Phase engagierten sich vermehrt bürgerliche Frauenvereine eigenständig in der Kolonialbewegung und -politik des Kaiserreichs, allen voran der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft.25 Der Frauenbund, der 1907 von Ehefrauen südwestafrikanischer ‚Schutztruppenoffiziere‘, Unternehmern und hoher Beamter als DeutschKolonialer Frauenbund gegründet worden war und sich ein Jahr später der Deutschen Kolonialgesellschaft anschloss, hatte in der deutschen Kolonialpolitik eine exponierte Stellung. Der Verband zählte 1914 18.700 Mitglieder und unterhielt in 145 deutschen Städten Geschäftsstellen.26 Neben den vielfältigen Aktivitäten auf dem Gebiet der Kolonialpropaganda durch öffentliche Vorträge, Spendensammlungen und der Verbreitung eines eigenen Organs mit dem Titel Kolonie und Heimat27 erlangte der Frauenbund seine besondere Bedeutung im Kontext der ‚kolonialen Frauenfrage‘. Unterstützte die DKG bis 1907 rund 500 deutsche Frauen bei ihrer
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Vgl. ebd., S. 249f. Vgl. Smidt: Germania, S. 98. Vgl. Carstens, Cornelia, Vollherbst, Gerhild: „Deutsche Frauen nach Südwest!“ – Der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, in: Heyden, Zeller: Kolonialmetropole, S. 50-56; Kundrus, Birthe: Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs, in: Conrad, Sebastian, Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2006, S. 213-235; Rübenstahl, Magdalene: „Gedenket unsrer Landsleute, die fern der Heimat krank liegen!“ – Der Deutsche Frauenverein für Krankenpflege in den Kolonien, in: Heyden, Zeller: Kolonialmetropole, S. 56-66; Walgenbach: „Die weiße Frau“, S. 83ff.; Wildenthal, Lora: Rasse und Kultur. Koloniale Frauenorganisationen in der deutschen Kolonialbewegung des Kaiserreichs, in: Kundrus, Birthe (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a.M., New York 2003, S. 202-219. Vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 34; Carstens, Vollherbst: „Deutsche Frauen nach Südwest!“, S. 51. Die 1907 erstmalig erschienene Zeitschrift verzeichnete 1910 bereits 100.000 Abonnentinnen und Abonnenten (vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 12).
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Ansiedlung in Südwestafrika,28 stieg die Zahl um ein Vielfaches, als der Frauenbund mit einem speziellen Anwerbungsprogramm seine Tätigkeit aufnahm. Künftig arbeiteten beide Verbände Hand in Hand: Der Frauenbund übernahm das Anwerbungs- und Auswahlverfahren der Frauen, die zunächst als Dienstmädchen, Hauswirtschafterinnen oder Lehrerinnen in der Kolonie siedeln wollten; die DKG unterstützte die Auswanderungswilligen bei der Finanzierung und Übersiedlung. Die Frauen wurden nach sittlichen und leistungsmäßigen Kriterien und besonders nach ihrer nationalen Gesinnung ausgewählt. Zudem arbeitete der Frauenbund eng mit den Kolonialen Frauenschulen in Carthaus bei Trier, Witzenhausen und später Bad Weilbach zusammen: Hier wurden junge gebildete Frauen mit den wichtigsten kolonialen Kenntnissen versehen und Handfertigkeiten ausgebildet – etwa in der Krankenpflege, in praktischer Buchführung sowie in tropischer Haus- und Landwirtschaft. Das Ziel dieser Schulung war die Vorbereitung der Frauen auf ein Ehe- und Familienleben als Farmersgattinnen, aber auch als selbständige Farmerinnen.29 Aufgrund der eingeschränkten Berufsmöglichkeiten und Heiratsaussichten für gebildete Frauen in Deutschland war der Frauenbund besonders daran interessiert, Frauen der eigenen Gesellschaftskreise die Auswanderung zu ermöglichen und ihnen Stellungen in der Kolonie zu vermitteln.30 Im Vergleich mit Dienstmädchen oder anderen Frauen vergleichbarer sozialer Herkunft erschienen bürgerliche Frauen besser geeignet, den ‚weiblichen Kultureinfluss‘ vor Ort einzubringen, der drohenden ‚Verrohung‘ der Männerwelt Einhalt zu gebieten, in Ehen ‚weißen‘ Nachwuchs zu produzieren und damit für die Festigung der hierarchischen ‚Rassendistanz‘ als Grundlage des kolonialen Herrschaftsverhältnisses zu sorgen. Mit Unterstützung der beiden Kolonialorganisationen waren bis 1913 fast 1.500 Frauen nach Deutsch-Südwestafrika ausgewandert. Der größte Teil von ihnen konnte als Dienstmädchen in Farmerhaushalte vermittelt werden. Die Frauen blieben oft nicht lange in ihren ursprünglichen Stellungen; sie wechselten, wenn sich eine besser bezahlte Stellung anbot, oder sie heirateten.31 Als ‚Pflanzersgattinnen‘ wurden sie auf ihren Ländereien ‚Her28 29
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Vgl. Carstens, Vollherbst: „Deutsche Frauen nach Südwest!“, S. 52. Vgl. ebd. Zu den Kolonialen Frauenschulen vgl. Lerp, Dörte: Zwischen Bevölkerungspolitik und Frauenbildung. Die Kolonialfrauenschulen in Witzenhausen und Bad Weilbach, in: Bechhaus-Gerst, Leutner: Frauen in den deutschen Kolonien, S. 32-39; Rommel, Mechthild, Rautenberg, Hulda: Die Kolonialen Frauenschulen von 1908-1945, Witzenhausen 1985; Siegle, Dorothea: „Trägerinnen echten Deutschtums“. Die Koloniale Frauenschule Rendsburg, Neumünster 2004. Vgl. Smidt: Germania, S. 65. Vgl. Carstens, Vollherbst: „Deutsche Frauen nach Südwest!“, S. 52.
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
rinnen‘ und Teilhaberinnen an der Macht über afrikanische Farmarbeiter und Dienstmädchen. Durch den Mangel an ‚weißen‘ Frauen gelang diesen Frauen ein sozialer Aufstieg, der aufgrund der ausgeprägten Standesunterschiede im Deutschen Reich nicht möglich gewesen wäre.
9.4
Koloniale Frauenbiografien
Während die Konstruktionen und diskursiven Verschränkungen von ‚Rasse‘, Geschlecht und auch Klasse in der zeitgenössischen Publizistik mehrfach untersucht worden sind und das Feld der organisierten Entsendung von Frauen in die Kolonien konturiert ist, sind die handelnden Akteurinnen, ihre Biografien und Netzwerke, ihre Einstellungen und öffentlichen ‚Sprechräume‘ sowie ihre Möglichkeiten und Formen der aktiven Teilhabe an der kolonialen Herrschaftsausübung erst ansatzweise untersucht. Akteurszentrierte Studien zum Leben und Werk führender Protagonistinnen können das organisations-, sozial- und diskursgeschichtlich ausgerichtete Forschungsfeld um lebensgeschichtliche Perspektiven erweitern und vertiefen. Hierzu einige Beispiele: Freifrau Adda von Liliencron, geboren 1844, stammte aus einer adligen Militärsfamilie. Sie war die Tochter des Premierleutnants und späteren Generals Karl von Wrangel. Ihr Großonkel hatte sich 1848 als General an der Niederschlagung der Revolution in Berlin beteiligt. 1864 heiratete sie den Freiherrn von Liliencron, der ebenfalls ein Militärangehöriger war. Nach seinem Tode 1901 widmete sie sich ehrenamtlicher Arbeit. Ihr Interesse an kolonialen Fragen wurde 1904 durch die Berichterstattung über den Krieg gegen die Herero in Südwestafrika geweckt. Sie rief zur Unterstützung der deutschen Soldaten auf, mit denen sie in einem regen Briefwechsel stand, organisierte Geldspenden sowie Sammlungen für ‚Schutztruppenangehörige‘ und schrieb u.a. koloniale Theaterstücke. Adda von Liliencron war Mitbegründerin des Frauenbundes und wurde dessen erste Vorsitzende. Aufgrund ihres Engagements für die deutschen Kolonien und für die spätere Frauenaussendung wurde sie auch ‚Freifrau von Afrika‘ genannt.32
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Vgl. Smidt: Germania, S. 318. Das umfangreiche Œuvre Liliencrons ist bislang noch keiner systematischen Analyse unterzogen worden. Siehe z.B. Liliencron, Adda von: Bei der Schutztruppe. Kriegsbilder aus Südwestafrika, Mühlhausen i. Th. 1906; dies.: Nach Südwestafrika. Erlebnisse aus dem Hererokrieg nach Briefen von Mitkämpfern, Stuttgart 1906; dies.: Reiterbriefe aus Südwest. Briefe und Gedichte aus dem Feldzug in Südwestaf-
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Eine Weggefährtin Adda von Liliencrons war die Industriellenwitwe Hedwig Heyl, die 1910 für zehn Jahre lang den Vorsitz des Frauenbundes übernahm. Die Unternehmerin war eine der führenden Vertreterinnen im Bund Deutscher Frauenvereine, dem Dachverband bürgerlicher Frauenvereine. 1890 hatte sie die erste Gartenbauschule für Frauen gegründet. Sie unterstützte zudem die Aktivitäten der Kolonialfrauenschulen in Witzenhausen und Bad Weilbach in ihren kolonialspezifischen weiblichen Ausbildungsmaßnahmen. Zudem war sie die Vorsitzende des Verbandes zur Hebung hauswirtschaftlicher Frauenbildung, der dem Bund Deutscher Frauenvereine angegliedert war.33 Unter dem Vorsitz von Hedwig Heyl näherten sich im Frauenbund kolonialistische und feministische Diskurse einander an. Sie setzte sich für neue Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in den Kolonien ein, forderte die Gründung ‚weißer‘ Kindergärten und Schulen in den Überseegebieten und trat für eine Rationalisierung der Hausarbeit durch Hygiene ein. Zudem hatte Heyl einen maßgeblichen Einfluss auf die Konstruktion und den Export der kolonialen Haushaltsideologie: Als „Miniaturausgabe der nationalen Ökonomie“ wies sie dem deutschen Haushalt, verkörpert durch die ‚weiße‘ bürgerliche Frau, in den Kolonialgebieten zentrale Bedeutungen zu, so als „[...] Metapher für die deutsche Kultur, die sich in Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Zivilisation und Hygiene manifestierte“.34 Über derartige Positionierungen und Selbstinszenierungen als ‚weißes‘ Kollektiv ließen sich die Grenzen gegenüber den als ‚rassisch anders‘ konstruierten Afrikanerinnen und Afrikanern räumlich und sozial verfestigen. Koloniale Häuslichkeit und die damit verbundenen Lebens- und Konsumgewohnheiten wurden als Ausdruck einer zivilisierten, modernen, höherwertigen Kultur, Nation und ‚Rasse‘ stilisiert, Frauen als Kulturträgerinnen mit der Mission versehen, Mittelstandswerte als Ideal des ‚Deutschtums‘ zu verbreiten. Darüber hinaus sah Hedwig Heyl in der Professionalisierung weiblicher Tätigkeiten eine Chance für ‚weiße‘ Frauen, sich in den Kolonien eine eigenständige Existenz aufzubauen.35 Auch Frieda Freiin von Bülow, die mehrere Jahre in der Kolonie Deutsch-Ostafrika gelebt hatte und koloniale sowie frauenrechtlerische Interessen förderte, engagierte sich für die ‚koloniale Frauenfrage‘. Sie nahm be-
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35
rika in den Jahren 1904-1906, Oldenburg, Leipzig 1907; dies.: Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Berlin 1912. Biografische Hinweise zu Hedwig Heyl sind zu finden bei Dietrich: Weiße Weiblichkeiten, S. 298ff.; Smidt: Germania, S. 62; Wildenthal: Rasse und Kultur, S. 211ff. Dietrich, Anette: Rassenkonstruktionen im deutschen Kolonialismus. „Weiße Weiblichkeiten“ in der kolonialen Rassenpolitik, in: Bechhaus-Gerst, Leutner: Frauen in den deutschen Kolonien, S. 186. Vgl. ebd.
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reits 1884 Kontakt zu dem äußerst rabiat agierenden ‚Kolonialpionier‘ Carl Peters und der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation auf und sorgte dafür, dass ihr Bruder als Kompanieführer der ‚Schutztruppe‘ nach Deutsch-Ostafrika beordert wurde. Ihr selbst hingegen blieb langfristige aktive Teilnahme am Kolonialleben im ‚Schutzgebiet‘ verwehrt, da selbständige wirtschaftliche Bestrebungen von Frauen in den Kolonialgebieten zu dieser Zeit kaum geduldet wurden. Dennoch unternahm sie zwei erfolglose Versuche, in der Kolonie Ostafrika Fuß zu fassen: 1887 reiste sie erstmalig dorthin, um als Mitbegründerin des Deutschen Frauenvereins zur Krankenpflege in den Kolonien in Daressalam eine Krankenstation aufzubauen. Aufgrund einer Erkrankung kehrte sie jedoch nach neun Monaten nach Deutschland zurück. Ihr zweiter Versuch, in der Kolonie auf einer Plantage Landbau zu betreiben, scheiterte 1893 an der Weigerung des Auswärtigen Amts, den Schutz von Person und Eigentum zu übernehmen. Private Ländereien von allein stehenden Frauen waren in dem ‚Schutzgebiet‘ ebenso wenig erwünscht wie ihre Niederlassung dort: Frieda von Bülow übertrug ihren Grundbesitz der DeutschOstafrikanischen Gesellschaft und verließ die Kolonie. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte sie ihre Erlebnisse in Deutsch-Ostafrika, schrieb zahlreiche Erzählungen und begründete mit ihren Publikationen das Genre des deutschen Kolonialromans.36 Die hier angeführten biografischen Skizzen, die sich um weitere Kolonialagitatorinnen wie Clara Brockmann, Ada Cramer, Margarete von Eckenbrecher, Helene von Falkenhausen, Else Frobenius oder Leonore NießenDeiters erweitern ließen,37 zeigen beispielhaft, dass die Kolonialgeschichte 36
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Vgl. Gränzer, Sieglinde: „Die Kolonie braucht Frauen!“ Zur Migration deutscher Frauen nach Afrika (1884-1914), in: Blaschke, Monika, Harzig, Christiane (Hrsg.): Frauen wandern aus: Deutsche Migrantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Bremen 1990, S. 183-197. Vgl. zudem Smidt: Germania, S. 57; Bechhaus-Gerst, Marianne: Die Kolonialschriftstellerin Frieda von Bülow, in: Dies., Leutner: Frauen in den deutschen Kolonien, S. 66-69; Klotz, Marcia: White Women and the Dark Continent: Gender and Sexuality in German Colonial Discourse from the Sentimental Novel to the Fascist Film, Diss., Stanford University 1995, S. 24-64. Einen großen zeitgenössischen Leser/innen/kreis erzielten etwa die folgenden Publikationen: Bülow, Frieda Freiin von: Reisescizzen und Tagebuchblätter aus Deutsch-Ostafrika, Berlin 1889; dies.: Tropenkoller, Berlin 1896; dies.: Im Lande der Verheißung. Ein deutscher Kolonialroman, Dresden 1914. Vgl. etwa die folgenden Publikationen: Frobenius, Else: Erinnerungen einer Journalistin. Zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Hrsg. und kommentiert von Lora Wildenthal, Köln, Weimar, Wien 2005; Gippert, Wolfgang, Kleinau, Elke: Als Lehrerin in Deutsch-Südwest. Der koloniale Blick auf das „Fremde“ in Berufsbiographien von Lehrerinnen, in: Schlüter, Anne (Hrsg.): Bildungs- und Karrierewege von Frauen. Wissen – Erfahrungen – biographisches Lernen, Opladen 2006, S. 168-182; Gippert, Wolfgang:
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von Frauen ebenso komplex und kompliziert sowie ebenso wenig linear und kohärent ist wie jene von Männern: Ansiedlerfrauen in DeutschSüdwestafrika fanden andere Bedingungen, Aufgaben und Handlungsräume vor als die Ehefrauen von Offizieren oder Plantagenbesitzern in Ostafrika oder aber Missionarsfrauen in Togo und China. Zudem agierten sie im kolonialen Kontext als Angehörige eines bestimmten Standes oder Berufes. Die Erforschung von Einzel- und Gruppenbiografien kann weiteren Aufschluss in der Frage geben, inwiefern deutsche Frauen durch die Übernahme des weiblichen Parts der Inszenierung einer imperialen Kultur den Kolonialismus mitkonstituierten und ob ihre Rolle tatsächlich auf das Feld traditionell femininer Tätigkeiten beschränkt blieb.
9.5
Lehrerinnen in Deutsch-Südwest: Helene von Falkenhausen und Clara Brockmann
Zu jenen Frauen, die auf lange koloniale Erfahrungen in DeutschSüdwestafrika verweisen konnten, die als Farmerinnen in der Kolonie ein landwirtschaftliches Auskommen suchten, die sich aktiv an der Ausbildung und Stellenvermittlungen auswanderungswilliger Frauen beteiligten und die schließlich ihre Erinnerungen an die Kolonialzeit in Form von Autobiografien niederschrieben – zu jenen Frauen zählt Helene von Falkenhausen (1875-1945). Geboren als Tochter des Oberamtmanns Nitze, gehörten ihr Vater und ihr Bruder 1892 zu den ersten Deutschen, die mit Unterstützung der Deutschen Kolonialgesellschaft nach Südwestafrika auswanderten. Sie siedelten sich in Klein-Windhoek an und begannen dort, für die Familie eine landwirtschaftliche Existenz aufzubauen. Nach ihrem bestandenen Lehrerinnenexamen folgte Helene Nitze 1893 mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern den männlichen Siedlungspionieren nach. Ihre Qualifikation als Lehrerin war in der noch jungen Kolonie gefragt. 1894 wurde sie als erste Frau an der neu gegründeten Regierungsvolksschule in Groß-Windhoek eingestellt.38
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„Pioniere unseres Volkstums“ - Kulturimperialistische Propaganda der deutschen Journalistin Leonore Nießen-Deiters im frühen 20. Jahrhundert, in: medien & zeit – Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 24 (2009) 3, S. 28-37; Kleinau, Elke: Das Eigene und das Fremde. Frauen und ihre Beteiligung am kolonialen Diskurs, in: Lohmann, Ingrid, Gogolin, Ingrid (Hrsg.): Die Kultivierung der Medien: Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Beiträge, Opladen 2000, S. 201-218. Vgl. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 34f.; Smid: Germania, S. 251. Falkenhausen berichtet in ihrer Autobiografie, sie sei vom „Landeshauptmann von Lindequist“ ge-
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
1899 heiratete Helene Nitze den deutschen Farmer Friedrich Freiherr von Falkenhausen. Sie gab ihre Stellung als Lehrerin auf, um zusammen mit ihrem Mann in der Nähe von Windhoek eine Farmerexistenz aufzubauen. Das Auskommen aus der Land- und Viehwirtschaft erwies sich jedoch als unzureichend, so dass sich Falkenhausens zusätzlich als Wanderhändler betätigten. Damit waren jene unseriösen kolonialen Kreditgeschäfte verbunden, welche die indigene Bevölkerung zunehmend in die Armut, in die Abhängigkeit der ‚Kolonialherren‘ und damit in die Verelendung trieben39 – ein Grund für den Ausbruch des Antikolonialkrieges der Herero im Jahre 1904, in dessen ersten Tagen Friedrich von Falkenhausen einen gewaltsamen Tod fand.40 Nach dem Tod ihres Mannes und vor den Unruhen flüchtend kehrte Helene von Falkenhausen nach Deutschland zurück. Sie hielt mehrere viel beachtete Vorträge über ihre kolonialen Erlebnisse,41 die sie schließlich 1905 unter dem Titel Ansiedlerschicksale. 11 Jahre in Deutsch-Südwestafrika veröffentlichte. Seit 1907 plante sie, eine Kolonialfrauenschule in Südwestafrika zu gründen. Auf Initiative von Professor Fabarius, des Leiters der ‚Deutschen Kolonialschule‘ in Witzenhausen, übernahm sie jedoch 1908 die Leitung und Geschäftsführung der neu gegründeten Kolonialfrauenschule in Witzenhausen.42 Die mangelnde Liberalität Fabarius‘ und grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten führten jedoch dazu, dass Helene von Falkenhausen ihre Stellung bereits ein Jahr später wieder kündigte. Sie kehrte nach Südwestafrika zurück und verwirklichte mit der Gründung der Lehrfarm Brakwater bei Windhoek, auf der sich gebildete Frauen als selbständige Farmerinnen ausbilden lassen konnten, ihren ursprünglichen Traum von einer Kolonialfrauenschule in Südwestafrika.43 Jeweils sechs Frauen aus den ‚gebildeten Ständen‘ sollten hier während eines sechsmonatigen Aufenthaltes in den verschiedensten Zweigen der Farmwirtschaft ausgebildet werden. Insbesondere
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drängt worden, die Anstellung zu übernehmen, bei Smidt wird daraus „Gouverneur von Lindequist“ (vgl. Smidt: Germania, S. 231). Beide Angaben können nicht stimmen, da der Gouverneursposten in Südwestafrika mit Theodor Leutwein 1898 zum ersten Mal besetzt wurde. Lindequist wurde erst 1905 zum Gouverneur ernannt und hatte zuvor nicht die Position eines Landeshauptmanns bekleidet. Vgl. Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, 5. verb. und erg. Aufl., Paderborn 2004, S. 116ff. Vgl. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 216ff. Themen, Termine und Orte ihrer Vorträge sind nachzulesen bei Smidt, Germania, S. 323f. Vgl. Smidt: Germania, S. 77 und S. 251. Vgl. ebd., S. 82ff.
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sollten sie den Umgang mit ‚eingeborenen‘ Dienstboten erlernen. Für deren Anleitung und Beaufsichtigung eigneten sich gebildete Frauen angeblich besser als frühere Dienstmädchen,44 da diese über keinerlei Erfahrungen im Verkehr mit Untergebenen verfügten. Den Grundstock für den Aufbau von Brakwater bildete die finanzielle Entschädigung, die Helene von Falkenhausen nach Beendigung der Antikolonialkriege für den Verlust ihres Eigentums von der deutschen Regierung erhalten hatte.45 Obwohl die Farm von deutschen Privatpersonen, Firmen und der Deutschen Kolonialgesellschaft unterstützt wurde, blieb sie ein Zuschussbetrieb. Die geplanten Einnahmen aus der Lehrtätigkeit blieben in ausreichendem Maße aus, weil den Frauen von Brakwater aus relativ schnell Anstellungen vermittelt werden konnten. Die als Ausbildungsstätte konzipierte Lehrfarm entwickelte sich zunehmend zu einer ersten Anlaufstation für ledige, ausgewanderte Frauen mit Stellenvermittlungsfunktion. Der drohende Konkurs konnte 1912 nur durch ein Privatabkommen mit Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, dem Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft, abgewendet werden. In diesem Abkommen verpflichtete sich Helene von Falkenhausen, zukünftig „neben gebildeten auch einfache Frauen wie Köchinnen, Dienstmädchen oder Wirtschafterinnen“ zu vermitteln. 46 Clara Brockmann (1885-1959) reiste erst 1907, d.h. nach Beendigung der Antikolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika ein. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitete Brockmann in zwei Büchern und zahlreichen Zeitungsartikeln, u.a. in Kolonie und Heimat, in denen sie sich engagiert für den Wiederaufbau der kolonialen Ordnung unter Einbeziehung gebildeter Frauen aussprach. Obwohl Brockmann ein Lehrerinnenexamen abgelegt hatte, arbeitete sie während ihres ersten Aufenthaltes in der Kolonie nicht in ihrem erlernten Beruf, sondern verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Sekretärin und Stenotypistin in der Kolonialverwaltung.47 1909 kehrte sie nach Deutschland zurück und absolvierte im Winter 1909/1910 eine Vortragreise mit dichtgedrängten Terminen, auf denen sie sowohl für die Einwanderung von Frauen nach Südwestafrika warb, aber auch die Unterstützung der in 44 45 46 47
Falkenhausen, Helene von: Die Lehrfarm Brakwater in Südwestafrika, in: Deutsche Kolonialzeitung. Organ der Deutschen Kolonialgesellschaft, Jg. 27 (1910), S. 177. Vgl. Smidt: Germania, S. 83. Ebd., S. 87. Vgl. Brockmann, Clara: Die deutsche Frau in Südwestafrika. Ein Beitrag zur Frauenfrage in unseren Kolonien, Berlin 1910, S. 39. Vgl. auch Wildenthal, Lora: “She is the victor”: Bourgeois Women, National Identities, and the Ideal of the Independent Woman Farmer in German Southwest Afrika, in: Eley, Geoff (Ed.): Society, Culture and the State in Germany, 1870-1930, Ann Arbor 1996, S. 371; Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 26.
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Deutschland lebenden Frauen für das koloniale Projekt einforderte und dabei Mitgliederwerbung für die Deutsche Kolonialgesellschaft sowie den Frauenbund betrieb. Die Vorträge fanden zumeist in Geschäftsstellen der DKG oder des Frauenbundes statt und wurden von der DKG finanziert. Gemessen an der Zahl der Zuhörerinnen und Zuhörer waren Brockmanns Vorträge, aber auch die anderer Frauen gut besucht und Brockmanns erstes Buch Die deutsche Frau in Südwestafrika (1910) avancierte rasch zu einem Standardwerk für die Frauenfrage in den Kolonien.48 Im Frühjahr 1910 reiste Brockmann erneut nach Südwestafrika und bei diesem Aufenthalt war sie eigenen Angaben zufolge für die Berechnung und Buchung von „Diamantenförderungen einer großen Gesellschaft“ zuständig.49 Warum Brockmann in der Kolonie nicht ihren erlernten Beruf als Lehrerin ausübte, könnte daran liegen, dass die Anzahl der Stellen im staatlichen Schulwesen relativ begrenzt war. Zu den Regierungsschulen, die von der Kolonialverwaltung in Konkurrenz zu dem verhältnismäßig weit verbreiteten Missionsschulwesen in Afrika errichtet wurden, hatten nach den Antikolonialkriegen ausschließlich ‚weiße‘ Kinder Zugang – ein Beispiel dafür, dass das national-koloniale Projekt auf dem Prinzip weitgehender kultureller Abschottung zwischen ‚Kolonialherren‘ und Kolonisierten basierte. Vor 1907 waren z.B. im Bezirk Ketmannshoop auch ‚Mischlingskinder‘ ‚weißer‘ Väter aufgenommen worden.50 Die Einrichtung von Schulklassen für ‚weiße‘ Kinder erfolgte zunächst auf Privatinitiative einiger Siedlerfamilien, bevor ab 1899 der Staat die alleinige Verantwortung übernahm. Eine Schulpflicht für Kinder von sechs bis 14 Jahren wurde 1906 bzw. 1912 für diejenigen Bezirke eingeführt, die bereits über Schulen, die oftmals mit Pensionaten versehen waren, verfügten. Die Einrichtung einer weiterführenden Schule in Form einer Realschule wurde 1912 notwendig, um Siedlerfamilien in der Kolonie zu halten. Die staatliche Realschule in Windhoek nahm neben Knaben auch Mädchen auf, da eine eigenständige Mädchenschule sich mangels Nachfrage nicht zu rentieren schien. Zudem existierte bereits „[…] eine katholische höhere Mädchenschule, die allen Konfessionen offenstand“.51 Die Zahl der Schülerinnen und Schüler belief sich im Jahr 1913 auf insgesamt 775 Kinder, darunter 405 Mädchen. An den Volksschulen unterrichte-
48 49 50 51
Vgl. Smidt: Germania, S. 71f. Vgl. Brockmann, Clara: Briefe eines deutschen Mädchens aus Südwest, Berlin 1912, S. 205. Vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 202. Ebd., S. 207.
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ten 34 Lehrkräfte, unter ihnen 16 Frauen.52 Die in der Forschungsliteratur genannten Zahlen differieren allerdings. Smidt, die die Personalakten des Gouvernements für den Zeitraum 1906-1914/15 ausgewertet hat, spricht von insgesamt 30 Lehrerinnen.53 Die Arbeitsmöglichkeiten für Lehrerinnen im Staatsdienst waren auf die genannten Schulen beschränkt, von daher erscheint Helene von Falkenhausens Einschätzung, hier biete sich für auswanderungswillige Lehrerinnen ein noch nicht ausgeschöpftes Betätigungsfeld, reichlich optimistisch.54 Clara Brockmann wies 1910 darauf hin, dass „die wenigen Stellen an den Regierungsschulen immer bald besetzt“ seien und der „Bedarf an Lehrkräften“ schon im Land selbst gedeckt werden könne.55 Lehrerinnen könnten aber als Erzieherinnen in Farmhaushalten unterkommen. Im Vergleich mit den Verhältnissen im Deutschen Reich, insbesondere im Vergleich mit Stellungen in privaten höheren Mädchenschulen, erscheinen Vergütung und Altersvorsorge im Kolonialschulwesen ziemlich privilegiert. Lehrerinnen wurden mit einem Anfangsgehalt von 4000-4200 Mark jährlich eingestellt, erhielten freie Unterkunft oder eine entsprechende Mietentschädigung und waren zudem pensionsberechtigt. Wie jedem Regierungsbeamten stand ihnen nach dreijähriger Dienstzeit ein halbjähriger bezahlter Heimaturlaub zu.56 Das Lehrerinnenzölibat galt allerdings auch in Südwestafrika, d.h., mit der Eheschließung schieden Lehrerinnen wie Helene von Falkenhausen aus dem Beamten- oder Angestelltenverhältnis aus und verloren ihre Pensionsberechtigung.57 Eine institutionalisierte staatliche (Aus-)Bildung für indigene Kinder war in der Kolonie nicht vorgesehen. Dieses Feld blieb den Missionsgesellschaften überlassen, die auch für die Beschulung der ‚Mischlingskinder‘ in sogenannten ‚Bastardheimen zur Erziehung halbweißer‘ Kinder‘ sorgten.58 Unter der ‚weißen‘, aber über der ‚schwarzen Rasse‘ stehend, sollten die ‚Mischlingskinder‘ „an dienende Berufe im Mittelfeld zwischen Weißen und Schwarzen“ herangeführt werden.59 52 53 54 55 56 57 58
59
Vgl. ebd., S. 208. Vgl. Smidt: Germania, S. 229. Vgl. Falkenhausen: Lehrfarm Brakwater, S. 177. Vgl. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 33. Vgl. Falkenhausen: Lehrfarm Brakwater, S. 177; Brockmann: Briefe, S. 88. Vgl. Smidt: Germania, S. 101. Becker, Frank: Die „Bastardheime“ der Mission. Zum Status der Mischlinge in der kolonialen Gesellschaft Deutsch-Südwestafrikas, in: Ders. (Hrsg.): Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004, S. 184-219. Ebd., S. 192.
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Von Clara Brockmann ist nicht bekannt, ob sie eine Stelle als Lehrerin in der Kolonie anstrebte. Deutlich wird allerdings, dass sie bereits mit der Absicht nach Südwestafrika gekommen war, um darüber ein Buch zu schreiben.60 Vielleicht ließ ihr die Stellung als Büroangestellte, obgleich schlechter bezahlt,61 mehr individuelle Freiheit als die einer beamteten Lehrerin, die jederzeit damit rechnen musste, versetzt zu werden und auch in besonderer Weise der sozialen Kontrolle ihres Dienstherrn ausgesetzt war. Brockmann scheint durch ihre Vortrags- und Verlagshonorare zusätzlich abgesichert gewesen zu sein, denn sie konnte sich – außerhalb von Windhoek und idyllisch gelegen – ein Haus mit Stallungen und großem Garten leisten, für das sie jährlich 1.200 Mark Miete aufbringen musste.62
9.6
Auswanderung als Kulturkritik
Frauen wie Helene von Falkenhausen und Clara Brockmann ging es vorrangig darum, Frauen bürgerlicher Herkunft zur Auswanderung zu bewegen. Beide Autorinnen profilierten sich in ihren Schriften als profunde Landeskennerinnen. Falkenhausen war Mitglied einer alteingesessenen Siedlerfamilie und verfügte über exzellente Verbindungen. Brockmann verdankte ihre umfassenden Kenntnisse über Land und Leute mehreren ausgedehnten Reisen durch die Kolonie, deren Schilderung bei den Leserinnen durchaus Fernweh wecken mochte. Auf einem ‚feurigen‘ eigenen Pferd63 – selbstver-
60 61
62 63
Vgl. Brockmann: Briefe, S. 185. Smidt zufolge verdienten weibliche Büroangestellte im Staatsdienst im Jahr ca. 3.000 Mark, in einem privaten Unternehmen lagen die Verdienstmöglichkeiten zwischen 3.600 und 6.000 Mark (vgl. Smid: Germania, S. 234). Vgl. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 42. Das Titelbild der Briefe eines deutschen Mädchens aus Südwest zeigt die Autorin in einem adretten hellen Sommerkleid neben ihrem Schimmel stehend. Kolonistinnen und Kolonisten inszenierten sich auf Fotos gerne hoch zu Ross. Im Fall der porträtierten Frauen zeigt sich zumeist deutlich, dass der Umgang mit Pferden für Frauen aus dem (Hoch-)Adel eine Selbstverständlichkeit darstellte, der in der frühen Jugend erlernt wurde und zum adeligen Habitus gehörte (vgl. Funck, Marcus, Malinowski, Stefan: „Charakter ist alles!“ Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6 (2000), S. 71-91). Bei bürgerlichen Frauen wird oftmals die Brüchigkeit der Inszenierung deutlich. Das von Bechaus-Gerst ausgewählte Foto von Marie Pauline Thorbecke als angebliche ‚Herrenreiterin‘ zeugt eher von der Unsicherheit und Angst einer ungeübten Reiterin. Zu ihrer eigenen Sicherheit muss der einheimische Bedienstete das Pferd festhalten (vgl. Bechhaus-
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ständlich im Herrensitz und ohne ‚weiße‘, männliche Begleitung – den weitläufigen Strand des Atlantischen Ozean entlangzugaloppieren, auf dem Rücken eines schaukelnden Kamels die Wüste zu durchqueren, tagelang in einem klapprigen Ochsenwagen unterwegs zu sein und unter sternenklarem Himmel im Freien zu nächtigen,64 das musste bürgerlichen Frauen in Deutschland als der Inbegriff von Freiheit und Abenteuer erscheinen. Dass sich diese Assoziationen einstellten, überließ die Autorin nicht dem Zufall: „Hier ist noch das Leben in Freiheit“, schrieb sie, „von dem wir geträumt haben, als wir in Ketten lagen. Nie habe ich jene Menschen mehr bedauert, die ihr Leben zwischen sechsstöckigen Häuserreihen hinbringen müssen und vor dem Klingeln der Straßenbahnen den nächtlichen Schlaf nicht finden können, die nicht wissen, daß die Welt so weit und so schön ist.“ 65
Da klingt mit der Großstadtflucht ein Grundmotiv zeitgenössischer Kulturkritik durch, das sich in Deutschland innerhalb bürgerlicher Reformbewegungen wie der Lebensreform- und der Jugendbewegung artikulierte.66 Ein einfaches Leben, im Einklang mit der Natur wurde propagiert. Interessant ist, dass Brockmann sich diese Kulturkritik zu eigen machte, obwohl die ‚weiße‘ Frau doch ausdrücklich vom Frauenbund als ‚Kulturträgerin‘ nach Südwest entsandt wurde. Bei einer Begegnung mit einer Gruppe Ovambos im Norden des Landes äußerte Brockmann Zweifel an dieser Kulturmission: „Niemals im Leben bin ich kritischer und mit mehr Verwunderung und Neugierde betrachtet worden. Viele von ihnen hatten wohl auch noch niemals eine weiße Frau gesehen. Es sind schöne, ebenmäßig gebaute Gestalten, nicht gerade überladen gekleidet – wenn es hoch kommt, ist es ein halber Sack. Ihr ganzes Hab und Gut – meist nur Lebensmittel in Bündeln – tragen sie an langen Stöcken befestigt über der Schulter. Glückliches Volk – oder soll man ihnen Mitleid schenken, weil sie so arm und anspruchslos sind? Wir werfen uns freilich stolz in die Brust, wenn wir daran denken, daß wir ihnen die Kultur bringen. Die Kultur? Ja – eine Steigerung ihrer Bedürfnisse.“67
Beim Lesen dieser Textpassage fühlt man sich an heutige Touristinnen und Touristen erinnert, die ein fremdes, exotisches Land bereisen. Die Einheimi-
64 65 66 67
Gerst, Marianne: Selbstzeugnisse reisender Frauen in Afrika, in: Dies., Leutner, Frauen in den deutschen Kolonien, S. 53). Vgl. Brockmann: Briefe, S. 22, S. 123-126, S. 134ff. und S. 159. Brockmann: Briefe, S. 148. Vgl. Kerbs, Diethart, Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998. Brockmann: Briefe, S. 138f.
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schen werden von ihnen als belebter und belebender Teil einer faszinierenden Landschaft wahrgenommen, die ohne die wildromantischen, spärlich bekleideten Gestalten viel von ihrem Reiz verlöre.68 Die Einheimischen werden ob ihrer Bedürfnislosigkeit für glücklich erachtet, aber von den reisenden Europäerinnen und Europäern möchte niemand auf Dauer mit ihnen tauschen. Auch Brockmann nicht, welche die meiste Zeit des Jahres nicht in der grenzenlosen Weite der afrikanischen Steppe lebte, sondern in Windhoek, dem Sitz des deutschen Gouverneurs und den Beschreibungen nach „eine kleine deutsche Stadt“,69 nur eben im südlichen Afrika. Demnach lockte nicht nur die sonnendurchglühte karge ‚Fremde‘, sondern auch ein Stück vertraute Heimat. Neben Platzkonzerten einer deutschen Militärkapelle, die jeden Sonntag sowie bei festlichen Anlässen aufspielte, konnte man deutsche Gesangs- und Theatervereine besuchen, deutsche Tageszeitungen beziehen und nicht zuletzt dem neuesten Gesellschaftsklatsch bei einem deutschen Kaffeekränzchen frönen.70 Den Hunger nach geistiger Nahrung konnte das Leben in der Kolonie allerdings nicht stillen, wie Brockmann sich und ihren Leserinnen eingestehen musste. Das Leben in Afrika diene einem anderen Zweck „als Kunst und Geselligkeit zu pflegen“. Hier gelte es „Pionierarbeiten zu tun; Urbarmachung des Bodens, Wassererschließung, Viehzucht“,71 aber das Brockmann diesen Hunger empfand, zeigt, dass sie mit ihren kulturpessimistischen Ausfällen gegen die „Tagesgötter[ ] Sezession, Impressionismus“, gegen alle „Kniffe[ ] und Torheiten, die das elektrische Licht bestrahlt“, eine zeitgenössische Erwartungshaltung an ‚modernekritische‘ Autoren und Autorinnen erfüllte.72 Bei aller Kritik an der ‚Überkultur‘ der Moderne bleibt diese gleichwohl mit ihrem Freiheitsdrang und dem Insistieren auf einer stärkeren, gleichberechtigteren Einbeziehung deutscher Frauen in das koloniale Projekt an den Entstehungshorizont der Moderne gebunden. Für die Schilderung des Landes bemühte Brockmann Topoi, deren männlich-sexuelle Konnotation nicht zu übersehen ist. Das Land sei von herber jungfräulicher Schönheit, sei ‚reine unverdorbene Natur‘.73 Wer wollte den ‚weißen‘ Kulturträgern und Kulturträgerinnen das Recht bestreiten, dieses Land zu erobern und in Besitz zu nehmen? Die einheimischen Be68 69 70 71 72 73
Vgl. dies.: White Women and the Dark Continent, S. 109. Brockmann, Briefe: S. 192. Vgl. ebd., S. 149ff. Ebd., S. 7. Ebd., S. 6. Dies.: Die deutsche Frau, S. 53.
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wohnerinnen und Bewohner des Landes konnten aus der Sicht der ‚weißen‘ Erobererinnen und Eroberer keinen Anspruch auf das Land erheben, da sie „die Äcker nicht bestellt, das Vieh nicht bewirtschaftet und die Bodenschätze nicht abgebaut“ hätten.74 Als drohende Konkurrenz wurden andere Siedler europäischer Herkunft empfunden. Brockmann war verstärkt um Abgrenzung gegenüber den ‚phlegmatischen, untätigen‘ Buren bemüht, die ihrer Ansicht nach auch ohne den Einfluss der ‚Eingeborenen‘ Gefahr liefen, zu ‚verkaffern‘. Anlässlich der Diamantenfunde in Lüderitzbucht sah die Lehrerin schwere Gefahren für das Deutschtum heraufziehen: „Ein buntes, internationales Gesindel ist herbeigeströmt; neben der Burenbevölkerung sind Engländer, Russen, Portugiesen, Rumänier, Brasilianer und andere Nationalitäten in unerwünschter Weise vertreten.“ Das „deutsche Gepräge“ gehe dem Land immer mehr verloren.75
9.7
Südwestafrika – das ‚gelobte Land‘ für alleinstehende Frauen?
Obwohl Brockmann ausdrücklich Frauen ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zur Auswanderung und zur selbständigen Niederlassung, u.a. als Farmerin, ermutigen wollte, enthalten ihre Schriften eine durchaus ambivalente Botschaft. Fehlende landwirtschaftliche Kenntnisse seien nicht unbedingt ein Hindernis, da zeitgenössische Untersuchungen, die die Gründe für den wirtschaftlichen Ruin so mancher Kleinbauern herauszufinden versuchten, zu dem Schluss gekommen seien, dass es gerade „jener alte zähe Bauerntrotz [sei], der sich auf die heimatlichen Erfahrungen versteifte und sie in die neuen fremden Verhältnisse übertragen wollte“, der so manches Ansiedlungsprojekt zum Scheitern gebracht habe. Der Boden und das Klima und nicht zuletzt die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte seien „so unendlich verschieden von den altgewohnten in der Heimat“, dass letztendlich nicht das Vorwissen, sondern das „eigene Können“ über Erfolg oder Misserfolg entscheide.76 Ein Aufenthalt auf der Lehrfarm Brakwater sei aber zum Erwerb grundlegender landwirtschaftlicher Kenntnisse sehr zu empfehlen.77 Nun war eine Frau, die Farmerin werden wollte, in Südwestafrika tatsächlich nicht darauf angewiesen, einen Farmer zu heiraten. Die Voraussetzungen für die Zuteilung von Regierungsland waren nicht an das Geschlecht 74 75 76 77
Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 141. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 63f.; dies.: Briefe, S. 142. Dies.: Briefe, S. 172. Vgl. ebd., S. 88.
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der Bewerberinnen und Bewerber, sondern an ihr Kapitalvermögen geknüpft. Als Mindestsumme mussten 15.000 bis 20.000 Mark aufgebracht werden.78 Die Darstellung Brockmanns vermittelt gleichwohl ein zu optimistisches Bild von den Möglichkeiten einer selbständigen Niederlassung. Zwischen 1902 und 1914 erwarben ungefähr 100 Frauen Land in Südwestafrika. Landwirtschaftlich genutzt wurde es aber nur von wenigen. Smidt zufolge gab es nachweislich „nur 32 ledige bzw. verwitwete Frauen, die als alleinwirtschaftende Farmerin ihr Land auch bewirtschafteten“.79 1913 erhielten diese Frauen mit der Verleihung des Zensus-Wahlrechts weitgehende politische Rechte, die aber – entgegen der anfänglichen euphorischen Einschätzung der Stimmrechtskämpferinnen in Deutschland – ausdrücklich als Ausnahmeregelung deklariert wurden. Als gelungenes Beispiel einer eigenständig lebenden Frau nahm Brockmann wiederholt Bezug auf eine ehemalige deutsche Oberlehrerin – hinter der sich die schlesische Gutsbesitzertochter Emmi von Gfug verbarg80 –, und ihren Bemühungen, sich als selbstständige Farmerin niederzulassen. Brockmann würdigte voller Hochachtung, dass die Frau, die sie als „ein zartes, schüchternes Geschöpf“ auf einem Ball beim Gouverneur kennengelernt hatte,81 ein Farmvolontariat durchlaufen hatte und allen landwirtschaftlichen Arbeiten wie ein Mann gewachsen sei. Mit einer gleichgesinnten Partnerin an ihrer Seite schien Emmi von Gfug auch nicht darauf angewiesen, einen Farmer zu heiraten, um ihren Traum von der eigenen Farm Wirklichkeit werden zu lassen.82 Die ehemalige Oberlehrerin, die in Deutschland eine gut dotierte Stellung aufgegeben hatte,83 deutete ihre Ambitionen als Ausbruch aus dem festgeschnürten Korsett bürgerlicher Weiblichkeit: „Ich weiß, ich bin für meine Angehörigen aus der Art geschlagen. Schriebe ich nach Hause um Kinderlitzschen [Kinkerlitzchen], Kleider, und teure Seifen, ich würde alles umgehend bekommen, bitte ich aber um Spaten, Waagen und Maschinen, stoße ich auf Widerstand und Vorstellungen. Ich passe auch so wenig in diese engen Verhältnisse in Deutschland hinein, wo man jede Abweichung von der Norm als fixe Idee behandelt. Mein Wahlspruch ist kämpfen und arbeiten in Südwest, dem Lande der Freiheit. Hier will ich leben und begraben sein.“ 84
78 79 80 81 82 83 84
Vgl. ebd., S. 95. Smidt: Germania, S. 247. Vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 95. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 112. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Smidt: Germania, S. 249. Brockmann, Die deutsche Frau, S. 40.
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Homoerotische Beziehungen werden in Brockmanns Text nicht offen thematisiert, aber das Vokabular, mit dem die Autorin die Freundin Emmi von Gfugs einführt, ist heterosexuellen Paarbeziehungen entlehnt. Die Frau wird als „ihr besseres Ich, ihre zweite Hälfte“ bezeichnet, und Brockmann sieht „die Zeit nicht mehr fern, wo sie beide, friedlich vereint, auf eigenem gemeinsamen Grund und Boden sitzen“.85 Dazu passt auch die Präsentation des Lebens, das Brockmann selbst in Südwestafrika führte. ‚Weiße‘ Männer kommen in ihren Texten kaum vor, und die ausführlichen Schilderungen attraktiver Freizeitgestaltung wie ausgedehnte Reittouren, achtspänniges Kutschieren mit Maultieren, Schwimmen in einsam gelegenen, malerischen Buchten, Nachtwanderungen, verbunden mit einem Picknick im „Zauber der afrikanischen Mondnacht“,86 führten den Leserinnen in Deutschland vor Augen, wie herrlich unbeschwert es sich angeblich ohne Mann in Südwestafrika leben ließ. Diesem ‚Geruch‘ von Freiheit, Abenteuer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Mann, der einen aus diversen Textpassagen anweht, setzte Brockmann aber mit dem Hinweis, es liege ihr fern, „Propaganda dafür zu machen, daß eine alleinstehende Dame nach Südwest“ gehe, einen deutlichen Kontrapunkt.87 Für gebildete Frauen existierten kaum Erwerbsmöglichkeiten. „Weibliche Post- und Eisenbahnbeamte und erst recht weibliche Ärzte, Rechtsanwälte und Bibliothekarinnen“ gäbe es noch nicht in der Kolonie und auch nur wenige Verkäuferinnen.88 Eine alleinstehende Frau müsse zudem peinlich auf ihren Ruf bedacht sein. Ohne eine Stellenzusage oder persönliche Beziehungen solle keine Dame es wagen, nach Südwestafrika zu reisen; anderenfalls würden „böse Zungen sie sogleich zur Kategorie der Abenteuerinnen zählen“ und sich nach Kräften bemühen, ihr das Fortkommen in der neuen Heimat zu erschweren.89 Ist dieser ‚Nachsatz‘ ein Zugeständnis an die Kolonialorganisationen, in deren Auftrag Brockmann im Land war und denen es in erster Linie um die Entsendung und Vermittlung heiratswilliger Frauen ging? Marcia Klotz ist jedenfalls der Meinung, dass „the author’s own example would seem to speak louder than her words on
85 86 87 88 89
Ebd. Vgl. ebd., S. 45; Dies.: Briefe, S, 202. Brockmann, Die deutsche Frau, S. 48. Ebd., S. 35. Ebd., S. 50.
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this issue; she, after all, is such a single women who has set out for Southwest alone, and she seems to be in no hurry to find a husband there”.90 Die tatsächlichen Handlungsspielräume blieben für die meisten Frauen eng. Einwanderungswillige Frauen sollten sich bemühen, dem Idealbild einer deutschen ‚Gattin, Hausfrau und Mutter‘ zu entsprechen. Bürgerliche Frauen, die sich in ihrem Lebensstil zu sehr von diesem Idealbild distanzierten, wurden vom gesellschaftlichen Leben in der Kolonie ausgeschlossen.91 Im Unterschied zum Heimatland bedeutete aber wirtschaftlicher Erfolg bei alleinstehenden bürgerlichen Frauen nicht den Verlust ihrer Weiblichkeit, vorausgesetzt, er war hart und ‚ehrlich‘ erarbeitet. Unseriöse Elemente, die nach den Diamantenfunden in Lüderitzbucht schnell und ohne große Anstrengung zu Geld kommen wollten, galt es dagegen von vornherein abzuschrecken. Glaubt man Brockmann, so verloren soziale Unterschiede nach Herkunft oder Bildung in der Kolonie an Bedeutung. Der ehemalige Offizier gelte gleichviel wie der „Arbeiter mit Volksschulbildung“, der Wert eines Menschen bemesse sich allein nach seiner Arbeitskraft.92 Das scheint für die Anfänge der Besiedlung vorstellbar. Mit zunehmender Entwicklung der Kolonie wurden aber die Standesunterschiede aus Deutschland reproduziert. Das „Gefühl klassenloser Solidarität und Homogenität“ stellt sich somit als „(Selbst-)Suggestion“ heraus.93 Das beste Beispiel bot Brockmann selbst, die ehemaligen „einfachen Landmädchen“ vorwarf, sie spielten „in aufdringlicher Weise die Parvenüsgattin“.94 Der Mythos von der Kolonie als klassenloser Gesellschaft wurde, wie Frances Gouda am Beispiel Sumatras gezeigt hat, auch in der niederländischen kolonialen Gesellschaft gepflegt. Der Entwurf einer ‚weißen Herrenwelt‘ „transzendierte alle Klassendifferenzen, die als unangenehme Reminiszenz an die europäischen Metropolen verschwinden sollten“.95 Gouda stellt die These auf, dass in den Kolonien das Gespür der ‚Weißen‘ für interne Klassenunterschiede eher zu- als abgenommen habe und dass es Aufgabe der Frauen gewesen sei, die vom Status des Mannes abgeleiteten Statusunterschiede zu wahren.96 Indira Ghose, die die Rolle englischer Frauen bei der Kolonisierung Indiens untersucht hat, vergleicht die Aufgaben der Frauen innerhalb des Kolonialsystems mit denen einer 90 91 92 93 94 95 96
Klotz: White Women and the Dark Continent, S. 111. Vgl. Smidt: Germania, S. 257ff. Brockmann: Briefe, S. 195. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 131. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 22. Gouda: „Das unterlegene“ Geschlecht, S. 193. Ebd.
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Grenzpatrouille. Die Frauen hätten eine Art „Überwachungsfunktion gegenüber den Männern ihrer eigenen Gesellschaft“ ausgeübt, um „eine mögliche Adaption der Engländer an indische Sitten und Gebräuche (‚going native‘) zu verhindern“.97 In Anlehnung an Norbert Elias, der den Klatsch als eines der wichtigsten Kontrollmittel von sozialen Gruppen beschrieben hat,98 könnte man darin eine wichtige gesellschaftliche Funktion der regelmäßig stattfindenden Kaffeekränzchen sehen, deren Klatschsucht Brockmann so sehr beklagte.99
9.8
Konstruktionen ‚weißer‘ und ‚schwarzer‘ Weiblichkeiten
Frauen wie Helene von Falkenhausen und Clara Brockmann beurteilten die einheimische Bevölkerung „nach ihrer Leistungsfähigkeit als Dienstboten und nach dem Grad ihrer Unterwürfigkeit.“100 Dabei entwickelten sie eine spezifisch weibliche Variante der kolonialen Überlegenheitsphilosophie: Wenn die vermeintlich ‚unkultivierten‘ Verhältnisse zur Erzeugung hierarchisierender, kultureller Asymmetrien in der Kolonialliteratur hervorgehoben werden sollten, dann nahmen die Motive ‚Ordnung und Sauberkeit‘ eine zentrale Stellung ein – meist in Verbindung mit dem afrikanischen Dienstpersonal. In der wilhelminischen Heimat konnten die Vorurteile gerade bei Frauen auf fruchtbaren Boden fallen, weil eine ‚ordentliche‘ Haushaltsführung der Stolz bürgerlicher Frauen war und sie darin ihre gesellschaftliche Aufgabe sahen. Die afrikanische Bevölkerung sollte unterworfen und zu Dienstboten erzogen werden, um eine erfolgreiche Kolonisation gewährleisten zu können. Die Heranziehung der ‚Schwarzen‘ zu brauchbaren Arbeitskräften oblag den Frauen sowohl in den städtischen als auch in den ländlichen Haushalten. In der kolonialen Presse, in Kolonialromanen und auch in den Erinnerungsberichten wurde die indigene Bevölkerung als kulturlos und minderwertig dargestellt. Smidt zufolge dienten diese Ansichten dazu, „die Notwendigkeit
97 98 99 100
Ghose, Indira: Der Mensahib-Mythos: Frauen und Kolonialismus in Indien, in: Feministische Studien 13 (1995) 2, S. 37. Vgl. Elias, Norbert, Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. 1990, S. 166-186. Vgl. Brockmann, Briefe, S. 153. Smidt: Germania, S. 116.
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einer ‚Erziehung des Afrikaners‘ und die Zerstörung seiner traditionellen Lebensweise zu rechtfertigen.“101 Im Umgang mit Angehörigen der indigenen Völker fällt auf, wie wenig Brockmann die Indigenen als Subjekte, als unverwechselbare Individuen wahrnahm. So mussten es sich die weiblichen Hausangestellten gefallen lassen, dass sie umbenannt wurden. Die Umbenennung von ‚Heiden‘ hängt zunächst einmal mit der christlichen Tradition der Taufe zusammen. Aber Brockmanns Bedienstete waren bereits christianisiert und erhielten von ihr einen Namen, der ihre Position im Haushalt widerspiegelte. Die beiden ersten, für ihre persönliche Aufwartung zuständigen Mädchen wurden von Brockmann Susanne genannt, ein Name, der seit Figaros Hochzeit ein Synonym für Kammerzofen war.102 Wenn es der Belustigung der Dienstherrin diente, durfte eine indigene Frau ihren Namen behalten, so z.B. eine Namafrau, die Brockmann „spaßeshalber“ weiterhin Elli rief, da der Name so wenig „zu ihrer vierschrötigen Gestalt“ passte, dass er sie „stets heiter stimmte“.103 Die erste Susanne war eine kriegsgefangene Herero, die zweite eine Nama und die Unterschiede, die Brockmann im Verhalten der beiden feststellte, wurden umstandslos auf die gesamte Ethnie übertragen: „Schon in den ersten Tagen fiel mir der Unterschied in der Sauberkeit zwischen Herero und Kaffern auf. Susanne Nr. 1 hatte mich in dieser Beziehung verwöhnt, ihre Nachfolgerin war ein kleines Ferkelchen, das man ganz genau bei der Arbeit beaufsichtigen mußte.“104
Clara Brockmann zufolge stellten die ‚Eingeborenen‘ zwar das natürliche Arbeitskräftereservoir des Landes dar, „ein vollwertiger Ersatz“ für weiße Dienstboten seien sie aber keinesfalls. Schuld daran seien ihre „grenzenlose Unzuverlässigkeit“, ihre vermeintliche Unehrlichkeit sowie ihre angebliche Unreinlichkeit.105 Der physische Ekel vor den ‚schmutzigen Schwarzen‘ ist der folgenden Textpassage deutlich anzumerken: „Meine Mädchen durften nur Kartoffel schälen und höchstens etwas Gemüse putzen, das mehrmalige Nachwaschen besorgte ich selbst. Mein Klippkaffernmädchen Elli bereitete mir des Morgens den Tee. Zuvor aber mußte sie sich in meiner Gegenwart die Hände in warmem Wasser waschen. […] Ich habe auch 101 102 103 104 105
Ebd., S. 115. Vgl. auch Nestvogel: Die Erziehung des ‚Negers‘. Vgl. Brockmann: Briefe, S. 102. Ebd., S. 105. Ebd., S. 104. Dies.: Die deutsche Frau, S. 23.
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niemals aus einer Tasse oder einem Glase trinken können, das ich nicht, nachdem es der Eingeborene bereits gereinigt, noch einmal unter fließendem Wasser abgespült hatte.“106
Die Lebens-, Wasch- und Essensgewohnheiten der ‚Eingeborenen‘ riefen bei Brockmann Assoziationen hervor, die vom ‚unwissenden Naturvolk‘ über ‚ewige Kinder‘ bis ins Tierreich reichten. Nachdem sie gesehen hatte, dass ‚ihr Hereroweib‘ Albertine rohes Fleisch verzehrte, das der „verwöhnte Dobermannpinscher“ verschmäht hatte, stellte sie – abwehrend und auf kulturelle Distanz bedacht – fest, dass diese Menschen sich kaum anders als Tiere benähmen.107 Im Kontrast mit der schmutzigen ‚afrikanischen Wirtschaft‘ ließ sich allerdings der ordentliche, reinliche Charakter deutscher Haushaltsführung bestens hervorheben. Dazu bedurfte es jedoch einer resoluten deutschen Hausfrau. Junggesellen, wie z.B. Herr von Falkenhausen vor seiner Eheschließung, mussten sich notgedrungen mit der ‚schlampigen‘ Haushaltsführung ihrer afrikanischen Dienstboten arrangieren. Den Aussagen seiner späteren Frau zufolge besaß „[…] seine schwarze Köchin Minka […] keine einzige der guten Eigenschaften, die eine Küchenfee besitzen soll. Trotz aller Mühe gelang es ihm auch nicht, sie zu erziehen, und er ergab sich in die Mängel der afrikanischen Wirtschaft. [...] Ich denke noch mit Schaudern daran, wie ich sie einmal von meinem Schulhause aus beim Abwaschen des Geschirrs beobachtete: Tassen, Löffel, russige Töpfe wurden in derselben Schüssel mit einem Minimum Wasser abgewaschen, und ein Stück eines alten, schmutzigen Sackes diente als Wischtuch.“108
Die Vermittlung des bürgerlichen Tugendkatalogs und Wertekanons – Ordnung, Sauberkeit, Häuslichkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Sittlichkeit – an die Dienstboten war Aufgabe der Farmersfrauen. Helene von Falkenhausen nahm die Ausbildung des Hauspersonals – sie selbst spricht von ‚Dressur‘109 – sogleich tatkräftig in Angriff. Am „brauchbarsten und anspruchslosesten“ erwiesen sich ihrer Einschätzung zufolge „Eingeborene“, die „frisch aus dem ‚Felde‘“ kamen und noch nicht „von der Kultur beleckt[ ]“ waren.110 Zwei indigene Frauen, die sich wider Erwarten als sehr lernfähig erwiesen, wurden von ihr in die ‚Kunst‘ der deutschen Haushaltsführung eingeführt: 106 107 108 109 110
Ebd., S. 25. Ebd., S. 26f. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 59. Vgl. ebd., S. 122. Ebd., S. 24.
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„[...] Maria, die sehr leicht begriff, scheuerte gleich die etwas bestaubten Küchenmöbel. Anna bestimmte ich zum Stubenmädchen. Zunächst unterwies ich sie im Decken des Kaffeetisches; es kam ihr sehr lächerlich vor, dass der Tisch mit einer Decke belegt wurde und alle Geräte ihren bestimmten Platz haben sollten. Aber ich merkte, sie hatte Geschick und guten Willen, außerdem sah sie sauber aus und machte einen sehr bescheidenen Eindruck.“ 111
Bürgerliche Frauen in Deutschland bedienen sich häufig einer ganz ähnlichen Argumentation, wenn sie über ihre Dienstboten sprachen. Bürgerhaushalte suchten mit Vorliebe junge Mädchen vom Land, weil diese kaum Ansprüche in Bezug auf Bezahlung, Unterkunft und Freizeit stellten. Auch in anderer Hinsicht decken sich die Verhaltensweisen, die der indigenen Bevölkerung zum Vorwurf gemacht wurden, exakt mit denen, die im Heimatland der Abgrenzung zur (Land-)Arbeiterschaft dienten. Vieles, was das deutsche Bürgertum als typisch proletarische Untugenden geißelte, kehrte in der Kolonialzeit im ethnischen Gewand wieder. Wenn die ‚gnädige Frau‘ in Deutschland zum geselligen Plauderstündchen bei Kaffee und Kuchen einlud, bildeten Klagen über unzuverlässige, unehrliche, schmutzige und renitente Dienstboten einen festen Tagesordnungspunkt. Brockmann zufolge waren es die ‚Schwarzen‘, die Ungeziefer – Termiten, Flöhe, Wanzen und Ameisen – in die Häuser der ‚Weißen‘ trugen und mit ihrer mangelnden Hygiene Krankheiten bei den Europäerinnen und Europäern auslösten.112 Diese häufig anzutreffende Tendenz, ‚Schwarze‘ als wandelnde Krankheitserreger zu betrachten, wird in der Forschung mit dem treffenden Ausdruck „Sanitäts-Syndrom“ belegt.113 Am meisten ärgerte es die Deutsche, dass sie optisch nicht immer feststellen konnte, ob die ‚Schwarzen‘ wirklich sauber waren.114 In ihrer Phantasie, die sich an diesem Punkt nicht von der ‚weißer‘ Kleinkinder unterscheidet, hatte die ‚schwarze‘ Hautfarbe etwas ausgesprochen Widerständiges an sich, das sich der permanenten ‚mütterlichen‘ Reinigungskontrolle entzog. Prügel waren laut Reichskanzlerverordnung von 1896 für ‚eingeborene‘ Frauen verboten.115 Ohrfeigen wurden jedoch von Brockmann als geeignetes Erziehungsmittel für die weibliche Dienerschaft gutgeheißen,116 was 111 112 113 114 115 116
Ebd., S. 72. Vgl. Brockmann: Briefe, S. 83. Eckert, Andreas: Sauberkeit und „Zivilisation“: Hygiene und Kolonialismus in Afrika, in: SOWI 26 (1997) 1, S. 17. Vgl. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 27. Vgl. dies.: Briefe, S. 109. Vgl. ebd., S. 107.
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247
nicht weiter verwundert, da die Gesindeordnung von 1810, die der Dienstherrschaft ein Züchtigungsrecht zubilligte, auch in der Kolonie galt.117 Bei Elli stieß Brockmann allerdings auf unerwarteten Widerstand. Elli nahm die Bestrafung nicht – wie erwartet – demütig hin, sondern kündigte den Dienst bei der Lehrerin auf, weil sie, wie sie mitteilen ließ, „aus vornehmem Stamme“ und „empfindlich“ sei.118 Laut der 1907 in Kraft getretenen Eingeborenenverordnungen waren Afrikanerinnen und Afrikaner verpflichtet, bei ‚Weißen‘ zu arbeiten, und die Möglichkeit einer Kündigung wurde ihnen nur bei grober Misshandlung zugestanden.119 Aber selbst die massive Drohung des zu Hilfe gerufenen Missionars, die junge Frau aus der kirchlichen Gemeinschaft und vom Abendmahl auszuschließen, wenn sie ihren Dienst nicht sogleich wiederaufnehme, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Den verletzten Stolz der jungen Afrikanerin nahm Brockmann gar nicht wahr, sie bezeichnete deren Reaktion schlichtweg als „Trotz“.120 Auch Helene von Falkenhausen verteilte den einen oder anderen „gelinden Klaps“,121 und wunderte sich dann über den entstehenden Arbeitskräftemangel. Beide Frauen bedienten sich übrigens einer Sprache, die ihre Tätlichkeiten gegenüber dem afrikanischen Dienstpersonal verharmloste und die Dienstboten infantilisierte. Während Falkenhausen von einem ‚Klaps‘ sprach, behauptete Brockmann, ihre Ohrfeige sei eher einem „Streicheln“ gleichgekommen.122 Nach diversen ‚Misserfolgen‘ mit ihren ‚schwarzen Perlen‘ nahm Brockmann einen Hererojungen als persönlichen Bediensteten an, weil sie einen männlichen ‚Schwarzen‘ „zur Polizei schicken und ihm 25 aufzählen lassen“ konnte. Es sei kein Wunder, räsonnierte sie, dass die an Körperstrafen gewöhnten „Jungen im allgemeinen besser gehorchen und Weiber zur Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit neigen“.123 In der diskursiven Konstruktion nationaler Feinde und abgewerteter Gruppen ist die Zuschreibung zügelloser Sexualität, wie sie sich z.B. in der Debatte über ‚Mischehen‘ findet, symptomatisch. Gruppen von Menschen, die von Rechten ausgeschlossen, beherrscht oder bekämpft werden sollen, werden zur Legitimation ihrer Ungleichbehandlung jedoch nicht nur sexualisiert, sondern darüber hinaus häufig mit Vorstellungen von Schmutz ver117 118 119 120 121 122 123
Vgl. Smidt: Germania, S. 218. Brockmann: Briefe, S. 108. Vgl. Smidt: Germania, S. 126f. Brockmann: Briefe, S. 108. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 22. Brockmann: Briefe, S. 107. Ebd., S. 109.
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Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
knüpft. Penible Reinlichkeit, die Einhegung von Körperlichkeit und die Regulierung der Sexualität gehören zu den Grundpfeilern des Projekts der bürgerlichen Gesellschaft in den westlichen Metropolen, die sich als ‚weiße‘ Klassengesellschaften in Nationalstaaten konstituierten.124 Indigene Frauen verkörperten für viele ‚weiße‘ Männer jedoch eine faszinierende erotischexotische Alterität und sie stellten somit auf dem kolonialen Beziehungsund Heiratsmarkt ernsthafte Konkurrentinnen für deutsche Frauen dar. Die sexuelle Attraktivität der Afrikanerinnen kommt in den Schriften Helene von Falkenhausens nicht zum Tragen – im Gegenteil. Die Körperlichkeit afrikanischer Frauen wird dermaßen verächtlich und abwertend beschrieben, dass nur ein unter akutem wie chronischem Triebstau leidender Farmer oder Soldat sich zu dieser ‚monströsen‘ Weiblichkeit hätte hingezogen fühlen können: „Der ganze Körper der heidnischen Hereros ist mit Fett eingeschmiert; das gibt ihrer Haut eine glänzende der Schokolade ähnelnde Färbung, verbreitet jedoch einen widerlichen, ranzigen Geruch. Abgewaschen wird diese Fettschicht nie, wie denn überhaupt das Waschen auch bei den Christen als überflüssiger Luxus gilt. Frauen, die dem Fett als Parfüm noch ‚Bucko‘ (ein stark riechendes Pflanzenpulver) hinzufügen, verbreiten einen höchst unangenehmen Duft, der schon lange, bevor man diese ‚Ölsardinen‘, wie sie genannt werden, zu Gesicht bekommt, ihre Nähe verrät.“125
Die fetttriefende Körperpflege erfolgte jedoch, so Clara Brockmann, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Das trockene heiße Klima mache die Haut rissig, spröde und lasse sie vorzeitig altern. Der Einsatz von Hautcremes sei absolut notwendig, in dieser Hinsicht folgten die „alten Herero, die fetttriefend in der Sonne standen, […] einem richtigen Gefühl und gingen uns darin mit gutem Beispiel voran“.126 Brockmann war auch der Attraktivität der einheimischen Frauen gegenüber nicht unempfindlich. Unter ihren Dienstboten befanden sich Johanna, eine „rassige Hereroschönheit“,127 sowie „Susanne Nr. 2 […] eine Kaffernschönheit ersten Ranges“. Die Frau habe eine „prachtvolle schlanke und ebenmäßige Figur, ein feines Gesichtchen, in dem die aufgeworfenen Negerlippen trotzig wirkten, und ein paar wunderschöne Augen von treuherzigem Ausdruck“.128 Die Schön124 125 126 127 128
Vgl. Planert: Vater Staat, S. 23f. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 114. Brockmann: Briefe, S. 25. Ebd., S. 110. Ebd., S. 104.
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heit einheimischer Frauen blieb für Brockmann allerdings auf das Körperliche begrenzt. Ihre vermeintlich negativen Eigenschaften wie Dummheit, Unreinlichkeit, Unehrlichkeit und Faulheit disqualifizierten sie für die Rolle der Ehefrau eines ‚weißen‘ Mannes. Brockmann fand, dass das 1905 erlassene Verbot der ‚Mischehen‘ nicht einer „gewisse[n] Härte“ entbehre, im Interesse der Reinhaltung der ‚deutschen Rasse‘ jedoch zu begrüßen sei. Schließlich sei es „[…] eine alte traurige Erfahrungstatsache, daß die schwarze Frau noch niemals den geringsten Aufstieg in eine höhere Kulturstufe unternommen hat, daß sich im Gegenteil der Mann vielmehr dem Niveau seiner farbigen Lebensgefährtin nähert und nicht selten ganz auf dieses herabsinkt. Die Bastardkinder bilden als zweifelhaftes Element ein Hindernis für die Entwicklung der Kolonie. Zwei Naturen kämpfen in ihnen, neben Entwicklungsfähigkeit und Intelligenz, sowie ausgeprüftem Empfinden für Recht und Unrecht – den Erbteilen des weißen Vaters – ringt sich die ganze moralische Minderwertigkeit der eingeborenen Rasse hoch.“129
In Brockmanns Schilderung erscheint der deutsche Mann als ein schwaches, verführbares Geschöpf, das den körperlichen Reizen der ‚eingeborenen‘ Sirenen hilflos ausgeliefert ist. Die Schuld an dieser ‚rassisch‘ unerwünschten Beziehung fällt allein der ‚schwarzen‘ Frau zu, die sich widerrechtlich etwas aneignet, was ihr nicht zusteht.
9.9
Völker ohne Kultur und Geschichte?
Als angebliche Naturvölker waren die Indigenen in den Augen Brockmanns Völker ohne Kultur und damit ohne Geschichte. Dass die Völker Südwestafrikas schriftlos waren, schien diese Argumentation zu untermauern. „Was wissen wir von der Vergangenheit dieses Landes? Jahrtausende tiefster Unwissenheit gingen darüber hinweg. Völker, die bis auf den heutigen Tag den Tieren gleich leben, hausten in ihren Steppen und Gebirgswinkeln. Sie lebten und verendeten darin, ohne irgend einen Sinn des Lebens zu begreifen. Die ganze Vergangenheit dieses Landes verbindet sich mit dem Blut deutscher Jugend, die in noch frisch geschaufelten Gräbern liegt.“ 130
129 130
Brockmann: Die deutsche Frau, S. 4f. Dies.: Briefe, S. 4.
250
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Mit dieser Argumentation bezog sich Brockmann auf einen Diskurs der – stärker noch als der 1884 erfolgte Erwerb des Territoriums131 – den nationalen Gründungsmythos der Kolonie begründete und die Kolonialkritikerinnen und -kritiker im Deutschen Reich verstummen lassen sollte. Argumentiert wird hier, dass „die afrikanische Erde mit deutschem Blut getauft sei und daß damit der Besitzanspruch der Deutschen gegenüber den Afrikanern in religiös überhöhter Weise besiegelt sei, getreu dem angeblichen Motto des Kaisers: ‚Wo ein deutscher Soldat in treuer Pflichterfüllung gefallen ist, ist das Land deutsch und wird deutsch bleiben.‘“ Dieses ‚Opfer‘ junger hoffnungsvoller deutscher Männer dürfe nicht umsonst gewesen sei, „ihr ‚Sinn müsse darin liegen, die Kolonie ‚deutsch zu erhalten und innerlich deutsch werden zu lassen‘“.132 Über das vergossene Herero- und Namablut verlor die Lehrerin kein entschuldigendes Wort. Schätzungen zufolge sind etwa 70.000 Herero, d.h. 75-80 % des Volkes während des Aufstandes getötet bzw. in Lagern oder an den Folgen von Deportationen gestorben.133 Dem standen 1.600 ‚weiße‘ Tote, Zivil- und Militärangehörige, gegenüber.134 Die Liste der rassistisch aufgeladenen Vorurteile, die der Konstruktion eines unzivilisierten, minderwertigen ‚Anderen‘ dienten, ist typisch für das gezeichnete Bild der Afrikanerinnen und Afrikaner in der deutschen Kolonialliteratur. Die häufig auftauchenden Motive – Unreinlichkeit, Hinterlist, Grausamkeit, Wildheit, Primitivität, Triebhaftigkeit, Hässlichkeit, Gottlosigkeit – wirkten zum einen stark homogenisierend, wenn z.B. ganzen Völkern ein Hang zum Lügen, Stehlen und Betrügen bescheinigt wurde,135 um dann letztendlich doch alle ‚Eingeborenen‘ ‚über einen Kamm zu scheren‘.136 Zum anderen gibt es aber auch Textpassagen, die davon zeugen, dass kulturelle Differenzen zwischen den verschiedenen indigenen Völkern durchaus wahrgenommen wurden. Brockmann beschrieb eingehend die Herero, die ‚Hottentotten‘ (Nama-Völker), die ‚Klippkaffern‘ (Bergdamara), die Ovambos und die ‚Rehobother Bastards‘, die – aus Beziehungen zwischen Buren und 131 132 133
134 135 136
Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 56f. Ebd. Vgl. Fell: Kalkuliertes Abenteuer, S. 138f. Die Schätzungen variieren beträchtlich. Kundrus zufolge wurde die afrikanische Bevölkerung vor Ausbruch des Kolonialkriegs von den Deutschen auf 15.000 bis 20.000 Nama, 3.000 bis 4.000 Rehobother Bastards und 70.000 bis 80.000 Herero geschätzt. Diesen Zahlen zufolge wäre fast das gesamte Volk der Herero dem Genozid zum Opfer gefallen (vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 47; Smidt: Germania, S. 138. Vgl. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 210. Vgl. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 107; Brockmann: Briefe, S. 37. Vgl. Brockmann: Briefe, S. 111.
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251
Namafrauen hervorgegangen – bereits vor den ersten deutschen Kolonisten im Lande lebten.137 Auch die ausgeprägten Hierarchien zwischen den einzelnen Völkern entgingen ihr nicht. Als der Hererojunge Barnabas ihren Vorschlag, er solle doch die ‚Hottentottin‘ Margarete heiraten, mit dem Hinweis auf die ‚gelbe‘ Hautfarbe des Mädchens empört zurückwies, mokierte sich Brockmann über dessen rassisch motivierte Überlegenheit.138 Auch Helene von Falkenhausen berichtete, dass die Herero Charaktereigenschaften wie „brennender Geiz, unbeschreibliche Trägheit, Verlogenheit, Hinterlist und Grausamkeit“ mit einem „unglaublichen Dünkel und Stolz“ verbänden.139 In den Augen der ‚Weißen‘ spielten aber Unterschiede zwischen den einheimischen Völkern nur in Bezug auf ihre Dienstbarkeit eine Rolle. Den in der ethnischen Hierarchie unter den Herero und Nama rangierenden Bergdamara wurden denn auch die „besten Dienereigenschaften“ nachgesagt.140 Die ‚eigentlichen‘ Afrikanerinnen und Afrikaner waren denn auch nicht die Indigenen, sondern die auf Dauer oder auf Zeit eingewanderten Deutschen,141 aber auch in Deutschland bezeichneten sich selbsternannte Experten als „(alte) Afrikaner“.142 Die Indigenen verblieben damit im Bereich des Vornationalen. Sie bildeten keine einheitliche ‚schwarze‘ Nation und Teil der deutschen waren sie auch nicht, da die indigenen Gesellschaften Südwestafrikas juristisch vom Erwerb der Reichsangehörigkeit ausgeschlossen waren. Das war z.B. in den britischen Protektoraten bzw. Kolonien anders, wo die Regierung auch in der Frage der ‚Mischehen‘ einen anderen Kurs steuerte. Lediglich britischen Beamten waren seit 1909 sexuelle Verbindungen mit einheimischen Frauen untersagt.143 Es drängt sich die Frage auf, ob die Deutschen, deren nationale Einigung noch nicht so weit zurücklag, stärker als die Engländer um Abgrenzung bemüht waren, weil sie durch die ‚Schwarzen‘ den Bestand und die Einheit der Nation bedroht sahen. Eine der zugänglichsten und offensichtlichen Manifestationen dessen, was den ‚Nationalcharakter‘ ausmachen soll, ist die Sprache. Es ist daher kein Zufall, dass die intellektuelle Unterlegenheit der Indigenen an ihrer mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache festgemacht wurde.144 Im Gespräch mit dem gebildeten Kapitän der Bergdamara Franz, der flie137 138 139 140 141 142 143 144
Vgl. ebd., S. 37ff.; Becker: Die „Bastardheime“ der Mission, S. 185. Vgl. Brockmann: Briefe, S. 42f. Falkenhausen: Ansiedlerschicksale, S. 116. Brockmann: Briefe, S. 39. Vgl. Falkenhausen: Lehrfarm Brakwater, S. 176. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 135. Vgl. ebd., S. 220. Vgl. Brockmann: Briefe, S. 86.
252
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ßend Deutsch und noch drei weitere Sprachen beherrschte, geriet Brockmanns Überlegenheitsposition kurzzeitig ins Wanken. Zumindest fühlte sich die Lehrerin gezwungen, eine Rechtfertigung dafür zu finden, warum die ‚Weißen‘ politisch, rechtlich und wirtschaftlich so viel besser gestellt waren als die ‚Schwarzen‘.145 Diese Textpassage fällt stilistisch völlig aus dem Rahmen der Briefe eines deutschen Mädchens aus Südwest,146 weil hier einem Indigenen über mehrere Seiten hinweg fast ein Monolog zugestanden wird, in dem er – äußerst beredet und logisch argumentierend – die Ungerechtigkeit der Eingeborenenverordnungen beklagte. Die Erwiderung Brockmanns klang zunächst zaghaft und wenig überzeugend: „‚Du bist Christ, Franz. Du weißt, vor Gott sind alle Menschen gleich‘, sagte ich stockend. ‚Aber wir Weiße – siehst Du … wir bringen Euch doch die Kultur –‘ Es war Unsinn, was ich da redete […].“147
Im weiteren Verlauf argumentierte Brockmann, dass erst die Deutschen etwas aus dem Land gemacht hätten und dass sie „duldsamer“ mit den ‚Eingeborenen‘ verfahren seien als z.B. die Engländer mit den Indianern.148 Das persönliche Zusammentreffen mit einem sprachgewandten und belesenen Indigenen löste bei der Deutschen zwar kurzzeitig Irritationen aus, letztendlich konnte er aber das festgefügte Stereotyp von der ‚minderwertigen Rasse‘, die erst von den ‚Weißen‘ aus dem Zustand ‚tierischer Apathie‘ geweckt worden sei, nicht nachhaltig erschüttern. Über die Frage, ob die ‚Schwarzen‘ überhaupt Deutsch lernen sollten, entbrannte in der Kolonie und im ‚Mutterland‘ ein heftiger Streit. Es gab Stimmen, die den Einsturz der kulturellen und sozialen Barrieren zwischen den ‚Kolonialherren‘ und den Kolonisierten befürchteten, sollten die ‚Eingeborenen‘ jedes Wort verstehen. Mit Blick auf das britische Südafrika wurde argumentiert, erst die gemeinsame englische Sprache habe unter den verschiedensprachigen ‚Eingeborenen‘ die „revolutionäre Einheit“ hergestellt und die koloniale Politik des divide et impera in Frage gestellt.149 In der Kolonie überwog letztendlich die pragmatische Einstellung, dass man sich mit seinen einheimischen Arbeitskräften verständigen müsse und dass den 145 146
147 148 149
Vgl. ebd., S. 188. Der Titel soll für Authentizität bürgen, aber die einzelnen ‚Briefe‘ sind weder datiert, noch werden Adressatinnen oder Adressaten genannt. Zudem gibt es inhaltlich viele Überschneidungen mit Textstellen aus Die deutsche Frau in Südwestafrika. Ebd. Ebd., S. 189. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 190.
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
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Deutschen nicht zuzumuten sei, Otjiherero oder „das zungenbrecherische Namaqua […] dieses schmatzende, häßliche Idiom mit den unaussprechlichen Zisch- und Schnalzlauten“ zu lernen.150 Als ‚Verlierer der Geschichte‘ hatte sich die einheimische Bevölkerung der Sprache der Kolonisatoren zu bedienen, nicht umgekehrt. Brockmann dagegen legte der angehenden Farmersfrau nahe, eine der Landessprachen zu erlernen. Vieles, was sie bei den ‚Eingeborenen‘ als „Verstockheit und Trotz“ erlebe, beruhe auf einem „Mangel an gegenseitigem Verständnis.“ Sollten sie Zeitgründe darin hindern, so solle sie wenigstens ihre Kinder dazu ermuntern. So wachse „eine Generation heran, die vielleicht mehr erreicht als ihre Väter, die mit Gewehren und Kanonen unterhandelten“.151 Auch die Sprache der Kolonialisten veränderte sich mit der Zeit, der sogenannte ‚Südwesterjargon‘ bildete sich heraus: Was für Pragmatiker „Anpassung an Landesverhältnisse darstellte“, trieb Sprachpuristen in der Kolonie und im Heimatland auf die Barrikaden. Die Aufnahme von Wörtern aus den indigenen Sprachen sowie dem „fürchterliche[n] Burendeutsch“152 wurde als „muttersprachlicher Verrat am Vaterland“ gedeutet.153
9.10
Resümee
Trotz aller Diversität des Forschungsfeldes und den verschiedenen sozial-, diskurs- oder lebensgeschichtlichen Zugängen sind schon in den 1990er Jahren erste generalisierende Aussagen über den Zusammenhang von Frauen und Kolonialismus getroffen worden:154 Von Beginn an waren Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten am Kolonialismus beteiligt. Das deutsche Kolonialsystem war von einer Genderpolarität geprägt, in dem die deutschen Reichsangehörigen je nach Geschlecht zur Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft beigetragen haben. Die ursprünglich an deutschen Männern orientierte Kolonialpolitik scheiterte – so eine Bilanz von Sieglinde Grän-
150 151 152 153 154
Zit. nach ebd., S. 192. Brockmann: Die deutsche Frau, S. 9. Dies.: Briefe, S. 135. Kundrus: Moderne Imperialisten, S. 200. Vgl. Mamozai, Martha: Frauen und Kolonialismus – Täterinnen und Opfer, in: Foitzik, Andreas, u.a. (Hrsg.): „Ein Herrenvolk von Untertanen“. Rassismus – Nationalismus – Sexismus, Duisburg 1992, S. 125-142.
254
Der koloniale Blick auf das ‚Fremde‘ in Autobiografien deutscher Lehrerinnen
zer – an der männlichen Geschlechtlichkeit.155 Die Aufgabe, Männer in den Kolonien vor dem Rückfall in einen ‚kulturlosen Naturzustand‘ zu bewahren, wertete deutsche Frauen als biologische Reproduzentinnen der Nation und als nationale Kulturgarantinnen in den ‚Schutzgebieten‘ ungemein auf. Die ungewohnte gesellschaftliche Anerkennung bewirkte bei vielen Frauen einen glühenden Nationalismus und eine absolute Loyalität gegenüber der Kolonialherrschaft. Frauen hatten ein ganz eigenes Interesse an der Verbreitung und Vertiefung rassistischer Gedanken: sie legitimierten damit ihre soziale Stellung in der Kolonie und erhofften sich durch die Erfüllung ihrer Vaterlandspflichten im In- und Ausland langfristig auch mehr Rechte in der Heimat.156 Nicht zuletzt deshalb beteiligten sie sich an der Konstruktion zeitgenössischer nationalistischer und rassistischer Vorurteile und Stereotypien. Auf den unterschiedlichen Ebenen der Kolonialpolitik, kolonialer Diskurse wie auch im Bereich der Kolonialphantasien zeigt sich dabei, dass die „Konstruktionen des rassifizierten Anderen“ immer auch rassifizierte, ‚weiße‘ Selbstkonstruktionen enthalten und mit nationalen, geschlechtlichen und ‚rassischen‘ Identitäten in Wechselbeziehung stehen.157 Frauen entwickelten eine spezifisch weibliche Variante des kolonialen Überlegenheitsgefühls, das sich im Wesentlichen aus der Identifikation mit ihrer kulturellen Herkunft speiste und vor allem in der Inszenierung einer pedantischen, bürgerlichen ‚weißen‘ Haushaltsführung in den Kolonien manifestierte.158 Die Studien zur Beteiligung von Frauen bei der Ausgestaltung des kolonialen Herrschaftssystems haben den Weg zu einer Geschlechtergeschichte des deutschen Kolonialismus aufgezeigt. Künftige Forschungsvorhaben – so Birthe Kundrus – sollten jedoch die Verengung der Kategorie Geschlecht auf Frauen und Weiblichkeit aufbrechen „und die historischen Akteure, ihre Praxen wie Selbstrepräsentationen und Fremdentwürfe auch aus der Per-
155
156
157 158
Vgl. Gränzer, Sieglinde: Rassistische Geschlechterpolitik. Frauen(be)förderung als Instrument deutscher Kolonialpolitik, URL: http://www.uni-konstanz.de/universitaet/ frauenrat/PDF-Files/reader_WS96-97.pdf. (30.08.04), S. 22. Die Journalistin und Kolonialagitatorin Leonore Nießen-Deiters merkte etwa an, dass deutsche Frauen, die im Ausland „mit vollem Verantwortungsgefühl ihre Pflichten ihrer Nation gegenüber“ erfüllten, mit „umso grösserer [sic!] Selbstverständlichkeit verlangen [könnten], dass die Nation auch für ihre Rechte verständnisvoll eintritt“ (Nießen-Deiters: Die deutsche Frau, S. 14). Dietrich: Weiße Weiblichkeiten, S. 376. Vgl. Mamozai: Frauen und Kolonialismus, S. 133.
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255
spektive der Geschichte von Männern und Männlichkeit“ betrachten.159 Erste Schritte auf diesem Weg sind bereits getätigt worden.160
159 160
Kundrus: Blinde Flecken, S. 154. Vgl. etwa die Studie von Maß, Sandra: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland, 1918-1964, Köln 2006.
10.
Ausblick
Transnationale und transkulturelle Forschungszugänge, in deren Kontext auch das von uns durchgeführte und in diesem Band dokumentierte Projekt steht, haben derzeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften Konjunktur. Sie stellen die Erklärungskraft herkömmlicher und statischer Modelle von Gesellschaft, Nation und Kultur in Frage. Mit einem Fokus auf Migration, Mobilität und den damit verbundenen Transformationsprozessen thematisieren sie vielfältige soziale Beziehungen und Vernetzungen, gegenseitige Wahrnehmungen, Abhängigkeiten und wechselseitige Durchdringungen über politische, nationale und kulturelle Grenzziehungen hinweg. Angeregt durch postkoloniale Studien und Theorien versucht etwa die jüngere Generation von Historikerinnen und Historikern gegenwärtig unter dem Label Transnationale Geschichte einen Paradigmenwechsel in ihrer Zunft herbeizuführen. Der traditionellen, nationalstaatlich orientierten Geschichtsschreibung stellen sie eine globale Verflechtungsgeschichte gegenüber und wollen damit einer Entnationalisierung historischer Fragestellungen Vorschub leisten.1 Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Annahme, dass es sich bei ‚Globalisierung‘ keineswegs um ein rein postmodernes Phänomen handelt, sondern um einen jahrhundertealten Prozess, der weder linear verlaufen noch abgeschlossen ist. Ähnliche Argumente finden sich in den Diskursen um den Kulturbegriff sowie um die tatsächliche Verfasstheit von ‚Kulturen‘. Ältere Kulturkonzepte, die auf statischen Vorstellungen von sozialer Homogenität beruhen, ha1
Zur theoretischen Verortung vgl. stellvertretend Budde, Gunilla, Conrad, Sebastian, Janz, Oliver (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Conrad, Sebastian, Eckert, Andreas, Freitag, Ulrike (Hrsg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a.M., New York 2007; Conrad, Sebastian, Randeria, Shalini (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002; Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats, Göttingen 2001. Kritik gibt es von den Granden der historischen Zunft, so von Hans-Ulrich Wehler, der die empirische Basis der Transnationalen Geschichte sowie die begriffliche Stringenz des Ansatzes stark anzweifelt (vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Transnationale Geschichte – der neue Königsweg historischer Forschung? in: Budde, Conrad, Janz: Transnationale Geschichte, S. 161-174). Mit seiner ‚Weltgeschichte‘ des 19. Jahrhunderts dürfte Jürgen Osterhammel zumindest den erstgenannten Vorwurf entkräftet haben (vgl. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt).
258
Ausblick
ben sich längst als unhaltbar erwiesen. Das gegenwärtige Verständnis, das sich im Rahmen des cultural turn entwickelt hat, geht von einer prinzipiellen Offenheit, Heterogenität, Pluralität und Mobilität von ‚Kultur‘ aus. Diese Sichtweise äußert sich in neuen bzw. neu aufgelegten Konzepten und Begrifflichkeiten wie Hybridisierung, Multiethnizität, Travelling Cultures, Plural Societies, Diversity sowie im Begriff der Transkulturalität. Die Historische Bildungsforschung, in deren Fragehorizont unser Projekt ebenfalls gestellt ist, nähert sich den neueren kulturgeschichtlichen Zugängen und Konzepten bislang nur zögerlich an. Zwar hat die traditionelle Historische Pädagogik noch im letzten Jahrhundert ihre bedeutsamsten Paradigmenwechsel von der ‚klassischen‘ Ideen- und Institutionengeschichte über eine Sozialgeschichte der Erziehung und Bildung hin zu einer alltagsund subjektorientierten Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung vollzogen und neben klassen-, schicht-, milieu- und generationsspezifischen Fragestellungen auch genderhistorische Perspektiven entwickelt. Es bleibt jedoch festzustellen: Auch Bildungsgeschichte wurde bisher – zumindest in Deutschland – vorrangig als nationale und zudem männerorientierte Geschichte konzipiert und geschrieben (und dies mit einer deutlichen Schwerpunktsetzung auf Preußen); erweiterte Perspektiven erschöpfen sich nur allzu oft in einem ‚internationalen Vergleich‘. Multilateralen Verflechtungen und Transferbeziehungen wurde bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und die aktuellen sozial-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Debatten über Transnationalität, Kulturvergleich und Transferforschung haben bisher „kaum Eingang“ in die historische Bildungsforschung gefunden – so eine Zwischenbilanz von Eckhardt Fuchs.2
10.1
Kulturtransferanalysen in der Historischen Bildungsforschung
In jüngster Zeit sucht die Historische Bildungsforschung, wenn auch noch zaghaft, Anschluss an kulturgeschichtliche Fragestellungen und Forschungsansätze zu finden.3 Vorrangig geschieht dies auf der Ebene von Internatio2
3
Vgl. Fuchs, Eckhardt: Internationalisierung als Gegenstand der Historischen Bildungsforschung: Zu Institutionalisierungsprozessen der edukativen Kultur um 1900, in: Liedtke, Max, Matthes, Eva, Miller-Kipp, Gisela (Hrsg.): Erfolg oder Misserfolg? Urteile und Bilanzen in der Historiographie der Erziehung, Bad Heilbrunn 2004, S. 242. Dies spiegelt sich bspw. in der Jahrestagung 2009 der Sektion Historische Bildungsforschung in der DGfE wider. Die Beiträge sind erschienen in: Zeitschrift für Pädagogik. Die Materialität der Erziehung: Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, 58. Beiheft, Weinheim, Basel 2012.
Ausblick
259
nalisierungsphänomenen im Bereich pädagogischer Theorien, Konzepte und Praktiken, war doch die Entstehung und Entwicklung moderner Bildungssysteme in besonderem Maße durch vielfältige Austausch- und Transferprozesse geprägt. Erste Arbeiten, die sich diesem Forschungskontexte zuordnen lassen, entstanden in den 1970er und -80er Jahren, etwa Bernd Zymeks Untersuchung über das Ausland als Argument in der deutschen pädagogischen Reformdiskussion,4 oder Juliane Jacobi-Dittrichs historisch-vergleichende Studie zum deutschsprachigen Unterrichtswesen in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts.5 Die internationale Verbreitung reformpädagogischer Ansätze wurde seitdem mehrfach als eine sich wechselseitig beeinflussende ‚Welterziehungsbewegung‘ charakterisiert.6 Diese Studien sind Beispiele einer international-komparatistisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft. Seit den 1990er Jahren hat vor allem Jürgen Schriewer mit seinem theoretischen und methodischen Programm einer Internationalisierung von Pädagogik eine Vielzahl ertragreicher Studien angeregt und die Internationalisierungsforschung im Bereich des Bildungswesens „auf eine neue Stufe gehoben“:7 4
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Zymek untersucht in seiner Studie die internationale Berichterstattung in deutschsprachigen pädagogischen Zeitschriften für den Zeitraum 1871 bis 1952 (vgl. Zymek, Bernd: Das Ausland als Argument). In einem jüngeren Beitrag greift Herrlitz den Ansatz der Untersuchung auf und führt ihn für den Zeitraum 1945 bis 1995 fort (vgl. Herrlitz, Hans Georg: Das Ausland als Argument in der pädagogischen Reformdiskussion 1945-1995, in: Götte, Petra, Gippert, Wolfgang (Hrsg.): Historische Pädagogik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bilanzen und Perspektiven, Essen 2000, S. 65-79). Vgl. Jacobi-Dittrich, Juliane: „Deutsche“ Schulen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Historisch-vergleichende Studie zum Unterrichtswesen im Mittleren Westen (Wisconsin 1840-1900), München 1988. Vgl. Röhrs, Hermann, Lenhart, Volker (Hrsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Ein Handbuch, Frankfurt a.M., u.a. 1994; Röhrs, Hermann: Die Internationalität der Reformpädagogik und die Ansätze zu einer Welterziehungsbewegung, in: Ebd., S. 11-26 sowie jüngst: Koslowski, Steffi: Die New Era der New Education Fellowship. Ihr Beitrag zur Internationalität der Reformpädagogik im 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2013. So die Einschätzung von Fuchs, Eckhardt, Lüth, Christoph: Transnationale Bildungsbemühungen und die Konstruktion des Raumes in historischer Perspektive. Einleitung zu diesem Heft, in: Bildung und Erziehung 61 (2008) 1, S. 4. Vgl. besonders die Antrittsvorlesung von Jürgen Schriewer an der Humboldt-Universität zu Berlin: Schriewer, Jürgen: Welt-System und Interrelations-Gefüge. Die Internationalisierung der Pädagogik als Problem Vergleichender Erziehungswissenschaft. Öffentliche Vorlesungen, H. 24, Berlin 1994. Einblicke in die jüngsten Forschungsaktivitäten und -erträge bieten folgende Sammelbände: Caruso, Marcelo, Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Internationalisierung: Semantik und Bildungssystem in vergleichender Perspektive: Internationalisation, Frankfurt a.M., u.a. 2002; Fuchs, Eckhardt (Hrsg.): Bildung International. Historische Perspektiven
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Die grenzüberschreitende Verbreitung und Aneignung von pädagogischem Denken und Wissen im 19. Jahrhundert ist beispielsweise an der RousseauRezeption in den USA,8 an der Rezeption John Deweys und Jean Piagets in lateinamerikanischen Kontexten9 oder an der Verarbeitung ‚westlichen‘ pädagogischen Wissens in asiatischen Gesellschaften10 aufgezeigt worden. In einem an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelten Forschungsprojekt wurde mit dem Bell-Lancaster-System eines der frühesten Beispiele der globalen Ausweitung eines modernen Schulmodells untersucht. Dabei ist einerseits eine beeindruckende Diffusionsdynamik nachgewiesen worden, mit der sich dieses Modell des monitorialen, wechselseitigen Unterrichts im frühen 19. Jahrhundert von England aus weltumspannend verbreitete. Andererseits wurde die jeweils kontextspezifische Aneignung dieser pädagogischen Methode aufgedeckt, die auf fünf Kontinenten in unterschiedlichen Variationen ihren Niederschlag fand.11 Zu jenen Bildungseinrichtungen, die sich im 19. Jahrhundert ebenfalls großer internationaler Aufmerksamkeit erfreuten, zählten die deutschen Universitäten, namentlich Wilhelm von Humboldts Ideen, Konzepte und Ziele universitärer Bildung. Für die französisch- und englischsprachigen Nachbarn und auch für nordamerikanische Kontexte ist mehrfach aufgezeigt worden, wie ausländische Beobachter in den deutschen Staaten Anregungen im Bereich des Bildungswesen suchten, wie deutsche Wissenschaft
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und aktuelle Entwicklungen, Würzburg 2006; Schriewer, Jürgen (Hrsg.): Weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen, Frankfurt a.M., New York 2007. Vgl. Troehler, Daniel: Der deutsche Rousseau in den USA: Die amerikanische LehrerInnenbildung im 19. Jahrhundert, in: Fuchs: Bildung International, S. 45-60. Vgl. Caruso, Marcelo: John Dewey und Jean Piaget: Weltklassiker im lateinamerikanischen Kontext, in: Schriewer: Weltkultur, S. 75-116. Vgl. Oelsner, Verónica, Schulte, Barbara: Variationen des Anderen: Die Wahrnehmung ausländischer Bildungsmodelle in der argentinischen und chinesischen Modernisierungsdebatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Comparativ 16 (2006) 3, S. 44-67. Vgl. Schriewer, Jürgen, Caruso, Marcelo: Globale Diffusionsdynamik und kontextspezifische Aneignung. Konzepte und Ansätze historischer Internationalisierungsforschung, in: Comparativ 15 (2005) 1, S. 7-30; Caruso, Marcelo: An der Schwelle zur Internationalisierung. Rezeption und Variation der Bell-Lancaster-Methode am Beispiel Kolumbiens (1820-1844), in: Fuchs: Bildung International, S. 231-252; Caruso, Marcelo: Geist oder Mechanik: Unterrichtsordnungen als kulturelle Konstruktionen in Preußen, Dänemark (Schleswig-Holstein) und Spanien 1800-1870, Frankfurt a.M., u.a. 2010. Vgl. auch Ressler, Patrick: Nonprofit-Marketing im Schulbereich: britische Schulgesellschaften und der Erfolg des Bell-Lancaster-Systems der Unterrichtsorganisation im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M., u.a. 2010.
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und Bildungspolitik im Ausland wahrgenommen, funktionalisiert und in Abwandlungen adaptiert wurde – und umgekehrt. Die internationalen Bildungsbegegnungen, die sich durch Migration, Reisen, Studienaufenthalte, Wissenschaftskontakte u.a. ereigneten, sind ein maßgeblicher Parameter für die wechselseitigen Einflüsse im Bildungswesen.12 Als eine der wenigen globalen Institutionen des 19. Jahrhunderts sind auch die Weltausstellungen in den bildungshistorischen Fokus gerückt. Für den Transfer von Bildungsvorstellungen, -konzepten und -praktiken waren die großen Expositionen bedeutende Veranstaltungen. Bildungspolitikerinnen und -politiker, Pädagoginnen und -pädagogen, die Reformen in den von ihnen betreuten Einrichtungen initiieren wollten, suchten hier nach Lösungsansätzen.13 Auch lassen sich die Einrichtungen internationaler Kongresse und Assoziationen in den verschiedenen erziehungsrelevanten Feldern wie Kinderschutz, Jugendstrafrecht oder im Wohlfahrtsbereich als neue Formen institutionalisierter, pädagogischer Kommunikation und Kooperation interpretieren.14 Die Kongresse des International Council of Women, 1888 als internationale Dachorganisation der Frauenbewegung gegründet, hatten beispielsweise eine wichtige Funktion für die Kommunikation über weibliche
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Vgl. Drewek, Peter: Die bilaterale Rezeption von Bildung und Erziehung am Beginn des 20. Jahrhunderts im deutsch-amerikanischen Vergleich, in: Caruso, Tenorth Internationalisierung, S. 185-209; Füssl, Karl-Heinz: Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt a.M., New York 2004; Gonon, Philipp: Reisen und Reform: Internationalisierungsimpulse im Bildungsdiskurs des 19. Jahrhunderts, in: Fuchs: Bildung International, S. 115-137; Koinzer, Thomas: Auf der Suche nach der demokratischen Schule. Amerikafahrer, Kulturtransfer und Schulreform in der Bildungsreformära der Bundesrepublik Deutschland, Bad Heilbrunn 2011; Lingelbach, Gabriele: Der amerikanische und der französische Blick auf die deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert, in: Fuchs, Bildung International, S. 61-86; Löser, Philipp, Strupp, Christoph: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Universität der Gelehrten – Universität der Experten. Adaptionen deutscher Wissenschaft in den USA des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 7-30; Schalenberg, Marc: Humboldt auf Reisen? Die Rezeption des ‚deutschen Universitätsmodells‘ in den französischen und britischen Reformdiskursen (1810-1870), Basel 2002. Vgl. Fuchs, Eckhardt (Hrsg.): Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000. Die Reform des französischen Grundschulsystems im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts z.B. erhielt ihre entscheidenden Impulse aus dem amerikanischen Bildungssystem auf der Centennial Exhibition 1876 in Philadelphia (vgl. Dittrich, Klaus: Die amerikanische Referenz der republikanischen Grundschule Frankreichs: Kulturtransfer auf Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Gippert, Götte, Kleinau: Transkulturalität, S. 161-179). Vgl. Fuchs: Internationalisierung.
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Bildung und Bildungspolitik zwischen Deutschland, England und Nordamerika.15 Kulturtransferprozesse im Kontext von Bildungsdiskursen sind auch im Rahmen unseres Projektes untersucht worden, das die zahlreichen Auslandsaufenthalte deutscher Pädagoginnen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Gegenstand hatte. Junge Lehrerinnen und Erzieherinnen zog es nach ihrer Ausbildung zumeist aus beruflichen Gründen ins europäische und außereuropäische Ausland, um etwa ihre Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern und damit die Chancen auf eine Anstellung im privaten oder öffentlichen höheren Mädchenschulwesen zu erhöhen. Indem sie ausländische Kinder in deutscher Sprache unterrichteten und pädagogische Ideen aus Deutschland ins Ausland transferierten, fungierten die Erwerbsund Bildungsmigrantinnen als ‚Kulturvermittlerinnen‘.16 Ein umgekehrter Wissenstransfer erfolgte durch die Berichte der Lehrerinnen über innovative Ansätze im europäischen Schul- und Hochschulwesen. Dabei wurde auch die Übertragung ausländischer Fortbildungsmöglichkeiten für Frauen nach Deutschland diskutiert. Das derart erzeugte ‚Wissen‘ über die ‚Fremde‘ belebte den zeitgenössischen Diskurs über die Mädchen- und Frauenbildung und untermauerte argumentativ die Petitionspolitik der bürgerlichen Frauenbewegung in ihren Forderungen nach Reformen. In den beispielhaft genannten Forschungsarbeiten – viele andere ließen sich hinzufügen – geht es um Internationalisierungsphänomene im Bereich des Bildungswesens, um Transfer im Sinne von Aneignung und Umwandlung pädagogischer Konzepte bei der Übertragung von einem Land in ein anderes. Viele Studien, die historische Bildungstransfers untersuchen, befassen sich mit der internationalen Konvergenz von Bildungssystemen, d.h., sie suchen zu ergründen, weshalb sich Bildungssysteme in verschiedenen Teilen der Erde zunehmend ähnelten. Als mögliche Ursachen für die zunehmende 15
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Vgl. Kersting, Christa: Zur Konzeption weiblicher Bildung und Bildungspolitik des „International Council of Women“ (ICW), 1888 bis 1945, in: Hoff, Kleinau, Schmid: Gender-Geschichte/n, S. 171-189; Dies.: Weibliche Bildung und Bildungspolitik: das International Council of Women und seine Kongresse in Chicago (1893), London (1899) und Berlin, in: Paedagogica Historica 44 (2008) 3, S. 327-246). So sorgte beispielsweise die deutsche Erzieherin Eleonore Heerwart erheblich für die Verbreitung und Etablierung der Fröbel-Pädagogik in Großbritannien (vgl. Boldt, Rosemarie: Neuere Ergebnisse der Heerwart-Forschung, in: Heiland, Helmut, Gutjahr, Elisabeth, Neumann, Karl (Hrsg.): Fröbel-Forschung in der Diskussion, Weinheim 2001, S. 57-72). Als Erste trugen allerdings 1848er Emigrantinnen zur Verbreitung der Fröbel’schen Kindergartenidee nach England und in die USA bei (vgl. Allen, Ann Taylor: Feminism and Motherhood in Germany (1800-1914), New Brunswick N.J. 1991).
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Angleichung werden u.a. ‚Rezeption‘ (educational borrowing) oder ‚Diffusion‘ (educational lending) angenommen.17 Die unterschiedlichen Adaptionsformen innerhalb der Rezeptionsgesellschaften lassen Rückschlüsse auf die historische Verfasstheit der jeweiligen Aufnahmekontexte zu: Das Interesse an ausländischen Ideen und Modellen scheint immer dann besonders lebhaft gewesen zu sein, wenn die beteiligten Akteurinnen und Akteure ihre eigene Lage als Umbruchsituation wahrnahmen und die eigenen kulturellen Ressourcen für unzureichend hielten, um diese Situation meistern zu können.18 Wenn Bildungsreformerinnen und -reformer etwa ahnten, dass sie für die Durchsetzung einer Reform keine ausreichende politische Unterstützung erhalten sollten, tendierten sie dazu, Bezüge zu entsprechenden Lösungen im Ausland herzustellen. So verstanden ist ‚Externalisierung‘, also die Bezugnahme auf Modelle, die außerhalb des eigenen Bildungssystems bestehen, eine Legitimationsstrategie, um politisch umstrittene Reformen im eigenen Kontext durchsetzen zu können – eine Funktion von Bildungstransfer, auf die Jürgen Schriewer wiederholt hingewiesen hat. ‚Fremde‘ Bildungsanleihen sagen somit auch etwas über den Legitimations[not]stand im ‚eigenen‘ Bildungssystem aus.
10.2
Offene Fragen und Perspektiven
Auch wenn eine Zunahme der skizzierten Forschungen in den letzten Jahren nicht zu übersehen ist, sind transnationale und kulturgeschichtliche Perspektiven in der deutschen Historischen Bildungsforschung randständig. Forschungsarbeiten, die internationale und globale Prozesse im Bereich von Bildung und Erziehung thematisieren, bewegen sich in aller Regel in den traditionellen Bahnen pädagogischer Historiografie: Sie thematisieren die internationale Verbreitung und Rezeption pädagogischer Ideen und Konzepte und wählen vorzugsweise struktur- und institutionengeschichtliche Ansätze, um das organisierte Bildungswesen als Träger von Globalisierungsprozessen zu identifizieren. Durch die Fokussierung von Transfer- und Verflechtungsprozessen innerhalb der „edukativen Kultur“19 bleiben andere erziehungshistorisch relevante Forschungsfelder ausgeblendet. Will sich die historische Bildungsforschung jedoch neue Horizonte erschließen und bei17 18 19
Vgl. Steiner-Khamsi, Gita, Quist, Hubert O.: Afrikanischer Bildungsimport aus den USA: Achimota im Umfeld lokaler Bildungspolitik, in: Schriewer: Weltkultur, S. 191. Vgl. Oelsner, Verónica, Schulte, Barbara: Variationen des Anderen, S. 61. Fuchs: Internationalisierung, S. 234.
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spielsweise im Kontext einer „Sozialgeschichte des Kulturaustauschs“20 etablieren, kann es nicht ausschließlich um Rezeptions- und Aneignungsprozesse im Bereich des Erziehungs- und Bildungswesens gehen. Eine Erforschung des Kulturtransfers ‚von unten‘ verlangt eine stärkere Fokussierung alltäglicher, lebensweltlicher Bezüge. Dadurch gelangen bislang wenig beachtete transkulturelle Orte und geografische Räume, plurale Gesellschaften und ‚ethnische Milieus‘ in den Blick, andere Wissensbestände und Erzeugnisse einer symbolischen und materiellen ‚Kultur‘, die transferiert worden sind, weitere Transferwege und Medien sowie zusätzliche Akteursgruppen, Kommunikationsformen und Quellenbestände. Dass beispielsweise Europa im 19. Jahrhundert zunehmend auch der Kontinent reisender und migrierender Frauen wurde, haben die feministische Literaturwissenschaft und die genderorientierte Reiseforschung hinreichend nachgewiesen. Ihre Bedeutung und ihre Leistungen bei kulturellen, wechselseitigen Transferprozessen sind hingegen kaum erforscht. Studien über einzelne Persönlichkeiten und spezielle Vermittlerinnengruppen – Lehrerinnen, Erzieherinnen und Dienstmädchen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, Missionarinnen, Studentinnen, Journalistinnen oder Vergnügungsreisende –, die unterschiedliche Transfermedien wie Zeitschriften, Romane, wissenschaftliche Abhandlungen, aber auch Reiseberichte, Autobiografien, Tagebücher und Briefe als Quellen nutzen, können ebenfalls dazu beitragen, verengte Vorstellungen von in sich geschlossenen ‚Nationalkulturen‘ aufzubrechen. Die Forschungslandschaft, in der sich gegenwärtig an der sozial- und kulturgeschichtlichen Rekonstruktion wechselseitigen Austauschs und gegenseitiger Einflussnahme, aber auch gesellschaftlicher Ausgrenzung und ‚kultureller‘ Überformung abgearbeitet wird, ist vielfältig ausgerichtet und multidisziplinär bestellt.21 Neben dem Feld produktiver Aneignungsformen im Kontext von Kulturtransferprozessen werden auch die Ungleichheits-, Abhängigkeits- und Gewaltdimensionen transkultureller Situationen analysiert: in Studien über Rassismus und Xenophobie, in Arbeiten der Reiseund Migrationsforschung, in Untersuchungen über Außenseiter, Minderhei20 21
Espagne: Die Rolle der Vermittler, S. 310. Statt vieler seien hier exemplarisch einige Studien neueren Datums genannt: Bauerkämper, Bödeker, Struck: Die Welt erfahren; Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006; Conrad, Osterhammel: Das Kaiserreich transnational; Espagne, Middell, Matthias: Von der Elbe an die Seine; Hirschhausen, Ulrike von: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914, Göttingen 2006; Muhs, Paulmann, Steinmetz: Aneignung und Abwehr.
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ten und Randgruppen sowie in Forschungen, die sich mit den ‚Imaginationen‘, den Vorstellungen über das ‚Fremde‘ und ihren Darstellungen im Kontext von Exotismus und Kolonialismus, Orientalismus und (neuerdings) Okzidentalismus beschäftigen.22 Obwohl sich die jeweiligen Disziplinen in ihrer Blickrichtung auf soziale und kulturelle Phänomene unterscheiden, verbindet sie ein ähnlich gelagertes, erkenntnisleitendes Forschungsinteresse: die Frage nach den Konstruktionen und Repräsentationen des jeweils ‚Eigenen‘ bzw. ‚Fremden‘ sowie die Asymmetrien dieses Verhältnisses.23 Theoriemodelle und exemplarische Studien ergründen die Konflikte, die in transkulturellen Räumen entstehen können – etwa die Inklusions- und Exklusionsstrategien hegemonialer, nationaler Gruppierungen der sogenannten ‚Aufnahmegesellschaft‘, ihre Integrationsangebote und den ausgeübten Assimilationsdruck, Diskriminierungen und Separierungen, aber auch die Optionen und Handlungsstrategien der als ‚fremd‘ wahrgenommenen, stigmatisierten ‚Anderen‘. Solchen und ähnlichen Fragestellungen hat sich die Historische Bildungsforschung bislang wenig geöffnet, obwohl diese in ihrem Kern auf Probleme individueller und kollektiver Identitätsbildungsprozesse verweisen – und damit auf genuin erziehungswissenschaftliche, biografie- und sozialisationsgeschichtliche Fragestellungen. Eine Systematisierung von Forschungsfragen und möglichen -feldern aus bildungshistorischer Perspektive steht noch aus. Abschließend lassen sich an dieser Stelle beispielhaft zwei Bereiche andenken: (1) Studien zur pluralen Verfasstheit nationaler Gesellschaften, (2) Studien zur multiplen Verfasstheit von Individuen. 22
23
Zum letztgenannten Themenkomplex vgl. etwa Baberowski, Jörg, Kaelble, Hartmut, Schriewer, Jürgen (Hrsg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, Frankfurt a.M., New York 2008; Bechhaus-Gerst, Marianne, Gieseke, Sunna (Hrsg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt a.M., u.a. 2006; Berman, Nina: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart, Weimar 1997; Dietrich: Weiße Weiblichkeit; Dietze, Gabriele: Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion, in: Tißberger, Martina, u.a. (Hrsg.): Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Critical Studies on Gender and Racism, Frankfurt a.M., u.a. 2006, S. 219-247; Eggers, Maureen Maischa, u.a.: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005; Kundrus: Phantasiereiche; Tißberger, u.a.: Weiß – Weißsein – Whiteness.; Walgenbach: „Die weiße Frau“; Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Vgl. Ackermann, Andreas: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers, in: Jaeger, Friedrich, Rüsen, Jörn (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart, u.a. 2004, S. 141.
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(1) Eine nationalstaatlich orientierte Geschichtsschreibung wie auch komparatistisch angelegte Studien zu globalen Transfer- und Verflechtungsprozessen übersehen leicht, dass Differenzen nicht nur zwischen Gesellschaften, sondern gleichermaßen innerhalb von ihnen bestehen und immer schon bestanden haben. Deshalb sollte es zur Prämisse werden, in allen historischen Gesellschaften Pluralität, Heterogenität, Komplexität und Diversität vorauszusetzen und danach zu suchen. Für den Bereich des Bildungswesens hat Marianne Krüger-Potratz allerdings darauf hingewiesen, dass die pädagogische Historiografie dieses Diktum bislang ignoriert hat und die bildungshistorische Forschung die „Fiktion sprachlicher, ethnischer, kultureller und nationaler Homogenität“24 letztlich tradiere. Heterogenität werde in der Bildungsgeschichte oftmals als ‚Sonderfall‘ behandelt, obwohl Multiethnizität, Vielfalt und Differenz als ‚Normalfall‘ angenommen werden müsse. Mehrere historische Studien der letzten Jahre haben nicht nur für den europäischen Raum auf die Gleichzeitigkeit von nationalen und regionalen Loyalitäten und Identitäten hingewiesen. Gerade in sprachlich, ‚ethnisch‘ und ‚kulturell‘ pluralisierten Regionen, die oft an den Rändern von Staatsnationen lagen und/oder in ihrer Geschichte verschiedenen Herrschaftsformen zugeordnet bzw. unterworfen waren, scheinen sich häufig unterschiedliche Identitätsangebote ausgebildet zu haben.25 Kleinräumig angelegte Lokalstudien können in dieser Frage weiteren Aufschluss geben. Ulrike von Hirschhausen hat in ihrer Studie über die multiethnische Stadt Riga, wo deutsche, lettische, russische und jüdische Gesellschaften aufeinandertrafen, vielfältige Prozesse herausgearbeitet, die sich aus dem Zusammenleben dieser Gruppierungen und ihren ‚Grenzen der Gemeinsamkeiten‘ auf unterschiedlichen Handlungsebenen ergaben – gegenseitige Berührungen und Beeinflussungen, gemeinsame Abhängigkeiten, Loyalitäten und Feindbilder, Konflikte und Kooperationen, Nachahmungen und Abgrenzungen.26 Das von Hirschhausen entworfene Programm einer ‚interethnischen Verflechtungsgeschich24
25
26
Krüger-Potratz, Marianne: Präsent, aber „vergessen“ – Zur Geschichte des Umgangs mit Heterogenität im Bildungswesen, in: Göhlich, Michael, u.a. (Hrsg.): Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz, Weinheim, München 2006, S. 133f. Grenzregionen haben im Rahmen des spatial turn interdisziplinär erhöhte Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Duhamelle, Christophe, Kossert, Andreas, Struck, Bernhard (Hrsg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York 2007; François, Etienne, Seifarth, Jörg, Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York 2007). Vgl. Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit.
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te‘ kann auch für bildungshistorische Fragestellungen fruchtbar sein – mentalitätsgeschichtlich etwa zur Erschließung von Heterogenität gesellschaftlicher Deutungsmuster oder zur Wahrnehmung von Pluralität in Gemeinschaftsvorstellungen. (2) Eng verbunden mit der Annahme von Heterogenität, Vielfalt und Differenz zwischen und innerhalb von Gesellschaften sind Fragen nach den kulturellen Aneignungsprozessen, die Menschen in globalen und lokalen Kontexten zu leisten haben. In Gesellschaften, die vielfältige Orientierungsund Deutungsmuster anbieten, können Individuen sich jeweils mit mehreren kulturellen Referenzen identifizieren. Diese postmoderne Idee der prozessund kontextabhängigen Identitätsbildung führt zu Entwürfen von ‚multiplen Identitäten‘, zu Phänomenen der Mehrfachzugehörigkeit, des Grenzgängertums und der ‚Hybridität‘.27 Einer subjektorientierten, biografisch ausgerichteten Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung böte sich vor der Annahme einer multiplen Verfasstheit geschichtlicher Subjekte und ihrer pluralisierten Identitäten ein umfangreiches Forschungsfeld, blickt man alleine auf das mögliche Themenund Fragespektrum, das sich beispielsweise aus der Migrationsgeschichte ergibt: Mobilitäten und die damit einhergehenden Neuverortungen, seien sie temporär oder auf Dauer angelegt, aus freiwilligem Entschluss erfolgt oder erzwungen, stellen gravierende biografische Einschnitte für Individuen, ihre Orientierungen, Verhaltensweisen und sozialen Kontexte dar. Sie bedeuten einen Umbruch, der sowohl mit dem Verlust von vertrauten Bezügen als auch mit der Erweiterung individueller Möglichkeiten erlebt wurde und wird.28 Migration stellt vielseitige und hohe Anforderungen an ein Individuum. Die subjektive Wahrnehmung und Gestaltung dieser Situation bedeutet einen aktiven und kreativen Prozess auf mehreren Ebenen der Persönlichkeit. In diesem Verständnis sind Migrantinnen und Migranten als handelnde Personen zu begreifen, die bewusst und unbewusst Strategien zur situativen Bewältigung entwickeln. Aus bildungshistorischer Perspektive könnten folgende Fragestellungen an die Migrationsgeschichte gestellt werden: Welche 27
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Vgl. stellvertretend Aits, Wiebke: Intellektuelle Grenzgänger. Migrationsbiografien nordafrikanischer Studierender in Deutschland, Frankfurt a.M., New York 2008; Ebert, Anne (Hrsg.): Differenz und Herrschaft in den Amerikas: Repräsentationen des Anderen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2009; Möllers, Nina: Kreolische Identität. Eine amerikanische ‚Rassengeschichte‘ zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans, Bielefeld 2008; Windhus, Astrid: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts, Leipzig 2005. Vgl. Aits: Intellektuelle Grenzgänger, S. 18f.
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Gruppierungen, Akteurinnen und Akteure lassen sich für konkrete historische Zeiten, Orte und Räume als Agentinnen und Agenten einer ‚gelebten Pluralität‘ ausmachen? Inwiefern wurden im Migrationsprozess Beziehungsnetzwerke und transnationale Bindungen aufrechterhalten und gefestigt? Wie wurden neue, fremdartige Begegnungen wahrgenommen und Beziehungen geknüpft? Welche sozialen Netzwerke, welche communities oder plural societies entstanden? Welche Zugehörigkeits-, Ab- und Ausgrenzungsdiskurse und -praktiken wurden in gesellschaftlich heterogenen Situationen und Räumen geführt? Wie wurden Differenzlinien zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ im Sinne eines Othering konstruiert? Welche Formen der Selbstverortung und der biografischen Arbeit wurden in der ‚Fremde‘ vorgenommen, welche Handlungsstrategien entwickelt? Will die historische Bildungsforschung Anschluss an die neueren kulturwissenschaftlichen Theorieansätze und -diskussionen finden, sollte sie sich neue thematische Felder innerhalb und vor allem jenseits nationaler und kultureller Grenzziehungen erschließen und ihre zentralen Begriffe, Kategorien und Gegenstände – Erziehung, Bildung, Identität – vor dem Hintergrund historischer Mobilitäts- und Globalisierungsprozesse, pluralisierter Orte, Situationen und Räume neu durchdenken. Dabei könnten auch ‚gegenläufige‘ Entwicklungen stärker fokussiert werden, etwa die Geschichte der ‚kulturellen Homogenisierung‘ des deutschen Bildungswesens durch die Einebnung sprachlich-kultureller Vielfalt.29 Auch könnten Differenzlinien wie Nationalität, Klasse bzw. Schicht, Ethnie, ‚Rasse‘, Gender, Religion u.Ä., die die Abgrenzungs- und Ungleichheitsstrukturen nahezu aller Gesellschaften organisieren, aus bildungshistorischer Perspektive stärker in den Blick genommen und dabei in ihrer wechselseitigen Verschränkung betrachtet werden – ein Ansatz, der interdisziplinär unter dem Etikett Intersektionalität firmiert.30 In der Frage nach individuellen und kollektiven Identitätsbildungs29
30
Vgl. Krüger-Potratz: Präsent, aber „vergessen“; Walgenbach, Katharina: Whiteness Studies als kritisches Paradigma für die historische Gender- und Bildungsforschung, in: Gippert, Götte, Kleinau: Transkulturalität, S. 61. Zur theoretischen Diskussion siehe die Beiträge in dem folgenden Band: Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie. Historische Untersuchungen, die diesem Ansatz zugeordnet werden können, sind vor allem in der genderorientierten Nationalismus- und Kolonialismusforschung entstanden: vgl. bspw. Dietrich: Weiße Weiblichkeit; Kleinau: Klasse, Nation und „Rasse“; Mae, Michiko: Nation, Kultur und Gender: Leitkategorien der Moderne in Wechselbeziehung, in: Becker, Ruth, Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, S. 621-624; Planert: Nation, Politik und Geschlecht; Walgenbach: „Die weiße Frau“.
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prozessen als einen, wenn nicht den zentralen Gegenstand der historischen Sozialisations- und Bildungsforschung stünden unter dieser Perspektive die Konstruktionen und Repräsentationen des ‚Eigenen‘ am ‚Anderen‘ auf dem Programm: Sie geben Aufschluss über Selbst- und Fremdzuschreibungen, über gesellschaftliche Positionierungen durch Inklusions- und Exklusionsprozesse und damit nicht zuletzt über Mechanismen von Differenzsetzung und der Erzeugung gesellschaftlicher Ungleichheit, von Herrschaftsausübung und Machterhalt. Deren Analyse stellt auch eine bildungshistorische Aufgabe und Herausforderung dar.
11.
Bibliografie
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