Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik 9783110511567, 9783828202931


214 29 31MB

German Pages 346 [348] Year 2004

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Referate
Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung aus Sicht der monetären Außenwirtschaftstheorie. Korreferat von Volker Clausen
Digitale Soziale Marktwirtschaft: Probleme und Reformoptionen im Kontext der Expansion der Informations- und Kommunikationstechnologie. Korreferat von Thomas Wilke
Internationale Finanzmärkte als Sanktionsmechanismen nationaler Wirtschaftspolitik. Korreferat von Theresia Theurl
Zur Konzeption der EZB-Politik: Anpassungserfordernisse unter veränderten Rahmenbedingungen? Korreferat von Spiridon Paraskewopoulos
Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern. Korreferat von Dietrich von Delhaes-Guenther
Systemwandel in kleinen Schritten? Das Beispiel der Integrierten Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung. Korreferat von Wilfried Boroch
Das Kyoto-Protokoll - Emissionshandel als Problem internationaler Wirtschaftspolitik. Korreferat von Lambert T. Koch
Bastiats „negative Eisenbahn“ - Ein ordnungspolitisches Lehrstück -. Korreferat von Markus Ksoll
Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung: zwei Beispiele. Korreferat von Andre Jungmittag
Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU. Korreferat von Peter O. Oberender und Jochen Fleischmann
Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU. Korreferat von Dieter Smeets
Rettet die Wale! Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik. Korreferat von Raimund Bleischwitz
Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation: Institutioneller Aufbau, Finanzierung und wirtschaftliche Bedeutung
Kurzbeiträge
Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor
Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor aus mittelständischer Perspektive
EU-Erweiterung: Reformbeschleuniger für Mittelstand und Politik
Regional Integration and Policy Coordination: The Case of Central America
Autorenverzeichnis
Recommend Papers

Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik
 9783110511567, 9783828202931

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J. J. Weifens (Hg.)

Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf

Unter Mitwirkung von Prof. Prof. Prof. Prof.

Dr. Dr. Dr. Dr.

Dieter Cassel, Duisburg Karl-Hans Hartwig, Münster Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Ulrich Wagner, Pforzheim

Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 74: Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik

®

Lucius & Lucius • Stuttgart · 2004

Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik

Herausgegeben von

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J. J. Weifens

Mit Beiträgen von Thomas Apolte, Dieter Bender, Raimund Bleischwitz, Wilfried Boroch, Rolf Caspers, Ulrich Cichy, Volker Clausen, Dietrich von Delhaes-Guenther, Ulrich Fehl, Jochen Fleischmann, Karl-Hans Hartwig, Ullrich Heilemann, Andre Jungmittag, Lambert T. Koch, Petra Kreis-Hoyer, Markus Ksoll, Albrecht F. Michler, Christian Müller, Manfred J.M. Neumann, Peter O. Oberender, Spiridon Paraskewopoulos, Wolf Schäfer, Alfred Schipke, Joachim Schwerd, Dieter Smeets, Torsten Sundmacher, Theresia Theurl, H. Jörg Thieme, Manfred Tietzel, Uwe Vollmer, Peter Weiss, Paul J.J. Weifens, Thomas Wilke, Manfred Willms

Lucius & Lucius · Stuttgart · 2004

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Apolte Westfälische Wilhelms-Universität Institut für Ökonomische Bildung Scharnhorststraße 100 48151 Münster Prof. Dr. Rolf Caspers European Business School Schloss Reichartshausen 65375 Oestrich-Winkel Prof. Dr. Paul J. J. Weifens Bergische Universität Wuppertal Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW) Gaußstraße 20 42119 Wuppertal

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Lucius & Lucius Verlags-GmbH · Stuttgart · 2004 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany

ISBN 3-8282-0293-4 ISSN 1432-9220

Vorwort Begriffe wie ,New Economy' oder .Globalisierung' lösen bei vielen Menschen mehr Ängste als Hoffnungen aus. Die weltweiten Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes haben Abwehrreaktionen zur Folge, wo es darauf ankäme, Chancen zu nutzen und umzusetzen. Vor allem in Deutschland liegt dies sicher auch an den vielfältigen wirtschaftspolitischen Altlasten, die eine schwere Bürde für das Steuersystem, den Arbeitsmarkt sowie die sozialen Sicherungssysteme darstellen und die Anreizsysteme verzerren. Derweil schreitet weltweit die Integration der Güter- und Faktormärkte voran. Ob die dabei entstehenden .Integrationsinseln' die Vorstufe eines weltweiten wirtschaftlichen Austausche sind oder sich zu protektionistischen Festungen entwickeln werden, ist dabei zunächst noch offen. Vieles wird davon abhängen, inwieweit die beteiligten Länder oder deren Regierungen auf die Abwehr von Neuerungen setzen oder progressiv neue Chancen zu nutzen suchen. Wesentliche Akteure sind auch internationale oder supranationale Organisationen - wie etwa die EU - , die von der nationalen Politikebene in der jeweiligen Region Entscheidungskompetenzen an sich gezogen haben und die Rahmenbedingungen verändern. Mit Integration und Internationalisierung verbunden ist auch eine zunehmende Rolle von national und international aktiven Nichtregierungsorganisationen. Damit ist das Terrain abgesteckt, innerhalb dessen die Entwicklung von nationaler und internationaler Ordnungspolitik ablaufen wird. Unter dem Dach des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EDW) haben sich die Teilnehmer der Tagung „Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik" am 1. und 2. April 2004 in Wuppertal diesen Fragen in zahlreichen Referaten, Korreferaten und Kurzbeiträgen gestellt. Die Früchte der wissenschaftlichen Arbeit sind in dem vorliegenden Sammelband zusammengetragen. Die Herausgeber und Veranstalter danken insbesondere der Haniel-Stiftung, den Barmenia Versicherungen, der Stadtsparkasse Wuppertal und der Vorwerk & Co. KG für ihre großzügige Unterstützung. Danken möchten sie weiterhin ihren Mitarbeitern für die engagierte Workshop-Organisation und die Vorbereitung des Sammelbandes. In Wuppertal waren dies Frau Edeltraut Friese, Frau Stefanie Kulimann, Herr Marc Cyris, Herr Dipl.-Vw. Christopher Schumann und Herr Dipl. Ök. Martin Keim, in Münster Herr Dipl. Ök. Claudius Kobel sowie Herr Dipl.-Vw. Oliver Röhn. Widmen möchten die Herausgeber diesen Band ihrem langjährigen akademischen Lehrer, Freund und Wegbegleiter, Professor Dr. Dieter Cassel, der am 25. September 2004 sein 65. Lebensjahr vollendet. Nicht nur die Herausgeber, sondern auch viele der Workshop-Teilnehmer verdanken Dieter Cassel wertvolle Forschungsimpulse und eine vielfaltige fachliche und menschliche Unterstützung, deren Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit allen vertraut ist, die ihn kennen und mit ihm zusammen arbeiten. Münster, Oestrich-Winkel und Wuppertal, im September 2004

Thomas Apolte, Rolf Caspers und PaulJ.J. Weifens

Professor Dr. Dieter Cassel zum 65. Geburtstag

Inhalt Dieter Bender Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung aus Sicht der monetären Außenwirtschaftstheorie Korreferat von Volker Clausen

1 19

Paul J.J. Weifens Digitale Soziale Marktwirtschaft: Probleme und Reformoptionen im Kontext der Expansion der Informations- und Kommunikationstechnologie Korreferat von Thomas Wilke

23 51

Rolf Caspers und Petra Kreis-Hoyer Internationale Finanzmärkte als Sanktionsmechanismen nationaler Wirtschaftspolitik Korreferat von Theresia Theurl

55 77

Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme Zur Konzeption der EZB-Politik: Anpassungserfordernisse unter veränderten Rahmenbedingungen? Korreferat von Spiridon Paraskewopoulos

81 97

Thomas Apolte Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländem Korreferat von Dietrich von Delhaes-Guenther

99 119

Thorsten Sundmacher Systemwandel in kleinen Schritten? Das Beispiel der Integrierten Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung Korreferat von Wilfried Boroch

123 149

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd Das Kyoto-Protokoll - Emissionshandel als Problem internationaler Wirtschaftspolitik Korreferat von Lambert T. Koch

155 173

Manfred Tietzel und Christian Müller Bastiats „negative Eisenbahn" - Ein ordnungspolitisches Lehrstück Korreferat von Markus Ksoll

179 189

Ullrich Heilemann Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung: zwei Beispiele Korreferat von Andre Jungmittag

193 209

Wolf Schäfer Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU Korreferat von Peter O. Oberender und Jochen Fleischmann

215 227

χ

Inhalt

Uwe Vollmer Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU Korreferat von Dieter Smeets

231 249

Karl-Hans Hartwig Rettet die Wale! Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik Korreferat von Raimund Bleischwitz

253 273

Manfred Willms Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation: Institutioneller Aufbau, Finanzierung und wirtschaftliche Bedeutung

279

Kurzbeiträge Manfred J.M. Neumann Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor

303

Ulrich Cichy Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor aus mittelständischer Perspektive

315

Peter Weiss EU-Erweiterung: Reformbeschleuniger für Mittelstand und Politik

321

Alfred Schipke Regional Integration and Policy Coordination: The Case of Central America

331

Autorenverzeichnis

335

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weifens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung aus Sicht der monetären Außenwirtschaftstheorie

Dieter Bender*

Inhalt 1. Ausweitung der Währungsräume

2

2. Currency Board System

3

2.1. Stabilisierungspotenziale

3

2.2. Absorption asymmetrischer Schocks

5

3. Vom Currency Board zur vollständigen Eurooder Dollarisierung

13

4. Schlussfolgerung

15

Anhang

15

Literatur

17

* Für wertvolle Anregungen und Kritik danke ich Volker Clausen und Karlhans Sauernheimer.

Dieter Bender

2

1. Ausweitung der Währungsräume Die Globalisierung der Finanzmärkte in den 1990er Jahren war mit zwei währungspolitischen Tendenzen verbunden, die dem zukünftigen Weltwährungssystem eine neue Gestalt geben werden: -

Der handelspolitischen folgt eine währungspolitische Regionalisierung. Bestehende Währungsblöcke (USD- und Euro-Währungsraum) wachsen durch Eingliederung neuer Teilnehmerstaaten, die Anzahl der Währungen geht zurück (Rogoff!001, S. 234).

-

Bei den Wechselkurssystemen zeigt sich eine Tendenz zur Polarisierung. Harte Wechselkursbindungen (Ankerwährungsbindung des Wechselkurses mit Currency Board) und unabhängiges Floating nehmen zu, Zwischenlösungen (feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse mit Bandbreiten, crawling pegs, crawling bands, managed floating) sind rückläufig (Fischer 2001 ; Alesina und Barro 2001).

Führt die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs somit zu einem bipolaren Weltwährungssystem mit zwei Leitwährungen und insgesamt geringerer Anzahl von Währungen? Werden die bilateralen Wechselkurse zwischen beiden Leitwährungen in diesem System frei beweglich und die währungspolitischen Optionen im Rest der Welt auf Ersetzung des nationalen Geldes durch eine Leitwährung (Dollarisierung, Euroisierung), harte Wechselkursbindung an eine der beiden Leitwährungen oder flexible Wechselkurse reduziert sein? Eine affirmative Antwort lässt sich mit dem ,inkonsistenten Dreieck der Währungspolitik' begründen. Da die Ziele freier internationaler Kapitalverkehr, Wechselkursstabilität und geldpolitische Autonomie nicht gleichzeitig realisiert werden können, bleibt einem einzelnen Land nur die Wahl zwischen Wechselkursstabilität und Verzicht auf die nationale Geldpolitik oder Verzicht auf einen stabilen Wechselkurs, also Wechselkursflexibilisierung im Interesse einer wirksamen geldpolitischen Steuerung durch die nationale Zentralbank, wenn ein Zurück zu Kapitalverkehrs- und Devisenkontrollen ausgeschlossen wird. Die erste der zwei verbleibenden Alternativen wird durch ein Currency Board System (CBS), das die feste Wechselkursbindung glaubwürdig machen soll, oder durch den Beitritt zu einem Währungsraum mit gemeinsamer Währung erreicht. In beiden Fällen gibt es keine .hausgemachte' maßgeschneiderte Geldpolitik mehr. Die Geldpolitik des Ankerwährungslandes oder einer supranationalen Zentralbank wird importiert, die bei relativ häufigem Auftreten asymmetrischer Schocks meist nicht auf die stabilisierungspolitischen Interessen des einzelnen Landes zugeschnitten ist. Die zweite Alternative wird am besten durch ein ,pure floating' erreicht, weil die geldpolitische Steuerung dann nicht mehr durch Devisenmarktinterventionen gestört und somit sehr effektiv gemacht wird, und weil solche im Sinne des .managed floating' praktizierten Interventionen ohnehin keinen nachhaltigen Einfluss auf die Marktwechselkurse ausüben können. Im Folgenden sollen beide Alternativen mit einem außenwirtschaftstheoretischen Makromodell aus Sicht einer kleinen offenen Volkswirtschaft untersucht werden, die asymmetrischen Schocks ausgesetzt ist und vor der Frage steht, ob diese besser durch ,hard

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

3

pegs' oder ,pure floating' abgefedert werden. Harte Wechselkursbindungen werden dabei im weiteren Sinne als Erweiterung von Währungsräumen (USD- oder EUR-Raum) verstanden, bei der wiederum vier Integrationsstufen unterschieden werden können: 1) Partielle Euroisierung/Dollarisierung (indirekte Erweiterung) a) Currency Board mit EUR- oder USD-Ankerwährung: Euroisierung/Dollarisierung der Geldpolitik (CB-EUR: Bulgarien, Estland, Litauen; CB-USD: Argentinien (1991-2001), Hongkong), b) Währungssubstitution: Euroisierung/Dollarisierung über Marktprozesse, die die Ankerwährung zur Parallelwährung machen. 2) Vollständige Euroisierung/Dollarisierung (direkte Erweiterung) Die ausländische Ankerwährung übernimmt im Inland alle Geldfunktionen und ersetzt die heimische Währung a) aufgrund einseitiger politischer Beitrittsentscheidung ohne Vertrag mit dem Ankerwährungsland (z. B. unilaterale Euroisierung in Bosnien, Montenegro; Dollarisierung in Ecuador, El Salvador, Panama), b) nach Abschluss von Beitrittsverhandlungen auf vertraglicher Grundlage (ζ. B. bilaterale Euroisierung durch die gemäß EU-Vertrag geltende Verpflichtung der neuen EU-Beitrittsstaaten zur späteren EWU-Teilnahme). Im Zentrum der währungstheoretischen Analyse dieser Integrationsstufen werden la) und 2ab) stehen. Dies wirft die Fragen auf, ob kleine offene Volkswirtschaften eine mit Currency Board gestützte harte Ankerwährungsbindung anstelle der oder als Übergangsregime zur vollständigen Euroisierung/Dollarisierung einrichten sollten oder ob sie nicht stattdessen ohne diesen Umweg ihr Währungssystem sofort euroisieren/dollarisieren sollten. Die Fokussierung der Analyse auf die Auswirkungen harter Wechselkursbindungen impliziert kein vorweggenommenes Urteil über eine etwaige relative Überlegenheit eines dieser Währungsregimes. Im Gegenteil, es ist zu befürchten, dass mit der Ausweitung der Währungsräume auch die geographische Konzentration der internationalen Handels- und Kapitalströme auf die Währungsräume zunehmen wird, da die Kosten internationaler Transaktionen im Währungsraum eindeutig kleiner sind als die Kosten internationaler Transaktionen zwischen verschiedenen Währungsräumen. Der Regionalismus in der Weltwirtschaft nimmt zu. Dabei gehen Vorteile multilateraler Handelsund Finanzbeziehungen verloren, die bei .pure floating' erreichbar gewesen wären. Die interessante Frage, ob ,hard pegs' den Regionalismus und ,pure floating' den Multilateralismus fördern, kann in diesem Beitrag jedoch nicht näher untersucht werden. 2. Currency Board System 2.1. Stabilisierungspotenziale Ein Currency Board System (CBS), dessen Schockabsorptionspotenzial anhand des Makromodells einer kleinen offenen Volkswirtschaft (CB-Land) untersucht werden soll, besteht aus folgenden Komponenten:

4

Dieter Bender

- Festkursgarantie: Absolut feste, also ohne Bandbreite geltende Wechselkursbindung an eine Ankerwährung (AW). -

Konvertibilitätsgarantie: Vollständige Konvertibilität zwischen Landeswährung und Ankerwährung.

-

Regelbindung der Geldpolitik: Vollständige Deckung der Geldbasis (B) des CBLandes durch AW-Reserven (R), so dass nationales Geld durch Ankauf (Verkauf) der Reservewährung in Umlauf gebracht (aus dem Umlauf genommen) wird, indem ausschließlich nicht-sterilisierte Devisenmarktinterventionen erfolgen (Verbot sterilisierter Devisenmarktinterventionen).

-

Verlust diskretionärer Handlungsspielräume der Geldpolitik: Verbot jeglicher Finanzierung staatlicher Budgetdefizite und Refinanzierung von Geschäftsbanken durch Zentralbankkredite.

Da die Deckungsregel noch immer unterschiedlich ausgestaltet werden kann, müssen orthodoxe CBS (100 %-Deckung) und nicht-orthodoxe CBS (100 %-Mindestdeckung) unterschieden werden, wobei die meisten der seit den 1990er Jahren praktizierten Systeme (ζ. B. in Bulgarien, Estland, Litauen) zur zweiten Gruppe gehören. Wird also angenommen, dass ein mittelfristig stabiler Zusammenhang zwischen Geldmenge (M) und Geldbasis (B) besteht (M = mB; m: konstanter Geldbasismultiplikator), dann gilt die Geldmengenregel B = XR mit 0 < λ < 1 bzw. R = (ΐ/λ)Β > Β. Solange λ < 1 bzw. (l/λ) > 1, besteht kurzfristig ein begrenzter Spielraum für diskretionäre Geldpolitik, da Β erhöht werden kann, ohne die Deckungsregel zu verletzen. Wie groß dieser Spielraum ist, hängt vom Überdeckungsgrad (l/λ) ab. Da im Folgenden die makroökonomischen Konsequenzen eines CBS - und nicht der Geldpolitik im CBS - untersucht werden sollen, wird von λ = const, ausgegangen, so dass M = mXR und damit Δ M = m λ AR = π ι λ Ζ (Ζ: Zahlungsbilanzsaldo) gilt. Zahlungsbilanzdefizite (Zahlungsbilanzüberschüsse) führen zu einer monetären Kontraktion (Expansion). Die externen Ungleichgewichte werden daher durch Zinssteigerungen (Zinssenkungen), welche die Kapitalbilanz des CB-Landes verbessern (verschlechtern) und möglicherweise auch durch einen Rückgang (Anstieg) des Preisniveaus und der Produktion, der die Leistungsbilanz verbessert (verschlechtert), abgebaut. Während frei bewegliche Wechselkurse das externe Gleichgewicht über den Wechselkursmechanismus sicherstellen, bewirkt eine harte CB-gestützte Wechselkursbindung die Stabilität des externen Gleichgewichts über Geldmengenmechanismen. In der Makromodellierung ist also entweder der Wechselkurs (E: Preis einer AW-Einheit in der Währung des CB-Landes) exogen und die Geldmenge (M, R) endogene Variable (CBS) oder umgekehrt M exogene und E endogene Variable (reines Floating). Reicht das Stabilisierungspotenzial des CBS auch so weit, dass hierdurch die Preisniveaustabilität der Ankerwährung importiert werden kann? Wenn unterstellt wird, dass das Preisniveau international handelbarer Güter im AW-Land konstant gleich eins ist, wird durch den absolut festen Wechselkurs natürlich das Preisniveau dieser Güter im CB-Land ebenfalls stabilisiert: Ρ γ = E = const. (P T wird exogene Variable). Dies gilt aber nicht für das Gesamtpreisniveau (P), das auch durch das Preisniveau nicht international handelbarer Güter ( P N ) bestimmt wird: Ρ = E a P ¿ " ° . Hieraus folgt, dass der

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

5

reale Wechselkurs der Währung des CB-Landes E™ w = P/E = (P N /E)'" a beträgt. Wenn also PN steigt, wird trotz Preisniveaustabilität der Ankerwährung das Preisniveau steigen und die CB-Währung real aufwerten. Werden diese Definitionsgleichungen in Änderungsraten (x = dx/x ) formuliert, so ergibt sich mit Ρ = (1 - α)Ρ Ν = È » - , dass die Inflationsrate des CB-Landes trotz des stabilen Preisniveaus der Ankerwährung nach oben abweichen kann und in diesem Fall mit der realen Aufwertungsrate der CBWährung übereinstimmt (Bender 2003). Entsprechend wäre eine Deflation (P N < 0) mit einer gleich großen realen Abwertung verbunden. Das Stabilisierungspotenzial einer harten Wechselkursbindung an eine stabile Ankerwährung ist also umso weniger wirksam, je größer der Binnensektor (je niedriger α) und je kleiner der Handelssektor ist. Deshalb erscheint ein CBS besonders vorteilhaft für kleine, relativ offene Volkswirtschaften mit großem Handelssektor, deren internationale Handels- und Kapitalströme relativ stark auf den AW-Raum konzentriert sind. Zusätzliche Vorteile bietet das CBS für Länder, die -

vor der Einfuhrung einer Hyperinflation ausgesetzt waren, die mit dem wechselkursbasierten Stabilisierungsinstrument des CBS relativ stark und schnell eliminiert werden kann (ζ. B. Argentinien in den 1990er Jahren),

-

vor der wirtschaftlichen Systemtransformation keine Erfahrungen mit autonomer Geldpolitik und somit auch keine geldpolitischen Kompetenzen aufbauen konnten (ζ. B. Bulgarien, Estland, Litauen).

Diese Gründe sprechen ebenso wie die empirische Evidenz für das Stabilisierungspotenzial eines CBS (Ghosh, Guide und Wolf 1998, Rivera-Batiz und Sy 2002). Die Konvergenz der Inflationsraten der an den USD oder EUR gebundenen CB-Währungen ist in den längerfristigen Zeitreihen fur die Länder mit harter USD-Wechselkursbindung (Argentinien, Hongkong) und mit harter EUR-Bindung (Bulgarien, Estland, Litauen) deutlich erkennbar (Janssen 2002, S. 223). 2.2. Absorption asymmetrischer Schocks Makromodell

Ob dieses insgesamt positive Urteil auch fortbesteht, wenn das Schockabsorptionspotenzial eines CBS betrachtet wird, soll im nächsten Schritt auf Grundlage eines geeigneten Makromodells untersucht werden, das die Situation eines kleinen CB-Landes in einer Welt mit zwei Währungsräumen in möglichst einfacher Form abbilden soll. Unterschieden werden das kleine CB-Land, das bei sehr niedrigen Weltmarktanteilen Preisnehmer ist (Land 1, ζ. B. Estland oder Hongkong), das AW-Land (Land 2: EURoder USD-Raum) und das Drittland (Land 3: USD- oder EUR-Raum). Die Länder 2 und 3 sind aufgrund ihrer relativ hohen Weltmarktanteile große Länder. Sie beeinflussen die Weltmarktpreise und Zinssätze international handelbarer Güter und Finanzaktiva, die fur Land 1 exogen sind. Das Untersuchungsziel erlaubt die Beschränkung auf ein Ein-

Dieter Bender

6

Land-Modell 1 des CBS, das in der Tradition des Australian Model oder Dependent Economy Model (Dornbusch 1980) steht und hier als (keynesianisches) Makromodell der kurzen Frist spezifiziert wird. Es sind nun drei relevante Wechselkurse zu unterscheiden: -

Der feste Preis der Ankerwährung (W2: EUR oder U S D ) in Einheiten der CBWährung ( W l ) : E 12 . Der flexible Wechselkurs der Drittlandwährung (W3: U S D oder EUR) gegenüber der Ankerwährung des CB-Landes: E 23 .

-

Der flexible Wechselkurs der Drittlandwährung (W3: U S D oder EUR) gegenüber der CB-Währung: E 1 3 .

Da E 1 2 = E 1 3 /E 2 3 = const, und somit E 1 3 = E 1 2 E 2 3 , schwankt E 1 3 proportional zu E 23 . Für die homogenen international handelbaren Güter gelte das law of one price: Ρ | = E12 Ρ 2 = E12 E 2 3 Ρ 3 . Im weiteren Gang der Untersuchung wird die (hoch gestellte) Länderziffer 1 dort weggelassen, w o es sich ausschließlich um Makrovariablen des CB-Landes handelt. Land 2 stellt immer die Ankerwährung (EUR oder USD). Land 3 bildet den zweiten großen Währungsraum (USD- oder EUR-Raum). Im CB-Land existieren zwei Konsumgütersektoren. Im ersten Sektor werden international handelbare Güter (T: Handelsgüter), im zweiten Sektor nicht handelbare Güter (N: Binnengüter) hergestellt. Die Herstellung der beiden Konsumgüter erfordert den Einsatz von Arbeit (L T , LN) und sektorspezifischem Kapital (Κχ = const., KN = const.). Aus den sektoralen Produktionsfunktionen X T = A T K j ~ a und X N = A N L ^ Κ Ν b mit den totalen Faktorproduktivitäten AT und AN folgt, dass das Grenzprodukt der Arbeit bei wachsender Beschäftigtenzahl sinkt. Die intersektorale (aber nicht internationale) Mobilität der Arbeitskräfte sorgt fur sektoral übereinstimmende Nominallöhne, die aufgrund des gewinnmaximierenden Mengenanpasserverhaltens mit den Wertgrenzprodukten der Arbeit übereinstimmen, so dass die sektoralen Reallöhne in der Regel divergieren. In der Startperiode liegt ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht bei rigiden Nominallöhnen (W T = W N = W = const.) vor. Das Makromodell des CB-Landes besteht aus sieben Gleichungen: (1)

Ρ = 0 , X ™ < 0, X N A n > 0, C n ( P t / P n ) > 0, C N Y > 0 , C Ni < 0 gelten. Gleichung (4) erklärt das Gleichgewicht im heimischen Handelsgütermarkt, wobei X j ^ > 0, X w < 0 , Χ Τ Α τ > 0 , C T ( Pt / Pn ) < 0 , C ^ > 0 , C Ti < 0 . Für das kleine Land wird dieses Gleichgewicht durch Anpassung des realen Leistungsbilanzsaldos hergestellt, weil Angebotsüberschüsse (X T - CT - GT > 0) immer exportiert und Nachfrageüberschüsse (Xy - Cr - G j < 0) immer durch Importe abgedeckt werden können (vollständige preiselastische ausländische Exportnachfrage, vollständig preiselastisches ausländisches Importangebot). Gleichung (5) determiniert die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung, wobei L ^ t > 0 , L % < 0, L° A t > 0 und entsprechend L ° p > 0, L ° w < 0, L° A > 0 . Gleichung (6) ist die durch Zinsanpassungen erfüllte Gleichgewichtsbedingung des Geldmarktes, wobei - wie üblich - M?p > 0, < 0. Das durch den CB-Geldmengenmechanismus gesicherte externe Gleichgewicht stellt Gleichung (7) dar, wobei LB rP > 0 , LB rP < 0 , LB rW < 0, LB rAT > 0 und KB¡ > 0 , KBj2 < 0 , KBr,, < 0. Diese Modellstruktur lässt sich auf eine einfachere Form reduzieren, die eine graphische Darstellung des Binnengütermarkt- und Zahlungsbilanzgleichgewichts in Abhängigkeit von R und P N ermöglicht und eine Gleichgewichtslösung (Ro, PNO) liefert, aus der die Gleichgewichtswerte aller übrigen endogenen Variablen abgeleitet werden können. Die in Abbildung 1 dargestellte NG-Kurve zeigt alle R-P N -Kombinationen, die ein Binnengütermarktgleichgewicht bei simultanem Geldmarktgleichgewicht gewährleisten (Gleichung (3) in Verbindung mit Gleichungen (6), (1) und (2)). Ausgehend von einem Gleichgewichtspunkt auf der NG-Kurve führt ein Anstieg von PN zu einem Angebotsüberhang (ESN) im Binnengütermarkt. Um dieses durch eine Nachfragesteigerung ACN = E S n auszugleichen, müsste R so stark steigen, dass eine Zinssenkung zustande kommt, die hinreichend stark wäre, diesen Nachfrageeffekt herbeizuführen.

Dieter

8

Abbildung 1:

Bender

CB-Modell

NG-Kurve: Alle PN - R - Kombinationen, bei denen Binnengüter- und Geldmarkt im Gleichgewicht (Gleichungen (1), (2), (3) und (6)). ZG-Kurve: Alle PN - R - Kombinationen, bei denen Zahlungsbilanz und Geldmarkt im Gleichgewicht (Gleichungen (1), (2), (4), (6) und (7)). Daher hat die NG-Kurve ein positives Steigungsmaß und wird umso steiler verlaufen, j e weniger zinselastisch die Nachfrage CN ist. Ist CNÌ

=

0, verläuft N G vertikal

(formale Herleitung des Steigungsmaßes im Anhang). Alle Punkte unterhalb (oberhalb) der NG-Kurve sind mit Angebotsüberhängen ESN (Nachfrageüberhängen ED N ) verbunden, die durch eine Senkung (Erhöhung) von PN ausgeräumt werden können. Entsprechend erfasst die ZG-Kurve alle R-PN-Kombinationen, die ein externes Gleichgewicht bei simultanem Geldmarktgleichgewicht sicherstellen (Gleichung (7) in Verbindung mit Gleichungen (6), (1), (2) und (4)). Ausgehend von einem Gleichgewichtspunkt auf der ZG-Kurve, bei dem Ζ = P T L B r = K B = 0 , führt ein Anstieg von PN ZU einem Nachfrageüberhang im Handelsgütermarkt und zu einem Zinsanstieg, die ein Leistungsbilanzdefizit und einen Kapitalbilanzüberschuss herbeifuhren. Sind die internationalen Kapitalströme relativ zinselastisch (zinsunelastisch), so dass die Kapitalbilanzüberschüsse das Leistungsbilanzdefizit überschreiten (unterschreiten), müsste R so stark steigen (sinken), dass über Zinssenkungen (Zinserhöhungen) das Leistungsbilanzdefizit vergrößert (verringert) und der Kapitalbilanzüberschuss verringert (Vergrößert) wird, bis das Leistungsbilanzdefizit aus einem gleich großen Kapitalbilanzüberschuss finanziert werden kann. Folglich hat die ZG-Kurve ein positives (relativ zinselastische Kapitalströme) oder negatives (relativ zinsunelastische Kapitalströme) Steigungsmaß, das umso größer ist, j e zinselastischer die internationalen Kapitalströme sind (formale Herleitung des Steigungsmaßes im Anhang). Alle Punkte unterhalb (oberhalb) der ZG-Kurve sind mit Zah-

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

9

lungsbilanzüberschüssen Ζ > 0 (Zahlungsbilanzdefiziten Ζ < 0) verbunden, die durch einen Anstieg (Rückgang) von R ausgeräumt werden. Das in Abbildung 1 durch den Schnittpunkt von NG-und ZG-Kurve determinierte gesamtwirtschaftliche Unterbeschäftigungsgleichgewicht liefert die gleichgewichtige AW-Reserve Ro und das Preisniveau der Binnengüter PNo- Damit sind alle Gleichgewichtswerte der übrigen Variablen bestimmt. Wie in den Ungleichgewichtsbereichen erkennbar, ist dieses Gleichgewicht global stabil, wenn das Steigungsmaß der NGKurve größer als das der ZG-Kurve ist. Beruhen die Lohnrigiditäten auf Mindestlohnregulierungen, die Nominallohnsenkungen (nicht aber Lohnsteigerungen) verhindern, ist der Geltungsbereich des Modells auf das Intervall 0 < P N0 < beschränkt. P^ B ist das Preisniveau, bei dem ein Ars beitsmarktgleichgewicht (L - LT = L ° ) erreicht wird. Da Lohnerhöhungen nicht der Mindestlohnbeschränkung unterliegen, werden alle Preisniveaus P N > P^ B Nachfrageüberhänge im Arbeitsmarkt hervorrufen, die durch Lohnerhöhungen ausgeräumt werden. Der Nominallohn wird im Bereich des Vollbeschäftigungsgleichgewichts zur endogenen, die Beschäftigung zur exogenen Variablen.2 Im nächsten Schritt der Untersuchung soll nun ein CB-Land im Unterbeschäftigungsgleichgewicht betrachtet und die hier entwickelte Technik für die Analyse der Auswirkungen asymmetrischer Schocks unter den Bedingungen eines Currency Board Systems genutzt werden. Die exogenen Störungen sind inteme Schocks ( A W > 0, Δ A T > 0, AG N > 0, AG T > 0 ) oder externe Schocks ( A i 2 > 0, ARP > 0, Δ Ε 2 3 < 0 ). Interner Lohnschock Da eine Erhöhung des Nominallohnes (AW > 0 ) in beiden Sektoren eine Angebotskontraktion (einen Nachfrageüberhang) und somit auch ein Leistungsbilanzdefizit mit Ζ < 0 herbeifuhrt, muss die Ausgangssituation (Ro, PNO in Abbildung 1) nun oberhalb beider Gleichgewichtskurven liegen. Die Lohnsteigerung zeigt sich somit in einer Rechtsverschiebung der NG- und ZG-Kurve. Im neuen Gleichgewicht ist Ri > Ro und P N I > PNO· Die Lohnerhöhung führt zu einer realen Aufwertung der CB-Währung. Da P N unterproportional zu W gestiegen ist, geht die Beschäftigung nicht nur im Handelssektor, der die Lohnerhöhung nicht auf die Preise überwälzen kann, sondern auch im Binnensektor zurück. Bei flexiblen Wechselkursen wäre es zu einer Abwertung der Landeswährung W1 (ΔΕ 1 2 > 0) gekommen, so dass das steigende Preisniveau der Handelsgüter den infla2

Gleichung (5) wird im Bereich des Vollbeschäftigungsgleichgewichts zu einer Gleichgewichtsbedingung L = L ? ( P T , W , A T ) + L ° ( P N , W , A N ) = L s , da die (Aufwärts-)Flexibilität der

Löhne die Arbeitsnachfrage an das knappere Arbeitsangebot anpasst. Das Modell kann mit dieser Transformation auch im Vollbeschäftigungsbereich bei veränderten Steigungsmaßen der Gleichgewichtskurven angewendet werden.

10

Dieter Bender

torischen Effekt verstärkt, den negativen Beschäftigungseffekt hingegen abgeschwächt hätte. Ein CBS könnte also die Lohnpolitik wirksamer disziplinieren, weil übermäßige (nicht durch wachsende Arbeitsproduktivitäten gedeckte) Lohnsteigerungen größere Produktions- und Beschäftigungsverluste befürchten lassen. Interner Produktivitätsschock Eine Erhöhung der totalen Faktorproduktivität im Handelssektor ( Δ Α γ > 0 ) , die dort auch eine höhere Grenzproduktivität der Arbeit erzeugt, wird Produktions- und Beschäftigungszuwächse anregen, die nicht auf den Handelssektor beschränkt bleiben. Da der Binnensektor zunächst nicht betroffen ist, die NG-Kurve also stabil bleibt, entsteht ein Leistungsbilanz- und Zahlungsbilanzüberschuss (Angebotsüberhang im Handelssektor). Die Wirkung des Produktivitätsschocks zeigt sich also in Abbildung 1 in einer Linksverschiebung der ZG-Kurve. Es ergibt sich ein neues Gleichgewicht Ri > Ro und PNI > PNO· Die monetäre Expansion resultiert aus dem Zahlungsbilanzüberschuss. Die reale W1-Aufwertung über den Anstieg von P N resultiert aus der Zinssenkung und dem positiven Realeinkommenseffekt, die über steigende Nachfrage CN den Wachstumsimpuls auf den Binnensektor übertragen. Wird die Produktivitätssteigerung in proportionalen Lohnerhöhungen weitergegeben (AW > 0, Δ Α Τ > 0, AW/W = Δ A T / A T ), verliert sie natürlich ihre wachstumsfordernde Wirkung auf Χτ und L T (ZG-Kurve in Abbildung 1 verschiebt sich nicht), wirkt aber kontraktiv auf das Binnengüterangebot (EDN > 0, Rechtsverschiebung der NGKurve in Abbildung 1). Es kommt zu einem Balassa-Samuelson-Eñékt: PN und Ρ steigen unterproportional zu W (reale Aufwertung von W l ) und mit der Produktionsmenge X N geht auch die Beschäftigung zurück ( A L = AL N < 0 ) . Während im Handelssektor Produktion und Beschäftigung unverändert bleiben, wird der Beschäftigungseffekt des Produktivitätsschocks im Binnensektor umgekehrt und trotz eines stabilen Preisniveaus der Ankerwährung ein Preisniveauanstieg im CB-Land ausgelöst. Interne Fiskalschocks Expansive Fiskalimpulse, die durch eine höhere Staatsnachfrage ausgelöst werden, haben unter den Rahmenbedingungen eines CBS unterschiedliche Wirkungen. Diese werden davon abhängen, ob die Impulse vom Binnensektor ( Δ ΰ Ν > 0) oder Handelssektor ( Δ G T > 0 ) ausgehen. Konzentriert sich die gestiegene Staatsnachfrage auf Binnengüter (ζ. B. Bauleistungen), entsteht kein direkter Einfluss auf den Handelssektor (ZG-Kurve bleibt unverändert) und ein Nachfrageüberhang im Binnengütermarkt (in Abbildung 1: Rechtsverschiebung der NG-Kurve). Die Anpassungsprozesse münden in ein neues Gleichgewicht mit Ri > Ro und PNI > PNO· ES kommt also zu einer realen Aufwertung, die von einer monetären Expansion begleitet wird. Die AW-Reserven steigen, weil der mit PN einhergehende Zinsanstieg zu einem das entstandene Leistungsbilanzdefizit überwiegenden Kapitalbilanzüberschuss führt. Die Beschäftigung steigt im Binnensektor (AL = A L n > 0), nicht aber im Handelssektor ( A L T = 0). Die Fiskalpolitik kann unter den vorgegebenen Bedingungen ein Wachstum von Realeinkommen und Beschäf-

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

11

tigung anregen, muss dann aber auch einen Anstieg des Preisniveaus in Kauf nehmen und untergräbt so das Stabilisierungspotenzial des CBS (siehe Kapitel 2.1.). Bei flexiblen Wechselkursen wäre es in diesem Falle zu einer nominalen Aufwertung von W1 gekommen (ΔΕ 1 2 < 0), so dass Ρχ sinken und Pn schwächer steigen müssten. Somit würden die abgeschwächten Beschäftigungswirkungen im Binnensektor mit negativen Beschäftigungseffekten im Handelssektor einhergehen. Die Wirksamkeit der expansiven Fiskalpolitik wäre in Frage gestellt, die Preisniveaustabilität aber auch weniger stark gestört worden. Das Floating könnte somit die Fiskalpolitik stärker disziplinieren als ein CBS (siehe auch Tornell und Velasco 2000). Richtet sich die höhere Staatsnachfrage auf die Handelsgüter (ζ. B. Computersoftware), so entsteht ein Nachfrageüberhang im Markt der Handelsgüter, der durch zusätzliche Nettoimporte, also ein Leistungsbilanzdefizit, abgedeckt wird (in Abbildung 1: Rechtsverschiebung der ZG-Kurve). Das neue Gleichgewicht liegt bei PNI < PNO und Ri < Ro- Es kommt also zu einer realen Aufwertung und monetären Kontraktion. Der für die monetäre Kontraktion verantwortliche Rückgang der AW-Reserve wird durch das Leistungsbilanzdefizit ausgelöst. Das externe Gleichgewicht wird über Zinssteigerungen wieder hergestellt (Leistungsbilanzdefizit = Kapitalbilanzüberschuss). Da die höheren Zinsen eine Abschwächung der Binnengüternachfrage herbeiführen, wirkt sich der crowding out effect ausschließlich im Markt für Binnengüter aus, wo mit dem Preisniveau PN auch Produktion, Realeinkommen und Beschäftigung zurückgehen, während im Handelssektor Produktion und Beschäftigung unverändert bleiben. Das Ergebnis kontraktiver Wirkungen expansiver Fiskalpolitik ist ungewöhnlich ( Δ Χ Ν < 0, AL = A L n < 0), sollte aber nicht mehr überraschen, wenn man sich die Rahmenbedingungen des CBS vor Augen fuhrt, die diese Anpassungsprozesse hervorbringen. Unter diesen Umständen könnte das CBS eine relativ stark disziplinierende Wirkung auf die Fiskalpolitik ausüben, während flexible Wechselkurse Anreize böten, über die nominale Abwertung von W1 (ΔΕ 1 2 > 0 ) positive Beschäftigungswirkungen zu erzielen (siehe auch Fatas und Rose 2000). Externer Zins- oder Vertrauensschock Ein Zinsanstieg im AW-Raum ( Δ ι 2 > 0) oder ein Glaubwürdigkeitsverlust der harten Wechselkursbindung infolge von Erwartungen eines Regimewechsels, der in einer Risikoprämie auf Kapitalanlagen in der CB-Währung zum Ausdruck kommt (ARP > 0), wirken in die gleiche Richtung. Die Kapitalexporte nehmen zu, die Kapitalimporte lassen nach. Der - wie auch immer begründete - Verlust des Vertrauens in die Stabilität des CBS fuhrt zu einer Drehung der internationalen Kapitalströme, die - ebenso wie die Wirkung eines Zinsanstiegs im Ausland - im Kapitalbilanzdefizit des CB-Landes sichtbar wird (in Abbildung 1 : Rechtsverschiebung der ZG-Kurve). Das neue Gleichgewicht (PNI < PNO und R] < Ro) zeigt die deflatorische Wirkung dieser externen Schocks. Sie ist durch die CBS-Konstruktion bedingt, da das durch ausländische Zinssteigerungen oder spekulative Angriffe ausgelöste Zahlungsbilanzdefizit einen Rückgang der AW-Reserven und somit eine Geldangebotskontraktion erzwingt. Die mit der monetären Kontraktion einhergehenden Zinssteigerungen bremsen zwar die

12

Dieter Bender

Kapitalabflüsse und könnten spekulative Angriffe durchaus abwehren. Allerdings werden diese Abwehrstärken des CBS mit einem Produktions- und Beschäftigungsrückgang erkauft, der auf den Binnensektor beschränkt bleibt (AL = AL N < 0), wo die Zinssteigerungen eine Nachfrageabschwächung hervorrufen. Da der Druck ausländischer Zinssteigerungen oder spekulativer Angriffe bei flexiblen Wechselkursen durch eine nominale W1-Abwertung aufgefangen würde (ΔΕ 1 2 > 0), wäre ein Regimewechsel auch mit einem Vorzeichenwechsel der durch externe Schocks ausgelösten Wirkungen verbunden. Die kontraktiven Wirkungen der externen Schocks müssten also in expansive Effekte umschlagen. Die Abwertung wird PT erhöhen, so dass X T und L T steigen. Der Relativpreiseffekt (Anstieg von PT/PN) überträgt den expansiven Effekt in den Binnensektor, wo die steigende Binnengüternachfrage steigende Preise, aber auch ein Wachstum von Produktion und Beschäftigung hervorruft (AL = AL T + AL N > 0). Externer Wechselkursschock

Wechselkursschocks treten auf, wenn die Ankerwährung W2 gegenüber der Drittlandwährung W3 auf- oder abgewertet wird und sich daraus Rückwirkungen auf die Preise der Handelsgüter ergeben. Um diese exogenen Schocks in unserem Modellrahmen des kleinen CB-Landes zu analysieren, wird der Fall betrachtet, dass W2 gegenüber W3 aufwertet ( Δ Ε 2 3 < 0), weil aufgrund von Portfolioumschichtungen die von Land 3 nach Land 2 (von Land 2 nach Land 3) fließenden Kapitalexporte steigen (zurückgehen). Die Kaufkraftparität zwischen W2 und W3 werde durch Preisanpassungen auf den Weltmärkten wieder hergestellt: P 2 (E 2 3 )= E 2 3 P X (E 2 3 ). Da die in Land 2 (3) zum Preis P x (ρχ ) angebotenen Handelsgüter für die Nachfrager des Landes 3 (2) teurer (billiger) werden, geht die Nachfrage nach Land-2-Produktion zurück, so dass P 2 fällt, und die Nachfrage nach Land-3-Produkten steigt, so dass P x ebenfalls ansteigt. Diese (für das CB-Land exogenen) Prozessergebnisse ziehen aber einen Transmissionseffekt in Land 1 nach sich, der damit zusammenhängt, dass infolge der festen Wechselkursbindung (E 1 2 = const.) W1 gemeinsam mit W2 gegenüber W3 aufwertet und die Preise der Handelsgüter im CB-Land somit zurückgehen (AP T = E 12 Δ Ρ 2 < 0). Die Produktion und Beschäftigung im Handelssektor gehen zurück ( Δ Χ χ < 0, AL X < 0), die Nachfrage steigt ( A C T > 0 ). Es bildet sich ein Leistungsund Zahlungsbilanzdefizit (in Abbildung 1 : Rechtsverschiebung der ZG-Kurve) und ein Angebotsüberhang im Binnengütermarkt (in Abbildung 1 : Linksverschiebung der NGKurve), weil infolge der relativen Preisänderungen und des Realeinkommensverlustes die Nachfrage CN zurückgeht. Das Preisniveau PN wird sinken, so dass der kontraktive Effekt vom Handelssektor auf den Binnensektor übertragen wird, wo Produktion und Beschäftigung ebenfalls zurückgehen ( Δ X N < 0, AL N < 0). Der externe Wechselkursschock hat somit deflatorische Wirkungen (AR < 0, ΔΡ ν < 0, ΔΡ < 0, AL = AL T + AL N < 0). Pure Floating könnte das kleine Land gegen Deflationsübertragung abschirmen, weil es mit der Auflösung der Wechselkursbindung zu einer nominalen Abwertung von W1 käme (ΔΕ 1 2 > 0 ) , die das Preisniveau der Handelsgüter stabilisieren könnte.

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

13

Fasst man die Ergebnisse dieser Makroanalysen der polaren Wechselkurssysteme Currency Board versus Pure Floating zusammen, sieht sich die keineswegs neue Erkenntnis, dass es kein eindeutig optimales Währungssystem gibt (Frankel 1999), erneut bestätigt. Beide Systeme sind in ihren Fähigkeiten, externe Gleichgewichte zu sichern, äquivalent. Es kann aber nicht bewiesen werden, dass die Abwägung positiver und negativer Auswirkungen exogener, asymmetrischer Schocks in kleinen offenen Volkswirtschaften einem der beiden Systeme Vorrang gibt. Ob in der Schockabsoiptionsfahigkeit das CBS oder das Floating besser abschneidet, hängt von der Art des Schocks und den gesamtwirtschaftlichen Strukturen (Strukturparametern des Makromodells) im CB-Land ab.

3. Vom Currency Board zur vollständigen Euro- oder Dollarisierung Die nächste Stufe der Währungsintegration wird erreicht, wenn die nationale Währung (Wl) ihre Gültigkeit als Zahlungsmittel nach Ablauf einer vorgegebenen Frist verliert und durch die bisherige Ankerwährung (W2) ersetzt wird, die die Funktionen als Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel und Recheneinheit übernimmt. Land 1 bildet also durch einen einseitigen Akt oder multilaterale Übereinkunft einen gemeinsamen Währungsraum mit Land 2. Letzteres wird sich aus der EU-Osterweiterung ergeben. Die neuen EU-Mitgliedstaaten haben sich mit Unterzeichnung der Beitrittsverträge für eine vollständige Euroisierung auf multilateraler Basis entschieden. Sie haben damit die Verpflichtung übernommen, zu einem bestimmten, aber noch nicht festgelegten zukünftigen Zeitpunkt der Europäischen Währungsunion beizutreten, ohne auf eine Opting-out-Klausel zurückgreifen zu können {Belke, Hebler und Setzer 2003, S. 429). Die Anzahl der Währungen in der Welt wird also in Zukunft mindestens um die Anzahl der neuen EU-Beitrittsländer geringer sein. Wird diese Perspektive verallgemeinert, so zeigen sich hierin die Umrisse einer neuen monetären Integrationspolitik: -

Kleine offene Länder treten einem großen Währungsblock bei, indem sie dessen Währung als nationales Geld übernehmen.

-

Oft geht diesem Schritt eine Ankerwährungsbindung voraus, die nicht unbedingt durch ein Currency Board System gehärtet wurde.

-

Die CBS-gestützten Ankerwährungsbindungen haben aber den Vorteil, dass das Beitrittsland mit einer .passenden Geldmengenausstattung' in die Währungsunion gehen kann.

Aus Sicht der monetären Außenwirtschaftstheorie wird damit die Frage aufgeworfen, ob der Regimewechsel vom Currency Board zur Einheitswährungsunion strukturelle Änderungen im kleinen Beitrittsland zur Folge hat, die in dem hier dargestellten Makromodell hervortreten. Aus währungspolitischer Sicht ist zu fragen, ob das Currency Board System als Vorstufe der Einheitswährungsunion notwendig oder gar optimal ist, oder ob es nicht eine bessere monetäre Integrationsstrategie wäre, ohne den CBSUmweg sofort - auch unilateral - auf die vollständige Euroisierung zuzugehen.

Dieter Bender

14

Der Regimewechsel hat folgende Änderungen im hier spezifizierten Makromodell zur Folge: -

Mit W1 verschwindet auch der Wechselkurs E^f,. Der Strukturbruch wird durch Setzen von E¡,2U = 1 und Umrechnen aller nominalen Größen mit dem Faktor spezifiziert.

-

Da die Irreversibilität der Entscheidung für ein gemeinsames Geld größer ist als die Unumkehrbarkeit der Einrichtung eines CBS, hat das neue Währungsregime eine höhere und vollständige Glaubwürdigkeit (Corden 2002, S. 67). Das kleine Beitrittsland unterliegt daher nicht mehr der Gefahr spekulativer Angriffe: RP = 0.

-

Im alten CBS mit partieller Euroisierung konnte das CB-Land sein Zinsniveau zwar auch nicht mehr geldpolitisch beeinflussen, doch gab es monetäre Transmissionskanäle, die in der Regel zu i J i 2 führten. Im neuen erweiterten Währungsraum betritt Land 1 ein System vollständig integrierter Finanzmärkte. Für Land 1 bedeutet dies einen Regimewechsel von imperfekter zu perfekter Kapitalmobilität: i = i2.

-

Diese Zinsparität tritt an die Stelle von Gleichung (6), wobei i2 im Gleichgewicht des gemeinsamen Unions-Geldmarktes bestimmt ist und für das kleine Beitrittsland exogen bleibt.

-

Der flexible Wechselkurs E23 bringt die Zahlungsbilanz des erweiterten Währungsgebietes gegenüber dem Drittland ins Gleichgewicht. Da dieser für das kleine Beitrittsland exogen ist, verschwindet die exteme Gleichgewichtsbedingung (7).

-

Lediglich die Märkte der Binnengüter bleiben segmentiert, da preisvereinheitlichende Arbitrage zwischen den segmentierten nationalen Märkten nicht-handelbarer Güter nicht möglich ist.

Nachdem mit dem Anschluss an die Währungsunion alle Wertgrößen auf W2 umgestellt worden sind, erscheint das Makromodell des kleinen (vollständig euroisierten oder dollarisierten) Beitrittslandes in reduzierter, sehr einfacher Form (Land 1 : Beitrittsland, Land 2: alter Währungsraum vor Erweiterung): (1)

Ρ' = α Ρ 2 + ( l - a ) P ¿ .

(2)

Y1 = (Ρ2 Χ' τ (W 1 ,Ρ 2 , Al·) + Pi, Χ'ν(W 1 , P i , Ai, J/P 1 .

(3)

X ^ W * . P¿, A' n ) - C;(P T 2 /Pi, Y ' , i 2 ) - G¿ = 0 .

(4)

L' = L ° ( w 1 , P 2 , A ! r ) + L ° ( w 1 , P ; , A i ) < L s .

Die Anzahl der endogenen Variablen wird auf vier reduziert (P¿ , Ρ 1 , Y 1 , L1). Die exogenen Variablen, die potenzielle Schockauslöser darstellen, sind unverändert A j , A' n , W 1 , G Ì , Ρ 2 , i 2 und E 2 3 . Interne oder externe Schocks haben unter den neuen monetären Rahmenbedingungen die gleichen qualitativen Wirkungen wie im CBModell. Als einzige Ausnahme erscheint der - wegfallende - Fiskalimpuls AG γ > 0, der seine kontraktive Wirkung verliert, aber auch kein Beschäftigungswachstum mehr anregen kann.

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

4.

15

Schlussfolgerung

Der Regimewechsel vom CBS zum gemeinsamen Währungsraum bringt kleinen Beitrittsländern somit keine Verschlechterung der makroökonomischen Strukturbedingungen. Dem Verlust der Seignorage steht der Gewinn gegenüber, dass die Übernahme der mit höherer Reputation ausgestatteten Ankerwährung einen besseren Zugang zu internationalen Kapitalmärkten öffnet, der heimischen Investoren niedrigere Zinskosten beschert und mehr ausländische Direktinvestoren in das Beitrittsland zieht. Die Wachstumsdynamik wird gestärkt, die Beschäftigung nimmt zu (Gros 2000, Kösters u. a. 2003). Die vollständige Euroisierung verspricht also den Staaten, die (mit oder ohne CB) eine EUR-Wechselkursbindung eingegangen sind, Wohlfahrtsgewinne. Diese Nettovorteile einer vollständigen Euroisierung der mittelosteuropäischen Beitrittsländer lassen sich sowohl gegenüber einem CBS als auch gegenüber flexiblen Wechselkursen nachweisen. Sie sind umso größer, je größer der Anteil des Außenhandels mit der alten EU am Gesamthandel und des internationalen Kapitalverkehrs mit der alten EU am Gesamtvolumen ist. Gleiches müsste dann aber auch für eine vollständige Dollarisierung jener kleinen Volkswirtschaften gelten, die den Wechselkurs ihrer Währung an den USD-Währungsanker gebunden haben. Wenn die kleinen Welthandelsländer dieser Logik folgen, dann werden die eingangs formulierten Thesen von Rogoff (2001) und Fischer (2001) bestätigt und flexible Wechselkurse würden das Weltwährungssystem zwischen den großen Währungsblöcken bestimmen. Offen bleibt die Frage, ob Japan im USD-gebundenen (oder dollarisierten) ostasiatischen Wirtschaftsraum einen flexiblen Wechselkurs des Yen beibehalten oder besser eine USD-Wechselkursbindung eingehen sollte (Mc Kinnon und Schnabl 2003). Anhang 1. Binnengüterpreisniveau und Realeinkommen Für die Startperiode werden alle Preise auf Eins normiert: PT = E 12 = P j = W = P = 1. Die Notation für die erste Ableitung von y = y(x) ist: dy/dx = yx. Bei konstanten Nominallöhnen können die Angebotsfunktionen in der Form X T (P T ) und X N (P N ) mit den ersten Ableitungen dX T /dP T = Χ ΤΡτ > 0 und dX N /dP N =Xnp n > 0 geschrieben werden. Aus Y = (X T (P T )PT + X N (PN )PN )/P = (xT + X N (PN )PN )/P folgt die erste Ableitung: dY/dPN = Y Pn =

_(ΐ_α)χτ+χΝ

+

χ

(!_α)χΝ

Zur Vereinfachung wird angenommen, X N / Χ γ = (l - α)/α. Dann ergibt sich

= 0. Allgemein ergibt sich diese Normalreaktion, wenn a X N > (l - a)X T .

bzw.

Dieter

16

Bender

2. NG-Kurve Totale Differentiation der Gleichgewichtsbedingung (3) ergibt (bei gegebenen Lageparametern): XnPn^Pn - C N(p r /P N )(~ d P N) - C N Y ^ P N " CNi (ôi/ôP N )dP N - C Ni (3i/3R)dR = 0, wobei C n( P t/ P n) > 0, C N i < 0, 0 < C n y < 1. Die partiellen Differentialquotienten ôi/dP N = ì Pn und di/dR = i R lassen sich aus dem totalen Differential der Gleichgewichtsbedingung (6) herleiten. Wird zur Vereinfachung eine Geldnachfragefunktion M D ( Y P , i ) = k Y P - h i (0 < k < 1) unterstellt, lautet dieses totale Differential: rnXdR = k Y d P + k d Y - h d i . Da dP = (l - a)dP N , ergibt sich hierfür mXdR = (l - a ) k Y d P N + kY P(j dPN - h d i . Daraus folgt für dR = 0 : di/dP N = ipN = ((1 - a)k Y + k YpN ) / h = b > 0 und für dPN = 0 : di/dR = i R = - m X / h = a < 0 . Einsetzen in das totale Differential von Gleichung (3) liefert dann das Steigungsmaß der NG-Kurve: dR _

XNPN

+

CN(PT/PN)

dP^ ~ dR dPN

=

-

C n y Y P n - CNib

C^a XNPN

-

+

CN(PT/PN) \JI_EL

CNla

- CnyYp

ν

b a

> (0).

Das Steigungsmaß lässt erkennen, dass dR/dP N = α> (vertikaler Verlauf der NGKurve), wenn C N i = 0. Also steigt die NG-Kurve umso flacher (steiler) an, je zinselastischer (zinsunelastischer) die Binnengüternachfrage ist. Interpretation: Wenn PN steigt, wird XN steigen und CN sinken, wenn Relativpreiseffekt ( Ρ γ /P N sinkt) und Zinseffekt (i steigt) nicht durch den direkten Einkommenseffekt (Y steigt) überkompensiert werden. Also muss R so stark steigen, dass jene Zinssenkung erreicht wird, die zusammen mit dem direkten Einkommenseffekt A C n = Δ Χ ν > 0 herstellt, den Relativpreiseffekt also entsprechend überkompensiert. 3. ZG-Kurve Totale Differentiation der externen Gleichgewichtsbedingung (7) ergibt zunächst dZ = dLB r + KBjip dPN + K B ¡ i R d R = 0 .

Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

17

Das totale Differential von Gleichung (4) liefert dLB r = - C T ( p T / p N )(-dP N ) - C T Y YpN dPN - C T i ipN dPN - C T i i R dR. Wird dies in die externe Gleichgewichtsbedingung eingesetzt, ergibt sich (C T ( P T / P N ) - C TY YPN - CTL IPN + KB¡ IPN )dPN = (CTI i R - KB, i R ) d R . Somit folgt das Steigungsmaß dR

_

C

T(PT/PN) -

dPN ~ DR

dPN

_

C

TYYPn -

b(CTi -

KB¡)

a(C T i - K B j ) C

T(P T /P N ) -

C

TYYPN

a(C T i - K B j )

_ B

>

a


0. Bei imperfekter Kapitalmobilität muss ZBG daher flacher als t g a = - b/a verlaufen und eine negative Steigung der ZG-Kurve ist nicht auszuschließen.

Literatur Alesina, A. und R. Barro (2001), Dollarization, American Economic Review, Vol. 91, S. 381-385. Belke, Α., M. Hebler und R. Setzer (2003), Euroisierung der mittel- und osteuropäischen EUBeitrittskandidaten - Ein alternativer Weg in die Währungsunion?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Heft 4, S. 425-435. Bender, D. (2003), Currency Board System: Stabilisierung und Stabilität, in: S. Reitz (Hg.), Theoretische Aspekte der internationalen Integration, Festschrift für Helga Luckenbach, Berlin. Corden, W.M. (2002), Too Sensational: On the Choice of Exchange Rate Regimes, Cambridge, Mass. Dornbusch, R. (1980), Open Economy Macroeconomics, New York. Fatas, A. und A. Rose (2000), Do Monetary Handcuffs Restrain Leviathan? Fiscal Policy in Extreme Exchange Rate Regimes. Paper presented at the first annual IMF (International Monetary Fund) research conference, Washington, D.C. (9.-10. November). Fischer, S. (2001), Exchange Rate Regimes: Is the Bipolar View Correct?, Journal of Economic Perspectives, Vol. 15, S. 3-24. Frankel, J. (1999), No Single Currency Regime is Right for all Countries at all Times, Princeton University, International Finance Section, Essays in International Finance, No. 215. Ghosh, Α., A.M. Guide und H.C. Wo//(1998), Currency Boards: The Ultimate Fix?, IMF (International Monetary Fund) Policy Discussion Paper, No. 99/3, Washington, D.C. Gros, D. (2000), One Euro from the Atlantic to the Urals, CESifo-Forum, Heft 1, S. 26-31. Janssen, O.J. (2002), Currency Board Systeme. Theoretische Aspekte und Erfahrungen, Berlin. Kösters, W., A. Belke und M. Hebler (2003), Chancen und Risiken einer Euroisierung der MOEL, in: H. Knödler und M. Stierle (Hg.), Globale und monetäre Ökonomie, Festschrift für Dieter Duwendag, Heidelberg. Me Kinnon, R. und G. Schnabl (2003), Sich festhalten am Dollar, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 57,8.3.2003, S. 13.

18

Dieter Bender

Rivera-Batiz, LA. und A.N.R. Sy (2002), Currency Boards, Credibility, and Macroeconomic Behaviour, IMF (International Monetary Fund) Working Paper, No. WP/00/97, Washington, D.C. Rogoff, Κ. (2001), Why Not a Global Currency?, American Economic Review, Vol. 91, No. 2, S. 243-247. Tornell, A. und A. Velasco (2000), Fixed versus Flexible Exchange Rates: Which Provides More Fiscal Discipline?, Journal of Monetary Economics, Vol. 45.

Korreferat zum Referat von Dieter Bender Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung aus Sicht der monetären Außenwirtschaftstheorie

Volker Clausen

In den 1990er Jahren hat die starke Zunahme internationaler Kapitalbewegungen zu einer Destabilisierung ,weicher' Währungssysteme beigetragen, so dass sich zahlreiche Länder entweder für .harte' Währungsbindungen, d. h. für vollkommen feste Wechselkurse in Form eines Currency Boards bzw. der Einführung einer ausländischen Währung (Euroisierung, Dollarisierung) oder aber für ein System vollkommen flexibler Wechselkurse entschieden haben. Der Beitrag untersucht vor dem Hintergrund dieser jüngeren Entwicklungstendenzen die relative Vorteilhaftigkeit polarer Währungssysteme im Rahmen eines speziell entwickelten Modells in der Tradition einer dependent economy von Dornbusch (1980). Anhand von Wirkungsanalysen unterschiedlicher interner und externer makroökonomischer Störungen sowie alternativer fiskalpolitischer Maßnahmen wird das gängige Ergebnis bestätigt, dass keines der diskutierten polaren Währungssysteme in allen Konstellationen dominiert. Es wird gezeigt, dass die Fähigkeit der unterschiedlichen Währungssysteme zur Absorption makroökonomischer Störungen von der Art der zugrunde liegenden Störung und den makroökonomischen Strukturen der zugrunde liegenden Volkswirtschaften abhängt. Daneben diskutiert der Beitrag die modelltheoretischen Implikationen des Übergangs von einem Currency Board zum gemeinsamen Währungsraum. Diese Fragestellung ist währungspolitisch natürlich besonders relevant fur die mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer, die mittelfristig auch der EWU angehören werden. Für diese Länder stellt sich nämlich die Frage, wie die Übergangsphase zur EWU am besten ausgestaltet werden soll. Dieser Kommentar ergänzt den obigen Beitrag in zweierlei Hinsicht: Erstens wird kuiz auf die empirische Bedeutung der alternativen Währungssysteme in der Gruppe der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer eingegangen. Zweitens werden theoretisch im Rahmen des Modells einige weiterführende, qualitativ neuartige Ergebnisse abgeleitet, die die bisherige Analyse um den Fall einer relativ niedrigen internationalen Kapitalmobilität ergänzen, der für manche mittel- und osteuropäische Länder zumindest in der Anfangsphase der relevante Fall sein dürfte. Tabelle 1 beinhaltet die Währungssysteme der Länder, die der EU jüngst beigetreten sind bzw. als Beitrittskandidaten angesehen werden. Zum zuletzt verfügbaren Stand Ende 2002 decken diese Länder das gesamte Spektrum von sehr harten Wechselkursbindungen (Bulgarien, Estland, Litauen) bis hin zu weitgehend flexiblen Wechselkursen (Polen) ab. Ferner haben Länder mit einem hohen Exportanteil in die frühere EU die Tendenz, gegenüber der EU eher auf flexiblere Wechselkursregelungen zu setzen. Diese empirischen Befunde stehen im Widerspruch zu zwei zentralen Ergebnissen der modelltheoretischen Analyse: „[...] diese Nettovorteile einer vollständigen Euroisierung der mittelosteuropäischen Beitrittsländer lassen sich sowohl gegenüber einem CBS als auch gegenüber flexiblen Wechselkursen nachweisen. Sie sind umso größer, je größer der

Volker Clausen

20

Anteil des Außenhandels mit der alten EU am Gesamthandel ist [...]". Offensichtlich ist in der Realität die Wahl von Währungssystemen Ergebnis weiterer Überlegungen, die nicht ohne weiteres im Rahmen eines Theoriegebäudes behandelt werden können. Diese Schlussfolgerung wird durch vielschichtige theoretische und empirische Analysen bestätigt (Ghosh u. a. 2002). Tabelle 1 : Gegenwärtige Wechselkurssysteme der EU-Beitrittskandidaten Wechselkurssystem

Land

Anteil der Exporte in EU

Bulgarien Estland Litauen

55% 64% 48%

Ungarn Zypern

74% k.A.

Bindung an das SZR

Lettland

61 %

Bindung an sonstigen Währungskorb

Malta

k.A.

Slowakei Slowenien Tschechien

60% 63% 68%

Rumänien

68%

Polen

69%

, Harte' Wechselkursfixierung Currency Board mit Bindung an den Euro

,Weiche' Wechselkursfixierung Bindung an den Euro mit großer Bandbreite (± 15%)

Flexible Wechselkurse Kontrolliertes Floating mit dem Euro als Referenzwährung Kontrolliertes Floating mit dem US-Dollar als Referenzwährung Freies Floating

Quelle: Deutsche Bundesbank (2002, 2004). In Bezug auf die theoretische Sensitivitätsanalyse wird zunächst analytisch gezeigt, dass, unabhängig von der spezifischen Parameterkonstellation, die Steigung der NGKurve immer größer ist als die Steigung der ZG-Kurve. Das System ist dementsprechend, wie bei Bender angenommen, global stabil. Die Steigungen der NG- bzw. ZGKurven aus dem Anhang lauten: +

dR dP N dR dPfj

CN(P,/P„) -CnyYP,

~ Cnì^

NG

Ογ/>//>„; CjyYp^ -b(CTi a(CTi-KBJ

- KBj )

21

Korreferat zu Currency Board, Dollarisierung und Euroisierung

Aus der Beziehung dR

>

dR

folgt: (XNPN

+ CN(PJ!PN)

- CNYYPn

- CNibXCTi

~ ° l > > ( C T ( P J . / P N ) " CTYRPN

~ b(CTi

~^ i ^ N i " ·

Die Division durch a0. Formal lässt sich das Zeitbudget schreiben als: (1)

Z = L + K(n) + A¡.

In der zweiten Lebensperiode lebt das Individuum im Ruhestand und bezieht eine Rente. Es konsumiert während der ersten Lebensperiode die Menge Xt und in der zweiten die Menge X¡+\, wobei es die Konsumgüter zum Preis von P¡ bzw. Pt+\ an einem wettbewerblichen Markt erwirbt. Zur Finanzierung seiner Konsumgüterkäufe stehen dem Individuum in der ersten Periode Arbeitseinkommen nach Maßgabe seines Lohnsatzes wt und seiner Arbeitszeit At zur Verfügung. In der zweiten Periode stehen ihm Renteneinkommen nach Maßgabe der Rentenversicherungsbeiträge sowie der Einkommen seiner Nachkommen zur Verfügung. Über alle Perioden herrscht annahmegemäß ein konstanter Beitragssatz b. Die Budgetrestriktion des Individuums lautet demnach:

(2)

(1

1

^

(l + i)· Ν

1 +

'

l+i

Alle künftigen Einkommen und Ausgaben werden mit dem Diskontfaktor (1+/) abdiskontiert, wobei i das Nominalzinsniveau angibt. Mit Ν wird die Zahl der Erwerbstätigen in der ersten und damit der Rentner in der zweiten Lebensperiode bezeichnet. Schließlich ist η die Zahl der individuellen Nachkommen des repräsentativen Individuums und n¡ die jeweilige Zahl der Nachkommen der übrigen Erwerbstätigen in der ersten Lebensperiode. Damit summiert sich die Zahl der Erwerbstätigen in der zweiten Lebensperiode des repräsentativen Individuums zu

+ n



Stellt man die Budgetbeschränkung (2) nach At um und setzt das Ergebnis in die Zeitbudgetgleichung (1) ein, so erhält man: (3) Ζ = L + K(ri) + ρ , '

2 3

x

, Pj+yXt+X ' l+i

*·">+!·4+1·Œf (1 + i)-N

l

n¡+n)

1 (1 -b)-w,

blendet. Siehe den lesenswerten dogmenhistorischen Überblick zu ökonomisch-demographischen Erklärungsansätzen von von Delhaes-Günter (1984, S. 46 ff.). Siehe etwa Bental (1989); Cigno (1992,1993), Kolmar (1997); Nishimura und Zhang (1992). Zeitindizes werden aus Gründen der Vereinfachung nur genutzt, wenn dies zur Abgrenzung von Variablen notwenig ist. Alle Variablen ohne Zeitindex beziehen sich auf die Erwerbsperiode des Individuums.

Thomas Apolte

108

Das Individuum maximiert nun unter der Restriktion der Bedingung (3) eine Nutzenfunktion, deren Argumente der Konsum während der ersten Lebensperiode X¡, der Konsum während der zweiten Lebensperiode Xt+], die Zahl der Kinder η sowie die Freizeit L sind: U(Xt,Xt+hn,L), (4)

mit: U '(Χt ), U \Xt-\),

U '(«), U \L) > 0 ,

und: U \Xt ), U \Xt_\

), U "(«), U \L) < 0 .

Kinder haben in diesem Umfeld einen doppelten Charakter. Zum einen erhöhen sie im Sinne Beckers (1960) direkt das Nutzenniveau in Gleichung (4), und zum anderen erhöhen sie die während der zweiten Lebensperiode anfallenden Renteneinkommen des repräsentativen Individuums (Gleichung 3). Inwieweit letzteres fur ein einzelnes Individuum entscheidungsrelevant ist, hängt allerdings von der Ausgestaltung des Rentensystems ab. Gleichung (4) unter der Nebenbedingung (3) abgeleitet, liefert unter anderem die folgenden Bedingungen für ein Nutzenmaximum des Individuums: (5)

U\L)

U\Xt)

=

1 -b

Pt

1+i

Ν

Pt

und:

1+1

Ν

mit: l + g v v ^ ^ - · wt Gleichungen (5) und (6) zeigen auf der jeweiligen linken Seite die Grenzrate der Substitution zwischen der Zahl der Kinder η und dem Freizeitkonsum L einerseits (Gleichung 5) und dem Güterkonsum während der Erwerbsperiode andererseits (Gleichung 6). Auf der rechten Seite stehen zunächst die jeweiligen marginalen Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung K'(n), und zwar in Gleichung (5) in Bezug zum Freizeitkonsum und in Gleichung (6) in Bezug zum Güterkonsum während der Erwerbsperiode. Dabei sind die Zeitopportunitätskosten in Gleichung (6) in Einheiten des realen Nettolohns gemessen. Von den Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung werden in den beiden Gleichungen die jeweiligen Opportunitätskosten des Freizeitkonsums und des Güterkonsums während der Erwerbsperiode abgezogen. Im Falle der Gleichung (6) handelt es sich dabei um die künftigen Alterseinkommen, die sich durch einen zusätzlichen Nachkommen ergeben. In Gleichung (5) ist das im Prinzip auch so, nur werden hier die Opportunitätskosten in Einheiten des Nettolohns während der Erwerbsperiode gemessen. Einzelwirtschaftlich werden diese Opportunitätskosten aber in der Regel nicht entscheidungsrelevant sein. Der Grund dafür ist, dass in den typischen umlagefinanzierten Alterssicherungssystemen die Rentenbeiträge nicht nach Maßgabe der individuellen Zahl eigener Nachkommen verteilt werden. Vielmehr werden die mit dem künftigen Beitragssatz gewichteten künftigen Einkommen eines Nachkommen auf die Zahl Ν der Rentner in i+1 verteilt und gehen damit in einen common pool ein. Da die Zahl Ν der

Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

109

Rentner in t+1 in der Regel sehr groß ist, können die Gleichungen (5) und (6) für die üblichen umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme vereinfacht auch geschrieben werden als: (5a)

U'(L)

=

und:

Hier sind neben den beiden Grenzraten der Substitution nur noch die jeweiligen Opportunitätskosten der Kindererziehungszeiten entscheidungsrelevant. Mit Blick auf die Fertilitätsentscheidung lassen sich aus Bedingungen (5) und (6) bzw. (5a) und (6a) wichtige Substitutionseffekte erkennen. Hier ist zunächst einmal interessant, wie die Einführung eines staatlichen Umlagesystems die Fertilitätsentscheidung beeinflusst. Dies lässt sich als eine Anhebung des Beitragssatzes b von null auf einen positiven Wert zwischen null und eins darstellen. Die dadurch ausgelösten Substitutionseffekte zwischen der Zahl der Kinder und dem Freizeitkonsum ergeben sich aus der Ableitung von Gleichung (5a) und (6a) nach dem Beitragssatz b: (5b) '

1

— — — — — — ^ = 0 ; und: db

db

Pt

Die Einführung eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems löst keinerlei Substitutionseffekte zwischen Freizeitkonsum und Kinderzahl aus. Wohl aber ergibt sich ein Substitutionseffekt zwischen Gegenwartskonsum und Kinderzahl. Dabei sinkt die Grenzrate der Substitution zwischen Kinderzahl und Gegenwartskonsum, was bedeutet, dass ceteris paribus die Fertilitätsneigung steigt. Der Grund für diesen Effekt ist ein einfacher: Die Einführung eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems führt zu einer Verringerung des Nettolohns während der Erwerbsphase nach Maßgabe des Beitragssatzes b. Je höher dieser Beitragssatz nun ist, desto geringer werden die Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung, ausgedrückt in entgangenem realem Erwerbseinkommen. Daher ist das Individuum bei steigendem b in zunehmendem Maße bereit, auf Erwerbstätigkeit zugunsten von Kindern zu verzichten. Dieses Ergebnis mag überraschen, wo es doch die landläufige Auffassung ist, dass die Einführung eines umlagefinanzierten Alterssicherungssystems die Fertilität tendenziell negativ beeinflusst. Auch scheint es auf den ersten Blick der Beobachtung zuwider zu laufen, dass die Geburtenraten weltweit gerade dort noch sehr hoch sind, wo es keine (umlagefinanzierten) Alterssicherungssysteme gibt, und dass sie dort besonders niedrig sind, wo die Alterssicherungssysteme stark ausgebaut sind. Dieser Widerspruch löst sich indes auf, wenn man bedenkt, dass immer und in allen Gesellschaften die alten und nicht mehr erwerbsfähigen Menschen aus dem Einkommen der jüngeren Menschen versorgt wurden. Diese schon altehrwürdige Erkenntnis ist Gegenstand der so genannten

Thomas Apolte

110

Mackenroth-These {Mackenroth 1952), die insgesamt zwar kontrovers beurteilt wird, in diesem Zusammenhang aber wohl unstrittig ist. Zwar gibt es in einem Land ohne ein staatliches Alterssicherungssystem keinen formellen Beitragssatz b, in dessen Höhe Einkommen der Erwerbstätigen für die Finanzierung der Rente einbehalten wurde. Aber auch ohne einen solchen formellen Beitrag muss der Konsum der alten Menschen stets durch einen genau gleich hohen Konsumverzicht der Erwerbstätigen gespeist werden. Das Charakteristikum eines staatlichen umlagefinanzierten Alterssicherungssystems ist daher ein anderes: Es liegt darin, dass der Konsumverzicht der jungen erwerbstätigen Bevölkerung zunächst einmal in Form einbehaltener Erwerbseinkommen gepoolt und erst anschließend unabhängig von der Zahl der individuellen Nachkommen an die Rentner weitergegeben wird (Werding 1998a, 1998b). Technisch ausgedrückt bedeutet dies, dass jede durch einen zusätzlichen Nachkommen generierte Einheit an Alterseinkommen durch die Zahl Ν an Rentnern in t+1 geteilt wird. Gibt es (noch) kein staatliches und umlagefinanziertes Rentensystem, so beträgt die Zahl Ν in den Gleichungen (5) und (6) genau eins, weil jede von einem zusätzlichen Nachkommen generierte Einheit an Alterseinkommen genau derjenigen Person zufließt, die den betreffenden Nachkommen erzogen und ausgebildet hat. Führt der Staat auf dieser Basis ein umlagefinanziertes Rentenversicherungssystem traditionellen Typs ein, so entsteht eine positive Extemalität, die umso stärker durchschlägt, je größer die Zahl Ν der künftigen Rentner ist (Bental 1989; Cigno 1993; Nishimura und Zhang 1992).

Der Effekt, den die Einführung eines solchen Rentensystems auf die Fertilität hat, lässt sich demnach darstellen, indem die Gleichungen (5) und (6) nach Ν abgeleitet werden. d(U'(n)/U\L)) dN d(U\n)/UXXt))_b dN

_

b

1+

1 -b

gw

4+i

1+i

n2

W, l + gyy 4 + 1 Pt

1+i

ί 0

n2

Beide Ableitungen sind positiv. Dies bedeutet, dass mit einem steigenden Sozialisationsgrad des Konsumverzichts der jungen zugunsten der alten Generation die Zahl der Nachkommen zunehmend sowohl durch Gegenwartskonsum als auch durch Freizeitkonsum substituiert wird. Ein weiterer Effekt, der vor allem in den Industrieländern als Ursache für die sinkende Fertilität angeführt wird, folgt aus dem langfristigen Anstieg der Lohneinkommen. Bei steigenden realen Lohneinkommen steigen die Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung, so dass Zeit für Kindererziehung durch Arbeitszeit substituiert wird (Birg 2003). So eingängig diese Argumentation aber ist, so ist sie dennoch nur in Verbindung mit einem traditionellen staatlichen Umlagesystem der Alterssicherung eindeutig nachvollziehbar. Dies lässt sich durch Ableitung von Gleichung (6) nach dem Reallohn (w/P t ) erkennen. Dabei sind allerdings zwei Fälle zu unterscheiden. Im Falle 1 gibt es zwar einen Konsumverzicht der jungen Generation gegenüber der Generation der Alten, doch existiert ein staatliches Umlagesystem, durch welches der Konsumverzicht der Erwerbstätigen sozialisiert wird. Entsprechend ist die Zahl Ν sehr groß und Gleichung (6) geht in Gleichung (6a) über. Durch Ableitung von Gleichung (6a) nach (w//P t ) ergibt sich dann:

Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

111

d(wt/Pt) In diesem Falle fuhrt ein Anstieg des Reallohnes eindeutig zu einem Substitutionseffekt der auf Kindererziehung verwendeten Zeit durch Arbeitszeit. Mit anderen Worten: Bei steigendem Reallohn wird man tendenziell auf Kinder verzichten und sich für die Berufstätigkeit entscheiden. Interessant ist nun aber die Tatsache, dass diese Aussage an Eindeutigkeit verliert, wenn das Realeinkommen nicht mehr im Umfeld eines staatlichen Umlagesystems der Alterssicherung steigt. Letzteres zeigt Fall 2. In diesem Falle werden die durch einen individuellen Nachkommen erzeugten zusätzlichen Alterseinkommen genau jenen Personen zugewiesen, die diesen Nachkommen erzogen und ausgebildet haben. In diesem Falle ist die Zahl Ν der Rentner in t+1, auf die die zusätzlichen Alterseinkommen aufgeteilt werden, gleich eins. Gleichung (6) unter Berücksichtigung von N=1 nach (w t /P t ) abgeleitet, ergibt:

d(wt/Pt)

l+i

Das Vorzeichen von Gleichung (8) ist keineswegs eindeutig. Ob bei steigendem Reallohn Kindererziehung durch Arbeitszeit substituiert wird, hängt in diesem Falle nämlich nicht nur von den Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung ab, sondern auch von der Höhe der durch zusätzliche Nachkommen individuell anfallenden zusätzlichen Alterseinkommen. Diese hängen neben dem Beitragssatz b (hier besser: dem Konsumverzicht der Jungen) von der Arbeitszeit der Nachkommen sowie vom Verhältnis des Lohnwachstums zum Marktzinssatz ab.4 In diesem Falle wägen die Individuen also heutigen Konsum durch zusätzliche Arbeitszeit gegen künftigen Konsum durch zusätzliche Nachkommen ab. Eine solche Entscheidung gibt es im Falle eines staatlichen Umlagesystems nicht, weil die durch zusätzliche Nachkommen erzeugten künftigen Konsummöglichkeiten in einem solchen Umfeld praktisch vollständig sozialisiert werden. Festzuhalten ist daher, dass steigende Realeinkommen nur in Verbindung mit einem staatlichen Umlagesystem dazu führen, dass Zeitaufwendungen für Kindererziehungen durch Arbeitszeit substituiert werden. Neben diesen etwas verschlungen wirkenden Effekten gibt es einen weiteren und unmittelbar einsichtigen Effekt. So werden die Opportunitätskosten der Kindererziehung nicht nur in Einheiten des Reallohns gemessen, sondern auch in Einheiten des Freizeitkonsums. Da steigende Grenznutzen des Freizeitkonsums die Opportunitätskosten der Kindererziehung erhöhen, führen sie zu einer Substitution von Kindererziehung durch Freizeit. Letzteres dürfte in den Industrieländern ebenfalls ein nicht unwesentlicher Effekt sein, denn die Entwicklung in diesen Ländern ist nicht zuletzt durch eine dynamisch steigende Vielfalt des Angebotes an Freizeitaktivitäten verbunden. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: 1. Die bloße Existenz eines Konsumverzichts der erwerbstätigen Generation zugunsten der Ruheständler allein verringert nicht die Fertilität. Im Gegenteil: Sie erhöht sie, 4

Dahinter verbirgt sich die rententheoretisch grundlegende Λα/wi-Bedingung (1966).

112

Thomas Apolte

sofern der mit einer Zunahme der Zahl der Nachkommen verbundene Anstieg der Alterseinkommen nicht durch ein staatliches Umlagesystem sozialisiert wird. 2. Die Einfuhrung oder der Ausbau einer umlagefinanzierten Alterssicherung traditioneller Prägung verringert allerdings die Fertilität, weil der Beitrag eigener Nachkommen zur Finanzierung der Alterssicherung sozialisiert wird und damit aus einzelwirtschaftlicher Sicht seine Entscheidungsrelevanz verliert. 3. Steigende reale Arbeitseinkommen allein verringern die Fertilität nicht unbedingt, wie dies auf der Basis von Opportunitätskosteniiberlegungen mitunter behauptet wird. Unter bestimmten Konstellationen können steigende Realeinkommen die Fertilität sogar erhöhen. Ein eindeutig negativer Effekt auf die Fertilität ergibt sich aber immer dann, wenn das Realeinkommensniveau im Umfeld eines traditionellen staatlichen Umlagesystems der Alterssicherung steigt. 4. Die Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung werden einerseits in Einheiten des Reallohns und andererseits in Grenznutzen des Freizeitkonsums gemessen. Aus diesem Grunde erhöhen nicht nur steigende Realeinkommen, sondern auch steigende Grenznutzen des Freizeitkonsums die Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung und lösen eine Substitution von Kindererziehung durch Freizeitkonsum aus. Mit Blick auf die internationale Entwicklung der demographischen Faktoren führen diese Ergebnisse zu folgender Vorhersage. Die demographischen Probleme werden umso größer sein, je großzügiger ein Land seine umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme ausgebaut hat und je stärker man die beruflichen Chancen und damit die Realeinkommen vor allem der Frauen verbessert hat, ohne zugleich dafür zu sorgen, dass der damit einhergehende Anstieg der Zeitopportunitätskosten der Kindererziehung gedämpft wird. Kurz: Es handelt sich vor allem um jene Länder, deren gesellschaftlicher Wandel mit Bezug auf das Rollenverständnis der Geschlechter bei steigenden Realeinkommen auf halbem Wege stecken geblieben ist. Zu diesen Ländern gehört neben Italien, Spanien und teilweise Griechenland vor allem auch Deutschland. In allen diesen Ländern ist die positive Extemalität der Kindererziehung durch ein sehr umfassendes Umlagesystem extrem hoch. Gleichzeitig sind bei steigenden Realeinkommen vor allem der Frauen und einer dynamischen Entwicklung der Freizeitmöglichkeiten keinerlei Lösungen für das Problem der Kinderbetreuung in Sicht. Für Deutschland kann man sogar mit einiger Berechtigung behaupten, dass der staatliche und halbstaatliche Sektor die Kindererziehung soweit sozialisiert und verreguliert hat, dass privatwirtschaftliche Lösungen unter vertretbaren Kosten kaum eine Chance haben. Die Reaktion der Menschen auf dieses Umfeld ist relativ einfach: Die Menschen verzichten auf Nachkommen und widmen sich stattdessen Beruf und Freizeit. 4. Reformoptionen der Alterssicherung Reformansätze zur Lösung der demographisch bedingten Finanzierungsprobleme müssen vor diesem Hintergrund einerseits berücksichtigen, dass die demographischen Probleme für die mittlere Frist bereits nicht mehr aufzuhalten sind. Es müssen daher Übergangslösungen gefunden werden. Darüber hinaus muss es aber auch ein Reformziel sein, in der langen Frist die demographischen Probleme zu konsolidieren, damit die

Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

113

jetzt anstehenden Probleme auch tatsächlich Übergangsprobleme bleiben. In diesem Sinne sind folgende Ansatzpunkte für die kurze bis mittlere Frist zu nennen: - Es muss sehr viel offensiver die Arbeitslosigkeit bekämpft werden. Gerade in Deutschland herrscht eine fatalistische Haltung, wonach Zeiten der Vollbeschäftigung unwiederbringlich vorbei zu sein scheinen. Diese Auffassung ist falsch. Arbeitslosenquoten von unter 4 % sind möglich und müssen zu einem ernsthaft verfolgten Ziel werden. Einige europäische Länder haben das bereits vorgemacht. -

Es muss nicht nur das effektive Verrentungsalter angehoben werden. Vielmehr müssen flexible Altersgrenzen auch eine Berufstätigkeit über ein Alter von 65 Jahren in einem Normalarbeitsverhältnis ermöglichen. Dies muss mit erheblichen Einkommenszuwächsen verbunden sein, was bedeutet, dass das Rentensystem ein Weiterarbeiten deutlich spürbar belohnt.

-

Junge Menschen könnten wesentlich früher ins Berufsleben eintreten, wenn vor allem in Deutschland das Schul- und Hochschulwesen effektiv reformiert werden würde. Bei all dem geht es indes nicht darum, junge Menschen möglichst früh in die Berufstätigkeit zu zwingen. Wohl aber muss es darum gehen, jenen Menschen einen frühen Start zu ermöglichen, die dies wünschen und die bereits in jungen Jahren Erwerbseinkommen erzielen möchten.

-

Die Erwerbsquote der Frauen ist in Deutschland vergleichsweise niedrig. Dies ist ganz offensichtlich keineswegs Ausdruck der Wünsche der Frauen, sondern hängt mit einer im internationalen Maßstab beschämend schlechten Kinderbetreuung zusammen. Dies müsste entscheidend verbessert werden, wozu kreative Ideen ebenso wichtig sind wie die Bereitschaft, überkommene Strukturen in Frage zu stellen.

Diese Punkte sind geeignet, in der kurzen bis mittleren Frist die Basis der Wortschöpfung und damit der Rentenbeiträge zu verbessern. Sie sind aber alle auch aus anderen Gründen bedeutsam. Anders als im Falle einer erzwungenen Eingliederung in die sozialen Sicherungssysteme ist mit jedem hier aufgeführten Punkt eine unmittelbare Verbesserung der Situation aller Beteiligten möglich. Über die mittlere Frist hinaus muss das Rentensystem allerdings grundsätzlich auf eine solidere Basis gestellt werden, die aus der Systemlogik heraus zu einer Verbesserung der Nachhaltigkeit und der Generationengerechtigkeit führt. Hierzu sollte der kapitalgedeckte Anteil der Alterssicherung weiter ausgebaut werden, um die spezifischen Risiken der Umlagefinanzierung und der Kapitaldeckung besser zu streuen. Das kann aber aus verschiedenen Gründen nicht alleiniger Ansatzpunkt sein. Denn zum einen ist auch die Kapitaldeckung nicht völlig unabhängig von der demographischen Entwicklung; und zum anderen bestehen in jeder Generation Ansprüche gegenüber den umlagefinanzierten Rentensystemen, die nicht einfach gestrichen werden können. Daher sind Reformen des umlagefinanzierten Systems in Richtung auf eine stärkere Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit notwendig. Hierzu sollte grundsätzlich das Verbot gehören, demographisch verursachte Finanzierungsprobleme durch Beitragssatzerhöhungen auf künftige Generationen abzuwälzen. Idealerweise bliebe der Beitragssatz im Zeitablauf konstant, denn dann wird jeder Generation genau jene finanzielle Last zugewiesen, die sie selbst verursacht hat.

114

Thomas Apolte

Die Internalisierung der positiven Extemalität bei der Erziehung und Ausbildung von Kindern ist grundsätzlich nur dadurch zu erreichen, dass die Erziehungs- und Ausbildungsleistungen der Eltern vergütet werden. Dies kann durch entsprechend höhere Altersrenten, Abschläge bei den Rentenversicherungsleistungen oder sonstigen Zuwendungen geschehen. In Deutschland böte es sich möglicherweise an, diese Zuwendungen in Form einer wirklich effektiven Kinderbetreuung zu leisten, die sich wirklich an den Bedürfhissen der Eltern orientieren. Damit könnten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Erstens würde damit die positive Extemalität zumindest teilweise intemalisiert werden, und zweitens würde das möglicherweise größte Hindernis für eine Berufstätigkeit beider Eltern beseitigt. Letzteres würde den Zielkonflikt zwischen Berufstätigkeit und Kinderwunsch überwinden helfen. Damit flössen nicht nur kurzfristig mehr Beiträge in die Rentenkasse; vielmehr könnte es durchaus auch zu einer nachhaltigen Finanzierbarkeit des Rentensystems beitragen, weil damit gleichzeitig auch die Fertilität erhöht werden kann. Tatsächlich sind in der Europäischen Union verstärkt Reformanstrengungen zu beobachten. In aller Regel haben diese bisher aber eher inkrementalen Charakter. In diesem Punkt ist die schleppende Diskussion in Deutschland keine Ausnahme. Das grundlegende Problem von Rentenreformen scheint zu sein, dass der Reformdruck erst dann wirklich spürbar wird, wenn es für ein Gegenlenken zu spät ist. Für praktisch alle europäischen Länder ist das der Zeitraum nach 2015. Bis heute überwiegt die stille Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommen wird, wie vor allem Ökonomen befürchten. An eine andere Hoffnung klammert man sich in diesem Zusammenhang auch gerne, und ebenso zu Unrecht: dass nämlich eine verstärkte Zuwanderung vor allem aus Osteuropa das Problem zumindest lindern könne. Diese Hoffnung trügt aus mindestens zwei Gründen. Erstens leiden gerade die osteuropäischen Länder unter den gleichen demographischen Problemen wie die westeuropäischen. Schlimmer noch: Fast überall in Mittel- und Osteuropa sind die Dimensionen des demographischen Problems noch viel ausgeprägter als in der alten EU. So liegen die Geburtenraten in den Beitrittsländern sämtlich unter 1,5 und damit unter dem Durchschnitt der alten Europäischen Union (Deutsche Bank Research 2002). Bei der Entwicklung des Alterslastquotienten bis zum Jahre 2050 liegen die Beitrittsländer ebenfalls leicht oberhalb des Niveaus der alten EU. Zweitens müsste die jährliche Zuwanderung bereits ab dem jetzigen Zeitpunkt sehr groß sein, damit von ihr eine spürbare Entlastung überhaupt ausgehen kann. Einen Eindruck von den dazu notwendigen Dimensionen gibt Tabelle 3. Hier ist abgetragen, wie viele Menschen jahresdurchschnittlich netto zuwandern müssten, damit bestimmte demographische Kennzahlen konstant bleiben. Demnach müssten zwischen den Jahren 2000 und 2050 pro Jahr durchschnittlich 344 Tsd. Menschen mehr nach Deutschland wandern als aus Deutschland abwandern, damit die Gesamtzahl der Bevölkerung gerade konstant bleibt. Zum Vergleich: Zwischen 1995 und 2000 sind 207 Tsd. Menschen netto nach Deutschland zugewandert. Nun kann eine konstante Zahl der Bevölkerung aber gar nicht das rentenpolitische Ziel sein, denn es kommt nicht auf die absolute Größe einer Bevölkerung, sondern vielmehr auf ihre Struktur an. Wollte man die Zahl der Erwerbspersonen konstant halten und dies an der Zahl der 15- bis 64-Jährigen messen, so müssten sogar 487 Tsd. Menschen jährlich netto zuwan-

Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

115

dem - bei stark abnehmender Tendenz. Schließlich müssten nicht weniger als 3,6 Mio. Menschen netto pro Jahr nach Deutschland wandern, sofern der Alterslastquotient als der eigentlich relevante Strukturparameter konstant bleiben sollte. Diese Zahlen sind nicht nur völlig illusorisch, wenn man ein einziges Land isoliert betrachtet. Vielmehr wird die Absurdität der damit verbundenen Hoffnungen erst richtig deutlich, wenn man sich die erforderlichen Nettozuwanderungszahlen anderer Länder einmal ansieht. Tabelle 3: Notwendige jährliche Nettozuwanderung in verschiedenen Szenarien für den Zeitraum von 2000 bis 2050 Land

Deutschland Frankreich Großbritannien Italien Japan Republik Korea Russische Föderation Vereinigte Staaten Europäische Union

konstante Bevölkerung 344 29 53 251 343 30 498 128 949

Konstante Altersgruppe (15-64 Jahre) 487 109 125 372 647 129 715 359 1.588

Konstanter Alterslastquotient 3.630 1.792 1.194 2.268 10.471 102.563 5.068 11.851 13.480

Quelle: Vereinte Nationen (2000, S. 3). Es kommt ein weiterer und eigentlich nie erwähnter Faktor hinzu. Wenn Zuwanderung die demographisch bedingten Finanzierungsprobleme der Industrienationen lösen oder doch zumindest lindern sollte, dann müsste es sich um die Zuwanderung von jungen und leistungsfähigen Menschen handeln. Das bedeutet aber, dass diese Menschen außerhalb der reichen Industrienationen erzogen und ausgebildet worden sein müssten, um anschließend in den Industrienationen aus ihrem laufenden Einkommen den Alterskonsum jener zu finanzieren, die zu ihrer Ausbildung selbst nichts beigetragen haben. Begreift man die Beiträge zu den Alterssicherungssystemen als eine Vergütung der erwerbstätigen Menschen für die von ihren jeweiligen Eltern erbrachten Leistungen für Erziehung und Ausbildungen (Cigno 1993), so müssten die Rentenbeiträge der zugewanderten Menschen konsequenterweise an die jeweiligen Herkunftsländer geleistet werden. Ansonsten wird der positive externe Effekt der Erziehung und Ausbildung von Nachkommen auf die internationale Ebene verlagert - und zwar ausgerechnet zu Lasten der Entwicklungsländer, denn angesichts der demographischen Entwicklung in den Industrieländern können die Zuwanderer ausschließlich von dort kommen. Es entstünde ein brain drain in Form der (vergleichsweise wenigen) gut ausgebildeten Menschen aus den Entwicklungsländern und in die Industrieländer. Die zuwanderten Personen würden anschließend die Lücken der Alterssicherung schließen, die in den Industrieländern durch die dort mangelnden Investitionen in die Alterssicherung während der Erwerbsphase entstanden sind. Zurück blieben in den Entwicklungsländern die Alten und schlecht oder gar nicht ausgebildeten Menschen. Es ist schon erstaunlich, dass dieser letzte Aspekt in der rentenpolitischen Diskussion und vor allem in der Diskussion um die Zuwanderung als einer Lösung des demogra-

116

Thomas Apolle

phischen Problems praktisch überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Nimmt man ihn aber ernst und nimmt man vor allem auch die für eine spürbare Linderung der demographischen Probleme notwendigen Dimensionen zur Kenntnis, so wird man an der Notwendigkeit einschneidender Reformen der Alterssicherungssysteme in nahezu allen Industrieländern nicht vorbeikommen. Das allgemeine Zögern in dieser Hinsicht mag verständlich sein, vernünftig hingegen ist es nicht.

Literatur Aaron, H. (1966), The Social Insurance Paradox, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, 32, S. 371-377. Abramovici, G. (2003), Sozialschutz: Rentenausgaben, in: Eurostat, Statistik kurz gefasst, Thema 3, 11/2003. Becker, G.S. (1960), An Economic Analysis of Fertility, in: Demographic and Economic Change in Developed Countries. A conference of the Universities - National Bureau Committee for Economic Research, New York, S. 209-240. Bental, B. (1989), The Old Age Security Hypothesis and Optimal Population Growth, in: Journal of Population Economics, Vol. 1, S. 285-301. Birg, H. (2003), Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa, in: C. Leipert (Hg.), Demographie und Wohlstand, Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft, Opladen, S. 27-56. Cigno, Α. (1992), Children and Pensions, in: Journal of Population Economics, Vol. 5, S. 175-183. Cigno, A. (1993), Intergenerational Transfers Without Altruism, in: European Journal of Political Economy, Vol. 9, S. 505-518. Delhaes-Giinter, D. von (1984), Internationale und nationale Arbeitskräftewanderungen, Saarbrücken. Deutsche Bank Research (Hg.), Bevölkerungsentwicklung und Rentenreform in den großen mittelosteuropäischen Ländern, Demografie Speziai, in: Themen international, Economics, Frankfurt am Main, S. 1-19. Dinkel, R. (1981), Kinder- und Alterslastenausgleich bei abnehmender Bevölkerung, in: Finanzarchiv, Nr. 39, S. 134-147. Europäische Kommission (2003), Die soziale Lage in der Europäischen Union, Kurzfassung, http://europa.eu.mt/comm/employment_social/news/2003/sep/2003_m_bnef_de.pdf, abgerufen am 09.03.04. Kolmar, M. (1997), Intergenerational Redistribution in a Small Open Economy with Endogenous Fertility, in: Journal of Population Economics, Vol. 10, S. 335-356. Lesthaeghe, R. und G. Moors (2004), Jüngste Trends in Fertilität und Haushaltsgründung in der industrialisierten Welt, www.ned.univie.ac.atypublicaties^oschueren/flandern/lesthaehe.htm, abgerufen am 05.02.2004. Liideke, R. (1985), Kinderkosten, umlagefinanzierte Rentenversicherung, Staatsverschuldung und intergenerative Einkommensverteilung, in: G. Kleinhenz, Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft: Die Vervollkommnung der „Sozialen Marktwirtschaft" als Daueraufgabe der Ordnungs- und Sozialpolitik, Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinz Lampert, Berlin, S. 151-183. Mackenroth, G. (1952), Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, Berlin. Nishimura, K. und J. Zhang (1992), Pay-As-You-Do Public Pensions with Endogenous Fertility, in: Journal of Population Economics, Vol. 48, S. 239-258.

Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

117

OECD (2002), OECD Employment Outlook, Paris, S. 306. Samuelson, P.A. (1958), An Exact Consumption-Loan Model of Interest With or Without Social Contrivance of Money, in: Journal of Political Economy, Vol. 156, S. 467-482. Vereinte Nationen (2000), Bestandserhaltungsmigration: Eine Lösung fur abnehmende und alternde Bevölkerungen?, in: UN (Hg.), Population Division, Dept. of Economic and Social Affairs, UN Secretariat, New York. Werding, M. (1998a), Pay-as-you-go Public Pension Schemes and Endogenous Fertility: The Reconstruction of Intergenerational Exchange, Passauer Diskussionspapiere, Nr. V-2-98. Werding, M. (1998b), Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen.

Korreferat zum Referat von Thomas Apolte Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

Dietrich von

Delhaes-Guenther

Das vorliegende Referat gliedert sich in 4 Kapitel, zu denen im Folgenden einige ergänzende Anmerkungen gemacht werden sollen. Ad 1: Der einleitende Teil befasst sich zunächst mit den seit Jahrzehnten beobachtbaren Interaktionen zwischen sozioökonomischem und demografischem Wandel in den Industrieländern und den daraus resultierenden drängenden Reformproblemen für umlagefinanzierte soziale Sicherungssysteme. Gesellschaftliche und ökonomisch veränderte Randbedingungen haben sich über die Zielkonflikte zwischen Erwerbstätigkeit, dem Wunsch nach Kindern sowie dem Konsum- und Freizeitstreben, hemmend auf das Reproduktionsverhalten der Individuen ausgewirkt. Auf solche Konflikte einer sozioökonomischen Neuorientierung reagierten einzelne Industrieländer in unterschiedlicher Art und Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Einige taten dies ansatzweise mit Lösungsversuchen, andere nicht. Welche Lösungsansätze hier im Einzelnen zu einer relativ günstigen demografischökonomischen Ausgangssituation geführt haben, bleibt allerdings offen. Auf die Gründe länderspezifischer Differenzen in den Fertilitätsraten und im Erwerbsverhalten der Individuen wird nicht näher eingegangen. Stattdessen werden lediglich die derzeitigen Geburtenraten und weiblichen Erwerbsquoten in den OECD-Ländern statistisch belegt, die in ihrer jeweiligen Höhe positiv miteinander korrelieren. Ad 2: Im zweiten Abschnitt werden einzelne Indikatoren des Alterungsprozesses der Bevölkerungen in den EU-Mitgliedsländem im Hinblick auf künftige Finanzierungslasten der Alterssicherungssysteme analysiert. Argumentiert wird auf der Basis für das Jahr 2050 prognostizierter Alterslastquotienten. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll gewesen, über die Verschiebungen im Altersgefuge bereits in einem früheren Stadium zu informieren. Schließlich gehören demografische Entwicklungsverläufe zu den auf kürzere und mittlere Sicht relativ genau prognostizierbaren Vorgängen. Künftige Größe und Struktur von Populationen sind durch jetzige und frühere Fertilitäts- und Mortalitätstrends vorgeformt. So ist absehbar, dass insbesondere für den Zeitraum 2020-2030 sich die Altersstrukturen bzw. die Alterslastquotienten im EU-15-Gebiet gravierend verändern werden. Erwartungsgemäß wird dies die beginnende kritische Phase besonders drastischer demografischer Strukturumwälzungen sein. Denn gerade dann werden die geburtenstarken Kohorten des europaweiten ,baby boom' der frühen 1960er Jahre - also die heute etwa Vierzigjährigen - in das Pensionsalter aufrücken und damit bei fertilitätsbedingt abnehmender Erwerbsbevölkerung den Druck auf die Rentensysteme nachhaltig verstärken.

120

Dietrich von Delhaes-Guenther

Insgesamt geht die hier vorgelegte empirische Analyse von Durchschnittswerten auf Länderebene aus. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass sich dahinter mitunter deutlich abweichende regionalspezifische Verlaufsmuster verbergen können. So wird z. B. hervorgehoben, dass Spanien und Italien aufgrund der zur Zeit höchsten Alterslastquotienten in Europa eine ausgesprochen ungünstige demografische Entwicklung vor sich haben. Dies gilt jedoch in extremen Ausmaß für den Norden Spaniens und Italiens, während Südspanien und Süditalien eine vergleichsweise wesentlich jüngere Bevölkerung aufweisen (Europäische Gemeinschaften 1998, S. 21). Ad 3: Im dritten Teil folgt eine Analyse einzelner Fertilitätsdeterminanten in ihrer Wirkung auf das Reproduktionsverhalten repräsentativer Individuen oder Haushalte. Sie folgt den ursprünglich von Gary S. Becker in dem so genannten „Chicago Modell" entwickelten fertilitätsökonomischen Erklärangsansätzen (Becker 1960). Ergänzend könnte hier darauf hingewiesen werden, dass erste Anregungen zu einer mikroökonomischen Theorie der Familienplanung schon früher von H. Leibenstein formuliert worden sind {Leibenstein 1957). In dem vorliegenden Referat wird davon ausgegangen, dass die Haushalte, die zunächst Arbeitseinkommen und später Renteneinkommen beziehen, versuchen werden, bei gegebenen Güterpreisen, Einkommen und Konsumzielen einen größtmöglichen Gesamtnutzen zu erzielen, wobei die Nachfrage nach Kindern in Konkurrenz zur Nachfrage nach anderen fiir die Erfüllung eines bestimmten Lebensstandards erforderlichen Konsumgütern steht. Variationen der Preise, der Einkommen und der Nutzensvorstellungen haben unmittelbare Wirkungen auf die bewusst geplante Familiengröße der Haushalte. Diese konsumtheoretischen Überlegungen führen zu dem schlüssigen Ergebnis, dass ein Konsumverzicht der aktiven gegenüber der inaktiven Generation sich nicht eo ipso fertilitätsmindemd auswirkt und dass auch ein Realeinkommensanstieg nicht unbedingt die Geburtenziffern senkt. Eindeutig reduzieren sich aber die Kinderwünsche erst in Verbindung mit umlagefinanzierten Alterssicherungssystemen, in denen die eingezahlten Beiträge der eigenen Nachkommen sozialisiert werden. Schließlich erhalten Rentner dadurch Versorgungsansprüche, egal ob sie sich an den Kinderaufzugskosten beteiligt haben oder nicht. Man könnte hinzufügen, dass damit auch das von Becker oder Leibenstein als wesentlich angeführte Motiv der Kinderanschaffung aus Altersversorgungsgründen an Relevanz verliert („children as an insurance for old age security"). Als weitere den Geburtenrückgang fordernde Effekte werden zunehmende Möglichkeiten des Freizeitkonsums angeführt, die gestiegenen weiblichen Realeinkommen, Erwerbsquoten und Berufsperspektiven sowie die in einigen EU-Ländern mangelnden infrastrukturellen Einrichtungen der Kinderbetreuung und -erziehung. Ergänzend ließe sich hier anmerken, dass der Anteil kinderloser Frauen bei Akademikerinnen weitaus höher liegt als bei Nichtakademikerinnen. So erreicht er bei den deutschen Frauen des Jahrgangs 1965 mit akademischem Abschluss ca. 42 % (IWD, Nr. 49, Dez. 2003).

Korreferat zu Alterungsprozesse und rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern

121

Ad 4: Abschließend wird auf den sich angesichts der europaweiten demografischen Entwicklungstrends unausweichlichen Reformbedarf der sozialen Absicherungssysteme eingegangen. Allerdings beziehen sich die Reformvorschläge auf den deutschen Kontext und nicht explizit auf rentenpolitische Reformen in ausgewählten EU-Ländern wie in der Referatsüberschrift angesprochen. Das notwendige Reformprogramm ist nach den hier unterbreiteten Lösungsvorschlägen bzw. Stabilisierungsmöglichkeiten der demografisch verursachten Finanzierungsprobleme mit unterschiedlichen Fristigkeiten anzustreben. Kurz- und mittelfristige Reformziele in Deutschland richten sich auf eine konsequente Reduzierung der Arbeitsmarktzahlen, auf Verlängerung des tatsächlichen und regulären Rentenalters, auf eine Verkürzung der Schul- und Studienzeiten sowie eine Anhebung der Frauenerwerbsquoten bei verbesserten Kinderbetreuungsangeboten. Diese Ansatzpunkte der Reform sind unstrittig, trotz der im Einzelnen damit verbundenen Implementierungsschwierigkeiten. Zusätzlich könnten zumindest auf mittlere Sicht realisierbare fiskalische Anreize für Familien mit Kindern angeführt werden, etwa nach französischem Beispiel (Familien-Splitting, familienbezogene Senkung progressiver Einkommenssteuertarife, Sinn 2003, S. 385 ff.). Langfristig gilt es allerdings, das umlagefinanzierte Rentensystem zu konsolidieren, um eine stärkere Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu erreichen. Das kann schrittweise geschehen durch Einfuhrung deutlicher kapitaldeckender Elemente in das bisherige Umlagesystem und durch festgeschriebene Versicherungsbeiträge, ohne die künftigen Generationen zu belasten. Es kann weiter geschehen durch eine geburtenfördemde Familienpolitik, welche die Kosten der Kindererziehung innerhalb des Rentensystems vergütet und den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen voranbringt. Mit Blick auf das aktuelle Rentensystem ist anzumerken, dass die Versicherungsausgaben nicht voll durch Beiträge, sondern zu ca. einem Viertel durch Bundeszuschüsse aus allgemeinen Steuereinnahmen beglichen werden. Sinnvollerweise müsste künftig eine Begrenzung oder gar ein Abbau dieser Bezuschussung erfolgen. Hervorzuheben ist, dass eine ,Demografiefestigkeit' des Rentensystems nur durch zunehmende Privatvorsorge, also eigene Ersparnisse der Erwerbstätigen, erreichbar sein wird. Die Riester-Reform kann nur als erster zaghafter Schritt in diese Richtung gewertet werden. Eine familienfreundliche Politik, die das Aufbringen von Kindern als Investition in Humankapital nicht im Steuer- und Sozialsystem bestraft, sondern belohnt, ist anzustreben. Sie müsste jedoch durch ganz- und halbtätige Kinderbetreuungsangebote, die insbesondere in Westdeutschland weit unter dem EU-Durchschnitt liegen, und durch flexible Arbeitszeiten unterstützt werden. Dennoch sind dadurch allenfalls geringe Änderungen im generativen Verhalten mit sehr langfristigen Wirkungen zu erwarten. Als letztes Korrekturmittel gegen die demografischen Verwerfungen wird am Ende des Referates die Zuwanderung in den nächsten Jahrzehnten, insbesondere aus den mittel- und osteuropäischen Ländern diskutiert und verworfen. Um den deutschen Bevölkerungsstand zu halten und die Alterungsprozesse zu kompensieren, müsste 2000-2050 ein jährlicher Migrationsstrom von fast 500.000 Menschen zuwandern, obwohl die ost-

122

Dietrich von Delhaes-Guenther

europäischen Länder ohnehin unter dem EU-Durchschnitt liegende demografische Wachstumsraten aufweisen. Diese Größenordnung ist völlig unrealistisch - generell wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass es bedenklich sei, wenn Entwicklungsländer auf eigene Kosten ausgebildete leistungsfähige jüngere Menschen (brain drain) in die Industrieländer entsenden, um dort entstandene demografische Lücken aufzufüllen. Eigentlich müssten die Rentenbeiträge der Zugewanderten wieder den Herkunftsländern zugute kommen. Dem ist meines Erachtens entgegenzuhalten, dass dies bei permanenter Zuwanderung zutreffen würde. Allerdings dürfte die bereits eingesetzte und in ihrer Stärke künftig kaum abschätzbare Migration aus den östlichen Nachbarländern in die EU temporären Charakter haben, motiviert durch die Arbeitsmarkt- und Einkommensverhältnisse in den Abwanderungsgebieten. Sie wird hinsichtlich der Alterszusammensetzung, der gestiegenen Mobilität und der Ausbildungsqualifikationen selektiv, d. h. als ,brain drain', wirken. Doch werden die im Zielgebiet erhaltenen Einkommen in Form von Rimessen wieder in die Ausgangsgebiete zurückfließen. Außerdem nehmen die Zuwanderer auch die Sozialleistungen des aufnehmenden Landes in Anspruch. Darin gleicht die jetzige Migration den bisherigen temporären Zuwanderungen in die Bundesrepublik. Zum Ausklang des Referates hätte es sich vielleicht angeboten, nochmals die Eckpunkte einer Rentenreform zusammenzufassen, deren Ziele sich darauf richten, die Effekte des demografischen Wandels aufzufangen, die Generationengerechtigkeit zu berücksichtigen und die Leistungsfähigkeit der Beteiligten nicht zu überfordern.

Literatur Becker, G.S. (1960), An Economic Analysis of Fertility, in: National Bureau of Economic Research, Princeton, S. 209 ff. Leibenstein, H. (1957), Economic Backwardness and Economic Growth, New York, S. 161 ff. Sinn, H. W. (2003), Ist Deutschland noch zu retten?, 2. Aufl.

Thomas Apolle, Rolf Caspers und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Systemwandel in kleinen Schritten? Das Beispiel der Integrierten Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung

Torsten

Sundmacher

Inhalt 1. Transformation des Gesundheitssystems durch Integrierte Versorgung - Stein der Weisen oder Tropfen auf den heißen Stein?

124

2. Transformation von Systemen

125

2.1. Begriff und Implikationen

125

2.2. Grundelemente transformationsökonomischer Theorien 2.2.1. Standardtheorie 2.2.2. Evolutorische Ökonomik

127 127 129

2.3. Das Transformationsobjekt Gesundheitssysteme

133

3. Das Instrument der Integrierten Versorgung

134

3.1. Ökonomischer Begriff

134

3.2. Rechtliche Aspekte und Anreizsituation

137

4. Integrierte Versorgung vor dem transformationsökonomischen Hintergrund

140

5. Andere Transformationsangebote nutzen

143

Literatur

144

124

Torsten Sundmacher

1. Transformation des Gesundheitssystems durch Integrierte Versorgung - Stein der Weisen oder Tropfen auf den heißen Stein? In den letzten beiden Jahrzehnten ist ein beständiges Anwachsen der Diskussion um Reformen oder Transformationen von Gesundheitssystemen zu konstatieren, die - in der überwiegenden Tendenz - den bisherigen Regulierungsansatz umkehren und marktlicher Koordination eine stärkere Bedeutung geben wollen.1 Aus der Diskussion resultieren teilweise Umsetzungsversuche; allerdings ist der Reformstand bislang als ungenügend zu klassifizieren. Eine ordnungspolitische Reform des deutschen Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hin zu einer stärkeren Einführung von marktlichen Koordinationsverfahren könnte eine Möglichkeit sein, einige der gravierenden Probleme des öffentlichen Gesundheitssystems zu mildern oder zu lösen. Neben der Schaffung von Anreizen zu effizienten Lösungen kann Wettbewerb in seinem dynamischen Ergebnis als Entdeckungsverfahren dazu beitragen, dass medizintechnischer Fortschritt insbesondere auch im Interesse der zukünftig zu Versorgenden wirksam wird (Cassel 2003). Die Ermöglichung von (partieller) Vertragsfreiheit ist für die Initiierung solcher Wettbewerbsprozesse eine wesentliche Voraussetzung. Die Vertragsfreiheit auf dem Leistungsmarkt ist nach wie vor in erheblichem Umfang eingeschränkt. Zwar bestanden hinsichtlich der vorherrschenden kollektivvertraglichen Regelungen insbesondere im Bereich der ambulanten Versorgung bisher schon einige Möglichkeiten des .abweichenden Kontrahierens', die jedoch insgesamt nur einen sehr geringen Beitrag zu einer Transformation des Gesundheitssystems in Richtung eines wettbewerblichen Systems geleistet haben. Von den neuen Regelungen des GMG (GKV-Modemisierungsgesetz), insbesondere in Kombination mit der modifizierten Integrierten Versorgung, werden hingegen weit größere Effekte erwartet (vgl. Jacobs 2004; Schönbach 2003, S. 601) bis hin zur Vorstellung, hiermit ein Aufbrechen der kollektiwertraglichen Strukturen und somit eine echte Systemtransformation erreichen zu können. Quasi .nebenbei' wird von der Integrierten Versorgung erhofft, dass sie zu wesentlichen Qualitätsverbesserungen fuhrt. Die bisher dominierende Form der Versorgung im deutschen Gesundheitssystem ist eine, die sich sehr strikt an sektoralen Grenzen orientiert und dabei ökonomische, medizinische und soziale Probleme in erheblichem Umfang durch fehlende Flexibilität der Leistungszuweisung zwischen den Sektoren (Stichwort ambulante Nachbetreuung im Krankenhaus) sowie durch mangelnde Leistungsangebote an den Schnittstellen (Stichwort integrierte Betreuung durch Hausarzt und Krankenhaus) verursacht. Die hier zu untersuchende Frage ist nun, ob die Integrierte Versorgung in der jetzt möglichen Form die oben skizzierten Anforderungen erfüllt und ob sie damit ein Mittel sein kann zu einer Systemtransformation durch kleine Schritte. Hierzu werden nachfolgend zunächst einige theoretische Zugänge zu .großen' Transformationen mittelosteuropäischer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme untersucht, um Ähnlichkeiten aufzu-

1

Vgl. zu Reformvorhaben in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren Rosewitz und Weber (1990); zur neueren Reformdebatte vgl. ζ. B. Wessen (1999); Beske (2003); Cassel (2003).

Systemwandel in kleinen Schritten

125

zeigen, die als Referenz zur Beurteilung des .Transformationspotenzials' Integrierter Versorgung verwendet werden können.

2. Transformation von Systemen Auch wenn das deutsche Gesundheitssystem sich in mancherlei Hinsicht vom Zustand mittelosteuropäischer Staaten vor ihrer Transformation unterscheiden mag, so bestehen doch hinreichend viele Ähnlichkeiten, um den Versuch zu wagen, die theoretische Diskussion zusammen mit praktischen Transformationserfahrungen ,im Großen' als Ausgangspunkt zu nehmen für die Ableitung von Anforderungen an eine .geglückte' Transformation im Kleinen. Hierbei geht es - unter Vernachlässigung von Spezifika, die sich schon aus dem unterschiedlichen Zuschnitt der betrachteten Systeme ergeben2 - um die Frage, in welchem .Korridor' (wirtschafts-)politische Maßnahmen liegen sollten, um transformierend wirken zu können. 2.1. Begriff und Implikationen Transformation ist ein gemäßigt schillernder Begriff - wohl auch aufgrund einer starken Bindung an sehr manifeste Veränderungen in den mittelosteuropäischen Staaten besteht durchweg eine recht ähnliche Verwendung, wenn auch insbesondere die Unterscheidung zwischen Wandel bzw. Reform auf der einen Seite und Transformation auf der anderen häufiger diskutiert wurde. Als Destillat aus den geführten Diskussionen lassen sich als wesentliche Kriterien für Transformation festhalten: - Transformation ist eine spezifische Form des Wandels von Ordnungen (Streit 1995, S. 40; Streit 2001, S. 227); im engeren Sinne verstanden hat sie das Ziel, eine Marktordnung, d. h. wettbewerbsorientierte informale und formale Institutionen herauszubilden; - Transformation ist ein unmittelbar oder zumindest mittelbar (bewusste Transformation an anderer Stelle) intentionaler Vorgang ( Wagner 1991, S. 34; Wagener 1996, S. 2); -

Transformation bewirkt eine weitreichende Veränderung des Systems (.Bruch');

- Transformation ist ein Wandel in kurzer Frist (Hermann-Pillath 1991a, S. 91 f.) und -

Transformation ist ein singulares (und z. B. kein zyklisches) Ereignis {North 2000, S. 6 f.).

Mit Transformationen in diesem Verständnis sind einige grundlegende Implikationen verbunden, die sowohl in den großen Transformationen als auch in der Diskussion um radikale Veränderungen des deutschen Gesundheitssystems eine große Rolle spielen.

2

So findet z. B. die hohe Bedeutung, die einer Stabilitätspolitik zur Vermeidung inflatorischer Prozesse in großen Transformationen beigemessen wurde, bei einer Transformation des Gesundheitssystems keine Entsprechung, auch wenn eine Aufhebung administrierter Preise (z. B. im Arzneimittelbereich) durchaus zu einer (allerdings einmaligen) sprunghaften Erhöhung des Preisniveaus führen kann.

126

Torsten Sundmacher

1. Grundsätzlich stellt sich bei der Veränderung von Ordnung das Problem, welche Bereiche einer (staatlichen) Gestaltung unterliegen sollen (mit der Anschlussfrage, ob diese dann auch gestaltet werden können) und in welchen wettbewerbliche Prozesse Ordnung hervorbringen sollen. Theoretische Lösungsansätze, die eine Anmaßung von Wissen bei der Ordnungstransformation genauso wie einen Verzicht auf notwendige Rahmensetzung verhindern sollen, finden sich ζ. B. in Form der Konstitutionenökonomik mit ihrer Unterscheidung zwischen rules for und rules of behaviour (Buchanan 1986) wie in der Ordnungsökonomik in Form der konstituierenden Prinzipien {Eucken 1952/1990). 2. Transformationen sind (wie Reformen auch) öffentliche Güter - zumindest dann, wenn bei diesen Prozessen überhaupt Güter und nicht lediglich negative externe Effekte produziert werden. Insofern stellt sich dann das Problem des Trittbrettfahrens auch bei (potenziellen) Entscheidungsträgern. Aus ihrer Sicht kann das Angehen eines Transformationsvorhabens dennoch rational sein, wenn ζ. B. erstens eine Zurechnung des Transformationserfolges an einen politischen Akteur glaubhaft gemacht werden kann und Transformationskosten als notwendige Investitionen dargestellt werden können oder zweitens eine Nutzenstiftung fur den Akteur nicht über seine Wiederwahl, sondern aus anderer Quelle (ζ. B. sein ,Platz in den Geschichtsbüchern') erfolgt.3 3. Transformationen genügen in der Realität nie dem Pareio-Kriterium. Dies kann selbst unter Berücksichtigung (hypothetischer) Kompensation gelten. Insofern ergibt sich aus wohlfahrtstheoretischem Blickwinkel eine geringe Möglichkeit zur Beurteilung konkreter Transformationsprozesse. 4. Transformationen sind in der Regel ein zunächst transaktionskostenerhöhendes Phänomen. Dies ist ζ. B. eine Folge von Problemen bei der Interaktion zwischen (persistenten) informalen und (im Transformationsprozess geänderten) formalen Regeln und damit zusammenhängenden Störungen in der Erwartungsbildung (Roland 1997, S. 170). Bedeutsames Mittel zur Verringerung dieser Probleme ist die Vermittlung von Glaubwürdigkeit (insbesondere der Konstanz des Transformationsprozesses) durch Selbstbindungsprozesse, die die Institutionenanpassung beschleunigt. 5. Schließlich ist zu fragen, welche relevanten Alternativen (Homann und Suchanek 2000, S. 131) im Transformationsprozess bestehen. Deutlich ist, dass in Transformationen die Veränderungsmöglichkeiten gegenüber .Normalzuständen' erheblich anwachsen. Dennoch scheint ein .Veränderungsoptimismus', der First-best-Lösungen als relevante Alternativen ansieht, angesichts fortbestehender, nicht direkt veränderbarer Institutionen auch im Transformationsprozess problematisch.

3

Insofern muss es sich hier nicht um einen Olsonschen Großen im engeren Sinne handeln: Der Nutzen wird hier nicht durch den Transformationserfolg generiert, der fur den Akteur so groß ist, dass er die persönlichen Kosten (keine Wiederwahl) zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes in Kauf nimmt. Vielmehr wird hier argumentiert, dass in der Nutzenfunktion des Akteurs mehr als nur das Wiederwahlkalkül eine Rolle spielt und ein verringerter Erwartungsnutzen der Wiederwahl durch andere Argumente der Nutzenfunktion kompensiert werden kann.

Systemwandel in kleinen Schritten

127

2.2. Grundelemente transformationsökonomischer Theorien Ökonomische Theorien, die Veränderung thematisieren, sind in einer großen inhaltlichen Breite verfügbar. Dennoch waren für die Transformationsprozesse Mittel- und Osteuropas in der ersten Phase nur sehr wenige stark prägend. Dies betrifft insbesondere die (neoklassische) Standardtheorie. Im weiteren Verlauf fand - auch entsprechend der allgemeinen theoretischen Entwicklung der Ökonomik - eine Ergänzung um institutionenökonomische, evolutionsökonomische und teilweise auch kulturtheoretische Ansätze statt. Insgesamt bleibt aber der Eindruck eines großen Überraschungsmoments auch der Theorie mit der Folge, dass häufig Stabilisierungsprogramme in (besonders lateinamerikanischen) Schwellen- und Entwicklungsländern Vorbild fur die Transformationen Mittelosteuropas waren. 4 2.2.1. Standardtheorie Die Anwendung ökonomischer Standardtheorie neoklassischer Prägung eröffnet zunächst den Zugang zur Transformation als spezifische Form der Optimierung (hier eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems) unter Nebenbedingungen (als die insbesondere Zeitrestriktionen gesehen wurden). Aussagen zum Transformationsprozess (entsprechend der komparativ-statischen Grundorientierung) stehen nicht im Fokus; besonders deutlich ausgeprägt hingegen ist die Thematisierung von Endpunkten, die als Referenzen für den Transformationsprozess verwendet werden (kritisch hierzu Murreil 1991, S. 73; 1995, S. 177). Bestehende (ζ. Β. länderspezifische) Institutionen erscheinen nicht als Hindernis für eine allgemeine Transformationstheorie, so dass der Washington Consensus häufig als Blaupause empfohlen (und verwendet) wird (Williamson 1996; Leipold 1999, S. 133 bezeichnet dies als Tabula-rasa-Ansatz). In dieser Argumentation sind Institutionen das Ergebnis individueller Nutzenkalküle und damit kann - bei Veränderungen der Umwelt, also z. B. der formalen Institutionen - eine entsprechende (schnelle) Anpassung unterstellt werden. Institutionenökonomische Erweiterungen haben in der relevanten Literatur kaum eine Rolle gespielt (mit Ausnahme einer sehr intensiven Diskussion um Eigentumsrechte). Entsprechend einer geringen Gewichtung institutioneller Schranken ist ein vergleichsweise großer Steuerungsoptimismus im Sinne einer Gestaltbarkeitsvorstellung von Ordnung festzustellen. Dieser erstreckt sich sogar teilweise auf die Gestaltbarkeit von Marktprozessen, also einer .Organisation spontaner Ordnung' (vgl. hierzu Wiesenthal 2001). Hier unterscheidet sich diese Sichtweise deutlich von klassischen liberalen Positionen, die weit stärker Selektionsprozesse von Institutionen betonen sowie auch vom Ordoliberalismus mit seinem klareren Fokus auf die gestaltbare und gestaltungs4

Vgl. Pisulla (1993). Insbesondere die Erfahrungen von Sachs und Mitarbeitern bei der Bekämpfung der Hyperinflation in Bolivien und bei der wirtschaftspolitischen Programmentwicklung in Venezuela und Ecuador waren hier bedeutsam. Der Übertragung solcher Konzepte auf die Staaten Mittelosteuropas lag allerdings nicht nur das Überraschungsmoment zu Grunde, sondern durchaus auch die Vorstellung vom , Gesetzescharakter' solcher Transforma tionsprogramme.

128

Torsten Sundmacher

notwendige Rahmenordnung. Ebenfalls nicht im Mittelpunkt stehen - trotz der starken Betonung der Steuerungsnotwendigkeit - Fragen der politischen Durchsetzbarkeit von Institutionen (als Ausnahme Dewatripont und Roland 1992). In der praxisorientierten theoretischen Diskussion hat insbesondere die Auseinandersetzung um Zeitaspekte der Transformation eine Rolle gespielt (Überblick bei Apolte und Cassel 1994). Dies betrifft zum einen die Frage des Sequencing von Aufgaben (vgl. ζ. B. Funke 1993, S. 340), stärker noch aber Aspekte des Timings. Besondere Bedeutung hat hier der in der Diskussion häufig vertretene Dualismus Big bang und Gradualismus.5 Eine schockartige Veränderung des institutionellen Gefüges in Form eines Big bang (klassisch hierzu Sachs 1992) kann 1. zu einer Verringerung von Inkonsistenzen (bei unterstellten Komplimentaritäten) ζ. B. in Form sich widersprechender Teilordnungen führen (Balcerowicz 1995; Nunnenkamp und Schmieding 1991), 2. ein Window of opportunity nutzen, in dem die Transformationsbereitschaft vorhanden ist (da auch aus mangelndem Verteilungswissen noch kein Widerstand als exit oder voice gegen Maßnahmen, die Schlechterstellung verursachen, besteht; Apolte 1992, S. 91 ff.) und die Möglichkeiten zur Transformation (ζ. B. eine funktionierende Bürokratie mit beherrschbarem Korruptionsgrad) noch gegeben ist, 3. die Wahrscheinlichkeit einer Irreversibilität der Transformation (,vor der Abwahl') erhöhen, auch wenn negative Transformationsfolgen zu Sanktionen in Richtung der Handelnden führen und 4. Funktionsdefizite staatlichen Agierens (durch Überforderung und Status-quo-Orientierung der alten Eliten sowie fehlendem Reformpersonal) durch die rasche Einführung marktlicher Koordination auszugleichen versuchen. Demgegenüber betonen gradualistische Vorstellungen, die häufig mit einem erweiterten Theoriebezug argumentieren,6 - die insgesamt höheren (sozialen) Anpassungskosten bei schneller Transformation (Arrow 2000), - den Verlust an Vertrauen, der zum Einbrechen (inländischer) Investitionen führen kann (AndrefflQQl, S. 291), - das Entstehen starker informationsbedingter Marktunvollkommenheiten, die Anpassungsprozesse verhindern (ζ. B. mit der Folge von Kreditkontraktionen; Apolte und Cassel 1994), - die fehlende (schnelle) Durchsetzbarkeit neuer Institutionen und

5

6

Vgl. ζ. B. Lipton und Sachs (1990); Lösch (1992); Kädär (1993); Schempp (1992); Schüller (1992); Sachs (1994); Lösch (1994); Streit und Mummert (1996); Wagener (1996). Verwendet werden ζ. B. Elemente der Neuen Politischen Ökonomik (Roland 1994), postkeynesianische Argumente (Hoen 1995) und Konzepte aus der evolutorischen Ökonomik (Müller 1999).

Systemwandel in kleinen Schritten

-

129

die Vorteilhaftigkeit von Reversibilitäten kleiner Schritte (etwa bei einer gestuften Privatisierung; Arrow 2000, S. 15).

Weniger starke Differenzen als bei Zeitaspekten der Transformation bestanden bezüglich entscheidender Transformationsinhalte. Im Dreiklang Stabilisierung, Liberalisierung und Privatisierung kam der Stabilisierung die anspruchsvolle Aufgabe zu (Apolte und Cassel 1994, S. 12), als Krisenintervention bei Makrogrößen insbesondere das Problem zurückgestauter Inflation zu bändigen (Cassel 1987) und wechselkursbedingte Friktionen zu dämpfen. Liberalisierungsaufgaben zur Etablierung individueller Entscheidungsräume wurden vor allem in der Etablierung privater Verfiigungsrechte und Institutionen zu ihrer Durchsetzung (sanktionsbewährtes rule of law) gesehen - ergänzt um Anforderungen eines weitgehenden Rückzugs des Staates aus vielen Politikfeldern und einer (nicht immer für notwendig erachteten) Verbindung zwischen wirtschaftlicher Liberalisierung und politischer Demokratisierung (zur Diskussion vgl. Apolte und Cassel 1993). Privatisierung verstanden als Rücknahme staatlichen Besitzes an Marktakteuren (und allgemeiner: staatlichen Einflusses auf diese) als dritte Transformationssäule verwies auf die Notwendigkeit zur Einführung harter Budgetschranken für Staatsbetriebe auch dann schon, wenn die Besitzverhältnisse noch nicht verändert worden waren. Für alle drei Säulen (besonders aber für die beiden zuletzt genannten) bestand ein Diskurs über die konkrete Ausgestaltung der Transformationsaufgaben. Sollte es hauptsächlich um die Beseitigung alter Institutionen gehen oder sollte der Aufbau neuer (zum Teil gedacht als Übernahme westlicher formaler Institutionen; ζ. B. bei Dornbusch 1991) im Mittelpunkt stehen? Etwas überraschend plädierten Vertreter des Gradualismus eher für einen institutionellen Big bang (d. h. für eine staatliche Bereitstellung .fertiger' Institutionen) und Anhänger eines Big bang eher für einen Gradualismus (d. h. für die Entwicklung von Institutionen). Dies mag auch als Hinweis darauf zu sehen sein, dass der Dualismus Big bang versus Gradualismus eine nicht immer sehr fruchtbare Diskussionslinie bildet. Eine stärkere Differenzierung zwischen einzelnen Institutionen ist hier eine Möglichkeit zur Einebnung des Dualismus. Andere Probleme zeigen sich in der nicht ausgereizten institutionenökonomischen Analyse, die eine Beurteilung relevanter Alternativen statt des Insistierens auf der Referenz eines Idealmodells ermöglichen würde. Auch eine genauere Betrachtung der Leistungsfähigkeit von Koordinationsverfahren, also etwa institutionenscharfe Markt- und Staatsversagensvergleiche, fehlen. Insgesamt führt dies dazu, dass der Standardansatz zu einer Unterschätzung der Transformationskomplexität, des Zeitbedarfs sowie der Folgen von Transformationen führt.7 2.2.2. Evolutorische Ökonomik Ansätze der evolutorischen Ökonomik haben in der praktisch ausgerichteten Transformationsdiskussion eine geringe Rolle gespielt. Allerdings wurden sie - insbesondere in jüngerer Zeit - häufiger angemahnt (so ζ. B. durch Grabber und Stark 1998; Herrmann-Pillath 1999; Oberender, Fleischmann und Reiß 2003; früh schon vertreten durch Murrell 1990, 1992). Ein wesentlicher Grund für dieses .Sequencing' besteht sicher 7

Dies sind allerdings Probleme, die angesichts der Dynamik der realen Transformationsprozesse in Mittelosteuropa auch nicht verwundem.

130

Torsten Sundmacher

auch in den geänderten Anforderungen realer Transformationsprozesse, die aus einer Situation des Systembruchs einbiegen in einen Veränderungspfad, der zwar im Vergleich zu etablierten Marktwirtschaften und Demokratien eine hohe Veränderungsdynamik aufweist, aber dennoch eher Ähnlichkeiten erkennen lässt mit Objektbereichen (wie der Diffusion von Technologien), wie sie typischerweise von Theorien der evolutorischen Ökonomik behandelt werden. Insofern weist diese Theorierichtung eine größere Affinität zu Formen einer .weichen' Transformation auf. Hierunter kann verstanden werden erstens die Fortentwicklung von Ordnung (weiterer Transformationsprozess), zweitens eine Veränderung von Teilen allgemeiner Ordnung (transformierende Reform) sowie drittens die Veränderung von Teilordnungen (wie die des Gesundheitssystems). Entsprechend sind die Anknüpfungspunkte der evolutorischen Ökonomik - auch in Form der Theorienherkunft - dort zu suchen, wo Sprünge aufgrund realer Eingebundenheit in mehr oder minder kontinuierliche Veränderungsprozesse besonders bedeutsam sind. Mit dem Wiederentdecken des Interesses für Institutionen fanden evolutorische Ansätze seit Beginn der 1980er Jahre den Eingang in die ökonomische Theorie.8 In der ökonomischen Variante als Evolutorische Ökonomik umfasst dieser Teil des Theoriefeldes eine recht große Streuung von Grundpositionen.9 Durchweg handelt es sich bei Evolutionstheorien von Systemen um dynamische Theorien, die ein VariationsSelektions-Retentions-Schema (oder zumindest Teile hiervon) als Grundlage ihrer Theorieentwicklung verwenden. Die Entstehung von Veränderung (Impulsgenese) ist bisher eher wenig vertieft, auch wenn sie zumindest in den (formalen) Zusammenhängen, die die Soziodynamik untersucht,10 thematisiert werden. Hinsichtlich der Klassifizierung des Entstehens von Veränderung bzw. von Veränderungen selbst lassen sich zumindest vier von der neoklassischen Sichtweise abweichende Positionen festhalten: Erstens können Veränderungen ein emergentes Phänomen sein, zweitens wird konstatiert, dass

8

Naturgemäß entwickelte die Evolutorische Ökonomik Vereinnahmungstendenzen hinsichtlich vieler ,veränderungsbezogener' dogmengeschichtlicher .Vorläufer'. So bestimmten Boulding (1981, S. 17), Smith und Maltus aufgrund ihrer Kreisidee mit aufblühenden, stagnierenden und schrumpfenden Vorgängen als Stammväter dieser Forschungsrichtung - allerdings übersehend, dass dieser Figur noch die vollendete Selbstorganisationsperspektive fehlt und an ihrer Stelle deistische Vorstellungen Einfluss auf Veränderungs(an)leitung haben; vgl. hierzu Sundmacher (2001 S. 35 f.). Weitere Vorläufer reichen bis in den amerikanischen Institutionalismus hinein und schließen insbesondere auch viele Teile des Werks von Schumpeter mit ein (als .dominante Idee' ist hier sicher das schumpetersche Pionierunternehmertum zu nennen; Schumpeter (1912/1997, S. 100 ff.).

9

Einige hierunter fassbare Forschungsgebiete sind erstens die Organisationsökonomik (klassisch hierzu Nelson und Winter 1982), zweitens die österreichische Marktprozesstheorie (mit den prominenten Vertretern Hayek, Kirzner und Lachmann), drittens die schumpetersche Tradition, viertens der Bereich Subjektivismus und Zeit (insbesondere von Shackle initiiert) und fünftens die stärker naturwissenschaftlich orientierten Ansätze (z. B. Georgescu-Roegen 1974). Als Gesamtübersicht vgl. ζ. Β. Witt (1990); Erlei und Lehmann-Waffenschmidt (2002).

10

Zufällige Fluktuationen auf der Mikroebene, die als Veränderungsgrund aufgefasst werden können, fuhren zur Herausbildung von Ordnung im Makrobereich; diese - der Ordner - versklavt die Prozesse auf der Mikroebene und erst besondere Erschütterungen können den entstandenen Ordnungszustand verändern.

Systemwandel in kleinen Schritten

131

.Population matters' und somit der methodische Individualismus partiell seine Gültigkeit verliert,11 drittens ist das angemessene Zeitkonzept ein historisches (History matters), so dass die Irreversibilität einer Veränderung betont wird, und viertens können Nichtlinearitäten in Ursache-Wirkungszusammenhängen bedeutsam sein.12 Einmal ,so' (wie oben beschrieben) aufgetretene Veränderungen können sich im System und darüber hinaus verbreiten. Die Analyse solcher Diffiisionsprozesse - insbesondere von (technischen) Innovationen13 - kann als eine besondere Stärke dieses Forschungsfelds gelten. Hierbei spielt erstens die Untersuchung von Spill-over-Effekten besonders aus einem ,veränderungsinfizierten' Teilsystem hinaus eine bedeutsame Rolle, zweitens die Anforderung, vor der Ausbreitung bestehende Restriktionen innerhalb des Systems überwinden zu müssen 14 und drittens die mögliche Existenz von Bifurkationspunkten, an der sich eine Entwicklung gabelt und trotz gemeinsamer .Vorfahren' eine gänzlich andere Richtung nimmt. Zur Reaktion von Systemen auf Veränderung sind hier insbesondere aus der Organisationsökonomik stammend zwei Vorstellungen zu nennen: Zum einen werden durch Impulse Lernprozesse angestoßen, die - ζ. B. durch Veränderung von Routinen - ein neues .Gleichgewicht' zwischen Umwelt und Systeminneren herstellen; zum anderen können Veränderungsimpulse aber auch zu drastischen Umbrüchen führen, in denen eine langsame, evolutive, lernende Systemreaktion nicht mehr möglich ist.15 Den Gegenpart zur Thematisierung von Veränderung stellen Beschreibungsmodi der Beharrungsgenese dar; solche Konservativitätsannahmen beziehen sich vor allem auf die Vorstellung einer Entwicklung, die .normalerweise' in .geregelten Bahnen' entlang von Trajektorien bzw. Pfaden verläuft. 16 Insofern ist diese Form der Konservativität eine dynamische - umfangreichere Veränderungen, die zu Sprüngen und hierdurch ζ. B. zur Überwindung von (technologischen) Lock-Ins à la QWERTY fuhren können, sind jedoch gegenüber dem .normal change' das bevorzugte Untersuchungsobjekt Evolutorischer Ökonomik. 11

Vgl. ζ. B. Witt (1997, S. 165). Mit diesem aus dem Populationsdenken der Biologie stammenden Konzept werden Handlungen der Akteure dabei quasi als Ergebnis eines gesellschaftlichen Selektionsprozesses gedeutet: Soziale Regel und die mit ihnen verbundenen (informellen) Sanktionsmechanismen fuhren zur Selektion bestimmter Verhaltensweisen, so dass das entsprechende Handeln ohne Kenntnis der Motive des einzelnen Handelnden erklärbar ist.

12

Diese werden ζ. B. in der Chaos-Theorie beschrieben oder in Form des Übergangs von quantitativen in qualitative Veränderungen als Phasenübergänge in der Synergetik thematisiert. Neuerdings wird auch die Diffusion von Wissen und von Institutionen im Allgemeinen behandelt; letzteres ist als Forderung an die Verbreiterung des Forschungsobjekts in Nelson (2002, S. 19 ff.) zu finden. In der Synergetik sind Veränderungen der bisherigen Ordnung erst mit Erreichen einer kritischen Masse von .Infizierten' auf der Mikroebene möglich; Ähnlichkeiten hierbei bestehen zum Konzept des Herdenverhaltens; vgl. Hirth und Walter (2001). Brüche als notwendige Bedingung für Wandel beschreibt insbesondere die Evolutionsbiologie; vgl. ζ. B. Gowdy (1992); Koslowski (1999). Eine Erklärung für diese Form der Systemkonservierung besteht darin, dass Vorteile bekannter Kombinationen (Status-quo-Orientierung; vgl. auch Tversky und Kahneman 1986) sowohl auf mentaler/individueller Ebene als auch auf der Ebene von Institutionen bestehen.

13

14

15

16

132

Torsten Sundmacher

Vor diesem Hintergrund lassen sich einige Kennzeichen von geglückten Transformationsprozesse ableiten (vgl. ζ. B. auch Oberender, Fleischmann und Reiß 2003, S. 29 ff.), die mit Konzepten der evolutorischen Ökonomik begründet werden können. 1. Bedeutsam ist die Existenz .unfertiger Institutionen'. Erstens sind Institutionen in diesem Zusammenhang naturgemäß immer unfertig, da sie weiterer Veränderung unterliegen; dieser Zustand kann aber zweitens bei Transformationen auch bewusst gewählt werden mit dem Anliegen, die Möglichkeit zu begrenzten Experimenten in explizit ausgewiesenen Versuchsfeldern zu schaffen.17 Dies bedeutet andererseits, dass bisherige Institutionen in größerem Umfang fortbestehen (wie ζ. B. in Form von unternehmensinternen Routinen; Murreil 1992, S. 37 f f ) . Hinsichtlich von Impulsanforderungen, wie sie aus der evolutorischen Ökonomik abzuleiten sind, muss ein Impuls eine bestimmte Schrittweite haben, um Konservierung zu überwinden - dies gilt für Versuchsfelder wie auch für ein Gesamtsystem. Ist diese nicht groß genug, dominiert die Pfadabhängigkeit bestehender Prozesse. 2. Der schrittweisen Veränderung zur Korrektur von Transformationsfehlem (extern oder durch das System) kommt eine größere Bedeutung zu; Experimente in Versuchsfeldern können hierzu ein Instrument sein. Somit müssen erstens Möglichkeiten zum Systemlernen geschaffen werden (hierzu gehört auch das Einräumen von Zeit zur Entwicklung ζ. B. neuen Sozialkapitals), wenn die Transformation evolutiven Charakter haben soll; bei revolutionären Absichten empfiehlt sich entsprechend die Unterbindung von (systemintemen) Lernmöglichkeiten, um einen Bruch als .Neustart' zu fordern. Zweitens müssen Rückführungsmöglichkeiten geschaffen werden (wenn sie als Absicherung notwendig sind), da durch historische Zeit eine einfache Rücknahme einer Veränderung selten möglich ist; dies gelingt am weitestgehenden, wenn die Veränderung als Experiment ausgestaltet ist. Drittens liegt dem zugrunde, dass Zurückhaltung in der Vorhersagbarkeit der Wirkungen von Impulsen notwendig ist (aufgrund von Emergenz, Nichtlinearität und Bifurkationen); fehlendes Wissen kann durch gerichtetes Ausprobieren (eben: Evolution) ersetzt werden. 3. Der Aufbau einer Ordnung muss auch ,νοη unten' erfolgen; sie kann eine Transformation von Subsystemen sein.18 Besondere Bedeutung hat insbesondere im letzten Fall die ,Spill-over-Kompetenz' von Akteuren bzw. Teilsystemen. Wenn diese nicht vorhanden ist, droht ein Impuls .stecken' zu bleiben; hieraus kann sich die Anforderung an einen entsprechend gerichteten (Meta-)Impuls ergeben. 4. Transformation benötigt Zeit zur Herausbildung von Anreizen, anreizkompatiblem Verhalten und Erwartungsstabilisierung. 17

Vgl. hierzu auch Oberender, Fleischmann und Reiß (2003, S. 27 ff.), die zwischen globaler und lokaler Optimierung unterscheiden. Eine Form einer so verstandenen „lokalen Optimierung" (die im evolutiven Sinne gerade keine Optimierung, sondern lediglich eine Überlebenssicherungsstrategie sein kann) kann im Eröffnen von Versuchsfeldern liegen.

18

Probleme mit Privatisierungslösungen deuten jedoch ζ. B. darauf hin, dass ein Eigentumsübergang alleine nicht ausreicht, um marktliche Koordination zu implementieren. Hierzu bedarf es weiterer Institutionen ,νοη oben' (insbesondere solcher zur Durchsetzung von Verträgen), aber auch der Herausbildung eines entsprechenden (stabilen) Verhaltensrepertoires; Apolte und Cassel (1994, S. 13).

Systemwandel in kleinen Schritten

133

2.3. Das Transformationsobjekt Gesundheitssysteme Vieles von dem, was hinsichtlich großer Transformationen diskutiert wurde, lässt sich in der Diskussion um die Veränderung des deutschen Gesundheitssystems wiederfinden. Die angesprochenen grundlegenden Implikationen von Transformationen finden ihre Entsprechung im Rahmen gesundheitsökonomischer und gesundheitspolitischer Debatten. Die Frage danach, was als Rahmen gesetzt werden muss und was dem Wettbewerb überlassen bleiben kann, wird etwa anhand der Ausgestaltung von Leistungskatalogen (Wambach 2003; Cassel 2003), qualitätspriifenden Organisationen (Oberender 1987) oder der flächendeckenden (Krankenhaus-)Versorgung (Oberender und Fibelkorn 1997) diskutiert. Auch Auseinandersetzungen um Bedingungen, unter denen eine große Gesundheitsreform der politischen Rationalität entspricht, sowie die Frage, ob von einem Reformstau angesichts fehlender paretoverbessemder Lösungen gesprochen werden kann, weisen Parallelen zur Debatte um große Transformationen auf. Dass Transformationen, auch wenn sie nur als kleine Reformen daherkommen, in erheblichem Maß zu Transaktionskostenerhöhungen beitragen können (insbesondere dann, wenn einige bestehende Institutionen beibehalten werden), zeigt sich in der Kombination unterschiedlicher Versorgungstypen. Ein Blick auf die relevanten Alternativen für Transformationen im Gesundheitssystem macht deutlich, dass sich diese in letzter Zeit relativ schnell verändert haben. So dürften Kopfpauschalenmodelle außerhalb einer recht engen theoretischen Diskussion vor einigen Jahren kaum als realisierungsfahiges Konzept vorstellbar gewesen sein. Unter Umständen ist hier sogar eine politische Annäherung an First-best-Lösungen (in Form risikoadäquater Prämien) vorstellbar. Im Zusammenhang mit neoklassischen Positionen der Transformation ist hinsichtlich der Timing-Diskussion ein wesentlicher Unterschied zu großen Transformationen zu erkennen. Da es im Falle des Gesundheitssystems lediglich um die Transformation eines Teilsystems geht, dürften Big-bang-Konzeptionen kaum eine Realisierungschance haben. So sind die Inkonsistenzen im Gesundheitssystem (und zwischen diesem und anderen Sektoren) in erheblichem Umfang geradezu systemkonstitutiv (und bisher viabel), ohne dass hieraus ein Transformationsantrieb erkennbar wäre. Zeitfenster für Transformationen sind fur einige Bereiche der Sozialpolitik bereits geschlossen (z. B. für einen Umstieg auf eine voll kapitalgedeckte Rente), in anderen Bereichen werden sie sich insgesamt vermutlich nur einen Spalt breit öffnen, und Mittel zur Transformation sind z. B. durch die Existenz einiger Selbstverwaltungsorgane gerade nicht vorhanden. Schließlich ist nicht zu erkennen, dass besonderes Interesse an der Schaffung von Irreversibilitäten besteht - Pflöcke werden (wenn überhaupt) in anderen Politikfeldern gesetzt. Insofern kommt gradualistischen Konzepten in diesem Zusammenhang vermutlich eine weit höhere Relevanz zu. Die für große Transformationen beschriebenen Aufgaben lassen sich - in anderer Sortierung - durchaus in der Gesundheitssystem-Reformdebatte wieder finden und bilden den konstatierten Reformbedarf recht umfassend ab. Mit Blick auf Liberalisierungsanforderungen im Gesundheitssystem ist zunächst auf den .Regulierungswust' des SGB V und der angrenzenden Regelungen zu verweisen. Dort bestehen erstens Interdependenzen, die bei Veränderungen unübersehbare Folgen haben (und zu einer Autogenerierung von Reformbedarf führen), zweitens ist die Ermittlung von Verteilungswir-

134

Torsten Sundmacher

klingen genauso schwierig wie drittens die Bestimmung der Anreizsituation von Akteuren. Konkreter sind als weitere Liberalisierungsprojekte anzusprechen erstens die Einführung von (partieller) Vertragsfreiheit, zweitens die Anwendung des Wettbewerbsrechts (vor allem in Richtung auf KVen (Kassenärztlichen Vereinigungen)), drittens die Durchsetzung von Gesetzen (als Gegenbeispiel kann die Entmachtung des Gesetzgebers durch die Selbstverwaltung in der Umsetzung der ersten Regelungen zur Integrierten Versorgung dienen), viertens die Aufhebung von Preisregulierungen (ζ. B. im Bereich Arzneimittel) und fünftens eine Öffnung ausländischer Märkte (dies betrifft ζ. B. die nach wie vor eher Transaktionen verhindernde Erstattungsregelungen bei ausländischen Behandlungen sowie auch das Kontrahierungsverhalten öffentlicher Krankenhäuser). Im wirtschaftspolitischen Aufgabenfeld der Privatisierung kommt insbesondere dem Krankenhausbereich eine große Bedeutung zu. Zum einen ist hier die duale Finanzierung aller Plankrankenhäuser zu nennen - hier wird durch die staatliche Investitionsplanung eine Ressourcenlenkung vorgenommen. Weiterhin fehlen im Gesundheitssystem an vielen Stellen harte Budgetrestriktionen. Dies gilt ζ. B. für staatliche Krankenhäuser, die teilweise mit einer Defizitübernahme rechnen können, genauso wie auch in der ambulanten Versorgung, in der ζ. B. die Überschreitung des Arzneimittelbudgets um bis zu 25 % pekuniär folgenlos bleibt und auch danach nicht notwendigerweise Regresse greifen. Auch für bestimmte Formen der staatlichen Qualitätssicherung, ob nun in Form der bisherigen Dritten Hürde oder der zukünftigen .weichen' Vierten Hürde bei der Arzneimittelzulassung, sind durchaus private wettbewerbliche Lösungen vorstellbar. Die Körperschaften öffentlichen Rechts wie etwa die KVen, denen eine echte demokratische Kontrolle genauso fehlt wie eine marktliche, sind schließlich Organisationen, die einer Überprüfung ihrer Zuordnung (Staat oder Markt) harren. Der makroökonomischen Stabilisierung kommt anders als bei großen Transformationen sicher keine entscheidende Bedeutung zu. Hier ließe sich an eine Stabilisierung der Gesundheitsversorgung in der Transformationsphase denken, insbesondere insoweit, wie Gesundheit als Grund- bzw. Potenzialgut angesehen wird (vgl. ζ. B. Homann und Suchanek 2000, S. 163 ff.). 3. Das Instrument der Integrierten Versorgung 3.1. Ökonomischer Begriff Die konkrete Bestimmung dessen, was unter Integrierter Versorgung (IV) verstanden wird, ist häufig außerhalb der Regelungen der §§ 140 a ff. nicht sehr eindeutig. Sinnvollerweise unterscheiden lassen sich aus ökonomischer Sicht zumindest zwei Sichtweisen auf IV: Erstens eine, die ausgehend von einem zu versorgenden ,Fall' Bedingungen dafür formuliert, wann eine solche Versorgung als .integriert' anzusehen ist und zweitens eine solche, die die organisationsbezogenen Folgen einer integrierten Versorgung für die beteiligten Leistungserbringer untersucht. Integration im ersten Verständnis kann man allgemein fassen als patientenzentrierte Zusammenführung der Erbringung von

Systemwandel in kleinen Schritten

135

medizinischen Leistungen 19 entlang einer Behandlungs- bzw. Wertschöpfimgskette durch Koordination unterschiedlicher Akteure des Gesundheitswesens. Wichtig hierbei ist die Art und Weise, wie die Koordination erfolgt. Dies kann ζ. B. durch bereichsübergreifende Informationsinstrumente (Beispiel: elektronische Patientenakte, integrierte Beratungsstelle besonders für Multimorbide), durch einheitliche Budgetierung (Fallpauschalensystem entsprechend der DRGs für den ambulanten Bereich) oder durch organisationale Integration geschehen. In den ersten beiden Beispielen kann IV grundsätzlich auch über einen wettbewerblichen Prozess erreicht werden. Im letzten Fall erfolgt jedoch ein Wechsel des Koordinationsverfahrens - das Ergebnis wäre dann im Extremfall eine hierarchiebezogene Koordination in nur einem Unternehmen, wie sie etwa im Rahmen der Health Management Organizations (HMOs) in den USA teilweise vollzogen wurde. In diesem Fall ging die Totalintegration von im Wettbewerb stehenden Akteuren häufig zu Lasten des Patienten als Konsument des Vertrauensgutes .Wiederherstellung der Gesundheit' und schwächstem Glied in der Kette. Kooperationen zwischen einzelnen Akteuren entlang einer Wertschöpfungskette wäre eine weitere Möglichkeit, die Koordination in einer IV zu lösen. Aus der Vielzahl von Möglichkeiten, wie Koordination innerhalb einer IV ausgestaltet werden kann, folgt die Anforderung, die unterschiedlichen Verfahren und ihre Ausgestaltungsvarianten sowohl hinsichtlich ihrer statischen Effizienz als auch in Hinblick auf dynamische Effekte zu beurteilen - und zu vergleichen mit dem Status quo der hochgradigen sektoralen Trennung. Hierbei ist es durchaus denkbar, dass einzelne Ausgestaltungen einer IV (ζ. B. Kooperationslösungen, die zu sektorübergreifenden lokalen Monopolen führen) gegenüber der derzeitigen Leistungserbringung negativ zu beurteilen sind. Die interne Sicht auf IV beschäftigt sich mit der Wirkung einer solchen Versorgungsform auf die Akteure. Dies ist insbesondere dann von besonderem Belang, wenn die Koordination der IV als Kooperationslösung unter Beibehaltung wesentlicher Strukturen der bisherigen Leistungserbringung verstanden wird. Integration durch Kooperation bedeutet dann, dass Pläne, Ziele, Verhalten und Eigenheiten der Faktorausstattung des jeweils anderen in der jeweils eigenen Organisation berücksichtigt werden müssen. Das Kennen von Plänen und Verhaltensweisen des jeweils anderen setzt somit voraus, dass man über diese Bereiche eingehende Informationen von diesem erhält und damit etwas über diesen lernt. Integration hat damit eine wissensgenerierende Funktion. Es muss allerdings beachtet werden, dass auch Wissen ausgetauscht und generiert werden kann, das der Verhinderung des Wissensaustauschs dient. Dies scheint auf einigen Ebe-

19

Oder auch Patientenorientierung der Versorgung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses Prinzip ist nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit einer verbesserten Versorgung des Patienten. Bei gleich bleibendem Ressourceneinsatz ist dies ein mögliches Ergebnis; genauso ist aber auch eine gleich bleibende (oder verschlechterte) Versorgung bei effizienzbedingtem Rückgang der Kosten durch eine konsequente Patientenorientierung verstellbar. Patientenorientierung als Prinzip beschreibt somit zunächst nichts anderes als eine Ausrichtung des Leistungsgeschehens auf den (medizinisch oder ökonomisch) sinnvollen Behandlungsprozess statt einer Orientierung ζ. B. an fachärztlichen oder abteilungsbezogenen Grenzen. Die Verteilung von Effizienzgewinnen ist eine zu treffende Entscheidung.

136

Torsten Sundmacher

nen der Kooperation im Gesundheitswesen keinen unbedeutenden Grund fur den Wissensaustausch darzustellen. Integrierte Versorgung in diesem Verständnis ist analog zu sehen mit Kooperationslösungen bis hin zur Entstehung von Unternehmen mit hierarchischer Koordination in .normalen' Märkten. Entsprechend der gesetzten Rahmenbedingungen (also ζ. B. der vorhandenen Institutionen zur Durchsetzung von Verträgen und den Möglichkeiten zur internen Koordination) stellt sich ein ordnungsspezifisches Verhältnis zwischen rein marktlicher, rein hierarchischer und zwischen beiden Formen liegender Koordination ein. So existieren auch auf dem Leistungsmarkt - unabhängig der Legaldefinition von Integrierter Versorgung - unterschiedliche Formen einer integrativen Leistungsorganisation. Besondere Bedeutung haben im ambulanten Bereich erstens die horizontale Integration in Form von unterschiedlich ausgestalteten Ärztenetzwerken, 20 zweitens die vertikale Integration ζ. B. in Form der angesprochenen Ausweitung ambulanter Tätigkeiten von Krankenhäusern21 oder der Attrahierung von (Fach-)Árzten sowohl im Klinikbereich als auch in räumlich weiterer Form mit unterschiedlichen Intentionen22 sowie drittens in Form von Programmen der strukturierten Versorgung (DMPs). Integrierte Versorgung im Sinne der § 140 a ff. SGB V hingegen ist zu verstehen als eine spezifische Strukturförderung, die zunächst direkt gerade keinen Wettbewerbsmarkt etabliert, auf dem sich die Wahl eines Koordinationsverfahrens aufgrund seiner Effizienz ergibt.

20

Von den ca. 300 mit sehr unterschiedlicher Intensität betriebenen Ärztenetzwerken - vgl. Kreft, Baur und Schmelzer (2002, S. 11) - hat nur eine relativ kleine Zahl von Netzen Verträge mit Krankenkassen oder Kassenverbänden abgeschlossen. Hinsichtlich der internen Integration handelt es sich häufig um weiterhin unabhängig Selbständige ohne wesentliche Kompetenzübertragungen (relativ häufig ist das Modell der .Einkaufsgemeinschaften'; Tophoven und Siebolds 2000). In einigen Praxisnetzen ist allerdings die Tendenz einer Integrationsausweitung zunächst in Richtung gemeinsamer Budgetverantwortung und dann in Form der Delegation einzelner unternehmerischer und medizinischer Kompetenzen (vor allem in Bereichen Qualitätsstandards bis hin zu evidenzbasierter Medizin) zu erkennen. Erklärt werden kann dieses Bild erstens durch eine vermutlich hohe Nutzenstiftung durch den Status der Selbständigkeit per se und somit - auch aufgrund mangelnder Erfahrung - einer geringen Neigung zur Delegation von Kompetenzen; zweitens durch erhebliche Investitionskosten z. B. in Management-Wissen (erst mit stärkerer Bedeutung von IV im Sinne von § 140a ff. (neue Fassung) entsteht hierfür ein Markt externer Dienstleister); drittens durch die Notwendigkeit zur Verdrängung anderer Anbieter, da die organisationelle Innovation auf wenig wachsenden Märkten antritt und viertens durch die bisher unbefriedigende rechtliche Situation, die z. B. zu hohen Verhandlungskosten und schwer kalkulierbarem Verhandlungsausgang bei Lösungen jenseits des kollektiwertraglichen Budgets führte.

21

Zu nennen ist insbesondere die vor- und nachstationäre Behandlung (§ 115a SGB V), das ambulantes Operieren (§ 115b SGB V) und die Teilöffnung von Krankenhäusern für ambulante Versorgung (§ 116a, b SGB V).

22

Wichtig ist sicher auch die Erweiterung des stationären Angebots ohne Vorhaltungsnotwendigkeit eigener Kapazitäten; eine mindestens ebenso große Bedeutung hat allerdings auch die Sicherung von Einweisem ins Krankenhaus (zumindest solange die bisherige Leistungsintransparenz anhält, denn die Qualitätsbeurteilung der stationären Einrichtung erfolgt vor allem anhand des Rates des einweisenden Arztes; Oberender, Hacker und Meder (2001, S. 575).

Systemwandel in kleinen Schritten

137

3.2. Rechtliche Aspekte und Anreizsituation Einen wesentlichen Schritt zu einer stärkeren einzelvertraglichen Regelung insbesondere des Leistungsmarkts hätten die 2000 eingefügten Regelungen der §§ 140a ff. SGB V zur IV bewirken können. Inhaltlich ging es hierbei um die Möglichkeit des Abschlusses integrierter, (überwiegend) sektorübergreifender Versorgungsverträge 23 außerhalb der üblichen kollektiwertraglichen Regelungen, zu denen Patienten beitreten müssen. Vom Gesetzgeber so angelegt, war nach § 140b Abs. 2 (alte Fassung) eine einzelvertragliche Lösung zwischen einer Krankenkasse und einem (integrierten) Leistungserbringer ebenso wie kollektiwertragliche Regelungen möglich. Hierbei kann nach § 140b Abs. 4 SGB V (alte Fassung) weitgehend von den kollektiwertraglichen Vergütungsvorschriften (Kapitel 4 SGB V sowie Krankenhausfinanzierungsgesetz) abgewichen werden. Grundsätzlich existierte für solche einzelvertraglichen Lösungen keine Zustimmungspflicht der Selbstverwaltungsorgane. Allerdings führten die Regelungen des § 140f SGB V (alte Fassung) zumindest die Notwendigkeit ein, dass sich die Vertragspartner der Kollektivbudgets über seine Bereinigung um die Vergütungen der Leistungen aus der IV einigen mussten. Weiterhin bestand nach § 140d SGB V (alte Fassung) für die Kollektiwertragsparteien die Pflicht, sich auf einen bundeseinheitlichen Rahmenvertrag zu verständigen 24 - dieser wurde im Juni 2000 abgeschlossen und nahm faktisch alle einzelvertraglichen Elemente der gesetzlichen Regelungen zurück. Angefangen von der Vorlagepflicht von Verträgen zur IV bei der zuständigen KV (§ 13 Abs. 2 der Rahmenvereinbarung) bis hin zur Einrichtung eines Schiedsverfahrens mit paritätischer Besetzimg bei auftretenden Streitigkeiten bei der Ausgestaltung von Einzelverträgen ist deutlich zu erkennen, dass die Akteure der ,alten Ordnung' mit diesem Rahmenvertrag die Regelungen zur IV wiederum materiell in die kollektiwertraglichen Bahnen zurückholten. Damit existiert ein Genehmigungsvorbehalt der bisherigen Strukturen durch die Akteure, die bisher Nutznießer des Status quo waren; entsprechend fand eine Bereinigung des Kollektivbudgets dieser Regelungen der Selbstverwaltungsorgane auch nie statt (Schönbach 2003, S. 607). Darüber hinaus bestanden (weitere) Ausgestaltungshürden, die die IV bisher für viele Akteure wenig attraktiv machten. 25 So wundert es denn auch wenig, dass diese Versorgungsformen eine nur geringe Wirksamkeit (und Persistenz) zeigen (vgl. Kreft, Baur und Schmelzer 2002; Jacobs und Schräder 2002). Diese Regelungen zur IV sind durch das GMG verändert worden. Perspektivisch besonders bedeutsam ist sicher die neue Rolle der KVen, die weder Vertragspartner (§ 140b, Abs. 1 SGB V) noch Rahmenvertragspartner (durch Aufhebung der in § 140d und e SGB V alte Fassung festgelegten Rahmenvereinbarung) in der IV sind. Entsprechend geht der Sicherstellungsauftrag für die Leistungen einer IV an die Vertragspartner über (§ 140a, Abs. 1 SGB V). Allerdings besteht weiterhin die Möglichkeit für die Part23

24

25

Auch Versorgungsformen, die nur Leistungserbringer des ambulanten Sektors beinhalten, können eine Integrierte Versorgung im Sinne von §§ 140a ff. SGB V sein. Außerhalb des ambulanten Bereichs besteht die Möglichkeit zu Rahmenverträgen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (§ 140e SGB V); wenn sie geschlossen werden, sind sie fur alle Vertragsparteien bindend. So bestand z. B. ein Beitrittsrecht Dritter nach dreijähriger Laufzeit; diese konnten risikolos Gewinne aus risikobehafteten und nur durch die Gründer getragenen Investitionen schöpfen.

138

Torsten Sundmacher

ner des Kollektiwertragssystems einschließlich der KVen, Verträge über Formen der integrierten Versorgung abzuschließen, die dann allerdings nicht den Regelungen der §§ 140a ff. unterliegen. Von besonderer kurzfristiger Bedeutung ist die Etablierung einer Anschubfinanzierung, die auch als Ersatz fur die nach wie vor nicht abschließend geregelte Bereinigung des kollektiwertraglichen Budgets angesehen werden kann. Von 2004-2006 können bis zu 1 % des Gesamtbudgets der ambulanten Versorgung sowie bis zu 1 % der Rechnungssummen teil- und vollstationärer Versorgung von den Krankenkassen einbehalten werden, die ausschließlich zur Finanzierung von IV-Projekten verausgabt werden können (§ 140d SGB V). Einbehalten werden diese Beträge in der Größenordnung, in der sie fur IVMaßnahmen notwendig sind.26 Dabei soll die Verwendung in der Regel in dem KVBezirk erfolgen, aus dem auch die Mittelaufbringung resultierte. Übersteigt der Finanzierungsbedarf der IV dieses 1 %-Budget ist wie nach Auslaufen dieser Förderung das Budget der Regelversorgung zu bereinigen. Festzuhalten ist, dass die Mittelaufbringung unsystematisch erfolgt, da nicht alle Leistungserbringer, die an IV-Projekten partizipieren, an ihrer Finanzierung beteiligt werden. Eine Orientierung an den (Leistungs-)Ausgaben der Krankenkassen wäre ein nachvollziehbarerer Weg ohne die hier vorgenommene Umverteilung gewesen. Auch orientiert sich die Höhe des Budgets nicht an einem prognostizierten Ausgabevolumen für IV-Projekte. Für ein solches Volumen wäre allerdings auch eine Konkretisierung der Ziele dieser Regelungen zur IV eine Vorbedingung gewesen. Weiterhin ist die Notwendigkeit einer Anschubfinanzierung grundsätzlich fraglich; dies insbesondere deshalb, weil sie naturgemäß zu einer verzerrten Allokation von Ressourcen führt. Schließlich ist das Problem der Bereinigung des Gesamtbudgets als korrekte Lösung nur ausgesetzt und lediglich unwesentlich verändert worden. Allerdings kann eine solche Übergangslösung aufgrund hoher Transaktionskosten bei der Budgetbereinigung und starken Verzerrungen der Verhandlungslösungen aufgrund von Interdependenzen (KV-Verhandlungen über kollektiwertragliches Budget und über Budgetbereinigung) unter Umständen unter gegenwärtigen sich verändernden Machtkonstellationen sinnvoll sein. In diesem Sinne ist die festgelegte Befristung positiv zu vermerken. Innerhalb einer IV ist es möglich, vom Zulassungsstatus27 eines einzelnen Leistungserbringers abzuweichen (§ 140b, Abs. 4 SGB V). Dies bedeutet etwa, dass ein Krankenhaus dann alle allgemeinmedizinischen Leistungen abrechnen kann, wenn es einen Vertrag über IV mit mindestens einem Allgemeinmediziner sowie der leistenden Krankenkasse vorweisen kann. Voraussetzung zur generellen Teilnahme ist allerdings die Zulassung - nicht zur Erstattung zugelassene Leistungserbringer können nicht an der IV teilnehmen. Insofern wird die bisherige Zugangsallokation nicht aufgehoben, so dass eine Partizipation in der Leistungserbringung von bisher in der Regelversorgung nicht Vertretenen (ζ. B. approbierte, aber nicht zur Erstattung zugelassene Ärzte) nicht erfolgen kann. 26

27

Anders als zunächst in Entwürfen des GMG festgelegt, erfolgt somit kein genereller Rabatt auf die Leistungen der ambulanten und stationären Versorgung mit einer bei NichtVerbrauch der Mittel notwendigen Rückverteilung nach 3 Jahren. Der durch eine solche Regelung indizierte Liquiditätsentzug hätte die Leistungserbringer belastet ohne deren Anreiz zur Beteiligung an der IV zu erhöhen, andererseits aber aufgrund möglicher Zinsgewinne die Bereitschaft von Krankenkassen zur Kontrahierung integrierter Versorgung gesenkt. Statt Zulassung kann es sich hier und im Weiteren auch jeweils um Ermächtigungen handeln.

Systemwandel in kleinen Schritten

139

Als weitere wichtige Änderung ist die in § 140b SGB V geregelte Erweiterung der Vertragspartner hervorzuheben. Neben den zugelassenen Leistungserbringern einschließlich von Apotheken (nach § 129 Abs. 5b SGB V) können auch reine Managementgesellschaften ohne eigenes Versorgungsangebot Vertragspartner einer IV werden. Hierdurch wird das Outsourcing von Managementleistungen bei gleichzeitiger unternehmerischer Beteiligung im Rahmen der IV möglich. Damit wird es vermutlich einigen Leistungserbringern mit geringem Managementwissen (zu denken ist insbesondere an den in Einzelpraxen arbeitenden Arzt) erst möglich, ohne Partner aus dem Bereich der stationären Versorgung IV zu betreiben.28 Entsprechend dieser Regelungen steht somit (bezogen auf das Jahr 2002) ein Budget von maximal 680 Mio. € (mit 220 Mio. € aus der ambulanten und 460 Mio. € aus der stationären Versorgung) zur Verfügung. Zur Bewältigung des administrativen Prozederes einer Kürzung der Rechnungen des stationären Sektors 29 ist als Registrierstelle die Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung GmbH (BQS) als Einrichtung des Gemeinsamen Bundesausschusses eingesetzt worden. Seit Ende 2003 werden Vorschläge zur IV durch unterschiedliche Leistungserbringer eingereicht, doch die Krankenkassen zeigen bisher noch eine gewisse Zurückhaltung beim Vertragsabschluss - stattdessen erfolgte etwa die Auslobung von Preisen für IV-Projektvorschläge. Gleichzeitig erlangen Anbieter von Beratung und Management für Leistungserbringer im Zusammenhang mit der IV (so genannte .Entwicklungsgesellschaften') zunehmende Bedeutung. Besonderes Interesse an der IV besteht auf Seiten der Leistungserbringer durch Krankenhäuser. Hier ist (bei einigen) der finanzielle Druck durch die DRG-Einführung, die unter Umständen zu überflüssiger durch IV-Partner nutzbarer Infrastruktur fuhrt, besonders groß. Weiterhin verfügen Krankenhäuser über die größeren Managementkompetenzen sowie aufgrund ihres Interesses an dem Arzt als Einweiser häufig über ein besseres Wissen über den lokalen Gesundheitsmarkt (vgl. Schönbach 2003). Auch sind die Ausgangsbedingungen für einige Häuser aufgrund ihrer bisher schon verfolgten Diversifikationsstrategie z. B. im Reha-Bereich sehr gut (vgl. Schönbach 2003, S. 306). Dies gilt in besonderem Maße für private Klinikketten, die auch deutlich bessere Finanzierungsmöglichkeiten von rV-bedingten Anfangsinvestitionen haben. Aus dieser Konstellation können sich bei schwachem Wettbewerbsdruck mehrere Probleme ergeben. So stellt sich die Frage nach dem Selektionskriterium für Vertragspartner insbesondere aus der ambulanten Versorgung. Unter Umständen werden nur .schwache' Vertragspartner attrahiert, die nicht aufgrund ihrer Kompetenz, sondern wegen ihres rechtlichen Status' für Kliniken interessant sind. Damit wird das bisherige 28

29

Weitere Änderungen betreffen erstens die Aufhebung des Beitrittrechts Dritter (§ 140b SGB V), zweitens die Möglichkeit zur Gewährung von Rabatten für Versicherte (Aufhebung der Bonusregelung nach § 140g SGB V alte Fassung; § 65a Abs. 2 SGB V), die sich auf Zuzahlung und Beitrag erstrecken können und die nach wie vor an den Nachweis der Kostensenkung durch IV gekoppelt sind, drittens die Möglichkeit zur Verletzung des Gebots der Beitragssatzstabilität aus Gründen eines Ausbaus der IV (§ 140b SGB V) sowie viertens die Reduzierung von Informationspflichten (§ 140a SGB V) der Leistungserbringer gegenüber den Patienten, deren praktische Relevanz allerdings nicht sehr hoch sein dürfte. Im ambulanten Sektor erfolgt lediglich die entsprechende Kürzung des Gesamtbudgets.

140

Torsten

Sundmacher

Zulassungssystem unterlaufen, ohne dass aber das Leistungsangebot solcher Formen der IV effizient sein wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der dualen Finanzierung der zugelassenen Krankenhäuser. Somit kann der Fall eintreten, dass die volkswirtschaftlich sinnvolle Leistungserstellung im ambulanten Sektor abgelöst wird durch eine solche durch einen integrierten Versorger, da die handelnden Akteure einen Vertrag zu Lasten Dritter (in diesem Fall der Steuerzahler) abschließen. Aus Sicht der Krankenkassen handelt es sich bei der Anschubfinanzierung zunächst einmal um eine Rabattierung der ambulanten und stationären Versorgung. Diese Minderausgaben sind allerdings zweckgebunden fur die IV zu verwenden, so dass diese Leistungen ohne zusätzliche Kosten eingekauft werden können. Im Zweifel (insbesondere bei einem nach wie vor geringen qualitätsbezogenen Wettbewerbsdruck) dürfte also eine gewisse Bereitschaft bestehen, diese Mittel auch für Projekte einzusetzen, die nur einen geringen (vor allem auch volkswirtschaftlichen) Nutzen versprechen, anstatt die Budgetgrenze nicht auszuschöpfen. Weiterhin wird diese Versorgungsform als Möglichkeit verstanden, Formen der Leistungssteuerung durch die Krankenkassen einzuüben - ein Bereich, der insbesondere in der ambulanten Versorgung durch die starke Position der KVen stark unterentwickelt ist. Für Patienten bzw. Beitragszahler können Modelle der IV durch Zuzahlungsreduktion (das bisher gebräuchlichste Modell) oder auch Beitragssatzreduktion entsprechend § 65a SGB V attraktiv gemacht werden. Allein schon der mit dem Terminus .Integrierte Versorgung' verbundene Anspruch einer Überwindung häufig selbst erlebter sektoraler Grenzen dürfte jedoch auch schon einen wesentlichen Beitrag zur Anreizkulisse liefern.

4. Integrierte Versorgung vor dem transformationsökonomischen Hintergrund Die Herauslösung der IV aus den kollektiwertraglichen Regelungen, wie sie zumindest für eine Übergangsphase sichergestellt ist, kann zusammen mit der Verringerung anderer Restriktionen durch das GMG möglicherweise ein Schritt sein, der sowohl zur (derzeit politisch) gewünschten Versorgungsform führt als auch durch einzelvertragliche Elemente den Wettbewerb auf dem Leistungsmarkt und hiervon ausgehend auch auf dem Versicherungs- und Behandlungsmarkt stimuliert und so - als Femziel - eine kleinschrittige Systemtransformation des Gesundheitssystems initiiert. Entsprechend der Kriterien für .geglückte' weiche Transformationen, die aus der Untersuchung unterschiedlicher theoretischer Zugänge zu großen Transformationen im zweiten Kapitel entwickelt wurden, sollen nun die Chancen für eine solche weiche Systemtransformation des deutschen Gesundheitssystems durch IV diskutiert werden. Die Schrittweite einer Einführung von Vertragswettbewerb im Bereich der IV ist im Wesentlichen abhängig von der Reaktion bisheriger und zukünftiger Leistungserbringer, da keine Einfuhrungsverpflichtung besteht. Ob - und wenn ja, in welchem Umfang - IV bereitgestellt wird, hängt auch von den Anreizbedingungen ab, die sich aus den (bisher noch nicht) verhandelten Verträgen ergeben. Weiterhin bestehen noch einige Unklarheiten hinsichtlich des ordnungspolitischen Rahmens der IV: Dies betrifft sowohl die (vor allem juristische) Interpretation des Status quo als auch (zum Teil hieraus resultierend)

Systemwandel

in kleinen

Schritten

141

die potenziellen Weiterentwicklungen (ζ. B. des Berufsrechts einiger Länder). Zusammengenommen ist es nach wie vor möglich, dass der Transformationsimpuls eher klein ausfällt. Werden hingegen Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Formen des abweichenden Kontrahierens realisiert, ist es vorstellbar, dass IV selbst den Rahmen des 1 %Budgets sprengt, so dass sich hieraus ein recht deutlicher Transformationsimpuls auch in Richtung einer Verschärfung der Wettbewerbssituation von Leistungserbringern der Regelversorgung ergeben könnte. Hinsichtlich der Schrittweite ist die Ausgestaltung der IV - entsprechende Angebote von Seiten der Leistungserbringer und eine Kontrahierung von Seiten der Kassen als sehr wahrscheinlich vorausgesetzt - für ein Experiment als sehr weitgehend zu bezeichnen. Für greifbare Ergebnisse wäre auch ein geringeres Budget (bzw. eine einfache Gesamtbudgetbereinigung) ausreichend gewesen. Ist mehr intendiert als ein Experiment, ist der Rahmen allerdings wahrscheinlich zu eng. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bestehende Pfadabhängigkeiten für den dominierenden Teil der Versorgung bestehen bleiben. Allerdings ist es denkbar, dass ein neuer zusätzlicher Pfad mit .doppelter Zielerreichung' (integrierte Versorgung und Vertragsfreiheit) realisiert und die sektorale Separierungs-Trajektorie verlassen wird. Ob dies gelingt, hängt in wesentlichem Umfang von der Finanzierung von TV nach Auslaufen der 1 %-Regel ab. Auch wenn kein Rückfall in den Zustand der alten Regelungen zur IV zu erwarten ist (und die zeitgleiche Umstellung des Budgets im ambulanten Sektors in Richtung risikoadjustierter fester Punktwerte mit Mitwirkungsmöglichkeiten der Krankenkassen hinsichtlich der Budgetverteilung auf die Leistungserbringer auch nicht gerade zu einer Stärkung der Positionen der KVen beiträgt), bleibt dennoch die Handhabung des Budgetbereinigungsprozesses unter dem Einfluss der KVen der bedeutsamste Punkt, der einer Etablierung eines eigenständigen Entwicklungspfads TV entgegenstehen kann. Dies knüpft an die obige Betrachtung an: Das vollständige Aufbrechen von Pfadabhängigkeiten durch die Entwicklung in einem Experimentierfeld ist nicht zu erwarten. Ein solcher Vorgang ist im deutschen Gesundheitssystem an einen politischen Prozess außerhalb des Systems geknüpft. Wichtig ist, ob ein Experiments-Pfad für eine ausreichend lange Zeit etabliert werden kann, ohne dass dieser bedingt durch starke Verzerrungen (ζ. B. durch Investitionen in ineffiziente, aber politisch sehr opportune Projekte) weit weg von einem vorstellbaren Pfad für das Gesamtsystem verläuft. Wahrscheinlich können die Ergebnisse der IV aufgrund solcher bestehender Verzerrungen nur sehr indirekt als Referenz für Resultate freivertraglicher Versorgung verwendet werden - wohl aber können sie (auch im politischen Prozess) benutzt werden, um zu zeigen, dass freiere Vertragsformen auch im Gesundheitssystem funktionieren können. Für die Lernfähigkeit eines (in diesem Fall politischen) Systems bei missglückter Implementierung von Veränderung ist die IV möglicherweise ein recht gutes Beispiel. So ist es im zweiten Anlauf zumindest gelungen, wesentliche Restriktionen, die die Attraktivität der IV stark eingeschränkt haben, zu verringern. Ob tatsächlich eine .Anschubfinanzierung' zur Unterstützung der Lernfähigkeit notwendig ist und ob ihr verzerrender Effekt nicht größer ist, ist eine andere Frage. Die Etablierung eines verlässlichen Ordnungsrahmens in Form einer Lösung für die Bereinigung des Kollektivbudgets vermeidet das Verzerrungsproblem und hätte vermutlich eher zu einem gleitenden Übergang in angemessener Zeit und nicht zu der jetzt zu beobachtenden Goldgräberstimmung geführt. Für diese Beschleunigung besteht keine ökonomische Notwendigkeit, wohl aber unter

142

Torsten Sundmacher

Umständen eine politische, um die fehlende Akzeptanz von IV in der ersten Phase schnell auszugleichen. Insofern wird hier ähnlich wie bei einigen großen Transformationen die .normale' Lernfähigkeit von Systemen bewusst überschritten, um durch den politischen Prozess Veränderungen abzusichern. Negative Auswirkungen auf die Gesamtversorgung sind von einem Scheitern der IV nicht zu erwarten - dazu dürfte ihre Bedeutung, selbst wenn sie über das 1 %-Budget hinaus wächst, zu gering bleiben. Auch ist eine Rückkehr der meisten Leistungserbringer in die Regelversorgung wahrscheinlich problemlos möglich. Insofern ist hier eine Veränderungsform gewählt worden, die das Wissensproblem bei der Vorhersagbarkeit der Wirkungen von Impulsen beachtet. Durch ein kontrollierbares Experiment in einem weitgehend abgegrenzten Feld wird eine Rückführung bei negativen Ergebnissen ermöglicht. Dies ist auch deshalb so (anders als etwa bei der strukturierten Versorgung, die durch ihren Krankheitenbezug Bereiche tangiert, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen), da durch die Einfuhrung von IV kein sensibler Bereich betroffen ist. Schnittstellenprobleme sind bekannt, und die Akteure haben sich wohl auch weitgehend an sie gewöhnt. Insofern kann durch die Einführung allenfalls eine qualitative Verbesserung des Status quo erreicht werden. Aus diesem Blickwinkel sind negative Effekte, die sich aus dem politischen Eingeständnis eines Scheiterns eines Instruments ergeben könnten, begrenzt. Allerdings können die durch die Anschubfinanzierung ausgelösten Subventionseffekte zur mangelnden Rückführbarkeit fuhren: Akteure innerhalb erst einmal aufgebauter Strukturen werden darauf spekulieren, politische Unterstützung bei ihrer weiteren Finanzierung zu erhalten. Ihre Gewährung kann dann verhindern, dass der Ruf des Instruments IV (das sich immerhin schon im zweiten Anlauf befindet) nicht diskreditiert wird. Zutritte zur IV, die hier die wesentliche Form positiver Spill-overs darstellen, bleiben durch hohe Markteintrittsschwellen begrenzt. Hier spielen ζ. B. spezifische Mentale Modelle der ärztlichen (und unternehmerischen) Selbständigkeit insbesondere im ambulanten Bereich noch eine große Rolle, die vermutlich nur durch starke ökonomische Anreize überwunden werden können. So ist zumindest damit zu rechnen, dass sich viele Akteure in diesem Sektor risikoavers verhalten werden. Andere positive Spill-overs sind zwar möglich (ζ. B. die Übernahme von integrierten Behandlungsmethoden auch in den .konventionellen' Bereichen) - hierfür sind aber keine systematischen Anreize erkennbar. Negative Spill-overs können dann entstehen, wenn die Möglichkeit genutzt wird, eine Verschiebung von Kosten oder Leistungen zwischen Vergütungssystemen vorzunehmen 30 - insbesondere im Zusammenhang mit Leistungen, für die die duale Finanzierung des stationären Sektors und die fehlenden harten Budgetrestriktionen bei staatlichen Krankenhäusern eine Rolle spielen, sind Marktverzerrungen bei anderen Leistungserbringern zu erwarten. Negative Spill-overs lassen sich so lange nicht vollständig vermeiden, wie sektorspezifische Regulierungen weiter bestehen. Insofern handelt es sich hierbei um ein Experiment, das nicht unabhängig von der Regelversorgung ist. Echte positive Spill-overs in größerem Umfang hingegen sind - dies folgt ja auch aus

30

Ein Leistungserbringer könnte dann eine Leistung entweder nach der freiverhandelten Vergütungsform der IV oder nach den sektoralen Vergütungsmodalitäten berechnen.

Systemwandel

in kleinen

Schritten

143

dem Experiments-Charakter - nur als politische zu erwarten in der Form, dass freivertragliche Lösungen schrittweise auch in der Regelversorgung implementiert werden.

5. Andere Transformationsangebote nutzen Grundsätzlich ist jede Vorgabe von Versorgungsstrukturen insofern problematisch, da sie in der Regel von Wettbewerbsergebnissen abweichen wird. Dies gilt mithin auch für die IV in der Form, in der sie durch das GMG in besonderer Weise gefördert wird. Allerdings liegt das Referenzsystem eines wettbewerblich organisierten Leistungsmarktes im deutschen Gesundheitssystem mit einem unverzerrten sektorübergreifenden Wettbewerb bei der nach wie vor geringen Reformdynamik im Gesundheitssystem in weiter Feme. Auch wiegt dieses Argument insofern nicht so schwer, als dass die Inefïizienzen und die geringe Effektivität der sektoralen Trennung wenig umstritten ist und Lösungen in anderen Ländern deutlich .integrierter' ausfallen. Daher ist IV auch in einem größeren Umfang als der, der innerhalb des bisherigen Rahmens auf ansehbare Zeit erreicht werden wird, ein sehr wahrscheinliches Wettbewerbsergebnis. Insofern kann die Implementierung von IV eine Möglichkeit sein, ein Experimentierfeld zu schaffen, von dem ausgehend eine Systemtransformation des Gesundheitssystems vorgenommen werden kann. Hierbei sind aber die folgenden Punkte zu beachten: 1. Die Übertragbarkeit der Lösungen aus dem Experimentierfeld in die Regelversorgung ist sicherzustellen. Verzerrungen durch die Investitionsbeihilfen sind problematisch, wettbewerbliche Lösungen (auch wenn sie quasi simuliert sind wie bei einer Bereinigung des Gesamtbudgets), die eine evolutorische Entwicklung von Institutionen ermöglichen, sind vorzuziehen. 2. Das Ziel, Vertragswettbewerb und mithin Wettbewerbselemente zu implementieren, sollte nicht aus den Augen verloren werden. Wenn die IV in größerem Maßstab erfolgreich wird, könnte dies zu einer temporären Senkung des Problemdrucks führen, ohne dass hierdurch eine Transformation des Gesundheitssystems erreicht würde. Insofern können die Formen abweichenden Kontrahierens nur ein Schritt in Richtung einer Wettbewerbsordnung für den Leistungsmarkt sein. 3. Zu untersuchen ist weiterhin, ob nicht auch andere Transformationsalternativen bestehen, die zwar auch nicht zu einer Big-bang-Transformation führen, die aber einige negative Aspekte der IV (wie die Verzerrungen durch die weiterhin unterschiedliche Behandlung der Sektoren - Stichwort duale Finanzierung) vermeiden. Zu denken ist hier ζ. B. an die Erprobung freivertraglicher Regelungen im Bereich spitzenmedizinischer Versorgung, die durch den Einbezug ausländischer Leistungserbringer noch eine besondere Dynamik generieren könnte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der bisherige Instrumentenkasten abweichenden Kontrahierens nicht ausreicht, um in der Folge automatisch zu einer Systemtransformation des deutschen Gesundheitssystems zu führen. Weitere (stärkere) Impulse sind hierzu nötig. Da sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus dem System selbst kommen werden, richtet sich die Hoffung auf weitere Reformschritte aus dem politischen Raum, die vielleicht unterstützt werden durch Impulse aus der europäischen Gesundheitspolitik.

144

Torsten Sundmacher

Literatur Andreff, W. (2002), Le pluralisme des analyses économiques de la transition, in: W. Andreff (Hg.), Analyses économiques de la transition postsocialiste, Paris, S.269-334. Apolte, T. (1992), Politische Ökonomie der Systemtransformation. Gruppeninteressen und Interessenkonflikte im Transformationsprozeß, Dissertation, Hamburg. Apolte, T. und D. Cassel (1993), Systemtransformation und Politikvertrauen, in: C. HerrmannPillath (Hg.), Marktwirtschaft als Aufgabe. Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang vom Plan zum Markt, Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bd. ΙΠ, Bonn. Apolte, T. und D. Cassel (1994), Timing und Sequencing im Transformationsprozeß: Gibt es eine optimale Transformationsstrategie?, in: J. Hölscher u. a. (Hg.), Bedingungen ökonomischer Entwicklung in Zentralosteuropa, Bd. 2, Marburg, S. 11-36. Arrow, K.J. (2000), Economic Transition: Speed and Scope, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 156, S. 9-18. Balcerowicz, L. (1995), Socialism, Capitalism, Transformation, Budapest u. a. Bauer, A. u. a. (2004), Die Integrierte Versorgung kommt - aber wie?, in: Health, Nr. 4, S. 30-37. Beske, F. (2003), Reformen im Gesundheitswesen - Aktuelle Vorschläge aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, Köln. Boulding, K.E. (1981), Evolutionary Economics, London. Buchanan, J.M. (1986), Cultural Evolution and Institutional Reform, in: J.M. Buchanan, Liberty, Market and State: Political Economy in the 1980s, Oxford, S. 75-86. Cassel, D. (1968), Methodologische Systeme der Wirtschaftswissenschaft, Marburg. Cassel, D. (1987), Inflation und Inflationswirkung in sozialistischen Planwirtschaften, in: H.J. Thieme (Hg.), Geldtheorie. Entwicklung, Stand und systemvergleichende Anwendung, Baden-Baden, S. 263-294. Cassel, D. (2003), Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung: Funktionsbedingungen, Wirkungsweise und Gestaltungsbedarf, in: M. Arnold, J. Klauber und H. Schellschmidt (Hg.), Krankenhaus-Report 2002, Stuttgart und New York, S. 3-20. Dewatripont, M. und G. Roland (1992), The Virtues of Gradualism and Legitimacy in the Transition to a Market Economy, in: The Economic Journal, Vol. 102, S. 291-300. Dornbusch, R. (1991), Strategies and Priorities for Reform, in: P. Marer, und S. Zecchini (Hg.), The Transition to a Market Economy, Paris, S. 169-183. Ebsen, I. u. a. (2003), Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung, Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbands, Bonn. Erlei, M. und M Lehmann-Waffenschmidt (2002), Was lehrt die Evolutorische Ökonomik?, in: M. Erlei und M. Lehmann-Waffenschmidt (Hg.), Curriculum Evolutorische Ökonomik, Marburg, S. 255-276. Eucken, W. (1952/90), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. durchgesehene Aufl., Tübingen. Funke, N. (1993), Timing and Sequencing of Reforms: Competing Views and the Role of Credibility, in: Kyklos, Bd. 46/3, S. 337-362. Georgescu-Roegen, Ν. (1974), The Entropy Law and the Economic Process, Cambridge, Mass. Gowdy, J.M. (1992), The Bioethics of Hunting and Gathering Societies, in: Review of Social Economy, Vol. 2, S. 130-148.

Systemwandel in kleinen Schritten

145

Grabher, G. und D. Stark (1998), Organising Diversity: Evolutionary Theory, Network Analysis and post-socialism, in: J. Pickles und A. Smith (Hg.), Theorising Transition: The Political Economy of Post-Communist Transformation, London und New York, S. 54-75. Herder-Dorneich, P. (1996), Ideendynamik - Stagnation, Weiterentwicklung und Paradigmenwechsel in der Ordnungstheorie, in: D. Cassel (Hg.), Entstehung und Wettbewerb von Systemen, Berlin, S. 11-40. Herrmann-Pillath, C. (1991), Institutioneller Wandel, Macht und Inflation in China: Ordnungstheoretische Analysen zur Politischen Ökonomie eines Transformationsprozesses, Baden-Baden. Hirth, H. und A. Walter (2001), Rationales Herdenverhalten, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Nr. 1, S. 17-22. Hodgson, GM. (1999), Evolution and Institutions: On Evolutionary Economics and the Evolution of Economics, Cheltenham u. a. Hoen, H.W. (1995), Theoretically Underpinning the Transition in Eastern Europe: An Austrian View, in: Economic Systems, Bd. 19/1, S. 59-77. Homann, Κ. und A. Suchanek (2000), Ökonomik - Eine Einführung, Tübingen. Jacobs, K. (2004), Einzelverträge mit Anbietern integrierter Versorgung: Einstieg in den Abschied vom Kollektiwertragssystem?, in: Recht und Politik im Gesundheitswesen. Jacobs, K. und W.F. Schräder (2002), Wettbewerb als Motor der Integration?, in: M. Arnold, J. Klauber und H. Schellschmidt, Krankenhaus-Report 2002, Stuttgart, S. 96-103. Jasper, J. und T. Sundmacher (2003), Kooperation und Integration im Gesundheitswesen - Die Sicht der Kooperationsforschung, in: Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Tagungsband zur 11. Landesgesundheitskonferenz NRW, Düsseldorf. Kádár, Β. (1993), External Liberalization: Gradualism or Shock Approach?, in: H. Siebert (Hg.), Overcomming the Transformation Crisis: Lessons for the Successor States of the Soviet Union, Tübingen, S. 173-188. Koslowski, P. (1999) (Hg.), Sociobiology and Bioeconomics. The Theory of Evolution in Biological and Economic Theory, Berlin u. a. Krefi, M., S. Baur und R. Schmelzer (2002), Praxisnetze: Zeit für Professionalisierung, in: Deutsches Ärzteblatt/PraxisComputer, Nr. 11, S. 11-13. Leipold, H. (1999), Institutionenbildung in der Transformation, in: H.H. Höhmann (Hg.), Spontaner oder gestalteter Prozeß? Die Rolle des Staates in der Wirtschaftstransformation osteuropäischer Länder, Baden-Baden. Lipton, D. und J. Sachs (1990), Creating a Market Economy in Eastern Europe: The Case of Poland, in: Brookings Papers on Economic Activity, No. 1, S. 75-133. Lösch, D. (1992), Das "timing" als zentrales Problem der Systemtransformation: Überlegungen zur Klärung der Kontroverse um "Schocktherapie" versus „Gradualismus" beim Übergang zur Markwirtschaft, HWWA-Report, Nr. 99, Hamburg. Lösch, D. (1994), Ungarn - Musterfall für einen erfolgreichen gradualistischen Übergang zur Markt Wirtschaft?, in: C. Herrmann-Pillath u. a. (Hg.), Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Bd.3, Marktwirtschaft als Aufgabe - Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang vom Plan zum Markt, Stuttgart, S. 181-197. Müller, K. (1999), Sequenztheorien der postkommunistischen Transformation, in: Politik und Gesellschaft online, Nr. 1, http://www.fes.de/ipgl_99/artmueller.html (12.03.2004). Murreil, P. (1991), Can Neoclassical Economics Underpin the Reform of Centrally Planned Economies?, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 5, S. 59-76.

146

Torsten Sundmacher

Murrell, P. (1992), Evolution in Economics and in the Economic Reform of the Centrally Planned Economies, in: C. Claugue und C.C. Rausser (Hg.), The Emergence of Market Economies in Eastern Europe, Cambridge, Mass., S. 35-53. Murrell, P. (1992a), Evolutionary and Radical Approaches to Economic Reform, in: Economics of Planning, Vol. 25, S. 79-95. Murrell, P. (1995), The Transition According to Cambridge, Mass., in: Journal of Economic Literature, Vol. 33, S. 164-178. Nelson, R.R. (2002), Bringing Institutions into Evolutionary Growth Theory, in: Evolutionary Economics, Vol. 12, S. 17-28. Nelson, R.R. und S.G. Winter (1982), Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge, Mass., und London. North, O.C. (1992), Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen. North, D.C. (2000), Big-Bang Transformations of Economic Systems: An Introductory Note, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 156, S. 3-8. Nunnenkamp, P. und H. Schmieding (1991), Zur Konsistenz und Glaubwürdigkeit von Wirtschaftsreformen: Einige Erfahrungen und Lehren fur die Systemtransformation in Mittelund Osteuropa, Kieler Diskussionsbeiträge, Nr. 166, Kiel. Oberender, P.O. (1987), Öffentliche Regulierung und innovative Aktivität in der pharmazeutischen Industrie, in: G. Gäfgen (Hg.), Ökonomie des Gesundheitswesens, Berlin 1986, S. 357 ff. Oberender, P.O. und A. Fibelkorn (1997), Ein zukunftsfähiges deutsches Gesundheitswesen, Bayreuth. Oberender P.O., J. Hacker und G. Meder (2001), Krankenhauszentrierte Integrierte Versorgung, in: Krankenhaus Umschau, Nr. 7, S. 574-577. Oberender, P.O., J. Fleischmann und C. Reiß (2003), Gradualísimos vs. Schocktherapie oder lokale vs. globale Optimierung als relevante Alternativen der Transformationspolitik? Eine theoretische Analyse!, Wirtschaftswissenschaftliches Diskussionspapier Universität Bayreuth, Nr. 12-03, Bayreuth. Oberender, P.O. und J. Zerth (2004), Die ordnungsökonomischen Konsequenzen einer flächendeckenden Versorgung im liberalisierten Gesundheitswesen. Notwendigkeit einer Regulierung?, erscheint in dem von D. Cassel herausgegebenen Band zur Jahrestagung 2003 des Ausschusses für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik. Pisulla, P. (1993), Former CMEA-Countries in the International Monetary Found. Financial Support and Adjustment Programmes, HWWA-Diskussionspapier, Nr. 7, Hamburg. Roland, G. (1994), The Role of Political Constraints in Transition Strategies, in: Economics of Transition, Vol. 2/1, S. 27^1. Roland, G. (1997), Political Constraints and the Transition Experience, in: S. Zecchini (Hg.), Lessons from the Economic Transition: Central and Eastern Europe in the 1990s, Dordrecht u. a.,S. 169-187. Rosewitz, Β. und D. Webber (1990), Reformversuche und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen, Frankfurt am Main. Sachs, J. (1992), The Economic Transformation of Eastern Europe: the Case of Poland, in: Economics of Planning, Vol. 25, S. 5-19. Sachs, J. (1994), Understanding „Schock Therapy", London. Schempp, U. (1992), Gradualism oder Abruptness im Transformationsprozeß? Eine erste kurze Annäherung, Diskussionsbeiträge aus dem Institut fur Volkswirtschaftslehre, Nr. 70, Stuttgart. Schönbach, K.-H. (2003), Verbesserte Bedingungen für die Integrierte Versorgung, in: Die BKK, Nr. 12, S. 601-607.

Systemwandel in kleinen Schritten

147

Schüller, A. (1992), Ansätze einer Theorie der Transformation, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 43, S. 35-63. Schumpeter, J.A. (1912/1997), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 9.Aufl., Berlin. Streit, M.E. (1995), Ordnungsökonomik - Versuch einer Standortbestimmung, Diskussionsbeitrag 04/95 des Max-Plank-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, Jena Streit, M.E. (2001), Transformation von Wirtschaftsordnungen, in: M.E. Streit (Hg.), Jenaer Beiträge zur Institutionenökonomik und Wirtschaftspolitik, Baden-Baden, S. 227-229. Streit, M.E. und U. Mummert (1996), Grundprobleme der Systemtransformation aus institutionenökonomischer Perspektive, Diskussionsbeitrag 09/96 des Max-Plank-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, Jena. Sundmacher, T. (2001), Natürliche Umwelt und ökonomische Theorie, in: T. Sundmacher und J. Jasper, Ökologische Kompatibilität und technologischer Wandel, Frankfurt am Main, S. 11-67. Sachverständigenratfìir die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) (2003) (Hg.), Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität, Bonn. Tophoven, C. und M. Siebolds (2000), Integrationsversorgung: Zukunftsperspektiven im Wettbewerb, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 47, A 3157-3162. Tversky, A. und D. Kahneman (1986), Rational Choice and the Framing of Decisions, in: Journal of Business, Vol. 59, S. 251-278. Ullrich, S. (2002), Ordnungspolitische, vertragliche und wettbewerbsrechtliche Aspekte neuer autonomer Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen, Göttingen. Wagener, H.-J. (1996), Transformation als historisches Phänomen, FIT Arbeitsberichte - Discussion Papers, Nr. 7/96, Frankfurt/Oder. Wagner, H. (1991), Einige Theorien des Systemwandels im Vergleich, in: J. Backhaus (Hg.), Systemwandel und Reform in östlichen Wirtschaften, Marburg, S. 17-39. Wambach, A. (2003), Elemente einer Basisversicherung, in: E. Wille (Hg.), Rationierung im Gesundheitswesen und ihre Alternativen, Baden-Baden, S. 21-40. Weber, R. (1999), Ordnungstheorie und Systemtransformation, in: P. Engelhard und H. Geue (Hg.), Theorie der Ordnungen - Lehren für das 21. Jahrhundert, Stuttgart, S. 165-197. Wessen, A.F. (1999), Structural Differences and Health Care Reform, in: Α.F. Wessen und F. de J. Powell (Hg.), Health Care Systems in Transition, London, S. 369-391. Wiesenthal, H. (2001), Einleitung: Systemtransformation als Theorientest, in: H. Wiesenthal (Hg.), Gelegenheit und Entscheidung: Policies und Politics erfolgreicher Transformationssteuerung, Wiesbaden, S. 9-31. Williamson, J. (1996), Lowest Common Denominator or Neoliberal Manifesto? The Polemics of Washington Consensus, in: Challenging the Orthodoxies, Basingstoke, S. 13-22. Witt, U. (1990), Warum evolutorische Ökonomik?, in: U. Witt (Hg.), Studien zur Evolutorischen Ökonomik I, Berlin, S. 9-17. Witt, U. (1997), Evolutorische Ökonomik - Umrisse eines neuen Forschungsprogramms, in: E.K. Seifert und B. Priddat (Hg.), Neuorientierungen in der ökonomischen Theorie. Zur moralischen, institutionellen und evolutorischen Dimension des Wirtschaftens, 2. Aufl., Marburg, S. 153-180.

Korreferat zum Referat von Torsten Sundmacher Systemwandel in kleinen Schritten? Das Beispiel der Integrierten Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung - Die Sicht der AOK Hessen -

Wilfried Boroch

Systemwandel ist in der Diskussion um die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) immer wieder ein zentrales Thema: Keine Gesundheitsreform, die nicht den Wandel von Strukturen beansprucht oder zumindest in Aussicht stellt - keine politische Forderung, die ohne einen Hinweis auf starre Strukturen durch mächtige Lobbyisten auskäme. Einen solchen Zweig des Sozialstaates und der Volkswirtschaft - mithin der größte, gemessen am Bruttoinlandsprodukt - zu reformieren, ist daher ein Kraftakt und Drahtseilakt zugleich. Politiker und Entscheidungsträger aller Couleur haben sich hieran die Zähne ausgebissen - mit den verschiedensten Ansätzen, wie Strukturen graduell - und somit meist in sehr kleinen Schritten - oder revolutionär - gewissermaßen als ,big bang' - zu ändern seien. Dabei wurde häufig Großes gewollt und allenfalls Mittelmäßiges erreicht. Gerade deshalb sind die Betrachtungen von Torsten Sundmacher zur Transformation von Systemen grundsätzlich auch auf dem gesetzlich stark reglementierten Bereich der Krankenversicherung anzuwenden.

1. GMG setzt zusätzliche Impulse zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen Wichtige Impulse sollte das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG)" liefern. Zum 01.01.2004 sind wesentliche Neuregelungen im Bereich der GKV in Kraft getreten, die unter anderem die Versorgungsstrukturen moderner gestalten und die Sektorengrenzen - zumindest teilweise - überwinden sollen. Ansätze hierzu sind - die Zulassung des Arzneimittel-Versandhandels, - die teilweise Öffnung der Krankenhäuser für hochspezialisierte ambulante Behandlungen, - die Stärkung der hausärztlichen Versorgung, - die Teilnahme medizinischer Versorgungszentren an der ambulanten Versorgung und - die besondere Förderung der Integrierten Versorgung. Mit diesen Regelungen hat sich der Gesetzgeber entschieden, den Weg der Modernisierung der Versorgungsstrukturen in kleinen Schritten zurückzulegen und hat einer eher graduellen Transformation den Vorzug gegeben. Wenngleich sich die gesetzlichen

150

Wilfried Boroch

Krankenkassen mehr vertragliche Gestaltungsspielräume gewünscht hätten, hatten Radikalvorschläge - wie ζ. B. die vollständige Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) - nach wissenschaftlicher Prüfung (vgl. Ebsen, Greß, Jacobs, Szecsenyi und Wasem 2003) letztlich keine Chance auf eine Umsetzung. Hierdurch wären die Versorgungssituation und -qualität emsthaft gefährdet gewesen. So erscheint der eingeschlagene Weg der Reformen grundsätzlich als konsens- und umsetzungsfahig für alle Beteiligten. Die Integrierte Gesundheitsversorgung (IGV) sollte und soll wesentliche Impulse zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen liefern. Die Vernetzung und letztlich die Überwindung von Sektorengrenzen der Versorgungslandschaft stehen hierbei im Fokus. Hierfür gibt es wichtige Gründe: Auf jeden Euro, der für ambulante ärztliche Behandlung von den Krankenkassen aufzuwenden ist, folgen weitere drei bis vier Euro für veranlasste Leistungen wie Krankenhauseinweisungen, Verordnungen von Arznei-, Heilund Hilfsmitteln usw. Ein weiteres strukturelles Problem in diesem Zusammenhang stellt die .doppelte Facharztstruktur' in Deutschland dar - niedergelassene Fachärzte im ambulanten Bereich und entsprechende Krankenhausvorhaltungen. Für direkte und veranlasste Leistungen stehen jeweils unterschiedliche gesetzliche Regularien zur Kostensteuerung zur Verfugung, ζ. B. Ausgabevolumina, Richtgrößen, Festbeträge, Genehmigungs- und Zulassungsverfahren usw. Mit der Integrierten Versorgung wird hingegen ein stärker marktorientierter Ansatz zur Ausgaben- und Qualitätssteuerung verfolgt: Ziel ist die (zumindest partielle) Zusammenführung von medizinischer und ökonomischer Verantwortung bei den Leistungserbringern. So gesehen ist die Integrierte Versorgung ein elementarer Hebel, um aus ökonomischer Sicht allokativ effiziente Prozesse im Gesundheitswesen zu befördern.

2. IGV im Recht der GKV Integrierte Versorgung ist in den vergangenen Jahren zu einem Schlagwort und Modebegriff geworden, der geradezu inflationär für eine Vielzahl von Kooperationsund Koordinationsformen gebraucht wurde. Kaum ein Arztnetz - so lose es auch geknüpft war - das nicht den Anspruch der Integration an seine Arbeit erhob. Bei allen Diskussionen um Integrierte Versorgung ist daher zunächst eine klare Begriffsdefinition erforderlich. Im Wortlaut des Sozialgesetzbuches ist die Integrierte Versorgung eine klar abgegrenzte Vertragsform: „Abweichend von den übrigen Regelungen dieses Kapitels können die Krankenkassen Verträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung mit den in § 140b Abs. 1 genannten Vertragspartnern abschließen."1 Entsprechend muss man IGV im engeren und im weiteren Sinne definieren: Integrierte Versorgung im engeren Sinne ist zwingend an eine Vertragsgrundlage nach SGB V gebunden und dient entweder der Sektoren- oder der fachübergreifenden Versorgung. An dieser Stelle soll ausschließlich Integrierte Versorgung in diesem Sinne betrachtet werden. Daneben existieren zusätzliche Optionen, um ergänzend zu dem klassischen Ge-

'

§ 140 a Abs. 1 SGB V.

Korreferat zu Systemwandel in kleinen Schritten

151

samtvertrag (§ 83 SGB V) die Versorgung der Versicherten zu gestalten. Zu nennen sind hierbei insbesondere -

Strukturverträge (§ 73a SGB V),

- Modellvorhaben der Krankenkassen (§ 63 ff SGB V) und - DMP-Verträge (§ 137g SGB V). Im Recht der GKV gibt es den besonderen Vertragstyp der Integrierten Versorgung seit der Gesundheitsreform 2000. Eine wesentliche Neuerung zum klassischen Vertragsrecht war die Möglichkeit für die Krankenkassen, direkt und einzeln als Vertragspartner auftreten zu können, ohne den klassischen Umweg über die Landesverbände, denen ansonsten die Vertragsangelegenheiten „einheitlich und gemeinsam" obliegen (u. a. § 84 Abs. 1 SGB V, § 108 in Verb, mit § 109 Abs. 1 SGB V). Doch in den ersten Jahren gelang der Integrierten Versorgung - trotz vermeintlicher Popularität und politischem Konsens über deren Notwendigkeit - nicht der erhoffte Durchbruch. Integrierte Versorgung war Top-Thema akademischer Debatten auf Fachkongressen, aber in der Praxis haben eine komplizierte Bereinigung der Gesamtvergütung, eine lange Zeit fehlende Rahmenvereinbarung auf der Spitzenverbandsebene und die insgesamt angespannte Finanzsituation der Krankenkassen die neuen gesetzlichen Möglichkeiten faktisch ausgesetzt. Daneben spielten aber auch die wirtschaftlichen Interessen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und der Vertragsärzte eine gewichtige Rolle. So war eine stärkere Bindung der Vertragsärzte an die KV zu beobachten, als dies in der politischen Öffentlichkeit angenommen wurde. Letztlich hatte die KV über die notwendige Bereinigung der Gesamtvergütung den Hebel in der Hand, die Integrierte Versorgung zu fördern oder zu behindern. Zu beobachten war eher Letzteres. Denn wären neben der KV parallele Vertrags- und Abrechnungsstrukturen entstanden, hätte dies die Verhandlungsmacht der KV weiter in Frage gestellt - eine seinerzeit heiß diskutierte Frage in der Gesundheitspolitik. Entsprechend schleppend kamen die Projekte zur Integrierten Versorgung in Bewegung. Bis Ende 2002 konnte lediglich zwischen der KV Trier und der AOK ein Vertrag über die onkologische Versorgung getroffen werden. Das GMG knüpft an diese ernüchternden Erfahrungen an: Der Rechtsrahmen wurde auf § 140 a-d SGB V verschlankt, und als Motor für die flächendeckende Umsetzung von Maßnahmen der integrierten Versorgung wurde eine Anschubfinanzierung vorgesehen: „Zur Förderung der Integrierten Versorgung hat jede Krankenkasse in den Jahren 2004 bis 2006 jeweils Mittel bis zu 1 % von der nach § 85 Abs. 2 an die Kassenärztliche Vereinigung zu entrichtende Gesamtvergütung sowie von den Rechnungen der einzelnen Krankenhäuser für voll- und teilstationäre Versorgung einzubehalten, soweit die einbehaltenen Mittel zur Umsetzung von nach § 140 b geschlossenen Verträgen erforderlich sind." (§ 140 d SGB V). Welche Möglichkeiten werden mit dieser Anschubfinanzierung eröffnet? In der Gesetzlichen Krankenversicherung kann ein Finanzvolumen von etwa 680 Mio. € für Maßnahmen der Integrierten Versorgung in Anspruch genommen werden, davon entfallen 460 Mio. € auf den stationären Bereich und 220 Mio. € auf die Vergütungen im ambulanten Bereich. Bezogen auf die AOK Hessen stehen rechnerisch rund 17 € je Mit-

152

Wilfried Boroch

glied (ohne Familienversicherte) zur Verfügung (Ergebnisse der Jahresrechnung 2003: ärztliche Behandlung: 524,26 €/Mitglied, Krankenhausbehandlung: 1155,67 €/Mitglied). 3. IGV - aktueller Sachstand der Krankenkassen Wie füllen die Krankenkassen und deren potenzielle Vertragspartner die veränderten Rahmenbedingungen im Jahr 2004 aus? Zur Klarstellung: Zunächst setzte mit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes eine Flut von Anfragen der Vertragspartner an die Krankenkassen ein, ob und gegebenenfalls welche Projekte zur Integrierten Versorgung geplant seien. Die AOK Hessen hat umgekehrt ihrerseits die (potenziellen) Vertragspartner aufgefordert, konkrete Projektvorschläge einzureichen.2 Diese Entwürfe werden nach einem Filter ausgewertet, in dem die Kriterien Qualität, Wirtschaftlichkeit und Innovation im Mittelpunkt stehen. Folgende Leitfragen sind dabei zu beantworten: - Entspricht der Vorschlag allen formalen Anforderungen (rechtskonform)? - Ist der Vorschlag für die grundsätzliche strategische Ausrichtung der AOK passend? - Sind die vorgeschlagenen Maßnahmen in ein Qualitätsmanagement-Konzept eingebunden? - Sind verlässliche Prognosen über Einsparvolumina durch Effizienz- und Qualitätssteigerung möglich? - Ist eine langfristige Finanzplanung des Projektes vorhanden (mindestens über drei Jahre)? - Wie sind die medizinischen Inhalte zu bewerten? - Zeichnen sich die vorgeschlagenen Projekte durch ein hohes Maß an Patientenorientierung aus? Können diese grundsätzlichen Fragestellungen positiv beantwortet werden, tritt die AOK Hessen in konkrete Gespräche mit den potenziellen Vertragspartnern ein. Dabei ist die Frage der Amortisation von zentraler Bedeutung: In welcher Zeit kann der Breakeven-Point erreicht werden? Gelingt dies in der Zeit der Anschubfinanzierung von drei Jahren? Oftmals ist dies schätzungsweise frühestens nach vier bis fünf Jahren zu erwarten, was angesichts der extrem angespannten Finanzlage der GKV bei der langfristigen Vertragsgestaltung problematisch sein dürfte. Leider haben die Krankenkassen feststellen müssen, dass viele Vorschläge der ersten Monate die genannten Bedingungen nur unzureichend oder teilweise überhaupt nicht erfüllen. Hierbei hat sich unvermeidlich der Eindruck ergeben, dass bei den Leistungserbringern ein , Wettlauf um die 1 %-Vergütung stattfindet. Die Sieger dieses Wettlaufs werden allerdings nicht durch Schnelligkeit, sondern durch qualitative Ergebnisse ermittelt. Nach den ersten Monaten haben sich die Krankenhäuser als ,Zwischensieger' herausgestellt: Bereits im ersten Quartal 2004 konnten zahlreiche Krankenkassen Verträge mit Krankenhäusern schließen. Eine umfassende Bestandsaufnahme ist zum Zeit-

2

Vgl. www.aok-vertragspartner.de.

Korreferat zu Systemwandel in kleinen Schritten

153

punkt der Bearbeitung dieser Publikation 3 nicht möglich, da viele Verhandlungen laufen und noch ergebnisoffen sind. Für die aktuelle Umsetzung liefern jedoch die Spitzenverbände der Krankenkassen und die neu gegründete Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung (DGIV) 4 aktuelle Informationen.

4. IGV - ein Beitrag zum Systemwandel? Abschließend sind die Fragen zu stellen: Ob und inwieweit liefert die Integrierte Versorgung einen Beitrag zu einer Transformation der GKV? und: Wie sieht dieser Wandel aus? Zunächst einmal kann man im Hinblick auf die grundsätzlichen Möglichkeiten der Integrierten Versorgung einen Systemwandel erwarten. So kann die ökonomische Verantwortung direkt mit der Behandlungsverantwortung einhergehen, von den starren Vergütungsregelungen der einzelnen Sektoren kann abgewichen werden und der Sicherstellungsauftrag der KV kann - zumindest partiell - eingeschränkt werden. 5 Allerdings sind den Möglichkeiten auch enge Grenzen gesetzt: Die IGV-Verträge können nur mit zugelassenen Leistungserbringern geschlossen werden. Insoweit sind die Kontrahierungsoptionen weiterhin beschränkt und indirekt bleibt die Hoheit der KV über das Zulassungswesen erhalten. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein weiterer Mittelentzug für die Regelversorgung droht, die sich in den vergangenen Jahren aufgrund der Koppelung an die Grundlohnsummenentwicklung 6 mit äußerst schwachen Zuwachsraten begnügen musste. Sundmacher betont, dass das Zeitfenster für Handlungen im Gesundheitswesen weit länger, dafür aber weniger weit offen sei als in anderen Systemen. Für die Integrierte Versorgung trifft dies nur beschränkt zu, da durch die Befristung der Anschubfinanzierung auf drei Jahre ein erheblicher zeitlicher Umsetzungsdruck geschaffen wurde. 2007 wird die Anschubfinanzierung beendet sein. Dann wird die Praxis zeigen, ob die Integrierte Versorgung eine gleichberechtigte Teilhabe neben den klassischen Vertragsformen und -partnern gefunden hat. Danach ist das Fenster geschlossen. Systemwandel durch IGV ist somit bereits durch die Ausgestaltung des Gesetzes als ein singuläres Ereignis bestimmt - einem laut Sundmacher ebenfalls typischen Merkmal von Transformationen. Es bleibt abzuwarten, ob die Versorgungsstrukturen der GKV durch die Reform 2004 grundlegend verändert werden können. Bei der angespannten Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen aufgrund der gedämpften konjunkturellen Entwicklung und der hierdurch anhaltend hohen Arbeitslosigkeit besteht aus heutiger Sicht allenfalls ein langfristiger Optimismus. Zu hoffen ist hierbei insbesondere auf die Zeit ab dem Jahr 2007, wenn der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich den Krankenkassen eine finanzielle Ausgestaltung der Versorgung an den tatsächlichen Gegebenheiten ihrer Versichertengemeinschaft ermöglichen wird. Insoweit ist die zeitgerechte und vollständige Umsetzung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs nicht nur ein un3 4

Mai 2004. www.dgiv.de.

5

Die Frage, ob und inwieweit der Sicherstellungsauftrag überhaupt teilbar ist, ist wissenschaftlich noch nicht abschließend beantwortet.

6

Vgl. §71 A b s . 2 S G B V .

154

Wilfried Boroch

verzichtbares Instrument im Wettbewerb auf der Marktseite, sondern auch ein nicht zu unterschätzender Impuls für die Leistungs- und Versorgungsgestaltung. Vielleicht gelingt dabei das bisher Unmögliche und mit der Integrierten Versorgung entsteht eine neue Regelversorgung. Dies könnte die Ausprägung eines kassenspezifischen Versorgungswettbewerbs werden, der an die Stelle des heutigen Preiswettbewerbs tritt und damit der Rosinenpickerei und Schnäppchenjagd in der GKV ein Ende bereitet. Literatur Ebsen, J., S. Greß, K. Jacobs, J. Szecsenyi und J. Wasem (2003), Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung, Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes, Bonn.

Thomas Apolle, Rolf Caspers und Paul J.J. Weifens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Das Kyoto-Protokoll - Emissionshandel als Problem internationaler Wirtschaftspolitik

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

Inhalt 1. Die Problemstellung und die Konsequenzen

156

2. Die Ziel-Mittel-Diskussion im Falle der Präventionsstrategie

159

3. Ein Plädoyer fur die Mengenstrategie: die Zertifikatelösung, der Emissionshandel 4. Der Stand der praktischen Umsetzung

161 163

5. Die zeitliche Dimension des Problems: die Zertifikatelösung zwischen Erwartungsstabilität und Anpassungsflexibilität

168

6. Fazit und Plädoyer

169

Literatur

170

156

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

1. Die Problemstellung und die Konsequenzen Als ein genereller, zeitloser Grund für eine Intervention in marktliche Prozesse gilt das Allokationsproblem bei öffentlichen Gütern. Fasst man den Treibhauseffekt als unzureichende Bereitstellung des Gutes .Qualität der Atmosphäre' auf, so liegt hier wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf par excellence vor. Der Staat - oder besser: die Staatengemeinschaft - muss hier als Akteur auf den Plan treten. Die Besonderheiten des in Rede stehenden Problems verhindern eine marktendogene Lösung mit einer inhärent umweltfreundlichen Entwicklung. Wie kann aber eine als notwendig angesehene Intervention so effizient wie möglich gestaltet werden? Im vorliegenden Beitrag soll dafür plädiert werden, dass der Staat ,nur' die Verfügungsrechte verteilen (Erstallokation) und ansonsten den Handlungs- und Ordnungsrahmen so generös und marktwirtschaftlich wie möglich aufspannen sollte. Es bedarf der Staatengemeinschaft als Akteur; dabei tauchen aber spezifische Probleme auf: 1. Das ordnungsökonomische Problem liegt darin, dass kein Anreiz besteht, freiwillig und unter Ignorieren der anderen Staaten zur Erstellung des Kollektivgutes .Qualität der Atmosphäre' beizutragen. Umgekehrt: Die globale Wirkung der durch lokale Produktion verursachten Emission geht nicht in das Kalkül der einzelnen Unternehmungen oder der einzelnen Staaten ein. Zwar könnte ein Staat im Alleingang aktiv werden; allerdings wäre der positive ,spill over' so hoch, dass ein solches Vorpreschen keinen nennenswerten, im Lande verbleibenden Wohlfahrtsgewinn hervorrufen würde.1 Der Hobbes'schs .status naturalis' auf internationaler Ebene wird damit nicht durch Zwang, sondern bestenfalls durch Kooperation souveräner Staaten überwunden. Innerhalb eines Staates kann der Gesetzgeber Klimaschutzmaßnahmen per Gesetz und Rechtsverordnung vorschreiben. In der Staatenwelt fehlt aber die erzwingende, supranationale Instanz: Das Kyoto-Protokoll muss erst noch ratifiziert werden, um im Klimaschutz voranzukommen. Da sich nicht alle Staaten hieran beteiligen, bleibt das Freifahrerproblem virulent. Unter Anwendung der Spieltheorie wurde versucht, verfeinerte, über diesen alten Befund hinausgehende Konstruktionen zu schaffen, die zur Überwindung der Freifahrerproblematik beitragen können. So kann die Verbindung zweier unterschiedlicher Verträge zur Teilnahme an einer Klimaschutzkoalition animieren (.issue linking' 2 ). Denkbar ist auch die Bereitstellung eines Clubgutes, welches ebenfalls nur für Staaten innerhalb der KlimaschutzKoalition Nutzen stiftet. Nichtsdestotrotz bleibt die .grand coalition' unter .First best'-Gesichtspunkten die pareto-optimale Teilnehmerkonstellation: Es müssen alle Akteure, die realistischerweise noch recht heterogene Kosten der Emissionsvermei1

2

Ein Hegemon mit einer hohen Klimaschutzpräferenz könnte theoretisch eine Koalition ebenfalls emissionsreduzierender Staaten herbeiführen, würde jedoch auch hier einen großen ,spill over' der Erträge seiner Klimaschutzbemühungen miterleben. .Issue linking' spielte unseres Erachtens beim Zustandekommen des Kyoto-Protokolls eine eher untergeordnete Rolle: Zwar kann es mit der Entwicklungshilfe (Technologietransfer zur Emissionsvermeidung) verknüpft werden. Relevanter dürfte aber der politische Wille in Bezug auf einen forcierten Klimaschutz vor allem in der Europäischen Union gewesen sein.

Das Kyoto-Protokoll

157

dung aufweisen und damit einhergehend die Wirkungsweise des Emissionshandels gerade befördern, an der Bereitstellung des Kollektivgutes beteiligt sein. Es kann zwar gezeigt werden, dass eine Koalition mit weniger als der maximalen Teilnehmerzahl eine höhere Emissionsmenge als die .grand coalition' vermeiden kann. Als Gründe hierfür wären ein sehr spezifisches .second best setting' und geringe Freifahreranreize in der kleinen Gruppe zu nennen: Eine kleine Klimaschutzkoalition könnte dann erfolgreicher als die größtmögliche Klimaschutzkoalition mit vollends verwässerten 3 Mengenzielen sein. Die Ansprüche der Mengenzielerreichung, Kostenminimierung und größtmöglichen Teilnehmerzahl können dann aber konfligieren (Aldy u. a. 2003). Der Anreiz zum Trittbrettfahren bzw. zur Ausbeutung intrinsisch motivierter Clubmitglieder bleibt; der Klimaschutzvertrag wird instabil. Insofern erscheint der Versuch, mehrere und mitunter rivalisierende Klimaschutzkoalitionen als eine reale Option zu beschreiben, etwas gewagt. Dies versuchen Buchner und Carraro (2003), indem sie mehrere, simultan existierende Emissionshandelssysteme konstruieren. Dahinter steht die Vermutung, dass mehrere, kleine Klimaschutzkoalitionen eher zum Beitritt anreizen sowie das interne Freifahrerproblem überwinden können und damit stabil und effektiv werden. Es zeigt sich aber in diesem Anwendungsfall, dass unterschiedliche Zertifikatepreise (beispielsweise im Handelsverbund Japan-China und Russland-EU) dazu anreizen, aufgrund des Wettbewerbsdrucks die Mengenziele innerhalb der jeweiligen Handelssysteme peu á peu aufzuweichen - insbesondere dann, wenn der jeweils separate Markt aufrechterhalten werden soll. Billigere Zertifikate anderswo zeigen an, dass dort ein relativ geringer Druck seitens der Nachfrage herrscht. Insofern werden potenzielle Zertifikatenachfrager diese dort erwerben wollen, wo sie relativ günstig zu haben sind. Dies kann aber zu entschärften Mengenzielen über alle Emissionshandelssysteme hinweg fuhren. In Abwandlung des üblichen Arbitragekalküls kann hier ein Unterbietungswettbewerb der Staaten einsetzen. Reziprok gilt: Je stärker eine kleine Staatengruppe vorprescht und hierdurch (CC>2-intensive) Produktion in andere Staaten vertreibt (,carbon leakage'), desto geringer werden die Chancen, dass andere Staaten dieser Klimaschutzkoalition später beitreten. Die Vorleistungen hätten damit gerade kontraproduktiv gewirkt, als dass die potenziellen Nachzügler keinen Anreiz haben, ihre nunmehr kohlenstoffintensive Industrie mit Emissionsreduktionsauflagen zu belasten. Die (wirtschafts-)politischen Fehlanreize sind evident. .Kyoto* als der Versuch, möglichst alle Staaten in eine Klimaschutzpolitik einzubinden, bleibt daher altemativlos, was zumindest in den inoffiziellen Ministerrunden in Mailand (siehe unten) bekräftigt wurde. 2. Die Interdependenz der Güter- und Faktormärkte tritt bei nicht abgestimmten Klimaschutzpolitiken deutlich zu Tage. Insbesondere fUr den Fall, dass einige Staaten einen ambitionierten Klimaschutz verfolgen (EU), während andere Staaten aus Furcht vor Wachstumseinbußen und Wettbewerbsnachteilen zurückhaltender sind (USA). Letzteres wird auch unter dem Aspekt des ,carbon leakage' verhandelt: Die Verlagerung emissionsintensiver Produktionsstätten in Staaten mit geringen oder überhaupt keinen Emissionsminderungsvorgaben kann rentabel sein. 3

Dadurch sollen möglichst alle Staaten zur Teilnahme animiert werden. Der Vertrag entbehrt aber damit in der Folge seiner Substanz.

158

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

3. Die in situ verbleibenden, fossilen Brennstoffe dürfen nicht vergessen werden. Tendenziell würden die Importeure energetischer Rohstoffe ihre Nachfrage drosseln (müssen), weil sie sich einem bestimmten Emissionsreduktionsziel unterwerfen müssen. Sähen sich die Ressourceneigner bei einem derartigen, umweltpolitisch bedingten Nachfragerückgang nicht genötigt, ihre Angebotspreise zu senken, so dass letztendlich aus dem Mehrverbrauch heraus sogar eine Emissionszunahme resultierte? Diese Form der Rentensicherung zeigt sich im Verhandlungsprozess um das KyotoProtokoll: Die OPEC-Staaten verlangen eine Kompensation für entgehende Verkaufserlöse, falls ,Kyoto' funktioniert. Sind diese Ressourceneigner Teil einer Klimaschutz-Koalition, fuhrt dies ceteris paribus zu einem Preisauftrieb bei der Mengenlösung; sind sie es nicht, werden die Emissionsreduktionsbemühungen der Teilnehmerstaaten im Grenzfall gleichsam verpuffen. Der klimawissenschaftliche Hintergrund ist folgender: Die Klimawirkung der Immissionen ist von Bedeutung. Insofern sind die akkumulierten Bestände an Treibhausgasen der Anknüpfungspunkt. Es handelt sich bei den Immissionen der Treibhausgase um ein ,Stock-pollutant'-Problem, wobei also die jährlichen Emissionen weniger von Belang sind. Vielmehr steht die Dauerhaftigkeit der Belastung im Vordergrund. Es existieren kritische Belastungsschwellen, wenn auch die naturwissenschaftliche Expertise hierüber und über die allgemeinen Wirkungsabläufe in der Atmosphäre nach wie vor recht unsicher ist.4 Allein die IPCC („Intergovernmental Panel on Climate Change") arbeitet mit über 40 mehr oder weniger wahrscheinlichen Szenarien, die sich vor allem in ihren Annahmen bezüglich der regionalen Wirtschaftswachstumstrends unterscheiden. Damit bleibt das Mengenproblem, d. h. die Bestimmung der .richtigen' Reduktionsauflage und damit zugleich der .richtigen' Anzahl an Zertifikaten. Um dem Problem, die angemessene Vermeidungsmenge unter Unsicherheit zu finden, zu entgehen, hat Weitzman (1974) die Steuerlösung auf das Tableau gebracht.5 Der Wohlfahrtsverlust ist bei der Steuerlösung geringer als bei der Zertifikatelösung, wenn die wahren Vermeidungskosten ex post höher ausfallen sollten. Dies gilt für den Fall, dass die Grenzschadenskurve flach und die Grenzvermeidungskostenkurve steil verläuft. Es lassen sich aber Konstellationen ausmachen, die zur Wahl der Mengenlösung fuhren sollten. Folgende Parametereinstellungen wären dabei vonnöten (Hoel und Karp 2001): eine steile Grenzschadenskurve, eine flache Grenzvermeidungskostenkurve, niedrige Abbauraten des Gefahrstoffes, hohe Diskontierungsraten6 oder eine absolut große Immissionsmenge. Hier bedarf es dann der exakten Steuerung der Mengen. Auch ein starkes Vorsichtskalkül spricht für die Mengenlösung. 4

5

6

Ähnlich fallibel ist auch noch das Wissen um die Speicherbarkeit von C0 2 in natürlichen Senken (Sequestration). Hierauf soll nicht weiter eingegangen werden. Hoel und Karp (2001) verwenden das Modell eines Immissionsproblems mit asymmetrisch verteiltem Vermeidungswissen und multiplikativer Unsicherheit. Letzteres bedeutet, dass sich .Fehler' der Vergangenheit auch auf die Immissionen der Zukunft auswirken können. Damit ist sozusagen nicht nur der Achsenabschnitt, sondern vor allem auch die Steigung der Schadenskurve unbekannt. Ein hoher Diskontfaktor verstärke die Wirkung jetziger Emissionen in Bezug auf zukünftige Schäden. Generell bleibt die Wahl der .richtigen' Diskontrate für Umweltschutzprojekte abseits eines gegebenen Marktzinses eine große Herausforderung.

Das Kyoto-Protokoll

159

Aufgrund dieser wackeligen Expertise haben Ökonomen nunmehr eine Wahl zu treffen: Prävention (mit einer Deckelung der Treibhausgasemissionen 7 ) oder Adaption (mit einer Abwehrreaktion auf etwaige Klimaschäden). Auch wenn die präventive Intervention vorerst noch als die bessere Alternative eingestuft und daher hier primär behandelt wird, soll der Vollständigkeit halber aber auch eine zweite Option angesprochen werden: die Adaptionsstrategie. Geht man nämlich davon aus, dass aus dem Treibhauseffekt kein präventiver Handlungsbedarf resultiert, so dass also (gemeinsame) Emissionsvermeidungsbemühungen entfallen, müsste man sich ,nur' an etwaige Klimaschäden anpassen. Diese Adaption wäre auch auf nationaler Ebene leichter als die Präventionsstrategie, deren Erfolge nicht unmittelbar ersichtlich sind, durchzusetzen. Maßnahmen zur Schadensabwehr wie beispielsweise der Bau von Deichen würden keinen positiven ,spill over' im globalen Zusammenhang erzeugen und damit (zunächst) keine Tragödie der Allmende hervorrufen. Eine Abstimmung der Umweltpolitik innerhalb der Staatengemeinschaft wäre weitestgehend überflüssig. Darüber hinaus wäre man nicht gezwungen, aufgrund einer forcierten Klimaschutzpolitik Wachstumseinbußen hinzunehmen: Die Emissionen könnten unrestringiert zunehmen (.business as usual'), und der externe Effekt bliebe bestehen, was jedoch die national separaten Adaptionskosten erhöhen könnte. Und hierbei sind Kosten und Regulierungserfordernisse klimabedingter Migration 8 noch gar nicht erfasst. Die Adaptionsstrategie hat Nordhaus (1991) für die USA simuliert und versucht, die Kosten und Erträge in monetären Größen auszudrücken. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass eine Politik des Nichtstuns für die USA eine Netto-Kostenbelastung in Höhe von (nur) 0,25 % des BIP verursachen würde (Nordhaus 1991, S. 932 f.).9 Freilich geht er dabei von einer moderaten und keinesfalls schockartigen Erhöhung der Temperatur der Atmosphäre aus. Damit greift auch kein starkes Vorsichtsmotiv, wie es etwa dem Kyoto-Protokoll zugrunde liegt. 2. Die Ziel-Mittel-Diskussion im Falle der Präventionsstrategie Die naturwissenschaftliche Expertise führt eher zur Präventionsstrategie und damit zum Ziel einer globalen Emissionsminderung: Eine Verteuerung der Umweltnutzung - hier der fossilen Energieträger - ist nämlich allein schon aus Vorsichtsgründen angezeigt, um die Emissionen zu reduzieren, zumindest jedoch um deren Zunahme zu begrenzen. Dass nämlich die Treibhausgasemissionen ohne jegliche Klimaschutzpolitik (.business as usual') steigen werden, wird nicht ernsthaft bestritten. Um eine Hausnummer zu nennen: Shell Deutschland (2003, S. 7) erwartet, dass sich der weltweite 7

8

'

Hierbei geht es hauptsächlich um C02-Emissionen, die den Großteil der Treibhausgasemissionen ausmachen. Freilich können sich Vermeidungsbemühungen auch auf die fünf anderen relevanten Treibhausgase beziehen. Der Vollständigkeit halber soll nicht unterschlagen werden, dass die Bewältigung (klimabedingter) Migration auch Züge der Kollektivgutproblematik trägt. Weil ihm dieser Wert anscheinend selbst zu gering vorkommt, hängt er die Prognose an, dass der Gesamteffekt einer emissionsbedingten Erhöhung der Temperatur um 3°C wohl kaum über 2 % des BIP an Schadensumme ausmachen würde.

160

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

Primärenergieverbrauch bis 2050 mehr als verdoppeln wird. Ursächlich hierfür ist unter anderem der Aufholprozess jener noch kaum entwickelten Volkswirtschaften insbesondere in Asien. Die klimatische Auswirkung veränderter Treibhausgaskonzentrationen kann nach wie vor nicht eindeutig beschrieben werden. Damit verbietet sich eine Haltung des ,wait and see' oder erscheint wenigstens als sehr risikofreudig.10 Deshalb wird im Folgenden eine Eingriffsnotwendigkeit unterstellt. Die Zielebenen dürfen nicht vernachlässigt werden. Dies wird hier kursorisch bearbeitet und im 4. Kapitel vertieft. Einzelne Staaten kommen als Akteure nicht in Frage. Die Beteiligung aller Staaten wäre wünschenswert, scheidet aber aufgrund des Problemcharakters (öffentliches Gut) aus. Der Bereich dazwischen reicht von Staatenverbünden wie der EU, die vorhat, auch jenseits von Kyoto den Klimaschutz zu forcieren, bis hin zur Gruppe der Kyoto-Staaten als der größten, existierenden Klimaschutzkoalition. Die Probleme werden abermals ersichtlich: Es fehlt der supranationale Gesetzgeber, während die freiwilligen Leistungsbeiträge einzelner oder weniger Staaten nahezu irrelevant sind. Schlimmer noch: Die Abwesenheit großer Emittenten wie der USA konterkariert die Zielbestrebungen der .willigen' Staaten und fügt diesen auch noch Wettbewerbsnachteile zu. .Kyoto' erlaubt die innerstaatliche Mittelfreiheit. Es wird somit Rücksicht auf nationale Besonderheiten bzw. ex ante bestehende Formen etwa der Energiebesteuerung oder der umweltpolitischen Tradition11 genommen. Im Räume stehen vor allem die Preislösung (CCh-Steuer), die Mengenlösung (Verschmutzungsrechtehandel) und freiwillige Selbstverpflichtungen. Hieraus resultiert aber ein spezifisches Koordinationsproblem: nämlich die mögliche Rückwirkung der in den einzelnen Ländern unterschiedlich eingesetzten Instrumente auf die nationale und die internationale Zielerreichung. Heterogene Umsetzungsstrategien können insofern Abstimmungsprobleme nach sich ziehen. Die mögliche Sprengwirkung ergibt sich auch hier aus der Interdependenz der Güter- und Faktormärkte: So mag ein Zertifikatehandel zwischen Staaten noch nicht ein Höchstmaß an Vermeidungseffizienz bewirken, wenn bereits aufgrund einer innerstaatlich geltenden, parallelen, ordnungsrechtlichen Auflage die Grenzkosten der Emittenten nicht auszugleichen sind. Diese Zusammenhänge gilt es, in dreierlei Hinsicht zu untersuchen: erstens der Aspekt der Allokationseffizienz, zweitens der Verteilungsaspekt und drittens der Wettbewerbsaspekt.

10

Diese Risikofreunde zeigt sich etwa in der russischen Verhandlungsposition: Nicht nur, weil man zum Zünglein an der Waage wurde (siehe unten), sondern auch, weil man bei einem .business as usual' zu den Gewinnern zählen könnte, ist Russland nicht gerade einer der eifrigsten Befürworter des Kyoto-Protokolls im Sinne seiner raschen Umsetzung. Denkbar ist nämlich, dass der Klimawandel große Teile Sibiriens vom Permafrost bpfreit und damit weite Teile des Landes wirtschaftlich intensiver genutzt werden können.

11

Man kann ''¡ics auch unter der Rubrik Pfadabhängigkeit diskutieren.

Das Kyoto-Protokoll

161

3. Ein Plädoyer für die Mengenstrategie: die Zertifikatelösung, der Emissionshandel An dieser Stelle soll der Instrumentendiskurs in geraffter Form gefuhrt werden. Es müsste tiefergehend diskutiert werden, ob andere Klimaschutzinstrumente (Steuern, Ordnungsrecht, freiwillige Maßnahmen) und damit andere Institutionen in spezifischen Situationen angemessenere Innovationsimpulse setzen. Auch wäre der Zusammenhang zwischen Ziel- und Mittelebene zu explizieren. Dies kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden, weshalb die folgenden, knappen Bemerkungen zumindest eine Orientierung aufzeigen sollen. 12 Die Spezifika des in Rede stehenden Problems führen zur Mengenlösung. Eine ordnungsrechtliche Auflage verbietet sich: Zum einen handelt es sich bei Treibhausgasemissionen nicht um verbotswürdige Gefahrenstoffe; zum anderen fehlt mit der hierfür nicht vorhandenen supranationalen Instanz der erforderliche Gesetzgeber. Dabei ist zu beachten, dass vielmehr die Immissionen und weniger die Emissionen problematisch sind. Das Ziel wäre eben die möglichst exakte Steuerung der Immissionen, indem man die anthropogenen Emissionen reguliert. Nun ist der Weg von der Mengenzuteilung zum Emissionshandel zu konstruieren: Sind die zugeteilten Mengen knapp und die Akteure recht heterogen in ihren Emissionsvermeidungskosten, muss ein Opportunitätskostentest erfolgen. Entweder werden Vermeidungsziele ,im Haus' oder über den Zertifikatemarkt realisiert (Kauf im Falle zu hoher Vermeidungskosten). Zunächst ermöglicht der Emissionshandel die statische Effizienz, indem er einen Ausgleich der Vermeidungsgrenzkosten herbeifuhrt. Relevanter dürften aber die Anreizeffekte im Sinne der dynamischen Effizienz sein. Hierfür bedarf es dann aber vor allem eines harten Mengenziels (Zielebene) und nicht nur des bloßen Emissionshandels (Instrumentenebene). Knappe und damit wertvolle Verfügungsrechte (zugeteilte Emissionszertifikate) reizen erst zur Aufnahme innovatorischer Tätigkeit an. Der bloße Handel mit Verschmutzungsrechten reduziert ceteris paribus nicht die Emissionen. Bei Wirtschaftswachstum und einem verschärften Emissionsreduktionsziel gilt dies freilich nicht mehr. Liefert die Mengenlösung genügend Innovationsanreize? Nun hat sich die neoklassische Theorie der Frage des Innovationswettbewerbes bei gegebenen Innovationsmöglichkeiten angenommen. 13 Dabei stehen Prozessinnovationen im Vordergrund, um einen gegebenen Markt kostengünstiger bedienen zu können. (Radikale) Produktinnovationen lassen sich solchermaßen nicht (als endogen verursacht) darstellen. Und echte Unsicherheit über die Innovationsmöglichkeiten wird hier genauso wenig berücksichtigt wie das wettbewerbliche Moment im Verhalten des Schumpeter'sehen Innovators. Der Hicks 'sehen Tradition folgend wurden immer subtilere Modelle entwickelt, die infolgedessen neue Schlüsse ermöglichen: So kann es bei der Mengenregulierung zur Unter-, aber auch zur Überinvestition im Vergleich mit anderen Instrumenten kommen (Requate und Unold 2003; Milliman und Prince 1989). Der Befund in der statisch-komparativen Sicht bleibt uneinheitlich.

12 13

Eine kompakte Darstellung findet sich bei Aldy u. a. (2003) oder Binder (1999). Dass dies eine anspruchsvolle Annahme darstellt, bedarf hier keiner weiteren Erörterung.

162

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

Die globale Steuerlösung scheidet bereits aufgrund politökonomischer Gründe aus. Die zwischen den Staaten fließenden Steuermittel wären immens; keine Regierung würde ihre Hoheit an eine supranationale Steuerbehörde abtreten, die über die Steuererhebung und vor allem Verausgabung der Mittel befindet. Auch wenn die Preisregulierung in innovationsökonomischer Hinsicht überlegen14 sein kann, bleibt das Problem der indeterminierten Vermeidungsmenge. So kann die angestrebte Emissionsmenge verfehlt werden, und es hängt dann von den Regularien ab, ob die Bestrafungsmechanismen des internationalen CC>2-Regimes greifen bzw. im Vorfeld bereits abschreckend genug erscheinen. Die Wahl des Mittels (Preislösung in Form einer Besteuerung) kann somit die Wahl des Ziels (national festgelegte Vermeidungsmengen) konterkarieren. Zu umgehen wäre dieses Problem, wenn die Mengenlösung nicht nur zwischen den Staaten vereinbart, sondern auch innerhalb der Staaten umgesetzt würde. Das Plädoyer für die Mengenlösung ist in der Zunft der (Umwelt-)Ökonomen nicht gerade neu und entspringt auch keineswegs einem Minderheitsvotum. Neu hingegen ist, dass versucht wird, die Mengenlösung mit Elementen der preislichen Regulierung zu verknüpfen. Es droht dadurch ein Überfrachten des Zertifikateansatzes durch synchrone Elemente der Preisregulierung gerade in jüngerer Zeit. Die kombinierte Preis-MengenLösung wird unter der Rubrik , safety valve' 15 verhandelt: Im Falle der Überforderung der Emittenten können diese Zertifikate zu einem garantierten Höchstpreis zukaufen und müssen nicht aufgrund fehlender Zertifikateausstattung Wachstumseinbußen hinnehmen. Was zunächst wie ein tragfähiger Kompromiss erscheint, birgt somit gerade große Risiken in sich: Zum einen drohen bei national unterschiedlicher Anwendung wieder allokative Verzerrungen, zum anderen ist das Mengenziel bei Preisobergrenzen bereits im nationalen Rahmen gefährdet, womit wiederum der ganze Vertrag zur Disposition steht. Dem Optimierungsproblem unter Unsicherheit kann aber durch Hinzugabe von Optionsscheinen und weiteren, auf intertemporale Überbrückung angelegten Instrumenten (Derivate, Terminhandel usw.) besser begegnet werden (Unold und Requate 2001). Die Unsicherheit besteht vor allem in der Festlegung der .richtigen' Zertifikatemenge, was insbesondere im Hinblick auf die dynamische Effizienz von Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz sollte die Mengenregulierung - möglichst ohne parallele Preisregulierung - beibehalten werden. Die damit verbundenen Verfiigungsrechte sollten so weit wie möglich gefasst werden. Oder institutionenökonomisch gewendet: Institutionen sollten als handlungsermöglichende Restriktionen und nicht als das Verhalten vorherbestimmende Routinen interpretiert werden (Pelikan 2003, S. 239). Das heißt konkret: Im Idealfall sollte sich der Staat nur auf die Erstverteilung und die bloße Überwachung der Zielvorgaben konzentrieren. Auch andere, auf Freiwilligkeitsbasis stehende Vorschläge mit sehr vagen Zielen sind kein Ersatz für fixierte Mengenziele: So kann die Förderung von F&E in Vermei-

14

15

Die Frage, wie die Innovationsintensität unter Wettbewerbsbedingungen gemessen werden kann, soll hier nicht weiterverfolgt werden. McKibbin und Wilcoxen (2002) diskutieren die kombinierte Preis-Mengen-Lösung umfassend.

Das Kyoto-Protokoll

163

dungstechnik (inklusive des Wissenstransfers) in weniger solventen Staaten dazu fuhren, dass die Emissionen zurückgehen. Zwingend ist dies aber keineswegs. Auch ein Emissionshandel auf freiwilliger Basis würde weder die gewünschten Preissignale aussenden, noch die .richtigen' Emissionsvermeidungsanreize setzen. Denn es würde zum einen nur eine relativ geringe Marktliquidität (im Gegensatz zu einem Marktvolumen, das sich bei der obligatorischen Teilnahme großer Emittenten ergäbe) resultieren; zum anderen würden wohl vornehmlich potenzielle Zertifikateverkäufer teilnehmen wollen. Dass dann aber die Emissionsvermeidungskostenstrukturen der betroffenen Branchen stark verzerrt wiedergegeben würden, liegt auf der Hand. So bleibt es - nicht nur durch Ausschlussverfahren - bei der Option der verbindlichen Mengenregulierung. 16

4. Der Stand der praktischen Umsetzung Der Blick in die Empirie zeigt, dass man zumindest vorderhand weniger auf die Adaptions-, sondern vielmehr auf die Präventionsstrategie setzt. Das Kollektivgutproblem .Qualität der Atmosphäre' wird - wenigstens in den Verhandlungsprozessen jenseits der faktischen Emissionstrends - anerkannt. Nach ein paar Vorbemerkungen soll auf der globalen, europäischen und deutschen Ebene (Kyoto-Protokoll, europäische Richtlinie zum Emissionshandel sowie Ansätze eines deutschen Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes) erläutert werden, inwieweit der Emissionshandel bereits eine Rolle spielt. Auch im Jahre 2004 existiert noch keine globale Klimaschutzpolitik - geschweige denn ein globaler Emissionshandel - , die höheren Ansprüchen genügt. Wenn die KyotoTeilnehmer bereits heute das Ziel der gemeinsamen Emissionsreduktion 17 sogar übererfüllen, was einige Studien nahe legen, so liegt das nicht zuletzt an der großzügig einbezogenen ,hot air' der osteuropäischen Transformationsstaaten. Unter Umständen benötigen aber diese Staaten diese Gutschriften zukünftig für echte Emissionszuwächse. Genauso kann durchaus angenommen werden, dass die Emissionen der Kyoto-Staaten insgesamt rasant zunehmen. Kurzum: Diese scheinbar komfortable Situation im Jahre 2004 sollte nicht für den ersten Verpflichtungszeitraum des Kyoto-Protokolls (2008-12) angenommen werden. Bisher vorliegendes, empirisches Material bezieht sich eher auf kleinräumige Modellversuche eben ohne dramatisch hohe Einwirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt. 18

16

Diese Einschätzung steht nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Diskussion momentan unter großem Beschuss. So liefern Aldy u. a. (2003) 13 Gegenmodelle zu .Kyoto'. Böhringer (2003) versucht, das Kyoto-Protokoll in theoretischer und verhandlungspraktischer Hinsicht zu retten: Er plädiert sowohl fur die Beibehaltung der Mengenregulierung, wie sie im Kyoto-Protokoll angelegt ist, als auch für die Beibehaltung des Emissionshandels, welcher im Kyoto-Protokoll eines der drei flexiblen Instrumente ist, die im vorliegenden Text erläutert werden.

17

Nach Artikel 3 Absatz 1 des Kyoto-Protokolls sollen die Vertragsparteien ihre gesamten anthropogenen Treibhausgasemissionen innerhalb des Verpflichtungszeitraums 2008 bis 2012 um mindestens 5 % unter das Niveau von 1990 senken. Eine umfassende Datenbasis zu Treibhausgasemissionshandelssystemen findet sich unter www.pointcarbon.com.

18

164

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

Insofern muss alles Weitere im Bereich des Spekulativen verharren. Das gilt selbst fur den immer näher rückenden EU-internen Emissionshandel: Falls das Kyoto-Protokoll, das nicht alle Staaten der Welt betrifft, scheitert, kann bezweifelt werden, ob die europäischen Teilnehmerstaaten auf Dauer ambitionierte Klimaschutzziele weiterverfolgen können und werden. Hieraus würden Wettbewerbsnachteile insbesondere für kohlenstoffintensiv produzierende Industrien erwachsen, und die positiven Folgen fur das Klima wären weder bedeutend noch vor Sozialisierung zu schützen. Hinzu kämen möglicherweise Abwanderungsbewegungen kohlenstoffintensiver Unternehmungen mit einhergehenden WohlfahrtsVerlusten ,im Inland' und Mehremissionen weltweit. Als Ausstiegsszenarien jenseits des tatsächlichen Aufkündigens von Klimaschutzabkommen bieten sich damit an: großzügige Einbeziehung von CDM-Gutschriften, 19 Entschärfung der gegenwärtigen Vermeidungsziele oder Übergehen zu einem .credit trading' mit weichen CC>2-Intensitätszielen. Zumindest kann bis dato festgestellt werden, dass im internationalen Instrumentendiskurs die Steuerlösung per se ausscheidet. Dies gilt auch für alle anderen Ansätze jenseits eines Mengenregimes - unbeschadet der Hereinnahme preisregulierender Elemente (vor allem Höchstpreisregime) und unbeschadet der beliebigen, innerstaatlichen Umsetzung der Mengenvorgabe. So zeigen die Vertragsprozesse zum Artikel 17 des KyotoProtokolls, welcher den Emissionshandel erlaubt, sowie die Umsetzungsprozesse zur europäischen Emissionshandelsrichtlinie bereits jetzt, dass es mit der bloßen Zuteilung von Verschmutzungsrechten nicht sein Bewenden hat. Die Fungibilität der Zertifikate ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Beispielsweise gelten gewisse Mindestvorhaltevorschriften (.commitment period reserve'), dürfen zukünftige Gutschriften nicht in der Gegenwart verwendet werden (.borrowing'), gibt es für die Substitution fossiler Brennstoffe durch Atomenergie keine Gutschriften oder werden Emissionsrechte aus CDMProjekten erst nach aufwendiger Prozedur gutgeschrieben (.executive board'). Dies ist dem politischen Willen geschuldet, wonach der Emissionshandel nur zusätzlich zu tatsächlichen, innerstaatlichen Vermeidungsanstrengungen genutzt werden soll (.supplemental to domestic actions'). Um dieser Bedingung zu genügen, müssen die Durchfuhrungsbestimmungen des Emissionshandels konkretisiert werden, was bis dato noch nicht abgeschlossen und weiteren Vertragsstaatenkonferenzen anheim gestellt worden ist. 1. Nach der Klimarahmenkonvention von 1992 in Rio de Janeiro gilt die dritte Vertragsstaatenkonferenz 1997 mit dem verabschiedeten Kyoto-Protokoll als weiterer Meilenstein einer international abgestimmten Klimaschutzpolitik. Im Kyoto-Protokoll sind drei flexible Instrumente jenseits der eigenen, innerstaatlichen Reduktionsmaßnahmen vorgesehen, um die Minderung der Treibhausgasemissionen möglichst kostengünstig bewerkstelligen zu können: 1. .clean development mechanism' (CDM),

19

Der .clean development mechanism' erlaubt Annex-I-Staaten gemäß Artikel 12 des KyotoProtokolls, Projekte zur Emissionsreduktion und zur Unterstützung nachhaltiger Entwicklung in Nicht-Annex-I-Staaten durchzufuhren und sich hierfür .certified emission reductions' gutschreiben zu lassen. Annex-I-Staaten sind vornehmlich jene Industriestaaten mit Emissionsmengenlimit. Nicht-Annex-I-Staaten sind Vertragsstaaten etwa der Dritten Welt ohne quantifiziertes Mengenziel.

Das Kyoto-Protokoll

165

2. joint implementation'20 (JI) und 3. .emissions trading' (ET). Unter Umständen kann gemäß Artikel 4 des Kyoto-Protokolls die Möglichkeit, dass ein Wirtschaftsraum seine national unterschiedlichen Vermeidungsziele gemeinsam erfüllt (.bubble'), als viertes, flexibles Instrument subsumiert werden. Mit der Bildung einer Zielgemeinschaft ließe sich nämlich eine etwaige Beschränkimg des Emissionshandels elegant umgehen. Im Folgenden soll nur der Emissionshandel behandelt werden. Mittlerweile ist bereits die neunte Vertragsstaatenkonferenz (Mailand, 1.-12. Dezember 2003) zu Ende gegangen. Neben der immer feineren Ausgestaltung der Durchfiihrungsvorgaben stand diesmal vor allem die Haltung Russlands im Vordergrund. Aufgrund der Konstruktion des Kyoto-Protokolls ist nunmehr die russische Ratifikation die letzte erforderliche, damit das Vertragswerk in Kraft treten kann. Die Ratifikation des Protokolls sieht ein doppeltes Mehrheitserfordernis vor: 55 Vertragsstaaten müssen ratifizieren, und zugleich müssen 55 % der Emissionen der Annex-BStaaten21 erfasst sein. Tatsächlich endete die Mailänder Konferenz mit Russlands Nicht-Ratifikation - allerdings mit Aussicht auf Wiedervorlage. Zu den Durchführungsmodalitäten von CDM-Projekten wurden einige, wichtige Konkretisierungen verabschiedet. Das ist insofern für den Emissionshandel von Bedeutung, als dass Gutschriften aus CDM-Projekten in den Zertifikatemarkt eingespeist werden können und damit eine Verwässerung einhergehen kann: Am Emissionshandel beteiligte Staaten unterliegen einem Mengenlimit, haben aber mit CDM-Gutschriften eine .Hintertür' zur Verfügung, mit Hilfe derer die Zahl handelbarer Zertifikate zunehmen kann. Dies geschieht, indem Annex-I-Staaten Emissionsminderungsprojekte in Nicht-Annex-I-Staaten, die keinem Emissionsmengenlimit unterliegen, durchfuhren und sich hierfür konvertierbare .certified emission reductions' ausstellen lassen. In diesem Falle kann die Werthaltigkeit der einst knappen Zertifikate verloren gehen, weil die gesamte Zertifikatemenge gesteigert wird. Es zeigt sich wiederum die Interdependenz von Zielen und Mitteln. Darüber hinaus läge ein weiterer, potenzieller Einflussfaktor auf den internationalen Zertifikatepreis vor. Dieser ist zwar ohnehin nicht exogen zu bestimmen, da alleine schon Preis und Teilnehmerzahl auf dem Zertifikatemarkt nicht unabhängig nebeneinander stehen, mithin beide Variablen voneinander abhängig sind. Mit der Hereinnähme durch CDM-Projekte generierter Zertifikate wird es aber nochmals erschwert, einen einzigen, .belastbaren' Zertifikatepreis zu simulieren bzw. zu kalkulieren. Dies gelingt nur unter sehr starken Annahmen. 2. Im Vorgriff auf die voraussichtlich erste Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls (2008-12) wird die Europäische Union bereits 2005 mit einem internen Emissionshandel beginnen. Private Personen und Körperschaften werden innerhalb der EU die Marktakteure sein. Die entsprechende Richtlinie (Europäische Kommission 2003) ist bereits verabschiedet, so dass es den Mitgliedsländern obliegt, die Vorgaben in entsprechendes, nationales Recht umzusetzen. Eine einfache Verknüpfung des europäi20

Joint implementation' erlaubt Annex-I-Staaten gemäß Artikel 6 des Kyoto-Protokolls, Projekte zur Emissionsreduktion oder Kohlenstoffbindung in anderen Annex-I-Staaten durchzuführen und sich hierfür .emission reduction units' gutschreiben zu lassen.

21

Annex-B-Staaten sind vornehmlich jene Industriestaaten, die sich einer quantifizierten Emissionsbegrenzung unterwerfen und die in etwa den Annex-I-Staaten entsprechen.

166

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

sehen (2005-7) und des im Kyoto-Protokoll vorgesehenen Emissionshandels (200812) via Übertragung (.banking') von Zertifikaten zwischen diesen beiden Zeiträumen soll explizit nicht stattfinden, um eine Mehrfachnutzung ein und desselben Zertifikats zu vermeiden. 22 Dass die EU vom Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls ausgeht, zeigt sich daran, dass man sich bei der Vergabe der Zertifikate an den erst später relevanten Kyoto-Zielvorgaben orientieren will. Die Zertifikatemenge kann ansonsten von Staaten, die bereits im Vorfeld die Kyoto-Mechanismen .testen' wollen, beliebig rigide festgelegt werden. Kritisch in puncto Umsetzung der Richtlinie in nationale Allokationspläne (NAP) ist zweierlei: Zum einen äußern die vom Emissionshandel betroffenen Branchen ihre Partikularinteressen. So fordern deutsche Industrieverbände vehement, dass ihre Selbstverpflichtungserklärungen und die bereits erfolgten Emissionsreduktionsmaßnahmen (,early action') bei der Erstallokation der Zertifikate gebührend berücksichtigt werden. 23 Dass bereits die Vermeidungslasten zwischen den europäischen Staaten recht deutlich schwanken (.burden sharing'), kann politischen Usancen zugeschrieben werden. Unbeschadet davon, dass Deutschland der absolut größte Emittent Europas ist, ist die deutsche Reduktionslast überdurchschnittlich. Im Umkehrschluss wurden vor allem südeuropäische Staaten zu einem gemeinsamen Vorgehen animiert, indem ihnen unterdurchschnittliche Mengenziele, die sogar in absoluten Emissionszuwächsen resultieren können, angeboten wurden. Zum anderen ist der Zeitdruck bereits immens: Die NAPs sollen bis zum 31.3.2004 in verbindlicher Form bei der Europäischen Kommission vorliegen. Da aber die Kommission ein Vetorecht hat, kann und sollte durchaus damit gerechnet werden, dass die endgültige Allokation bis kurz vor dem Start des Emissionshandels (1.1.2005) - zumindest aber bis zum Stichtag der endgültigen Entscheidung über die Erstzuteilung (30.9.2004) - verhandelt wird. 3. Die Bemühungen zur Umsetzung der europäischen Richtlinie in deutsches Recht sind bereits recht weit gediehen. 24 Das Bundeskabinett hat am 17.12.2003 den Entwurf für ein Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) verabschiedet, was dem Bundestag zu Beginn des Jahres 2004 zugeleitet wurde. Zur Konkretisierung des NAP hat das Bundesumweltministerium am 12.12.2003 eine Liste mit 2631 Anlagen veröffentlicht, deren Betreiber ab dem Jahr 2005 am Emissionshandel teilnehmen dürfen respektive sollen. Hier zeigt sich bereits die klimapolitische Ambition der EU: Während das Kyoto-Protokoll zur Qualität der innerstaatlichen Umsetzung der Kyoto-Ziele keine Vorgaben macht, hat sich die EU bereits darauf festgelegt, auch innerhalb ihres Rechtsraumes Emissionshandel stattfinden zu lassen und dies eben unter 22

23

24

Letztendlich wird eine mangelhafte Rechtssicherheit als problematisch fur die praktische Umsetzung erachtet. Theoretisch kann das .banking' aber problemfrei funktionieren. Diese Diskussion fand auch innerhalb der Bundesregierung statt. In diesem Zusammenhang wurden die ökologische Steuerreform, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und das KraftWärme-Kopplungsgesetz zur Disposition gestellt. Tatsächlich kann das Erneuerbare-Energien-Gesetz kontraproduktiv wirken, wenn durch den Emissionshandel die ökologischen Ziele bereits erreicht werden. Die Gesetzes- und Verordnungsentwürfe finden sich unter www.bmu.de.

Das Kyoto-Protokoll

167

Beteiligung privater Akteure. Insofern liegt hier eine wichtige Konkretisierung vor, die sich freilich auch auf andere Emissionsvermeidungsstrategien und -instrumente hätte beziehen können. Bei der Fixierung der nationalen Allokationspläne etwa im Spätsommer 2004 dürfte auch hier heikel sein, dass Wettbewerbsverzerrungen zwischen und zugleich in Branchen unvermeidlich auftreten werden. Zwar können bisherige Anstrengungen mit einer zusätzlichen Vergabe von Zertifikaten honoriert werden; insbesondere bei PoolLösungen würden aber jene Unternehmungen bestraft, die in der Vergangenheit ihre Emissionsreduktionsanstrengungen forcierten, da die Gewinne durch Mehrzuteilung von Zertifikaten sozialisiert werden könnten. Selbst wenn das genaue Ausmaß bereits erfolgter Maßnahmen der Emissionsminderung (,early action') bekannt wäre, bleibt das Anrechnungsproblem: Der Anrechnungszeitraum 2000-2002, auf dem die Konstruktion des deutschen NAP fußt, war ohnehin vom konjunkturellen Abschwung gekennzeichnet, so dass ein Maßstab für die Minderemissionen fehlen muss (Voss 2003, S. 52 f.). Welche Vermeidungsmaßnahmen in diesem Zeitraum oder früher waren dann aber echte Vermeidungsanstrengungen? Abgesehen von der generellen Kritik an einem bloß sektoralen Emissionshandelssystem taucht ein weiteres (Verhandlungs-)Problem auf: Die Besserstellung einer oder mehrerer Branchen führt zwangsläufig zu verschärften Reduktionszielen für die anderen Bereiche der Volkswirtschaft. Werden etwa die Energieversorger mit einer größeren Zertifikatemenge ausgestattet, könnten die privaten Haushalte via Erhöhung der Ökosteuer stärker an die Kandare genommen werden, um das deutsche Emissionsvermeidungsziel per Saldo unverändert zu lassen. Der Verteilungskonflikt tritt damit deutlich zu Tage. Aber auch die Auswirkungen auf Allokation und Wettbewerb dürfen keineswegs vernachlässigt werden. Denn eine Verschiebung der Reduktionslasten zwischen den Sektoren (Industrie, Handel, private Haushalte, Verkehr) ist in der Allokationssicht freilich kein Nullsummenspiel: Grenzkosten der Emissionsvermeidimg können unter Umständen zwischen den Sektoren nicht ausgeglichen werden; kostengünstige Vermeidungsoptionen können in dem Sektor, der (zu) üppig mit Zertifikaten ausgestattet wurde, brachliegen. Unterschiedliche Vermeidungsgrenzkosten (beispielsweise zu niedriger COî-Zertifikatepreis in einem Sektor und zu hohe CC>2-Steuer in einem anderen Sektor) können die Handelsströme verändern und dabei die Wettbewerbsbedingungen ungünstig verändern. Zwar besteht eine gewisse Verzerrung der Startbedingungen bereits aufgrund national unterschiedlicher Vermeidungsvorleistungen sowie aufgrund unterschiedlicher, politisch gewollter Vermeidungsziele gemäß des europäischen .bürden sharing'; diese Verzerrung wird aber verstärkt, wenn die vom Emissionshandel betroffenen Sektoren innerhalb der europäischen Staaten (zu) großzügig mit Zertifikaten versorgt werden. Kurzum: Eine inadäquate Erstallokation der Verschmutzungsrechte kann bereits Ineffizienz zur Folge haben.

168

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

5. Die zeitliche Dimension des Problems: die Zertifikatelösung zwischen Erwartungsstabilität und Anpassungsflexibilität In einer marktprozessualen 25 Sicht wäre zu klären, ob eine Mengenregulierung im Sinne des Kyoto-Protokolls hinreichend Spielraum lässt, um Wissen diffundieren zu lassen. Die Mengenregulierung im Gewand der Zertifikatelösung wäre also daraufhin zu befragen, ob durch sie geeignete Anreize zur Aufnahme von F&E-Aktivitäten ausgelöst werden. Allgemeiner formuliert: Wie kann das Kyoto-Protokoll unter dem Aspekt der Institutionenentwicklung eingeordnet werden? Die Anforderung an eine solche Institution könnte zweifach ausgeprägt sein: Zum einen müsste das Kyoto-Regime Erwartungsstabilität ermöglichen, damit für langfristige Investitionen eine brauchbare Handlungsbasis bereitsteht. Zum anderen müsste genügend Anpassungsflexibilität des Ordnungsrahmens selbst gegeben sein, um auf neues Wissen adäquat reagieren zu können. Kann aber das Kyoto-Protokoll beide, sich zum Teil widersprechende Forderungen erfüllen? Die Vorgabe des Handlungsrahmens und des Handlungszeitraumes durch das KyotoProtokoll ist bereits recht konkret. So umfasst das Protokoll selbst zwar nur 28 Artikel; in den nach 1997 absolvierten Vertragsstaatenkonferenzen wurde jedoch eine Fülle von Durchfuhrungsvorschriften verabschiedet. So wurden zuletzt auf der neunten Vertragsstaatenkonferenz Regelungslücken bei der Anerkennung von Aufforstungsprojekten in Entwicklungsländern behandelt. Außerdem sollen Waldverluste (beispielsweise durch Abholzung oder Brand) zum Verlust vorher erteilter Emissionsgutschriften führen können. Insofern erfüllt der Ordnungsrahmen des Kyoto-Protokolls die erste Forderung bzw. die Forderung nach Erwartungsstabilität. Auch ein Mindestmaß an Anpassungsflexibilität im Sinne der zweiten Anforderung ist gegeben: So sind die Vermeidungsziele für die erste Verpflichtungsperiode (2008-12) vorgegeben. Für die anschließenden Verpflichtungszeiträume werden die Ziele jedoch erst noch zu verhandeln sein. 26 Wenn also neue, naturwissenschaftliche Expertise die Vermutung erhärtet, dass zur Vermeidung weitergehender Schäden ein forciertes Vorgehen vonnöten sei, so können die Reduktionsvorgaben für die einzelnen Staaten (zumindest theoretisch) verschärft werden. Man könnte insofern von rollenden Plänen sprechen, als dass die Ziele jeweils für Fünfjahreszeiträume fixiert werden. Dies geschieht in der unmittelbar vorher ablaufenden Verpflichtungsperiode, wobei der neue an den gegenwärtigen Reduktionsplan anschlussfähig sein soll. Eine solche Planfortschreibung kann mit dem Anspruch der Optimierung unter Unsicherheit vereinbart werden. An dieser Stelle ist noch eine Erläuterung des Begriffs des Institutionenwandels angezeigt: Fasst man den Institutionenbegriff eng auf, wäre bereits die Veränderung der Menge als Institutionenwandel zu verstehen. Geht man jedoch von einem breiten Insti25

26

Hierunter sollen marktliche Prozesse in der Zeit verstanden werden, die eine schlagartige Optimierung - etwa nach einem exogenen Schock - nicht zulassen. Genauer: Es ist nur eine Suche nach Verbesserungen im Sinne eines ,Trial-and-error'-Verfahrens möglich, weil das Problem notorischer Ungewissheit bleibt. Bestenfalls kann trotz konstitutiver Unsicherheit eine gewisse Erwartungsstabilität vorliegen. Dies ist so bereits in Artikel 3 Absatz 9 des Kyoto-Protokolls angelegt.

Das Kyoto-Protokoll

169

tutionenbegriff aus, ist die bloße Veränderung des Mengengeriists noch kein Bruch mit dem ursprünglichen Arrangement; hierfür bedürfte es schon der Veränderung des Handlungsrahmens. Entscheidend dürfte aber sein, ob innerhalb der gegebenen Institution Erwartungen stabilisiert werden, hierauf Wissen produziert wird und in der Folge des neuen Wissens der Rahmen selbst variiert wird. Im Bereich des Klimaschutzes mag dann eine bessere Klimaexpertise nicht nur die Mengenvorgaben des Kyoto-Protokolls, sondern dieses selbst verändern. Wird das Kyoto-Protokoll diesem zweifachen Anspruch also gerecht? Die Antwort fallt positiv aus. Die Mengenziele werden für eine jeweils fünfjährige Periode festgelegt (erstmalig 2008-12, geplant 2013-17 etc.), die damit lang genug ist, um Planungssicherheit zu geben, aber andererseits Spielraum bietet, bei Vorliegen neuer, klimawissenschaftlicher Expertise diese Mengenziele zu variieren, d. h. zu verschärfen oder zu inflationieren. Dennoch können sowohl das Kyoto-Protokoll als auch der innereuropäische Emissionshandel materiell scheitern. Selbst wenn im Falle des Kyoto-Protokolls die Ratifikationshürde genommen wird bzw. die europäische Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wird, bleiben beide Regime anfällig. Die Aufweichung der Mengenziele und bzw. oder die formelle Aufhebung der Vertragswerke können eintreten: Das Vertragsstabilitätsproblem ist nicht aus der Welt zu schaffen. Sind dann aber die europäischen Staaten auf die Adaptionsstrategie als Rückfallposition vorbereitet? 6. Fazit und Plädoyer Das Malheur war und ist Folgendes: Wenn man den Sachstandsberichten der IPCC Glauben schenkt, so wird die Aussicht auf einen drastischen Klimawandel immer wahrscheinlicher. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, ob man dem durch Prävention oder durch Adaption begegnen will. Angesichts der erheblichen Unsicherheiten über etwaige volkswirtschaftliche Schäden spricht vieles für die erste Option, und ähnlich war auch das Zustandekommen des Kyoto-Protokolls motiviert. Allerdings darf mit Recht bezweifelt werden, ob ,Kyoto' diesem Anspruch gerecht wird. Zum einen wird gerügt, dass die im Kyoto-Protokoll fixierten Mengenziele für viele Staaten nur unwesentlich über einem .Business-as-usual'-Szenario liegen. Zum anderen hat der Ausstieg der USA sowie die aufgeblähten Möglichkeiten zur Anrechnimg von Kohlenstoffsenken zu einer Verwässerung der Reduktionsziele geführt. Schlussendlich ist das Protokoll überhaupt noch nicht in Kraft getreten, so dass alle bisherigen Klimaschutzmaßnahmen einen in ihrer Wirkung eher harmlosen, aber dennoch teils kostspieligen Charakter aufweisen. Zugespitzt: ,much ado about nothing'. Wenn also einer Präventionsstrategie gefolgt werden soll, müssten die Mengenziele viel schärfer formuliert und auch sanktionsbewehrt durchgesetzt werden, da die beobachtbare Entkopplung von BIP-Wachstum und Treibhausgasemissionen zwar relativ, aber nicht unbedingt absolut gegeben ist. Wie soll aber in der Folge ein Plädoyer ausfallen, wenn die Theorie - insbesondere die Spieltheorie27 - zeigt, dass ambitionierte Emissionsreduktionsziele in absehbarer 27

Das Gefangenendilemma liegt hier insbesondere für den Fall vor, in dem die Kooperationsgewinne paradoxerweise recht hoch ausfallen. Defektiert ein Akteur bei hohen Kooperationsgewinnen, weil der Gewinn hieraus auch noch hoch ist, so mag sein fehlender Beitrag zur

170

Ulrich Fehl und Joachim Schwerd

Zeit nicht zu erzielen sind und dies auch noch empirisch eindrucksvoll belegt wurde? Es muss weiterhin versucht werden, das Kyoto-Protokoll in seiner Substanz aufrechtzuerhalten, zumal politikbedingte Verwerfungen jeden (internationalen) Vertrag ereilen können und dies auch zwangsläufig tun werden. Wie kann das Plädoyer präziser gefasst werden? Es wird sich dafür ausgesprochen, die Mengenlösung möglichst umfassend umzusetzen. D. h., der Emissionshandel sollte nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch innerhalb der teilnehmenden Staaten stattfinden, was die Beteiligung privater Akteure impliziert.

Literatur Aldy, J.E. u. a. (2003), Thirteen plus one: a Comparison of Global Climate policy architecture, FEEM nota di lavoro 64.2003, www.feem.it, abgerufen im Juli 2003. Binder, K.G. (1999), Grundzüge der Umweltökonomie, München. Böhringer, C. (2003), The Kyoto Protocol: A Review and Perspectives, ZEW Discussion Paper, 03-61, Mannheim. Buchner, B. und C. Carraro (2003), Emissions Trading Regimes and Incentives to Participate in International Climate Agreements, FEEM nota di lavoro, 104.2003, www.feem.it, abgerufen im November 2003. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.) (2003), Entwürfe fur ein Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) unter www.bmu.de im November 2003 abgerufen. Europäische Kommission (2003) (Hg.), Directive 2003/87/EC of the European Parliament and of the Council of 13. October 2003 Establishing a Scheme for Greenhouse Gas Emission Allowance Trading within the Community and Amending Council Directive, 96/61/EC, in: Official Journal of the European Union from 25.10.2003, Brüssel, S. 32-46. Hoel, M. und L. Karp (2001), Taxes and Quotas for a Stock Pollutant with Multiplicative Uncertainty, in: Journal of Public Economics, Vol. 82, No. 1, S. 91-114. Laffont, J.J. und J. Tiróle (1996), Pollution Permits and Environmental Innovation, in: Journal of Public Economics, Vol. 62, No. 1-2, S. 127-140. McKibbin, W.J. und P.J. Wilcoxen (2002), The Role of Economics in Climate Change Policy, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 16, No. 2, S. 107-129. Milliman, S.R. und R. Prince (1989), Firm Incentives to Promote Technological Change in Pollution Control, in: Journal of Environmental Economics and Management, Vol. 17, No. 3, S. 247-265. Nordhaus, W.D. (1991), To Slow or not to Slow: The Economics of the Greenhouse Effect, in: The Economic Journal, Vol. 101, Issue July, S. 920-937. Pelikan, P. (2003), Bringing Institutions into Evolutionary Economics: Another View with Links to Changes in Physical and Social Technologies, in: Journal of Evolutionary Economics, Vol. 13, No. 3, S. 237-258. Leistungserstellung nicht sofort auffallen. Selbst bei der Entdeckung dieses Fehlverhaltens muss eine Sanktionsandrohung nicht glaubhaft sein, so dass sie ex ante nicht abschreckend wirkt. Insofern kann die ein- oder mehrmalige Verweigerung des Kostenbeitrags eines oder mehrerer Akteure für diesen bzw. diese lohnenswert sein. In der Folge werden Kooperationsgewinne im Sinne gemeinsamer Emissionsvermeidungsbemühungen entfallen, weil alle Akteure zur Defektion übergehen.

Das

Kyoto-Protokoll

171

Requate, T. und W. Unold (2003), Environmental Policy Incentives to Adopt Advanced Abatement Technology: Will the True Ranking please stand up?, in: European Economic Review, Vol. 47, No 1,S. 125-146. Shell Deutschland (2003) (Hg.), Unternehmen, Emissionshandel und Klimaschutz, Band zur Shell-Tagung „Kyoto vor der Umsetzung" am 18.6.2003 in Berlin, Hamburg. United Nations Office (1997) (Hg.), Kyoto Protocol to the United Nations Framework Convention on Climate Change, Genf. Unold, W. und T. Requate (2001), Pollution Control by Options Trading, in: Economic Letters, Vol. 73, No. 3, S. 353-358. Voss, G. (2003), Klimapolitik und Emissionshandel, Köln. Weitzman, M.L. (1974), Prices vs. Quantities, in: Review of Economic Studies, Vol. 41, No. 4, S. 477-491.

Korreferat zum Referat von Ulrich Fehl und Joachim Schwerd Das Kyoto-Protokoll - Emissionshandel als Problem internationaler Wirtschaftspolitik

Lambert T. Koch

Der Beitrag von Fehl und Schwerd behandelt ein empirienahes Thema von hoher gesellschaftspolitischer Aktualität (vgl. laufende Berichterstattung in den Medien). Die Argumentation, die aus dem Blickwinkel einer evolutorischen Ordnungspolitik gefuhrt wird, erscheint weitgehend schlüssig und inspirierend. Daher geht es im vorliegenden Kommentar nicht um grundlegende Kritik, sondern vorrangig um die Ergänzung und Systematisierung relevanter Teilaspekte der Debatte. Die abschließende Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Klimapolitik, die sich des Instrumentes .EmissionshandeP bedient, fallt vor allem aus politökonomischen Gründen graduell pessimistischer aus als diejenige im Hauptbeitrag. Gegliedert ist der Kommentar in zwei Abschnitte: An einleitende Überlegungen zur Legitimation globaler Klimapolitik schließt sich die Behandlung ausgewählter Determinanten der Zielfindung und Problembehandlung im politischen Prozess an. 1. Zur Legitimation globaler Klimapolitik Im Hauptbeitrag wird im Rahmen der legitimatorischen Einordnung der klimapolitischen Debatte auf die ökonomische Standardtheorie rekurriert, die davon ausgeht, dass die ,Qualität des Klimas' als global nachgefragtes Kollektivgut anzusehen ist. Aufgrund der vor nationalen Grenzen nicht halt machenden Ubiquität dieses Gutes haben resultierende negative und positive externe Effekte ebenfalls globalen Charakter. In solchen Fällen sind daher supranationale Koordinierungsmechanismen gefragt, die freilich ohne einen ausdifferenzierten und einheitlichen Ordnungsrahmen nicht denkbar sind. Das Design eines solchen Ordnungsrahmens zur Implementierung zielfiihrender Koordinierungsmechanismen ist dabei in hohem Maße auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse der relevanten Fachdisziplinen angewiesen. Deren Erkenntnisse sind grundsätzlich und in diesem Fall in besonderem Grade unsicher und zum Teil widersprüchlich. Eine hieraus abgeleitete Politik muss daher die Möglichkeit einer im wissenschaftlichen Prozess veränderten Einschätzung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen der Klimaentstehung und -Veränderung konsequent einbeziehen, will sie nicht gegebenenfalls ihre Wirksamkeit und damit Glaubwürdigkeit einbüßen. Zwar lässt sich nachlesen, dass bereits der schwedische Chemienobelpreisträger Arrhenius im Jahre 1896 Vermutungen hinsichtlich einer heute als ,Treibhauseffekt' beschriebenen Kausalkette präsentiert. Doch ist zugleich zu konstatieren, dass entsprechende, über lange Jahre ganz aus der wissenschaftlichen Diskussion verschwundene Theorien bis heute keineswegs unumstritten sind (Pies 2002). Dies betrifft zum einen

174

Lambert T. Koch

die Frage nach dem Ausmaß zu befürchtender Klimareaktionen, zum anderen diejenige nach deren Auslösern. Mögliche Fragen lauten: Kann es angesichts unserer heutigen Produktions- und Konsumgewohnheiten in absehbarer Zeit tatsächlich zu einer anthropogenen Klimakatastrophe kommen? Oder hängt das Klima möglicherweise weniger entscheidend von der Treibhausgaskonzentration ab? Ist vielleicht doch die (unbeeinflussbare) Sonnenaktivität maßgeblicher? Wirtschaftspolitisch sind diese Fragen schon deshalb relevant, weil die moderne Theorie der ,Evolutorischen Wirtschaftspolitik' zeigt, dass die Wirksamkeit politischer Maßnahmen entscheidend vom Homogenitätsgrad der korrespondierenden Problemwahrnehmung der ,Politikempfanger' abhängt (Koch 1998). Diese aber wird umso heterogener ausfallen, je weniger eindeutig die naturwissenschaftliche Legitimationsbasis geartet ist. Hinzu kommen interkulturell begründete Divergenzen: Weltweit unterscheiden sich die relativen Präferenzen und Zeitpräferenzraten hinsichtlich des betreffenden Kollektivgutes in hohem Maße. In enger Verbindung mit unterschiedlichen Politiken bedingt dies, wie oben angedeutet, dass ein Mangel an Klimaqualität in vielen Ländern höchstens als Elitenproblem, in manchen als Interessengruppenproblem, nur in vergleichsweise wenigen jedoch als Krisenproblem wahrgenommen wird. Dies wiegt insofern schwer, als die erwähnte Theorie zeigt, wie entscheidend die Höhe des politisch wirksamen Handlungsdrucks vom Problemcharakter in der relevanten Jurisdiktion abhängt (Koch 1998). Doch selbst wenn es gelingt, massive politische Maßnahmen in einem Land unter Verweis auf entsprechende naturwissenschaftliche Erkenntnisse grundsätzlich zu legitimieren, zeigen sich die nächsten Probleme im politischen Operationalisierungsprozess. Immer wieder wird man auf die Komplexität der zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen Phänomene zurückgeworfen. Beispielsweise stehen bei der Definition von Reduktionszielen für Gase mit vermutetem Treibhauspotenzial lediglich die Schätzungen hinsichtlich CO2 auf vergleichsweise solidem Niveau. Hier nimmt man an, dass derzeit weltweit etwa 60 % des anthropogenen Treibhauspotenzials durch CO2 verursacht werden. Hinsichtlich anderer Treibhausgase gehen die Schätzungen jedoch zum Teil deutlich weiter auseinander. Berechnet man für die im Kyoto-Protokoll berücksichtigten Treibhausgase C02-Äquivalente, so schwanken zum Beispiel die Angaben für eine bestimmte in die Atmosphäre gebrachte Menge vollhalogenierten Fluorkohlenwasserstoffs über einen Zeithorizont von 100 Jahren zwischen einer 140- und 11,700-fachen Wirksamkeit (Sardemann 1999). Man muss kein Klimaexperte sein, um die hieraus resultierende Gewichtungsproblematik bei der Berechnung eines Treibhausgasekorbes abzusehen. 2. Determinanten der Zielformulierung und Problembehandlung Auch im konkreten politischen Prozess der Zielformulierung und Problembehandlung lässt sich an vielen Stellen nicht ohne Kenntnis und Einbeziehung der naturwissenschaftlichen Basistheorien auskommen (hierzu Pies 2002): So kommt es erstens für die Qualität des in Frage stehenden Kollektivguts auf die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre an. Diese kann gleichermaßen durch Emissionsreduktionen wie durch nachträgliche Absorption beeinflusst werden, wonach Quellen und Senken symmetrisch zu berücksichtigen wären. Zweitens spielt es aufgrund der Diffusionsge-

Korreferat zu Das Kyoto-Protokoll

175

schwindigkeit für die Gaskonzentration praktisch keine Rolle, wo diese Gase emittiert und absorbiert werden. Dies bedingt eine internationale Substituierbarkeit von Quellen und Senken. Drittens kommt es für die Konzentration der Gase auch nicht darauf an, von wem sie emittiert oder absorbiert werden. Hieraus resultiert eine intersektorale Substituierbarkeit von Quellen und Senken. Außerdem lassen sich negative und positive Beiträge gegeneinander aufrechnen. Weiterhin sind gesellschafts- bzw. verteilungspolitische Vorüberlegungen anzustellen (Kerr 2000): So ist aus intertemporaler Sicht zu fragen, wie die Lastenverteilung der Klimapolitik zwischen auseinanderliegenden Generationen zu gestalten ist. D. h. wie ehrgeizig sollen die Reduktionsziele mit Blick auf zu formulierende Prozessetappen sein? Aus interregionaler Perspektive geht es um die Frage eines weltweiten Ausgleichs von Grenzvermeidungskosten zwischen Ländern und Regionen. Intersektoral betrachtet steht der Ausgleich von Grenzvermeidungskosten zwischen Produktions- und Konsumbereich sowie zwischen Sektoren, wie vor allem Industrie, Energie und Verkehr im Vordergrund (Böhringer u. a. 2004). Hat man die Zieldiskussion unter Berücksichtigung der hier nur angedeuteten naturwissenschaftlichen sowie gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Dimensionen vorangetrieben, lässt sich nach der Adäquatheit zur Verfügung stehender Mittel fragen. Wie auch bei Fehl und Schwerd soll dabei die Frage „Prävention versus Adaption" nicht vertieft werden - auch wenn manches dafür spricht, im Zuge künftiger Forschungsbemühungen über eine sinnvolle Kombination beider Strategierichtungen nachzudenken. Für eine Prävention werden im Wesentlichen die drei gängigen Instrumente Auflagen, Steuern/Abgaben und Zertifikatshandel (sowie denkbare Kombinationen) diskutiert. An dieser Stelle zeigt sich im Hauptreferat insofern ein leichtes Manko, als bei der Bewertung der Optionen die verwendeten Kriterien nicht klar genug zu Tage treten. So scheint es zielführend, gemäß der oben angedeuteten Zusammenhänge zunächst die ökologische Treffsicherheit jedes einzelnen Instruments zu beurteilen. Sodann ließe sich dezidiert dessen statische und dynamische Effizienz untersuchen sowie schließlich die politische Implementierbarkeit. Alles in allem scheint bei einem solchen Mehrkriterienvergleich, wie auch Fehl und Schwerd völlig zutreffend betonen, die Zertifikatslösung deutlich zu obsiegen. Sie entspricht dem Modell einer evolutorischen Ordnungspolitik am ehesten, indem einerseits der geregelte Markt autonom einen Ausgleich von Interessen und Leistungsfähigkeit befördert und andererseits ein politisches Nachsteuern im Einklang mit dem jeweiligen naturwissenschaftlichen Kenntnisstand möglich ist. Anders als bei Steuern ermöglicht die Zertifikatslösung ein vergleichsweise zielgenaues Absenken der regionalen Emissionshöchstmengen, wobei für Letztere natürlich stets das unvermeidbare Wissensproblem besteht. Besser als bei der Auflagen-Variante lässt sich auch der Ausgleich der Grenzvermeidungskosten über den Markt bewerkstelligen. Gegenüber der Steuer-Lösung entfallt daneben das kaum lösbare Problem einer internationalen Harmonisierung. Im Sinne einer dynamischen Effizienz kommen außerdem Produkt- und Prozessinnovationen unmittelbarer der Umwelt zu Gute. Die auch im Hauptreferat vergleichsweise wenig diskutierte politische Implementierbarkeit dürfte mit Blick auf alle Instrumente und so auch bei der Zertifikationslösung

176

Lambert T. Koch

das schwerwiegendste Problemfeld darstellen. Dies zeigt sich auf unterschiedlichsten Ebenen: -

so ζ. B. bei der bislang ausgebliebenen Kyoto-Ratifizierung Russlands, das möglicherweise zunächst auf den Ausgang der Wahlen in den USA schielt;

-

in der Debatte um eine ungleiche Lastenverteilung bei den Reduktionsverpflichtungen innerhalb der EU;

-

im Rahmen der Kritik von Nicht-Europäern an der so genannten EU-Bubble (Sardemann 1999);

-

anlässlich der Diskussion um die so genannte ,heiße Luft' aus den Transformationsländern;

- bei den unterschiedlichen Auffassungen um die Frage der Anrechnung von Senken vor allem im Falle von anthropogenen Landnutzungsänderungen (Michaelowa 2001). Damit ist festzuhalten, dass mit der im Kyoto-Protokoll zur Klimarahmenkonvention von Rio erfolgten Weichenstellung für einen internationalen Emissionsrechtehandel ein Instrumentarium mit komparativen Vorteilen forciert wird, legt man den Maßstab evolutorischer Ordnungspolitik an. Dennoch bleibt abzuwarten, wie die Schwierigkeiten der politischen Umsetzung Schritt für Schritt gemeistert werden können. Außerdem und wiederum damit zusammenhängend gilt es, politischen Fehlanreizen entgegenzutreten, die aus den im Protokoll vorgesehenen Flexibilisierungsmechanismen resultieren könnten; so z. B. das Problem des beschränkten Teilnehmerkreises der Annex-I-Staaten. Nicht-Teilnehmer könnten als Trittbrettfahrer daran interessiert sein, im Systemwettbewerb möglichst lange ihre Kostenvorteile zu Lasten der Klimaschützer auszuspielen. Ähnliches gilt für die Mechanismen der .Joint Implementation' sowie des ,Clean Development', aus denen fehlbewertete Tauschakte auf Kosten des Systems resultieren können (Kerr 2000). Auch hier bleibt abzuwarten, wann und zu welchen Kosten eine wirksame supranationale Rechts- und Kontrollinfrastruktur entwickelt werden kann. Abschließend und zugleich zusammenfassend lässt sich sagen: Das politische Thema ,Klimaschutz' eignet sich als Lehrbuchbeispiel für die Interdependenz politischer Teilbereiche: -

So gehen die umweltpolitischen Ziele Hand in Hand mit handelspolitischen Notwendigkeiten - nicht nur, was die Schaffung funktionierender Handelsplattformen für den internationalen Tausch der definierten Verfugungsrechte betrifft, sondern auch im Hinblick auf Berührpunkte zur WTO. Es besteht die Gefahr, dass sich Verzerrungen zwischen Annex-I-Staaten und Nichtbeteiligten ergeben, wenn es klimapolitisch bedingt zu veränderten Faktorintensitäten und damit gegebenenfalls einem Umschlagen von Außenhandelsstrukturen kommt (Shin 2003; Zhang und Assuncao 2003).

-

Jeder der Staaten muss sich außerdem, wie eingangs schon angedeutet, im Rahmen der ihm vom Protokoll belassenen Freiheitsgrade Gedanken zu verteilungspolitischen Aspekten machen. Hier stellt insbesondere die Erstverteilung von Emissionsrechten eine allokative Herausforderung dar (Böhringer u. a. 2004).

-

Auch werden in hohem Umfang innovationspolitische Zielsetzungen angesprochen, bedenkt man, dass die Zertifikatslösung gewissermaßen einer impliziten Innovationspolitik gleichkommt.

Korreferat zu Das Kyoto-Protokoll

177

-

Daraus resultierende Wachstumseffekte können wiederum wichtige arbeitsmarktpolitische Impulse auslösen. Im Gegenzug kann sich allerdings auch der wirtschaftliche Niedergang anderer Branchen beschleunigen - mit verschiedensten sozialpolitischen Implikationen.

-

Entscheidungen für beteiligte Unternehmen, Branchen, Sektoren und Länder stehen schließlich in einem Wettbewerbs- und nicht zuletzt auch entwicklungspolitischen Zusammenhang. Die Vorreiterrolle der Annex-I-Staaten bei der klimapolitischen Wende kommt einer neuen Form von Entwicklungshilfe gleich, indem Mehrkosten der Emissionsvermeidung einseitig von diesen Ländern getragen wird.

Erst wer die hier angedeuteten Politikinterdependenzen in ihrer ganzen Tragweite berücksichtigt, erkennt, welche Herausforderung eine systemverträgliche Implementierung der Kyoto-Vorgaben in nationale Politiksysteme tatsächlich darstellt. Zugleich wird deutlich, dass auch die deutsche Klimapolitik trotz ehrenwerter Bemühungen und einer gerne zugestandenen Vorreiterrolle nach wie vor zahlreiche Widersprüche und Systemunverträglichkeiten aufweist.

Literatur Böhringer, C. u. a. (2004), Am Emissionshandel fuhrt kein Weg vorbei, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2004, Nr. 68, S. 13. Kerr, S. (2000), Global Emissions Trading: Key Issues for Industrialized Countries, Cheltenham. Koch, L.T. (1998), Kognitive Determinanten der Problementstehung und -behandlung im wirtschaftspolitischen Prozess, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (ZWS), Heft 4, S. 597-622. Michaelowa, Α. (2001), Rio, Kyoto, Marrakesh: Groundrules for the Global Climate Policy Regime, Discussion Paper, Heft 152, HWWA, Hamburg. Pies, I. (2002), Internationale Umweltpolitik: Das Beispiel Klimaschutz, in: A. Schüller und HJ. Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, Stuttgart, S. 201-226. Sardemann, G. (1999), Das Kyoto-Protokoll vor dem Hintergrund aktueller Abschätzungen zum Stand und der Entwicklung weltweiter Treibhausgasemissionen, TA-Datenbank-Nachrichten, Nr. 2, 8. Jg., S. 18-26. Shin, S. (2003), Kyoto-Protokoll, Wettbewerb und WTO-Handelssystem, Discussion Paper, Heft 215, HWWA, Hamburg. Zhang, Ζ. und L. Assuncao (2003), Domestic Climate Policies and the WTO, The World Economy, Bd. 3, S. 359-386.

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weifens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Bastiate „negative Eisenbahn" - Ein ordnungspolitisches Lehrstück -

Manfred Tietzel und Christian

Müller

Inhalt 1. Die Kunst des Abkassierens

180

2. Bastiats Parabel - Eine rationale Rekonstruktion

182

3. Von Lückenbüßern und Lückenprofiteuren - Ein Drohspiel

184

4. David gegen Goliath

185

5. Und die Moral von der Geschieht'

187

Literatur

187

180

Manfred Tietzel und Christian Müller

1. Die Kunst des Abkassierens „Lesen schützt vor Neuentdeckung", so lautet ein altes Diktum Dieter Cassels, mit dem dieser Freunde und Schüler gerne mahnt, nicht jede eigene Idee auch für originell zu halten. Die tiefe Weisheit dieser Einsicht macht auch vor der Ordnungs- und Institutionenökonomik nicht halt. So ist auch das egoistische Streben von Interessengruppen nach nicht leistungsbedingten Einkommen, das wir seit etwa 30 Jahren mit dem Namen ,Rent seeking' bezeichnen (Krueger 1974), keineswegs ein neues Phänomen. Ein besonders schönes Beispiel solcher Einzelegoismen, die auch Cassel in seinem wissenschaftlichen Werk immer wieder beschäftigten (siehe ζ. B. Berg, Cassel und Hartwig 2003, S. 236 ff.), hat uns der französische Ökonom, Politiker und Journalist Frédéric Bastiat (1801-1850) überliefert. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die französische Nationalversammlung über den Bau einer Eisenbahnstrecke von Paris nach Madrid debattierte, argumentierte der Abgeordnete Alexandre Etienne Simiot, dass die Teilstrecke zwischen Paris und Bayonne in der Nähe seiner Heimatstadt Bordeaux unterbrochen werden solle. Die Gründe für diesen Vorschlag scheinen nahe zu liegen: Wenn Güter und Passagiere genötigt würden, in dieser Stadt umzuladen oder umzusteigen, dann werde dies nicht nur für die Hotelbesitzer von Vorteil sein, sondern auch fur die Bootsfuhrer, die Frachtschiffer, die Träger usw. Hierdurch, meinte Simiot, werde mit Bordeaux letztlich auch ganz Frankreich reicher werden. Mit großem analytischen Scharfsinn brandmarkte Bastiat die ordnungswidrigen Konsequenzen eines solchen regionalen ,Rent seeking' als ein Beispiel falsch verstandener Gemeinwohlorientierung: „Hier sehen wir wieder deutlich", schrieb er, „wie den Interessen jener, die Leistungen erbringen, Vorrang gegenüber den Interessen der Konsumenten gewährt wird." Als modemer Ordnungsökonom wird man kaum zu einer anderen Einschätzung von Bordeaux' Verlangen nach einer Lücke in der Eisenbahn kommen. Ökonomisch gesehen stellt diese Forderung einen Versuch der Besteuerung dar: Reisende .zahlen' durch die absichtlich herbeigeführte Unterbrechung ihrer Reise in dieser Stadt eine naturale und monetäre Zwangsabgabe in Form von Lade-, Transport-, Aufenthalts- und Zeitopportunitätskosten. Anders als bei gewöhnlichen Abgaben fallen die Erträge dieser besonderen Art von Besteuerung jedoch nicht einem öffentlichen Haushalt zu. Die direkten Ausgaben der Reisenden fließen in die Kassen der Gewerbetreibenden der Stadt und stellen insofern eine Umverteilung dar. Darüber hinaus wenden die unfreiwilligen Übemachtungsgäste in Bordeaux Kosten der Zeit auf - eine .Zusatzlast' (excess burden) der Besteuerung, die niemandem zugute kommt und daher einen reinen Wohlfahrtsverlust darstellt. Für eine Besteuerung, wie sie dem Abgeordneten aus Bordeaux vorschwebte, bieten sich aus der Sicht von Politikern zentrale Straßen- oder Bahnverbindungen besonders an. Denn eine Eisenbahn, die nahezu alle Regionen eines Landes miteinander verbindet, stellt für ihre Nachfrager ein Gut mit positiven Netzwerkexternalitäten dar: Je größer das angebotene Netz ist, desto größer ist der individuelle Vorteil jedes einzelnen Nachfragers in Form sinkender Transportkosten, verkürzter Reisezeiten und einer dichteren Erschließung des Raumes.

Bastíais negative Eisenbahn

181

Angebotsseitig ist eine Eisenbahn durch Unteilbarkeiten gekennzeichnet. Unteilbarkeiten treten im Allgemeinen dann auf, wenn die Kapazität bestimmter Ressourcen - nicht nur Schienenwege, sondern auch Kraftwerke, Staudämme oder Straßen - aufgrund technischer Gegebenheiten nur in großen Sprüngen variiert werden kann (vgl. Fritsch, Wein und Ewers 2003). Aufgrund erforderlicher Mindesteinsatzmengen von Produktionsfaktoren oder anderer technischer Voraussetzungen sinken die langfristigen Durchschnittskosten über den gesamten Marktumfang. Am günstigsten ist es, wenn ein einziges Netz bereitsteht, das alle Regionen eines Landes miteinander verbindet: Die effiziente Marktform ist dann jene des .natürlichen Monopols'. Wird die Benutzung von Bahnstrecken, Wasserwegen oder Straßen zu rein fiskalischen oder regionalwirtschaftlichen Zwecken besteuert, so können die Reisenden der Zwangsabgabe kaum ausweichen - sie könnten allenfalls wie bisher reisen, was zumindest im 19. Jahrhundert bei dem mangelhaften Zustand der Straßenverbindungen kaum eine angemessene Alternative gewesen sein dürfte. Daher ist es kaum verwunderlich, dass das Abkassieren von Handelsreisenden sich unter den Regierenden auch in Deutschland zu allen Zeiten großer Beliebtheit erfreute. Im späten Mittelalter besaßen einige Hafenstädte - am Rhein Dordrecht, Köln, Mainz, Speyer und Straßburg, an der Mosel Trier, am Main Frankfurt - das sogenannte Stapelrecht, ein Privileg, das Schiffer und Händler dazu zwang, ihre Ladung in diesen Orten zu entladen und für eine gewisse Zeit zum Verkauf anzubieten. Erst nach Ablauf der Frist durfte die unverkaufte Ware weiterbefördert werden (Teubert 1912, S. 16). Auf nicht wenigen zentralen Handelswegen zu Lande herrschte überdies ein Straßenzwang, der es bei Strafe verbot, von jenen Wegen abzuweichen, für deren Benutzung Zölle und Wegegelder zu entrichten waren. Auch wurde der ursprünglich freiwillige Geleitschutz, den man dem Ziehenden gewährte, zu einem Geleitsrecht, welches ihm zwar Schutz vor Überfällen bot, das dieser aber auch teuer zu bezahlen hatte. Das Geleitsrecht wiederum löste ein anderes altes Gewohnheitsrecht der Straße ab, das für den Kaufmann nicht weniger unangenehme Rechtsinstitut der Grundruhr, nach welchem alle Ware, die vom Wagen fiel und, nach größeren Unfällen, sogar der ganze Wagen fortan dem Eigentümer des Bodens gehörte {Schadendorf 1959, S. 13). Eine nicht weniger originelle Idee der Abschöpfung von Reisenden war die unter dem Kurfürsten Friedrich August III. (1750-1827), dem späteren sächsischen König von Napoleons Gnaden, realisierte Einführung eines ,Chausseegeldes' in Höhe von zwei Groschen auf schön angelegten Straßen (,Kunststraßen'): „Man bekömmt dann einen Zettel, welcher aber nur 24 Stunden gültig ist. Kömmt man erst nach dem Verlaufe derselben wieder: so muß man jene Abgabe von neuem entrichten" (zitiert nach Klauß 1996, S. 90). Wenngleich die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815, infolge derer die Anzahl souveräner Staaten in Deutschland von 315 auf 36 sank, und die Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1834 solchen extremen Formen des Schröpfens von Reisenden ein Ende bereiteten, sind die Wegelagerer auch in unseren Tagen keineswegs ausgestorben: So setzten beim Bau der ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt die Länder Rheinland-Pfalz und Hessen die Bedienung der nur zwanzig Kilometer auseinander liegenden verkehrsschwachen Bahnhöfe Montabaur und Limburg durch, damit

Manfred Tietzel und Christian Müller

182

keines der Länder dem jeweils anderen allein das hohe Prestige eines Anschlusses an das hochmoderne Schnellbahnnetz überlassen musste. Der so retardierte Schnellzug kommt dadurch allerdings nicht mehr richtig auf Touren. Er muss vor diesen Bahnhöfen abbremsen, anhalten und erneut anfahren, was nicht nur jeweils einige Minuten Zeit, sondern auch zusätzliche Energie verbraucht. Statt bei Tempo 300 Köln und Frankfurt in nur 59 Minuten zu verbinden, brauchen die schnellsten Züge der Bahn für diese Strecke nun 72 Minuten; ab Limburg werden sie gar zu „Edel-Nahverkehrsverbindungen; Fahrgäste können sie dort gegen Aufpreis mit den Tickets des Rhein-MainVerkehrsverbundes benützen" (Krummheuer 2002, S. 15). Alle Bahnreisenden bezahlen die prestigebedingte Fahrtunterbrechung an beiden Bahnhöfen in Form eines täglich neu produzierten deadweight loss. 2. Bastiats Parabel - Eine rationale Rekonstruktion Doch ein Interesse an Sondervorteilen zu verfolgen, ist eine Sache, es durchzusetzen jedoch eine andere. Wir wollen daher die Forderung Bordeaux' in Bastiats Geschichte durch rationale Rekonstruktion der Handlungssituation der beteiligten Akteure auf die Glaubwürdigkeit der dahinter stehenden Drohung überprüfen. Angebotsseitig unterliegt die Produktion einer Eisenbahnstrecke einer „Summationstechnologie" (Hirshleifer 1983; Sandler 1992), d. h., die insgesamt verfugbare Kapazität Xeines derartigen Netzgutes besteht aus der Summe der verschiedenen Einzelbeiträge x¡, welche die i = 1,..., η Kollektivmitglieder bereitstellen. Nehmen wir an, dass jede der η Städte, die entlang der geplanten Bahnstraße liegen, den entsprechenden Streckenabschnitt in ihrer Region selbst zu bauen und zu finanzieren hat. Unterstellen wir außerdem, dass alle Streckenanrainer das gesamte Netz zwar wünschen, dass aber der Bau nur der je eigenen Teilstrecke für jede Stadt unwirtschaftlich ist, weil die Kosten, welche die einzelnen Städte hierfür aufzubringen haben, die Nutzen, welche sie hieraus erzielen, übersteigen - dann befindet sich Bordeaux in der gleichen Situation wie alle übrigen Städte. Zwar hat jede einzelne Stadt ein Interesse daran, dass alle übrigen Anliegerstädte ihren Streckenabschnitt ohne Unterbrechung produzieren, um Anschluss an das Eisenbahnnetz zu erhalten; jede einzelne wird aber danach trachten, sich ihrer Beitragsleistung zu entziehen. Denn auf diese Weise könnte sie alle Vorteile eines Netzanschlusses ihrer Stadt realisieren; die Kosten hierfür hätten indes die übrigen Streckenanrainer und nicht zuletzt die Reisenden zu tragen. Abbildung 1: Gefangenendilemma

Spieler 1: K1 Dl

Spieler 2: K2 D2 3,3 1,4 2,2 4,1

Jede Stadt i (mit i = 1, 2) ist in dieser Situation Spieler in einem Gefangenendilemma mit vielen Spielern, wobei wir Bordeaux als Spieler 1 betrachten und alle übrigen beteiligten Städte vereinfachend zu einem einzigen Spieler 2 zusammenfassen wollen. Jeder Spieler i hat in diesem Spiel die Wahl, die volle Beitragsleistung zum Netzbau zu

Bastíais negative Eisenbahn

183

erbringen, d. h. ihren Streckenabschnitt zu bauen (Strategie .kooperieren'; K¡), oder sich der Einhaltung der Bauzusage einseitig zu entziehen (Strategie .defektieren'; D¡). Zwar haben alle Teilnehmer ein .kollektives' Interesse an der vollständigen Errichtung des Netzwerkguts durch die jeweils anderen Beteiligten. Denn in der Situation (Dj, D2), in welcher keine der Städte einen Beitrag zur Errichtung des Netzgutes erbringt, stehen alle Individuen schlechter, als in der Situation (K4, K2), in welcher alle Beteiligten ihre versprochenen Leistungen erfüllten; durch den Übergang von der ersten zur zweiten Konstellation könnten sich alle Spieler (Parero-)verbessem (von 2 auf 3 Nutzeneinheiten). Aber gerade dieses .kollektiv rationale' Spielergebnis wird sich aufgrund der individuellen strategischen Rationalität aller Spieler nicht einstellen. Gleichgültig, wie sich die übrigen Städte (Spieler 2) verhalten, wird Bordeaux (Spieler 1) seine individuellen Eigeninteressen in den Vordergrund stellen und den eigenen Streckenabschnitt nicht bauen (Strategie Dj). Denn durch Ausspielen seiner ,Trittbrettfahrer-Strategie' D j hat Bordeaux nicht nur die Chance, (Dj, K2) zu erreichen, wodurch sich die Stadt (mit 4 Nutzeneinheiten) noch besser stellen würde als in der Situation allseitiger Kooperation (mit 3 Nutzeneinheiten); ihre Bürger profitieren, soweit alle anderen Städte ihre Bauzusagen erfüllen, vom vollen Netznutzen und darüber hinaus von der Besteuerung der Übernachtungsgäste aus den anderen Regionen des Landes. Außerdem minimiert Bordeaux durch Nichtleistung, D j , seine zu erwartenden Verluste, da die aus seiner Sicht schlechteste mögliche Konstellation (Kj, D2) einer einseitigen Bereitstellung des Streckenabschnitts - in welcher die Stadt noch schlechter stünde als in der Situation ohne Eisenbahn (1 statt 2 Nutzeneinheiten) - vermieden wird. Da analoge Überlegungen auch für alle übrigen Beteiligten (Spieler 2) gelten, bildet die Situation der allseitigen Nichtleistung (Dj, D2) ein AfasA-Gleichgewicht, in dem - gegeben die nichtkooperative Strategie aller übrigen Spieler - keine Stadt einen Anreiz hat, von ihrer gewählten Strategie abzuweichen. Dieses Gleichgewicht ist die kollektiv schlechteste - eine paretoinferiore - Situation: Obwohl alle die Eisenbahn wünschen (denn jeder Spieler erhielte dann 3 Nutzeneinheiten gegenüber 2 Nutzeneinheiten ohne Bahn), wird sie nicht gebaut. Individuelle Beiträge führen in dieser Situation zur suboptimalen (oder Nicht-)Bereitstellung des Netzgutes. Dies ist auch genau jenes Gleichgewicht, dessen tatsächlichen Eintritt Bastiat - ein Meister der reductio ad absurdum - für dieses Spiel voraussagt. Auf den ersten Blick eine gute Sache, meint Bastiat, sei der Vorschlag, die Bahn in Bordeaux zu unterbrechen. Aber warum, so führt er die Überlegung weiter, sollte die Eisenbahn allein dort eine Lücke aufweisen? „Wenn Bordeaux das Recht hat, von einer Unterbrechung der Strecke zu profitieren, und wenn dieser Nutzen im Interesse der Allgemeinheit liegt, dann sollten auch Angoulême, Poitiers, Tours, Orléans und in der Tat alle dazwischen liegenden Punkte wie Ruffec, Châtellerault etc. etc. im Interesse der Allgemeinheit - d. h. im Interesse der heimischen Industrie - eine Streckenunterbrechung verlangen; denn je mehr von diesen Unterbrechungen auf der Linie liegen, desto größer wird der Betrag sein, der für Lagerung, Träger und Fuhrgeld an jedem Punkt entlang des Weges zu entrichten ist. Auf diese Weise werden wir schließlich eine Eisenbahn haben, die aus einer ganzen Reihe von Streckenunterbrechungen zusammengesetzt ist, d. h. eine negative Eisenbahn."

184

Manfred Tietzel und Christian Müller

3. Von Lückenbüßern und Lückenprofiteuren - Ein Drohspiel Doch muss das Ganze notwendig und unter allen Konstellationen so ausgehen? Keineswegs! In einer völlig anderen, viel komfortableren strategischen Situation befände sich Bordeaux nämlich dann, wenn alle anderen Städte außer Bordeaux alle Teilstrecken in ihrer Region jeweils schon bereitgestellt hätten, etwa weil in diesen Städten der Nutzen pro Kopf der Bevölkerung aus der Bereitstellung sogar eines unverbundenen Teilstückes mindestens so groß wäre wie dessen Produktionskosten pro Kopf; in diesem Falle hätten alle übrigen Städte die dominante Strategie, die zugesagten Bauleistungen unabhängig davon zu erbringen, ob die anderen Beteiligten zur Kooperation bereit sind. Bordeaux wäre dann in der Lage, sein Partikularinteresse gegenüber den übrigen Streckenanrainem durchzusetzen. Die Teilstraßen der Bahn, welche die anderen Beteiligten schon produziert haben oder die sie aufgrund ihres Rationalkalküls in jedem Fall erbauen werden, haben, je für sich, den Charakter lokaler Netzgüter (vgl. Breton 1965; Olson 1969), deren räumliche Reichweite durch die jeweiligen Grenzen der Gebietskörperschaft begrenzt ist. Eine isolierte Bahnstrecke durch oder um eine Stadt herum stiftete jedoch kaum mehr Nutzen als eine Straßenbahn in dieser Region. Erst die Verbindung dieser Teilstücke zu einem Gesamtnetz macht aus den vielen lokalen ein nationales Netzwerkgut mit positiven Spillovers, die über die ganze Volkswirtschaft streuen. In der Terminologie der Standardisierungsökonomik generiert die Bereitstellung eines zusätzlichen Teilstücks eines solchen Netzes .positive Netzextemalitäten': Der Nutzen eines Netzes - hier also eines Schienenstranges - nimmt für sämtliche Teilnehmer zu, wenn ein weiterer Streckenabschnitt an das Netz angeschlossen wird. Die Vernetzung realisiert positive Skalenerträge (economies of scale). Der Zusatznutzen eines nationalen oder internationalen Netzwerkgutes lässt sich damit aus der Sicht eines jeden potenziellen Nutzers als die Differenz zwischen der Summe der Gesamtnutzen des verbundenen gesamten Netzwerkes und der Summe der Einzelnutzen aus miteinander unverbundenen lokalen Teilnetzen bemessen. Die Existenz eines solchen positiven Netzwerknutzens könnte Bordeaux in unserem Beispiel zu seinem eigenen Vorteil ausbeuten. Zwei unverbundene Teilstücke der Eisenbahn - von Paris nach Bordeaux und von Bordeaux nach Bayonne - wären aus kollektiver Sicht weniger nützlich als eine einzige Bahnstrecke ohne Lücke. Ein Zusammenschluss beider Bahnlinien durch das fehlende Teilstück in Bordeaux führte zu einer sprunghaften Zunahme der Skalenerträge. Darin unterscheidet sich der Fall der Herstellung einer nationalen Vernetzung von jenem der Erweiterung eines bestehenden regionalen Netzes: Eine bestehende Bahnstrecke an ihrem Ende um eine Netzeinheit zu verlängern, hätte für alle übrigen Netzteilnehmer geringere marginale externe Nutzen als zwei bereits existierende Netze miteinander zu verbinden. Durch diesen Sachverhalt würde Bordeaux vom Lückenbüßer zum .Lückenprofiteur', der allen übrigen Städten die Bedingungen, unter denen ihr Teilstück der Bahnstrecke erstellt wird, diktieren kann. Die Stadt könnte damit drohen, der Errichtung des eigenen Teilstücks nur dann zuzustimmen, wenn sie von den anderen an die Bahn angeschlossenen Städten für die Kosten der Bereitstellung ihres Teilstückes und die entgangenen Nutzen für ihr Wirtschaftsleben aus der entfallenden Verladung, Versendung, Übernachtung usw. voll kompensiert würde. Bordeaux' Drohung, sich einer eigenen

Bastíais negative Eisenbahn

185

Beitragsleistung zu entziehen, wäre dabei vollkommen glaubwürdig, da die Stadt selbst dann den Nutzen eines Gesamtnetzes realisierte, wenn es zu einem Bau des fehlenden Teilstücks in seiner Region überhaupt nicht käme. Denn zum einen profitierten seine Kaufleute, Händler, Träger oder Hoteliers von den durchreisenden Gästen, die in Bordeaux zwangsweise Station machen müssen. Zum anderen bestünde fur die Einwohner von Bordeaux überhaupt kein Nachteil einer Lücke in der Eisenbahnstrecke, da fiir alle Reisenden, Versender und Empfanger der Güter aus dieser Stadt der Start- oder Zielbahnhof stets Bordeaux wäre und die Kosten des Verladens, Versendens oder Empfangens von Gepäck somit in jedem Fall anfielen. Statt eines Zusatznutzens aus der Vernetzung hätten die Kaufleute Bordeaux' eher sogar den möglichen Nachteil einer Entleerung hinzunehmen, indem der Wettbewerb für lokale Unternehmen durch den Bahnanschluss intensiver würde. Bordeaux könnte diese Abhängigkeit der anderen Städte von ihrer eigenen Entscheidung so lange ausnutzen, bis aus Sicht der anderen Städte die aus der Erfüllung ihrer Forderung resultierenden Nutzeneinbußen den abdiskontierten Nachteilen der anderen Beteiligten - bestehend aus den Kosten, eine Umleitung um Bordeaux zu bauen, sowie aus dem monetären Äquivalent der Minderung des gesamten Netznutzens aufgrund der Nichtbeteiligung dieser Stadt - genau entsprechen; hier liegt der Drohpunkt der Forderung Bordeaux'.

4. David gegen Goliath Gäbe es zudem eine Stadt, sagen wir Paris, für die wegen ihrer sehr großen Einwohnerzahl die Bedeutung der Zusatznutzen eines vollständigen Netzwerkes so hoch ist, dass daraus die Baukosten des Teilstückes in Bordeaux leicht gedeckt werden könnten, so wäre es für die Stadtverwaltung von Paris rational, Bordeaux zumindest dieses Angebot zu machen. Denn in der Terminologie von Olsons Theorem von der Ausbeutung der „Großen" durch die „Kleinen" (Olson 1968) befände sich Paris dann in der Rolle eines .großen', Bordeaux hingegen in jener eines .kleinen' Spielers. Abbildung 2: David gegen Goliath Spieler 2: Κ2 DJ Spieler 1:

K

1

3,3

1,4

Dl

4,2

2,1

Spieltheoretisch formuliert (siehe Tietzel und Müller 1998) haben .kleine' Akteure Gefangenendilemma-Präferenzen. Solche Spieler stufen - wie Spieler 1 in Abbildung 2 - die Situation eigener einseitiger Kooperation als schlechter ein als die Situation beidseitiger Nichtkooperation (von der Existenz weiterer Beteiligter sei hier abstrahiert). Die Präferenzreihenfolge eines .Kleinen' lautet daher (mit ./>,·' = .besser als' aus Sicht von Spieler i): (Di,D2)P;(KI,D2).

186

Manfred Tietzel und Christian Müller

Bei einem O/sonschen .Großen', in Abbildung 2 bei Spieler 2, ist diese Rangfolge hingegen genau umgekehrt: (Di,K2)P2(DI,D2). Selbst dann also, wenn er die ganze Finanzierung des gemeinschaftlich gewünschten Netzguts allein trägt, (Dj, K2), steht Spieler 2 besser als in der Situation (Dj, D2) ohne das Infrastrukturgut. Olsonsche ,Große' haben mithin die Präferenzen von Spielern eines Chicken-Spiels (siehe ζ. B. Rapoport und Chammah 1966; Taylor und Ward 1982; Lipnowski und Maital 1983): Wie die .kleinen' Spieler im Gefangenendilemma ziehen sie die Defektion vor, wenn der Gegenspieler kooperiert; dann aber, wenn der andere defektiert (was wegen der Dominanzeigenschaften dieser Strategie für den .kleinen' Spieler auch zu erwarten ist), lohnt für den .Großen' noch die Kooperation. Denn anders als für den ,kleinen' Spieler mit Gefangenendilemma-Präferenzen ist aus Sicht eines Spielers mit Chicken-Spiel-Präferenzen die allseitige Nichtkooperation (Dj, D2) der schlechteste aller Spielausgänge. Das Spiel, welches in unserem Fall Bordeaux gegen Paris spielt, könnte ,JDavid gegen Goliath" heißen (Tietzel und Müller 1998). Denn wie im alttestamentarischen Bericht der .kleine' Israelit David dem .großen' Philister Goliath, stehen sich auch hier zwei vollkommen ungleiche Gegner gegenüber: das .kleine' Bordeaux (Spieler 1) mit Gefangenendilemma-Präferenzen und das .große' Paris (Spieler 2) mit den Präferenzen eines Spielers im Chicken-Spiel. Und wie in Samuel 1,17 wird auch hier der .Große' das .Opfer' des .Kleinen'. Denn für das .kleine' Bordeaux ist wie im gewöhnlichen Gefangenendilemma-Spiel Defektion - die Nichterbringung der zugesagten Bauleistung - die dominante Strategie, da ihm D j in jedem möglichen Spielergebnis höhere Nutzeneinheiten einbringt als K j . Mit dieser Strategienwahl aber zwingt Bordeaux das .große' Paris (Spieler 2) dazu, das Netzgut allein bereitzustellen, um die aus Pariser Sicht schlechteste Konstellation der allseitigen Nichtleistung, (Dj, D2), zu vermeiden; gemäß seinen Chicken-Spiel-Präferenzen ist daher K2 die beste Pariser Antwort (da 2 Nutzeneinheiten > 1 Nutzeneinheit). Im einzigen AfaiA-Gleichgewicht des David-gegenGo/í'ató-Spiels, (Dj, K2), mit den Auszahlungen (4, 2) erzielt Bordeaux (Spieler 1) sein bestmögliches, Paris (Spieler 2) hingegen sein zweitschlechtestes Ergebnis. Der .Kleine' fährt hier erfolgreich auf dem Trittbrett des .Großen', der das von beiden gewünschte Netzgut allein auf seine Rechnung bereitstellt. Unter dieser Konstellation von Annahmen würde die Bahn also selbst dann gebaut, wenn Bordeaux bei seiner Maximalforderung bliebe: Weil Paris den Gesamtnutzen des Netzwerks so hochschätzt, ist es bereit, sogar den Streckenteil in Bordeaux zu finanzieren. Solche Bedingungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Reisende hatten seit jeher ein reges Interesse am Zustand der Verkehrswege, welche sie benutzten. Nicht selten wendeten sie Geldmittel selbst für solche Infrastrukturgüter auf, die weit jenseits ihres Herkunftsortes errichtet wurden. So brachten im Jahre 1358 die Kaufleute im fränkischen Nürnberg jene Gelder auf, die für den Ausbau des wegen seiner geographischen Lage für sie überaus bedeutsamen, aber Hunderte von Kilometern entfernten Alpenweges über den Brenner benötigt wurden (Schadendorf 1959, S. 16). Nicht anders als Paris in unserem Beispiel waren die Nürnberger hier Olsonsche .Große', die auf-

Bastíais negative Eisenbahn

187

grund ihrer hohen Präferenzintensität von den übrigen Nutzern des Alpenpasses fiskalisch ausgebeutet werden konnten.

5. Und die Moral von der Geschieht'... Ein Happy-End - und sei es eines mit einer solch ungleichen Beitragsverteilung wie im zuletzt diskutierten Fall - ist in Bastiats Geschichte also durchaus möglich: Es gibt Konstellationen, unter denen eine Eisenbahn, ganz ohne jede Streckenunterbrechung, bei individuellem Bau der Teilstrecken gebaut werden würde. Die ordnungspolitische Vernunft bleibt beim Bahnbau somit nicht unter allen Umständen auf der Strecke. Unter anderen Bedingungen jedoch würde entweder eine ,negative' Eisenbahn überhaupt nicht oder aber eine solche gebaut werden, die nicht den optimalen Netzwerknutzen realisierte. Historisch wurde bezüglich der nationalen Eisenbahnnetze dieses Problem durch Zentralisierung der Entscheidungskompetenz über den Bau von Bahnstrecken, meist durch Verstaatlichung, gelöst. Die seit einigen Jahrzehnten überall beobachtbare Tendenz zur Privatisierung staatlicher Bahngesellschaften und die manchmal damit einhergehende Trennung von Netz- und Fahrbetrieb indiziert jedoch deutlich, dass auch andere Formen der Lösung dieses Problems möglich und womöglich effizienter sind. Die Moral von dieser Geschieht' wird zumindest die Freunde der Bahn freuen: So vollständig ,negativ', wie Bastiat glaubte - und wie vielleicht manche Bahnkunden heute annehmen - , müssen Eisenbahnen gar nicht sein. Manche sind sogar .positiv'.

Literatur Bastiat, F. (1964), A Negative Railroad, in: F. Bastiat, Economic Sophisms, übersetzt und herausgegeben von A. Goddard, Princeton u. a., S. 94-95. Berg, H., D. Cassel und K.-H. Hartwig (2003), Theorie der Wirtschaftspolitik, in: D. Bender u. a. (Hg.), Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 8. Aufl., München, S. 171-295. Breton, A. (1995), A Theory of Government Grants, Canadian Journal of Economics and Political Science, Vol. 31, S. 175-187. Fritsch, M., T. Wein und H.-J. Ewers (2003), Marktversagen und Wirtschaftspolitik. Mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handelns, 5. Aufl., München. Hirshleifer, J. (1983), From Weakest-link to Best-shot: The Voluntary Provision of Public Goods, Public Choice, Vol. 41, S. 371-386. Klauß, J. (1996), „Der du reisest, sei auf deiner Hut". Vom Fortkommen zu „klassischer" Zeit, Rudolstadt. Krueger, A.O. (1974), The Political Economy of the Rent-Seeking Society, American Economic Review, Vol. 64, S. 291-303. Krummheuer, E. (2002), ICE zwischen Köln und Frankfurt wird eilige Fahrgäste enttäuschen, in: Handelsblatt, Nr. 61, vom 27. März 2002, S. 15. Lipnowski, I. und S. Maital (1983), Voluntary Provision of a Pure Public Good as the Game of „Chicken", Journal of Public Economics, Vol. 20, S. 381-386.

188

Manfred Tietzel und Christian Müller

Olson, M. (1968), Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen. Olson, M. (1969), The Principle of ,Fiscal Equivalence': The Division of Responsibilities among Different Levels of Government, American Economic Review, Vol. 59, S. 479-487. Rapoport, A. und A.M. Chammah (1966), The Game of Chicken, The American Behavioral Scientist, Vol. 10, S. 10-28. Sandler, T. (1992), Collective Action. Theory and Applications, New York u. a. Schadendorf, W. (1959), Zu Pferde, im Wagen, zu Fuß. Tausend Jahre Reisen, München. Taylor, M. und H. Ward (1982), Chickens, Whales and Lumpy Goods: Alternative Models of Public Goods Provision, Political Studies, Vol. 30, S. 350-370. Teuberl, O. (1912), Die Binnenschifffahrt. Ein Handbuch für alle Beteiligten, Band 1, Leipzig. Tietzel, M. und C. Müller (1998), Die Ausbeutung der „Großen" durch die „Kleinen". Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), Heft 27, S. 127-129.

Korreferat zum Referat von Manfred Tietzel und Christian Müller Bastiats „negative Eisenbahn" - Ein ordnungspolitisches Lehrstück -

Markus Ksoll

1. Vorbemerkung und Würdigung Mit großem Interesse beobachten wir in jüngster Zeit das vermehrte Aufkommen wissenschaftlicher Arbeiten zu eisenbahnökonomischen Themen. Neben der intensiven Analyse der Telekommunikations- und Elektrizitätsmärkte befasst sich insbesondere die Industrieökonomik neuerdings auch mit dem Schienenverkehr. Forschungsbedarf und -interesse richten sich dabei z. B. auf die Effekte verschiedener Liberalisierungsmodelle, die Abgrenzung von essentiellen Einrichtungen, Allokationsmechanismen zur Trassenvergabe und Ausschreibungsdesigns im Wettbewerb um Verkehrsverträge. Auch der Beitrag von Tietzel und Müller bezieht sich auf den Schienenverkehr, genauer auf politische Entscheidungen zur Ausgestaltung und Finanzierung von Infrastruktur und Verkehrsangeboten. Der Beitrag ist auffallig erfrischend und erzählerisch angenehm gestaltetet. Die Autoren liefern eine anschauliche Darstellung grundlegender ökonomischer und ordnungspolitisch bedeutsamer Zusammenhänge am Beispiel der Eisenbahn: - Das natürliche Monopol und die Eigenschaften von Netzindustrien. - Den allokativen Effekt regionalpolitischer Maßnahmen, die nicht einem übergreifenden Gesamtkonzept folgen. - Interessengegensätze und strategisches Verhalten im Wettbewerb der Regionen als spieltheoretische Situation. Eine echte Bereicherung bietet die wirtschaftshistorische Unterlegung und der Blick in das ökonomische Denken zurückliegender Jahrhunderte. Die Autoren zeigen, dass schon aus Bastiats Betrachtung Einsichten für die Verkehrs- und Regionalpolitik hervorgehen, die bis heute häufig vernachlässigt werden. Hier jedoch schließt sich auch die Kritik am vorliegenden Beitrag an: Die ordnungspolitischen Lehren hätten stärker herausgearbeitet und auf aktuell relevante Themen bezogen werden können. Die nachstehenden Kommentare erfolgen entlang der Struktur des Beitrags von Tietzel und Müller. 2. Zu den Grundlagen: Kunst des Abkassierens Die Darstellung des natürlichen Monopols ist grundsätzlich zutreffend. Sie enthält jedoch eine Ungenauigkeit: Die Merkmale des natürlichen Monopols sowie angebotsseitige und nachfrageseitige Netzeffekte werden nicht klar gegeneinander abgegrenzt.

190

Markus Ksoll

Für die Existenz des natürlichen Monopols reichen angebotsseitige Effekte aus - Unteilbarkeiten, sinkende Durchschnittskosten, Subadditivität. Die von Tietzel und Müller in einem Atemzug genannten nachfrageseitigen Netzeffekte verstärken diese Eigenschaften, sind jedoch nicht notwendig. So bildet etwa das Stromnetz allein aufgrund angebotsseitiger Effekte ein natürliches Monopol; für den einzelnen Verbrauchemutzen ist es bei gegebenem Preis dagegen unerheblich, wie viele weitere Stromkunden angeschlossen sind. Die Charakterisierung der Eisenbahn als natürliches Monopol ist für deren erste Blütezeit passend. Zur Zeit Bastiats war sie das schnellste und bequemste Fortbewegungsmittel für Personen und Güter, mit geringen Substitutionsmöglichkeiten. Allerdings gilt diese Umschreibung heute für die Produkte der Eisenbahnverkehrsunternehmen nur noch eingeschränkt, da sie - im Unterschied zu den Dienstleistungen anderer Netzindustrien - starker intermodaler Konkurrenz unterliegen. Die Autoren übertragen Bastiats Betrachtung auf die aktuelle deutsche Infrastrukturund Verkehrsplanung, konkret auf das Beispiel der ICE-Neubaustrecke. Die Anwendung bezieht sich also - zu Recht - auf Aus- und Neubaumaßnahmen. Die diesbezügliche Planung und Finanzierung erfolgt jedoch im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans und nicht primär durch regionale Gebietskörperschaften. Der Ländereinfluss wirkt in der Regel nur indirekt über das Planungsverfahren und die Zustimmung im Bundesrat. Auf wiederum einem anderen Blatt stehen die tatsächlichen Verkehrangebote, die im deutschen Personenfem- und Güterverkehr eigenwirtschaftlich erbracht werden und dem unternehmerischen Kalkül der Bahnuntemehmen folgen. Damit hinkt der Vergleich mit der politischen Einflusslage bei Bastiat für den allgemeinen Fall. Bei bestimmten Projekten, darunter den ICE-Bahnhöfen in Limburg und Montabaur, sind die Parallelen dagegen vorhanden. 3. Zur Interessenlage: Rationale Rekonstruktion von Bastiats Parabel in zwei Varianten Die Präferenzlage und -Intensität Paris-Bordeaux ist nicht zwingend wie von den Autoren unterstellt. Auch die gegensätzliche Intuition erscheint plausibel: Paris hat ein geringeres Interesse an der Anbindung als Bordeaux, da es als größere und funktional hochrangigere Stadt ein höheres Maß an Arbeitsteilung in sich realisieren kann und weniger auf Bordeaux angewiesen ist als umgekehrt. Dann träfe das Ergebnis der neuen Variante - David beutet Goliath aus - nicht mehr zu. Ferner folgt auch bei der im Beitrag angenommenen Präferenzordnung das Happy End nur zufallig aus der beispielhaften Konfiguration. 4. Zu den ordnungspolitischen Folgerungen: Die Moral von der Geschichte Die zentralen Aussagen des Beitrags lauten: a) Regionalpolitisch motivierte Entscheidungen zur Infrastruktur fuhren häufig zu Lösungen, die aus gesamtwirtschaftlicher und Kundenperspektive suboptimal sind, b) Es gibt jedoch auch Situationen, in

Korreferat zu Bastíais negative Eisenbahn

191

denen der Wettbewerb der Regionen bei der Infrastrukturplanung gesamtwirtschaftlich wünschenswerte Ergebnisse hervorbringt. Überregionale politische oder unternehmerische Entscheidungen sind nicht nur in der Praxis, sondern auch in der spieltheoretischen Situation von Tietzel und Müller der richtige Lösungsansatz. Die darüber hinaus getroffene Vermutung, dass andere Organisationsformen, darunter namentlich die institutionelle Trennung von Infrastruktur und Transport, effizientere Ergebnisse hervorbringen, hat großen Bezug zur aktuellen politischen Diskussion. Sie erfolgt hier jedoch ohne Herleitung. Es gibt eine Reihe von Gründen für und gegen den Verbund von Netz und Transport. Diese müssen gegeneinander abgewogen werden. Nach den Erfahrungen der Deutschen Bahn AG ist die Lösung des Trade Offs eindeutig: Der Verbund zwischen Infrastruktur und den größten Eisenbahnverkehrsunternehmen gewährleistet hohe Qualität, Produktivität, Sicherheit und Innovation im System Schiene. Die Vorteile des Verbunds stärken alle Bahnunternehmen im Wettbewerb der Verkehrsträger. Gleichzeitig lassen sich die Einwände gegen den Verbund unter dem deutschen Ordnungsrahmen entkräften. Eine empirische oder theoretische Prüfung dieser Einschätzung bildet eine große Herausforderung, ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Aber auch der Schwerpunkt des Beitrags - Infrastrukturplanung und -finanzierung gibt vor der aktuellen Verkehrs- und ordnungspolitischen Debatte zum deutschen und europäischen Schienenverkehr viel her: - Wie schneiden zentrale, übergreifende Entscheidungen gegenüber der regionalen Verantwortung für die Infrastruktur im Vergleich ab? - Wie ist die organisatorische Privatisierung und die Trennung von staatlicher und unternehmerischer Verantwortung zu beurteilen - der deutsche Status quo? - Welche Rolle spielt eine materielle Privatisierung in diesem Kontext? Welches sind die Vor- und Nachteile, die Infrastruktur hierbei einzubeziehen bzw. auszugrenzen? - Mit welchen Instrumenten und in welcher Ausprägung sollte in Zukunft regionalund verkehrspolitischen Zielen Rechnung getragen werden? Es ist nachdrücklich zu begrüßen, dass sich die Autoren diesem Themenfeld zuwenden. Eine vertiefende Analyse entlang der aufgezeigten Aspekte wäre wissenschaftlich und politisch äußerst lohnenswert. Die Weiterentwicklung unserer positiven Eisenbahn ist in vollem Gange.

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung: zwei Beispiele

Ullrich

Heilemann

Inhalt 1. Determinanten des Beratungserfolges

194

2. Beispiel „Operation'82"

196

3. Beispiel „Kemenergieausstieg"

202

4. Wissenschaftliche Politikberatung: Alibifunktion oder Einflusslosigkeit?

205

Literatur

206

194

Ullrich Heilemann

Von den Hoffnungen der 1960er Jahre auf ein rationales Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik ist hierzulande nicht viel übrig geblieben. Die Zufriedenheit mit der wirtschaftspolitischen Beratung - hoch war sie nie - hat jedenfalls seitdem deutlich abgenommen. In den letzten Jahren sogar in beängstigendem Tempo, wie mittlerweile auch in Lehrbüchern beklagt wird (Berg, Cassel und Hartwig 2003). An plausiblen Gründen für Klagen fehlt es nicht. Wie üblich, wird dabei nicht gefragt, ob und in welchem Umfang die Probleme von der Politik bzw. den Regierungen objektiv kontrolliert werden können, was keineswegs nur Politik und Publikum anzulasten ist. Die deutsche Wirtschaft verharrt seit Beginn der 1990er Jahre jedenfalls in einer Schwächephase, und gleichzeitig ist bei bereits umfangreichen Beratungskapazitäten ein Ausufern der Beratung zu verzeichnen. Diese ist nicht nur teuer1, sondern verzichtet zu oft zugunsten von Originalität und Rigorosität auf diagnostische Verankerung, Realitätsnähe und empirische Belege ihrer Erwartungen und Empfehlungen. Zugegeben, ein subjektiver Eindruck. Aber auch nur eine ungefähre Bestimmung von Angebot und Nachfrage wirtschaftspolitischer Beratung erweist sich als sehr viel schwieriger als meist angenommen: Wer fragt nach? Wer bietet an? - die Politik und die Wissenschaft gibt es nur im Seminar. Unbestimmt ist auch die qualitative Dimension, etwa von .Zufriedenheit' mit der Beratung. Aus der Sicht der Nachfrage dürfte sie von Umfang oder Detailliertheit der Beratungsleistung, ihrer Fundierung, ihrer Rechtzeitigkeit oder gar ihrer .Richtigkeit' bzw. Konformität mit den Erwartungen abhängen. Seitens des Angebotes dürfte eine Rolle spielen, ob der Beratungsauftrag hinreichend spezifiziert ist, die zur Bearbeitung erforderlichen Ressourcen oder Informationen zur Verfügung stehen usw. Entscheidender ist wohl, ob sich der Berater damit zufrieden gibt, überhaupt ,um Rat' gefragt worden zu sein, oder ob seine Analysen und Vorschläge auch - extern, intern? Beachtung finden müssen. Muss dem Rat gar gefolgt werden, und muss er zum Ziel fuhren, um von .Beratungserfolg' sprechen zu können? Und: Wer misst anhand welcher Kriterien - Zeitgenossen oder die Geschichte, Fachkollegen oder der Beratene bzw. ,die' Politik? Der vorliegende Beitrag setzt sich mit einigen dieser Fragen anhand zweier Beispiele aus den Erfahrungen des Verfassers auseinander. Allgemein gültige Antworten sind dabei nicht zu erwarten, zu zahlreich sind die Faktoren, die das Angebotsund Nachfrageverhalten der Beteiligten je nach Aufgabe, Politikfeld, Situation und Perspektiven beeinflussen. Subjektive Kosten- und Nutzenerwägungen erschweren die Aufgabe zusätzlich. 1. Determinanten des Beratungserfolges In der Literatur ist der Frage des Erfolgs wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung nicht sehr häufig und dann überwiegend nur fallweise nachgegangen worden. Beiträge wie ζ. B. die Studien in Murswick (1993) oder die bei Dieter Cassel entstandene Diplom-Arbeit von Wilke (1996) zur Effizienz der wirtschaftspolitischen Beratung am Beispiel der Pflegeversicherung bilden hierzulande seltene Ausnahmen. Dies gilt erst recht fur umfassende Rückschauen, wie ihn ζ. B. die Councils of Economic Advisers der 1

Vgl. hierzu und dem Folgenden zwei ältere Beiträge des Verfassers (Heilemann 1998, 2001). Was die aktuelle öffentliche Wahrnehmung hierzulande angeht, vgl. ζ. B. das ,ΖΕΓΓ-Dossier' über den Berater-Markt und die Industrie in ,DIE ZEIT', Nr. 7 vom 5. Februar 2004.

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung

195

Kennedy/Johnson- bzw. der Äeaga«-Administration {Tobin, Weidenbaum 1988) auf die von ihnen eingeleiteten stabilisierungspolitischen Paradigmenwechsel unternahmen oder die von Borchardt (2001) angestoßene Debatte über die Beratungsleistungen während der Weltwirtschaftskrise in Deutschland. Auf zwei wichtige allgemeine Determinanten des Beratungserfolges ist allerdings bereits einleitend hinzuweisen, zumal sie bislang weder im Fach- noch in der reichhaltigen Memoirenliteratur angesprochen werden. Erstens die Frage, ob sich die Berater in .Salomons Haus', d. h. dem ,Haus der Weisen' in Bacons Nova Atlantis zu befinden glauben und von dort die Geschicke des Staates nach Piatons Ideen als Weise (mit) zu bestimmen, oder ob sich die Berater aristotelisch/popperschen Zweifeln verpflichtet fühlen und dies auch kommunizieren und die Adressaten ihres Rates diese Einschätzung auch teilen; zweitens die Frage, nicht unabhängig von der Antwort auf die erste, ob sich Nachfrager und Anbieter von einem technokratischen, einem dezisionistischen oder einem pragmatischen Modell des Beratungsprozesses leiten lassen. Mehr denn je ist heute als Berater Trumans ,einarmiger Ökonom' gefragt - und fehlt, wie von den wirtschaftspolitischen Akteuren fast ausnahmslos beklagt wird. Gründe dafür sind nicht nur in den notorisch zweifelnden oder vorsichtigen Wissenschaftlern zu sehen, sondern auch darin, dass aus dem .Zeitalter der Ökonomen' der 1960er Jahre in den 1970er Jahren das der ,Ungewissheit' geworden war. Zwar stehen wir alle auf den Schultern von Riesen, aber eben nicht auf denen der gleichen, und selbst von Riesen fordert das Alter hie und da Tribut. Dabei ist anzuerkennen, dass die Entwicklung der wirtschaftspolitischen Problemlagen in den letzten 30 Jahren einem beträchtlichen und raschen Wandel unterlag, mit dem das etablierte Wissen kaum Schritt zu halten vermochte. Viele Teile dieses Wissens veralteten oder waren, freundlicher ausgedrückt, .strukturell zu relativieren'. Wirtschaftspolitische Zielfunktionen änderten sich, bis dahin stabile Mittel-Ziel-Beziehungen büßten an Verlässlichkeit ein. Zumindest setzte sich bei vielen in Wissenschaft und Politik dieser Eindruck fest - dem Zeitalter der Ungewissheit folgte auch in dieser Hinsicht das Zeitalter der .bescheidenen Erwartungen'. Zusammengefasst, und keineswegs nur mit Blick auf Bilanzen und Börsen, mehren sich die Zweifel, dass Information und Wissen stets Verringerung von Unwissenheit bedeuten. Im Folgenden also einige Bemerkungen zum Thema Erfolg und Erfolgsbedingungen in der wirtschaftspolitischen Beratung. Eine umfassende Analyse der beiden dazu betrachteten .Fälle' übersteigt die Möglichkeiten dieses Beitrages. Welche der - täglichen, monatlichen, jährlichen - Aussagen, Diagnosen, Prognosen, Einschätzungen und Empfehlungen auf welche Akzeptanz trafen, .richtig' oder .falsch' waren, lässt sich aus vielerlei Gründen selbst im Nachhinein nur mit beträchtlichen Unsicherheiten feststellen. Zur Beantwortung der Frage, ob ein ,Rat' - ein unscharfer Begriff - .richtig' oder .falsch' war, müssten wir letztlich wissen, wie die autre monde ausgesehen hätte, und ob dabei die Ex-post-Perspektive die richtige ist, kann bezweifelt werden. Im ersten Beispiel geht es um eine Wirkungsanalyse der „Operation '82", der ersten großen Konsolidierungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik, im zweiten um die Abschätzung der Wirkungen eines Kernenergieverzichtes der Bundesrepublik im Anschluss an das Reaktorunglück von Tschernobyl. Obwohl es sich nur um zwei Beispiele handelt, erscheinen sie doch als hinreichend repräsentativ und variant, um einige allge-

196

Ullrich Heilemann

meine Aussagen zu gestatten. Dass das erste Beispiel daneben auch etliche Parallelen zur gegenwärtigen Finanzkrise bzw. den ,Handlungszwängen' der frühen 1930er Jahre in Deutschland (Borchardt 2001) aufweist, mag das Interesse daran fördern. 2. Beispiel „Operation '82" Im Herbst 1980 war die Bundesrepublik im Gefolge des zweiten Ölpreisschocks in die Stagnation geraten. Die Arbeitslosigkeit nahm rasch zu, die Preisentwicklung beschleunigte sich, und die D-Mark geriet unter Druck (Heilemann und Hüttebräuker 1981, Arbeitsgemeinschaft 1981, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1981b, Ziff. 76 ff.). Vor allem vergrößerte sich das staatliche Haushaltsdefizit und erreichte 1981 mit 50 Mrd. DM bzw. 3,6 % des Bruttosozialprodukts (BSP) einen Rekordstand, der im nächsten Jahr auf 70 Mrd. DM (4,6 % des BSP) anzusteigen drohte. Für 1981 hatte im April 1981 die ,Gemeinschaftsdiagnose' einen Rückgang des realen BSP um 1,5 % sowie eine Preissteigerung von 5 % prognostiziert, aber im Oktober des Jahres für 1982 dann mit einer prognostizierten Wachstumsrate des realen BSP von 0,5 % eine Überwindung der Rezession in Aussicht gestellt. Die erwartete Belebung war indessen bescheiden, und die Erwerbstätigkeit würde weiter sinken, die Arbeitslosenquote nach 3,8 % in 1980, 5,5 % in 1981 dann auf 7 % ansteigen. Die von SPD und FDP getragene Bundesregierung sah sich angesichts der zunehmenden Fiskalprobleme spätestens seit Sommer 1981 in ihren Haushaltsplanungen für 1982 und danach zu einer Reihe von Sparmaßnahmen und Einnahmeverbesserungen („Operation '82") veranlasst. Diese sollten bis 1985 zu einer deutlichen Verringerung ihres Haushaltsdefizits führen. Für 1982 war ein Abbau um 19 Mrd. DM, für 1983 um 23 Mrd. DM vorgesehen, was jeweils etwa 1,1 % des BSP entsprach. Der Widerspruch dieser Maßnahmen zu den konjunkturellen Erfordernissen in einer Schrumpfungsphase (1981) bzw. Stagnationsphase (1982) war dem Finanzminister und den Regierungsparteien SPD und FDP durchaus bewusst2. Der Finanzminister führte in diesem Zusammenhang jedoch an, dass der Haushalt noch immer expansiv sei (Zunahme der Ausgaben um 4,2 % bei einer Inflationsrate von 4,1 %). Dem Vorwurf prozyklischer Haushaltspolitik, vor allem aus den eigenen Reihen, begegnete er, indem er die Beschäftigungswirkungen der vorangegangenen ,Konjunkturprogramme' stark relativierte. Vor allem aber verwies er auf die Vertrauenseffekte der Konsolidierungsmaßnahmen, die eine kreislaufmäßige Betrachtung, wie sie den Vorwürfen einer prozyklischen Politik zugrunde liege, völlig ignoriere. Mit .Vertrauenseffekten' hatte auch der Sachverständigenrat (1981a, Ziffer 13 ff.) in einem Sondergutachten vom 4. Juli 1981 argumentiert und eine strenge Konsolidierung gefordert. Knapp vier Wochen danach, am 30. Juli, beschloss die Bundesregierung die Eckdaten zum Bundeshaushalt 1982 und zum Finanzplan bis 19853, am 3. September 1981 dann den Bundeshaushalt/Finanzplan und in 2

3

Vgl. dazu die Einbringungsrede zum Bundeshalt 1982 von Finanzminister Matthöfer (1981) sowie die spätere Bundestagsdebatte (Deutscher Bundestag 1982a). Danach sollten 1982 die Ausgaben auf 240,8 Mrd. DM steigen, die Nettokreditaufnahme war auf 26,5 Mrd. DM veranschlagt. Dazu waren die Kürzung von Ausgaben im Haushaltsverfahren um 2,5 Mrd. DM und durch gesetzliche Maßnahmen um 9,5 Mrd. DM vorgesehen

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung

197

diesem Rahmen zur Entlastung der Öffentlichen Haushalte die „Operation '82". Am 27. Oktober ergänzte sie die „Operation '82" um eine Reihe weiterer Maßnahmen zur Deckung des zusätzlichen Finanzbedarfs von 7,8 Mrd. DM im Bundeshaushalt 1982. Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat beschloss am 8. Dezember 1981 noch zusätzliche Änderungen und Ergänzungen. Auf dieser Grundlage und der Ergebnisse der neuen Steuerschätzung beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestages am 13. Dezember 1981 eine Reihe weiterer Änderungen. Am 22. Januar 1982 verabschiedete dann der Bundestag den Haushalt, nachdem wesentliche Begleitgesetze dazu bereits zum 1. Januar in Kraft getreten waren. Auf eine Quantifizierung der von der „Operation '82" zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Effekte - Primär- und Sekundäreffekte bei Wachstum, Beschäftigung, Preisen und Haushaltsdefizit - hatte die Bundesregierung verzichtet. Angesichts der öffentlichen Debatte um das Maßnahmenpaket und seine Konjunkturbedeutsamkeit sah sich das Rheinisch-Westfälische Institutfär Wirtschaftsforschung (RWI) veranlasst, diesen Wirkungen nachzugehen. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei die Größenordnung der vom Bundesminister der Finanzen und vielen anderen mehrfach angesprochenen .Vertrauenseffekte' der Haushaltskonsolidierung finden. Methodische Grundlage der Untersuchung bildete das RWI-Konjunkturmodell, ein makroökonometrisches Modell mittlerer Größenordnung, das seit einigen Jahren vom RWI und Dritten, darunter auch das Bundesministerium für Wirtschaft, zur Prognose und Wirkungsschätzung gesamtwirtschaftlicher Maßnahmen Verwendung fand. Die Einzelheiten der Untersuchung - das verwendete Modell, seine Basislösung, die Operationalisierung der Maßnahmen und die Untersuchungsergebnisse - sind an anderer Stelle ausführlich dokumentiert (Heilemann und Hüttebräuher, S. 224) und müssen hier nicht weiter interessieren. Die ca. 13 Hauptbestandteile der „Operation '82" wurden, nach etlichen insgesamt wenig bedeutsamen Modellmodifikationen, zunächst isoliert und dann zusammengefasst simuliert. Die Effekte der „Operation '82" ließen sich dann durch Abzug der Simulationsergebnisse von denen der Basisprognose, bei der die Durchführung dieser Maßnahmen unterstellt worden war, bestimmen. Die Simulationen ergaben, dass, gemessen am realen BSP, das Sparprogramm 1982 Wachstumsverluste von 0,3 %-Punkten und 1983 von 1,0% zur Folge haben würde. Am stärksten betroffen war aufgrund der Zusammensetzung des Maßnahmenpakets erwartungsgemäß der Private Verbrauch mit einem Rückgang von 1 % (1982) bzw. von 2,2 % (1983). Im Verbund mit den übrigen Maßnahmen würde, ungeachtet der Abschreibungserleichterungen und des Wohnungsbauprogramms, in 1983 auch die Investitionstätigkeit mit -1,4 %-Punkten betroffen sein. Aufgrund der Wachstumsverluste würde sich die Zahl der Erwerbstätigen um 30.000 (1982) bzw. 140.000 (1983) vermindern. Da gleichwohl die Anpassung der Beschäftigung an die veränderte Produktion nur verzögert erfolgt, würden trotz der Steuererleichterungen für Unternehmen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 0,7 %- bzw. 1,0 %vH-Punkte sowie die Erhöhung von Einnahmen um knapp 2,5 Mrd. DM, vor allem durch Abbau von Steuervergünstigungen und die Anhebung der Tabaksteuer. Bis 1985 sollten die Ausgaben des Bundes jährlich um nicht mehr als 4 % steigen. Die Nettokreditaufnahme sollte gegenüber der im Jahre 1982 deutlich sinken.

198

Ullrich Heilemann

gegenüber der Basisprognose sinken. Insgesamt hielten sich bezüglich des Wachstums die einnahmen- und ausgabenseitigen Konsolidierungsmaßnahmen die Waage - aufgrund der Erhöhung indirekter Steuern und Abgaben im Sozialen Wohnungsbau stieg der Preisindex des Privaten Verbrauchs um 0,5 %- bzw. 0,7 %-Punkte. Wie angesichts der gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der Maßnahmen nicht anders zu erwarten, reduzierte sich der Konsolidierungsbeitrag der „Operation '82" auf durchschnittlich 70 % des erwarteten (Brutto-)Betrages. Eine der Begründungen der Bundesregierung wie auch des Sachverständigenrats (1981a) für das Konsolidierungsprogramm lautete, dass andernfalls „vertrauensbedingt" - spezifischere Hinweise wurden nicht gegeben - mit einem Zinsanstieg zu rechnen sei. Deshalb wurde in der Untersuchung auch derartigen Wirkungen nachgegangen. 4 Über die Zinswirkungen einer ca. 17 bzw. 18 Mrd. DM brutto bzw. 14 Mrd. DM und 10 Mrd. DM netto höheren Kreditaufnahme lagen keine Informationen vor. Plausibilitätsüberlegungen auf der Basis des deutschen bzw. internationalen Sparaufkommens 5 lieferten jedenfalls keine Anhaltspunkte für entsprechende Erwartungen. Hilfsweise wurde daher untersucht, wie hoch Zinseffekte ausfallen müssten, um die negativen Wirkungen des Konsolidierungsprogramms zu kompensieren. Es wurde ein Wert von 1,6 % errechnet, d. h. ein Wert, der weit über den vorliegenden empirischen Untersuchungen bezüglich der Zins/Wachstumselastizität lag, wie gleich näher ausgeführt wird. Kurz: die „Operation '82" wirkte auch unter Berücksichtigung andernfalls möglicher Zinserhöhungen kontraktiv. Obwohl sich zu Beginn des Jahres 1982 die aktuelle und künftige gesamtwirtschaftliche Lage kaum anders als noch im Herbst 1981 darstellten, beschloss die Bundesregierung am 3. Februar 1982 - nachdem, wie erwähnt, am 22. Januar 1982 der Bundeshaushalt verabschiedet worden war - das „Gesetz über steuerliche und sonstige Maßnahmen für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität (Gemeinschaftsinitiative)". Im vorliegenden Zusammenhang verdienen vor allem zwei Maßnahmen Beachtung: Eine zehnprozentige Zulage für alle im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Oktober 1982 in Auftrag gegebenen Investitionen sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuersätze zum 1. Juli 1983 von 12 % auf 13 % bzw. von 6,5 % auf 7 %. Ferner erfuhr das Hochbauprogramm des Bundes eine geringfügige Erhöhung. Es war klar, dass die ,Gemeinschaftsinitiative' - ihr Gesamtvolumen belief sich auf ca. 1,5 Mill. DM in 1982 und 2,5 Mill. DM in 1983 - vor allem zur Kalmierung von Teilen der SPD gedacht war. Nachdem der Bundesrat die , Gemeinschaftsinitiative' abgelehnt hatte und die Wachstumserwartungen der Gemeinschaftsdiagnose vom Herbst 1981 im April für 1982 von 1 % auf 0,5 % zurückgenommen worden waren, beschloss der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat am 12. Mai 1982 die befriste-

4

Der Sachverständigenrat (1981b) argumentierte ferner mit den negativen Wirkungen einer weiteren Abwertung der DM. Letzterem wie auch - vermeintlichen - Zinswirkungen wäre freilich mit einer Kreditaufnahme der öffentlichen Hand im Ausland zu begegnen, was dann 1982 auch tatsächlich der Fall war.

5

Eine Sparquote von ca. 20 % des BIP für die Industrieländer in diesen Jahren unterstellt, ergab immerhin ein jährliches ,Welt'-Sparaufkommen von mehr als 4.000 Mrd. DM.

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

199

te Investitionszulage; die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer fand dagegen keine Zustimmung. Auch diesen Wirkungen wurde in dem Beitrag nachgegangen (Heilemann und Hiickebräuker, S. 239 ff.)· Die Kommentierung der Simulationsergebnisse kann wiederum knapp ausfallen, vor allem auch deshalb, weil ein wesentlicher Teil der Primärwirkungen der Investitionszulage mangels belastbarer empirischer Erkenntnisse bezüglich der Mitnahmeeffekte .gesetzt' werden mussten. Wie in den - reichlich optimistischen Erwartungen der Bundesregierung wurde unterstellt, dass ein zusätzliches Investitionsvolumen von rund 10 Mrd. DM in 1982 und 20 Mrd. DM in 1983 mobilisiert würde. Nach den Simulationsergebnissen würde das Wirtschaftswachstum 1982 um 0,5 %- und 1983 um 1 %-Punkt höher ausfallen als sonst - Preiswirkungen waren nur fur den Fall der (abgelehnten) Erhöhung der Mehrwertsteuer zu erwarten (0,3 % beim Preisindex des Privaten Verbrauchs 1983). Die Verteilungswirkungen begünstigten vor allem die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und -vermögen, da von unveränderten Tariflöhnen ausgegangen worden war. Das Staatsdefizit würde 1982 nur um ca. 1/3 des zusätzlichen staatlichen Ausgabebetrages ansteigen, 1983 um etwa 40 %. Die Frage von .Vertrauenseffekten' wurde im Zusammenhang mit der ,Gemeinschaftsinitiative' bemerkenswerterweise von deren Vertretern nicht mehr thematisiert. Auf die Berechnung möglicher Zinswirkungen konnte indessen auch deshalb verzichtet werden, da nach den vorangegangen Überlegungen von bestenfalls marginalen Effekten auf die Zinsen und damit auch Zinswirkungen auszugehen war. Die Rezeption der Untersuchungsergebnisse in der Presse war in der üblichen Weise interessiert.6 Bei der Politik, genauer bei der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien, trafen sie auf ein unterschiedliches Echo. Dabei entsprachen die festgestellten kontraktiven bzw. expansiven Wirkungen der Konsolidierung bzw. der Investitionsförderung durchaus dem .Stand der Wissenschaft', wie er sich nicht zuletzt in den gesamtwirtschaftlichen Prognosen der .Gemeinschaftsdiagnose', des Sachverständigenrats oder des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung manifestiert. Den Abgeordneten Dr. Schöfberger (SPD) veranlasste die RWI-Untersuchung am 23. April 1982 in einer Mündlichen Anfrage an die Bundesregierung, diese nach ihrer Beurteilung der fiskalischen und gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der „Operation'82" und der Beschäftigungsinitiative zu fragen (hierzu und dem Folgenden: Deutscher Bundestag 1982, S. 5851). In seiner Antwort verwies Staatssekretär Haehser (SPD) darauf, dass es sich bei der RWI-Untersuchung „... um eine an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage orientierte Kreislaufberechnung handle". Die Auswirkungen der Maßnahmen auf das Zinsniveau sowie auf das wirtschaftliche Klima und die Erwartungen von Wirtschaft und Verbrauchern würden dagegen nicht (!) berücksichtigt. Er konzedierte, dass kurzfristig von den Maßnahmen „nachfragedämpfende Wirkungen" ausgehen könnten. Sie könnten allerdings nicht beziffert werden, und ihnen ständen die positiven Wirkungen der besseren Zinsentwicklung gegenüber. In einer Zusatzfrage wollte der Abgeord-

6

Die Arbeit war mit Sperrfrist 23. März 1982 der Presse zur Verfügung gestellt worden und hatte bei den großen Agenturen sowie bei FAZ, FR, Handelsblatt und SZ in den Ausgaben vom 23. März 1982 größere Beachtung gefunden.

200

Ullrich Heilemann

nete übrigens wissen, „ob es in Zukunft bei ähnlichen Gesetzesmaterien möglich sein könnte, dem Bundestag eine globale Übersicht im Sinne einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bezüglich aller, auch der sekundären Auswirkungen solcher Operationen zur Verfügung zu stellen, damit das Parlament nicht nur die günstigen Auswirkungen, etwa die Haushaltseinsparungen, kennt, sondern auch alle unabwendbaren, aber sicher zunächst nicht beabsichtigten Folgewirkungen solcher Operationen". Der Staatssekretär lehnte es unter dem Beifall der CDU/CSU ab, den Gesetzentwürfen „nun noch umfangreiche lyrische Werke" beizufügen. Unabhängig von den Wirkungen im Einzelnen ging es im Kern schlicht um die alte Frage, ob unter den gegebenen Bedingungen Haushaltsausgleich bzw. Defizitreduzierung Vorrang vor konjunkturpolitischen Erfordernissen haben sollten. Eine Frage, die mit zunehmender Eintrübung der Konjunkturaussichten bis hin zur Rezession - im Herbst 1982 sollte die , Gemeinschaftsdiagnose' für das Jahr 1982 einen Rückgang des realen BSP um -1 % und fur 1983 ein Null-Wachstum prognostizieren - zunehmend an Bedeutung gewann. Die Kontroversen um den weiteren finanz- und konjunkturpolitischen Kurs verschärften sich innerhalb der Regierung und zwischen den Regierungsparteien SPD und FDP zunehmend und führten dann am 17. September 1982 zum Bruch der SPD/FDP-Koalition. Zuvor hatte sich der neue - seit dem 28. April 1982 amtierende - Bundesminister der Finanzen, Lahnstein, veranlasst gesehen, in einer Klausurtagimg vom 10.-12. September 1982 in Bad Neuenahr diese Fragen in einem kleinen Kreis zu erörtern. Dabei hatte auch der Verfasser Gelegenheit erhalten, Methode und Ergebnisse der RWIUntersuchung vorzustellen. Die Einwände der Teilnehmer beschränkten sich dabei im Wesentlichen auf die möglichen Crowding-out-Effekte. Der Verfasser räumte diese Möglichkeit prinzipiell ein, relativierte sie jedoch (s. o.) - mit Verweis auf den Umfang des internationalen Kapitalmarktes, vor allem aber mit Blick auf die zur Neutralisierung der kontraktiven Effekte erforderlichen unrealistisch hohen Zinsreaktionen. Der Relativierung der Crowding-out-Effekte wurde auf der Tagung weder seitens der anderen Wissenschaftler noch seitens der Vertreter von Exekutive und Legislative widersprochen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 1982). Die Diskussion auf der Klausurtagung erhielt überraschend neue Nahrung, als der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Schlesinger, auf eine in den nächsten Tagen im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank erscheinende Studie verwies, die die RWI-Ergebnisse von einer anderen Seite in Zweifel zogen. Im Rahmen der Darstellung der neuesten Version ihres ökonometrischen Modells ging die Bundesbank in einer Simulationsstudie den gesamtwirtschaftlichen Wirkungen eines staatlichen Investitionsprogramms im Zeitraum 1974 bis 1981 nach (Deutsche Bundesbank 1982). Dabei kam sie zu dem im Lichte bekannter Ergebnisse überraschenden Befund, dass zwar durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme das reale BSP zunächst zunimmt, durch anschließende Preissteigerungen dieser Wachstumsgewinn jedoch mehr als aufgezehrt wird. Der Verfasser des vorliegenden Beitrages hielt dem entgegen, dass, soweit es sich dabei um Ergebnisse des Bundesbankmodells handelt, diese den vorangegangenen widersprechen und nur durch eine Spezifikationsänderung des bisherigen Modells erreicht worden sein konnten. Die neue Version könne jedoch weder als empirisch gut fundiert

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

201

noch als repräsentativ angesehen werden, denn keines der bekannten Modelle gelangt zu ähnlichen Befunden.7 Bemerkenswerterweise bestritt die Bundesbank in ihrem Beitrag nicht die hohe „Selbstfinanzierung" von Konjunkturprogrammen. Auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Simulationsergebnissen im Lichte der späteren Erfahrungen der Bundesrepublik mit hohen Defiziten oder mit Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen .vertrauensstärkender' Konsolidierung muss an dieser Stelle verzichtet werden. Auf zwei spätere Befunde zum Konflikt zwischen Konsolidierungs- und Konjunkturerfordernissen soll jedoch mindestens hingewiesen werden. Sarrazin (1984), 1981/82 Leiter des Ministerbüros im Bundesministerium der Finanzen, gelangte in einer Beurteilung der deutschen Finanzpolitik des Bundes 1970 bis 1982 unter anderem zu dem Ergebnis, dass es aus haushaltspolitischen Gründen zu der „Operation '82" praktisch keine Alternative gegeben habe. Für Zinswirkungen für den Fall eines Verzichts auf die Konsolidierung sah er aufgrund deskriptiver Analysen und saldentechnischer Überlegungen allerdings keine Anhaltspunkte, wohl aber sah er die Konsolidierung als Voraussetzung für die Zinsschritte der Deutschen Bundesbank in den Jahren 1982 und 1983.8 Insgesamt war fur Sarazin die antizyklische Finanzpolitik in Deutschland, gemessen an den Ende der 1960er Jahre allgemein anerkannten Maßstäben, als gescheitert anzusehen, für eine konjunkturstabilisierende Rolle fehlte der deutschen Finanzpolitik der Spielraum. Was die Zinswirkungen zusätzlicher Staatsverschuldung angeht - das explizit zentrale Argument auch der deutschen Debatte 1980/81 - , so kommen Gale und Orszag (2003) in einer Analyse von 17 Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass dieser Zusammenhang nicht eindeutig ist (,mixend results') ist. Für sie ergibt sich als Evidenz aus makroökonometrischen Simulationsstudien und aus Einzelstudien, dass ein Anstieg der Defizitquote um 1 %-Punkt zu einem Anstieg der langfristigen Zinsen innerhalb eines Jahres um 0,5 %-Punkte führt. Bei der Beurteilung dieser Ergebnisse ist freilich zu beachten, dass die untersuchten Studien - offenbar auch die Modellsimulationen - offen lassen, inwiefern dieser Anstieg tatsächlich auf das höhere Staatsdefizit zurückzuführen ist und z. B. nicht auf den mit seiner Ausweitung verbundenen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Aktivität oder auf Reaktionen der Geldbehörde auf befürchtete inflationäre Effekte usw.9 Aus empirischer Sicht ist ferner hinzuzufügen, dass es sich bei den referierten Ergebnissen erstens um solche für die Vereinigten Staaten mit ihren zweifellos spezifischen Kapitalmarktbedingungen handelt und zweitens, dass auf jegliche Relativierung der Ergebnisse z. B. hinsichtlich der konjunkturellen Situation, die Ursachen

7

Vgl. dazu im Einzelnen Heilemann (1983) sowie Zwiener (1983), die Entgegnung auf die Kritik von Jahnke (1983) sowie die Repliken von Heilemann (1984) und Zwiener (1984).

8

Von September 1980 bis September 1983 führte die Zentralbank den Diskontsatz in vier Schritten auf 7,5 % zurück. Das Staatsdefizit (in % des BSP) hatte sich dabei zunächst von 2,9 % (1980) auf 4,0 (1981) erhöht und war dann auf 3,5 % (1982), 2,9 % (1983), 2,0 % (1984) und 1,1 % (1985) zurückgegangen; vgl. dazu im Einzelnen Gebhardt (1989).

9

Vgl. dazu z. B. die Ergebnisse einer .reduzierten' Form eines gesamtwirtschaftlichen Modells, wie es in der Feldstein-Eckstein-Gleichung (Feldstein und Eckstein 1976) zum Ausdruck kommt.

202

Ullrich Heilemann

des Zinsanstiegs oder das jeweilige Wechselkursregime und die jeweilige Wechselkurssituation, verzichtet wird. Zurück zu der RWI-Studie. Die Simulationsergebnisse beeindruckten zunächst offensichtlich nur wenige der Akteure. Wie fast immer in derartigen Fällen - Präsident Reagan bediente sich zur gleichen Zeit zur Rechtfertigung hoher Steuersenkungen trotz hoher Budgetdefizite der Laffer-Kvtrve - wurde mit empirisch unbegründeten Reaktionsänderungen (,parameters') zur Kompensation der Konsolidierungswirkungen (,policies') gerechnet.10 Gleichwohl: Nimmt man den Realisierungsgrad der expliziten oder impliziten Empfehlung' einer Maßnahme oder - wie im vorliegenden Fall - ihr Unterlassen zum Maßstab, so war der RWI-Untersuchung kein Erfolg beschieden. Als Erklärung kommen aus heutiger Sicht vor allem drei Umstände in Betracht: - Die Untersuchung kam zu spät, um den beschlossenen Kurs der Bundesregierung noch spürbar beeinflussen zu können. Die Demokratie scheint sich diesbezüglich - anders als noch von den Alten erwartet - nicht von anderen Herrschaftsformen zu unterscheiden. Allerdings nahm das Interesse an ihr deutlich zu - zumal nach der deutlichen Wahlniederlage der SPD in den Wahlen zum Niedersächsischen Landtag am 21. März 1982, als sich die konjunkturelle Lage bis hin zur Gefahr der Stagnation und Rezession zu verschlechtern begann und sich innerhalb der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien die Frage nach Konjunkturstabilisierung neuerlich stellte. - Die Simulationsergebnisse konnten - und können - aus einer Reihe von Gründen die Gefahr von Zinseffekten nicht ausschließen, insbesondere dann nicht, wenn die Geldbehörde die Konsolidierung zur Voraussetzung von Zinslockerungen macht. - Entscheidend dürfte damit sein, dass generell haushaltspolitische Orthodoxie - Stiglitz (2003, S. 272 ff.) spricht vom „deficit reduction myth" - fur die Regierung Vorrang vor gesamtwirtschaftlichen Erwägungen besaß. 3. Beispiel „Kernenergieausstieg" Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1986 erlebte die Diskussion um die Akzeptanz der Kernenergie auch hierzulande einen neuerlichen Aufschwung. Rasch kam die Forderung nach einer sofortigen Abschaltung aller (deutschen) Kernkraftwerke auf. Bundeskanzler Kohl hielt den Befürwortern dieser Maßnahme entgegen, dass dann in Deutschland „die Lichter ausgehen würden", und dies sei politisch nicht zu verantworten. Dieser Einschätzung wurde von anderen Seiten vehement widersprochen. Zur Klärung der Frage, mit der sich naturgemäß auch der im September d. J. vom Bundeswirtschaftsministerium vorzulegende Energiebericht der Bundesregierung auseinandersetzen musste, hatte das Ministerium ein Gutachten ausgeschrieben, in dem „eine qualitative und quantitative Abschätzung der kurz- und langfristigen Wirkungen eines Verzichts (der Bundesrepublik) auf Kernenergie" vorzunehmen war. Am 2. Juni 1986 erhielten sowohl das Öko-Institut, Freiburg und das Institut für ökologische Wirt10

Zur Erinnerung: Die bundesstaatliche Defizitquote der Vereinigten Staaten war 1982 von 2,4 % auf 4,5 % und 1983 auf 5,7 % gestiegen. Am Ende von Reagans Amtszeit (1988) belief sie sich noch immer auf 3,5 % bzw. 140 Mrd. US-Dollar.

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

203

schaftsforschung Berlin als auch das RWI den Auftrag zur Erstellung eines solchen Gutachtens, Abgabetermin war der 18. August 1986. Angesichts der extrem kurzen Bearbeitungszeit war von vornherein klar, dass es nicht darum gehen konnte, alle Aspekte einer solchen hypothetischen Maßnahme gleichermaßen tief auszuleuchten. Schwerpunkte des Gutachtens sollten vielmehr die kurzund langfristigen elektrizitäts- und gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen der Maßnahme sein. Ökologischen Aspekten war nur bezüglich der zu erwartenden Schadstoffemissionen nachzugehen (vgl. hierzu und dem Folgenden Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung 1986 sowie Heilemann 1986). Die langfristigen Wirkungen auf die künftige technische und technologische Entwicklung eines hoch industrialisierten Landes wie der Bundesrepublik oder die Frage nach dem Beitrag so genannter alternativer Energieträger zukünftiger Energieversorgung waren ebenfalls nicht zu untersuchen. Anfang September stellte das Institut seine Ausarbeitung der Öffentlichkeit vor.11 Auf methodische Details kann hier wiederum verzichtet werden, und die Wiedergabe der Ergebnisse kann ebenfalls knapp ausfallen. Das RWI war zu dem Ergebnis gekommen, dass die mit einem sofortigen Verzicht verbundene Stromverteuerung von ca. 15 % zu einer Stagnation des Stromverbrauchs führen und die Entwicklung erst in 2010 auf den langfristigen Trend der Status-quo-Prognose einschwenken würde. Da Kernbrennstoffe gegenüber Steinkohle, Gas und Öl erheblich billiger sind, würden die Strompreise um ca. 2 bis 3 Pf/KWh steigen. Die Kapitalkosten würden zwar aufgrund des Einsatzes abgeschriebener Kohlekraftwerke sinken (1,1 Pf/KWh), aber die unterstellten .Kapitalvernichtungskosten' würden über höhere Abschreibungen in die Kostenrechnung eingehen. Per Saldo würde sich in den nächsten fünf Jahren ein um etwa 4 Pf/KWh höherer Strompreis ergeben, wobei die Differenz danach auf 3,1 Pf/KWh gegenüber dem Referenzszenario fällt. Entsprechend wäre von einer beträchtlichen Mehrbelastung der Privaten Haushalte und der Wirtschaft - jeweils ca. 3 % des Privaten Verbrauchs bzw. der Bruttowertschöpfung - auszugehen. Die sektoralen Wirkungen der Stromverteuerung würden sich allerdings vor allem bei den energieintensiven Bereichen - Aluminiumindustrie, Grundstoffindustrie sowie Stahlindustrie - niederschlagen. Entsprechend wäre auch mit einer deutlichen Konzentration der regionalen Wirkungen zu rechnen - das Süd-Nord-Gefälle würde verstärkt, die ,altindustriellen Regionen' wären besonders betroffen. Dass in wirtschaftspolitischer Hinsicht der Verzicht auf die Kernenergie eine Abkehr der seit der Ölkrise 1973/74 verfolgten Politik des ,Weg vom Öl' und einen Verlust an Freiheitsgraden in der Energieversorgung bedeuten würde, lag auf der Hand. In gesamtwirtschaftlicher Hinsicht würde im Durchschnitt zweier Jahre die Stromverteuerung zu einer Reduzierung des Wachstums um ca. 1 %-Punkt, einem Rückgang der Beschäftigung um 100.000, einer Zunahme des Preisanstieges um ca. 0,6 %-Punkte und des Finanzierungsdefizits um 7,5 Mrd. " Vgl. dazu z. B. FAZ, FR, .Handelsblatt', SZ, ,Die Welt' (alle vom 4. September 1986), NZZ (Fernausgabe) und .DIE ZEIT' vom 5. September 1986, ,ΤΗΕ ECONOMIST' vom 13. September 1986, ,DER SPIEGEL' vom 8. September 1986. Die Debatte über die Gutachten und ihre Ergebnisse sowie die politischen Umstände ihrer Erteilung setzte sich in der Presse bis in den späten Herbst fort.

204

Ullrich Heilemann

DM führen. Die ökonomischen Folgen kämen also sowohl was Dauer als auch Intensität des Abschwungs angeht, ,nur' einer leichten Rezession gleich. Der kurzfristige Verzicht auf die Kernenergie hätte mithin beträchtliche energiewirtschaftliche und in der Folge davon gesamtwirtschaftliche Konsequenzen haben können. Aber angesichts der rasch mobilisierbaren energiewirtschaftlichen Substitutionsmöglichkeiten konnte keine Rede davon sein, dass „in Deutschland die Lichter ausgehen werden". In diesem Punkt stimmten auch beide Gutachten überein. Die Aufnahme dieser Kernaussage des Gutachtens war, was die skizzierten Ergebnisse angehen, in der Öffentlichkeit und bei weiten Teilen der Politik positiv und zustimmend. Von Teilen der Regierung und der sie tragenden Parteien sowie Teilen der Presse wurde allerdings heftig bemängelt, 12 dass - auftragsgemäß - die industriepolitische Bedeutung des Kernenergieausstieges bzw. des als solchen interpretierten ,Innovationsschocks' offen geblieben war. Bemerkenswert war, dass die kognitive Basis der Aussagen, d. h. die verwendeten Modelle (Energiemodell, Sektoralmodelle, Konjunkturmodell) und die damit verbundenen Einschränkungen der Aussagen, in den anschließenden Diskussionen kaum Beachtung fanden. Dies galt sowohl für die den Wirkungsschätzungen zugrunde gelegten Reaktionsweisen bzw. Hypothesen als auch für die Antezedenzbedingungen, also die Annahmen, ζ. B. bezüglich der künftigen Preise der Importkohle und der fur den Transport der Importkohle erforderlichen Verkehrsinfrastruktur. Wenig Beachtung fand auch die Frage der Präzision der Aussagen, d. h. ihre ,Fehlermarge' bzw. die Erklärungskraft der Hypothesen und deren Konsequenzen. Auch die Frage, ob die verwendeten Modelle zur Beantwortung angemessen spezifiziert seien, wurde nicht gestellt. Den möglichen Einwänden und den sich daraus eventuell ergebenden Relativierungen der Ergebnisse des Gutachtens hätte durch Simulationsrechnungen mindestens partiell Rechnung getragen werden können. Dies war aber vom Auftraggeber weder bei der Auftragserteilung noch später nach Abschluss des Gutachtens trotz der Kritik der Bundesregierung und anderer an diesen Annahmen als Ergänzung gefordert worden. Aus heutiger Sicht zeigt sich freilich, dass sowohl die Preisannahmen ζ. B. für die Importkohle zu pessimistisch und die bezüglich des Wirtschaftswachstums zu optimistisch waren. Insofern überzeichnete das Gutachten eher die negativen Auswirkungen des Kernenergieverzichts der Bundesrepublik, als dass es sie bagatellisierte. Die Bundesregierung und die Energiewirtschaft lehnten auch nach Vorliegen der Gutachten - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - den „Kernenergieausstieg" aus einer Reihe von Gründen ab. Die Bundesregierung verwies dabei ζ. B. in ihrem Energiebericht (1986, Tz. 2-4, 20) einmal auf das hohe Sicherheitsniveau der deutschen Kernkraftwerke, ihre Wirtschaftlichkeit und ihre Auswirkungen auf die Umwelt im Vergleich zu an-

12

Insbesondere wurde verwundert registriert, dass das RWI zu diesem vermeintlich regierungskritischen und .wirtschafts- und energiewirtschaftsfeindlichen' Ergebnis gekommen war, das man nur den ,Öko-Gutachtern' zugetraut hatte. Namentlich dem Bundeswirtschaftsminister, Bangemann (FDP), wurde blauäugige bis fahrlässige Gutachtenvergabe vorgeworfen, was das Regierungsbündnis von CDU und FDP zeitweilig an den Rand einer Koalitionskrise brachte. Vgl. dazu im Einzelnen ζ. B. die in Fußnote 8 genannten Beiträge im .SPIEGEL' und in der ,ΖΕΓΓ' sowie die sich anschließenden Behandlungen des Themas in der überregionalen Tagespresse.

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

205

deren Energieträgern, auf die Verantwortung der Industrieländer fur die Energieversorgung der Dritten Welt, auf die technologische Bedeutung und vieles andere mehr. Aber die prinzipielle Option, die Möglichkeit eines Kernenergieverzichts der Bundesrepublik ohne verheerende gesamtwirtschaftliche oder energiewirtschaftliche Folgen, wurde nicht mehr in Frage gestellt. Insofern kann aus der Sicht der Verfasser durchaus von einer .erfolgreichen' Beratung gesprochen werden. Verantwortlich dafür waren vor allem drei, voneinander nicht unabhängige Gesichtspunkte: - Am wichtigsten war die Natur des Beratungsproblems selbst: Die Frage der Substitution der Kernenergie durch alternative Energieträger war als technisch/ökonomisches Problem zweifelsfrei zu beantworten. - Das Ergebnis war Resultat eines Beratungsauftrages des Entscheidungsträgers, mit dem er sich angesichts der andauernden Aktualität des Themas und des hohen Interesses der Öffentlichkeit auseinandersetzen musste. - Schließlich: Das Beratungsergebnis kollidierte nicht mit bereits getroffenen politischen Entscheidungen und stellte auch keine Einengung des staatlichen Handlungsspielraums dar - auch wenn die Alternative des Kernenergieverzichts aus Sicht der Regierung und großer Teile der Wirtschaft bzw. der Energiewirtschaft für sie die Sache nicht leichter machte. Im Grunde konnte die Bundesregierung sogar auf einen Erfolg ihrer ,diversifizierten' Energiepolitik verweisen, denn andere große Industrieländer, wie Frankreich, besaßen zu diesem Zeitpunkt diese Option bereits nicht mehr. 4. Wissenschaftliche Politikberatung: Alibifunktion oder Einflusslosigkeit? Reduziert man die Frage des Beratungserfolges auf die Frage nach der politischen Umsetzung oder - etwa im Falle der Opposition - das Drängen darauf, so machen die beiden Beispiele deutlich, dass er im Kern vielfach lange vor dem Beratungsergebnis selbst feststeht - nicht selten bekanntlich bereits durch die Auswahl der Berater. Das gilt nicht nur für den Fall der institutionalisierten periodischen Beratung - ein bekanntes Beispiel ist in Deutschland die Auseinandersetzung der Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit den Empfehlungen des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" - oder für Beratungen, deren AlibiCharakter von vornherein offenkundig ist. So tendieren die Realisierungschancen des ,Rates' gegen Null, wenn sich die Akteure öffentlich bereits auf (andere) Maßnahmen festgelegt haben. Dies insbesondere dann, wenn es sich um Beratung ohne Auftrag handelt und keine grundsätzlich neuen Argumente ins Spiel gebracht werden, sondern bereits vorgebrachte verstärkt oder ausdifferenziert werden. Es dürfte sehr schwer fallen, in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Belege dafür zu finden, dass sich die Politik umstimmen ließ, zumindest nicht kurzfristig. Auch im Falle der „Operation '82" war die zuletzt eingetretene stärkere Berücksichtigung konjunkturpolitischer Erfordernisse vor allem auf die deutliche Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage und die Wahlniederlagen der Koalitionsparteien bzw. der SPD in den Landtagswahlen in Niedersachsen (März) und in Hamburg (Juni) und kaum auf die in der Analyse des RWI festgestellten Wirkungen zurückzuführen. Kein bis ein allenfalls geringer Einfluss wirtschaftspolitischer Empfehlungen ist allerdings auch dann zu prognostizieren, wenn kon-

Ullrich Heilemann

206

solidierungspolitische und konjunkturpolitische Erfordernisse im Widerspruch stehen. Etwas frei nach Hans Schäffers „Vademecum für Staatssekretäre und solche, die es werden wollen" aus den 1930er Jahren: „Kasse geht vor Haushalt, Haushalt geht vor Wirtschaft" ( Wandel 1974, S. 302). Lassen sich aus diesem Dilemma Rückschlüsse für eine Verbesserung der wirtschaftspolitischen Beratung auf der Anbieter- und auf der Nachfrageseite ziehen? Legt man das aristotelisch/poppersche Modell in Verbindung mit dem technokratischen/ pragmatischen Ansatz zu Grunde, kann das Beratungsergebnis nur eine Alternative von mehreren anbieten, und die Entscheidung muss der Politik überlassen bleiben. Die Ignorierung des .Rates' bietet insofern wenig Anlass zur Klage. Aus der platonisch/dezisionistischen Perspektive liegen die Dinge selbstverständlich anders. Aber der Wissensstand des Fachs gestattet bei nüchterner Betrachtung selten die dafür erforderliche Entschiedenheit des Urteils. Der Berater erspart sich viel Kummer über ungenügende Beachtung seines Rates seitens der politischen Akteure, wenn er sich über deren Grenzen im Falle der Nichterfüllung entsprechender Erwartungen von vornherein im Klaren ist. Zum Verzweifeln sollte dies kein Anlass sein. Auch Keynes - und für viele andere laureati dürfte dies gleichermaßen gelten - war zwar anerkanntermaßen ein außerordentlich fähiger und gesuchter Berater. Aber gemessen an der Befolgung seiner Empfehlungen war er alles andere als erfolgreich.

Literatur Arbeitsgemeischaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V., München (1980 ff.), Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst (Frühjahr) 1980 ff. Beurteilung der Wirtschaftslage durch die folgenden Mitglieder: DIW, Ifo, IfW, IWH und RWI, Essen (Arbeitsgemeinschaft). Berg, H., D. Cassel und K.-H. Hartwig (2003), Theorie der Wirtschaftspolitik, in: D. Bender u. a. (Hg.), Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 8. Aufl., München, S. 171-296. Borchardt, K. (2001), Anerkennung und Versagen - Ein Jahrhundert wechselnder Einschätzungen von Rolle und Leistungen der Volkswirtschaftslehre in Deutschland, in: R. Spree u. a. (Hg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München, S. 200-222. Bundesministerium der Finanzen (1982) (Hg.), Klausurtagung „Finanzpolitik und Arbeitslosigkeit" am 10.-12. September 1982 in Bad Neuenahr, Bonn. Bundesregierung (1986) (Hg.), Energiebericht der Bundesregierung 1986, BT-Drucksache 10/ 6073 vom 26.9.1986, Bonn. Deutsche Bundesbank (1982) (Hg.), Struktur und Eigenschaften einer neuen Version des ökonometrischen Modells der Deutschen Bundesbank, in: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 34, Nr. 8, S. 32-41. Deutscher Bundestag (1982), Stenographischer Bericht, 79. Sitzung, 20. Januar 1982, Bonn, S. 4593-4727. Deutscher Bundestag (1982), Plenarprotokoll 97. Sitzung,29. April 1982, Bonn. 13

Vgl. Moggridge (1982). Auch im Falle interner Beratung bildet Erfolg im Sinne von politischer Umsetzung von Empfehlungen in mikroökonomischen Fragen eher eine Ausnahme, wie Stiglitz (2003, ζ. Β. S. 287 ff.) aus dem Council of Economic Advisers berichtet.

Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

207

Feldstein, M. und O. Eckstein (1976), The Fundamental Determinants of the Interest Rate, in: Review of Economics and Statistics, Vol. 52 (1970), S. 363-375, wiederabgedruckt in: O. Eckstein (Hg.), Parameters and Policies in the U.S. Economy, Amsterdam, S. 76-98. Gale, W.G. und P R. Orszag (2003), The Economic Effects of long-term Fiscal Discipline. The Urban-Brookings Tax Policy Center - Discussion Paper, No. 8, Washington, D.C. Gebhardt, H. (1989), Finanzpolitik nach dem Regierungswechsel, in: RWI-Mitteilungen, 40, S. 41-64. Heilemann, U. (1982), Wege aus der Krise? Beschäftigungs-, Wachstums- und Verteilungswirkungen aktueller wirtschaftspolitischer Maßnahmen - Lassen sich finanzpolitische Maßnahmen in ihren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen quantifizieren? (am Beispiel der Operation '82 und der Gemeinschaftsinitiative), in: Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Klausurtagung „Finanzpolitik und Arbeitslosigkeit" vom 10.-12. September 1982 in Bad Neuenahr, Bonn. Heilemann, U. (1983), Kritische Anmerkungen zu einer Simulationsstudie der Deutschen Bundesbank, DIW-Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 83, S. 59-67. Heilemann, U. (1984), Replik auf Jahnkes „Auseinandersetzung", in: Konjunkturpolitik, 30, S. 61-66. Heilemann, U. (1987), Ein Kemenergieverzicht der Bundesrepublik Deutschland - Ergebnisse und Probleme einer ökonomischen Wirkungsanalyse, in: Zeitschrift fur Energiewirtschaft, 10, S. 255-263. Heilemann, U. (1998), Politikberater als Mahner und Propheten? Zur Rolle der wirtschaftspolitischen Beratung in der Demokratie, in: R. Ackermann u. a. (Hg.), Offen für Reformen? Institutionelle Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wandel im modernen Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden, S. 139-159. Heilemann, U. (2001), Policy Advise oder Political Advise - Probleme der wirtschaftspolitischen Beratung in Deutschland, in D. Hecht u. a. (Hg.), Ordnungspolitik als konstruktive Antwort auf wirtschaftspolitische Herausforderungen, Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Klemmer, Stuttgart, S. 469-480. Jahnke, W. (1984), Gesamtwirtschaftliche Wirkungen öffentlicher Nachfrageimpulse - Eine Auseinandersetzung mit kritischen Anmerkungen zu einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank, in: Konjunkturpolitik, 30, S. 45-60. Matthöfer, H. (1981), Einbringungsrede des Haushaltsgesetzes 1982 vor dem Deutschen Bundestag, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 80, S. 701 -711. Moggridge, D. (1982), Keynes as an Economic Adviser - Discussion, in: A.P. Thirlwall (Hg.), Keynes as a Policy Adviser - The Fifth Keynes Seminar held at the University of Kent at Canterbury 1982, London, S. 28-32. Marwick, A. (1993), Policy Advice and Decision-making in the German Federal Bureaucracy, in: B.G. Peters und A. Barker, Advising West European Governments, Edinburgh, S. 87-97. Rheinisch-Westfälisches Institut fur Wirtschaftsforschung (Hg.) (1986), Qualitative und quantitative Abschätzung der kurz- und langfristigen Wirkungen eines Verzichts auf Kernenergie, Gutachten im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft, bearbeitet von G. Briem u. a., Essen. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (198la),Vor Kurskorrekturen - Zu finanzpolitischen und währungspolitischen Situation im Sommer 1981. Sondergutachten vom 4. Juli 1981, wiederabgedruckt in: derselbe (1981b), S. 206-219. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen resgutachten 1981/82 (BT-Drucksache 9/1061) Bonn.

Entwicklung (1981ty, Jah-

Sarrazin, Τ. (Ί984), Die Finanzpolitik des Bundes 1970 bis 1982 - Eine kritische Würdigung, in: Finanzarchiv, 41, S. 373-387.

208

Ullrich Heilemann

Stiglitz, J.E. (2003), The Roaring Nineties - a new History of the World's most Prosperous Decade, New York, N.Y. Tobin, J. und M. Weidenbaum (1988), Two Revolutions in Economic Policy. The first Economic Reports of Presidents Kennedy and Reagan, Cambridge, Mass. Wandel, E. (1974), Hans Schäffer - Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen. Stuttgart. Wilke, T. (1999), Der Einfluss ökonomischer Politikberatung: das Beispiel der deutschen Pflegeversicherung, in: List-Forum, 25, S. 231-244. Zwiener, R. (1983), „Crowding-out" durch öffentliche Investitionen? Eine Diskussion der Modellergebnisse der Deutschen Bundesbank und eine Gegenüberstellung mit den Ergebnissen der DIW-Version des ökonometrischen Konjunkturmodells der Wirtschaftsforschungsinstitute, in: Konjunkturpolitik, 29, S. 121-140. Zwiener, R. (1984), Anmerkungen zu dem Artikel von W. Jahnke über gesamtwirtschaftliche Wirkungen öffentlicher Nachfrageimpulse, in: Konjunkturpolitik, 30, S. 67-72.

Korreferat zum Referat von Ullrich Heilemann Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung: zwei Beispiele

Andre

Jungmittag

Der Beitrag von Ullrich Heilemann geht von der von verschiedenen Seiten vorgetragenen Beobachtung aus, dass es um die Akzeptanz der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung - zumindest in Deutschland - schon seit längerem nicht gut bestellt ist.1 Er zeigt dies exemplarisch an zwei recht unterschiedlichen Beispielen auf, nämlich zum einen einer Wirkungsanalyse der „Operation 82", der ersten großen Konsolidierungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik, und zum anderen einer Abschätzung der Wirkungen eines Kernenergieverzichts der Bundesrepublik im Gefolge des Reaktorunglücks von Tschernobyl. Beiden .Fällen' ist gemeinsam, dass es sich um empirische Arbeiten handelt, die am RWI Essen entstanden sind, so dass die in dem Beitrag getroffenen Aussagen vor allem diesen Zweig der wirtschaftswissenschaftlichen Beratung betreffen. Quintessenz ist, dass die Ergebnisse beider Studien nach Auffassung des Autors auf die Politik kaum einen Einfluss hatten, obwohl sie sowohl in der Politik als auch von den Medien wahrgenommen wurden. Dies galt sowohl für die erste Studie, die ohne Auftrag erstellt wurde, als auch für die zweite, die von der damaligen Bundesregierung beauftragt wurde. Allerdings sei zumindest beim zweiten Gutachten die Kernaussage, nämlich dass der kurzfristige Verzicht zwar beträchtliche energiewirtschaftliche und in der Folge davon gesamtwirtschaftliche Konsequenzen hätte, aber dass angesichts der rasch mobilisierbaren energiewirtschaftlichen Substitutionsmöglichkeiten keine Rede davon sein könnte, dass „in Deutschland die Lichter ausgehen werden", in der Öffentlichkeit und in weiten Teilen der Politik positiv und zustimmend aufgenommen worden. Für beide Gutachten wird zudem festgestellt, dass die kognitive Basis der Aussagen, also die verwendeten Modelle und die damit verbundenen Einschränkungen der Aussagen kaum Beachtung fanden, oder im Fall der „Operation 82" sogar als unangemessen in Frage gestellt bzw. als zu wenig ausdifferenziert angesehen wurde. Heilemann verortet damit die Ursachen für den geringen Einfluss der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung - und hier hauptsächlich des empirisch orientierten Zweigs - vor allem auf der Nachfragerseite. Dagegen wird im Folgenden ergänzend argumentiert, dass die relativ geringe Bedeutung einer fundierten empirischen Wirtschaftsforschung sowohl von der Nachfrager- als auch Anbieterseite der Politikberatung verursacht zu sein scheint. Darauf aufbauend werden einige Handlungsoptionen zur

1

Vgl. ζ. B. Jungmittag und Weifens (2004) und die dort zitierte Literatur.

210

Andre Jungmittag

Verstärkung der Rolle der empirischen Wirtschaftsforschung formuliert, die sich vor allem an die Politik - indirekt aber auch an die Wissenschaft - richten.

1. Nachfrage- und angebotsseitige Gründe für die geringe Akzeptanz der empirischen Wirtschaftsforschung in der Politikberatung Mit Blick auf die Nachfragerseite nach Politikberatung weist Schips (2002, S. 5) daraufhin, dass die Politik im Regelfall höchst komplexe Fragen stelle, aber meist einfache Antworten erwarte, die zudem möglichst rasch erarbeitet werden sollten. 2 Nach seiner Auffassung gäbe die ökonomische Theorie oft vor, solch einfache Antworten zu kennen. Obwohl die Realitätsferne der den erteilten Ratschlägen zugrunde liegenden Modelle nicht immer ausreichend beachtet werde, fänden die Ergebnisse solcher Arbeiten häufig Anklang, insbesondere wenn sie mit einer als .empirisch' deklarierten Untersuchung ergänzt würden und dazu dienen könnten, die aufgrund politischer Positionsbezüge bereits vorgefassten Meinungen zu bestätigen. Natürlich bleiben bei solchen - einfache Antworten liefernden - Analysen spätere Enttäuschungen nicht aus, und die empirische Wirtschaftsforschung wird bei der Politikberatung weiter an Reputation verlieren. Dagegen sind gründliche empirische Analysen mit größerem Zeitaufwand verbunden und ihre Ergebnisse häufig differenziert, während die Politik oft nicht die Geduld hat, eine fundierte Antwort abzuwarten; und sie schätzt im Regelfall auch keine Stellungnahmen, die Entscheidungen eher komplizieren und nicht vereinfachen (vgl. Schips 2002, S. 6 und S. 9). Etwas zugespitzt formuliert sollte erwartet werden, dass die Welt der Wissenschaft in den Denkkategorien recht verschieden von der der Politiker ist. Während Wissenschaftler idealtypischerweise vor allem in den Kategorien richtig und falsch in Bezug auf konkurrierende Hypothesen denken, kennen Politiker vermutlich vor allem den Gegensatz von bequemen - einfachen - populären Wahrheiten und unbequemen Wahrheiten. Ein Grund hierfür ist, dass der Zeithorizont bei Politik und Wissenschaft verschieden ist. Politiker haben kurzfristige Wiederwahlinteressen im Auge und die in der Politik notwendige Suche nach Mehrheiten fur alternative Positionen, während Wissenschaftler in der Regel an langfristigen Wahrheiten bzw. funktionalen Zusammenhängen interessiert sind. Fundiert arbeitende Wissenschaftler legen zudem häufig - wie bereits angesprochen - komplexe Analysen vor, bei denen Aussagen häufig nur auf Basis von Fallunterscheidungen möglich sind (aus Sicht mancher Politiker ergibt sich hier der Anschein einer gewissen Beliebigkeit wissenschaftlicher Befunde). Während Wissenschaftler im Zweifelsfall gern differenziert mit Pro- und Contra-Argumenten ein Politikfeld bzw. Politikaltemativen ausleuchten und an der Analyse von Neben- und Folgewirkungen auf mittlere und lange Sicht interessiert sind, besteht in der Politik eine Neigung, nur eine Sammlung der Maßnahmeoption X befürwortenden Argumenten in der Öffentlichkeit vorzutragen. Dabei stehen kurzfristige Effekte in der Regel im Vordergrund, wobei die Argumente über die Medien und gegebenenfalls parlamentarische Debatten in die Gesellschaft hineingetragen werden. Hinzu kommt, dass es komplizierte Die folgenden Anmerkungen können als Verallgemeinerung der von Heilemann an zwei Fallbeispielen dargestellten Verhaltensweise der Politik angesehen werden.

Korreferat zu Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung

211

Analysen naturgemäß in der Mediakratie ohnehin schwer haben. Im TV-Interview müssen Experten oft in weniger als zwei Minuten die Quintessenz komplexer Forschungsarbeiten formulieren. Wissenschaftler, die hierzu in der Regel keinerlei Ausbildung haben, glänzen dabei selten. Die Akzeptanzprobleme fundierter empirischer Analysen gelten jedoch nicht nur für die Politiker selbst. Die in den meisten Ministerien sehr knappe Besetzung mit ökonometrisch versierten Wirtschaftswissenschaftlern führt auf der .mittleren' Ebene zu ganz ähnlichen Erscheinungen. Moderne ökonometrische Verfahren sind in vielen Fällen kompliziert, und da ökonometrische Ausbildung in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen in Deutschland nur im Hauptstudium erfolgt, gibt es insgesamt nur eine kleine Zahl ökonometrisch versierter Experten. So ist es kein Wunder, dass nachfragerseitig getrieben zunehmend universitäre und außeruniversitäre wissenschaftliche Forschergruppen gegen Consulting-Firmen konkurrieren, die in der Regel vom Fachpersonal her deutliche ingenieurmäßige und betriebswirtschaftliche Schwerpunkte aufweisen. Es besteht kaum ein Zweifel, dass viele Untemehmensberatungsfirmen ein sehr gutes Know-how haben, wenn es um einzelwirtschaftliche Fragen geht. Allerdings bedeutet solch eine Kompetenz in der Regel gerade nicht, dass auch Kompetenz für gesamtwirtschaftliche Analysen vorhanden ist. Vielmehr besteht die Gefahr, dass in unzulässiger Verallgemeinerung einzelwirtschaftlich sinnvoller Fragestellungen und Methoden fehlerhafte Schlussfolgerungen mit Blick auf gesamtwirtschaftliche Probleme erfolgen. Andererseits sollte auch der Beitrag der Anbieterseite zu den Akzeptanzproblemen nicht vernachlässigt werden. Die Tatsache, dass die empirische Wirtschaftsforschung und insbesondere die Ökonometrie seit den 1970er Jahren gleichermaßen bei Wirtschaftstheoretikem und -politikem zunehmend weniger Anerkennung fand, mag zu einem guten Teil auch an einer ,lehrbuchmäßigen' ökonometrischen Modellierungsstrategie gelegen haben, die die Erwartungen, die sie seit den späten 1950er Jahren geschürt hat, nicht erfüllen konnte. Dieses Lehrbuchvorgehen wird in Pagan (1984, S. 103) folgendermaßen charakterisiert: ... a model is postulated, data gathered, a regression run, some t-statistics or simulation performance provided and another 'empirical regularity' was forged. In die gleiche Richtung zielt bereits die Kritik in Blaug (1980, S. 257), wo das folgende Vorgehen als „Kochbuch-Ökonometrie" bezeichnet wird: ... express a hypothesis in terms of an equation, estimate a variety of forms for that equation, select the best fit, discard the rest, and then adjust the theoretical argument to rationalize the hypothesis that is being tested ... Wenn der Ökonometrie per definitionem die Aufgabe zukommt, Hypothesen, die im Bereich der ökonomischen Theorie formuliert werden und die die Beziehungen verschiedener Variablen betreffen (entweder in Form unterstellter Kausalitäten oder bereits verdichtet zu ökonomischen Modellen), in ökonometrische Modelle zu übersetzen, d. h. einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen und dann mittels statistischer Verfahren wie der Regressionsanalyse die Stärke der Beziehungen zwischen den interessierenden Variablen zu schätzen, dann wird die „Kochbuch-Ökonometrie" im All-

212

Andre Jungmittag

gemeinen versagen.3 So haben auch nur sehr wenige empirische Beziehungen den Test durch die Zeit überstanden, und die Theorien wurden wegen der gegenläufigen empirischen Evidenzen lieber revidiert als verworfen. Und schon gar nicht sind solche Analysen für die weiterreichenden Aufgaben der Ökonometrie, die Prognose und die Simulation, geeignet. Die angewandte empirische Wirtschaftsforschung sollte diese Kritik an der „Kochbuch-Ökonometrie" aufgreifen und Modellierungsstrategien verwenden und auch kommunizieren, nicht auf untestbaren a priori Restriktionen beruhen, sondern die in mehreren Schritten, deren Zulässigkeit in geeigneter Weise überprüfbar sein sollte, wenn möglich, zu validen strukturellen Modellen führt. Mit Blick auf die Nachfrage nach empirischen Analysen ermöglicht eine nachvollziehbare Modellierungsstrategie den Anbietern solcher Analysen, Nachvollziehbarkeit und Vertrauen in ihr Vorgehen herzustellen. Gerade in Bezug auf mittlere und größere ökonometrische Modelle gibt es nämlich immer wieder ein Unbehagen auf der Nachfragerseite, weil diese Modelle zu sehr als Black Box angesehen werden, in der der Wissenschaftler nur die Ostereier wieder findet, die er zuvor selbst versteckt hat. 2. Handlungsoptionen zur Verstärkung der Rolle der empirischen Wirtschaftsforschung in der Politikberatung Wenn der empirischen Wirtschaftsforschung eine wesentliche Basis für rationale und optimale Politikmaßnahmen beigemessen wird, reicht es natürlich nicht aus, aus ökonometrischer Sicht angemessene Modellierungsstrategien und -verfahren zu fordern und vorzuschlagen, sondern die Rolle einer fundierten empirischen Wirtschaftsforschung in Lehre, Forschung und Politikberatung muss insgesamt gestärkt werden. Dies sollte gerade in einem Land mit schwierigen Problemen und knappen Haushaltsbudgets ein natürliches Anliegen der Wirtschaftspolitik sein. Ein erster Ansatzpunkt liegt bei den Bundesländern, die der Zusammenlegung von Statistik- und Ökonometrielehrstühlen einen Riegel vorschieben könnten. Insgesamt muss die Fähigkeit zur detaillierten Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe und der zu beobachtenden Zusammenhänge wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Die Vermittlung der in wirtschaftstheoretischen Diskussionen genutzten Modelle muss mit einer Diskussion des Realitätsbezuges der dabei zugrunde gelegten Annahmen sowie des empirischen und ideologischen Gehalts verbunden werden. Allgemeiner gesprochen sollte die Gewichtung von Theorie und Empirie in der Ausbildung wieder den Erfordernissen einer empirischen Disziplin wie den Wirtschaftswissenschaften angepasst werden (Schips 2002, S. 11 f.). Der Staat als Auftragsgeber für wissenschaftliche Studien täte gut daran, auf der Ebene von Bund und Ländern empirische Analysen in vielen Bereichen systematisch zu verlangen bzw. selbst vorzulegen. Solche Analysen kämen sicher der Rationalität der Politik zugute und wären alles andere als die im Beitrag von Heilemann zitierten „umfangreichen lyrischen Werke". Vielmehr gäbe es mehr konsistente erfolgreiche Politik3

Zu dieser Definition der Ökonometrie vgl. Harvey (1990, S. 1).

Korreferat zu Erfolg in der wirtschaftswissenschaftlichen

Politikberatung

213

maßnahmen, was wiederum der Glaubwürdigkeit der Politikakteure zugute kommen würde. Zudem ergäben sich unmittelbar positive Wohlfahrtseffekte, wenn es dank verstärkter ökonometrischer Fundierung von Politik gelänge, unerwünschte Nebenwirkungen von Maßnahmen zu vermindern und einen insgesamt effizienteren Policy-Mix zu erreichen. Eine interessante Option, die ökonometrische Kompetenz auf der Ebene der nationalen Ministerialbürokratie zu stärken, könnten interministerielle Fortbildungsveranstaltungen zum Fragenkomplex empirischer Wirtschaftsforschung sein, wie diese gelegentlich bei der DG Π der Europäischen Kommission durchgeführt wurden. Allerdings brauchen grundsätzlich Fortbildungsveranstaltungen ein kompaktes und nutzerfreundliches Format, da Mitarbeiter in Ministerien über große Teile des Jahres - ganz besonders in Wahljahren und im Vorfeld internationaler politischer Großereignisse - mit großem Arbeitsdruck konfrontiert sind. Die wissenschaftlichen Beiräte in Deutschland könnte man durch Einrichtung eines ökonometrischen Fachsekretariats stärken, damit vorgeschlagene Maßnahmen regelmäßig auf empirischer Basis untersucht werden. Auch könnte man daran denken, dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Politikalternativen auf Basis eigener empirischer Analysen diskutiert (zugleich wäre erwägenswert, den Gutachten-Umfang deutlich gegenüber den dicken Bänden der jüngsten Zeit zu reduzieren). Erfreulicherweise scheint auch die Politik die Probleme zumindest erkannt zu haben und einen ersten - politiküblichen - Schritt zur Besserung unternommen, indem das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Herbst 1999 eine Kommission zur Verbesserung der informationellen Infrastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik (KVI) einsetzte, die am 13.03.2001 ihr Gutachten unter dem Titel „Wege zu einer besseren informationellen Infrastruktur" vorlegte.4 Die dort vorgetragenen Mängel und Veränderungsvorschläge gehen in eine ähnliche Richtung wie die in diesem Beitrag angeführten. So wird auch darauf hingewiesen und von der Bundesministerin bestätigt, dass es eine wichtige politische Aufgabe sei dafür zu sorgen, dass das Rohmaterial ökonometrischer Studien, nämlich wissenschaftlich relevante und vernünftig abgegrenzte Daten in ausreichendem Maß zu Verfügung stehen. Während - wie bereits angeführt wurde - von Seiten der Wirtschaft gern auf die hohe Belastung durch Datenerhebungen für die amtliche Statistik als angeblich gutem Grund für eine Reduzierung von Datenerhebungen hingewiesen wird, muss von Seiten der Wissenschaft bzw. der Wirtschaftspolitik das Gegenargument vorgebracht werden: Wenn umfassende Daten vieler bzw. repräsentativer Unternehmen zusammenkommen, dann entsteht im Zuge einer damit letztlich verbesserbaren effizienten bzw. konsistenten Politik ein positiver Spill-over-Effekt für alle Unternehmen. Mehr ökonomische Rationalität in der Politik bzw. letztlich ein höheres Wirtschaftswachstum wird dann am Ende auch eine Reduzierung von Steuerund Abgabenlasten erlauben. Diese Grenzlasten aber sind in der Regel allemal wichtiger als die Grenzbelastung verstärkter Datenerhebungen.

4

Eine Kurzfassung des Gutachtens ist unter http://www.bmbf.de/presse01/A~FIN4_.pdf verfugbar.

214

Andre Jungmittag

Die empirische Wirtschaftsforschung ist im Übrigen selbst aufgefordert, sich mit ihren Analyseergebnissen stärker in die Öffentlichkeit einzubringen. Es wäre durchaus erwägenswert, dass etwa einschlägig relevante Ausschüsse im Verein für Socialpolitik in dieser Richtung stärker aktiv werden - und hierbei auch das Internet als ein fachrelevantes Forum nutzen. Am Schluss bleibt aber zu fragen, ob staatliche Akteure selbst ein großes nachhaltiges Interesse an Datenerhebungen haben? Mit Blick auf hoheitliche Belange mag dies gelten, mit Blick auf Datenumfang und -qualität, wie sie für umfassende empirische Analysen notwendig sind, dürfte dies schon weniger gelten. Womöglich ist es manchem Politiker sehr willkommen, wenn er sich im Dunstkreis eines Schleiers von Nichtwissen bzw. fehlender Daten manche positive Wirtschaftsentwicklung als eigenen Erfolg anheften kann und diverse Negativeffekte eigener Maßnahmen bequem kaschiert werden können. Es bleibt sicher eine Kernaufgabe der Wissenschaftler selbst, zuverlässige Daten zu fordern: Im Interesse wissenschaftlicher Analyse und einer empirisch fundierten Forschung mit gesellschaftlicher Wohlfahrtsdividende. Literatur Blaug, M. (1980), The Methodology of Economics, Cambridge u. a. Harvey, A.C. (1990), The Econometric Analysis of Time Series, 2. Aufl., New York u. a. Jungmittag, Α. und P.J.J. Welfens (2004), Politikberatung und empirische Wirtschaftsforschung: Entwicklungen, Probleme, Optionen fur mehr Rationalität in der Wirtschaftspolitik, in: M. Leschke und I. Pies (Hg.), Wissenschaftliche Politikberatung: Theorien, Konzepte, Institutionen, Stuttgart (erscheint demnächst). Pagan, A.R. (1984), Model Evaluation by Variable Addition, in: D.F. Hendry und K.F. Wallis (Hg.), Econometrics and Quantitative Economics, Oxford und New York, S. 103-133. Schips, Β. (2002), Empirische Wirtschaftsforschung im Spannungsfeld zwischen Theorie und Politik, Arbeitspapiere der Konjunkturforschungsstelle, ΕΤΗ Zürich, Nr. 57.

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

Wolf Schäfer

Inhalt 1. Machtpolitik und Umverteilung in der EU

216

2. Exit-und Non-Entry-Optionen als Drohungen

217

3. Status quo als Entscheidungsblockade

220

4. Stimmenverhältnisse vor und nach der EU-Erweiterung

221

5. Eigene EU-Steuern und Verschuldung?

222

6. Auflösung der Entscheidungsblockade durch legitimiertes Sezessionsrecht?

223

7. Fazit

224

Literatur

225

216

Wolf Schäfer

1. Machtpolitik und Umverteilung in der EU Die Europäische Union (EU) ist eine Umverteilungsgemeinschaft: Ihr Budget konzentriert sich zu rund 85 % auf Ausgaben, die der Redistribution dienen. Dementsprechend fokussieren sich die Debatten um den EU-Haushalt auf die Fragen, wer in den innereuropäischen Transferzahlungssystemen die Gewinner und wer die Verlierer, welche Länder in welchem Umfang Nettoempfanger und Nettozahler sind. Keine bewegende Rolle scheint das Problem zu spielen, inwieweit und mit welcher ökonomischen Legitimation dem europäischen Steuerzahler Ressourcen entzogen werden, die die EU einer weitestgehend ineffizienten Verwendung zufuhrt. Mit der EU-Osterweiterung verschärft sich das Problem, denn die Beitrittsländer werden nach den gegenwärtigen EUArrangements der Umverteilung zu den Nettoempfängern gehören, so dass angesichts der erweiterungsbedingten zunehmenden Heterogenitäten innerhalb der EU die Forderungen nach noch mehr Umverteilung einen neuen Schub bekommen. Deshalb ist zu erwarten, dass die Debatten um eine Ausweitung der Umverteilungsmittel durch eine Expansion des EU-Haushalts über den momentan praktizierten Umfang von rund 1,13 % des EU-Bruttosozialprodukts sowie die Maximalgrenze von gegenwärtig 1,27 % hinaus an Härte gewinnen. Die EU-Kommission unterstützt diese Ausweitungstendenz. Das ist polit-ökonomisch nicht verwunderlich, denn jede Budgetexpansion stärkt ihre Gestaltungsmacht im strategischen Spiel zwischen den zentralen EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten. Ordnungspolitisch gerät die EU damit immer stärker ins Defizit und entfernt sich immer mehr von den Römischen Verträgen von 1957 innewohnenden konstituierenden Prinzipien des Marktes, des Wettbewerbs und der Nichtdiskriminierung. Warum ist es zu dieser stetigen Ausweitung der Umverteilungsaktivitäten innerhalb der EU gekommen? Es gibt mehrere Erklärungen. Erstens wird man sagen können, dass es in Europa - anders als etwa im nordamerikanischen und asiatischen Raum - Tradition hat, dem umverteilenden Sozialstaat eine hohe ethische Dimension zuzuweisen, denn in Europa hat es in Bezug auf die Verteilungsergebnisse der Marktwirtschaft immer besondere Legitimationsprobleme gegeben. Dies entspricht zweifellos der Traditionslinie der europäischen Aufklärung. Das Bekenntnis zur Umverteilung als sozialer Wohltat zur Korrektur marktlicher Ergebnisse verkörpert die säkularisierte Form von christlicher Solidarität, die sich zuweilen sichtbar mit der Ideenwelt des Sozialismus verbindet, und wer dieses Bekenntnis nicht ablegt, steht außerhalb der Political Correctness. Europäische Politiker versuchen deshalb, politisch korrekte Umverteilungsprogramme durchzuführen, um vor allem ihre Wiederwahl zu sichern. So wird dann ein vermeintlich christliches Ethos für einen polit-ökonomischen Kalkül instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund gibt es zweitens die Erklärung, dass die europäische Integration und die Teilnahme am Binnenmarkt Gewinner und Verlierer generieren würden, zwischen denen Kompensationszahlungen notwendig wären. Unabhängig von dem tatsächlichen empirischen Gehalt dieser Hypothese lag hier dann auch die Begründung für die Schaffung der europäischen Agrar- und Sozialfonds, die primär auf Zahlungen an die weniger offenen Volkswirtschaften - 1957 waren dies vor allem Frankreich und Italien abzielten. Und drittens erscheint die polit-ökonomische Erklärung zutreffend, dass die Umverteilung in der EU durch die Machtpolitik der Sezessionsandrohung einzelner Mitgliedsländer in den Jahren bis 1986 initiiert wurde {Blankart und Kirchner 2003, S. 14 f.).

Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

217

So hat Frankreich in den jährlich auszuhandelnden Zahlungen für den Ausrichtungs- und Garantiefonds der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) stets versucht, diese verstärkt zu seinen Gunsten auszugestalten. Als der Rat im Jahre 1965 mit qualifizierter Mehrheit die Agrarvorschläge Frankreichs ablehnte, boykottierte Präsident de Gaulle alle weiteren RatMeetings mit der Politik des leeren Stuhls und mit der Drohung, die Gemeinschaft gegebenenfalls zu verlassen, wenn nicht die Einstimmigkeitsregel formal eingeführt würde. Dies geschah dann bekanntlich durch den so genannten Luxemburg-Kompromiss im Januar 1966, in dem festgelegt wurde, dass auch einstimmig beschlossen werden kann, wenn eine qualifizierte Mehrheit möglich ist und wenn wichtige nationale Interessen eines Landes berührt sind. Frankreichs Exit-Drohung hebelte mithin die Mehrheitsabstimmung aus. Entscheidend war, dass diese Drohung damals als durchaus glaubwürdig angesehen werden musste, weil die Gemeinschaft noch jung war und dementsprechend noch keine gewachsenen ökonomischen Abhängigkeiten zu gegenseitigem Vorteil bestanden, deren einseitige Kappung Frankreich bedeutende Nachteile eingebracht hätte. Als Folge dieses mit Hilfe der Sezessionsdrohung durchgesetzten Luxemburg-Kompromisses stieg der Anteil des Agrarhaushalts und damit des Umverteilungsbudgets am EU-Haushalt in den folgenden 20 Jahren dramatisch an. Aber auch nach 1971 lässt sich die zunehmende Umverteilung innerhalb der Gemeinschaft durch nationale Sezessionsdrohungen erklären. So handelte bekanntlich das Vereinigte Königreich, das 1973 der Gemeinschaft beigetreten war, im Jahre 1984 einen permanenten Rabatt seiner Zahlungen aus den Mehrwertsteuereigenmitteln an die Gemeinschaft aus, nachdem es zuvor bereits eine Reihe jährlicher Rabatte und Rückzahlungen erwirkt und die damalige Regierungschefin Thatcher damit gedroht hatte, dass die Wähler Großbritanniens für den Austritt des Landes aus der Gemeinschaft stimmen würden, falls man dem Land keine weiteren Zahlungserleichterungen gewährte. Frau Thatcher galt ohne Zweifel als eine in Bezug auf die Sezessionsdrohung glaubwürdige Regierungschefin. Der Rabatt ging vor allem zu Lasten Deutschlands, das keine glaubwürdige Exit-Optionsdrohung besaß und vor diesem Hintergrund die Zahlungen an die Gemeinschaft erhöhte. Auch bei der in den frühen 1980er Jahren erfolgten Süderweiterung der Gemeinschaft durch den Beitritt Griechenlands, Portugals und Spaniens sowie vor allem bei der Implementierung des Binnenmarktprogramms ab 1986 lassen sich die damaligen umverteilungsrelevanten Konzessionen an die Beitrittsländer nicht ohne ein gewisses Drohpotenzial erklären, das auf der Seite der Beitrittsländer gesehen wurde (Blankart und Kirchner 2003, S. 18): Die Befürchtung schien durchaus realistisch, dass diese Länder im Ländernetzwerk des Sozialismus eine Alternative zur Gemeinschaftsmitgliedschaft sehen würden, also über eine glaubwürdige Alternativoption außerhalb der Gemeinschaft verfügten. Diese Option zu verhindern, musste ein Ziel der Gemeinschaft sein. Der Preis, den die EU-Nettozahler dafür zu entrichten hatten, war eine massive Aufstockung der Mittel für die GAP sowie für die Strukturfonds, von denen dann die Beitrittsländer profitierten. 2. Exit- und Non-Entry-Optionen als Drohungen So waren es vor allem glaubwürdige Drohungen mit der Exit- bzw. Non-Entry-Option einzelner Staaten und weniger die formalen Entscheidungsreglements innerhalb der EU,

218

WolfSchäfer

die den steigenden Trend zur Umverteilung in der EU zumindest bis 1986 erklären. Machtpolitik dominierte das EU-Budget {Baldwin u. a. 1997, S. 157), Regeln wurden von Drohungen dominiert. Vertragstheoretisch lässt sich argumentieren, dass die Wirksamkeit solcher Drohungen umso größer ist, je unvollständiger die Verträge sind, d. h. je mehr kollektiver Verhandlungsspielraum ex post, also nach Vertragsabschluss, in einzelnen Bereichen noch besteht {Buchanan 1975; vgl. auch Alesina u. a. 2001, S. 12 f.; Hefeker 2003, S. 14 ff.). Die Römischen Verträge von 1957 waren in diesem konstitutionellen Sinne partiell unvollständig. Sichtbarstes Beispiel war die GAP, innerhalb derer die Höhe der Agrarausgaben bis 1970 jährlich neu kollektiv ausgehandelt wurde. Die GAP generierte deshalb zum besonderen Spielfeld strategischer Drohungen. Nicht alle Staaten konnten glaubwürdige Drohungen in die Waagschale werfen - oder hatten dies auch gewollt: Eine Exit-Drohung zum Beispiel Deutschlands als größtem Nettozahler der Union wäre aus politischen, geografischen und historischen Gründen unglaubwürdig gewesen. Deshalb hat Deutschland - obwohl größter Nettozahler - sie auch nie als Instrument einer Integrationspolitik, die die Umverteilung hätte in Grenzen halten können, in Betracht gezogen. In den Jahren ab 1987 spielten Exit-Drohungen dann keine Rolle mehr, weil sich zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ein Geflecht von privaten und staatlichen Interdependenzen mit zunehmender Vertiefung entwickelt hatte, aus denen sich herauszulösen jedes EU-Mitglied einen hohen Preis hätte zahlen müssen {Blankart und Kirchner 2003, S. 19). Denn jedes Mitglied musste ja für den Fall des Austritts aus der EU eine Situationsbewertung im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse als Land außerhalb des Binnenmarktes und der gemeinsamen Außenzölle vornehmen. Zwischen den EU-Politikern und Gemeinschaftsfunktionären bildeten sich zudem innere Zirkel von freundschaftlichen Beziehungen, künstlicher Harmonie und Logrolling-Bereitschaft, die jede Exit-Neigung zunehmend unterdrückte {Vaubel 2001, S. 108 ff.). Dementsprechend wurden potenzielle Exit-Drohungen immer unglaubwürdiger. Das gilt möglicherweise bis heute auch, aber nicht notwendigerweise ad infinitum, was sich dadurch dokumentiert, dass in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents in Artikel 1-59 für die Mitgliedsländer der Gemeinschaft die Option des geregelten Austritts aus der EU explizit vorgesehen ist. Beschließt der Europäische Rat den Verfassungsentwurf, würden damit Austrittsdrohungen zum geregelten Bestandteil des Acquis communautaire. Drohungen dominieren dann nicht mehr die Regeln, sie werden vielmehr zu deren Bestandteilen. Jedenfalls haben glaubwürdige Sezessionsdrohungen wohl entscheidend dazu beigetragen, dass die EU über die ständig gestiegenen Zuweisungen zum Agrarhaushalt sowie zu den Strukturfonds immer stärker zur Umverteilungsgemeinschaft generierte. Für die neuen EU-Mitglieder der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) ist dies eine Attraktion. Ihr Beitritt lässt sich zunächst auf einen politischen Hintergrund zurückführen, der ja im Übrigen auch für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung war: die politische Einbindung von Staaten, die an einem kritischen Wendepunkt ihrer Entwicklung stehen, zur Befriedung und Stabilisierung ihrer inneren Situation. Das Versprechen der Gemeinschaft, dass die Beitrittsländer durch ihre Aufnahme in einen stabilen Integrationsraum politische und ökonomische Stabilität importieren, hat in jeder Erweiterungsrunde eine Rolle gespielt. So werden für die neuen MOEL-Mitglieder die aus den Agrar- und Strukturfonds einschließlich des Kohäsions-

Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

219

fonds - dessen Entstehen ebenfalls auf dem insbesondere von Spanien aufgebauten Drohpotenzial basiert, dass die Südländer ohne diesen Fond der Europäischen Währungsunion fernbleiben würden - an sie fließenden Nettotransfers nicht zuletzt als ökonomische Gegenleistung für die Einlösung politischer Versprechen durch die EU verstanden. Diese Versprechen - fokussiert sogar auf ein konkretes Beitrittsdatum - waren wohl einerseits politisch ohne Alternative, aber genau deshalb bedeuteten sie andererseits den Verzicht der EU auf die Drohung mit einer Non-Entry-Option bei Nichterfüllung der Eintrittsbedingungen à la Kopenhagen durch einzelne Beitrittsländer. Der Zwang zur politischen Glaubwürdigkeit der EU hat mithin das Risiko der Nichtaufnahme bzw. der Verschiebung des Beitrittsdatums bis zur Erfüllung der Eintrittsbedingungen auf Null reduziert. Auf der anderen Seite würde eine Non-Entry-Drohung von Seiten einzelner Beitrittsländer jeder Glaubwürdigkeit aufgrund der gegenwärtig nicht vorhandenen politischen und ökonomischen Alternativen der MOEL außerhalb der EU entbehren. Deutlich wird dies durch die Tatsache, dass die Beitrittsländer sich dem im Sinne einer Null/Eins-Entscheidung fixierten Verlangen der EU zur ausnahmslos vollständigen Übernahme des Acquis communautaire nicht verweigern, obwohl die den Beitrittsstaaten innewohnenden Heterogenitäten mindestens partielle allokative Überforderungen dieser Staaten nach sich ziehen werden und deshalb eine Flexibilisierung des Konzepts des ,Alles oder Nichts' im Sinne abgestufter Integrationskonzepte angeraten wäre (Schäfer 2003, S. 515 f.). Aber selbst wenn einzelne MOEL in den Beitrittsverhandlungen die Non-Entry-Option hätten in Erwägung ziehen wollen, wäre sie als Drohpotenzial gegenüber der EU völlig unglaubwürdig gewesen angesichts einer eindeutigen Kosten-Nutzen-Analyse, die die MOEL unter den gegebenen Umverteilungsmechanismen als zukünftige Netto-Zahlungsempfänger ausweist. „Draußen ist es kalt" artikuliert deshalb Lord Dahrendorf, wenn er den MOEL den EU-Beitritt alternativlos empfiehlt. Diese Situation, dass nämlich alle bisherigen Gemeinschaftsmitglieder bei Fortschreibung der Umverteilungsarrangements nach der EU-Erweiterung schlechter gestellt, während die neuen Mitglieder alle besser gestellt werden, hätte eigentlich vor Beginn der Aufhahmeverhandlungen eine besondere Reformbereitschaft aller Alt-Mitglieder in Bezug auf die innergemeinschaftlichen Umverteilungsmechanismen mobilisieren müssen. Pareto-Effizienz hätte ja erfordert, dass durch die EU-Erweiterung kein Alt-Mitglied schlechter gestellt wird. Eine diesbezügliche Reform der Umverteilungsreglements wurde jedoch mit dem Zeitpunkt, an dem die neuen Mitglieder Sitz und Stimme im Europäischen Verfassungskonvent bekamen, unmöglich. Die mit der EUErweiterung verbundene Reformchance ist damit verpasst worden. Der Grund für dieses Versäumnis liegt wohl zum einen darin, dass die alten Nettoempfänger - insbesondere die Südländer - sich eine Kompensation ihrer verschlechterten Position durch eine Aufstockung der Umverteilungsmittel erhoffen, die die bisherigen Nettozahler höher belasten würden. Eine diesbezügliche Gegenposition der Nettozahler, dass es dazu nicht kommen werde, ist offensichtlich nicht oder nicht rechtzeitig und glaubwürdig genug artikuliert worden, so dass die Nettoempfanger zu einer Reform der Umverteilungsreglements für die erweiterte Union bereit gewesen wären. Zum anderen muss das EUVerhalten wohl auch politisch erklärt werden: Die Gemeinschaft wollte sich ihrem selbst auferlegten Zwang zur politischen Glaubwürdigkeit nicht entziehen, der darin lag,

220

Wolf Schäfer

dass das Beitrittsversprechen an die Transformationsländer unter grundsätzlicher Beibehaltung der gegenwärtigen Umverteilungsmechanismen gemacht wurde. Die Einhaltung politischer Versprechen, deren ökonomisches Fundament keine dauerhafte Stabilität verspricht, hat die ökonomische Rationalität eindeutig dominiert. Die Folgen werden verstärkte innergemeinschaftliche Verteilungskämpfe sein. 3. Status quo als Entscheidungsblockade Die Entwicklung der EU zu einer expandierenden Umverteilungsunion reduziert ohne Zweifel die durch die Binnenmarkteffekte produzierte volkswirtschaftliche Effizienz der Gemeinschaft. Denn da innergemeinschaftliche Umverteilungen zentrale Unionskompetenzen voraussetzen, haben die Gemeinschaftsinstitutionen Kompetenzen - vor allem auf den Umverteilungsgebieten Agrarpolitik und RegionalfÖrderung - erhalten, die unter dem Aspekt der Föderalismustheorie ineffizient sind. Sie widersprechen vollständig den Grundregeln des fiskalischen Föderalismus in Bezug auf die institutionelle Deckungsgleichheit von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen, also dem Konnextätsprinzip sowie dem regionalen Äquivalenzprinzip. Diese Tendenz zur Zentralisierung hat sich mit der zunehmenden Verlagerung von nationalen Kompetenzen in der Arbeitsmarktpolitik, der Konjunkturpolitik, der Sozialpolitik und sogar in der Bildungspolitik noch verstärkt, wie dies vor allem die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) sowie der Verfassungskonventsvorschlag (2003) dokumentieren. Auch die neuerlich intendierte innergemeinschaftliche Methode der Offenen Koordinierung (MOK) impliziert eine kláre Tendenz zur Zentralisierung. Es scheint, als sei die Tendenz zur Kompetenzverlagerung hin zur jeweils höchsten Regierungsebene in föderalen Staaten bzw. Jurisdiktionen systematischer Natur (Konrad 2003, S. 163). Sie ist stets verbunden mit der Reduzierung des Wettbewerbs zwischen den Gebietsebenen zugunsten von politischer Koordinierung und Harmonisierung. Bei nicht europaweiten öffentlichen Gütern wirkt sie deshalb grundsätzlich effizienzmindernd. Umverteilung und Zentralisierung in der EU zu bremsen, steht mithin auf der Agenda. Da es bei jeder Umverteilung Nettozahler und Nettoempfänger gibt, kommt es auf das Reformverhalten beider Gruppen an. Hier ist eine Situation eingetreten, die ein spieltheoretisches Gleichgewicht zwischen beiden Gruppen darstellt, das endogen zu keiner Reform führen kann, weil es eine Blockadesituation repräsentiert. Die Crux liegt in der konstitutionellen Ausgestaltung der Abstimmungsregeln im Europäischen Rat, insbesondere hinsichtlich der Einnahmen einerseits und der Ausgaben des EU-Haushalts andererseits. Während Beschlüsse, die die Festlegung des Finanzierungsrahmens, also die Einnahmeseite und damit die Gesamtausgaben der Gemeinschaft betreffen, nur mit Einstimmigkeit getroffen werden können, unterliegen Beschlüsse in Bezug auf die Struktur der Ausgaben, also die Verteilung der Ausgaben auf Einzelzwecke und damit auf die einzelnen Mitgliedstaaten, der qualifizierten Mehrheit. Damit wird der Status quo zur Umverteilungsblockade: Die Nettozahler können eine Reduzierung ihrer Beiträge wegen der Vetomöglichkeit der Nettoempfänger nicht durchsetzen, aber sie können auch jedes Verlangen der Nettoempfänger nach höheren Zahlungen durch ihr eigenes Veto abblocken. Wollte man diese Blockadesituation beseitigen, wäre dies wiederum nur mit Einstimmigkeit zu beschließen (Art. 269 EUV). Auf der Ausgabenseite gibt es ebenfalls eine Blockade, weil aufgrund

221

Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

der vorgeschriebenen qualifizierten Mehrheitsentscheidungen die Nettonutznießer zum Beispiel der Agrar- und Strukturpolitik stets genügend Stimmen mobilisieren können, um als Blockademinderheit die für eine Neuordnung dieser umverteilenden Politikbereiche benötigte qualifizierte Mehrheit zu verhindern. 4. Stimmenverhältnisse vor und nach der EU-Erweiterung Wie sehen nun die tatsächlichen Stimmenverhältnisse aus? Tabelle 1 zeigt, dass die Nettoempfänger vor der EU-Erweiterung über eine die Sperrminorität von 25 übersteigende Blockademinderheit von 32 Stimmen verfugten, die sich nach der Erweiterung gemäß Nizza-Vertrag unter Status-quo-Bedingungen für die EU-27 auf 84 erhöht hat. Da alle Beitrittsländer Nettoempfänger sind, steigt die Blockademinderheit um 108 auf 192 Stimmen und liegt damit weit über der Sperrminorität von 91 Stimmen. Sie kann damit verhindern, dass umverteilungsmindernde Reallokationen im Agrar- und Strukturbereich vorgenommen werden. Die Stimmenzahl der Nettozahler erhöht sich beitrittsbedingt von 95 auf 153, erreicht aber bei weitem nicht die qualifizierte Mehrheit von 254 Stimmen. Selbst wenn Länder mit einem bisher (in etwa) ausgeglichenen Ausgaben-Einnahmen-Saldo (weder NZ noch NE) nach der Erweiterung zu Nettozahlern werden, reichen diese maximal 58 zusätzlichen Stimmen nicht zur qualifizierten Mehrheit aus. Dieses Szenario zeigt numerisch in aller Deutlichkeit die Blockadesituation auf, in die sich die EU primär aufgrund der skizzierten vergangenheitlichen Drohpotenziale einzelner Staaten hineinmanövriert hat, die heute die Permanenz der nationalen Positionen als Nettozahler oder als Nettoempfänger erklärt und die sie auch nach der EU-Erweiterung auf Basis ihrer eigenen Abstimmungsarrangements offensichtlich systemendogen nicht mehr auflösen kann. Da die beschlossenen Limits für das EU-Budget von 1,13 % bzw. maximal 1,27 % des EU-Bruttosozialprodukts demselben Blockademechanismus unterliegen, wird die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der EU zukünftig primär von der laufenden ökonomischen Aktivität in der Gemeinschaft - also endogen - bestimmt. Tabelle 1: Stimmenzahl im Europäischen Rat Stimmenzahl Mitgliedstaaten Nettozahler (NZ) (1994-2000) Nettoempfanger (NE) (1994-2000) Weder NZ noch NE (1994-2000) Beitrittsländer Qualifizierte Mehrheit Sperrminorität Summe

vor

nach EU-Erweiterung

35

95

32

84

20

58

62 25 87

108 254 91 345

Quelle: Zusammengestellt nach Blankart und Kirchner (2003, S. 20, S. 24).

222

Wolf Schäfer

Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents sieht für Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit vor, dass zwei zusätzliche Bedingungen vorliegen: Es müssen die Mehrheit der Mitgliedstaaten sowie drei Fünftel der Bevölkerung der Union repräsentiert sein (Art. 1-24). Insbesondere letztere Bedingung würde die Position der bevölkerungsreichen Nettozahler zwar etwas stärken und zudem die Überrepräsentation bevölkerungsmäßig kleiner Länder in der EU relativieren (Schäfer 2001, S. 263); sie würde aber die Blockadesituation nicht grundsätzlich aufheben. Da zudem die bisherige Ablehnung Polens und Spaniens vermutlich zu einer Relativierung dieser Bedingung fuhren wird, ist auch durch die mögliche Inkraftsetzung des Verfassungsentwurfs für das Dilemma der Abstimmungsblockade keine konstitutionenökonomisch innovative Lösung in Sicht. 5. Eigene EU-Steuern und Verschuldung? Diese Blockadesituation forciert den Druck insbesondere von Seiten der zentralen EU-Institutionen (Kommission und Parlament), zur Belebung anderer Finanzierungsquellen das Fehlen der eigenen Steuerhoheit sowie das Verschuldungsverbot der EU grundsätzlich in Frage zu stellen. Der geforderten Zuweisung einer eigenen Steuerbasis als Finanzquelle der Gemeinschaft ist gegenwärtig aus verschiedenen Gründen allerdings zu widersprechen. So gibt es in der EU keine europaweit gewählte Regierung, die - analog zum nationalen Kontext - ein dezidiertes Interesse hätte, nur gesamteuropäische Ziele zu verfolgen, d. h. nur europaweite öffentliche Güter zu produzieren. Die Kommission ist keinem Wählerauftrag verantwortlich, die Mitglieder des Europäischen Rats verfolgen ihre jeweils nationalen Wiederwahlinteressen, das Europäische Parlament repräsentiert die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 137 EGV), verfolgt also dem Vertragstext gemäß eher nationale denn gesamteuropäische Ziele. Darüber hinaus würde eine eigene EU-Steuerhoheit das Tor zu - vermutlich ungebremsten - Steuererhöhungen für die Steuerbürger in der Gemeinschaft öffnen. Auch die Aufhebung des gegenwärtigen Verschuldungsverbots der EU ist abzulehnen. Beobachtbar ist jedoch, dass dieses Verbot schon heute vor allem durch die - projektgebundene - Kreditgewährung über die Europäische Investitionsbank (EIB) umgangen wird. Da im Rat der Gouverneure der EIB die Minister der EU-Staaten Stimmeneinfluss haben, wird der Druck der Mittelknappheit politisch vom Europäischen Rat bzw. Ministerrat auf die EIB übertragen. Mit der EU-Erweiterung ist zu erwarten, dass die neuen Mitglieder diesen Druck erhöhen werden und somit die skizzierte Blockadesituation immer stärker am offiziellen EU-Haushalt vorbei faktisch aufgebrochen wird. Die EIB fungiert damit als Ventil, dessen zunehmende Öffnung das Kreditaufnahmeverbot für die Gemeinschaft aushebelt. Diese Entwicklung verdeutlicht die Dringlichkeit eines institutionell stärker abgesicherten Verschuldungsverbots für die EU. Zudem könnte der zunehmenden Umgehung des Kreditaufnahmeverbots durch die Erhöhung der bislang niedrigen Selbstbeteiligungssätze der Nutznießerstaaten an den jeweiligen Projektkosten Einhalt geboten werden. Im Rahmen der GAP könnte man sich Beteiligungssätze von bis zu 100 % vorstellen (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWT 1998, S. 29). Ein weiterer Vorschlag wäre (Steinherr 2000, S. 119), die Strukturfonds generell

Politische und wirtschaftliche

Machtverhältnisse

in der EU

223

durch Kredite zu Marktbedingungen zu ersetzen, die gegebenenfalls durch Zinssubventionen der EIB ergänzt werden. Aber diese Vorschläge unterliegen ja selbst wieder den blockierenden Abstimmungsmodalitäten. 6. Auflösung der Entscheidungsblockade durch legitimiertes Sezessionsrecht? Das skizzierte Lock-in-Gleichgewicht, in das sich die EU-Mitglieder verheddert haben, wird das bisher schon praktizierte ,vote trading' und ,log rolling' im strategischen Spiel der EU-Mitglieder (Vollmer 2003, S. 399) nach der Erweiterung intensivieren. Dabei kann und wird es zu Koalitionen und Vereinbarungen kommen, die die Blockade auch hier in nicht antizipierbarer Weise unterlaufen. Eine echte Störung dieses spieltheoretischen Blockadegleichgewichts kann aber nur durch Datenänderungen erfolgen, also durch exogene Schocks, die zum Beispiel zu Änderungen der Spielregeln führen. Eine solche Datenänderung könnte der bereits erwähnte Artikel 1-59 des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents sein, in dem die Exit-Option fur die Mitglieder zum Bestandteil des Gemeinschaftsregelwerks werden soll, Sezessionsdrohungen mithin konstitutionell legitimiert und damit spieltheoretisch endogenisiert werden. Sezession bedeutet kollektiven Austritt aus einer - zumeist - politischen Einheit. Dabei erscheint es sinnvoll, zwischen einer Vollsezession und einer Teilsezession zu unterscheiden. Letztere firmiert üblicherweise als Opting-Out und impliziert die Abwahl einzelner kollektiver Politikbereiche. Das Ziel des Opting-Out ist zumeist die Übernahme einzelner zentraler Regelungskompetenzen der Union durch einen einzelnen Mitgliedstaat (Renationalisierung), ohne dass dieser die Union verläset. Dem Vernehmen nach ist Frankreich die treibende Kraft hinter der legitimierten Sezessionsoption im Verfassungsentwurf gewesen. Eine Hypothese der Motivforschung - unter vielen - ist, dass Frankreich eine nunmehr spielregelimmanente Option der Rückkehr zu seiner in der skizzierten Frühphase der Gemeinschaft spielregelwidrig praktizierten Philosophie der Sezessionsdrohung besitzen möchte. Dies ist allerdings nur plausibel, wenn Frankreich für sich kosten-nutzenanalytisch lohnende Politikalternativen außerhalb der EU sieht und diese glaubwürdig vermitteln kann, so dass sie tatsächlich als Drohpotenzial wirken. Unter gegenwärtigen Bedingungen erscheint dies zwar in gar keiner Weise realistisch, kann aber ad infinitum wohl nie ausgeschlossen werden, was natürlich grundsätzlich für alle EU-Mitglieder gilt. Die EU in ihrer heutigen Struktur ist sicher keine res publica immortalis. Eine andere Hypothese ist, dass es denjenigen Ländern der EU, die noch nicht Mitglied der Europäischen Währungsunion (EWU) sind, durch die Möglichkeit eines späteren legitimierten und geregelten Wiederaustritts leichter gemacht werden soll, der Währungsunion beizutreten, denn Austrittsbarrieren wirken ja wie Eintrittsbarrieren. Gegenwärtig zielte dies dann auf die internen Schwierigkeiten ab, die die Regierungen Dänemarks, Schwedens und des Vereinigten Königreichs mit einem EWU-Beitritt haben. Durch die EU-Erweiterung kommen aber auch die Beitrittsländer diesbezüglich in den Fokus. Deutschland hat die legitimierte Sezessionsoption des Artikels 1-59 nicht befürwortet. Daraus wird deutlich, dass sich bis heute offenbar nichts an der ursprünglichen Situation der fehlenden Alternative zur EU-Mitgliedschaft dieses Landes geändert hat. An-

224

Wolf Schäfer

gesichts generell nicht erkennbarer Alternativen der Mitglieder der EU-25 zur Gemeinschaftsmitgliedschaft erscheint es momentan nicht realistisch, strategische Spiele unter Einschluss von glaubwürdigen Austrittsdrohungen in Analogie zur skizzierten Frühphase der Gemeinschaft heute zu durchdenken. Dies muss und wird aber vermutlich nicht so bleiben, denn erstens werden Sezessionsentscheidungen umso wahrscheinlicher, je mehr sich die (Durchschnitts-)Einkommen der Regionen innerhalb eines Integrationsraumes unterscheiden {Berthold und Neumann 2002, S. 19), was ja durch die EUErweiterung forciert wird. Und zweitens bedeutet das skizzierte institutionelle Blockadegleichgewicht einen Entscheidungsstillstand, der politisch und ökonomisch dauerhaft nicht halten kann. Zudem gilt es zu erkennen, dass ein konstitutionelles Sezessionsrecht die verfahrensmäßige Operationalisierung des Subsidiaritätsprinzips befördert, das ja im geltenden Gemeinschaftsrecht, insbesondere in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie auch im Verfassungsentwurf des Konvents explizit als Institution einer grundsätzlich wettbewerbsföderalen Union herausgestellt wird. Durch das Subsidiaritätsprinzip wird die Deckungsgleichheit zwischen Interesse und Kompetenz der Institutionen angestrebt. Hier geht es dann nicht primär um die Vollsezession aus der EU, sondern um das Opting-Out innerhalb der EU. Dieses besteht darin, dass Unionsgebietskörperschaften den - vor allem - vertikalen Wettbewerb innerhalb der EU durch vertikale Verlagerung von staatlichen Aufgaben auf diejenigen institutionellen Ebenen stimulieren, die fur bestimmte öffentliche Leistungspakete die größten komparativen Vorteile besitzen. Durch eine funktionale Sezessionsoption würde den Gebietskörperschaften das explizite Recht eingeräumt, hinsichtlich einzelner - oder mehrerer oder aller - öffentlicher Funktionen eine übergeordnete Gebietskörperschaft zu verlassen, um diese Funktionen selbst zu übernehmen oder sich einer anderen Gebietskörperschaft anzuschließen (Vanberg 2004, S. 81 f.). Damit könnte im Sinne von trial und error herausgefunden werden, auf welcher institutionellen Ebene einer föderalen Union welche Aufgaben in Bezug auf Bürgerpräferenzen und Kosteneffizienz am besten wahrgenommen werden können. Allein das Vorhandensein der Option zur vertikalen Verlagerung von Aufgaben unterwirft die Ausübung von politischer Macht einer disziplinierenden Restriktion. Die gemäß operationalisiertem Subsidiaritätsprinzip mögliche oder auch durchgeführte Verlagerung von Aufgaben auf untere Gebietskörperschaften entschärft damit die skizzierte Entscheidungsblockade innerhalb der Gemeinschaft, weil sie Teile der bisher in der zentralen Unionsebene angesiedelten Entscheidungen nunmehr auf untere Gebietskörperschaften überträgt und damit dem zentralen Blockademechanismus entzieht. 7. Fazit In der Frühphase der Gemeinschaft haben mächtige konstitutionell nicht abgesicherte Sezessionsdrohungen vor allem Frankreichs und Großbritanniens das Regelwerk der Gemeinschaft sowie das Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder mitbestimmt. Zudem gibt es in der EU einen sichtbaren Trend zu mehr Umverteilung und Zentralisierung. Die Hypothese ist, dass nunmehr konstitutionell abgesicherte Sezessionsoptionen, wie sie zum Beispiel in Artikel 1-59 des europäischen Verfassungsentwurfs enthalten sind, diesem Trend entgegenwirken. Bei Einhaltung der Prinzipien des Fiskalföderalismus

Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

225

können sie - zum Beispiel in Form von Opting-Out-Entscheidungen - zudem einen entscheidenden Beitrag zur Auflösung der die EU gegenwärtig lähmenden zentralen Entscheidungsblockade leisten, die durch die geltenden EU-Abstimmungsmodalitäten erzeugt wird und die in der Gefahr steht, als stabiles Lock-in-Gleichgewicht die immer größer und heterogener werdende Gemeinschaft in einer sich globalisierenden Welt eher zu sprengen denn zusammenzuhalten. Um die Gefahren eines politisch auseinanderdriftenden Europas nicht zu unterschätzen, empfiehlt es sich, auch das scheinbar Undenkbare hinsichtlich der desintegrativen Fliehkräfte, die durch das gegenwärtige Regelwerk der Gemeinschaft entstehen, frühzeitig zu durchdenken, um sie zu kanalisieren.

Literatur Alesina, A. u. a. (2001), What does the European Union do?, Harvard Institute of Economic Research, Discussion Paper, No. 1935, Cambridge, Mass. Baldwin, R.E. u. a. (1997), The Costs and Benefits of Eastern Enlargement: the Impact on EU and Central Europe, in: Economic Policy, Vol. 24, S. 127-176. Berthold, Ν. und M. Neumann (2002), Opting-Out Klauseln und der europäische Einigungsprozess: Eine sezessionstheoretische Analyse, Würzburg. Blankart, Ch.B. und Ch. Kirchner (2003), The Deadlock of the EU Budget: An Economic Analysis of Ways In and Ways Out, CESifo Working Paper, No. 989, München. Buchanan, J.M. (1975), The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan, Chicago. Europäischer Konvent (2003), Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, Luxemburg. Hefeker, C. (2003), Ressourcenverteilung in der EU: Eine polit-ökonomische Perspektive, HWWA Discussion Paper, Nr. 252, Hamburg. Konrad, K. (2003), Europäische Verfassungsreform: Finanzkompetenzen der EU beschränken, in: K.F. Zimmermann (Hg.), Reformen -jetzt!, Wiesbaden, S. 161-169. Schäfer, W. (2001), Wirtschaftspolitische Herausforderungen der EU-Osterweiterung, in: R. Ohr und Th. Theurl (Hg.), Kompendium Europäische Wirtschaftspolitik, München, S. 241-270. Schäfer, W. (2003), Institutionenreform in der EU im Spannungsfeld von Integrationsvertiefung und -erweiterung, in: D. Cassel und P.J.J. Weifens (Hg.), Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union, Stuttgart, S. 503-517. Steinherr, A. (2002), Welche Reformen der EU erzwingt die Osterweiterung?, in: L. Hoffmann (Hg.), Erweiterung der EU, Berlin, S. 117-128. Vanberg, V. (2004), Bürgersouveränität und wettbewerblicher Föderalismus: Das Beispiel der EU, in: W. Schäfer (Hg.), Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 300, S. 51-86. Vaubel, R. (2001), Europa-Chauvinismus. Der Hochmut der Institutionen, München. Vollmer, U. (2003), Finanz-, Geld- und Währungsordnung der EU: Reformbedarf durch die Osterweiterung?, in: D. Cassel und P.J.J. Weifens (Hg.), Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union, Stuttgart, S. 394-416. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (1999), Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft, Bonn.

Korreferat zum Referat von Wolf Schäfer Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

Peter O. Oberender und Jochen Fleischmann

Die Ausführungen von Wolf Schäfer beschreiben zutreffend die in der Politik der Europäischen Union zu beobachtenden Tendenzen hin zu einer immer stärkeren Zentralisierung, Harmonisierung und einer ineffizienten, die positiven Effekte dieser Union gefährdenden Umverteilungspolitik. Diese Tendenzen werden im Wesentlichen auf die Machtverteilung und die daraus erwachsenden Politikprozesse zwischen den teilnehmenden Staaten zurückgeführt. Als Lösungsmöglichkeit wird auf die Verankerung eines Sezessionsrechts für die an der Europäischen Union teilnehmenden Staaten abgestellt, das insbesondere auf eine Dezentralisierung der Politikgestaltung hinwirken soll. Wenngleich der Grundrichtung der Ausführungen zuzustimmen ist, so bedarf es doch einer Differenzierung im Detail. Insbesondere der Lösungsvorschlag - ein Sezessionsrecht für Staaten - ist kritisch zu hinterfragen. Zunächst aber zur Ursachenanalyse: Die ineffiziente Politikgestaltung und die Ausweitung von Umverteilung und Kompetenzen in der Europäischen Union werden auf drei Gründe zurückgeführt (sozialstaatliche Traditionen, Kompensationsnotwendigkeiten und Machtverhältnisse), wobei den Machtverhältnissen in Form von glaubwürdigen Drohpotenzialen der einzelnen Staaten die zentrale Rolle bei der Erklärung der politischen Prozesse zukommt. Hinzuzufügen wäre: Das Problemfeld ist wesentlich komplexer und es müssen weitere Faktoren hinzugezogen werden, um die Entwicklungstendenzen in der Politik der Europäischen Union nachvollziehbar zu machen. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Tatsache, dass die Politik der EU maßgeblich von den Nationalstaaten gestaltet wird und zahlreiche politische Verschränkungen zwischen der zentralen EU-Ebene und der Ebene der Nationalstaaten existieren. Dieses Charakteristikum europäischer Politik macht die beschriebenen Vorgänge erst möglich und bildet sozusagen den Hintergrund, vor dem die von Wolf Schäfer analysierten ,Machtspiele' ablaufen. Die Tatsache, dass europäische Politik durch Nationalstaaten vermittelt und betrieben wird, und das dadurch verursachte Demokratiedefizit spielen daher fur die Fehlentwicklungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Ursachen für das Demokratiedefizit sind insbesondere zu nennen: Defizite in den demokratischen Prozessen auf Nationalebene pflanzen sich auf die europäische Ebene fort. Die Politikprozesse auf europäischer Ebene, also vor allem das Agieren der Staaten und ihrer Regierungen als EU-Ratsmitglieder, unterliegen daher nur bedingt einer Kontrolle. Es besteht die Neigung, ungeliebte Aktivitäten auf die europäische Ebene abzuschieben oder sich in den im Referat beschriebenen Tauschgeschäften zu engagieren, die letztlich in eine ineffiziente Politik münden.

228

Peter O. Oberender und Jochen

Fleischmann

Weder das Parlament noch die Bürger als demokratische Öffentlichkeit üben eine hinreichende Kontrolle aus. So etwas wie ein in dieser Hinsicht funktionierender demokratischer Prozess auf europäischer Ebene ist momentan noch nicht festzustellen. Intransparenz und Komplexität der genannten Politikfelder verstärken dies noch. Zudem ist die Neigung der Kommission, ihre Kompetenzen auszuweiten, zu bedenken, da sie wie jede Regierung unter dem Druck verschiedenster Gruppen steht (z. B. Leschke 1994, S. 311 f.). Auch diese Verhältnisse werden durch die Erweiterung der Europäischen Union nicht umgestoßen. Auch von dieser Seite ist daher keine Auflösung der von Wolf Schäfer konstatierten Entscheidungsblockade zu erwarten, die es den teilnehmenden Staaten weiterhin ermöglichen wird, faule Kompromisse zu schließen und die bisherige Politik weiterzuführen. Wenn es aber um die Beurteilung der Eignung eines Sezessionsrechts zur Verbesserung der europäischen Politikprozesse geht, dann muss dieses Demokratiedefizit zwingend in die Überlegungen mit einbezogen werden. Wohin sollte sich unter Beachtung dieser Probleme eine Reform orientieren? Dazu muss man sich zunächst einmal klar machen - und hier wurde in dem Referat ein partiell etwas zu negatives Bild der Europäischen Union gezeichnet - , dass die Europäische Union zwar einer bedrohlichen Degeneration ausgesetzt ist, aber auch eindeutige Vorteile bringt. Sie ermöglicht es den Bürgern dieser Union, sich die Vorteile kollektiven Handelns anzueignen (Alesina und Spolaore 2003, S. 203 ff.). Der Binnenmarkt hat nationale Barrieren aufgebrochen und Subventionen verringert, also partiell auch zu einer Auflösung der auf der zentralen Ebene beklagten Fehlentwicklungen gefuhrt. Diese Vorteile kommen auch den Beitrittsstaaten zugute. Daher sollte es Ziel von institutionellen Reformen der Entscheidungsmechanismen der Europäischen Union sein, diese Vorteile zu sichern, gleichzeitig aber die Fehlentwicklungen abzustellen und damit nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Sicherung der individuellen Freiheit ihrer Bürger zu leisten. Kann die Gewährung eines vollständigen oder partiellen Sezessionsrechts für Staaten einen Beitrag hierzu leisten? Sezessionsrechte wurden im Referat als Bestandteil eines notwendigen Dezentralisierungsprozesses ausgewiesen. Daher ist zunächst eine Bemerkung zur Forderung nach Dezentralisierung angebracht. Aus Sicht eines liberalen Ökonomen ist diese Forderung nachvollziehbar; schließlich weist dezentrale Politikgestaltung zweifellos Vorzüge auf; insbesondere setzt sie nationale Wirtschaftspolitik unter Anpassungsdruck. Aber: Die Vorteile der Europäischen Union geraten dabei recht schnell aus dem Blickfeld. Denn die kollektiven Vorteile der politischen Einheit Europäische Union sind nur dann zu erreichen, wenn sie durch ein Mindestmaß an zentral gestalteter Politik gewahrt werden. Eine reine und nicht differenzierte Dezentralisierungsforderung ist daher kein guter Wegweiser für Reformen. Vor diesem Hintergrund muss auch der Vorschlag eines Sezessionsrechts gesehen werden. Sicherlich: Die Entscheidungsblockade der Europäischen Union würde durch ein formelles Sezessionsrecht potenziell gelockert. Die Staaten müssten bei ihrem Entscheidungsverhalten im Rat der Europäischen Union immer die Austrittsdrohung benachteiligter Staaten und damit die Möglichkeit eines Scheiterns der Europäischen Union im Auge behalten. Die Frage muss allerdings gestellt werden, ob die sich anschließende Entwicklung auch in eine wünschenswerte Richtung geht. Im Einzelnen ist zu fragen:

Korreferat zu Politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in der EU

229

-

Wird ein Sezessionsrecht die Europäische Union tatsächlich dazu bringen, den Interessen der Bürger - auch Bürgersouveränität genannt - mehr Rechnung zu tragen?

-

Stellt dies einen besseren Schutz der individuellen Freiheit dar?

- Werden die Potenziale dezentraler Wirtschaftspolitik dann tatsächlich in sinnvoller Weise genutzt? - Kommt es insbesondere zu einer Eindämmung der als störenden empfundenen und vom eigentlichen Grundgedanken der Europäischen Union sich entfernenden Umverteilungspolitik? Das zentrale Problem eines Vertrauens auf ein Sezessionsrecht liegt darin, dass hier Dezentralisierung zwar betrieben wird, aber im Sinne eines Zuwachses an Rechten für die beteiligten Staaten. Damit bleibt aber das für die Europäische Union zentrale Problem bestehen, dass die Politik nicht direkt vom Bürger beeinflusst wird, sondern nur indirekt über die Staaten betrieben wird, ohne dass diese hinreichend kontrolliert werden. Eine durchschlagende Kontrolle der europäischen Ebene im Sinne der Bürgerinteressen findet nach wie vor nicht statt. Die Einräumung eines formellen Sezessionsrechts erweitert hingegen gerade die (unkontrollierten) Handlungsmöglichkeiten dieser Staaten. Was dabei tatsächlich herauskommt ist unsicher. Eine effektive Einschränkung von Machtmissbrauch - was neben der Sicherstellung der Generierung von Vorteilen kollektiven Handelns eines der zentralen Ziele einer europäischen Verfassung sein sollte - wird sich damit nicht erreichen lassen. Es spricht nichts dagegen, dass die Staaten ihre Interessen mit dem neu erlangten Instrument der Sezession weiterhin durchsetzen wie bisher, wenngleich sicherlich Bewegung in die Debatte gebracht würde. Auch dem Bürger wäre nicht gedient, schließlich kann Sezession auch zur Einschränkung individueller Freiheit benutzt werden, wie schon nachgewiesen wurde (vgl. Apolte 1997, S. 57 ff.). Und schließlich ist zu überlegen: Ein legitimiertes Sezessionsrecht lässt Staaten schneller zu dieser Möglichkeit greifen als es bisher der Fall war. Ist es aber vorstellbar, dass eine Europäische Union tatsächlich stabil und überlebensfahig ist, wenn sie mit der ständigen Drohung ihrer Auflösung leben müsste - denn die Sezession eines oder mehrerer Staaten würde sicherlich die Existenzfrage für die verbliebene Gemeinschaft nach sich ziehen? Wohl kaum. Gerade wenn die kollektiven Vorteile der Europäischen Union erhalten bleiben und vielleicht noch ausgebaut werden sollen, ist eine gewisse Stabilität dieses Gebildes erforderlich. Staaten oder kleinere Einheiten dürfen nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt ohne weiteres vollständig austreten dürfen; dieser Möglichkeit muss der Charakter einer ultima ratio zukommen, soll Sezession nicht zum ständigen Missbrauch (im Sinne eines Verstoßes gegen die Bürgerinteressen) einladen. Es spricht daher vieles dafür, Sezession und das damit verbundene Drohpotenzial zuzulassen, sie aber dem tagespolitischen Geschäft zu entziehen, sie direkt an die Entscheidungen der Bürger anzubinden und sie in guter ordnungspolitischer Tradition einer klaren Regelbindung zu unterwerfen. Vollständige Sezession wäre damit eine Möglichkeit, den kontrollierten Zerfall des Gebildes der Europäischen Union zu regeln, sollten dessen Geschäftsgrundlagen einst derart erschüttert sein, dass eine Aufrechterhaltung nicht mehr sinnvoll ist. Die Hürden dafür müssen allerdings hoch gelegt werden. Dazu

230

Peter O. Oberender und Jochen Fleischmann

wurden bereits Vorschläge gemacht (vgl. Schneider 1998, S. 15 f.): Notwendig sein soll eine qualifizierte Mehrheit auf nationaler Ebene (sinnvollerweise in einem direktdemokratischen Verfahren). Es sollte ein klarer zeitlicher Verlauf geregelt sein, der sich beispielsweise über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren erstreckt. Und sollte eine klare Mehrheit für den Austritt nicht zustande kommen, dann sollte dies erst wieder nach einer mehrjährigen Zwischenperiode (z. B. zehn bis 15 Jahre) möglich sein. Relevanter für eine Reform der Europäischen Union und auch eine Auflösung der Entscheidungsblockade wäre es - trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse - , einen gesamteuropäischen demokratischen Prozess zu initiieren. Vorschläge hierfür existieren in großer Zahl (vgl. z. B. Feld 2003). Wesentlich erscheint eine klare Trennung zwischen zentraler und dezentraler Ebene, die dem Bürger mehr dient als das derzeit vorhandene Ineinandergreifen dieser Ebene. Die Abgrenzung sollte dem Subsidiaritätsprinzip folgen, was vor allem darauf hinausläuft, dass der zentralen Ebene ordnungspolitische Kompetenzen zugebilligt werden (insbesondere Sicherung der Grundfreiheiten). Eine Kontrolle dieser zentralen Ebene sollte direkt an den Bürger angebunden werden, nicht zuletzt durch direktdemokratische Elemente. Literatur Alesina, A. und E. Spolaore (2003), The Size of Nations, Cambridge und London. Apolte, T. (1997), Secession Clauses: A Tool for the Taming of an Arising Leviathan in Brussels?, Constitutional Political Economy, Vol. 8, S. 57-70. Feld, L.P. (2003), Eine Europäische Verfassung aus polit-ökonomischer Sicht, ORDO, Bd. 54, S. 289-317. Leschke, M. (1994), Demokratie in Europa: Notwendigkeit, Ausgestaltung und Konsequenzen einer Neuen Demokratie, in: M. Leschke (Hg.), Probleme der deutschen und europäischen Integration - Institutionenökonomische Analyse, Münster, S. 289-322. Schneider, F. (1998), Einige grundlegende Elemente einer europäisch-föderalen Verfassung unter Zuhilfenahme der konstitutionellen ökonomischen Theorie, in: D. Cassel (Hg.), Europäische Integration als ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe - Probleme der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union, Berlin, S. 11-36.

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 74 • Stuttgart • 2004

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

Uwe Vollmer

Inhalt 1. Reformbedarf im Eurosystem nach der Osterweiterung

232

2. Warum sind die Entscheidungsregeln im Zentralbankrat bedeutsam?

235

3. Stimmengewichtung im EZB-Rat: Politische versus ökonomische Ländergewichte

236

4. Zusammensetzung des EZB-Rats: Direktoren versus Präsidenten der Nationalen Zentralbanken

242

5. Reformoptionen

243

6. Ergebnisse und offene Fragen

246

Literatur

247

Uwe Vollmer

232

Question: Mr. President, did you vote today, or did you reach your decisions through discussions? Duisenberg·. You will be aware that I never comment on that. We had an intensive discussion, a prolonged discussion, which was very useful and, in the end, resulted in a consensus on what we had to do. ECB Press Conference. Introductory statement, Frankfurt am Main, June 8, 2000. 1. Reformbedarf im Eurosystem nach der Osterweiterung Zum 1. Mai 2004 sind mit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern zehn neue Länder der Europäischen Union (EU) beigetreten; Bulgarien und Rumänien werden voraussichtlich im Jahre 2007 folgen. Mit ihrem Eintritt in die EU werden diese Länder auch Mitglieder des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und treten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) als Mitgliedsländer mit einer Ausnahmeregelung bei. Dies verpflichtet sie dazu, auch den Euro einzuführen, sobald sie die Maastrichter Konvergenzkriterien erfüllt haben. Damit müssen die neuen Mitgliedstaaten nach ihrem EU-Beitritt zunächst am Wechselkursmechanismus II des Europäischen Währungssystems teilnehmen und können nach einer Übergangszeit von mindestens zwei Jahren ihre nationalen Währungen durch den Euro ersetzen. Obwohl sie die Konvergenzkriterien bislang noch nicht erfüllen, haben die Beitrittsländer schon jetzt konkrete Termine im Blickfeld, zu denen sie den Eintritt in den Europäischen Währungsraum (EWR) und die Übernahme der Gemeinschaftswährung vollzogen haben wollen (Tabelle 1). Damit könnte der EWR zum Ende der Dekade 22 Länder oder, berücksichtigt man einen möglichen Beitritt Großbritanniens, Schwedens und Dänemarks sowie von Bulgarien und Rumänien, sogar 27 Länder umfassen. Dieser Erweiterungsprozess erfordert einerseits erhebliche Anstrengungen seitens einiger Beitrittsländer, um vor allem die fiskalischen Konvergenzkriterien zu erfüllen (Halpern und Neményi 2002; Rossi 2004; siehe ebenfalls Tabelle 1), auf die hier nicht eingegangen werden soll. Darüber hinaus wird aber auch das Eurosystem bzw. das Europäische System der Zentralbanken sein Gesicht verändern, wenn die Anzahl der beteiligten Nationalen Zentralbanken (NZBen) zunimmt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, von welchen Personen und nach welchen Regeln zukünftig geldpolitische Entscheidungen im EZB-Rat getroffen werden. Dieser setzt sich derzeit aus dem auf Unionsebene bestellten Direktorium und jeweils einem Vertreter der NZBen der an der EWU beteiligten Länder zusammen. Das Direktorium besteht aus dem EZB-Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern, und seine Mitglieder werden von den Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Europäischen Rates ernannt, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört. Die Präsidenten der NZBen werden nach den für sie geltenden nationalen Rechtsvorschriften bestimmt. Gemäß Artikel 10(2) der Satzung des ESZB werden Beschlüsse grundsätzlich mit einfacher Mehrheit getroffen, wobei jedes persönlich anwesende Mitglied über eine Stimme verfügt (,one man - one vote'); bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Präsidenten. Für Beschlüsse über bestimmte finanzielle An-

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

233

gelegenheiten werden die Stimmen im EZB-Rat gemäß Artikel 10(7) der Satzung des ESZB nach den Anteilen der NZBen am gezeichneten Kapital der EZB gewichtet. Tabelle 1: Konvergenzstand der Beitrittsländer und geplanter Beitrittstermin zum EWR Kennziffern zum Konvergenzstand Land

Inflationsrate (HVPI, 2003)

Haushaltsdefizit Verschuldungsgrad (% des BIP, 2003) (% des BIP, 2003)

Teilnahme am WKM II

Geplanter Beitrittstermin in den EWR

Mitte

Estland

1,6

0,0

5,4

1.5.2004

Lettland Litauen Malta Polen

2,5 -0,9 k. A. 0,7

2,7 2,6 7,6 4,3

16,7 23,3 66,4 45,1

1.1.2005 2004/2005

Slowakei

8,5

5,1

45,1

Slowenien Tschechische Republik

5,9

2,2

27,4

Ende 2004

2006 2008 2006/2007 k. A. k. A. 20062009 2005/2006

0,0

8,0

30,7

Mai 2004

2009/2010

4,6

5,4

57,9

Mitte 2 0 0 4 bis Mitte

2008

60,3

2005 k. A.

Ungarn Zypern

4,3

5,2

Anfang 2005 k.

A.

k.

A.

k.

A.

Quelle: ZEW Konjunkturreport, Jahrgang 7, Nr. 1, März 2004, sowie die Veröffentlichungen der Nationalen Zentralbanken. Sofern die bislang geltenden Regeln beibehalten werden, verändern sich mit der Erweiterung der EWU die Größe und die Zusammensetzung des EZB-Rates, womit Befürchtungen verbunden sind, dass ineffiziente geldpolitische Beschlüsse getroffen werden. Dafür lassen sich zwei Begründungen anführen (Berger 2002, S. 4 ff.; Lommatzsch und Tober 2003, S. 195; Neumann 2003, S. 309): - Bereits heute bestehen Divergenzen zwischen dem Stimmengewicht eines Mitglieds im EZB-Rat und der ökonomischen Bedeutung (gemessen an der Bevölkerung oder der Wirtschaftskraft) des von ihm repräsentierten Landes. Solche Divergenzen können aus Sicht der Gemeinschaft zu suboptimalen geldpolitischen Entscheidungen führen, sofern die Entscheidungsträger keine ausschließlich unionsweite Perspektive einnehmen, sondern vornehmlich auf die wirtschaftliche Entwicklung in ihren Heimatländern achten, und die Entwicklung in den Heimatländern von der Wirtschaftsentwicklung in der Währungsunion insgesamt abweicht. Diese Divergenzen zwischen politischem Gewicht und ökonomischer Bedeutung wachsen mit der Osterweiterung der Union, weil die Beitrittsländer gemessen an ihrer Wirtschaftskraft sehr klein im Vergleich zu den bisherigen Mitgliedsländern sind. - Der EZB-Rat wird nach der Erweiterung auf bis zu 33 Mitglieder anwachsen, und damit sehr viel mehr Mitglieder umfassen, als das für geldpolitische Entscheidungsgremien in anderen Währungsräumen der Fall ist. Beispielsweise weisen das Federal Open Market Committee (FOMC) im amerikanischen Federal Reserve System oder das Direktorium der Bank of Canada jeweils nur zwölf Mitglieder auf. Wird das Ent-

234

Uwe Vollmer

scheidungsgremium zu groß, wachsen die Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung, und es besteht die Gefahr, dass geldpolitische Beschlüsse zu spät erfolgen. Um auch nach der Erweiterung handlungsfähig zu bleiben, hat der EZB-Rat im Frühjahr 2003 einen Reformvorschlag unterbreitet, der ein Rotationsverfahren vorsieht und der im Mai 2003 vom Europäischen Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs bestätigt worden ist (Europäische Zentralbank 2003a, 2003b). Allerdings soll auf Vorschlag der Europäischen Kommission eine ,Ermächtigungsklausel' in Artikel ΠΙ79(7) in den Vertrag über die Europäische Verfassung aufgenommen werden (Europäische Zentralbank 2003c), die es dem Europäischen Rat erlaubt, einstimmig bestimmte Elemente der Europäischen Währungsverfassung zu verändern, ohne dass diese Änderungen durch die nationalen Parlamente ratifiziert werden. Da diese Ermächtigungsklausel auch die Zusammensetzung des EZB-Rates sowie dessen Beschlussfassungsmodalitäten und Aufgabenstellung betrifft, bleibt die Frage nach einer Reform der geldpolitischen Entscheidungsgremien auf der Agenda, weil sie jederzeit durch den Europäischen Rat entweder auf Vorschlag der Europäischen Kommission und nach Anhörung des Parlaments und der Europäischen Zentralbank oder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission geändert werden können. Deshalb wird im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, wie und von wem zukünftig die Entscheidungen im EZB-Rat getroffen werden sollten, wenn die Zahl der Mitgliedstaaten auf bis zu 27 Länder anwächst. Dabei wird vor allem auf die erste der oben genannten Befürchtungen eingegangen und die Frage der Stimmengewichtung in den Mittelpunkt der Analyse gestellt. Dazu werden zunächst die Gründe aufgeführt, warum die Zusammensetzung des Zentralbankrats und die angewendeten Entscheidungsregeln in einer Währungsunion zwischen unabhängigen Staaten in einem Staatenbund oder zwischen den Bundesstaaten in einem Bundesstaat - anders als in einem Zentralstaat - von Bedeutung sind (2.). Hieran anschließend werden Argumente präsentiert, die für eine Stimmengewichtung von Ländervertretern (3.) und für eine divergierende Bedeutung von auf Unionsebene bestellten Direktoren und von durch die Mitgliedsländer entsandten NZB-Präsidenten im Zentralbankrat (4.) sprechen. Der fünfte Abschnitt stellt Reformoptionen vor, und Abschnitt (6.) fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert offene Fragen. Nicht näher eingegangen wird auf die Größe des Zentralbankrats und die mit der Vorbereitung und Durchführung geldpolitischer Entscheidungen verbundenen Kosten. Diese Kosten der Entscheidungsfindung werden häufig als progressiv steigend mit der Anzahl der Mitglieder im Entscheidungsgremium angesehen, was dafür spricht, dieses möglichst klein zu halten und auf einen einzigen Entscheidungsträger zu begrenzen. Dem entgegen steht jedoch der Einwand, dass in einer Gruppe getroffene Entscheidungen qualitativ besser seien, weil die Entscheidungsträger gegenseitig Informationen austauschen und voneinander lernen können (King 2002, S. 2 ff.). Beide Effekte wirken entgegengesetzt, und es ist schwierig, die optimale Gruppengröße exakt zu bestimmen. Gleichwohl weisen beispielsweise große Unternehmen erfahrungsgemäß selten mehr als acht Vorstandsmitglieder auf, so dass der EZB-Rat mit derzeit 18 Mitgliedern bereits heute die optimale Gruppengröße überschritten haben dürfte.

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

235

2. Warum sind die Entscheidungsregeln im Zentralbankrat bedeutsam? In einer Währungsunion spielen die Zusammensetzung des Zentralbankrats sowie die gewählten Abstimmungsregeln keine Rolle, sofern - die Konjunkturzyklen in allen Volkswirtschaften perfekt korreliert sind und die Mitglieder des Zentralbankrats dieselben Präferenzen bezüglich des optimalen Tradeoffs zwischen Inflation und Outputstabilisierung haben; oder - die Konjunkturzyklen nicht perfekt korrelieren, aber alle Mitglieder des Zentralbankrats allein auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Union achten und die makroökonomische Situation in ihren Heimatregionen bei ihren Entscheidungen unberücksichtigt lassen. In beiden Fällen treffen alle Mitglieder dieselben geldpolitischen Entscheidungen, so dass der Konsens schnell herbeigeführt ist und es ausreichen würde, das Entscheidungsgremium mit nur einer Person zu besetzen, die alle Mitgliedsländer der Union repräsentiert. Die zweite der oben genannten Situationen charakterisiert nach Angaben des Eurosystems die Entscheidungsfindung im EZB-Rat, wo Beschlüsse im Konsens und nicht durch Abstimmung getroffen würden, worauf der ehemalige Präsident der EZB, Wim Duisenberg, verschiedentlich hingewiesen hat (siehe dazu Lommatzsch und Tober 2003, S. 195, sowie das Eingangsmotto dieses Textes). Allerdings gibt es Hinweise, dass auch im EZB-Rat Meinungsunterschiede bestehen (Heisenberg 2003, S. 406), obwohl dessen Sitzungsprotokolle nicht veröffentlicht werden, um einzelne Mitglieder vor dem Verdacht zu schützen, geldpolitische Entscheidungen aus nationaler Perspektive und nicht aus der Perspektive der Währungsunion getroffen zu haben. Für die Existenz solcher Meinungsunterschiede auf Ebene der EWU sprechen folgende Beobachtungen: - Empirische Untersuchungen sowohl für die USA als auch für die Europäische Union zeigen, dass die Outputentwicklung in Teilregionen der jeweiligen Währungsunion keineswegs perfekt korreliert ist. Für die USA und den Zeitraum von 1929 bis 1999 ermittelt Karras (2003) große Divergenzen in der Konjunkturvariabilität der amerikanischen Bundesstaaten und zeigt, dass erhebliche Unterschiede in der Korrelation der Outputentwicklung in den 50 betrachteten Bundesstaaten mit der nationalen Outputentwicklung bestehen; im Durchschnitt ist nur ein Drittel der Konjunkturvariabilität eines Bundesstaates erklärbar durch die gesamtwirtschaftliche Konjunkturentwicklung. Für Europa zeigen Bayoumi und Eichengreen (1993), dass sich die bisherigen Mitgliedsländer der EU in zwei Gruppen einteilen lassen, zwischen denen gesamtwirtschaftliche Schocks nur wenig oder sogar negativ korrelieren. Zudem unterscheidet sich die Höhe der Schocks zwischen beiden Gruppen erheblich und ist in der zweiten Gruppe doppelt so hoch wie in der ersten Gruppe. Darüber hinaus identifizieren Fidrmuc und Korhonen (2001) für die Beitrittsländer eine Gruppe, bestehend aus Estland, Lettland und Ungarn, deren gesamtwirtschaftliche Schocks stark positiv mit den Schocks im Euro-Währungsgebiet korrelieren, während die Korrelation der Schocks in den übrigen Beitrittsländern nur gering oder sogar negativ ist.

236

Uwe Vollmer

- Ebenfalls für die USA argumentieren Meade und Sheets (2002), dass sich die Mitglieder im Federal Open Market Committee (das geldpolitische Entscheidungsgremium im Federal Reserve System) bei ihren Entscheidungen stark an der makroökonomischen Entwicklung in ihrer Heimatregion orientieren. Sie analysieren die Ergebnisse von 214 Committee-Sitzungen zwischen 1978 und 2000 (deren Protokolle veröffentlicht wurden) und zeigen, dass vor allem die regionale Arbeitslosenquote eine wichtige Determinante für das Abstimmungsverhalten eines geldpolitischen Entscheidungsträgers ist. Für die Deutsche Bundesbank finden Berger und De Haan (2002, S. 269 ff.) Evidenz, dass regionale Unterschiede im Wirtschaftswachstum und in der Inflationsentwicklung Einfluss auf das Abstimmungsverhalten von Zentralbankratsmitgliedern genommen haben. Obwohl schließlich das Eurosystem keine Abstimmungsergebnisse des EZB-Rates publiziert, vermuten Analysten, dass auch innerhalb des Eurosystems die makroökonomische Entwicklung in einzelnen Teilregionen der EWU neben der makroökonomischen Entwicklung in der Union bedeutsam für die Entscheidungsträger sei (Heisenberg 2003, S. 407). Deshalb muss auch für das Eurosystem die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass die Mitglieder des EZB-Rates unterschiedliche Vorstellungen über die optimale Geldpolitik haben, so dass Größe und Zusammensetzung des Rates sowie die Wahl des Abstimmungsmechanismus für den geldpolitischen Instrumenteneinsatz relevant sind. Dies soll nachfolgend im Rahmen eines Modells vom Barro!Gordon-Typ für alternativ zusammengesetzte Entscheidungsgremien gezeigt werden, wobei als Referenzfall die Situation eines Zentralbankrats gewählt wird, dessen Mitglieder ausschließlich auf die makroökonomische Entwicklung in der Union schauen, obwohl einzelne Länder regionenspezifischen Störungen ausgesetzt sind. Diesem .benchmark' wird der Fall gegenübergestellt, dass alle Mitglieder des Zentralbankrats allein auf die makroökonomische Entwicklung in ihrer Heimatregion schauen, um zu ermitteln, inwieweit die Größenunterschiede zwischen den Mitgliedsländern der EWU entscheidungsrelevant sind und ob eine Stimmengewichtung der Mitgliedsländer im EZB-Rat erforderlich ist. 3. Stimmengewichtung im EZB-Rat: Politische versus ökonomische Ländergewichte Bereits jetzt divergieren in der Europäischen Währungsunion die ökonomischen Gewichte der Mitgliedstaaten erheblich, was Tabelle 2 verdeutlicht, die den Beitrag jedes Landes zum BIP der Gemeinschaft wiedergibt. Damit repräsentieren die Präsidenten der Nationalen Zentralbanken innerhalb des Eurosystems Regionen von sehr unterschiedlicher ökonomischer Bedeutung, und dies unterscheidet das Eurosystem beispielsweise vom amerikanischen Federal Reserve System, wo jede Mitgliedsbank eine Region von annähernd derselben ökonomischen Größe vertritt (Berger und De Haan 2002, S. 264). Nach der EU-Erweiterung werden diese Divergenzen noch zunehmen, und nach den derzeit geltenden Regeln könnten beispielsweise die NZB-Präsidenten der 17 kleinsten Mitgliedsländer der EWU mehrheitlich die geldpolitischen Entscheidungen bestimmen, obwohl sie zusammen lediglich knapp 15 % der Wirtschaftskraft (gemessen am BIP) im Euro-Währungsraum repräsentieren.

237

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

Tabelle 2: Ökonomische Gewichte der EU-Mitgliedsländer: EU-12, EU-15, EU-25 und EU-27 (nationales BIP in % des Gesamt-BIP, 2001) Land Belgien Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Luxemburg Niederlande Osterreich Portugal Spanien Dänemark Schweden Vereinigtes Königreich Estland Lettland Litauen Malta Polen Slowakei Slowenien Tschechische Republik Ungarn Zypern Bulgarien Rumänien Summe

EU-12 3,6 29,5 1,8 20,5 2,6 1,4 19,0 0,3 5,6 3,0 2,4 10,3

-

EU-15 2,9 23,6 1,5 16,4 2,1 1,1 15,2 0,2 4,5 2,4 1,9 8,2 1,6 2,4 16,0

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

100

100

EU-25 2,7 21,8 1,4 15,1 1,9 1,0 14,1 0,2 4,1 2,2 1,7 7,6 1,5 2,2 14,7 0,1 0,2 0,3 0,1 3,4 0,6 0,3 1,5 1,2 0,1 -

100

EU-27 2,6 21,4 1,3 14,8 1,9 1,0 13,8 0,2 4,0 2,2 1,7 7,4 1,5 2,1 14,4 0,1 0,2 0,3 0,1 3,3 0,6 0,3 1,5 1,2 0,1 0,5 1,5 100

Quelle: www.odci.gov/cia/publications/index.html; eigene Berechnungen. Die sich aus solchen Divergenzen zwischen politischem und ökonomischem Gewicht ergebenden Konsequenzen für die Geldpolitik lassen sich verdeutlichen im Modell einer Währungsunion zwischen zwei Ländern (oder Ländergruppen) I und Π (Berger 2002, S. 18 ff.; Berger und De Haan 2002; zur nachfolgenden Analyse siehe auch Vollmer und Hauck 2004). Jedes Land i = Ι,ΙΙ wird im Zentralbankrat durch jeweils einen Entscheidungsträger (oder eine homogene Gruppe von Entscheidungsträgern) vertreten, der zwei gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen verfolgt und Abweichungen der (unionsweiten) Inflationsrate gP vom Zielwert gp'el = 0 sowie Abweichungen des (logarithmierten) Outputs Y¡ vom (ebenfalls logarithmierten) natürlichen Outputniveau Y" in seinem Land möglichst gering halten möchte. Damit minimiert der Vertreter von Land I die Verlustfunktion:

Uwe Vollmer

238

O)

Vi=^(Y¡-Y>})2

+

^g2p,

und der Vertreter von Land Π minimiert: (2)

Vn = \ H Y i i - Y n u ) 2 + \g 2 p·

Dabei gibt λ > 0 das relative Gewicht beider Ziele in der Verlustfunktion wieder, und dieser Parameter ist in beiden Ländern gleich. Entscheidungen über die Geldpolitik in der Währungsunion werden im Zentralbankrat getroffen, in dem die beiden Ländervertreter über ein politisches Gewicht x ¡ und χ// = 1 - χ / verfügen. Damit mag die folgende Verlustfunktion ein geeigneter Repräsentant für die Entscheidungsstruktur in der Zentralbank sein: (3)

V = xI-VI

+

(\-xI)-VIj.

Die Entscheidungsträger in jedem Mitgliedsland interessieren sich in dieser Darstellung also nicht für den Output des Partnerlandes, sondern nur für den Output im eigenen Land; die Geldpolitik der Gemeinschaft ergibt sich nach Maßgabe der politischen Gewichte beider Mitglieder. Während die Inflationsrate überall in der Währungsunion identisch ist, kann die Outputentwicklung aufgrund des Auftretens länderspezifischer Angebotsschocks voneinander abweichen. Dies lässt sich darstellen mit Hilfe der /.«caí-Angebotsfunktion, die jeweils für jedes Land die Wirkung einer Überraschungsinflation und von gesamtwirtschaftlichen Angebotsschocks auf die Outputentwicklung bei gegebenem Wert des natürlichen Outputs wiedergibt. Es gilt: (4)

Υ ι = Ynj + a[gp - E(g p)] - ei

und

(5)

Y ¡i = Y"i + a[gP - E(gp)\-en

·

Hierbei benennt E den Erwartungsoperator, a > 0 misst den (in beiden Ländern identischen) Einfluss von Überraschungsinflation auf den Output, und e¡ bzw. en bezeichnen länderspezifische Schocks mit einem Erwartungswert E(e¡) = E(e¡¡) = 0 und mit bekannter endlicher Varianz σ } und . Neben diesen Angebotsschocks existieren keine weiteren gesamtwirtschaftlichen Störungen und insbesondere sei die EZB in der Lage, durch Wahl des Geldmengenwachstums gM die Inflationsrate zu kontrollieren: (6)

gp=gM-

Die Spielsequenz unterstellt, dass die Wirtschaftssubjekte zunächst rationale Inflationserwartungen bilden, dann die Angebotsschocks auftreten und schließlich die EZB ein bestimmtes gM wählt. Einsetzen von (1) und (2) in (3) ergibt: (7)

V=

XI

\^(Y,-YÍf

n + \g2p\ + (1 - xi)\^(Yn-Y 2 v " iif

+

2CWp

239

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

Einsetzen der Lacas-Angebotsfunktionen (4) und (5) sowie des geldpolitischen Instruments (6) in diese Verlustfunktion (7) fuhrt zu: (8)

V=

^xMgM-E(gp)hi}2+\w-xiMgM-E(gp)hir}2+\g2M·

Die Reaktionsfunktion der Zentralbank ergibt sich aus der Optimalitätsbedingung dV = 0 und lautet: dgM Χα2

λα

1+λα

r

ι

1 + λα

Sofern die Wirtschaftssubjekte rationale Erwartungen bilden, folgt aus (9) wegen E(e/) = E(e//) = 0 und damit E(gp) = 0 für die optimale Politik: (10)

gM,L

=

gp,L

=

-r~2[xiei 1 + λα

+

Xlien],

wobei der Index L für den hier betrachteten Fall steht, dass die Mitglieder des Zentralbankrates eine länderspezifische Position einnehmen. Damit wählt die Zentralbank ein Geldmengenwachstum, das der gewichteten Summe der länderspezifischen Schocks entspricht, wobei die politische Bedeutung der Länder in die Gewichtung eingeht. Um die aus den Divergenzen zwischen politischem und ökonomischem Gewicht sich ergebenden Konsequenzen abzuleiten, ist als Referenzsituation die Geldpolitik für den Fall zu bestimmen, dass die Mitglieder des Zentralbankrats sich für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der gesamten Währungsunion interessierten. Dabei gilt für die Zielfunktion des Zentralbankrats anstelle von (3): (11)

V = |x[w/(y/-r»)+w//(y//-yj/)f

+ \g2P,

wobei w/ das ökonomische Gewicht von Land I und entsprechend w// = l - w / das ökonomische Gewicht von Land Π in der Währungsunion wiedergibt. Die ökonomischen und politischen Gewichte eines Landes können divergieren. Gemäß (11) erleidet die Zentralbank einen Verlust, wenn der tatsächliche (logarithmierte) Output in beiden Ländern gleichgerichtet vom jeweiligen natürlichen (logarithmierten) Outputniveau abweicht oder die Inflationsrate von null verschieden ist. Einsetzen der ¿«cas-Angebotsfunktionen (4) und (5) und des geldpolitischen Instruments (6) in (11) ergibt: (12)

V=U

{wMgM-Eigp^eiV^AAgM-^gp^eilf

Aus der notwendigen Bedingung für ein Minimum funktion der Zentralbank:

+ \g2M • dV d

gM

= 0 folgt für die Reaktions-

Uwe Vollmer

240

(13)

=

l + λα

7Ε(8ρ) + Λ

7(w/e/

1 + λα

+ w//e//)

Rationale Erwartungsbildung seitens des Publikums bedeutet wieder £ ( e / ) = E (eu) = 0 sowie E(gp) = 0, so dass fur die optimale Geldpolitik folgt: (14)

SM,U

=

8P,U

=

—T-jiwiei 1 + ka

+ wa en),

wobei der Index U fur den Fall steht, dass die Entscheidungsträger eine unionsweite Perspektive einnehmen. Die Zentralbank wählt wieder ein Geldmengenwachstum, das der gewichteten Summe der länderspezifischen Schocks entspricht, wobei (anders als in der Situation, in der die Ländervertreter allein auf die Outputentwicklung in ihren Ländern achten) jetzt allerdings die ökonomische Bedeutung des Landes in das Gewicht eingeht. Damit reagiert die Zentralbank auf Schocks in einem großen Land stärker als auf Schocks in einem kleinen Land. Diese Ergebnisse erlauben es, die stabilitätspolitischen Konsequenzen einer politischen Gewichtung darzustellen, die von der ökonomischen Bedeutung des Landes abweicht. Dazu ist der erwartete Verlust für die Währungsunion jeweils für den Fall zu bestimmen, dass die Mitglieder des Zentralbankrats entweder auf die Outputentwicklung in der Union oder auf die Outputentwicklung in ihrer Region achten. Um dies zu bestimmen, ist zunächst der erwartete Verlust aus (11) zu ermitteln. Für ihn gilt: (15)

E{V) = e\U[w,{Y

, - γ ^ - ν ^ γ

+

Einsetzen der Lwcas-Angebotsfunktionen (2) und (3) und von E(gp) = 0 führt nach einigen Umformungen zu: (16)

E(V) = i ¿ φ + λ a2)g2p - 2aX[WIei

+ 0 " M>l)eii\gP



[w¡e,+{\-Wi)e¡if)

Jetzt lässt sich die erwartete Wohlfahrtsdifferenz Δ F errechnen, die sich aus einer fehlerhaften politischen Gewichtung im Zentralbankrat ergibt. Man erhält diese, indem man den erwarteten Verlust für g-p jy und gp L bildet und beide Werte voneinander abzieht. Sie ermittelt sich als: ΔV = E \ v ( g p y ) ^ - E ^ V ( g p u n d nach einigen Berechnungen mit: (17)

( x i - w i ) 2 σ / ~ 2 ρ i j i ^ c j u j j +o)i 2 1+λ 2

AV = -—

wobei ρm den Korrelationskoeffizienten als Maß für den relativen Zusammenhang zwischen beiden Angebotsschocks bezeichnet; es gilt -1 < p m < 1.

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten EU

241

Sofern die Vertreter im Zentralbankrat damit divergierende Präferenzen aufweisen und sich lediglich für die Outputentwicklung im eigenen Land, nicht aber auch fur die Outputentwicklung im Nachbarland und damit in der Union interessieren, ergibt sich im Vergleich zum Referenzfall, in dem alle Entscheidungsträger eine unionsweite Perspektive einnehmen, nur dann kein zusätzlicher erwarteter Verlust (ΔΚ = 0), sofern -

σ

2 =σ

un¿

ρ¡ ^

=

\ sind, also alle Angebotsschocks gleich groß und symmet-

risch sind; oder -

Xj = Wj (und somit x¡¡ = w//)ist und somit in beiden Ländern die politischen Gewichte mit den ökonomischen Gewichten übereinstimmen.

Im ersten Fall spielt die Stimmengewichtung der Entscheidungsträger keine Rolle, weil die Outputentwicklung in beiden Ländern parallel verläuft, so dass beide Mitglieder im Zentralbankrat gleich entscheiden. Im zweiten Fall verläuft die Outputentwicklung zwar nicht parallel, jedoch wählen die Mitglieder des Zentralbankrats genau jenes Geldmengenwachstum, das sie auch bei Einnahme einer unionsweiten Perspektive anstreben würden. In allen anderen Fällen jedoch erbringt die Besetzung des Zentralbankrats mit Ländervertretern aus Sicht der Gemeinschaft einen Verlust (AV < 0). Dieser wiegt umso schwerer, je unterschiedlicher die Varianzen der einzelnen Schocks sind oder je weniger die Schocks miteinander korrelieren. Sind die Schocks beispielsweise perfekt negativ korreliert, d. h. heben sie sich im unionsweiten Mittel auf, so reagiert eine dezentrale Zentralbank mit ζ. B. starkem Gewicht des Landes / stark auf einen dort auftretenden Schock (mit entsprechend kontraproduktiver Wirkung in Land II), während es unionsweit gesehen angebracht wäre, nicht oder nur wenig einzugreifen. Damit wird eine aus Sicht der Union effiziente Geldpolitik nur sichergestellt, wenn das politische Gewicht eines jeden einzelnen geldpolitischen Entscheidungsträgers mit der ökonomischen Bedeutung seines Landes in der EWU übereinstimmt. Diese Kongruenz von politischer und wirtschaftlicher Bedeutung muss durch geeignete Entscheidungsregeln herbeigeführt werden. Eine Alternative zur Stimmengewichtung wäre es jedoch, die geldpolitischen Entscheidungen von vornherein einem Gremium zu übertragen, dessen Mitglieder ausschließlich eine unionsweite Perspektive einnehmen und die makroökonomische Entwicklung in der gesamten Währungsunion ihren Entscheidungen zugrunde legen. Solch ein Gremium fuhrt auch ohne Stimmengewichtung die aus Sicht der Union optimale Geldpolitik gemäß Gleichung (14) herbei. In der Literatur wird diese Präferenzstruktur häufig für jene Mitglieder des Zentralbankrats unterstellt, die in einem zentralisierten Auswahlverfahren bestimmt und auf Unionsebene bestellt werden ( Von Hagen und Süppel 1994, S. 772; Berger 2002, S. 27; Hefeker 2003). Sie sollen nachfolgend als Direktoren bezeichnet und begrifflich von den NZB-Präsidenten abgegrenzt werden, für die eine länderspezifische Präferenzstruktur unterstellt wird. Somit sind aus Sicht der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Währungsunion ein ausschließlich mit Direktoren besetzter und ein ausschließlich mit NZB-Präsidenten bestehender Zentralbankrat (oder eine Mischung aus beiden) gleichwertig, sofern die

242

Uwe Vollmer

politischen Gewichte der NZB-Präsidenten mit der ökonomischen Bedeutung der von ihnen repräsentierten Länder übereinstimmen. Tatsächlich sind sowohl das amerikanische Federal Open Market Committee als auch der EZB-Rat (wie schon früher der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank) durch ein Zusammenwirken von auf Unionsebene bestellten und von den Regionen entsandten Entscheidungsträgern gekennzeichnet, und es stellt sich die Frage, ob es - auch für den Fall, dass die NZB-Präsidenten korrekt gewichtet sind - Argumente gibt, die für eine Dominanz von Direktoren oder von NZBPräsidenten im Zentralbankrat sprechen. 4. Zusammensetzung des EZB-Rats: Direktoren versus Präsidenten der Nationalen Zentralbanken Um diese Frage zu beantworten, ist der bisherige Modellrahmen zu erweitern, und es ist zu berücksichtigen, dass sowohl Direktoren als auch NZB-Präsidenten in ihren Zielfunktionen ein über dem natürlichen Niveau liegendes Outputziel verfolgen, so dass ein positiver Inflationsbias besteht, der von der Höhe des Outputziels abhängt (Von Hagen und Siippel 1994, S. 558 f., die allerdings ein Beschäftigungsziel anstatt eines Outputziels unterstellen). Beispielsweise gelten für die beiden Ländervertreter im Zentralbankrat in Abweichung zu (1) und (2) die beiden folgenden Zielfunktionen: = i x ( Y / - Y l - k l ) 2 + ^g2p

(18)

Vl

(19)

Vu = \HY

II-Y",!-k li?+

sowie \sp>

so dass der Vertreter von Land I ein Outputziel in Höhe von Y" + k¡ und der Vertreter von Land Π ein Outputziel in Höhe von Y"¡ + kn anstrebt. Einsetzen von (18) und (19) in (3) ergibt: (20)

V = w¡

>*(Yl-Ynrkìf

\g2p + 0 - W / ) Χγ-(Υ U-Yïrk,if

+

+

\g2p

woraus sich durch Einsetzen der Lucas-Angebotsfunktionen (4) und (5) und des geldpolitischen Instruments (6) und Berechnen der Optimalitätsbedingung die Reaktionsfunktion der Notenbank ergibt: (21)

λ

g M =

2

^ — E ( g

1 + λα

p

)

Xa

+

- — -j[wi(ki

1 + λα

+ ei) + wii (k // + e//)] •

Sofern die Wirtschaftssubjekte rationale Erwartungen bilden, folgt aus (21) wegen E(e/) = E(e//) = 0 für die optimale Politik: (22)

8M,L = SpL

=

^a'\-wIkl

+

wiikn]

+ -—-—Aw¡e¡

1 -L ^

+ w//e//]·

Institutionelle Struktur des Eurosystems in einer erweiterten

EU

243

Im Unterschied zu (10) weist die Union jetzt einen Inflationsbias auf, der umso größer ist, je größer die gewichtete Summe der Konstanten k¡ und k¡¡ ist, um die die nationalen Outputziele über dem natürlichen Output liegen. Dieses Ergebnis sei verglichen mit einer Situation, in der ein aus Direktoren bestehender Zentralbankrat über die Geldpolitik entscheidet und folgende Verlustfunktion minimiert: (23)

[ w / ( y / - y J - * ) + w / / ( y / / - r y / - * ) f + X-g\ •

v =h

Die Direktoren wollen den Output in beiden Ländern zusammen um k erhöhen. In diesem Fall gilt für die optimale Geldpolitik im Gleichgewicht:

(24)

8μ,υ

=

'

8p,u

'

=

^ak

+

wiei

7~T~2 ( 1 + Ka

+

w

¡ie¡¡)'

so dass der Inflationsbias in der Volkswirtschaft geringer ausfällt, sofern k f Geschäftsführung

\t

wählt

Trustee

Bereiche Kommunikation, Werbung, Förderer

Presse, Medienarbeit, Förderservice, G r e e n - G r u p p e n - B e t r e u u n g , Greenteams, T e a m 50 plus, S p e n d e n g e w i n n u n g , Mailings

Kampagnen, Themen Atom, Energie, Öl, Klima, Meere, Wale, Wälder, Artenvielfalt, Landwirtschaft, Gentechnologie, C h e m i e , Aktion

Verwaltung Finanzen, Recht, EDV, Buchführung, Personal

unterstützen 80 Greenpeace-Gruppen Ca. 1.800 ehrenamtliche Mitglieder m a c h e n Aufklärungsarbeit vor Ort und unterstützen K a m p a g n e n auf nationaler Ebene

Greenpeace Deutschland mit Sitz in Hamburg zählt mit 520.000 Fördermitgliedern, mehr als 1.800 ehrenamtlichen Aktivisten in 80 lokalen Gruppen und 150 festen Mitarbeitern zu den größten und reichsten Greenpeace-Töchtern (Übersicht 2). Greenpeace Deutschland verfügt über ein Budget von jährlich rund 39 Mio. € und finanziellen Rücklagen in Höhe von 37 Mio. €, die immer wieder auch dem Finanzamt Kopfschmerzen bereiten (Greenpeace e. V. 2004). Die Ausgabenstruktur entspricht weitgehend der Ausgabenstruktur von Greenpeace-International. Aufgrund ihres Reichtums ist der Einfluss der deutschen Organisation erheblich. Sie wird von einem hauptamtlichen Geschäftsführer geleitet, der von einem ehrenamtlichen Aufsichtsrat bestellt wird. Oberstes Beschlussgremium von Greenpeace Deutschland ist ein Gremium aus 38 stimmberechtigten Mitgliedern der Organisation. 2. Reputation und Einflussnahme von Greenpeace Worldwide Als gewaltfreier Sachwalter ökologischer Interessen besitzt Greenpeace weltweit eine hohe Reputation. Sie wird als .ökologisches Gewissen' der Welt angesehen, das die vermeintlichen Verursacher von Umweltproblemen an den Pranger stellt, umweltpolitische Maßnahmen initiiert und unerbittlich über die Einhaltung der Regeln zum Schutze der Umwelt wacht. In nahezu allen Umfragen wird der Organisation daher generationenübergreifend eine deutlich höhere Wertschätzung entgegengebracht als anderen Inte-

258

Karl-Hans Hartwig

ressengruppen. In der deutschen Bevölkerung genießt nur der ADAC ein höheres Vertrauen, deutsche Topmanager sind nur von UNICEF noch stärker beeindruckt als von Greenpeace ( Wirtschaftswoche 24/2004). Unter diesen Umständen ist es für die Politik nicht nur schwer, die Empfehlungen, Initiativen sowie vor allem die Kampagnen und Aktionen von Greenpeace zu ignorieren, sondern verschiedentlich wird das Auftreten von Greenpeace von Politikern sogar gezielt genutzt, um umweltpolitische Maßnahmen einzufordern und durchzusetzen (Scharnagel 2003). Das bedeutet nicht, dass die Einflussnahme der Organisation auf den politischen Entscheidungsprozess durchweg gegeben ist. In vielen Fällen ist gerade das internationale Gewicht von Greenpeace begrenzt, wie seine Kritik an der ,Verwässerung' des Kyoto-Protokolls durch die Möglichkeit gemeinsamer Klimaschutz-Projekte (Art. 6 des Protokolls), zum Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Art. 12 des Protokolls), zu den CCh-Senken oder zum Emissionshandel zwischen den Annex-B-Ländem (Art. 17 des Protokolls) zeigen (Greenpeace e.V. 2001), oder die Zulassung von genetisch manipulierten Lebensmitteln. Auch ist anzunehmen, dass der Einfluss von Greenpeace in so genannten ,harten Politikfeldern' wie der internationalen Wirtschaftsordnung, Rüstungsfragen oder der Terrorismusbekämpfung mit Sicherheit geringer wäre als in ökologischen Fragen. In diesem Zusammenhang weisen verschiedene Untersuchungen darauf hin, dass erfolgreiche internationale Politikeinflussnahme letztlich übereinstimmende Vorstellungen über die wirtschaftlichen und politischen Funktionszusammenhänge voraussetzen (Frenkel, Goldstein und Masson 1988). Gleichwohl lassen sich erkennbare Erfolge in der umweltpolitischen Einflussnahme identifizieren (u. a. Reiss 1989; Spiro 1995; Take 2000; Scharnagel 2003). Das gilt etwa - bei der Vereinbarung des Fangverbots von Walen durch die internationale Walfangkommission, - bei der Verhinderung der Tötung von Robbenbabys, - beim Stopp von oberirdischen Atomtests durch die französische Regierung, - beim Atomteststopp-Vertrag der Vereinten Nationen, - beim Umweltschutzprotokoll über das Verbot des Abbaus von Rohstoffen in der Antarktis, - bei der internationalen Vereinbarung über das Verbot von Giftmülltransporten aus Industrieländern nach Osteuropa und in die Entwicklungsländer, - bei der Verhinderung der kommerziellen Verwertung menschlicher Embryonen im Jahre 2002, - beim Verbot der Dünnsäureverklappung in der Nordsee, - bei der Entwicklung des FCKW-freien Kühlschranks durch die Firma Bosch, der im Auftrag von Greenpeace gebaut wurde, - beim Aufdecken von Verstößen gegen internationale Vereinbarungen zum Schutz der Umwelt, - bei der Vermittlung zwischen den Teilnehmerstaaten des Kyoto-Protokolls.

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

259

Bei all diesen Maßnahmen fungierte Greenpeace als Impulsgeber, Initiator oder kritischer Begleiter von internationalen Verhandlungen. Neben ihren weltweit bekannten Kampagnen und Aktionen setzt die Organisation dabei auch auf die wissenschaftliche Fundierung ihrer Forderungen durch externe Experten. Sie besitzt konsultativen Status bei den Vereinten Nationen und nimmt regelmäßig an den UN-Umweltgipfeln und an Tagungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds teil. Darüber hinaus wird sie von internationalen Konzernen bei ökologischen Fragen der Konzernentwicklung zu Rate gezogen. 3. Externe und strukturelle Erfolgsbedingungen von Greenpeace Ihre hohe Reputation und ihre Fähigkeit zur umweltpolitischen Einflussnahme auf nationaler und internationaler Ebene verdankt Greenpeace dem Zusammenwirken einer Reihe von externen und internen Faktoren, die in den Merkmalen und der Struktur der Organisation sowie ihren konkreten Maßnahmen zum Ausdruck kommen. Zentrales Merkmal von Greenpeace ist die private Bereitstellung bzw. die private Mitwirkung an der Bereitstellung des Kollektivgutes Umweltschutz für gegenwärtige und zukünftige Generationen. Aus ökonomischer Sicht ist das zunächst ein Anachronismus, fuhrt doch das Versagen des Exklusionsprinzips bei Kollektivgütern zu Trittbrettfahrerverhalten, weshalb eigentlich kein privater Anbieter bereit ist, freiwillig die Bereitstellungskosten zu übernehmen. Nun zeigen zwar nahezu alle Freifahrerexperimente, dass striktes Freifahrerverhalten sich in der Realität nicht beobachten lässt, sondern in allen Testgruppen neben starken Freifahrern auch schwache Freifahrer und sogar Kooperationswillige zu finden sind. Damit ließe sich dann auch die Bereitschaft für ein privates Angebot an Umweltschutz begründen. Insgesamt ist diese Bereitschaft, sich an der Erstellung von Kollektivgütem zu beteiligen, jedoch selbst innerhalb der Testgruppen zu gering, um eine kollektiv rationale Bereitstellungsmenge zu induzieren ( Weimann 1995; Ledyard 1995). Zudem ist zu vermuten, dass das Einnehmen von Trittbrettfahrerpositionen mit steigender Gruppengröße, wie sie für die meisten Umweltgüter typisch ist, zunimmt, weshalb denn auch nahezu gebetsmühlenhaft in jedem Lehrtext zur Wirtschaftspolitik dem Staat die Bereitstellungsaufgabe von Kollektivgütern, wie etwa dem Schutz der Umwelt, zugewiesen wird. Er hat das ,Marktversagen' zu heilen oder zumindest zu lindern (stellvertretend: Berg, Cassel und Hartwig 2003, S. 199 ff.). Wenn aus diesem Blickwinkel trotzdem private Organisationen Kollektivgüter freiwillig anbieten, kann dies - analog zum Marktversagen - in konsequenter Weise eigentlich nur mit einem Staatsversagen erklärt werden. D. h. der aus Gründen der allokativen Effizienz eigentlich fur die Bereitstellung verantwortliche Staat ist offensichtlich nicht in der Lage, die gewünschte Menge und Qualität an Kollektivgütern bereitzustellen. Auch dafür liefert allerdings bereits die traditionelle Ökonomie eine Erklärung. Sie verweist seit langem auf die mangelnde Problemlösungskompetenz eines eigentlich wohlwollenden Staates, der überfordert ist, weil ihm zum einen schlicht und ergreifend die Informationen über die relevanten Kosten- und Nutzenkategorien ebenso fehlen, wie die erforderlichen Informationsverarbeitungskapazitäten und weil zum anderen die geographische Ausdehnung des regelungsbedürftigen Problems - etwa bei globalen Kollek-

Karl-Hans Hartwig

260

tivgütern - die Grenzen seines Kompetenzbereichs übersteigen, er also nicht über die geeigneten Mittel verfügt oder staatliches Handeln sogar völlig unterbleibt. Seit dem Aufkommen der Neuen Politischen Ökonomie ist darüber hinaus bekannt, dass auch Eigeninteressen der politischen Akteure - Politiker, Bürokraten, Interessengruppen bei mangelnder Kontrollmöglichkeit durch die Wähler oder auch Formen und Probleme der kollektiven Willensbildung - Mehrheitswahlrecht, repräsentative Demokratie, zyklische Mehrheiten - eine optimale Bereitstellung von Kollektivgütern verhindern können (iWeisbrod 1977; Blankart

2001).

Genau bei Umweltgütern, also jenen Gütern, für deren Bereitstellung sich Greenpeace und seine Mitglieder einsetzen, lassen sich nahezu alle Varianten eines solchen Staatsversagens identifizieren: - Der Staat kennt weder die Dimension von Umweltproblemen, noch die Präferenzen der Bürger oder die Kosten der Problembeseitigung. Eine Verpflichtung der Bürger zur Übernahme der Finanzierung des Angebots an Umweltgütem entsprechend ihrer marginalen Zahlungsbereitschaft, die eine optimale Bereitstellung erst ermöglicht, ist daher ausgeschlossen. - Bei bedeutenden Umweltgütern - wie etwa der Ozonschicht und dem Klimawandel oder den Fischbeständen in den Weltmeeren und grenzüberschreitenden Gewässern handelt es sich um globale oder zumindest um internationale Kollektivgüter bzw. Allmendegüter, d. h. Gemeinschaftsressourcen mit Quasikollektivguteigenschaften. Sie begünstigen nicht nur nationales Freifahrerverhalten, sondern ihre Bereitstellung erfordert global koordinierte kollektive Entscheidungen und Regeln. Die Entscheidungsfindung basiert aufgrund nationaler Souveränität jedoch auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Darüber hinaus weisen solche Entscheidungen wiederum selbst Kollektivguteigenschaften auf, und es ist bei ihrer Implementierung mit nachvertraglichem Opportunismus zu rechnen, weil häufig hohe Überwachungskosten bestehen und offensichtliche Vertragsverstöße nur schwer zu sanktionieren sind. - Vor allem globale Umweltgüter spielen für Politiker, die an ihrer Wahl bzw. Wiederwahl interessiert sind, daher allenfalls eine untergeordnete Rolle. Zum einen sind globale Umweltprobleme für viele Wähler nicht oder nur gering spürbar. Andererseits können mit der Bereitstellung von globalen Umweltgütern für den Einzelnen spürbare Kosten verbunden sein, die gegenüber gegenwärtig nur schwer einzuschätzenden zukünftigen Nutzenwirkungen sofort wirksam und daher höher veranschlagt werden. - Da die Wähler unterschiedliche Präferenzen für Umweltgüter besitzen und ihre Nachteile aus Umweltschädigungen unterschiedlich bewerten, führt bereits das transaktionskostensparende Mehrheitswahlrecht in Demokratien generell dazu, dass ein Teil der Bürgerwünsche unberücksichtigt bleibt. Verstärkt wird dieses Problem dadurch, dass die auf Stimmenmaximierung bzw. Wiederwahl bedachten politischen Akteure ihre Entscheidungen am Medianwähler ausrichten, womit die Präferenzen und die Präferenzintensitäten großer Teile der Bürger unberücksichtigt bleiben. All dies kann für einen Teil der Bürger zu einer Unterversorgung mit Umweltgütern bzw. entsprechenden Schutzmaßnahmen führen, so dass bei hinreichend großer Unzufriedenheit mit einer Suche nach alternativen Bereitstellungsmöglichkeiten zu rechnen

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

261

ist. Formal bieten sich zwar hier zunächst erwerbswirtschaftlich orientierte private Unternehmen an. Sie könnten gegen Entgelt jene direkten Umweltschutzmaßnahmen oder jene umweltpolitische Einflussnahme produzieren, die ihre umweltinteressierten Kunden gemäß ihrer marginalen Zahlungsbereitschaft nachfragen, wobei die erwerbswirtschaftliche Ausrichtung zudem eine höhere Flexibilität, größere Kundenorientierung und geringere X-Ineffizienzen bei der Bereitstellung erwarten lassen, als dies bei staatlichen Organisationen üblich ist. Das mit erwerbswirtschaftlicher Ausrichtung verbundene Gewinnziel führt jedoch gerade bei internationalen Aktivitäten zur Sicherung und Verbesserung der Umwelt für die Nachfrager zu erheblichen Risiken. Solche Leistungen besitzen nämlich die Eigenschaften von Vertrauensgütern, d. h. ihr Umfang und vor allem ihre Qualität lassen sich von den Nachfragern ebenso wenig endgültig und exakt einschätzen, wie die Effizienz des Ressourceneinsatzes. Die Auftraggeber müssen daher den wesentlich besser informierten Produzenten vertrauen, ein Vertrauen, das dadurch beeinträchtigt wird, dass gewinnorientierte Anbieter die bestehende Informationsasymmetrie opportunistisch für ihre Eigeninteressen ausnutzen und die schlechter informierten Nachfrager ausbeuten können. Rational agierende Nachfrager werden unter diesen Bedingungen auf entsprechende Geschäftsbeziehungen verzichten, so dass nutzenstiftende Transaktionen, für die sich eigentlich erwerbswirtschaftlich orientierte Anbieter finden würden, aus Informationsmängeln nicht zustande kommen - ein Marktversagen, das auch für andere Bereiche gilt (Easley und O'Hara 1983; Hansmann 1987). Genau die Lücke zwischen Staat und Erwerbswirtschaft Rillt nun Greenpeace mit ihren spezifischen Organisationsmerkmalen aus. Als global ausgerichteter Non-ProfitKonzern, der sich gemäß seinen Statuten ökologische Sachziele vorgibt, den Mitgliedern die Möglichkeit zu freiwilliger Mitwirkung bietet und unabhängig und gewaltfrei agiert, signalisiert Greenpeace ein hohes Maß an Vertrauenswürdigkeit bei der Bereitstellung des Kollektivgutes Umweltschutz, das weder der Staat noch erwerbswirtschaftlich handelnde Unternehmen in der gewünschten Menge und Qualität anbieten. 1 Der Verzicht auf Gewinnmaximierung impliziert, dass auftretende Finanzierungsüberschüsse nicht ausgeschüttet, sondern für die Erfüllung der Sachziele verwendet werden und die Qualität der Dienstleistung nicht Kostenkalkülen zum Opfer fällt. Das eigentlich .weiche' Organisationsziel „Sicherung und Erhaltung einer ökologischen und menschenwürdigen Zukunft" wird dabei durch Teilziele konkretisiert, die Auftraggeber und potenzielle Kunden leicht identifizieren und dem Organisationszweck zuordnen können: „rettet die Wale", „verhindert Atomtest", „schützt Robbenbabys", „deckt Umweltverstöße von Unternehmen und Regierungen a u f , „fordert den FCKW-freien Kühlschrank", „unterstützt die Entwicklung des 3-Liter Autos". Die Zielerreichung wird mit konkreten Aktionen verfolgt und meist medienwirksam inszeniert, so dass die Auftraggeber die Aktivitäten von Greenpeace relativ leicht nachvollziehen können und auf diese Weise Informationsasymmetrien abgebaut werden. Mit vielen Aktionen wird den Fördermitgliedern zudem ein zumindest grober Indikator für Maßnahmenerfolge gelie-

Zwar produziert Greenpeace mit T-Shirts, Stofftieren, Kalendern und Lizenzen auch private Güter, die nur jenen Nutzern zugute kommen, die mit der Organisation in ein reziprokes Austauschverhältnis treten. Gemessen am Gesamtbudget machen diese Verkäufe aber nur einen Anteil von knapp 5 % aus und sind daher vernachlässigbar; Greenpeace International (2003).

262

Karl-Hans Hartwig

fert: die Spektakularität. Bei den Mitgliedern von Greenpeace und vielen ihrer Sympathisanten besteht nämlich die Auffassung, dass nur ausgesprochen spektakuläre, wenn nötig für die Teilnehmer auch gefährliche Aktionen, jene Aufmerksamkeit und Resonanz in Öffentlichkeit und Politik bringen, die erforderlich sind, um die Sachziele zu erreichen. Und genau dies bietet Greenpeace durch ihre Dienstleistungen. Die vertrauensbildenden Wirkungen von Freiwilligkeit der Mitarbeit und Unabhängigkeit - einem weiteren Organisationsmerkmal von Greenpeace - bestehen darin, dass Freiwilligkeit zum einen die Abwesenheit von staatlichem Zwang signalisiert, es sich bei Greenpeace somit also weder um einen öffentlichen noch um einen privatwirtschaftlichen Zwangsverband mit Non-Profit-Charakter handelt, der ja als staatlich veranlasste Einrichtung genau mit jenen Problemen konfrontiert sein könnte, die verantwortlich sind für das Staatsversagen bei der Bereitstellung von Umweltschutz. Freiwilligkeit kann darüber hinaus auch als Signal dafür interpretiert werden, dass die Mitarbeit in der Organisation zu erheblichen Teilen ehrenamtlich und unbezahlt erfolgt und daher frei von materiellen persönlichen Interessen ist. Unabhängigkeit als Organisationsmerkmal schließlich bedeutet formal die Abwesenheit von externen Weisungen, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Führung und Kontrolle von den Gründern und Mitgliedern bzw. von einem durch sie autorisierten Vorstand mit Management ausgeübt wird. Materiell bedeutet es die Abwesenheit von finanzieller Abhängigkeit von externen Geldgebern und damit eine Ausrichtung an externen Interessen, die nicht mit den eigentlichen Sachzielen der Organisation übereinstimmen. Greenpeace dokumentiert ihre Unabhängigkeit durch den Verzicht auf Spenden von Parteien, Staat und Industrie. Mit vergleichbaren Organisationsmerkmalen arbeiten auch andere Einrichtungen, die auf privater Basis Kollektivgüter anbieten. Wie Greenpeace profitieren z. B. auch Amnesty International oder Transparency International vom Versagen des Staates bei der Bereitstellung von Gütern, für die das Exklusionsprinzip versagt und Nichtrivalität im Konsum vorliegt, und ebenso wie Greenpeace signalisieren auch sie mit ihrem Verzicht auf Gewinnorientierung, ihrer Ausrichtung auf Sachziele sowie ihrer Unabhängigkeit und Freiwilligkeit jene Reputation, die dem erwerbswirtschaftlichen Sektor offensichtlich fehlt (Überblick bei Rose-Ackermann 1996). Als Non-Profit-Organisationen zählen sie daher zum so genannten ,Dritten Sektor', und dort wiederum als Kollektivgutproduzenten zur Gruppe der nationalen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO/INGO). 2 Sie entsprechen damit einer Abgrenzung der Vereinten Nationen, die den Begriff der Nongovernmental Organization schon 1945 in Artikel 71 ihrer Charta eingeführt haben, um Organisationen zu kennzeichnen, die über einen konsultativen Status verfügen, aber keine Regierungsbindung aufweisen. Eine Präzisierung durch die Vereinten Nationen erfolgte jedoch lange Zeit nicht, so dass der Begriff der Nichtregie2

Von diesen NGOs bzw. INGOs deutlich unterschieden werden Zwangsverbände, Organisationen, die ihre Leistung ausschließlich ihren Mitgliedern als private Güter zur Verfugung stellen, öffentlich-rechtliche Einrichtungen oder Stiftungen. Das Gleiche gilt in einer strengen Abgrenzung auch für so genannte BiNGOs (Business Inspired Nongovernmental Organizations) und GINGOs (Governmental Inspired Nongovernmental Organizations), bei denen man starke Abhängigkeiten vom jeweiligen Initiator vermutet; Meyer (1995).

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

263

rungsorganisation zwischenzeitlich zu einem regelrechten Modewort verkam, sondern wurde erst in jüngerer Zeit vorgenommen: „A non-governmental organization (NGO) is a non-profit, voluntary citizens' group which is organized on local, national or international level. Task-oriented and driven by people with a common interest" {UNDPI o. J.; Ball und Dunn 1995).

Inwieweit die Entscheidung zur Gründung von NGOs, der aktiven Mitarbeit oder auch nur der bloßen finanziellen Unterstützung darauf beruht, dass die betreffenden Akteure sich durch .gegenseitig desinteressierte Vemünftigkeit' im Sinne von Rawls (1971, S. 13 f.) auszeichnen, sie also ihr Eigeninteresse an Kollektivgütern ohne Berücksichtigung der Belange Dritter verfolgen, oder ob sie im Sinne Beckers (1974) altruistisch handeln und damit heterogene Präferenzordnungen besitzen, so dass ihre persönlichen Nutzenfunktionen auch das Wohlergehen Dritter als Argument enthalten, ist letztlich unerheblich. In beiden Fällen dient das Engagement der individuellen Nutzenmaximierung der Nachfrager und beruht ihre Entscheidung somit auf individuellen Kosten-Nutzen-Kalkülen. Danach wird jene institutionelle Alternative gewählt, die den höchsten Zielerreichungsgrad verspricht. Greenpeace als INGO (International Nongovernmental Organization) mit ENGO-Ausrichtung (Environmental Nongovernmental Organization) gilt als eine solche Alternative beim Bemühen, weltweit für eine intakte Umwelt für gegenwärtige und zukünftige Generationen zu sorgen. 4. Interne Erfolgsfaktoren Neben externen und strukturellen Bedingungen sind auch eine Vielzahl von internen Faktoren für die Reputation und den Erfolg von Greenpeace als umweltpolitischer Einflussträger verantwortlich. Dazu gehört zunächst eine Konzernstruktur, die von außen zwar nur schwer zu durchschauen ist, weil zur Organisation mittlerweile auch eine Vielzahl von ausgegründeten Betrieben gehören, die sich aber grundsätzlich durch einen straffen hierarchischen Aufbau der Zentrale und der nationalen Büros in Kombination mit einem Franchisesystem auszuzeichnen scheint, bei dem die nationalen Büros als Franchisenehmer auftreten. Damit die nationalen Büros nämlich unter dem gemeinsamen Label .Greenpeace' agieren dürfen, haben sie sich nicht nur vertraglich einer einheitlichen .Geschäftsphilosophie' zu unterwerfen, die von der Zentralen vorgegeben und hinsichtlich ihrer Einhaltung überwacht wird, sondern sie müssen im Rahmen eines Lizenzvertrages auch Lizenzgebühren in Form von Abfuhrungen aus ihren Mitgliedsbeiträgen leisten und ihre Aktionen von der Zentrale genehmigen lassen (u. a. Reiss 1989, insbesondere S. 67 ff.). Auf diese Weise entsteht eine ,Brand Identity', die weltweit als Marke kommuniziert wird, und unter der identisch organisierte und intern hierarchisch strukturierte nationale Büros weitgehend unabhängig Initiativen für das operative Geschäft entwickeln, eine Governancestruktur, die anderen Organisationsformen überlegen ist, wenn lokale Kenntnisse und hohe Flexibilität vor Ort gefordert sind (Theurl 2001). Aufgrund der Vielzahl von lokalen Umweltverstößen und des äußerst unterschiedlichen institutionellen Umfelds in den einzelnen Ländern ist genau dies erforderlich. Greenpeace versteht sich dementsprechend auch ausdrücklich nicht als Bürgerinitiative, sondern als straff geführte Einrichtung mit Expertenwissen auf allen Ebenen.

264

Karl-Hans Hartwig

Auf Expertenwissen, das neben ökologischer, juristischer, kaufmännischer und finanztechnischer Expertise auch die Kenntnis erfolgreicher Marketingstrategien umfasst, beruhen dann auch die konkreten Maßnahmen, ein weiterer interner Erfolgsfaktor von Greenpeace. Je nach Problemlage gehören dazu Kampagnen, spektakuläre Aktionen, Unterschriftensammlungen, Broschüren, Tagungen und Ausstellungen, wissenschaftliche Gutachten, die Mitarbeit in Kommissionen, Lobbying und die Zusammenarbeit mit Unternehmen (Take 2002, S. 367 f f ) . Wichtig ist bei allem die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit durch eine möglichst starke Medienpräsenz nach dem Prinzip „Die Welt zu Zeugen machen", weil man sich vor allem hiervon einen hohen Wiedererkennungswert in der Weltöffentlichkeit und den notwendigen Druck auf Politik und Wirtschaft verspricht. Um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen, wird aus marketingstrategischer Sicht durchaus auch bewusst auf emotionale Themen gesetzt: Wale als Kosmopoliten, Robben als Sympathieträger, Atomwaffentests als globale Bedrohung und die Antarktis als Symbol für die Plünderung des Planeten. Hiermit - so der ehemalige Chef von Greenpeace-International David Mc Taggart - sind die Menschen leichter zu mobilisieren als mit Luftverschmutzung oder der Erwärmung der Weltmeere. Gleichzeitig werden Aktionen so inszeniert, dass sie zugleich Botschaften vermitteln. Der einsame Greenpeace-Aktivist im Schlauchboot auf Konfrontationskurs mit einem riesigen Walfangschiff, ein einsamer Kletterer am riesigen Schornstein eines multinationalen Konzerns, vier mutige Aktivisten nach dem Verteilen von Informationsbroschüren in Sibirien verfolgt von der Flotte der Roten Armee, all das signalisiert nicht nur Gewaltlosigkeit, sondern auch den hehren Kampf des Guten gegen das mächtige Böse. Entscheidend für den Erfolg von Greenpeace und ein weiteres Kennzeichen für die hohe Professionalität der Organisation ist schließlich auch die Planung der Kampagnen. Hierbei handelt es sich nie um spontane Aktionen, wird nichts dem Zufall überlassen. Dahinter steckt vielmehr eine meist monatelange Vorbereitung, bei der theoretische Grundlagen erarbeitet, Projektkoordinatoren bestimmt, alle Möglichkeiten des Protest auf ihre Wirksamkeit hin überprüft, das Risiko kalkuliert, die rechtlichen Rahmenbedingungen abgeklärt und einzelne Aktionen häufig mehrfach geprobt werden. Ein prominentes Beispiel für diese Vorgehensweise ist der Fall „Brent Spar" (Überblick bei Abendschein und Seeber 1997). Hierbei ging es Greenpeace darum, das Entsorgen der gleichnamigen Ölplattform der Firma Royal Dutch/Shell in der Nordsee zu verhindern, weil man dadurch - im Gegensatz zu einer Landentsorgung - erhebliche Umweltbelastungen befürchtete. Die Aktion begann am 30. April 1995 mit einer medienwirksamen symbolischen Besetzung der Ölplattform durch wenige GreenpeaceAktivisten mit Schlauchbooten, um einen Versenkungsverzicht zu fordern. Da Shell sich weigerte, erfolgte am 16. Juni eine weitere Besetzung, diesmal per Hubschrauber. Gleichzeitig erging ein Aufruf an deutsche Autofahrer zum Boykott von Shell-Tankstellen. Als Resultat gingen die täglichen Umsätze von Shell in Deutschland ab Mitte Juni um 20 bis 30 % zurück. Nachdem darüber hinaus mehr als 200 Shell-Tankstellen in Deutschland bedroht und auf drei von ihnen Brandanschläge verübt wurden, lenkte der Konzern ein. Mit der offiziellen Begründung: „Einsicht in ökologische Notwendigkeiten" wurde die Plattform im Juli nach Norwegen geschleppt und dort an Land entsorgt.

Greenpeace als Einßussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

265

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, warum diese Aktion ausgesprochen effizient organisiert und daher letztlich zielfiihrend war (u. a. Mohr und Schneidewind 1996). - Erstens war die symbolische Besetzung der riesigen Plattform durch wenige Greenpeace-Aktivisten nicht nur spektakulär, sie signalisierte gleichzeitig den Widerstand gewaltfreier Akteure gegen einen mächtigen Gegner. - Zweitens entsprang der Verzicht, nicht die Britische Regierung unter Druck zu setzen, die ja die Genehmigung für die Entsorgung in der Nordsee bereits erteilt hatte, sondern das Unternehmen Shell, einem wohlüberlegten Kalkül. Da nämlich die Rücknahme der bereits erteilten Genehmigung durch die britische Regierung unter Umständen rechtlich anfechtbar war oder zu hohen Schadensersatzansprüchen fuhren konnte, bestand bei einem Druck auf die Regierung ein höheres Risiko des Scheiterns als bei einem Druck auf den Shell-Konzern. Außerdem sind Unternehmen leichter verwundbar als Regierungen, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. - Drittens sind gerade Tankstellenketten für Boykottaufrufe besonders gut geeignet, weil sie für die Konsumenten leicht zu identifizieren sind, weil Tankstellen nahezu identische und daher für die Konsumenten nahezu kostenlos substituierbare Produkte anbieten, weil der intensive Wettbewerb zwischen den Marken wenig Spielraum für Preisnachlässe des Boykottierten lässt und weil schließlich mit dem Rückgang des Benzinverkaufs auch weniger so genannte Beikäufe durch die Kunden getätigt werden, was wiederum die Tankstellenpächter mobilisiert. - Viertens schließlich konnte man bei einem Boykottaufruf in Großbritannien, Norwegen, den Niederlanden oder Dänemark nur mit geringen Erfolgen rechnen, weil in erheblichen Teilen der Bevölkerung massive wirtschaftliche Interessen am Nordseeöl und dem Unternehmen Royal Dutch/Shell bestanden. Das stand in Deutschland nicht zu befürchten, zumal sich die deutsche Bevölkerung durch eine hohe Umweltsensibilität auszeichnet, die sich schon damals in der ausgesprochen umfangreichen personellen und finanziellen Unterstützung von Greenpeace niederschlug. Die Deutschen reagierten denn auch wie erwartet. Die große öffentliche Resonanz und der Erfolg der Aktion gab der ausgeklügelten Strategie von Greenpeace Recht. Manche sprachen aufgrund der Vorgehensweise und des Erfolges sogar von einer „Ära neuer Subpolitik" {Beck 1995). 5. Glaubwürdigkeitsprobleme und INGOs Versagen Die Brent Spar-Aktion war für Greenpeace eindeutig ein Erfolg und gilt noch heute als Beispiel dafür, wie eine gewaltfreie Organisation von Freiwilligen einen multinationalen Konzern zum Wohle der Umwelt und damit zum Wohle der Menschheit in die Knie zwingt. Mit Brent Spar geriet die Organisation allerdings auch das erste Mal in eine schwere Glaubwürdigkeitskrise, als sich herausstellte, dass sie Fehlinformationen verbreitet hatte und dass durch die Landentsorgung sowohl ökologische als auch enorme pekuniäre Schadensvermeidungskosten entstanden {Mohr und Schneidewind 1996; Abendschein und Seeber 1997). Die Fehlinformationen bezogen sich - neben dem Verschweigen der 50 %igen Beteiligung der Firma Exxon an Brent Spar - vor allem auf

266

Karl-Hans Hartwig

die von Greenpeace angegebenen Ölrückstände in der leer gepumpten Ölplattform, die ja als Ursache flir die ökologischen Schäden der Versenkung angeführt wurden. Sie waren deutlich höher als die tatsächlich vorhandenen Mengen. Dazu stellte sich heraus, dass auch eine Landentsorgung Umweltbelastungen verursachte und die finanziellen Aufwendungen der Landentsorgung mit knapp 46 Mio. Pfund fast viermal so hoch waren wie die Tiefwasserentsorgung, die sich auf knapp 12 Mio. Pfund belaufen sollte. Ob Greenpeace gezielt Fehlinformationen verbreitete oder schlicht einer Fehleinschätzung unterlag, ist nach wie vor umstritten. Die Organisation entschuldigte sich in der Öffentlichkeit, verwies allerdings gleichzeitig darauf, dass nach ihrer Auffassung eine Müllentsorgung im Meer grundsätzlich der falsche Weg sei. Gleichzeitig setzt sie seitdem verstärkt auf die wissenschaftliche Legitimation ihrer Aktionen und belegbare und nachprüfbare Informationen. Gleichwohl hat die Brent Spar-Aktion den Blick verstärkt auf die Frage gerichtet, ob nicht auch NGOs wie Greenpeace mit ihren Aktivitäten zu Wohlfahrtsverlusten durch Fehlallokation beitragen. Neben das Markt- und Staatsversagen träte dann als weitere Versagenskategorie im gesellschaftlich-wohlfahrtsökonomischen Kontext das NGO-Versagen. Treffen die Einschätzungen im Zusammenhang mit der Brent Spar zu, dann hat die Aktion von Greenpeace eindeutig zu einer Wohlfahrtsverringerung gefuhrt, weil unter ihrem Druck die Entsorgungsvariante mit den höheren Schadensvermeidungskosten gewählt wurde. Eine vergleichbare Form der Fehlallokation wird auch für andere Kampagnen behauptet. Kritiker, wie der Mitbegründer von Greenpeace, Patrick Moore, werfen etwa der Organisation vor, durch „Öko-Hysterie und Angstkampagnen" Umweltprobleme zu übertreiben und gleichzeitig mit ihren emotional ausgerichteten und spektakulären Aktionen deutlich dringenderen Umweltschutzaktivitäten die notwendigen Mittel vorzuenthalten. Polemisch formuliert wurde diese Kritik bereits von GreenpeaceMitgliedern in den 1980er Jahren, als sich herausstellte, dass Greenpeace in den USA vor einer Kampagne zum Schutz bedrohter Tierarten eine Marketingagentur damit beauftragt hatte, die Publikumswirksamkeit von Tierarten im Hinblick auf das Spendenaufkommen zu untersuchen: „Seehundbabys werden besprüht und so ihre Felle unbrauchbar gemacht, damit sie die nukleare Katastrophe miterleben dürfen" (nach Reiss 1989, S. 44). Konkrete Nachweise für wohlfahrtsschädliche Fehlallokation durch Greenpeace liegen - abgesehen von einem Versuch, die Kosten und Nutzen der Brent Spar-Aktion zu systematisieren {Mohr und Schneidewind 1996) - bislang nicht vor, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Effizienz von NGOs sich nicht endgültig bestimmen lässt. Das liegt sowohl an der mangelnden Operationalisierbarkeit vieler Sachziele als auch an der Schwierigkeit der Output- und Inputerfassung. Die häufig verwendeten Ersatzindikatoren: Ein- und Austritte, Spendenbereitschaft und ehrenamtliches Engagement, Widerspruch und Wahlverhalten können dies ebenfalls nicht leisten, weil sie nur Anhaltspunkte über die Zufriedenheit der Kunden mit der Organisation liefern, nicht aber über die Auswirkungen des Organisationshandelns auf Dritte. Daher sind sie für die Effizienzmessung von NGOs, deren Sachziel ja in der privaten Bereitstellung von Kollektivgütern besteht, nicht geeignet. So können Sponsoren, Fördermitglieder und Aktivisten von Greenpeace enorme Nutzensteigerungen aus emotional ausgerichteten und

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der

Umweltpolitik

267

spektakulären Aktionen ziehen und dies entsprechend honorieren. Volkswirtschaftlich entscheidend sind jedoch die damit erzeugten Netto-Wohlfahrtseffekte, und die sind negativ, wenn es aufgrund von Informationsasymmetrien zu einer adversen Selektion von ökologischen Projekten kommt und der Gesellschaft Nachteile entstehen, weil sie knappe Ressourcen fur nachrangige ökologische Maßnahmen einsetzt. Neben gesellschaftlichen Wohlfahrtsverlusten können auch die Mitglieder und Kunden von NGOs Einbußen erleiden, wenn die Organisation einzelwirtschaftlich ineffizient arbeitet und Mittel verschwendet oder wenn sich die hauptamtlichen Manager und Mitarbeiter als Agenten persönliche Vorteile zu Lasten ihrer Auftraggeber-Prinzipale, d. h. ihrer Mitglieder, Sponsoren und Aktivisten, verschaffen. Diese Opportunismusgefahr ist prinzipiell auch bei NGOs gegeben, da zwischen den Aufraggebern und ihren Agenten immer Informationsasymmetrien und Krontrolldefizite bestehen werden und zudem bereits die formalen Mitwirkungsmöglichkeiten der Basis an zentralen Entscheidungen recht gering sind, von den faktischen Möglichkeiten ganz zu schweigen. Paradox anmutend, aber ökonomisch erklärbar wirkt sich bei der Verfolgung materieller Interessen des Managements die eigentlich vertrauensfördernde Nichtausschüttungsrestriktion dann sogar kontraproduktiv aus, weil sie die Möglichkeit versteckter Gewinnaneignung etwa durch diverse Annehmlichkeiten erheblich erleichtert ( Wilkens 1999). Vor diesem Hintergrund hat sich eine Vielzahl von theoretischen und empirischen Untersuchungen sowohl mit dem Problem der organisationsinternen X-Ineffienz als auch der .Ausbeutung' der Mitglieder durch das Management von NPOs und NGOs beschäftigt (Überblick bei Holtmann 1988). Die Ergebnisse zeigen zwar überwiegend, dass Non-Profit-Organisationen im Vergleich zu erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmen umfangreichere und teurere Leistungen produzieren, dafür ist aber die Qualität ihres Outputs verschiedentlich höher. Die vermuteten Prinzipal-Agent-Probleme lassen sich empirisch nicht durchgängig bestätigen, scheinen sich aber dort, wo sie auftreten, vorwiegend auf solche Organisationen zu konzentrieren, die im Wesentlichen durch staatliche Zuschüsse und Dotationen aus dem Ausland finanziert werden. So führt die Einrichtung von Sozialfonds der UN und der Weltbank für Länder der Dritten Welt offensichtlich immer wieder zu einer geradezu explosionsartigen Gründungswelle von NGOs durch Staatsbedienstete dieser Länder, deren vorrangiges Ziel in der persönlichen Aneignung der Transfermittel besteht (u. a. Meyer 1995). Für Greenpeace sind Verschwendung und persönliche Vorteilnahme bislang nicht nachzuweisen, obwohl immer mal wieder gerade Mitglieder der Basis der Organisation vorwerfen, es würden gewaltige Beträge fur Personal- und Verwaltungskosten, aber nur relativ wenig für effektiven Umweltschutz ausgegeben. Ebenso gelten die hohen finanziellen Rücklagen etwa von Greenpeace Deutschland für viele als Beleg dafür, dass es der Organisation mehr um Zinseinnahmen als um Umweltschutz geht. Schließlich findet sich gelegentlich Kritik an Vorstandsmitgliedern, sie übten Ämterhäufung aus und würden sich attraktive Posten sichern (Reiss 1989). Ähnlich wie bei den Vorwürfen gegenüber der FIFA, dem Internationalen Olympischen Komitee oder dem Internationalen Roten Kreuz sind überzeugende und d. h. von Dritten nachvollziehbare Belege für diese Behauptungen allerdings nicht erbracht worden. Das schließt Opportunismus und damit verbunden die Ausbeutung der freiwilligen Aktivisten und der geldgebenden Förder-

268

Karl-Hans

Hartwig

mitglieder und Sponsoren natürlich nicht aus, gibt es doch ebenso wenig gesicherte Erkenntnisse darüber, dass die hauptamtlichen Vorstände, Geschäftsführer und Mitarbeiter sich völlig anders verhalten, als vergleichbare Akteure in anderen NGOs. Die Möglichkeit für opportunistisches Verhalten ist zumindest aufgrund der Struktur der Organisation und der unvollständigen Kontroll- und Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben. Gerade diese strukturellen Bedingungen scheinen denn auch - eher als der konkrete Opportunismusverdacht - bei vielen Mitgliedern und Förderern erhebliches Unbehagen zu schaffen. So fühlen viele Mitglieder ihre Belange und Vorstellungen nicht genügend durch die nationalen Büros und den internationalen Vorstand berücksichtigt und kritisieren mangelnde Mitspracherechte und unzureichende Informationen. Bereits Anfang der 1980er Jahre kam es daher nicht nur zu massiven Protesten in den USA, sondern auch zu deutlichen Absetzbewegungen in Deutschland. Mit dem Vorwurf, eigenverantwortliche Arbeit der Basis sei nicht erwünscht, die Mitglieder würden nur zum Geldsammeln missbraucht, der Vorstand handele eigenmächtig und es gehe ihm nur um die Publikumswirksamkeit der Aktionen, nicht aber um drängende Umweltprobleme, verließen viele Mitglieder Greenpeace und gründeten Robin Wood, die „Rächer der Entlaubten". 6. Greenpeace: Ökomulti mit Zukunft? Das Beispiel Greenpeace Worldwide zeigt exemplarisch, dass es internationalen Nichtregierungsorganisationen gelingen kann, erfolgreich und auf privater Basis globale öffentliche Güter anzubieten bzw. sich am Angebot zu beteiligen, die weder erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen noch der eigentlich dafür verantwortliche Staat im gewünschten Umgang und der gewünschten Qualität bereitzustellen in der Lage sind. Der Erfolg bezieht sich dabei zunächst einzelwirtschaftlich auf die Bedürfnisse der Auftraggeber, das sind die aktiven und die fordernden Mitglieder. Wie ihre wachsende Zahl und das steigende Mittelaufkommen von Greenpeace zeigen, scheinen die Auftraggeber aus den Aktivitäten der Organisation individuelle Nutzenstiftungen zu realisieren, die zumindest ihren marginalen pekuniären und nicht-pekuniären Zahlungsbereitschaften entsprechen. Der Erfolg besteht darüber hinaus auch in der hohen Reputation, die Greenpeace bei Außenstehenden in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik genießt, sowie in der - wenn auch begrenzten - Einflussnahme auf die Gestaltung der Umweltpolitik und in der wirksamen Kontrolle und zumindest medialen Sanktion von Regelverstößen. Greenpeace agiert also zugleich als umweltpolitischer Einflussträger und als umweltpolitische Nebenexekutive. Sofern die Aktivitäten der Organisation dann noch zu einer verbesserten Allokation von Umweltgütern beiträgt, besäße der Erfolg von Greenpeace schließlich auch eine wohlfahrtssteigernde und damit gesellschaftliche Dimension. Nun ist gerade Letzteres nicht das zentrale Anliegen der Organisation, geht es ihr doch nahezu ausnahmslos um die ökologische Nutzenkomponente, d. h. den Schutz der Umwelt und die Abwehr und Minderung von Umweltschäden für gegenwärtige und zukünftige Generationen. Schadensvermeidungskosten sind für Greenpeace allenfalls einzelwirtschaftlich im Sinne der eigenen Aktions- und Kampagnekosten relevant. Die gesellschaftlichen Kosten des Umweltschutzes spielen in diesem Kalkül ebenso wenig eine Rolle wie gesellschaftliche Nettonutzen oder Nutzen-Kosten-Relationen. Genau dieser Verzicht auf Wohlfahrtsindikatoren impliziert aber latent die Gefahr von Wohl-

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

269

fahrtsverlusten durch die Aktionen von Greenpeace, eine Gefahr, die noch durch Informationsdefizite sowie mögliche organisationsinteme X-Ineffizienzen und Opportunismusrisiken verstärkt wird. Als Konsequenz daraus folgt, dass ,Marktversagen' und .Staatsversagen' offensichtlich nicht zwangsläufig durch NGOs wie Greenpeace geheilt wird. Sie sind nicht generell die besseren Organisationen, ein Mythos, der noch immer weltweit verbreitet ist. Die latente Gefahr des NGO-Versagens legt vielmehr eine umfangreiche und systematische Auseinandersetzung mit allen Nutzen und Kosten solcher Organisationen nahe. In Anlehnung an einen Vorschlag von Mohr und Schneidewind (1996) wäre dazu ein wohlfahrtstheoretischer Analyserahmen zu schaffen, der etwa die Aktivitäten von Greenpeace in allen ihren Konsequenzen für die gesellschaftliche Wohlfahrt erfasst. Dies würde bestehende Informationsasymmetrien zwischen Greenpeace, ihren Mitgliedern und Geldgebern sowie der Öffentlichkeit abbauen und gleichzeitig die zumindest offiziell auf das Gemeinwohl ausgerichtete Organisation zwingen, sich nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den gesellschaftlichen Nutzen und Kosten ihrer Aktivitäten auseinander zu setzen. Auf den ersten Blick scheint ein solches Verhalten aus einzelwirtschaftlicher Sicht wenig rational und daher wenig wahrscheinlich zu sein. Für eine auf gesellschaftliche Belange ausgerichtete Organisation könnte es sich jedoch langfristig auszahlen, weil es reputationsfördemd wirkt und daher die eigene Nachhaltigkeit stärkt. Bündnis 90/Die Grünen haben als Mitglied der Bundesregierung mit ihrem aktuellen verkehrspolitischen Paradigmenwechsel zugunsten eines die Mobilität sichernden Umweltschutzes, der neben ökologischen Gesichtspunkten auch wirtschaftliche und soziale Ziele zu berücksichtigen hat, eine solche Richtung bereits eingeschlagen (Schmidt 2004). Erste Ansätze für eine ähnliche Einstellung lassen sich seit den 1990er Jahren bei vielen NGOs ausmachen, sehen ihre Verantwortlichen doch offiziell ihre Aufgaben nicht mehr nur darin, Probleme zu benennen, aufzudecken und die dafür Verantwortlichen zu identifizieren, sondern ebenso im Aufzeigen von Lösungen unter Berücksichtigung technischer, ökonomischer und sozialpolitischer Entwicklungen (Take 2002, S. 369 ff.). Das konsequente Verfolgen dieser Strategie und die damit verbundene Versachlichung der ökologischen Problemstellung wie auch der Problemlösungsvorschläge könnte für Greenpeace zwar zur Abwanderung von emotional orientierten Kunden führen. Der gleichzeitige Kompetenzzuwachs dürfte aber die Reputation bei Kritikern und politischen Entscheidungsträgern erheblich verbessern und so die Stellung der Organisation als einflussreicher Umweltmulti nachhaltig sichern, in einer Welt, in der bei steigender Interdependenz lokaler, nationaler und internationaler Probleme die Lücke zwischen der Regelungsbedürftigkeit und der Regelungskompetenz von Kollektivgütem ständig größer wird. Literatur Abendschein, J. und G. Seeber (1997), Die geplante Versenkung der Brent Spar als typische Dilemmasituation. Ein untemehmensethisches Lehrstück, in: Zeitschrift fur Umweltpolitik und Umweltrecht, Nr. 20, S. 373-392. Ahlert, D. (2001) (Hg.), Franchising & Cooperation: Das Management kooperativer Untemehmensnetzwerke, Neuwied u. a.

270

Karl-Hans Hartwig

Ball, C. und L. Dunn (1995), Non-Governmental Organisations: Guidelines for Good Policy and Practice, London. Beck, U. (1995), Was Chirac mit Shell verbindet. In der Weltrisikogesellschaft wird der Konsumentenboykott zum demokratischen Machtinstrument, in: DIE ZEIT, Nr. 37/1995, S. 9. Becker, GS. (1974), A Theory of Social Interactions, in: Journal of Political Economy, Vol. 76, S. 169-217. Berg, H., D. Cassel und Κ.-H. Hartwig (2003), Theorie der Wirtschaftspolitik, in: D. Bender u.a., Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 8. Aufl., München, S. 171-296. Blankart, C.B. (1991), Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einfuhrung in die Finanzwissenschaft, 4. Aufl., München 2001. Brown, M. und / May (1991), Die Greenpeace Story, 3. Aufl., Hamburg. Easley, D. und M. O'Hara (1983), The Economic Role of Nonprofit Firms, in: Bell Journal of Economics, Vol. 14, S. 531-538. Frenkel, J.A., M. Goldstein und P. Masson (1988), International Coordination of Economic Policies: Scope, Methods and Effects, NBER Working Paper, No. 2670, Cambridge, Mass. Greenpeace e. V. (2001), Jahresrückblick 2001, in: http://www.greenpeace.de. Greenpeace e. V. (2004), Jahresrückblick 2002, in: http://www.greenpeace.de. Greenpeace International (2004), Annual Report 2002, in: http://www.greenpeace.org. Hansmann, H. (1987), Economic Theories of Nonprofit Organization, in: W.W. Powell (Hg.), The Nonprofit Sector: A Research Book Handbook, New Haven u. a., 1980, S. 27-42. Holtman, A.G. (1988), Theory of Nonprofit Institutions, in: Journal of Economic Surveys, 2, S. 31-45. Kagel, J.H. und A.E. Roth (1995) (Hg.), The Handbook of Experimental Economics, Princeton. Ledyard, J.O. (1995), Public Goods: A Survey of Experimental Research, in: J.H. Kagel und A.E. Roth (Hg.), S. 111-194. Meyer, C.A. (1995), Opportunism in NGOs: Entrepreneurship and Green North-South Transfers, in: World Development, Vol. 23, S. 1277-1289. Möhr, E. und U. Schneidewind (1996), Brent Spar und Greenpeace: Ökonomische Autopsie eines Einzelfalls mit Zukunft, in: Zeitschrift flir Umweltpolitik und Umweltrecht, Nr. 19, S. 141-160. Rawls, J. (1971), A Theory of Justice, Cambridge, Mass. Reiss, J. (1989), Greenpeace: Der Umweltmulti - sein Apparat, seine Reaktionen, 2. Aufl., RhedaWiedenbrück. Rose-Ackerman, S. (1996), Altruism, Nonprofits and Economic Theory, in: Journal of Economic Literature, Vol. 34, S. 701-728. Scharnagel, Β. (2003), Internationale Nichtregierungsorganisationen und die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter, Frankfurt am Main u. a. Schmidt, A. (2004), Mobilität ist ein Grundrecht, Gastkommentar des verkehrspolitischen Sprechers von Bündnis 90/Die Grünen, in: ADACmotorwelt, Heft 6/2004, S. 26. Spiro, P.J. (1995), New Global Communities: Nongovernmental Organizations in International Decisionmaking Institutions, in: The Washington Quarterly, Vol. 18, 45-56. Take, I. (2002), NGOs im Wandel - von der Graswurzel auf das diplomatische Parkett, Wiesbaden.

Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

271

Theurl, T. (2001), Die Kooperation von Unternehmen: Facetten der Dynamik, in: D. Ahlert (Hg.), S. 73-91. UNDPI (o. J.), NGOs and the United Nations Department of Public Information: Some Questions and Answers, in http://www.un.org. Weimann, J. (1995), Freifahrer im Test: Ein Überblick über 20 Jahre Freifahrerexperimente, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 12, Soziale Kooperation, S. 168-241. Weisbrod, B.A. (1977), The Voluntary Nonprofit Sector, Lexington, Mass., u. a. Wilkens, I. (1999), Private Nonprofit-Organisationen: Ein Überblick, in: WlSt-Wirtschaftswissenschaftliches Studium, S. 586-590. Wirtschaftswoche (24/2004), Management Faszination, Heft 24, S. 63-72.

Korreferat zum Referat von Karl-Hans Hartwig Rettet die Wale! Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

Raimund

Bleischwitz

UmWeltorganisationen wie Greenpeace gehören seit etwa 30 Jahren in nahezu allen OECD-Ländern zum festen Bestandteil der Politik. Ihr Entstehen und ihre Stärke sind Ausdruck veränderter Präferenzen: Bürger wollen den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, sie trauen den traditionellen Parteien und Verbänden weniger als Umweltorganisationen, und sie haben eine nennenswerte Zahlungsbereitschaft zur Unterstützung ihres Anliegens. UmWeltorganisationen können deswegen zur Korrektur von Formen des Markt- und Staatsversagens beitragen. Dies arbeitet das Referat von Karl-Hans Hartwig in verdienstvoller Weise heraus. Darüber hinaus analysiert es Interventionen und die interne Organisationsstruktur des ,Ökomultis' Greenpeace. Zum Stand der Diskussion steuert das Referat eine wichtige Neuerung bei: NGOVersagen. NGO-Versagen führt nach Hartwig zur Möglichkeit von Wohlfahrtsverlusten durch Fehlallokationen. Der Versagenstatbestand wird durch die Brent Spar-Aktion von Greenpeace belegt. Durch Fehlinformationen hat Greenpeace im Rahmen ihrer einschlägigen Kampagne eine Entsorgungsvariante mit vergleichsweise hohen Schadensvermeidungskosten durchgesetzt. Ob andere vergleichbare Fälle belegbar sind, bleibt gegenwärtig offen. Das Referat weist auf die Möglichkeit von opportunistischem Verhalten und Missbrauch von Spendengeldem hin. Dies ist bislang nicht belegbar. Interessant ist nach Hartwig zunächst, dass sich eine Versagenskategorie abzeichnet, nämlich das NGO-Versagen, dessen Auswirkungen volkswirtschaftlich negativ sind. Hier setzt der Kommentar an: Wie wahrscheinlich ist ein NGO-Versagen? Inwieweit sind seine Risiken gravierender einzuschätzen als die Kategorien des Markt- bzw. Staatsversagens? Wie stark muss man den Mythos von der Weltverbesserung durch Umweltorganisationen relativieren, wenn man einige bedenkliche Folgen ihrer Aktivitäten in Betracht zieht? Unsere These dazu lautet, dass NGOs mit ähnlichen Wissensdefiziten zu kämpfen haben wie Akteure des Staates und der Wirtschaft. Irrtümer und Defizite sind deshalb nahe liegend. NGOs bilden jedoch ein wichtiges Korrektiv gegenüber vorherrschenden Allokationsverzerrungen. Sie erhöhen die Anpassungsflexibilität träge gewordener Systeme. Ihr Potenzial zur Wohlfahrtserhöhung ist hoch und gegenwärtig bei weitem noch nicht ausgereizt. Eine kluge Politik kann sich dieses Potenzial zunutze machen, ohne die damit einhergehenden Risiken ausufern zu lassen. Für eine Analyse derartiger Prozesse ist neben der Wohlfahrtsökonomik auch die neue Institutionenökonomik heranzuziehen. Kommentar und These werden im Folgenden abgearbeitet.

274

Raimund

Bleischwitz

Umweltveränderungen und Wissensdefizite Aktuelle Umweltveränderungen wie ζ. B. der Treibhauseffekt und der Verlust der biologischen Vielfalt sind ziemlich komplex. Der Wissenschaftliche Beirat globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) arbeitet dies in seinen jährlichen Berichten in beeindruckender Weise heraus. Daraus entsteht eine interessante Dilemmasituation: Einerseits fuhren Komplexität, Langfristigkeit und Internationalität von Umweltproblemen zu steigenden Risiken des Markt- und Staatsversagens. Sie befördern also zunächst das Entstehen und den Einfluss von UmWeltorganisationen. Andererseits sind UmWeltorganisationen mit ähnlichen Wissensproblemen konfrontiert. Ihr bewährtes Interventionsarsenal ist gegenüber den neuartigen Problemen längst nicht so wirkungsvoll wie in der Vergangenheit. Der Einsatz von bunten Schlauchbooten mag einige Wale retten, stoppt eine Veränderung von Meeresströmungen aber kaum. Umweltorganisationen müssen deshalb mit neuen Interventionsformen experimentieren. Je schärfer die Intervention in etablierte Interessen eingreift, desto besser müssen die Aktionen begründet sein. Dazu gehört auch eine Beweisführung, welchen Beitrag ein vermeintlicher Verursacher zu einem bestimmten Problem leistet. Dabei stehen Umweltorganisationen vor ähnlichen Schwierigkeiten wie die Forschung. Sie können sich jedoch einen Wandel der Politik zunutze machen, die sich zunehmend stärker an Symbolen und weniger an Fakten orientiert. Symbolische Umweltpolitik (Hansjürgen und Lübbe-Wolf 2000) durch NGOs ist somit eine rationale Antwort auf die naturwissenschaftlich begründete Dilemmasituation ihres Handelns, und nicht allein eine kalkulierte Ausnutzung asymmetrisch vorliegender Informationen. UmWeltorganisationen als Korrektur von Markt- und Staatsversagen In vielen Fällen ist die Suche nach Informationen über geeignete Umweltstrategien mühsam und kostenintensiv. Unternehmen scheuen derartige Kosten. Nach dem ökonomischen Standardmodell wägt die Politik ihre Such- und Entscheidungskosten gegenüber dem Nutzen künftiger Wählerstimmen ab. Sie bricht die Suche ab, wenn die Zuneigung der Wähler durch potenzielle Verlierer (Autofahrer!) beeinträchtigt wird oder sich erst für eine weit entfernt liegende Zukunft ankündigt. Wäre die Umweltpolitik so, müsste sie suboptimal bleiben. Sie wäre nicht in der Lage, bestehende negative Extemalitäten zu internalisieren. Sie bliebe auf heroische Versuche einzelner Umweltminister angewiesen. UmWeltorganisationen wie Greenpeace haben in diesem Zusammenhang wichtige Funktionen: -

Artikulationsfunktion: sie artikulieren Folgen von Umweltproblemen, auch wenn die wissenschaftliche Basis noch nicht vollständig gesichert ist. Dabei wählen sie Formen des öffentlichen Protests gegen einen bestimmten Sachverhalt oder des Marketings für Lösungsvorschläge.

-

Formulierungsfunktion: sie formulieren Leitbilder und Strategieansätze für Politik und Unternehmen. Dadurch kanalisieren sie latent vorhandene Präferenzen für den Umweltschutz. Gleichzeitig beschleunigen sie den gesellschaftlichen Diskurs über Kosten und Nutzen des Umweltschutzes, da viele Bedenken erst formuliert werden,

Korreferat zu Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

275

wenn Lösungsansätze vorliegen. Insofern schärfen sie also auch den Umwandlungsprozess von latenten Präferenzen in Wählerstimmen und in eine Nachfrage nach Umweltgütern. - Entscheidungshilfefunktion: UmWeltorganisationen betreiben Lobbyarbeit. Sie agieren in öffentlichen Anhörungen und in internationalen Verhandlungen als Anwalt fur Umweltinteressen. Ähnlich agieren sie als Stakeholder' für Unternehmen. Wer die Abstimmungsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, Parteien und Unternehmen kennt, weiß, dass derartige Funktionen wichtig sind. Insofern verhelfen sie Wankelmütigen zu einer Entscheidung, die den Umweltbelangen eher entspricht als ohne entsprechende Entscheidungshilfe. - Umsetzungsfunktionen: UmWeltorganisationen wirken in vielfacher Weise auf Umsetzungsprozesse ein. Sie wissen um die Vieldeutigkeit von Gesetzen, Verordnungen, Normen und technischen Anleitungen. Sie kennen das Dickicht des Vollzugs. Sie leisten Detektivarbeit gegenüber einer Nichteinhaltung von Verpflichtungen. Umweltorganisationen zur dynamischen Anreizkorrektur Die oben beschriebenen Funktionen sind zum Beleg der These, dass Umweltorganisationen die dynamische Anpassungsflexibilität träge gewordener Systeme erhöhen, noch nicht hinreichend. Als Reaktion ist eine statische Anreizkorrektur durch die Politik denkbar, die sich aus dem bewährten umweltpolitischen Instrumentenkasten bedient. Umweltorganisationen wären demnach im Zeitverlauf überflüssig. Man könnte sogar ein Fehlverhalten wie bei der Brent Spar-Aktion als Beleg für ihre zunehmende Orientierungslosigkeit sehen: Wo Umweltpolitik und -management zunehmend erfolgreich sind, werden Umweltverbände kaum noch benötigt. Angesichts der Komplexität neuartiger Umweltveränderungen ist jedoch eine dynamische Sichtweise erforderlich, für die Grossekettler (1997) und Dixit (2000) wichtige ökonomische Beiträge leisten. Überträgt man ihre Erkenntnisse auf die Umweltpolitik, ergibt sich ein interessantes Zusammenwirken zwischen Umweltverbänden und anderen Akteuren. Wissen zur Lösung von Umweltproblemen muss schrittweise erarbeitet werden. Eine Pionierfunktion kann dabei von wechselnden Akteurskoalitionen wahrgenommen werden: Mal unterstützt ein Umweltverband die Markteinführung umweltverträglicher Güter, mal lässt sich eine Regierung von Umweltverbänden beistehen, wenn sie gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten oder widerspenstigen Lobbygruppen bestehen will. Umweltgruppen können ihre Schrittmacherfunktion sogar vorübergehend an Dritte abgeben, wenn sie überprüfenswerte Glaubenssätze pflegen (so etwa in der Einstellung zur Biotechnologie oder zu Standorten für Windenergieanlagen). Entscheidend sind die Erkenntnisse, dass Pioniere häufig aus Multiakteurskoalitionen bestehen und dass ihr dauerhafter Erfolg vom Überwinden vorhandener Widerstände abhängt. Dies ist mit einmaligen Anreizkorrekturen kaum zu leisten. Auch Umweltverbänden fällt ihr Wissen nicht in den Schoß, sie müssen zur Erlangung von Sach-, Orientierungs- und Handlungswissen mit Externen kooperieren. Die Politik kann durch eine Aktivierung von Umweltorganisationen bei einigen Aufgaben in die zweite Reihe rücken: in der zweiten sieht man besser! Dieses neue Ver-

276

Raimund

Bleischwitz

ständnis von Staatlichkeit wird häufig unter dem Stichwort „Governance" oder „Governance without Governments" (Arts 2003, Cashore 2002) diskutiert. Ein für die Umweltpolitik interessanter Ansatz kann Barzel (2000) entnommen werden. Er diskutiert die Möglichkeit einer Verstärkung eingegangener Verpflichtungen durch die gezielte rechtliche Stärkung nicht-staatlicher Akteure. Dabei ist es nicht einmal entscheidend, dass die Politik vorab bindende Ziele und Fahrpläne formuliert. Entscheidend sind entwicklungsoffene Gesetze und sich selbst durchsetzende Verträge, deren Bindungswirkung im Zeitverlauf verstärkt wird und deren Bestimmungen dezentral verhandelt und durchgesetzt werden können. Zu diesem Zweck sind NGOs gezielt rechtlich zu stärken. Einige Möglichkeiten wären (SRU2002): -

erweiterte Klagemöglichkeiten ζ. B. in der Bauleitplanung und im Bergrecht,

- Beteiligung bei Normsetzungsverfahren, Selbstverpflichtungen der Industrie, Stoffund Produktzulassungsverfahren, -

Monitoring-Funktionen bei internationalen Umweltabkommen, die insbesondere auf schwache Rechtsordnungen ausgerichtet sind, und Beteiligungsmöglichkeiten bei den Verfahren zur Streitbeilegung der WTO.

Derartige Ansätze erhöhen dort die dynamische Anpassungsflexibilität, wo das Wissen über Umweltprobleme und Lösungsansätze schrittweise erhöht werden muss, wo die Präferenzen der Zivilgesellschaft heterogen sind, wo die Märkte für Umweltgüter potenziell lukrativ sind, und wo Wertschöpfungskettenmanagement in höchst unterschiedlichen Rechtsordnungen stattfindet. Die Ansätze sind suboptimal, wenn ein eindeutiger Befund rasches staatliches Handeln erfordert und wenn die Skaleneffekte einer gesetzlichen Regelung höher einzuschätzen sind als die Vorteile dezentraler Entdeckungsprozesse. Man kommt also nicht umhin, den Einfluss von UmWeltorganisationen zu relativieren und der ökonomischen Politikberatung weiterhin einen hohen Stellenwert einzuräumen. Insgesamt wirken Recht, Ökonomie und Politik in dieser Sichtweise auf vielfältige Weise aufeinander ein (Faure und Skogh 2002; Engel 2000). UmWeltorganisationen als Anbieter von Kollektivgütern? UmWeltorganisationen können nach unserem Kommentar kaum Anbieter vom Kollektivgut Umweltschutz werden, wie dies das Referat von Hartwig suggeriert. Gewiss, für diese These spricht sowohl ihre engagierte Vertretung von Umweltinteressen als auch ihr Erfolg in vielen Tätigkeitsfeldern. Umweltschutz bleibt jedoch eine Querschnittsaufgabe, der eine breitere Beteiligung erfordert. Ohne das aktive Eintreten einzelner Bürgerinnen und Bürger, ohne eine Veränderung von Lebensstilen, ohne die Entwicklung und das Anbieten von Umweltgütern durch Unternehmen, ohne die Korrektur von rechtlichen und ökonomischen Anreizen bliebe der Umweltschutz nur bei höchst fragwürdigen Erfolgsaussichten. UmWeltorganisationen konkurrieren also mit anderen Akteuren um Lösungsstrategien. Dieser Wettbewerb findet auf mehreren Ebenen statt: -

zwischen den Umweltverbänden, die um Mitgliedsbeiträge und Spendenaufkommen konkurrieren,

Korreferat zu Greenpeace als Einflussträger und Nebenexekutive der Umweltpolitik

277

-

zwischen den Umweltverbänden und anderen Gemeinwohl orientierten Organisationen, die untereinander ebenfalls um Mitgliedsbeiträge und Spendenaufkommen konkurrieren,

-

zwischen diesen Organisationen, Unternehmen und der Politik, die um Glaubwürdigkeit, Reputation und Zahlungsbereitschaft wetteifern.

Insofern verlieren UmWeltorganisationen ihren Monopolanspruch auf eine in Umweltbelangen verbesserte Welt - aber sie verbreitern ihren Einfluss in wechselnden Koalitionen und binden Anhänger durch einzelne Erfolge, die Bausteine für eine nachhaltige Entwicklung sind. Die Politik kann gegenüber der Kategorie eines möglichen NGO-Versagens einerseits auf die Kräfte dieses Wettbewerbs vertrauen. Sie kann andererseits die Gewährung weiterer Rechte (wie sie im Übrigen von der Aarhus-Konvention und einschlägigen OECD-Dokumenten empfohlen werden) konditional an wirtschaftliche Offenlegungspflichten binden, wie mit den eingeworbenen Mitteln umgegangen wird. Der Staat bleibt also als Regelsetzer zur Ermöglichung von Anpassungsprozessen und als Schiedsrichter erforderlich. Als Sanktionsinstrument dürfte der drohende Verlust der öffentlichen Glaubwürdigkeit ausreichend sein. Auch hier gilt also, dass die Politik in der zweiten Reihe wirkungsvoller agieren kann als in der Sturmspitze. Die Konsequenz unseres Kommentars lautet, dass UmWeltorganisationen zwar nicht generell die besseren Organisationen sind. Sie können jedoch zur Behebung von Marktund Staatsversagen stärker beitragen als es bislang der Fall ist. Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft bedeutet dies eine Integration von Recht und Ökonomie, für welche die Neue Institutionenökonomie einschlägiges Rüstzeug erarbeitet hat. Die Umwelt- und Ressourcenökonomie erweitert ihre methodische Basis. Ein positiver Nebeneffekt wäre also, dass die Analyse von Umweltproblemen die Integration in der Wissenschaft fördert.

Literatur Arts, Β. (2003), Non-State Actors in Global Governance: Three Faces of Power, in: PrePrint der Max-Planck-Projektgruppe „Recht der Gemeinschaftsgüter", 4/2003, Bonn. Barzel, Y. (2000), The State and the Diversity of Third-Party Enforcers, in: C. Menard, Institutions, Contracts and Organizations. Perspectives from New Institutional Economics, Cheltenham/Northampton, S. 211-233. Cashore, B. (2002), Legitimacy and the Privatization of Environmental Governance: How NonState Market-Driven (NSMD) Governance Systems Gain Rule-Making Authority, in: Governance - An International Journal of Policy, Administrations, and Institutions, Vol. 15, No. 4/2002, S. 503-529. Dixit, A.K. (2000), The Making of Economic Policy. A Transaction-Cost Perspective, Cambridge. Engel, C. (2000), Die Grammatik des Rechts - Funktionen der rechtlichen Instrumente des Umweltschutzes im Verbund mit ökonomischen und politischen Instrumenten, in: PrePrint aus der Max-Planck-Projektgruppe „Recht der Gemeinschaftsgüter", 3/2000, Bonn. Faure, M. und G. Skogh (2003), The Economic Analysis of Environmental Policy and Law. An Introduction, Cheltenham/Northampton.

278

Raimund

Bleischwitz

Grossekettler, H. (1997), Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe. Entwicklungsgeschichte und Entwicklungsperspektiven des Ordoliberalismus nach 50 Jahren Sozialer Marktwirtschaft, Münster. Hansjürgen, B. und G. Lübbe- Wolf (2000) (Hg.), Symbolische Umweltpolitik, Frankfurt am Main. Sachverständigenratßr

Umweltfragen (SRU), Umweltgutachten 2002, Stuttgart 2002.

Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weif ens (Hg.) Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft · Band 74 • Stuttgart • 2004

Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation: Institutioneller Aufbau, Finanzierung und wirtschaftliche Bedeutung

Manfred

Willms

Inhalt 1. Einführung

280

2. Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes

280

3. Institutioneller Aufbau und internationale Einbindung des Deutschen Roten Kreuzes

282

4. Tätigkeitsfelder des Deutschen Roten Kreuzes

287

5. Finanzierung des Deutschen Roten Kreuzes

291

6. Wirtschaftliche Bedeutung des Deutschen Roten Kreuzes

295

7. Veränderte Rahmenbedingungen und Gestaltungserfordernisse beim Deutschen Roten Kreuz

298

Literatur

301

280

Manfred Willms

1. Einführung Die Organisationen des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes sind Teil eines weltweit operierenden humanitären Netzwerkes. Ihr Ziel ist es, Leben und Gesundheit von Menschen zu schützen und die Würde von Menschen zu wahren. Für den Schutz von Kriegsopfern und Opfern von bewaffneten Konflikten ist unter Mitwirkung des Roten Kreuzes ein zwischenstaatliches Recht, das Humanitäre Völkerrecht, entwickelt worden. Darin verpflichten sich die Vertragsparteien, vertraglich vereinbarte Schutzbestimmungen einzuhalten. Diese Beziehung zwischen der staatlichen Ebene und dem Roten Kreuz ist etwas Einzigartiges. Alle Gesellschaften des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes sind auf die sieben Grundsätze verpflichtet: -

Menschlichkeit, Neutralität, Freiwilligkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Einheit und Universalität.

Der Schwerpunkt der Rotkreuz-Arbeit liegt in der schnellen Hilfe im Katastrophenfall. Durch das Vorhalten einer entsprechenden materiellen, personellen und administrativen Infrastruktur sind die Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften in der Lage, national und international direkt und unmittelbar zu helfen. In vielen Ländern decken die Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften aber auch ein breites Spektrum sozialwirtschaftlicher Aktivitäten ab und stellen damit einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Die Vielschichtigkeit und Vielfalt ihrer Aktivitäten sowie der Mangel an zuverlässigen Daten machen eine international vergleichende Bedeutungsanalyse der Rotkreuzund Rothalbmond-Gesellschaften unmöglich. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich daher vor allem auf das Deutsche Rote Kreuz. Aber selbst hier werden die Aussagen durch die Datenlage sehr stark eingeengt. Nach einem kurzen historischen Abriss und einer Darlegung des institutionellen Aufbaus des Deutschen Roten Kreuzes werden die wichtigsten Tätigkeitsfelder und Grundzüge der Finanzierung aufgezeigt. Abschließend wird auf die wirtschaftliche Bedeutung des Deutschen Roten Kreuzes und dessen Anpassungserfordernisse an veränderte Rahmenbedingungen im Bereich der Sozialwirtschaft eingegangen. 2. Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes Die Idee zur Gründung des Roten Kreuzes wurde am 24. Juni 1859 geboren. An diesem Tag wurde der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant Augenzeuge der Schlacht von Solferino, in der Soldaten des Königreichs Sardinien-Piemont und Frankreichs gegen Österreich kämpften, um die Loslösung Oberitaliens von Österreich zu erreichen. Dunant erlebte, wie nach dem Ende der Schlacht über 40.000 Verwundete ohne Hilfe und Sanitätsversorgung ihrem Schicksal überlassen blieben.

Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation

281

Er verarbeitete und veröffentlichte seine Erlebnisse in der 1862 erschienenen Schrift „Eine Erinnerung an Solferino" (Dunant 1862). Dort entwickelte er seine Idee zur Gründung von Hilfsgesellschaften aus Freiwilligen, die sich schon in Friedenszeiten darauf vorbereiten sollten, humanitäre Hilfe fur Kriegsopfer zu leisten. Die ungehinderte Tätigkeit dieser Hilfsgesellschaften sollte durch internationale Abkommen gewährleistet werden. Die Idee wurde von einem Komitee Genfer Bürger aufgegriffen, das zu einer internationalen Konferenz aufrief. Diese wurde am 26. Oktober 1863 mit 31 Vertretern von 16 Regierungen und 4 privaten Organisationen eröffnet. Verabschiedet wurde ein Programm, das die Bildung von Nationalen Komitees zur Schaffung von Sanitätsdiensten und zur Vorbereitung auf die Versorgung von Verwundeten bereits in Friedenszeiten vorsah. Damit war der Weg frei für die Gründung nationaler Rotkreuz-Gesellschaften {Hang 1991, S. 34 ff.). Von den 16 Regierungsdelegationen auf der Genfer Konferenz kamen zehn aus Deutschland (Gruber 1985, S. 12 ff.). Im Königreich Württemberg wurde dann auch bereits im November 1863 der Württembergische Sanitätsverein als erste nationale Hilfsgesellschaft gegründet. Der erste Einsatz von Rotkreuz-Helfern fand bereits im März 1864 in Schleswig-Holstein statt. Im deutsch-dänischen Krieg organisierten Rotkreuz-Helfer die Versorgung verwundeter Soldaten auf beiden Seiten und besuchten Kriegsgefangene. Damals wurde das Rotkreuz-Zeichen erstmals verwendet. In den folgenden Jahren entstanden weitere 14 Landesvereine, die sich 1869 zum „Zentralkomitee der Deutschen Vereine zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger" mit Sitz in Berlin zusammenschlössen. Parallel zu den auf den Sanitätsdienst ausgerichteten und aus Männern bestehenden Vereinen wurden Frauenvereine gegründet, die sich der ehrenamtlichen Krankenpflege und Sozialarbeit widmeten. 1871 schlössen sie sich zum „Verband der Deutschen Frauenvereine" zusammen. Im Ersten Weltkrieg haben diese Vereine Erstaunliches geleistet: 250.000 freiwillige Helfer und Helferinnen betrieben eigene Lazarette und Erholungseinrichtungen mit insgesamt 200.000 Betten (Haug 1991, S. 202). Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg schlössen sich im Januar 1921 die Landesorganisationen und Landesfrauenvereine zum Deutschen Roten Kreuz zusammen. Aufgrund des Versailler Vertrags war jegliche Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes mit militärischen Instanzen untersagt. Das Deutsche Rote Kreuz verlagerte daraufhin seine Tätigkeit stärker in den Bereich der Wohlfahrtsaufgaben, des Gesundheitswesens und des Rettungsdienstes. 1926 wurde das Jugendrotkreuz gegründet. Ab 1933 war auch das Deutsche Rote Kreuz von der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten betroffen (Schlägel 1992). Mit dem „Gesetz über das Deutsche Rote Kreuz" wurde das ,Führerprinzip' eingeführt, und das DRK verlor alle Wohlfahrtseinrichtungen und das Jugendrotkreuz. Im Gegenzug erhielt es verstärkte Zuständigkeiten im Katastrophenschutz und im Rettungsdienst. Die Zusammenarbeit mit den Streitkräften wurde wieder aufgenommen. Im Zweiten Weltkrieg hatte das DRK 800.000 Helfer im Sanitätsdienst bei den Streitkräften, dem Luftschutzdienst, in der sozialen Betreuung von Soldaten und in der Betreuung von Kriegsgefangenen im Einsatz.

282

Manfred Willms

Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 wurde dessen staatliche Autorität durch diejenige der Besatzungsmächte überlagert. Die Amerikaner und Engländer ließen das Rote Kreuz in ihren Zonen auf Kreisebene weiterarbeiten und erlaubten bereits im selben Jahr die Bildung von Landesverbänden (Schlägel 1982). In der französischen Zone wurde das Rote Kreuz erst 1947 wieder zugelassen. In der sowjetischen Zone war zunächst sämtliche Rotkreuz-Arbeit untersagt. Dort, wo das Rote Kreuz wieder tätig werden konnte, oblagen ihm vor allem die Betreuung von zurückkehrenden Kriegsgefangenen, die Hilfe fur Flüchtlinge und Heimatvertriebene sowie suchdienstliche Aufgaben. Nach Errichtung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 gründeten die dortigen Landesverbände im Februar 1950 das „Deutsche Rote Kreuz in der Bundesrepublik Deutschland". Es wurde 1951 von der Bundesregierung gemäß den internationalen Anerkennungsbedingungen für nationale Rotkreuz-Gesellschaften anerkannt. 1952 erfolgte die Anerkennung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und kurz darauf die Aufnahme in die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Das Deutsche Rote Kreuz der DDR wurde im Oktober 1952 durch Verordnung des Ministerrats als Körperschaft des Öffentlichen Rechts ins Leben gerufen. 1954 erfolgte die Anerkennung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. 1984 trat das Deutsche Rote Kreuz der DDR der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften bei. Es gab somit in der Nachkriegszeit zwei international unabhängige deutsche Rotkreuz-Gesellschaften. Nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten am 03. Oktober 1990 schlössen sich beide Rotkreuz-Gesellschaften wieder zusammen: Im Jahre 1990 bildeten sich aus der Mitgliedschaft des Deutschen Roten Kreuzes der DDR fünf Landesverbände, die zum 01. Januar 1991 ihren Beitritt zum Deutschen Roten Kreuz der Bundesrepublik Deutschland erklärten. Das Deutsche Rote Kreuz der DDR löste sich zum 31.12.1990 auf. Der gesamtdeutsche Verband trägt die Bezeichnung „Deutsches Rotes Kreuz e.V.". 3. Institutioneller Aufbau und internationale Einbindung des Deutschen Roten Kreuzes Das Deutsche Rote Kreuz gehört zu den größten Rotkreuz-Gesellschaften der Welt. Insgesamt hat das DRK über 4,6 Mio. Mitglieder. Davon sind rund 4,3 Mio. Fördermitglieder und 355.000 als ehrenamtliche Helfer aktiv tätig. Die Fördermitglieder sind organisatorisch auf der örtlichen Ebene angesiedelt. Die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter erfüllen ihre Aufgaben ebenfalls vor Ort in den Rotkreuz-Gemeinschaften wie der Bergwacht, der Wasserwacht, der Sozialarbeit, dem Jugendrotkreuz und den Bereitschaften. Die Bereitschaften sind vor allem für den Katastrophenschutz, den Sanitätsdienst und den Rettungsdienst zuständig.

Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation

283

Tabelle 1: Mitglieder im DRK und seinen Gliederungen 2002 Fördermitglieder Aktive Mitglieder davon: • Bereitschaften • Bergwacht • Wasserwacht • Jugendrotkreuz • Sozialarbeit • Schwesternschaften • Sonstige Mitglieder insgesamt

4.281.000 354.600 (148.000) ( 13.500) ( 68.100) ( 71.200) ( 18.900) ( 18.700) ( 16.200) 4.635.600

Quelle: Deutsches Rotes Kreuz. Organisationsstruktur des Deutschen Roten Kreuzes Organisatorisch ist das Deutsche Rote Kreuz föderal aufgebaut mit den vier Ebenen: Ortsvereine, Kreisverbände, Landesverbände und Bundesverband (siehe auch Hüdepohl 1996, S. 128 ff.). Es bestehen über 5.000 Ortsvereine, 516 Kreisverbände und 19 Landesverbände. Mit Ausnahme des Bayerischen Roten Kreuzes, das als Anstalt des öffentlichen Rechts organisiert ist, ist der eingetragene Verein die gängige Rechtsform. Die einzelnen Verbände sind somit rechtlich und wirtschaftlich selbstständig. Ein Verbund wird dadurch hergestellt, dass die Einzelverbände jeweils Mitglied der ihnen vorgelagerten Verbandsstufe sind. Auf der Bundesebene sind die satzungsmäßigen Organe die Bundesversammlung, das Präsidium und der Präsidialrat (Abbildung 1). Dem Präsidium beratend zur Seite stehen Ausschüsse der Gemeinschaften und andere Ausschüsse wie z. B. der Rechtsausschuss und der Finanzausschuss. Darüber hinaus gibt es noch das Schiedsgericht zur Beilegung innerverbandlicher Streitigkeiten. Die Bundesversammlung ist das oberste Beschlussorgan des Verbandes. Sie besteht aus den von den 19 Landesverbänden und dem Verband der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz entsandten Vertretern. Die Bundesversammlung wählt den Präsidenten und die weiteren Präsidiumsmitglieder, beschließt über den Jahresabschluss, die Entlastung des Präsidiums, den Haushalt, die Finanzordnung und die Satzung und wählt den Vorsitzenden des Bundesschiedsgerichts und seinen Stellvertreter. Das Präsidium bestimmt die Geschäftspolitik des Generalsekretariats, das als Geschäftsstelle des Bundesverbandes fungiert. Der Generalsekretär fuhrt die Beschlüsse des Präsidiums aus. Der Präsidialrat besteht aus den Präsidenten der Landesverbände des DRK und der Präsidentin des Verbandes der Schwesternschaften. Er ist Beratungsorgan, hat aber bei Beschlüssen, die verbindliche Regelungen für den Gesamtverband betreffen, Entscheidungskompetenz.

284

Manfred Willms

Abbildung 1: Institutioneller Aufbau des DRK

Die Landesverbandsebene ist ihrerseits durch eine ähnliche Struktur gekennzeichnet wie die Bundesverbandsebene. Die Landesversammlung ist oberstes Beschlussorgan. Sie besteht aus den von den Kreisverbänden entsandten Vertretern. Ihre Aufgaben bestehen in der Wahl des Präsidiums des Landesverbandes und in der Beschließung über die Jahresabschlüsse, die Entlastung des Präsidiums, den Haushalt, die Finanzordnung sowie die Satzungen und die grundlegende Geschäftspolitik. Die Landesverbände sind außerdem Anteilseigner der als gemeinnützige GmbH's geführten DRK-Blutspendedienste. Organisationsstruktur auf internationaler Ebene

Das DRK ist als Nationale Hilfsgesellschaft Teil der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung setzt sich zusammen aus derzeit 181 Nationalen Gesellschaften vom Roten Kreuz oder Roten Halbmond, der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und RothalbmondGesellschaften und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (KRK). Diese drei so genannten Komponenten bilden zusammen eine weltweite humanitäre Bewegung,

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

285

deren Mission es ist, menschliches Leiden überall und jederzeit - vor allem aber bei bewaffneten Konflikten und sonstigen Notlagen - zu verhüten und zu lindern (siehe auch Hüdepohl 1996, S. 151 ff). Die Einzigartigkeit der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung liegt darin begründet, dass die Rotkreuz- und Rothalbmond-Komponenten mit den Staaten, die die Genfer Abkommen von 1949 zur Behandlung von Kriegsgefangenen und zum Schutz von Opfern bewaffneter Konflikte ratifiziert haben, in einem gemeinsamen Gremium zusammen arbeiten, der Internationalen Konferenz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond. Die Internationale Konferenz stellt das oberste beschließende Organ der Bewegung dar. Die Konstruktion der Internationalen Konferenz als oberstes beschließendes Organ der Bewegung stellt insofern eine Besonderheit dar, als die Vertragsstaaten der Genfer Abkommen zwar keine vierte Komponente der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung bilden, aber Mitglieder des obersten Beschlussorgans dieser Bewegung sind. Die Bewegung stellt somit keine Nichtregierungsorganisation dar, sondern bildet eine Institution sui generis. Die Internationale Konferenz prüft humanitäre und damit zusammenhängende Fragen von gemeinsamem Interesse der Rotkreuz- und Rothalbmond-Komponenten und der Vertragsstaaten der Genfer Abkommen. Sie verabschiedet Beschlüsse, Empfehlungen und Deklarationen in Form von Resolutionen. Im Falle von Beschlüssen, d. h. Entscheidungen mit Rechtsfolgecharakter für die Beteiligten, sind diese für alle Mitglieder der Konferenz, nämlich Komponenten der Bewegung und Staaten, verbindlich. Ein weiteres Organ der Bewegung ist der Delegiertenrat, in dem die Vertreter der Komponenten der Bewegung zusammen kommen, um über Fragen zu beraten, die die Bewegung in ihrer Gesamtheit betreffen. Insbesondere kann er zu jeder die Bewegung betreffenden Frage Beschlüsse fassen oder Empfehlungen abgeben. Auch hier sind wie im Falle der Internationalen Konferenz Beschlüsse des Rates für die Komponenten verbindlich. Drittes ständiges Organ der Bewegung ist die so genannte Ständige Kommission. Ihre Rolle ist die eines Sachverwalters des obersten Organs der Internationalen Konferenz zwischen zwei Konferenzen. Neben eher verfahrensmäßigen und technischen Zuständigkeiten setzt sich die Ständige Kommission insbesondere dafür ein, dass die Komponenten der Bewegung harmonisch zusammen arbeiten und ihre Tätigkeiten zu diesem Zweck koordinieren und die Resolutionen der Internationalen Konferenz durchführen. Internationales Komitee vom Roten Kreuz

Das im Jahre 1863 gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist seinen Statuten nach als Verein nach Schweizerischem bürgerlichen Recht verfasst. Es ist jedoch durch die vier Genfer Abkommen von 1949 und die beiden Zusatzprotokolle von 1977 mit speziellen Rechten ausgestattet. Diese Rechte werden ihm unmittelbar vom Humanitären Völkerrecht übertragen und verleihen ihm eine partielle Völkerrechtssubjektivität, d. h. die Fähigkeit, Träger von direkt aus dem Völkerrecht fließenden Rechten und Pflichten zu sein. Das IKRK ist eine neutrale und unabhängige humanitäre Organisation, deren Aufgabe es insbesondere ist, das Leben und die Würde der Opfer bewaffneter Konflikte und innerer Unruhen zu schützen sowie ihnen Hilfe zu leisten. Es be-

286

Manfred íVillms

müht sich darüber hinaus, durch die Verbreitung und Weiterentwicklung des Humanitären Völkerrechts sowie der Rotkreuz-Grundsätze Leid zu verhindern. Als neutrale und unabhängige Institution und als Vermittler kann das IKRK jede humanitäre Initiative im Rahmen seines Mandats ergreifen. Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften Die Internationale Föderation der Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften ist der Zusammenschluss der Nationalen Gesellschaften und eine unabhängige humanitäre Organisation ohne Bindung an eine Regierung, politische Partei, Rasse oder Konfession. Sie wurde 1919 in Genf gegründet. Ihr allgemeiner Zweck ist es, überall und jederzeit die humanitäre Tätigkeit der Nationalen Gesellschaften anzuregen, zu erleichtern und zu fördern mit dem Ziel, menschliches Leid zu verhüten und zu lindern und auf diese Weise zur Erhaltung und Stärkung des Friedens in der Welt beizutragen. Indem sie die Zusammenarbeit zwischen Nationalen Gesellschaften fördert, verbessert die Internationale Föderation deren Fähigkeit zu effektivem Katastrophenschutz und zu einer wirkungsvollen Durchfuhrung von Gesundheits- und Wohlfahrtsprogrammen. Nationale Gesellschaften vom Roten Kreuz und Roten Halbmond Die Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften bilden die Basis der Internationalen Bewegung. Sie erfüllen ihre humanitären Aufgaben im Einklang mit ihrer jeweiligen Satzung sowie den Gesetzen ihres Landes auf der Grundlage der Rotkreuzund Rothalbmond-Grundsätze. Auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet sind die Nationalen Gesellschaften eigenständige nationale Organisationen. Sie wirken mit den Behörden zur Verhütung von Krankheiten, zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und zur Linderung menschlichen Leids zusammen. Gemeinsam mit den Behörden organisieren sie Hilfsmaßnahmen speziell fur die Opfer bewaffneter Konflikte sowie von Naturkatastrophen und anderen Notlagen. Nationale Gesellschaften sind jedoch nicht auf nationale Aktivitäten beschränkt. Im internationalen Bereich leisten sie auf der Grundlage des Humanitären Völkerrechts den Opfern bewaffneter Konflikte sowie von Naturkatastrophen und anderen Notlagen Hilfe. Es sind die Nationalen Gesellschaften, in denen die besondere Beziehung der Bewegung zu den Regierungen am deutlichsten sichtbar wird. In den Bereichen nationaler präventiver Gesundheitsprogramme und Soforthilfemaßnahmen wirken sie nicht nur mit den nationalen Behörden zusammen, sondern sie werden von ihren Regierungen als freiwillige Hilfsgesellschaften der Behörden im humanitären Bereich anerkannt. Nur unter der Bedingung des Vorliegens dieser vorherigen Anerkennung durch ihre Regierung kann die Anerkennung einer Nationalen Gesellschaft durch das K R K ausgesprochen werden. Im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts ist dieser Hilfsstatus in besonders signifikanter Weise ausgeprägt: Das Deutsche Rote Kreuz ist auf der Grundlage der Genfer Abkommen durch die Bundesregierung ermächtigt worden, unter ihrer Verantwortung in dem ständigen Sanitätsdienst der Bundeswehr mitzuwirken. Im Falle eines bewaffneten Konflikts würde das Personal des DRK zwar nicht Teil und Mitglied der Streitkräfte, wäre aber zeitweise dem Sanitätsdienst der Bundeswehr eingegliedert.

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

287

Eine Unterstellung des DRK-Personals unter die militärischen Gesetze und Verordnungen wäre sogar Voraussetzung dafür, dass das Personal des DRK den Schutz und die Schonung durch die Konfliktparteien geniest. 4. Tätigkeitsfelder des Deutschen Roten Kreuzes Gemäß seiner Satzung nimmt das DRK folgende Aufgaben wahr: 1. Verbreitung der Kenntnisse des humanitären Völkerrechts, 2. Hilfe fur Opfer von bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen und anderen Notsituationen, 3. Verhütung und Linderung menschlicher Leiden, die sich aus Krankheit, Verletzung, Behinderung oder Benachteiligung ergeben, 4. Förderung der Gesundheit, der Wohlfahrt und der Jugend und 5. Förderung der Entwicklung Nationaler Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Die ersten drei Aufgabenbereiche sowie der letzte Bereich beziehen sich vorwiegend auf Tätigkeiten des DRK als Nationale Hilfsgesellschaft, wie sie von der Bundesregierung zur Erfüllung deijenigen Aufgaben anerkannt worden ist, deren Grundsätze in den Genfer Abkommen von 1949 sowie von den Internationalen Rotkreuz-Konferenzen festgelegt sind. Der vierte Aufgabenbereich und teilweise auch der dritte Aufgabenbereich weisen demgegenüber auf die Betätigung des DRK als Wohlfahrtsorganisation hin. Dieser Bereich nimmt beim DRK einen breiten Raum ein. In der gesamten Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung gibt es kaum eine Nationale Gesellschaft, die einen so ausgeprägten Wohlfahrtspflegebereich unterhält. Die meisten anderen Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften beschränken sich auf den Katastrophenschutz und den Einsatz in Kriegs- und Konfliktfällen. Als Nationale Hilfsgesellschaft ist das DRK flächendeckend in ganz Deutschland vertreten. Das Gebiet der Wohlfahrtspflege wird in vielfältigen Funktionen umfassend abgedeckt, jedoch fällt das Angebot vor Ort sehr unterschiedlich aus. Dies hängt nicht zuletzt mit der föderalen Struktur des DRK zusammen. Aufgrund der Autonomie der einzelnen Ebenen sind eine klare Funktionszuordnung und eine einheitliche Lenkung nicht möglich. Eine Abstimmung zwischen den verschiedenen Verbandsebenen kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Dies gilt auch für den Informationsaustausch und die Datenerhebung. Präzise Wirtschaftsdaten für den Gesamtverband zu erstellen, ist daher äußerst schwierig. Eine konsolidierte Bilanz des DRK kann unter diesen Bedingungen nicht erstellt werden. Obwohl sich eine klare Zuordnung der Aktivitäten auf den einzelnen Ebenen organisatorisch nicht durchsetzen lässt, hat sich dennoch eine gewisse Aufgabenteilung herauskristallisiert. So werden die typischen Rotkreuz-Dienstleistungen auf der Ortsvereins- und Kreisverbandsebene erbracht. Ortsvereine sind vor allem im Sanitätsdienst, in der Erste Hilfe-Ausbildung, in der Nachbarschaftshilfe, im Katastrophenschutz und teilweise auch in den ambulanten sozialen Diensten tätig. Den Ortsvereinen obliegt

288

Manfred

Willms

auch die Durchführung von Sammlungen und die Betreuung der Mitglieder. Auf der Ortsvereinsebene kommen überwiegend ehrenamtliche Mitarbeiter zum Einsatz. Wichtige Aufgabenbereiche der Kreisverbände sind die Rettungs- und Krankentransporte sowie die Behindertenfahrdienste. Viele Kreisverbände unterhalten auch Sozialstationen, Kindertagesstätten und Hausnotrufdienste. Die Kreisverbände sind außerdem häufig Eigentümer und Betreiber von Alten- und Pflegeheimen sowie von Behinderteneinrichtungen. Die Hauptaufgabe der Landesverbände besteht in der Förderung und der Koordination der Arbeit der Ortsvereine und Kreisverbände. Hinzu kommen die Beratungs- und die Ausbildungsfunktion. Fast alle Landesverbände betreiben eigene Altenpflegeschulen und eigene Rettungsschulen. Viele Landesverbände sind auch Eigentümer und Betreiber von Alten- und Pflegeheimen, von Behinderten-Einrichtungen und von Krankenhäusern und Rehabilitations-Einrichtungen. Fast alle Landesverbände sind Miteigentümer der DRKBlutspendedienste, und acht der 19 Landesverbände unterhalten eigene Hilfszüge. Der Bundesverband hat als Dachverband überwiegend Koordinations- und InitiativFunktionen für das gesamte DRK wahrzunehmen. Sein operativer Schwerpunkt ist die Auslandsarbeit. Als weitere Organisationen im DRK-Verbund sind noch die Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz zu nennen, die überwiegend Krankenhäuser betreiben und die Ausbildung von Krankenschwestern in verbandseigenen Schulen vornehmen. Insgesamt werden 190 verschiedene Tätigkeitsfelder vom DRK abgedeckt. Die wichtigsten davon werden in Gruppen zusammengefasst und - soweit dies möglich ist - in ihrer quantitativen Bedeutung dargestellt. Soziale Dienste Bei den sozialen Diensten handelt es sich um einen sehr breit angelegten Aufgabenbereich des DRK. Es gibt hier eine große Vielfalt von stationären Betreuungseinrichtungen und ambulanten Dienstleistungsangeboten. Altenhilfe: Für alte Menschen unterhält das DRK 810 vollstationäre Einrichtungen mit 40.000 Plätzen. Unter anderem handelt es sich dabei um 256 Pflegeeinrichtungen (21.100 Plätze), 103 Altenwohnheime (9.800 Plätze) und 280 Einrichtungen für betreutes Wohnen (7.500 Plätze). Außerdem gibt es 456 Altentages- und Begegnungsstätten. Ferner bestehen Hilfsangebote wie Einkaufs- und Haushaltshilfen, Besuchsdienste, betreutes Reisen und „Essen auf Rädern". DRK-Sozialstationen übernehmen die ambulante Pflege von alten Menschen, die sich nicht mehr voll allein versorgen können, fuhren Fahrdienste durch und bieten einen Hausnotrufdienst an. Insgesamt betreibt das DRK mehr als 800 Sozialstationen. Behindertenhilfe: Das DRK besitzt 128 Heime mit 2.500 Plätzen für die Betreuung von Behinderten. Die Tätigkeit und Ausbildung von Behinderten erfolgt in Tagesstätten und Werkstätten. Das DRK verfügt über 24 solcher Einrichtungen. Von großer Bedeutung ist auch der Behinderten-Fahrdienst. Viel in Anspruch genommen werden auch Begegnungsstätten für Behinderte.

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

289

Familienhilfe: Für Familien, Kinder und Jugendliche sowie für Personen mit sozialen Schwierigkeiten hält das DRK eine breite Palette von Hilfsangeboten bereit. Familienarbeit findet dabei vor allem in Form von Beratungen für Familienplanung, für Alleinerziehende sowie für überschuldete Haushalte statt. Das DRK betreibt 1.050 Kindergärten und Kindertagesstätten für behinderte Kinder mit 69.000 Plätzen. Für Jugendliche werden Freizeiteinrichtungen, soziale Trainingskurse und Berufshilfen angeboten. Das Jugendrotkreuz organisiert den Schulsanitätsdienst, Jugenderholungsmaßnahmen sowie Begegnungen in- und ausländischer Jugendgruppen. Für Personen in speziellen Notsituationen stehen Unterkünfte für Obdachlose, Tagestreffs und Frauenhäuser zur Verfugung. Bedürftige können sich in den Kleiderkammern bedienen. Außerdem gibt es Beratungsdienste für Krebskranke, für chronisch Kranke und für Suchtabhängige. Migrationsarbeit: Im Rahmen der Migrationsarbeit betreibt das DRK Erstaufhahmeeinrichtungen für Asylsuchende und Spätaussiedler sowie Wohnheime für Flüchtlinge. Insgesamt stehen 90 Einrichtungen mit ca. 10.000 Plätzen zur Verfügung. Darüber hinaus werden Beratungsstellen fur diese Bevölkerungsgruppen unterhalten. In großem Umfang führt das DRK auch Integrationsprojekte für ausländische Jugendliche durch. Zivil- und Katastrophenschutz

Als staatlich anerkannte Nationale Hilfsgesellschaft wirkt das DRK im Zivil- und Katastrophenschutz der Bundesrepublik Deutschland mit. Die Mitwirkung ist gemäß den Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung zwingend erforderlich. Sie findet dementsprechend in der bundesdeutschen Gesetzgebung im Zivilschutzgesetz des Bundes und in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder ihren Niederschlag. Das DRK erfüllt seine diesbezüglichen Verpflichtungen insbesondere mit seinen ehrenamtlichen Einsatzkräften im Sanitätsdienst und im Betreuungsdienst. Der Sanitätsdienst wird bei öffentlichen Veranstaltungen und in Katastrophenfällen eingesetzt. Der Betreuungsdienst dient der Sicherung von Verpflegung, Unterkunft und sozialer Betreuung. Ein technischer Dienst sorgt bei Katastrophen für die Errichtung von Notunterkünften und die Aufbereitung von Trinkwasser. Diese Dienste können auch von Seiten der Bundeswehr eingesetzt werden. Derzeit verfügt das DRK über rund 200.000 aktive Katastrophenschutzhelfer, die sich aus den Bereitschaften vor allem im Sanitätsdienst (97.000 Helfer), der Bergwacht (8.000 Helfer), der Wasserwacht (60.000 Helfer), dem Jugendrotkreuz (29.000 Helfer) und der Sozialarbeit (7.000 Helfer) rekrutieren. Für Wehrpflichtige besteht die Möglichkeit, sich durch den Einsatz im Zivil- und Katastrophenschutz des DRK freistellen zu lassen. Neben der Mitwirkung im staatlichen Zivil- und Katastrophenschutz unterhält das DRK für überregionale Großschadensereignisse neun dezentral stationierte mobile Einsatzeinheiten, die so genannten Hilfszüge. Die Hilfszüge sind personell und materiell in der Lage, 10.000 Betroffene unterkunftsmäßig, verpflegungsmäßig und medizinisch zu versorgen.

290

Manfred

Willms

Das DRK sorgt für die Ausbildung der Helfer im Zivil- und Katastrophenschutz und nimmt an den entsprechenden Übungen teil. Darüber hinaus führt das DRK in großem Umfang Erste-Hilfe-Kurse für die Bevölkerung und spezielle Helfer-Lehrgänge in Betrieben durch. Im Jahre 2002 nahmen weit über eine Million Menschen an den ErsteHilfe-Kursen des D R K teil. Krankenhäuser Im DRK-Verbund werden 53 Krankenhäuser mit ca. 10.000 Betten betrieben. 35 davon sind Akut-Krankenhäuser, 15 sind Spezial-Krankenhäuser und bei drei handelt es sich um Rehabilitations-Kliniken. 22 Krankenhäuser befinden sich in der Trägerschaft von Landesverbänden, 13 von DRK-Schwestemschaften, vier von Kreisverbänden und 14 haben gemischte Träger. Als Rechtsformen sind gemeinnützige G m b H ' s (26), eingetragene Vereine (21) und Stiftungen (6) vertreten. Rettungsdienst Das DRK sieht den Rettungsdienst und den qualifizierten Krankentransport als integrale Organisationseinheit an. Dabei wird der Rettungsdienst - der vor allem ein Unfallrettungsdienst ist - für die rechtlich zuständigen staatlichen Stellen (Länder, Kreise und Kommunen) durchgeführt. Das DRK betreibt bundesweit 92 Rettungsleitstellen und 1.434 Rettungswachen. Es sind 2.100 Rettungswagen, 1.800 Krankentransportwagen und über 700 Notarztwagen im Einsatz. Im Jahre 2002 sind 5,5 Mio. Einsätze gefahren worden. Das Personal für den Rettungsdienst wird in DRK-eigenen Rettungsschulen ausgebildet. Blutspendedienst Die DRK-Blutspendedienste sind gemeinnützige Einrichtungen der Landesverbände. 2002 gab es noch acht eigenständige Gesellschaften. Durch Fusionen hat sich diese Zahl inzwischen auf fünf Gesellschaften verringert. 182 Entnahmeteams haben 2002 bei über 43.000 Blutspendeterminen 3,6 Mio. Blutspenden entgegen genommen. Die Blutspende wird dabei unentgeltlich geleistet. Aus diesem Grund sind die Preise für Blutprodukte in Deutschland relativ niedrig. Die Blutspendedienste gewinnen die Blutprodukte unter erheblichem wissenschaftlichtechnischem Aufwand. Die wichtigsten Produkte sind Erythrozyten-Konzentrate, Thrombozyten-Konzentrate und Plasmaprodukte. Sie dienen der Versorgung der Bevölkerung in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen. Plasma, das vom DRK selbst nicht verwertet werden kann, wird an die Pharmazeutische Industrie geliefert. Suchdienst Das DRK ist im Rahmen der Auftragsverwaltung des Bundes für die hoheitlichen Aufgaben des Suchdienstes in Deutschland zuständig. Eine Suchdienstgruppe ist in

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

291

München, eine andere in Hamburg angesiedelt. Daneben besteht ein bundesweites Netzwerk von 340 Auskunftsbüros in den DRK-Kreisverbänden. Die Aufgabengebiete des Suchdienstes sind der Nachforschungsdienst, das Auskunftswesen und die Familienzusammenführung. Im Rahmen des Nachforschungsdienstes geht es vor allem um die Klärung des Schicksals von Verschollenen des Zweiten Weltkriegs. Der DRK-Suchdienst führt ein Verzeichnis von 1,8 Mio. verschollenen Soldaten, 440.000 verschollenen Zivilgefangenen und 300.000 vermissten Kindern. Bisher konnten 1,2 Mio. Schicksale aufgeklärt werden. Mit der Öffnung der Archive in der Russischen Föderation, zu denen das DRK Zugang hat, besteht die Chance, einen erheblichen Teil der noch ungeklärten Fälle zu lösen. Das Auskunftswesen umfasst die Nachforschung nach vermissten Personen im Zusammenhang mit Katastrophen und Konflikten. Diesbezüglich war der Suchdienst während der Elbe-Flut im August 2002 und nach dem Iran-Erdbeben im Dezember 2003 aktiv. Im ersten Falle wurden 47.000 Suchanfragen bearbeitet und im zweiten Falle ging es vor allem um Anfragen von in Deutschland lebenden Iranern über den Verbleib ihrer Angehörigen. Die Iran-Anfragen konnten zügig in Zusammenarbeit mit dem Iranischen Roten Halbmond geklärt werden. Der Bereich Familienzusammenführung betrifft in erster Linie die Betreuung von Spätaussiedlern aus mittel- und osteuropäischen Staaten, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. Seit 1955 hat der DRK-Suchdienst 4,2 Mio. Personen geholfen. Internationale Zusammenarbeit Das herausragende Merkmal der Internationalen Rotkreuzarbeit ist das vorhandene Netzwerk einer Hilfsstruktur von 181 anerkannten Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Aufgrund der internationalen Statuten ist jede Nationale Rotkreuzgesellschaft verpflichtet, bei Hilfeersuchen von Schwestergesellschaften in Katastrophenfällen und sonstigen Notlagen Hilfe zu leisten. Schwerpunkt der Auslandsarbeit des DRK ist dementsprechend die schnelle Hilfe bei Naturkatastrophen und bewaffneten Konflikten. Aber auch langfristig angelegte Hilfsprogramme wie die Bekämpfung von HIV/Aids oder die Betreuung von Straßenkindern gehören zum Programm des DRK. Darüber hinaus unterstützt das DRK den Ausbau Nationaler Rotkreuzgesellschaften in weniger entwickelten Ländern. Für die Auslandsarbeit des DRK ist satzungsgemäß ausschließlich der Bundesverband zuständig. In Abstimmung mit dem Bundesverband können aber auch Landesverbände und Kreisverbände und sogar Ortsvereine Hilfe im Ausland leisten. Der Bundesverband fuhrt seine Hilfsaktionen überwiegend in eigener Regie durch. Ein Teil der für die Auslandshilfe zur Verfügung stehenden Spendenmittel und öffentlichen Zuwendungen wird aber auch an die beiden Genfer Rotkreuz-Organisationen für deren Hilfsaktivitäten weitergeleitet. 5. Finanzierung des Deutschen Roten Kreuzes Ähnlich komplex wie die Organisationsstruktur und die Tätigkeitsfelder des DRK sind, ist auch die Finanzierung.

292

Manfred Willms

Unterscheiden lassen sich folgende Finanzierungsquellen: 1. 2. 3. 4.

Eigenmittel, Spenden, Leistungsentgelte und Zuwendungen der öffentlichen Hand.

Eigenmittel

Zu den Eigenmitteln des DRK zählen neben den Mitgliedsbeiträgen die Erträge aus freien Finanzanlagen, zweckfreie Erbschaften und Umlagen bei eigenen Einrichtungen. Die Mitgliedsbeiträge fallen auf der Ortsvereinsebene oder, wo es keine Ortsvereine gibt, auf der Kreisverbandsebene an. In den meisten Ortsvereinen beträgt der Mindestbeitrag 18,00 € pro Jahr. Der durchschnittlich gezahlte Beitrag dürfte allerdings bei mindestens 30,00 € liegen. Der größte Teil der auf der Ortsvereinsebene vereinnahmten Mitgliedsbeiträge verbleibt für die Arbeit vor Ort. Ein nicht unwesentlicher Teil, nämlich meist 50 % des Mindestbeitrags wird an die Kreisverbände weitergeleitet. Die Kreisverbände ihrerseits leiten einen Teil an die Landesverbände weiter, und die Landesverbände finanzieren daraus ihrerseits ihre Beiträge an den Bundesverband. Der Bundesverband erhält aus den Mitgliedsbeiträgen 2004 3,8 Mio. €. Seine Beiträge an die beiden Internationalen Rotkreuz-Organisationen belaufen sich auf 3,4 Mio. €. Zu den Eigenmitteln zählen auch die Zinserträge aus Wertpapieranlagen und Festgeldkonten, sofern es sich hierbei nicht um Finanzanlagen von noch nicht verausgabten zweckgebundenen Spenden handelt. Zinserträge aus zweckgebundenen Spenden werden voll dem festgelegten Verwendungszweck zugeordnet. Verbände, die über eigene Einrichtungen verfügen, erheben häufig bei diesen eine Umlage zur teilweisen Deckung ihrer allgemeinen Verwaltungskosten. Eine solche Umlage ist ebenfalls Bestandteil der Eigenmittel. Darüber hinaus stellen Einnahmen aus zweckfreien Erbschaften und Erträge aus dem Verkauf von Wohlfahrtsbriefmarken Eigenmittel dar. Spenden

Für das Rote Kreuz sind Spenden von sehr großer Bedeutung. Sie werden auf allen Ebenen des DRK eingeworben. Von den Kreisverbänden werden Haus- und Straßensammlungen durchgeführt. Außerdem finden auf dieser Ebene Altkleidersammlungen statt, die teilweise über Kleiderkammern direkt an Bedürftige verteilt werden und deren Restbestände an kommerzielle Verwertungsunternehmen verkauft werden. Die Nettoeinnahmen von ca. 10 Mio. € pro Jahr verbleiben auf der Kreisverbandsebene. Vom Bundesverband werden vier- bis sechsmal im Jahr Brief-Aktionen zum Spendensammeln durchgeführt. 85 % des Nettoertrags der Spendenaufrufe werden gemäß dem föderativen Prinzip an die Landes- und Kreisverbände ausgeschüttet. Die restlichen

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

293

15 % verbleiben beim Bundesverband. Das diesbezügliche Spendenaufkommen beträgt insgesamt netto ca. neun bis zehn Mio. € im Jahr. Es stellt bisher eine relativ stabile Einnahmequelle dar. Neben den routinemäßigen Spendenaufrufen führt der Bundesverband vor allem über die Medien Spendenaktionen aus besonderen Katastrophenanlässen wie Erdbeben, Uberschwemmungen oder Dürrekatastrophen sowie bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder Massenkrankheiten wie Aids durch. Das hieraus resultierende Spendenaufkommen unterliegt starken Schwankungen. Die Vorhaltekosten für die ständige Bereithaltung der Hilfsinfrastruktur in Form von Zelten, Decken, Betten, Wasseraufbereitungsanlagen, Fahrzeugen und Organisationspersonal sind jedoch beträchtlich. Aus diesem Grunde werden 10% des zweckgebundenen Spendenaufkommens für die Finanzierung der diesbezüglichen Fixkosten einbehalten. Im langjährigen Durchschnitt erhält der Bundesverband jährlich ca. 20 Mio. € zweckgebundene Spenden. Bei besonders wahrgenommenen Naturkatastrophen kann das Spendenvolumen jedoch erheblich ansteigen. So betrug das Spendenaufkommen des DRK bei dem Erdbeben in Armenien 1988 39 Mio. €, bei der Oder-Flut 1997 37 Mio. € und bei der Elbe-Flut 2002 sogar 146 Mio. €. Bei der Elbe-Flut flössen dem DRK 60 % der insgesamt an die Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen für diesen Zweck gespendeten Mittel zu. Leistungsentgelte

Leistungsentgelte fallen vor allem in den sozialen Einrichtungen des DRK wie den Alten- und Pflegeheimen, den Krankenhäusern und Rehabilitations-Einrichtungen, den Behinderteneinrichtungen und den Kindertagesstätten an. Außerdem werden Leistungsentgelte im Rettungs- und Krankentransportwesen erzielt. Gezahlt werden die Leistungsentgelte in erster Linie von den Krankenkassen, der Pflegekasse, den Trägern der Sozialhilfe oder direkt von der öffentlichen Hand. Den Zahlungen liegen in der Regel Vereinbarungen zwischen dem Träger der Einrichtung, also dem jeweiligen DRK-Verband bzw. den inzwischen zahlreichen gemeinnützigen DRK-GmbH's und dem Kostenträger zugrunde. Da die DRK-Einrichtungen fast ausschließlich von der Kreis- und Landesebene sowie von den Schwesternschaften unterhalten werden, sind diese bzw. deren GmbH's auch die Empfänger der Leistungsentgelte. Die Bundesebene erhält nur in geringem Umfang Leistungsentgelte, wie z. B. für den Flugdienst oder die Altenpflegeausbildung. Zuwendungen der öffentlichen Hand

Öffentliche Zuwendungen sind Ausgaben und Verpflichtungen der öffentlichen Hand an Stellen außerhalb der öffentlichen Verwaltung zur Erfüllung bestimmter Zwecke. Sie werden für bestimmte Projekte oder Vorhaben auf der Grundlage von konkreten Zuwendungsanträgen gewährt. Zuwendungscharakter haben auch die Erträge aus Lotterien, wie z. B. der Glücksspirale. Diese Mittel werden ebenfalls für bestimmte Projekte auf der Grundlage von Anträgen gewährt.

294

Manfred Willms

Das DRK erhält Zuwendungen in Form von Investitionszuschüssen für seine Einrichtungen sowie zur Durchführung von Projekten der Sozialarbeit. Auf der Ebene des Bundesverbandes wird der Suchdienst vollständig aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern finanziert. Das Innenministerium gewährt auch Zuwendungen für die ErsteHilfe-Ausbildung und für die Betreuung von Zuwanderem. Das Jugendrotkreuz erhält vom Familien-Ministerium Mittel aus dem Bundesjugendplan. Im Bereich der Auslandsarbeit werden Zuwendungen für konkrete Katastrophenfälle und für medico-soziale Entwicklungsprojekte in der Regel beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, beim Auswärtigen Amt und bei der Europäischen Union beantragt. Die Bewilligungen schwanken sehr stark in Abhängigkeit von der jeweiligen Katastrophe, der politischen Schwerpunktsetzung und der Verfügbarkeit von Finanzmitteln. Von Seiten der Ministerien wird bei diesen Projekten fast immer eine Eigenbeteiligung des DRK erwartet. Hierzu werden Eigenmittel oder auch zweckgebundene Spenden eingesetzt. Finanzierungsstruktur

Insgesamt dürfte sich die aggregierte Finanzierung des DRK über alle Ebenen hinweg nicht allzu sehr von der Finanzierungsstruktur der Gesamtheit der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege unterscheiden. Diese wird in Tabelle 2 mit Daten für das Jahr 1996 dargestellt. Im Jahre 1996 lag der Anteil der Mitgliedsbeiträge an den Gesamteinnahmen der Freien Wohlfahrtsverbände bei 1 % und der Anteil der Spenden bei 3,7 %. Bedeutendste Einnahmequelle waren mit 73,2 % die Leistungsentgelte. Der mit Abstand größte Teil wurde hierbei von den gesetzlichen Sozialversicherungskassen und den Sozialleistungsträgern bereit gestellt. Der Anteil der von privaten Haushalten gezahlten Leistungsentgelte, einschließlich der Privaten Krankenversicherung, belief sich lediglich auf 5,7 % der Gesamteinnahmen. Die Zuwendungen der öffentlichen Hand erreichten 22,1 %. Insgesamt sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege damit zu 90 % direkt oder indirekt von öffentlichen Kassen abhängig. In Tabelle 2 sind der Geldwert unbezahlter ehrenamtlicher Tätigkeit und der Wert der Arbeit von Zivildienstleistenden nicht berücksichtigt worden. Nach Berechnungen in der als Quelle genannten Studie belief sich ihr Wert 1996 auf 7,2 Mrd. € und entspricht somit etwa einem Sechstel der geldmäßig erfassten Erträge. Da es wegen des föderalen Aufbaus des DRK nicht möglich ist, die Finanzierungsstruktur des Gesamtverbandes aufzuzeigen, soll statt dessen auf die Daten des Bayerischen Roten Kreuzes zurückgegriffen werden. Diese Daten besitzen insofern einen hohen Repräsentativwert, als das Bayerische Rote Kreuz als einziger Landesverband einen aggregierten Jahresabschluss für sämtliche in seinem Gebiet tätigen Einzelverbände erstellt. Die Daten für das Jahr 2002 werden in Tabelle 3 wiedergegeben. Es zeigt sich, dass die Leistungsentgelte beim Bayerischen Roten Kreuz mit 82,3 % eine noch größere Rolle spielen als bei der Gesamtheit der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, wo ihr Anteil bei 73,2 % lag. Dagegen fallen die Zuschüsse der öffentlichen Hand beim Bayerischen Roten Kreuz mit 5,7 % anteilsmäßig erheblich niedriger aus als beim Durchschnitt der Wohlfahrtsverbände mit 22,1 %. Ein Teil dieses Unterschiedes kann aus der zwischenzeitlich erfolgten Rückführung von Zuwendungen im

Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation

295

Gesundheits- und Sozialbereich resultieren. Der mit 5,5 % relativ hohe Anteil an Mitgliedsbeiträgen und Spenden ist Ausdruck der starken mitgliedermäßigen Verankerung des Bayerischen Roten Kreuzes in der Bevölkerung. Tabelle 2: Finanzierungsstruktur der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege 1996 Mitgliedsbeiträge Spenden Leistungsentgelte • Sozialversicherung und Sozialleistungsträger • Private Haushalte Zuwendungen der öffentlichen Hand Summe

Mrd. € 0,5 1,6

%-Anteil 1,0 3,7

30,2

67,5

2,6 9,9

5,7 22,1

44,8

100

Quelle: Ottnad, Α., S. Wahl und M. Miegel (2000, S. 32).

Tabelle 3: Finanzierungsstruktur des Bayerischen Roten Kreuzes (Gesamtverband) 2002 Mitgliedsbeiträge und Spenden Zins- und Vermietungserträge Leistungsentgelte Zuschüsse für satzungsmäßige Aufgaben und Investitionen Sonstige Erträge Summe

Mio. € 50,1 15,6 747,7 51,5

%-Anteil 5,5 1,7 82,3 5,7

43,9 908,8

4,8 100

Quelle: Bayerisches Rotes Kreuz.

6. Wirtschaftliche Bedeutung des Deutschen Roten Kreuzes Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung eines Unternehmens oder Sektors lässt sich in der Regel am besten durch seinen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt aufzeigen. Für die Wohlfahrtsverbände ist die Aussagefahigkeit dieses Konzepts allerdings dadurch eingeschränkt, dass in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nur geldmäßig abgewickelte Leistungsströme erfasst werden. Ein Spezifikum der Wohlfahrtsverbände besteht jedoch darin, Dienstleistungen von Ehrenamtlichen zu generieren, die unentgeltlich tätig sind oder nur ein geringes Entgelt, wie die Zivildienstleistenden, erhalten. Die tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung der Wohlfahrtsverbände ist somit größer als dies in den Wertschöpfungsdaten zum Ausdruck kommt. Ein weiteres Problem ist, dass die Wertschöpfungsdaten fur den Bereich der sozialen Dienstleistungen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht explizit ausgewiesen werden. Sie müssen mit großem Aufwand gesondert errechnet werden. Die umfangreichsten Berechnungen sind in der Studie „Zwischen Markt und Mildtätigkeit" vorgenommen worden (Ottnad, Wahl und Miegel 2000). In dieser Studie wurden Daten für

296

Manfred Willms

die sechs in der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege" zusammenarbeitenden Freien Wohlfahrtsverbände ermittelt: Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Caritasverband (DCV), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Der Paritätische), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Diakonisches Werk (DW) und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Diese sechs Verbände sind die wichtigsten Anbieter von Hilfsmaßnahmen und sozialen Dienstleistungen in Deutschland. Ihre Bruttowertschöpfung ist - in Preisen von 1999 gerechnet - von 8,2 Mrd. € 1970 auf 34,3 Mrd. € 1996 wesentlich stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrug 1970 0,8 % und 1997 1,9 % (Ottnad, Wahl und Miegel 2000, S. 57). Hierbei ist allerdings nur die durch Erwerbsarbeit erbrachte Wertschöpfung erfasst. Gemessen am Produktionswert hatten die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege 1996 mit 42 % denselben Marktanteil wie 1970. Marktanteile verloren hat in dieser Periode vor allem der öffentliche Bereich, während private Anbieter ihren Anteil beträchtlich ausdehnen konnten. Dieser Trend dürfte sich inzwischen weiter verstärkt haben. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege konkurrieren in fast allen Marktsegmenten mit privaten Anbietern und in einigen Marktsegmenten auch mit öffentlichen Anbietern. Darüber hinaus besteht aber auch ein intensiver Wettbewerb zwischen den Freien Wohlfahrtsverbänden selbst. Meist historisch gewachsen haben die einzelnen Verbände jedoch Tätigkeitsbereiche entwickelt, in denen sie eine hohe Kompetenz und eine starke Marktstellung haben. Beim DRK liegen die besonderen Kompetenzen im Aufgabenfeld der Hilfsgesellschaft, aber auch im Suchdienst, im Zivil- und Katastrophenschutz, in der Auslandshilfe, in der Flüchtlingshilfe, im Blutspendedienst und im Rettungsdienst. Das DRK ist die einzige Organisation, die von der Bundesregierung mit dem Suchdienst betraut wurde. Die Kosten des Suchdienstes werden voll vom Bundesministerium des Innern getragen. Sie betrugen 2002 19,4 Mio. €. Beschäftigt werden 245 Mitarbeiter. Im Zivil- und Katastrophenschutz hält das DRK eine personelle und materielle Infrastruktur vor, wie sie keine andere Hilfsorganisation besitzt. Für den Unterhalt der Hilfszüge werden jährlich ca. 2 Mio. € ausgegeben. Diese Kosten werden vom DRK aus Eigenmitteln finanziert. Hinzu kommen die Ausgaben für die Ausbildung und das Training der vielen Ehrenamtlichen. In der Auslandshilfe und in der Flüchtlingshilfe arbeitet das DRK nicht zuletzt aufgrund seiner Einbindung an das internationale Netzwerk der Rotkreuz- und Rothalbmond-Organisationen effizient und schnell. Dementsprechend nimmt das DRK auch hier eine bedeutende Marktstellung ein. Allein vom Bundesverband wurden für diese Zwecke 2002 28,5 Mio. € zur Verfugung gestellt. Im Blutspendedienst wird mit 3.800 Vollzeitbeschäftigten ein Umsatz von 470 Mio. € (2002) erzielt. Es werden ca. 3,6 Mio. Blutspenden pro Jahr entnommen. Der Marktanteil des DRK in der Versorgung der Bevölkerung mit Blutprodukten liegt bei ca. 70 %. Wettbewerber sind kommunale und universitäre Blutspendedienste sowie in letzter Zeit auch gewerbliche Unternehmen. Im Rettungsdienst, der die Notfallrettung und den Krankentransport umfasst, sind beim DRK 16.500 Hauptamtliche, 8.800 Ehrenamtliche und 3.000 Zivildienstleistende tätig. Insgesamt wurden 2002 5,5 Mio. Einsätze gefahren. Bei Durchschnittskosten von 230,00 € pro Einsatz ergibt sich schätzungsweise ein Umsatzerlös von 1,3 Mrd. €. Das DRK ist mit einem Marktanteil von etwas unter 50 % Marktführer

Das Rote Kreuz als humanitäre Hilfsorganisation

297

im Rettungsdienst. Der größte Wettbewerber sind die Feuerwehren. Mitanbieter sind, neben der Diakonie und der Caritas, auch der Arbeitersamariterbund (ASB), die Johanniterunfallhilfe (JUH) und die Malteserunfallhilfe. In den Bereichen der sozialen Dienstleistungen hat das DRK zwar keine unbedeutende, aber auch keine überragende Marktposition. Dies wird unmittelbar in Tabelle 4 sichtbar, wo die Anzahl der von den großen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, der öffentlichen Hand und privaten Trägern betriebenen Krankenhäuser, Altenwohnund Pflegeheime, Behindertenwerkstätten sowie die insgesamt bei den großen Wohlfahrtsverbänden Beschäftigten aufgezeigt werden. Tabelle 4: Ausgewählte Tätigkeitsfelder der Träger sozialer Dienstleistungen 2002 Träger

Krankenhäuser und Altenwohn- und Reha-Kliniken Pflegeheime Anzahl

Freie Wohlfahrtspflege davon: Caritas Diakonie DRK AWO ASB Paritätischer

431 318 53 26 0 136 344

Öffentliche Hand

941

Sonstige Ingesamt

Anzahl

Anzahl

Vollzeitstellen

1.779 1.515 360 690 169 861

750 1.078 152 327 88 2.020

468.300 558.700 91.100 96.900 16.400 keine Angabe

1.308

Sonstige

Private

Behindertenwerkstät- Mitarbeiter ten und -Wohnheime

unbekannt

unbekannt

unbekannt

659

195

unbekannt

1.270

2.512

392

unbekannt

245 3.764

unbekannt

unbekannt

unbekannt

Quelle: Daten der Freien Wohlfahrtspflege: Verbandsveröffentlichungen. Krankenhaus-Daten: Deutsche Krankenhausgesellschaft. Daten über Heime: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Heimstatistik. Mitarbeiter-Daten: Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege - Jahresstatistik 2002. Im Bereich der Krankenhäuser und Reha-Kliniken beschäftigen die 53 Einrichtungen des DRK und der DRK-Schwesternschaften 11.500 Vollzeitmitarbeiter, darunter 1.500 Ärzte und 4.500 Pflegepersonal. Bei insgesamt ca. 3.700 in Deutschland vorhandenen Krankenhäusern, einschließlich Fachkliniken und Reha-Kliniken mit ca. 800.000 Vollzeitstellen ist der Marktanteil des DRK von geringer Bedeutung. Neben den von Kommunen oder Kreisen betriebenen 941 Krankenhäusern sind von den frei gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden die Caritas mit 431 und die Diakonie mit 318 Häusern traditionell stark in diesem Bereich vertreten. Vor allem in jüngster Zeit befinden sich private

298

Manfred

Willms

Krankenhausträger in bemerkenswerter Expansion. Sie haben zahlreiche Krankenhäuser der öffentlichen Hand übernommen und sind inzwischen mit 1.270 Häusern die größten Krankenhausbetreiber geworden. Mit seinen 360 Altenwohn- und Pflegeheimen gehört das DRK ebenfalls zu den kleinen Anbietern in diesem Marktsegment. Auch hier sind die Verhältnisse ähnlich wie im Krankenhaussektor. Neben kommunalen Einrichtungen sind die Diakonie mit 1.915 und die Caritas mit 1.779 Häusern stark vertreten. Beide kirchlichen Träger haben die Zahl ihrer Einrichtungen in den letzten Jahren erhöht, während sie beim DRK annähernd unverändert geblieben ist. Private Träger sind auch in diesen Bereich nachhaltig eingedrungen und dürften auch hier inzwischen über den größten Marktanteil verfugen. Der Bereich der Behindertenwerkstätten und -Wohnheime ist traditionell stark von den Wohlfahrtsverbänden besetzt. Das DRK verfügt hier über 152 Einrichtungen, während die Mitglieder des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 2.020, die Diakonie 1.078, die Caritas 750 und die AWO 327 Werkstätten und Heime betreiben. Durch öffentliche Förderung ist der gesamte Bereich in den letzten 10 Jahren kräftig expandiert. Besonders intensiv ist dabei die Expansion von der Diakonie vorangetrieben worden, während das DRK die geringste Entwicklungsdynamik aufweist. Werden abschließend die Beschäftigtenzahlen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege betrachtet, so zeigt sich, dass das DRK auf Vollzeitstellen umgerechnet lediglich 91.100 Mitarbeiter beschäftigt, während dies bei der Diakonie 558.700, bei der Caritas 468.300 und bei der AWO 96.900 sind. Der Hauptgrund hierfür liegt darin, dass das DRK vor allem im Vergleich zu den kirchlichen Verbänden relativ wenige arbeitsintensive Einrichtungen betreibt. Der Schwerpunkt der DRK-Tätigkeit liegt im Bereich der Hilfsgesellschaft, wo der größte Teil der 355.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter zum Einsatz kommt. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des DRK ist somit größer als dies in den Anteilen an den sozialen Dienstleistungen und den hauptamtlich Beschäftigten zum Ausdruck kommt. 7. Veränderte Rahmenbedingungen und Gestaltungserfordernisse beim Deutschen Roten Kreuz Über viele Jahrzehnte arbeiteten die Wohlfahrtsverbände in Deutschland unter bequemen Bedingungen. Die Sozialversicherungsträger und die Sozialleistungsträger zahlten Leistungsentgelte, die sich an den von den Trägem der Einrichtungen nachgewiesenen Kosten orientierten. Die Ministerien gaben großzügig Zuschüsse für die institutionelle Förderung und finanzierten ein immer breiteres Spektrum von sozialen Einrichtungen und sozialen Aktivitäten. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege expandierten in einem nahezu risikolosen Umfeld. Diese Entwicklung hat dazu gefuhrt, dass 85 bis 90 % der Einnahmen direkt von der öffentlichen Hand oder indirekt von dieser über die gesetzlichen Sozialversicherungsträger kommen. Veränderte Rahmenbedingungen Die dramatische Verschlechterung der Finanzlage der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungsträger zwingt zu Eingriffen bei den Sozialausgaben, die die Verbände

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

299

der Freien Wohlfahrtspflege nachhaltig beeinflussen. Im Einzelnen sind die Verbände und damit auch das DRK mit folgenden für sie ungewohnten Sachverhalten konfrontiert: - Kürzungen von Zuwendungen der öffentlichen Hand, - Streichung von Beratungs- und Hilfsprogrammen, die von Ländern und Kommunen finanziert wurden, - Rückführung der Investitionszuschüsse für Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen usw., - statt Vollfinanzierung von Investitionen nur noch Teilfinanzierung, - nur noch mäßig steigende Leistungsentgelte und Vergütungsdeckelung bei anhaltender Kostensteigerung, - statt Pauschalvergütung leistungsbezogene Einzelfallvergütung, - Nachweis von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit bei Leistungsentgelten und öffentlichen Zuwendungen, - zunehmende Orientierung der Vergütung an den Preisen der effizientesten Leistungsträger, - zunehmende Selbstbeteiligung der Nutzer sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen, - schwierige Kreditbeschaffung und ungünstigere Konditionen bei den Banken. Mit diesen Veränderungen werden die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege mehr und mehr von der Privilegierung durch den Staat abgekoppelt. Die Folge ist ein zunehmender Wettbewerbsdruck. Der Wettbewerb erstreckt sich dabei neben der Gewinnung von Nutzern für die Einrichtungen und Dienstleistungen auch auf die Gewinnung von Mitgliedern und ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie auf die Einwerbung von Spenden. Bei den Einrichtungen und Dienstleistungen spielt der Preiswettbewerb eine immer größere Rolle. Dieser erzwingt eine nachhaltige Rationalisierung, um zum einen im Wettbewerb bestehen zu können und zum anderen um Investitionsmittel zu erwirtschaften. Anpassungs- und Gestaltungserfordernisse

Verbände, die unwirtschaftliche Strukturen aufrechterhalten und nicht in der Lage sind, Investitionskapital zu erwirtschaften, werden vom Markt verdrängt werden. Um nicht in eine derartige Situation zu kommen, müssen alle Wohlfahrtsverbände und so auch das DRK hohe Anpassungsleistungen erbringen. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Neuorientierung mit den ideellen Zielen des Verbandes in Einklang zu bringen (eine fundierte Analyse hierzu liefert Klug 1997). Im Einzelnen erfordert dies bei dem DRK: a) Trennung von Idealverein und Wirtschaftsaktivitäten

Der Idealverein bündelt alle Aktivitäten, die mit der Verbandsarbeit, den Gemeinschaften, dem Ehrenamt und den Beratungs- und Hilfsleistungen sowie dem Katastrophenschutz zu tun haben. Die stärker marktnahen Aktivitäten werden ausgegliedert. In beiden Bereichen muss dem Ausbau des Ehrenamts besondere Beachtung geschenkt werden.

300

Manfred Willms

b) Durchführung von Portfolioanalysen

Vor allem auf der Ebene der Kreisverbände sind Portfolioanalysen durchzuführen, um einen Überblick über das gesamte Leitungsangebot und seine Platzierung am Markt zu gewinnen, Schwächen und Stärken herauszuarbeiten und sich auf die Stärken zu konzentrieren. Risikoreiche Aktivitäten sollten geschlossen oder an die Landesverbandsebene abgegeben werden. Für die verbleibenden Leistungsfelder sind messbare Qualitätsstandards einzuführen. c) Gründung von Spartengesellschaften

Vor allem auf der Landesverbandsebene und landesverbandsübergreifend sind Spartengesellschaften zu gründen, die die Aktivitäten in den im Wettbewerb stehenden Marktsegmenten wie Altenhilfe- und -pflege, Behindertenhilfe, Gesundheitsdienste sowie Rettungsdienst und Krankentransport bündeln. Die Einrichtungen müssen mit modernen Managementmethoden so geleitet werden, dass sie die Kosten-, Preis- und Qualitätsführerschaft übernehmen können. Es sind Netzwerkkooperationen anzustreben, die Synergieeffekte ermöglichen. Das Ziel müssen leistungsfähige und profitable Angebotsstrukturen sein. d) Einführung neuer Finanzierungsmodelle

Zwei Veränderungen im Finanzierungsbereich beeinflussen die Wohlfahrtsverbände fundamental: Die Rückführung der öffentlichen Investitionszuschüsse und das neue Kreditrating der Banken (Basel II). Die Rückführung der öffentlichen Zuschüsse erzwingt bei Investitionen höhere Eigenmittel, und das neue Kreditrating dürfte die Finanzierung verteuern oder gar zu einer Ablehnung von Kreditanträgen führen. Um Erweiterungs- oder Renovierungsinvestitionen durchführen zu können, müssen neue Wege der Finanzierung gegangen werden, wie die Einbringung von Immobilien in Fonds, die Begebung von eigenen Anleihen und die verstärkte Einwerbung von Stiftungskapital. e) Wissensentwicklung und -transfer

Der Bundesverband entwickelt in enger Kooperation mit den Landesverbänden Analysen über die zu erwartende Marktentwicklung, über Innovationsprozesse und über neue Managementmethoden (Balanced score card, Controlling). Die Landesverbände versuchen, diesbezügliche Überlegungen auf der Kreisverbandsebene umzusetzen. Die innerverbandliche Verbreitung von erlerntem Wissen sollte durch eine Wissensbörse verstärkt werden. f) Klare Funktionsabgrenzung zwischen Vorstand und Management

Die Spartengesellschaften erhalten die notwendige Autonomie zur eigenständigen Wirtschaftsführung. Die ehrenamtlichen Vorstände oder Präsidien der Verbände geben der Geschäftsführung klare Vorgaben über die strategischen Ziele in den einzelnen Tä-

Das Rote Kreuz als humanitäre

Hilfsorganisation

301

tigkeitsfeldem. Sie schließen hierüber mit den Geschäftsführern Zielvereinbarungen ab. Die operative Durchführung obliegt der Geschäftsführung. Die Vorstände oder Präsidien mischen sich nicht in das operative Geschäft ein, sondern beschränken sich auf die Aufsichtstätigkeit. g) Herbeiführung wettbewerbsfähiger Arbeitskosten

Die hauptamtlichen Mitarbeiter des DRK werden in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif (BAT) entlohnt und sind gleichzeitig beim Versorgungswerk des Bundes und der Länder (VBL) zusatzversichert. Der überhöhte BAT-Tarif und der extrem starke Anstieg der VBL-Beiträge hat zu Lohnkosten geführt, die die vergleichbaren Lohnkosten von privaten Anbietern sozialer Dienstleistungen um ca. 8 % übersteigen. Die Beseitigung dieses Wettbewerbsnachteils ist eine der dringendsten Aufgaben der Leitungsebene des DRK. Ohne eine diesbezügliche Anpassung wird das DRK Marktanteile und Arbeitsplätze verlieren. h) Beachtung der Europäisierung der Sozialwirtschaft

Das Voranschreiten der europäischen Integration erfasst nach und nach auch den Bereich der sozialen Dienstleistungen. Die deutschen Anbieter müssen sich darauf einstellen, dass Sozial- und Gesundheitsleistungen vor allem in der erweiterten Union vermehrt aus dem europäischen Ausland angeboten werden. Für das DRK muss dieser Prozess nicht nur zusätzliche Risiken beinhalten, sondern kann auch neue Chancen durch länderübergreifende Kooperationen beinhalten. Von Bedeutung sind auch die Auswirkungen der EU-Gesetzgebung auf die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege im Allgemeinen und auf das DRK im Speziellen. Hier gilt es, nachteilige Entwicklungen für die deutsche Sozialwirtschaft bereits im Vorfeld zu verhindern. Konkret bedeutet dies, über Kontakte zur EU-Bürokratie und zu den EU-Parlamentariern rechtzeitig Informationen über geplante Gesetze zu beschaffen, auf negative Auswirkungen aufmerksam zu machen und entsprechende Korrekturen zu erreichen. Umsetzungsprobleme Die Umsetzung einer stärker marktwirtschaftlichen Orientierung in einem Verband, der traditionell von dem Gedanken der freiwilligen Hilfe geprägt ist, und das Einbringen von Elementen einer übergreifenden Steuerung stellen bei der traditionell föderalen Ausrichtung eine schwierige Aufgabe dar. Beides lässt sich nur auf freiwilliger Basis, z. B. durch parallele Förderung des Ehrenamtes und durch Entwicklung von erfolgreichen Pilotprojekten erreichen. In jedem Falle erfordert die Umsetzung eine intensive Mobilisierung der Mitarbeiter. Literatur Dunant, H. (1862), Eine Erinnerung an Solferino, Neuausgabe herausgegeben vom Schweizerischen Roten Kreuz, Zürich 1961. Gruber, W. (1985), Das Rote Kreuz in Deutschland, Wiesbaden.

302

Manfred Willms

Haug, H. (1991), Menschlichkeit für alle. Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes, Bem und Stuttgart. Hüdepohl, A. (1996), Organisationen der Wohlfahrtspflege. Eine ökonomische Analyse ausgewählter nationaler und internationaler Institutionen, Berlin. Klug, W. (1997), Wohlfahrtsverbände zwischen Markt, Staat und Selbsthilfe, Freiburg im Breisgau. Ottnad, Α., S. Wahl und M. Miegel (2000), Zwischen Markt und Mildtätigkeit. Die Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege für Gesellschaft, Wirtschaft und Beschäftigung, München. Schlägel, A. (1982), Neuaufbau des Deutschen Roten Kreuzes nach dem Π. Weltkrieg. Geschichte des DRK 1945-1950, Bonn. Schlägel, A. (1992), Unter Nazi-Kuratel, in: Rotes Kreuz, Heft 5, S. 32.

Kurzbeitrag

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor

Manfred J.M. Neumann

Inhalt 1. Vorbemerkung

304

2. Reform des Arbeitsmarktes

305

3. Reform des Gesundheitswesens

311

Literatur

314

304

Manfred J. M. Neumann

1. Vorbemerkung Wir leben in Zeiten eines äußerst geringen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts, ja der Stagnation. Das gilt für Deutschland, weniger für andere Länder. Wie aus der folgenden Tabelle zu ersehen ist, haben natürlich die USA, aber auch das unter dem Stichwort der ,Deflation' gern bemitleidete Japan, ein wesentlich kräftigeres Wachstum zu verzeichnen als Deutschland. Die Schwäche der deutschen Volkswirtschaft ist nicht gottgegeben, sondern zur Hauptsache die Folge sozialpolitischer Erstarrung. Umso wichtiger wird es, grundändernde Reformen dieser Institutionen durchzusetzen. Anders lassen sich auf mittlere Sicht die Wachstumskräfte kaum stärken. Wer stattdessen auf wirtschaftliche Belebung durch die Weltkonjunktur setzt, baut letztlich auf Sand. Es geht nicht um konjunkturelle Belebung, sondern um einen dem Wachstum günstigen Umbau von Institutionen. Wenn man heute nach Reformerfolgen der letzten Jahre fragt, dann muss man lange nachdenken, zumal die rot-grüne Bundesregierung Ende 1998 damit startete, Reformschritte der vorhergehenden Regierung rückgängig zu machen. Inzwischen hat man gelernt, dass es besser wäre, Rückgängiggemachtes wieder rückgängig zu machen. Tabelle 1: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Prozent

2000

2001

2002

2003

Normal Deutschland

1,5-2

2,9

0,8

0,2

-0,1

Eurozone

2-2,5

3,5

1,6

0,9

0,4

USA

3-3,5

3,7

0,5

2,2

3,1

2,8

0,4

-0,4

2,7

Japan

Zu den wenigen erfolgbringenden Reformschritten kann man den Entfall des Rabattgesetzes, die Auflockerung der Ladenöffnungszeiten und das Anheben der Schwelle des Kündigungsschutzes von fünf auf zehn Arbeitnehmer rechnen. Positiv ist auch anzumerken, dass mit den Hartz- Vorschlägen und der Agenda 2010 eine breite Reformdiskussion angestoßen worden ist, die generell Reformen begünstigt. Zwar stößt jeder Vorschlag auf einen teils erheblichen Widerstand, aber das kann nicht anders sein, weil es ja immer auch um in der Vergangenheit eingeräumte Besitzstände geht. Die derzeit überaus negative Beurteilung der Politik der Bundesregierung durch die Bürger ist meines Erachtens nicht ohne weiteres mit einem Verweigern von Reformen gleichzusetzen. Im Gegenteil, es gibt in der Bevölkerung eine bemerkenswerte Bereitschaft zu weittragenden Veränderungen. Woran es im politischen Alltag fehlt, ist eine nüchterne Diskussion der Handlungsaltemativen, ein Eingehen auf die Bedenken der Betroffenen. Manches von dem, was zur Zeit brach liegt, kann vielleicht noch ernsthaft aufgegriffen und ausgeführt werden, aber die

Reformerfolge

und Reformdefizite

als

Standortfaktor

305

Mitte der Legislaturperiode ist bald überschritten, und es droht die Lähmung konstruktiver gesetzgeberischer Arbeit durch eine Reihe regionaler Wahlen. Im Folgenden wird auf zwei große Reformfelder näher eingegangen, und zwar auf das Regelwerk am Arbeitsmarkt und auf die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf diesen Feldern werden von der Politik Reformschritte diskutiert und geplant, aber es ändert sich nichts Grundsätzliches. Die Probleme einer zu hohen Arbeitslosigkeit, eines zu geringen Wirtschaftswachstums und der unaufhörlich steigenden Gesundheitskosten bleiben ungelöst.

2. Reform des Arbeitsmarktes Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist für die Ökonomen seit langem ein Thema und fur die Politik spätestens seit 2003, als die //arfö-Kommission im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge gemacht hat. Warum überhaupt von Flexibilisierung zu sprechen ist, lässt sich aus an einem Vergleich der deutschen Arbeitslosenquoten mit denen der USA verdeutlichen. Wie aus dem folgenden Schaubild zu ersehen ist, hat sich die Arbeitslosigkeit in beiden Ländern in Wellen entwickelt. Aber entscheidend ist die folgende Charakteristik: Wenn es in den USA, beispielsweise wegen eines negativen Konjunkturschocks, zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt, dann geht dort die Arbeitslosigkeit im nachfolgenden Aufschwung immer wieder etwa gleichstark zurück. Ganz anders in Deutschland. Hier nahm die Arbeitslosigkeit beispielsweise nach der Rezession von 1974/75 zwar wieder ab, aber doch wenig. Gleiches zeigte sich nach 1986 und dann 1997. In Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit gleichsam nach dem Motto „Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück" treppenartig an, so dass der Sockel über die vielen Jahre hin immer höher wird. Diese Verfestigungen der Arbeitslosigkeit sollen durch Flexibilisierung verhindert werden. Das heißt genau, dass jene Regulierungen des Arbeitsmarktes, die verhindern, dass es bei sich verbessernder Wirtschaftslage zu einem kräftigen Steigen der Beschäftigung kommt, aufgehoben werden sollten. Schaubild 1: Arbeitslosenquoten: Deutschland und USA Prozent

306

Manfred J.M. Neumann

Elemente jeder Arbeitsmarktreform sollten sein: Öffnung zu dezentraler Lohnfindung und damit Flexibilität der Tarifverträge, Begrenzung der Lohnnebenkosten, Reform des Kündigungsschutzes und Schaffung eines Niedriglohnsektors. Die Vorschläge der so genannten //artz-Kommission gingen nur zum Teil in diese Richtung. Immerhin hat die Diskussion dieser Vorschläge dazu gefuhrt, dass die Bürger heute fur marktwirtschaftliche Reformen des Arbeitsmarktes offener geworden sind. Option dezentraler Lohnfindung Was die potenziellen Beschäftigungswirkungen angeht, so lautet die Hauptfrage: Wie ist eine beschäftigungsfreundliche Lohnpolitik zu erreichen, die moderate Entlohnung mit größerer beruflicher und regionaler Lohnspreizung verbindet? Die Tariflohnpolitik ist aufgrund der Tarifautonomie dem Marktwettbewerb entzogen. Sie ist durch Art. 9 Abs. 3 GG den Kartellen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer anvertraut. Wie ein Stahlkartell durch Anheben des Absatzpreises über das Wettbewerbsniveau den Gesamtabsatz an Stahl verringern könnte - wenn ein solches Kartell erlaubt wäre - so bewirken die Tarifparteien durch Anheben der Tariflöhne, dass die Menge an noch rentabler Beschäftigung in Deutschland abnimmt. Und kein Arbeitnehmer kann versuchen, sich durch Lohnkonzession im Markt zu halten. Weder die Gewerkschaften, noch die Arbeitgeber haben daran ein Interesse, und sie verfugen über gesetzlich geschützte Macht am Arbeitsmarkt. Der Konflikt zwischen der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 1 lässt sich nur durch eine generell flexiblere Handhabung der Tarifverträge entschärfen. Auch der Bundeskanzler hatte sich schon einmal dafür ausgesprochen. So hieß es in seiner Regierungserklärung vom 14.03.2003: „In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung fur Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen." Konkret geht es darum, die Option zu einer dezentralen Lohnfindung zu eröffnen. Das könnte durch Aufnahme einer gesetzlichen Öffnungsklausel in alle Tarifverträge geschehen. Mit der Klausel würde die Möglichkeit eröffnet, auf der Ebene der Unternehmen zwischen Belegschaft und Unternehmensleitung zeitlich begrenzte Regelungen zu Entlohnung, Arbeitszeit oder anderen Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Die Option, auf Unternehmensebene in einem geregelten Verfahren von einem Tarifvertrag abweichen zu dürfen, wäre beschäftigungssichernd, weil sie es der Belegschaft eines Unternehmens ermöglichte, durch Lohnkonzessionen zur Überlebensfähigkeit des Unternehmens und damit zu dem Erhalt der eigenen Arbeitsplätze beizutragen. Das ist einzelwirtschaftlich wie auch gesamtwirtschaftlich positiv zu werten. Es gibt aber darüber hinausgehende Beschäftigungswirkungen. Die Option zum Ausstieg aus einem Tarifvertrag wirkt sogar dann beschäftigungsfördernd, wenn sie von keinem Unternehmen wahrgenommen wird. Denn die bloße Existenz der Option wird die Tarifvertragsparteien dazu anhalten, den Branchentarifvertrag nicht einseitig an der

Reformerfolge und Reformdefìzite als Standortfaktor

307

Produktivität und den Geschäftserwartungen der leistungsstärkeren Unternehmen auszurichten, sondern an den Aussichten der gesamten Branche. Eine gesetzliche Option zum Ausstieg wirkt tendenziell disziplinierend auf die Verhandlungen auf der Branchenebene. Die mit dem Aushandeln eines Flächentarifvertrages betrauten Personen werden es zu vermeiden suchen, beschâftigungsgefàhrdende, also zu hohe Lohnsteigerungen zu vereinbaren, weil die Anzahl der aus einem Tarifvertrag aussteigenden Unternehmen als ein Indikator dafür genommen werden kann und wird, ob es sich um einen überzogenen oder einen wirtschaftlich vertretbaren Tarifabschluss gehandelt hat. Die Tarifparteien werden mehr als bisher sich um Tarifabschlüsse bemühen, die keine Arbeitsplatzrisiken schaffen, sondern gesamtwirtschaftlich forderlich sind. Als angemessen werden Abschlüsse gelten, aus denen kein Unternehmen aussteigt oder jedenfalls nur sehr wenige. Die Unternehmen werden das so sehen, aber auch die Arbeitnehmer werden diese Sichtweise allmählich annehmen, weil sie deutlicher als bisher den Zusammenhang zwischen der Entwicklung ihrer Entlohnung und den Beschäftigungsmöglichkeiten in ihrem Unternehmen erkennen werden. Das wird längerfristig gesehen auf die Tarifverhandlungen positiv im Sinne stärkerer Rücksichtnahme auf die Beschäftigungslage zurückwirken. Das Verfahren einer Anwendung der Öffnungsklausel sollte einfach und klar geregelt sein, um eine möglichst rasche richterliche Verfahrenskontrolle zu ermöglichen. Die Entscheidung über den zeitlich begrenzten Ausstieg aus einem Tarifvertrag sollte von der Unternehmensleitung mit der Belegschaft getroffen werden. Der Betriebsrat mag organisatorisch beteiligt sein, er sollte aber nicht mitentscheiden. Für die Zustimmung der Belegschaft ist ein Quorum vorzuschreiben, mit dem zugleich definiert wird, wie groß eine ablehnende Minderheit maximal sein darf. Das Quorum darf nicht so hoch sein, dass es so gut wie niemals erreicht werden kann, dann würde sich ja nichts ändern. Es darf andererseits auch nicht zu niedrig sein, weil es sich für das Betriebsklima sehr negativ auswirken würde, wenn es zu einem Ausstieg aus dem Tarifvertrag kommt, obwohl eine relativ große Minderheit der Beschäftigten das ablehnt. Als Untergrenze könnte das Quorum der Grundgesetzänderung - also zwei Drittel - in Frage kommen. Man könnte sich auch vorstellen, die Öffnung inhaltlich auf den Zustand des Unternehmens oder der betreffenden Branche zu konditionieren. Aber das wäre ein ordnungspolitischer Fehler. Wenn Belegschaft und Leitung eines Unternehmens von einem Tarifvertrag abweichen wollen, so ist das Ausdruck ihrer Freiheit. Die Freiwilligkeit einer abweichenden Vereinbarung sichert, dass die Vereinbarung besser den Interessen der Beteiligten entspricht als ein ihnen verordneter Tarifvertrag. Warum sollten sie in guten Zeiten ihres Unternehmens daran gehindert werden, etwas zu tun, was ihnen für schlechte Zeiten gestattet würde? Auch darf man nicht vergessen, dass eine Konditionierung den Gewerkschaften willkommenen Anlass gäbe, jede Öffnung des Tarifvertrags an ihre Zustimmung zu binden. Dann wäre praktisch nichts gewonnen im Vergleich zur derzeitigen Verfassung des Arbeitsmarkts. Seit langem wird die gesetzliche Öffnung von Tarifverträgen von Ökonomen vorgeschlagen und von einer Reihe von Juristen als grundgesetzwidrig abgelehnt.1 Sicherlich 1

Vgl. z. B. Neumann, M.J.M. (1998); Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2004).

308

Manfred J. M. Neumann

gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass gesetzliche Maßnahmen, die auf eine flexiblere Handhabung des Tarifvertragssystems abzielen, vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt würden. So gibt es durchaus Urteilsbegründungen, die dafür sprechen, dass das Gericht Interpretationsspielraum sieht und jedenfalls ausgesprochen schlechte gesamtwirtschaftliche Bedingungen berücksichtigen würde. So hat das Bundesverfassungsgericht schon 1979 in seinem Mitbestimmungsurteil ausgeführt, dass der Gesetzgeber über „einen weiten Spielraum zur Ausgestaltung und Anpassung des Tarifvertragssystems an die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit" verfüge, soweit das gefordert sei von der im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens. Auch verschließt sich das Gericht nicht der Einsicht, dass die seit langem sehr hohe Arbeitslosigkeit sehr wohl bedacht werden muss. So hat es 1999 in seinem Urteil zu Lohnabstandsklauseln eingeräumt, dass die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit zum Schutz von Gemeinwohlinteressen eingeschränkt werden kann und dass das Ziel, „Massenarbeitslosigkeit" zu bekämpfen, Verfassungsrang habe. In jedem Fall gilt es für die Ökonomen, ihre ordnungspolitischen Analysen beharrlich vorzutragen, damit bei den Richtern das Verständnis für die negativen gesamtwirtschaftlichen Folgen unbeschränkter Tarifautonomie wächst. Es mag noch Jahre dauern, aber es nicht aussichtslos, dass die führenden Juristen zu der Einsicht der Ökonomen gelangen, nämlich dass die Tarifautonomie heute nicht mehr gemeinwohlverträglich ist, sondern eine Ursache gesamtwirtschaftlicher Schäden. Agenturen für Arbeit, Personal Service Agenturen (PSA) Ein richtiger Leitgedanke der Hartz- Vorschläge war, man bräuchte eine Vermittlung der Arbeitslosen zurück in eine Beschäftigung, die schneller und effektiver ist als es die traditionellen staatlichen Arbeitsämter leisten können. Das wäre sinnvoll, auch wenn das für sich genommen natürlich keine Arbeitsplätze schaffen kann. Also hat man mit der Umgestaltung der Arbeitsämter begonnen, aber das meiste steht vorläufig nur auf dem Papier. Jedenfalls ist bisher keine erkennbare Verbesserung der Lage bei der Arbeitsvermittlung eingetreten. Der wichtigste Hartz- Vorschlag betraf die Gründung von Personal Service Agenturen, auf Deutsch gesagt von neuen Agenturen für Zeitarbeit, die zusätzlich zu der privaten Zeitarbeitsbranche (2001: durchschnittlich 340 Tsd. Personen) Arbeitskräfte ausleihen sollen. Zeitarbeit ist ein positiver Ansatz, der zuerst in Holland erfolgreich ausprobiert worden ist. Im Hinblick auf die Wiedereingliederung von Arbeitslosen ist Zeitarbeit deshalb von großem Wert, weil arbeitslose Arbeitnehmer und potenzielle Arbeitgeber ausprobieren können, ob ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis für beide Seiten vorteilhaft wäre. Aber von vornherein war den Ökonomen klar, dass es mit der //ariz-Konstruktion Probleme geben würde. Die PSA übernimmt vom Arbeitsamt eine Gruppe Arbeitsloser, stellt sie ein und verleiht sie. Die PSA finanziert sich aus den Verleiherlösen und aus staatlichen Subventionszahlungen. Der den Arbeitslosen von der PSA gezahlte Lohn wird nicht mit diesen frei ausgehandelt, sondern er wird durch besondere Tarifverträge bestimmt, und diese gelten neuerdings auch für die private Zeitarbeitsbranche.

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor

309

Bisher ist wenig Handfestes über die Ergebnisse der Arbeit der Agenturen bekannt. Man muss sich allerdings darauf einstellen, dass die PSA-Agenturen in wirtschaftlich flauen Zeiten erheblich defizitär sein werden. Tatsächlich sind schon einige PSA bankrott gegangen. Eine Gefahr ist, dass die PSA zu teueren, letztlich aus Steuermitteln zu finanzierenden Beschäftigungsgesellschaften degenerieren und damit die Grundidee, eine große Zahl von Arbeitslosen auf diesem Weg in den ersten Arbeitsmarkt wieder einzugliedern, verfehlen werden. Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) Aufgrund von Vorschlägen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium fur Wirtschaft und Arbeit und auch der Hartz-Kommission werden von 2005 an die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfsbedürftige in Form des so genannten Arbeitslosengeld Π zusammengelegt werden.2 Die vor Bezug von Hilfe übliche Arbeitslosenunterstützung (jetzt „Arbeitslosengeld I") gibt es weiterhin mit Bezugsdauem von 6 bis maximal 32 Monaten, wobei die Kriterien der Zumutbarkeit einer Arbeitsaufnahme leicht verschärft worden sind. Bei der Konzeption des Arbeitslosengeld Π folgt die Bundesregierung allerdings nicht den Vorstellungen der Ökonomen. Sie hat sich nicht darauf eingelassen, das Niveau des Arbeitslosengeldes II für nachweislich Arbeitsfähige deutlich abzusenken. Das wäre aber notwendig, wenn es zu mehr Beschäftigung kommen soll, denn die Sozialhilfe wirkt wie eine Lohnuntergrenze. Sie verhindert, dass es zu Mehrbeschäftigung im Niedriglohnbereich kommen kann. Weder lohnt es sich für den Hilfebezieher, mit Arbeit hinzu zu verdienen, wenn zuviel vom Nebenverdienst auf die staatliche Hilfe angerechnet wird (alles, was über einen Verdienst von 550 € hinausgeht, wird vollständig entzogen), noch lohnt es sich für private Arbeitgeber, neue Arbeitsmöglichkeiten, beispielsweise im Dienstleistungsbereich, zu schaffen, weil der zu zahlende Lohnsatz im Vergleich zu der niedrigen (Grenz-)Produktivität dieser Personen zu hoch ist. Deshalb hat der Sachverständigenrat eine Absenkung des Eckregelsatzes der Sozialhilfe um 3 0 % bei gleichzeitiger Anhebung der Zuverdienstgrenzen vorgeschlagen; Wissenschaftlicher Beirat und Ifo-Institut haben sogar eine Kürzung um 50 % diskutiert. Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, wie viele neue Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich entstehen würden, wenn man den Sozialhilfesockel um einen bestimmten Prozentsatz für Arbeitsfähige absenkte. Zwar gibt es empirische Untersuchungen der Nachfrageelastizität, trotzdem lässt sich nicht ausschließen, dass zumindest bei Einfuhrung einer solchen Neuerung es zunächst nur zu einer geringen Zunahme der Nachfrage nach Arbeit kommen würde. Das hätte dann zur Folge, dass es für jene Arbeitsfähigen, die nicht sofort eine Beschäftigung finden, eine Auffanglösung geben müsste, und zwar entweder eine staatliche Ausgleichszahlung oder eine staatliche Beschäftigung. Beides wäre unerwünscht. Daher wäre es ratsam, eine Absenkung in mehreren Schritten vorzunehmen. 2

Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2002).

310

Manfred J M. Neumann

Wenn man aber - wie die Bundesregierung - den Sozialhilfesockel für Arbeitsfähige unverändert lässt, dann vertut man eine Chance, denn es folgt mit Sicherheit, dass im Niedriglohnsektor keine neuen Arbeitsplätze entstehen werden, und zwar weil es aufgrund der Sozialhilferegelungen niemanden geben wird, der bereit wäre, zu einem niedrigeren Lohn zu arbeiten. Gesetzlichen Kündigungsschutz verringern Das Kündigungsschutzgesetz, 1951 erlassen, hatte ursprünglich allein die Funktion, Arbeitnehmer gegen willkürliche Entlassung zu schützen. Aber heute ist das Kündigungsschutzrecht so ausgebaut, dass es sich zu einer Einstellungsbremse entwickelt hat. Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet greift heute so weit ein, dass Kündigungen, die gar nichts mit persönlicher Willkür zu tun haben, fur die Unternehmen trotzdem sehr teuer werden können. Viele kleinere Unternehmen scheuen daher die potenziell kostenträchtige Bindung durch weitere Einstellungen. Ein tieferer Grund für diese Entwicklung ist, dass die Arbeitsrichter Arbeitsverhältnisse als „auf die Dauer des Arbeitslebens angelegt" interpretieren und daher im Zweifel zugunsten des jeweiligen Arbeitnehmers entscheiden, ohne das wirtschaftliche Interesse der Unternehmen hinreichend zu würdigen. Insbesondere bei verhaltensbedingten Kündigungen kommt es mitunter zu skurrilen Fällen, über die man lachen könnte, wenn sie nicht wirtschaftlich verheerend wären. Ein Beispiel: Jemand wurde gekündigt, weil er an 104 von 460 Tagen zu spät zur Schicht eines Unternehmens mit 400 Beschäftigten erschienen war und an 15 Tagen zu früh nach Haus gegangen war. Er war vielfach verwarnt worden, bis zum letzten Mittel der Kündigung gegriffen wurde. Das Bundesarbeitsgericht erkannte zwar die regelmäßige Bummelei als einen „an sich" wichtigen Kündigungsgrund an, argumentierte aber, die Kündigung sei nur zulässig, wenn nachgewiesen werde, dass dem Arbeitgeber daraus ein Schaden entstanden sei. Wenn jemand, der seine Arbeit nicht anständig im Sinne des Arbeitsvertrages leistet, seinen Arbeitsplatz behalten darf, dann geht das - abgesehen von den Kosten für das Unternehmen - immer zu Lasten von jemandem, der arbeitslos ist, aber diesen Arbeitsplatz vielleicht besser ausfüllen würde. Diese ökonomische Sicht zählt bisher nicht. Ein Hauptproblempunkt ist folgender: Bei dringendem betrieblichen Grund (Fehlen von Aufträgen) kann einem Arbeitnehmer mit üblicher Kündigungsfrist ohne Abfindung gekündigt werden. Auch wenn eine Klage gegen eine solche Kündigung keine große Chance hat, erfolgreich zu sein, lohnt es sich für einen Arbeitnehmer, der vielleicht eine Rechtsschutzversicherung hat, mit einer Klage zu drohen. Denn im Prozessfall entstehen dem Unternehmen nicht nur Prozesskosten, sondern es muss bis zur Entscheidung weiter Lohn zahlen und das dauert nach aller Erfahrung durchschnittlich 3 bis 6 Monate. Daher wird das Unternehmen im Regelfall lieber dem Gekündigten eine auszuhandelnde Abfindung zahlen. Faktisch führt die Kündigungsrechtspraxis zu hohen Personalzusatzkosten, die insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen stark zu Buche schlagen. Die Folge ist, man überlegt sich eine Ausweitung der Belegschaft drei-

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor

311

mal. Nach einer im März 2003 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit durchgeführten Umfrage unter 1.000 Betrieben mit nicht mehr als 5 Beschäftigten haben 14 % dieser Betriebe in den vergangenen 5 Jahren schon einmal darauf verzichtet, einen weiteren Arbeitnehmer einzustellen, um nicht unter das Kündigungsschutzgesetz zu fallen. Die Bundesregierung erkennt an, dass der Kündigungsschutz ein Einstellungshemmnis ist und damit zur Arbeitslosigkeit beiträgt. Deshalb dürfen neuerdings - diese Regelung gab es schon einmal vor 1998 - Betriebe mit bis zu 10 Beschäftigten, „zusätzliche Mitarbeiter befristet einstellen", ohne dass diese neuen Mitarbeiter auf den Schwellenwert angerechnet werden. Das hilft, wenngleich nicht besondern viel. Eine weit wirksamere und zugleich pragmatische Maßnahme wäre, den Schwellenwert auf 20 Beschäftigte anzuheben, wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagen (und die FDP übernommen) hat. Denn es geht ja angesichts von rd. 250.000 Kündigungsschutzprozessen pro Jahr nicht nur um die ganz kleinen Betriebe. Grundsätzlicher betrachtet kann man mit dem Kronberger Kreis (2004) sich fragen, ob es überhaupt eines im Detail sehr komplizierten Kündigungsschutzrechtes bedarf oder ob es nicht für die Unternehmen, aber auch für die Arbeitnehmer besser wäre, sie dürften sich bei Einstellung bzw. nach Ablauf der Probefrist privat darauf einigen, wie sie im Kündigungsfall verfahren wollen. Warum sollen sie sich nicht im Vorhinein darauf einigen dürfen, welche Abfindung gegebenenfalls gezahlt werden soll? Warum kann im Falle verhaltensbedingter Kündigung nicht auf die Beweispflicht des Unternehmens verzichtet werden, dass ein Schaden entstanden ist? Warum, so fragen sich liberale Ökonomen, soll ein Arbeitnehmer nicht im Austausch gegen einen prozentualen Tariflohnzuschlag auf die Geltendmachung von Kündigungsschutz ganz verzichten dürfen? 3. Reform des Gesundheitswesens Der Gesundheitssektor befindet sich seit vielen Jahren in einer unablässigen Reformdiskussion, weil der Beitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung fortwährend zu steigen droht. Die Ausgaben haben seit Beginn der 1990er Jahre um rund 5 % pro Jahr zugenommen, der durchschnittliche Bruttolohn der Arbeitnehmer dagegen um nur rund 3 %. Die Politik hat darauf immer wieder mit Kostendämpfungsgesetzen reagiert, mit strikten Budgetierungen, mit Kostenpauschalen und Zuzahlungen der Patienten. Nicht durchweg, aber größtenteils sind das kurzfristig orientierte Notmaßnahmen gewesen, die nicht auf eine grundlegende Veränderung der institutionellen Strukturen abzielten und daher keine Gesundung des Gesundheitssektors bewirken konnten. Die Grunddefekte des Systems blieben unangetastet. Zwei Hauptdefekte: fehlende Effizienz und Ignorieren der demographischen Zeitbombe Erstens: Das Beitragsaufkommen der Gesetzlichen Krankenversicherung wird nicht effizient, sondern verschwenderisch verwendet. Zum einen gibt es einfach zu wenig Wettbewerb zwischen allen Beteiligten des Systems: zwischen den Krankenkassen, den Ärzten, den Krankenhäusern, den Apotheken. Zum anderen verhindert das gegenwärti-

312

Manfred J.M. Neumann

ge System der Gesetzlichen Krankenversicherung es, dass die Eigenverantwortung der Versicherten mobilisiert wird, weil es nur einen Einheitstarif gibt, den der Versicherte wie einen Steuersatz betrachtet, weil es keine wohldefinierten Leistungen gibt, keinen Einblick des Versicherten in die von ihnen verursachten Behandlungskosten, und so gut wie keinen finanziellen Anreiz, Behandlungskosten zu verringern oder zu vermeiden. Zweitens: Das Versicherungsprinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung ist die Umlagefinanzierung, d. h. die jüngeren Arbeitnehmer tragen zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben der Älteren bei. Da die Lebenserwartung steigt, ohne dass die Lebensarbeitszeit durch parallele Anhebung des Renteneintrittsalters heraufgesetzt wird, und da die Geburtenrate seit langem gefährlich abgesunken ist, werden die aktiven Arbeitnehmer künftig in steigendem Maße nicht nur die Renten, sondern auch die Gesundheitslasten der alten Menschen mitfinanzieren müssen. Aus diesem Grund wird der Beitragssatz in der GKV ab 2010 stark zu steigen beginnen und droht gegen 2035 fast das Doppelte des heutigen Niveaus zu erreichen. Der im Jahr 2003 zwischen Koalition und CDU/CSU vereinbarte Gesundheitskompromiss, der in einen 451 Seiten umfassenden Gesetzentwurf gegossen wurde, war ganz überwiegend darauf gerichtet, akute Finanzierungsnöte zu verringern, aber nicht darauf, eine dauerhafte ,Gesundung' des Finanzierungssystems zustande zu bringen. Die erhoffte Stabilisierung des Beitragssatzes wird daher nicht von Dauer sein. Immerhin ist als positiv zu beurteilen, dass das Mehrbesitzverbot bei Apotheken aufgehoben werden soll. Das wird mehr Wettbewerb bringen. Ebenso wäre es positiv, wenn es zu einer Lockerung des Vertragsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der ambulanten Behandlung käme. Anreize für kosten- und gesundheitsbewussteres Verhalten sind fraglos sinnvoll, aber ob sie zu nennenswerten Einsparungen fuhren werden, bleibt abzuwarten. Dagegen bedeutet die Separierung der Versicherung von Zahnersatz nichts anderes als eine Leistungskürzung bzw. eine faktische Beitragserhöhung. Merkwürdig ist das offenbare Interesse einiger gesetzlicher Kassen mit einem Dumpingpreis für Zahnbehandlung zu versuchen, alle Versicherten zu behalten. Im Vordergrund der politischen Diskussion stehen heute zwei Reformansätze für die Gesetzliche Krankenversicherung, die beide in der Äürwp-Kommission diskutiert worden sind und sich im Hinblick auf die Beitragserhebung grundlegend unterscheiden. Das von Karl Lauterbach vertretene Modell einer,Bürgerversicherung' bleibt bei dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit. Der Beitrag wird weiterhin als ein Prozentsatz erhoben, und zwar vom gesamten Einkommen des Versicherten und nicht wie bisher nur vom Arbeitseinkommen. Der Beitrag wird bei diesem Reformansatz praktisch von einer Lohnsteuer zu einer zweiten Einkommensteuer ummodelliert. Zudem wird die Gesetzlichen Krankenversicherung zu einer Volksversicherung gemacht, indem der Versichertenkreis auf die gesamte Bevölkerung erweitert wird. Die privaten Krankenkassen werden per Gesetz verdrängt. Das konkurrierende - von Bert Rürup vertretene - Modell setzt nicht auf eine Expansion des Versichertenkreises. Sondern eine Besonderheit dieses Modells ist, dass der prozentuale Beitragssatz durch eine pauschale ,Gesundheitsprämie' ersetzt wird. Das Modell ist näher am Äquivalenzprinzip angesiedelt als die bisherige Gesetzlichen Krankenversicherung. Für Äquivalenz wird allerdings nicht ge-

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor

313

sorgt, weil jeder Versicherte dieselbe Prämie zahlt, unabhängig davon, welches Gesundheitsrisiko er darstellt. Das Für und Wider der beiden Reformansätze kann hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Ein entscheidender Nachteil beider Modelle ist, dass sie nicht zukunftsfest sind, weil sie das demografische Problem ausblenden. In beiden Modellen wird in den Beiträgen keine Vorsorgekomponente berücksichtigt. Daher werden die Beiträge nicht nur wegen des technischen Fortschritts in der Medizin und dem Ansteigen der Lebenserwartung steigen, sondern auch weil die relative Anzahl der älteren Menschen bis Mitte 2030 Jahre zunehmen wird. Ein zukunftsfestes System: Individuelle Gesundheitsprämien mit mobilen Altersrttckstellungen Im Kronberger Kreis haben wir einen Reformvorschlag ausgearbeitet, der mit dem Äquivalenzprinzip Ernst macht und das demografische Problem durch den Aufbau von Altersriickstellungen berücksichtigt. 3 In wenigen Strichen geht es um Folgendes: Wie in der privaten Krankenversicherung wird in der gesetzlichen Krankenversicherung jeder Versicherter zu einer risikoäquivalenten Prämie versichert: Die Prämie oder der Beitrag ist unabhängig vom persönlichen Einkommen. Die Prämie deckt einen Grundkatalog üblicher Gesundheitsleistungen. Hinzu treten prozentuale Selbstbehaltregelungen, d. h. der Patient beteiligt sich an den Kosten, und es gibt anteilige Prämienrückgewähr bei Nichtinanspruchnahme. Solche Anreize mobilisieren die Eigenverantwortung und verringern die unbedenkliche Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Familienmitglieder sind nicht länger mitversichert, sondern jedes Familienmitglied wird eigenständig versichert. Die in der Gesetzlichen Krankenversicherung angelegte Einkommensumverteilung wird also eliminiert. Man kann darüber diskutieren, ob Kinder bei ihren Eltern zu einem geringen Satz mitversichert sein sollen. Aber grundsätzlich zahlt jeder für die Grundsicherung dasselbe. Dabei ist klar, dass Bezieher geringer Einkommen finanziell überfordert werden könnten. Da muss der Staat einspringen. Wo aufgrund zu hoher Belastung des Familieneinkommens nötig, erfolgt also partieller Rückgriff auf das System sozialer Sicherung bzw. das Steuer-Transfer-System. Wie bei den privaten Krankenversicherungen üblich haben auch die gesetzlichen Krankenkassen einen Anteil der Prämien fur den Aufbau von Altersrückstellungen im Kapitalmarkt anzulegen und diese Altersrückstellungen überdies zu individualisieren. Das ist der Angelpunkt, um den erwünschten Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte funktionsfähig zu machen. 4 Dann können nicht nur Jüngere, sondern auch Ältere, nicht nur Versicherte, die als gute Risiken gelten, sondern auch schlechtere Risiken die Versicherung wechseln, weil sie nämlich die vom bisherigen Versicherer für künftig zu erwartende zusätzliche Leistungen angesparte individuelle Altersrückstellung zur neuen Versicherung mitnehmen können. Das sollte zukünftig auch für die privaten 3 4

Vgl. zu den Einzelheiten dieses Modells Kronberger Kreis (2002). Der Jubilar mag skeptisch sein, ob das funktionieren kann.

314

Manfred J,M. Neumann

Krankenversicherungen gelten, damit auch dort der noch immer lahmende Wettbewerb in Gang kommt. Die privaten Krankenversicherungen geben bisher Versicherten, die wechseln wollen, die angesammelten Altersrückstellungen nicht mit, weil sie offenbar wenig daran interessiert sind, dass sich der Wettbewerb intensiviert. Das muss und wird sich ändern, wenn die Politik das Grundmodell des Kronberger Kreises akzeptieren sollte. Der Wettbewerb der Kassen um die Versicherten ist deshalb von so großer Bedeutung, weil anders nicht für mehr Effizienz im Gesundheitswesen zu sorgen ist. Nicht nur die Versicherten sollen den Anreiz haben, durch eigenverantwortliches Verhalten mehr Effizienz und Kosteneinsparung zu ermöglichen, auch die Kassen sollen den Anreiz erhalten, im Interesse ihrer Versicherten die Ärzte und Krankenhäuser zu kontrollieren. Schließlich ist klar: Die gesetzlichen Krankenkassen haben aufgrund des noch geltenden Umlageprinzips bisher keine Kapitalreserven aufgebaut, aus denen zukünftige Mehrkosten der Krankenversorgung mitfinanziert werden könnten. Sie brauchen langfristig einen entsprechenden Vermögensstock. Es handelt sich um einen Betrag von mindestens 450 Mrd. Euro, aber wahrscheinlich von eher rd. 600 Mrd. Euro. Es sind verschiedene Lösungen vorstellbar, wie dieses Kapitaldefizit finanziert werden könnte. Darauf muss hier nicht weiter eingegangen werden. Wenn man es politisch gesehen für zu schwierig ansieht, dieses Problem zu lösen, dann bedeutet das, dass man keine Wettbewerbsgleichheit für gesetzliche und private Krankenkassen herstellen kann, also die bisher gesetzlich Versicherten im Käfig der gesetzlichen Kassen festhalten muss. Das heißt dann aber auch, dass diese Versicherten im Verlauf der kommenden drei Jahrzehnte entweder drastische Leistungskürzungen oder weit höhere Beitragssatzsteigerungen werden hinnehmen müssen als die privat Versicherten, deren Beiträge durch die angesparten Altersrückstellungen abgefedert werden können. Ob das den Bürgern dann politisch zu vermitteln sein wird, ist mehr als fraglich. Für das gesamte Gesundheitssystem hat ein Verzicht auf die Konsolidierung der gesetzlichen Kassen jedenfalls zur Folge, dass der so dringend notwendige Wettbewerbsprozess nicht in Gang kommen wird. Das Gesundheitssystem wird daher zu teuer bleiben und jede der künftigen Bundesregierungen in Bedrängnis bringen. Literatur Neumann, M.J.M. (1998), Deutschlands Regelwerk für den Arbeitsmarkt - Reformbedarf und Modemisierungschancen, Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn. Kronberger Kreis (2002), Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin. Kronberger Kreis (2004), Flexibler Kündigungsschutz am Arbeitsmarkt, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2002), Reform des Sozialstaats fur mehr Beschäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit, Dokumentation, Nr. 512, Berlin. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2004), Tarifautonomie auf dem Prüfstand, Dokumentation, Nr. 531, Berlin.

Kurzbeitrag

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor aus mittelständischer Perspektive

Ulrich

Cichy

Inhalt 1. Was ist Mittelstand?

316

2. Was den Mittelstand schmerzt - Beispiele

316

3. Schattenwirtschaft: Standortverlagerung am Standort

316

4. Zur aktuellen Reformbilanz

317

5. Es fehlt ein Reformleitbild mit klarem Mittelstandsbezug

318

Literatur

319

316

Ulrich Cichy

1. Was ist Mittelstand? Zum Mittelstand gehören die 3,3 Mio. kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). KMU beschäftigen bis zu 500 Arbeitnehmer und umfassen 99,7 % der deutschen Unternehmen (Günterberg und Wolter 2002). 87,1 % von ihnen haben bis zu neun, weitere 6,6 % zwischen 10 und 19 und 3,9 % zwischen 20 und 49 Mitarbeiter (Günterberg und Wolter 2002). Neben der geringen Größe ist die hohe Arbeitsintensität ein weiteres wichtiges Kennzeichen der KMU; sie beschäftigen 83 % der Auszubildenden und 69,7 % der Arbeitnehmer des Unternehmenssektors, sind aber nur zu 48,8 % an der Wertschöpfung aller Unternehmen beteiligt. Diese Sachverhalte lassen auf eine vergleichsweise geringe Arbeitsproduktivität und einen entsprechenden (latenten und je nach Branche unterschiedlichen) Rationalisierungsdruck schließen. Der Faktor Arbeit und dessen Kosten sind deshalb Orientierungsgrößen, die im Mittelstand im Allgemeinen weit größere Bedeutung als bei Großunternehmen haben. Deshalb sehen KMU hier - neben Bereichen wie z. B. Regulierungen und Steuern - besonderen Reformbedarf. 2. Was den Mittelstand schmerzt - Beispiele Deutlich zeigt sich der Handlungsbedarf bei den Arbeitskosten (Stundenlohn + Personalzusatzkosten), die in Westdeutschland 28 % über denen in vergleichbaren westlichen Industrieländern liegen (IWD 2003). Bei der Analyse der Ursachen der ,Lohnkostenklage' tritt die Tarifpolitik in das Blickfeld, die oftmals Abschlüsse erbringt, die KMU im Vergleich mit Großunternehmen besondere Anpassungslasten auferlegen. Zudem ist die Tendenz feststellbar, die unteren Einkommen überproportional anzuheben - dies bei einem per se hohen Lohnniveau, dessen Kostenwirkung durch steigende Lohnnebenkosten verstärkt wird {Eichhorst u. a. 2001; Frankfurter Allgemeine Zeitung 2002). Die Lohnnebenkosten insgesamt sind zwischen 1982 und 1998 von 34 auf fast 42 % der Lohnzahlungen gestiegen. Dabei ist der Beitrag der Arbeitgeber z. B. zum Gesundheitssystem von 1992 auf 2001 um 30 % angewachsen ( Weimann und Zifonun 2003). Eng verbunden mit den Lohnkosten ist die Frage der arbeitsrechtlichen Regulierungen. Als Beispiele administrativer Regelungen mit mittelstandsspezifischer Schmerzwirkung sind u. a. die Bereiche Mitbestimmungs- und Kündigungsschutzrechte, Teilzeitanspruch und Befristungsmöglichkeiten von Arbeitsverträgen zu nennen (IWD 2002; ASU o. J.). Auch wenn derartige Regelungen jeweils für sich genommen nur begrenzte Kosteneffekte haben, wirksam werden sie in der Summe und insbesondere unter psychologischen Gesichtspunkten: Aus der Sicht vieler mittelständischer Unternehmen ist der Faktor Arbeit eine Größe, die mit Kostenfaktoren und administrativen Belastungen überfrachtet ist. 3. Schattenwirtschaft: Standortverlagerung am Standort Arbeitskosten haben unter dem Aspekt der Globalisierung besondere Bedeutung, da sie die im Vergleich mit den Großunternehmen engen Handlungsspielräume der KMU offen legen: Größere Unternehmen reagieren auf langfristige Kostenerhöhungen z. B. in

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor aus mittelständischer Perspektive

Deutschland mit der Verlagerung von Produktionsstätten. Der Mehrheit der KMU ist diese Möglichkeit verwehrt, viele lehnen die Wahrnehmung solcher Möglichkeiten sogar bewusst ab. Wegen ihrer Standortbindung müssen KMU die Auswirkungen der Globalisierung deshalb vor Ort auffangen. Damit liegt die , Standortverlagerung am Standort' nahe: Es werden - ein Mindestmaß an krimineller Energie oder blanker Existenzangst vorausgesetzt - Güter und Leistungen zu Preisen angeboten, die den Steuerund den Abgabenzuschlag auf die Arbeitskosten nicht enthalten. Eine Schattenwirtschaft von nahezu einem Fünftel des Volkseinkommens ist in diesem Sinne ein deutlicher Indikator für umfassenden Reformbedarf (Schneider und Enste 2000; Institut für angewandte Wirtschaftsforschung 2002). 4. Zur aktuellen Reformbilanz Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Belastungen muss aus mittelständischer Sicht eine Aussage zu den Erfolgen und den Misserfolgen der aktuellen Reformpolitik auch bei der zentralen Frage ansetzen, inwieweit sie eine Entlastung bei den Lohnkosten und der arbeitsmarktrelevanten Regulierungen erbringt. Insgesamt ist festzustellen, dass die sich verstärkende Reformpolitik der vergangenen Jahre den Belangen des Mittelstands vermehrt Beachtung schenkt. So zielten die Reformen der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung darauf ab, dämpfend auf das Wachstum der Lohnnebenkosten einzuwirken. Eine Umkehrung im Sinne einer nachhaltigen Rückführung der Lohnnebenkosten wurde aber noch nicht eingeleitet. Eher entsteht der Eindruck, dass erste Stolperschritte getan wurden, aber grundsätzliche Reformen (wie ζ. B. in der gesetzlichen Krankenversicherung unter den Stichworten .Bürgerversicherung' und .Kopfprämien' diskutiert) nicht durchsetzbar sind. Wenig Verbesserungen wurden hinsichtlich der Frage der für einzelne Bereiche zu hohen Lohnsätze erreicht; erst die jüngste Diskussion über die Verlängerung der Arbeitszeiten zeigt neue Perspektiven flir eine einkommensstabile und damit in gewisser Weise sozialverträgliche Stückkostensenkung. Das aus mittelständischer Sicht ebenfalls zentrale Arbeitsrecht ist bislang nur bedingt berücksichtigt worden (Handelsblatt 2003). In diesem Zusammenhang ist zwar die Liberalisierung im Bereich des Kündigungsschutzes insbesondere in Kleinstunternehmen bis zu 10 Arbeitnehmern zu würdigen. Die fortdauernde Diskussion über die Flächentarifverträge zeigt aber beispielhaft den insgesamt noch bestehenden Handlungsbedarf. Die Diskussion um die Ausbildungsabgabe legt zudem die weiterhin vorhandene Bereitschaft offen, im Gegensatz zum beabsichtigten Regulierungsabbau dem Mittelstand neue Auflagen mit fraglichem Ergebnis zuzumuten. Zusammengefasst: Die bisherigen Reformen zeigen, dass die Politik noch nicht hinreichend verstanden hat, dass der standorttreue Mittelstand unter beschäftigungs-, finanz- und wachstumspolitischer Perspektive der strategische Partner ist. Damit ist die notwendige Orientierung weiterer Reformmaßnahmen vorgegeben, die den ,Wirtschaftsfaktor Mittelstand' in den Focus stellen müssen. Hieraus darf sich keine Politik .gegen' Großunternehmen ableiten. Die deutsche Wirtschaft lebt von der Vielfalt an Unternehmen unterschiedlicher Größen, die ihre je-

317

318

Ulrich Cichy

weiligen Vorteile in bestimmten Clustern einbringen. Nur sollte man sich von der Illusion trennen, dass man Großunternehmen insbesondere mit ihren lohnintensiven Segmenten mittels Beihilfen oder anderen Vergünstigungen langfristig am Standort halten kann, wenn die Rahmenbedingungen auf konkurrierenden Märkten besser sind. Man begibt sich damit in eine Konkurrenz zu anderen Standorten, die (bei konstanten Randbedingungen) nicht zu gewinnen ist, wenn die Mittel für Ansiedlungshilfen versiegen. Abgesehen davon profitieren Großunternehmen von einer mittelstandsorientierten Politik: Ein leistungsfähiger Mittelstand ist für die meisten Großunternehmen ein ebenso unschätzbarer Standortvorteil wie z. B. ein gut qualifiziertes Humankapital. 5. Es fehlt ein Reformleitbild mit klarem Mittelstandsbezug Die aktuelle Reformpolitik, die ohne ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept Maßnahmen entwickelt, die dann im politischen Prozess und im anschließenden Kompromiss einer wechselnden Gestaltung unterliegen, oftmals bereits nach kurzer Zeit weitere Aktivitäten erforderlich machen, ist als ,induktive Reform' zu bezeichnen. Eine derartige Politik kostet nicht nur ein Übermaß an Ressourcen, sie kann die Handlungsnotwendigkeiten aus der Sicht der KMU in keinen konsistenten Gesamtzusammenhang einbringen (Cichy 2004). Notwendig ist der Wechsel zu einer .deduktiven Reform'. Diese sollte vorab auf der Grundlage eines theoretischen .Interessenausgleichs' zunächst ein Leitbild entwickeln, das ein Gleichgewicht zwischen den Reformanliegen aus der Sicht der mittelständischen Unternehmen und der im Mittelstand beschäftigten Arbeitnehmer herstellt (Cichy 2004). Hierbei muss der Aspekt der ,Wettbewerbsfähigkeit' der Unternehmen Leitbildcharakter erhalten. Wettbewerbsfähigkeit ist aus der Sicht der Unternehmen die notwendige Bedingung der Ertragskraft, aus der Sicht der Arbeitnehmer Grundlage fur den Erhalt der Arbeitsplätze. Einschränkungen der Wettbewerbsfähigkeit bedürfen daher einer aus der Sicht beider Seiten akzeptablen Begründung. So sind z. B. beim Flächentarifvertrag die Wettbewerbsnachteile der KMU den Vorteilen einer einheitlichen Lohnfindung (inklusive der Absicherung gewerkschaftlicher Einflusssphären) gegenüberzustellen. Beim Kündigungsschutz ist die Arbeitsplatzsicherheit der Beschäftigten mit den daraus resultierenden Kosten für die Unternehmen (und den hieraus wiederum entstehenden Hemmnissen von Neueinstellungen) abzuwägen. Beim Gesamtsystem der Sozialversicherungen ist zu begründen, warum Unternehmen mit dem Arbeitgeberanteil einen die Kosten erhöhenden Zuschlag zu den Tariflöhnen zahlen sollen, damit unter Umständen aber auch wohlbegründet einen Grundbeitrag zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft zu leisten haben. Auf der Grundlage einer allgemein akzeptierten Lastenverteilung wäre dann ein Masterplan der Reformen zu entwickeln, der einen konkreten Rahmen für Einzelmaßnahmen absteckt. So müsste z. B. für die Sozialversicherungen zunächst der auch von den KMU akzeptierbare Gesamtbeitragssatz festgelegt werden, mit dem die Löhne zur Beitragsdeckung belastet werden dürfen. Im nächsten Schritt wäre dann zu klären, wie der Gesamtbeitrag auf die einzelnen Versicherungen aufgeteilt wird, wo eventuell als Kon-

Reformerfolge und Reformdefizite als Standortfaktor aus mittelständischer Perspektive

319

sequenz einer Verringerung der Arbeitgeberanteile eine private Absicherung der Arbeitnehmer erforderlich würde. Die vorstehenden Forderungen mögen theoretisch klingen. Aber die gegenwärtige Reformrealität macht gerade den Mangel an grundsätzlichen Überlegungen offenkundig. Deshalb scheint ein prinzipielles Umdenken dringend erforderlich, um eine weitere reformpolitische Stagnation mit allen Folgen für die mittelständischen Unternehmen und deren Arbeitnehmer zu verhindern. So lange Reformen sich nicht in einem konsistenten System an den Belangen der mittelständischen Unternehmen orientieren, werden sie deren Bedürfnissen nicht gerecht. KMU werden dann nicht nur wie die Großunternehmen verstärkt Möglichkeiten der Abwanderung suchen, es werden sich auch die lokale Standortverlagerung in die Schattenwirtschaft und die hohen Schließungsraten fortsetzen. Die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Konjunktur, für die Staatsfinanzierung und den Bestand eines gesellschaftlich stabilen Klimas lassen sich nicht überschauen.

Literatur ASU - Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer e. V. (o. J.), Nachhaltiger Bürokratieabbau in Deutschland. Konzeption für eine Generallösung, Berlin. Cichy, U. (2004), Hartz, Agenda 2010 und andere Konzepte. Reformbedarf und Zwischenergebnisse aus mittelständischer Sicht, Bonn. Günterberg, G. und H.-J. Wolter (2002), Untemehmensgrößenstatistik 2001/2002, IfM-Materialien, Bonn. Eichhorst, W. u. a. (2001), Benchmarking Deutschland. Bericht der Arbeitsgruppe Beschäftigung und der Bertelsmann Stiftung, Berlin u. a. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2002), 21.07.02. Handelsblatt (2003), 30.07.03. Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (2002), Schattenwirtschaft wächst 2002 sehr viel schneller als die offizielle Wirtschaft, Presseinformation vom 25.01.02, Tübingen. IWD - Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (2002), 28, Nr. 8. IWD - Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (2003), 29, Nr. 34. Schneider, F. und D. Enste (2000), Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit. Umfang, Wirkungen und wirtschaftspolitische Empfehlungen, München. Weimann, J. und N. Zifonun (2003), Gesundheitsausgaben und Gesundheitspersonal 2001, in: Wirtschaft und Statistik, 6/2003, S. 519-530.

Kurzbeitrag

EU-Erweiterung: Reformbeschleuniger für Mittelstand und Politik

Peter Weiss

Inhalt 1. Anpassungsbedarf im handwerklichen Mittelstand

322

2. Herausforderungen fur die nationale Politik

326

3. Anforderungen an die Gemeinschaftspolitiken der Europäischen Union

328

4. Fazit und Ausblick

329

Literatur

329

322

Peter Weiss

Mit der am 1. Mai 2004 vollzogenen Erweiterung um zehn neue auf nun insgesamt 25 Mitgliedstaaten wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Europäischen Union eröffnet: Diese bislang größte Erweiterungswelle wird durch die Verankerung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und marktwirtschaftlichen Strukturen nicht nur langfristig die politische Stabilität innerhalb Europas sichern, sondern auch dazu beitragen, das politische Gewicht des .neuen Europa' in der Welt zu steigern. Vor allem aber wächst die Europäische Union durch die Erweiterung zum weltweit größten, nach einheitlichen Regeln funktionierenden Binnenmarkt mit rund 450 Mio. Einwohnern an. Damit wird die Voraussetzung für eine dauerhaft höhere Wachstumsdynamik in der erweiterten EU geschaffen, nicht zuletzt auch fur die exportintensive deutsche Volkswirtschaft. Allerdings darf trotz der überwiegend positiven Auswirkungen des Erweiterungsvorhabens diesseits und jenseits der Grenzen nicht vernachlässigt werden, dass mit der aktuellen Erweiterung auch sehr unterschiedliche Volkswirtschaften zusammengeführt werden. So handelt es sich bei den neuen Mitgliedsländern mit Ausnahme von Malta und Zypern zum einen um sehr junge und bewegliche Marktwirtschaften, zum anderen ist das ökonomische Leistungsgefälle zum Durchschnitt der bisherigen Mitgliedstaaten so groß wie bei noch keiner der bisherigen Erweiterungsrunden. Die Erweiterung birgt somit auch zahlreiche Risiken; dabei sind Chancen und Risiken weder zwischen den Regionen noch zwischen den Branchen gleichverteilt. Insofern ist die Osterweiterung der Europäischen Union auch ein Experiment, in dem zwei Welten aufeinander prallen: Die Volkswirtschaften sind durch stark unterschiedliche Kostenstrukturen und Rahmenbedingungen an den Standorten gekennzeichnet. Dadurch werden vor allem die Unternehmen, aber auch die Regionen und die nationalen Politiken in den Alt-Mitgliedstaaten vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Denn die Erweiterung führt nicht nur zu einer Wettbewerbsverschärfung insbesondere bei arbeitsintensiven Produkten und Dienstleistungen und löst damit einen erheblichen Anpassungs- und Umstrukturierungsbedarf in weiten Bereichen des Untemehmenssektors aus, vielmehr beschleunigt sie auch den Standortwettbewerb und erfordert von der Politik eine stärkere Überprüfung und Anpassung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Zudem wird auch eine Neuausrichtung der europäischen Gemeinschaftspolitiken erforderlich. Vor diesem Hintergrund kann die Erweiterung der dringend erforderliche Reformbeschleuniger für Mittelstand und Politik sein. Dies soll am Beispiel des handwerklichen Mittelstandes in Deutschland verdeutlicht werden. 1. Anpassungsbedarf im handwerklichen Mittelstand Die Erweiterung der Europäischen Union eröffnet auch dem Handwerk, das mit seinen rund 850.000 Betrieben und ca. 5,1 Mio. Beschäftigten das Kernstück des deutschen Mittelstandes bildet, unbestreitbare Chancen: Stärker als bislang können die Betriebe die mittel- und osteuropäischen Beschaffungsmöglichkeiten und damit günstigere Beschaffungsmärkte nutzen, auch um damit neue Produkte und Vorleistungen in ihr eigenes Angebot zu integrieren und ihre Leistungspalette zu verbessern. Gleichzeitig eröffnen sich für viele Handwerksbetriebe aber auch neue Absatzmärkte, die durch Kooperationen mit Partnern in den Beitrittsländern oder durch Investitionen vor Ort erschlossen werden können und dabei helfen, die rückläufigen Umsätze im Inland zu kompensieren.

EU-Erweiterung

323

Allerdings stellt die Erweiterung auch und gerade fur das sehr arbeitsintensive Handwerk eine besondere Herausforderung dar, zumal die Unternehmen aus den beigetretenen Ländern aufgrund des Lohnkostengefalles einen starken Wettbewerbsvorteil bei arbeitsintensiven Produkten und Dienstleistungen haben, der durch höhere Produktivitäten kaum wettgemacht werden kann: So beliefen sich im Jahre 2002 die durchschnittlichen Arbeitskosten im Verarbeitenden Gewerbe Westdeutschlands auf 26,32 € und in Ostdeutschland auf 16,43 €, während die entsprechenden Kosten in Polen lediglich 3,76 € und in der Tschechischen Republik 3,30 € erreichten (Institut der Deutschen Wirtschaft 2004). Vor dem Hintergrund, dass die Lohnkosten in Teilen des Handwerks und auch in anderen mittelständischen Bereichen bis zu 80 % der Gesamtkosten ausmachen (Statistisches Bundesamt 1998) und substanzielle Einsparungspotenziale bei anderen Kostenkomponenten oft nicht vorhanden sind, haben diese starken Unterschiede für den Fall einer ungeregelten Integration nicht nur im deutschen Mittelstand zu erheblichen Ängsten vor einem drohenden Verdrängungswettbewerb bei Arbeitsplätzen und Betrieben gefuhrt, mit dem weitere Gefahren für die Gesamtwirtschaft verbunden wären: Dazu zählen u. a. ein Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit und die Überlastung der Sozialversicherungssysteme. Aufgrund der Interventionen von Deutschland und Österreich sehen die Beitrittsverträge nunmehr die Möglichkeit für die Nationalstaaten vor, die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit den nationalen Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik für eine bis zu siebenjährige Übergangszeit zu beschränken. Nach dem 2+3+2-Modell kann die Freizügigkeit zunächst für zwei Jahre ausgesetzt werden, nach erneuten Prüfungen der Arbeitsmarktsituation sind weitere Verlängerungen um drei bzw. nochmals zwei Jahre möglich. Parallel dazu kann in Deutschland und in Österreich die Dienstleistungsfreiheit in den als .sensibel' eingestuften Bereichen des Baugewerbes, der Gebäudereinigung und der Innendekoration eingeschränkt werden. Mit diesen flexiblen und differenzierten Regelungen sollen Anpassungsschocks auf den ohnehin schon überlasteten Arbeitsmärkten und negative Konsequenzen auf den Untemehmensbestand vermieden werden. Entgegen der Ankündigungen auf eine sofortige Öffnung ihrer Arbeitsmärkte haben mit Ausnahme von Irland und Schweden alle bisherigen Mitgliedstaaten von den Übergangsfristen Gebrauch gemacht, dabei in vielen Fällen aus Angst vor einem drohenden ,Sozialtourismus'. Aber auch wenn die Erweiterung mit Übergangsregelungen abgefedert wird und die Integrationswirkungen damit zeitlich entzerrt werden, so können sie für alle arbeitsintensiven Bereiche allenfalls eine .Verschnaufpause' bedeuten: Denn auch nach dem Auslaufen der Übergangsfristen werden erhebliche Lohn- und Arbeitskostenunterschiede zwischen Deutschland und den MOEL bestehen, spätestens dann ist mit den vollständigen Wettbewerbswirkungen des erweiterten Binnenmarktes zu rechnen. Somit ist eine zügige Anpassung der Unternehmen auf die neuen Wettbewerbsverhältnisse notwendig. Für eine möglichst schnelle Anpassung spricht des Weiteren, dass auch in der Phase nach dem Beitritt und vor dem Auslaufen der Übergangsfristen damit gerechnet werden muss, dass sich der schon heute bestehende Konkurrenzdruck aus den mittel- und osteuropäischen Ländern weiter intensivieren wird. So können ζ. Β. 1-Personen-Unternehmen aus den MOEL mitsamt ihres Schlüsselpersonals auch in den von der Dienstleistungsfreiheit ausgenommenen Bereichen in Deutschland tätig werden, zudem dürfte der Wettbewerbsdruck auch durch Schwarzarbeit und illegale Betätigung von Unternehmen

324

Peter Weiss

weiter zunehmen. Dabei fallt der Anpassungsdruck für die Betriebe tendenziell umso größer aus, je weniger Distanz zu den Beitrittsländern besteht, je höher die Arbeitsintensität in den Gewerken ist und je ungebundener von einer Werkstatt die Leistungserbringung erfolgen kann (Müller 2003). Vor diesem Hintergrund müssen von den Betrieben alle möglichen Stellschrauben genutzt werden, um sich auf die Erweiterung der EU einzustellen, dem zunehmenden Wettbewerb standzuhalten und die auf den Märkten liegenden Chancen zu nutzen. Die Anpassungsmaßnahmen können zumindest zweifach unterschieden werden, nämlich in aktive und in reaktive Strategien. Reaktive Anpassungsstrategien In den grenznahen Gebieten muss es Zielsetzung vor allem der arbeitsintensiven Betriebe sein, ihre Betriebsabläufe zu rationalisieren, um die Produktivität zu erhöhen. Neben diesen Rationalisierungseffekten sollten alle Strategien eingesetzt werden, mit denen die Handwerksbetriebe bereits dem in der Vergangenheit gestiegenen Wettbewerbsdruck durch andere ausländische und inländische Anbieter getrotzt haben. Dazu gehört in erster Linie, sich durch weitere Qualitätsverbesserungen und die Verstärkung des produktbegleitenden Serviceangebots von der Konkurrenz abzuheben: Neben dem Ausbau hochwertiger, qualitativ exzellenter Angebote stellen auch Angebote von Leistungen aus einer Hand' mit Zusatzleistungen eine Möglichkeit dar, sich für den Kunden positiv von der Konkurrenz abzugrenzen. Weil viele dieser umfassenden und vielfach maßgeschneiderten Komplettlösungen nicht von kleinen Handwerksbetrieben alleine durchführbar sind, werden Kooperationen ein vielversprechender Weg sein, durch Bündelung der Kräfte auf die geänderte Wettbewerbssituation zu reagieren und neue Angebote zu schaffen. Eine besondere Bedeutung wird zudem der kontinuierlichen Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter in den Betrieben zukommen, zumal der Wettbewerbsdruck mit der Osterweiterung für die Betriebe umso stärker sein wird, je einfacher die Leistungen austauschbar sind. Mit entsprechenden Aus- und Weiterbildungsanstrengungen kann nicht nur die Qualität des Produkt- und Dienstleistungsangebots erhöht werden, vielmehr kann auch die Arbeitsproduktivität an die Arbeitskosten angeglichen werden. Dabei ist aber auch die Bundesregierung gefordert: Eine Qualifizierungsoffensive - beginnend mit der schulischen Bildung - ist erforderlich, um möglichst viele einfache Qualifikationen aufzuwerten und Beschäftigte in Arbeitsplätze zu führen, die den Herausforderungen standhalten können. Aktive Anpassungsstrategien Die Osterweiterung wird den Strukturwandel im Handwerk weiter beschleunigen. Umso wichtiger wird es werden, die Chancen der Erweiterung so zu nutzen, dass in möglichst vielen Handwerken neue, rentable und zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen werden können. Dazu bedarf es aktiver Strategien, mit denen die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe die wirtschaftlichen Chancen der Erweiterung durch grenzüberschreitende Aktivitäten nutzen. Hier besteht ein noch erhebliches Potenzial. Zwar haben in den vergange-

EU-Erweiterung

325

nen fünf Jahren erfreulich viele Handwerksbetriebe ihre Auslandsaktivitäten gesteigert, so dass in einer repräsentativen Umfrage immerhin 8,9 % der Befragten angeben konnten, ihre Waren und Dienstleistungen auch im Ausland anzubieten (ZDH 2000). Allerdings sind gerade die Aktivitäten in den der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Ländern noch stark ausbaufähig. Am einfachsten und von der relativ größten Anzahl der Betriebe genutzt werden können die Vorteile des erweiterten Beschaffungsmarktes mit günstigeren Einkaufsmöglichkeiten. Durch die Nachfrage nach neuen Produkten, Vorleistungen und Dienstleistungen kann das eigene Angebot erweitert werden. Zudem sind durch die in der Regel deutlich niedrigeren Preise in den MOEL Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen in den Betrieben realisierbar. Das Internet vereinfacht zudem die Nutzbarkeit der neuen Beschaffiingsmöglichkeiten. Für die arbeitsintensiven Handwerksbereiche besteht neben der o. g. Rationalisierung der Betriebsabläufe im Inland zusätzlich die Möglichkeit, besonders arbeitsintensive Teile der Produktion in die MOEL zu verlegen, um deren Standortvorteile gezielt zu nutzen. Mit der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit können Arbeitsplätze und Umsätze vor Ort gesichert werden. Dies kann in Form einer Auftragsfertigung erfolgen, aber auch durch die Gründung von Joint-Ventures bzw. Kooperationen. Besonders erfolgversprechend aber sind Aktivitäten zur Nutzung und Erweiterung der Absatzmärkte in den MOEL, zumal in vielen Bereichen noch erheblicher Nachholbedarfbesteht und die dortigen Märkte über ein enormes Wachstumspotenzial verfügen. Nach dem Beitritt der Staaten Mittel- und Osteuropas und der Gewährleistung annähernd gleicher Rechts-, Eigentumsverhältnisse sowie nach Abschaffung der Zölle und Kontingente sind diese Länder als Absatzmarkt für deutsche Produkte noch interessanter geworden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit wachsenden Lebensstandards in den MOEL und der langsamen Angleichung an die Lebensverhältnisse in den bisherigen EU-Mitgliedstaaten auch die dortige Nachfrage nach höher- und hochwertigen Gütern und Dienstleistungen stark ansteigen wird. Vor diesem Hintergrund ist auch eine erhebliche Ausweitung des handwerklichen Exportes zu erwarten. Dabei dürften vor allem die KMU in den relativ kapitalintensiveren und technologisch fortgeschritteneren Sektoren von der Marktöffnung und den Wachstumsmöglichkeiten profitieren. Im Handwerk betrifft dies insbesondere die Güter des gewerblichen Bedarfs, zumeist Zulieferprodukte mit hoher Qualität, die in dieser oder einer vergleichbaren Form in den Beitrittsstaaten noch nicht hergestellt werden können. Allerdings zeigt die Praxis, dass auch arbeitsintensive Bereiche gute Chancen für ein erfolgreiches Angebot in den MOEL vorfinden, sofern ihre Produkte und Dienstleistungen Wettbewerbsvorteile (ζ. B. in Form integrierter Finanzierungsangebote) aufweisen oder spezielle Nischen bedienen. Neben dem Export sind dabei insbesondere Direktinvestitionen, mit denen neue Produktionskapazitäten bei den potenziellen neuen Kunden vor Ort geschaffen werden, besonders Erfolg versprechend. Ebenso wie bei Kooperationen und Joint-Ventures mit den Unternehmen bietet sich dabei die Möglichkeit, die Standortvorteile des Beitrittslandes mit den eigenen Stärken zu kombinieren. Die Möglichkeiten zur aktiven Nutzung der Chancen vor Ort durch Joint-Ventures und Niederlassungen sind für viele Gewerke vorhanden und werden auch von vielen

326

Peter Weiss

Betrieben bereits genutzt. Wünschenswert und notwendig ist aber eine deutliche Ausweitung der grenzüberschreitenden Aktivitäten und dabei vor allem grenzüberschreitender Kooperationen, weil sie in besonderem Maße zur wirtschaftlichen Integration mit positiven Auswirkungen auf beiden Seiten der Grenzen beitragen. Allerdings ist festzustellen, dass gerade fur kleine und mittlere Betriebe nicht zuletzt auch des Handwerks ein solches Auslandsengagement mit besonderen Problemen verbunden ist. So reichen die Managementkapazitäten zumeist nicht aus, zielgerichtete Informationen über die relevanten Teilmärkte in den MOEL zu beschaffen, die Auslandsmärkte zu erkunden und eine Aktivität vor Ort durchzusetzen. Eine konkrete Unterstützung durch Coaching-Maßnahmen kann dabei helfen, die Managementdefizite zu reduzieren und die Auslandsorientierung zu befördern. Allerdings werden viele Betriebe bei geplanten Auslandsaktivitäten auch durch Finanzierungsprobleme gebremst: Denn ein Auslandsengagement erfordert in der Regel einen langen Atem, nicht zuletzt auch finanziell, und somit eine erhebliche Vorfinanzierungsleistung. Diesbezüglich wird aber immer häufiger auch über eine Kreditklemme der Banken berichtet, die ihre Kreditvergabe in Vorbereitung auf neue Rating-Vorschriften zunehmend restriktiver gestalten und vor allem im kleinteiligen Bereich immer weniger Kredite herausgeben. Gekoppelt mit der schwachen Ertragslage und in der Regel unzureichendem Eigenkapital aufgrund der seit Jahren anhaltenden binnenwirtschaftlichen Nachfrageschwäche fehlt deshalb oftmals das notwendige Kapital, um den Strukturwandel durch die Erweiterung des Auslandsgeschäfts einzuleiten. 2. Herausforderungen für die nationale Politik Vor allem bei den arbeitsintensiven Betrieben des Mittelstandes wird der Wettbewerbsdruck in Folge der Erweiterung der EU massiv ansteigen und einen erheblichen Anpassungs- und Umstrukturierungsbedarf auslösen. Die Gestaltung des Wettbewerbs und die Bewältigung der Herausforderungen ist dabei in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Allerdings entscheidet über die Erfolge im Wettbewerb nicht nur das eigene unternehmerische Können, vielmehr sind auch die am Standort vorgegebenen Rahmenbedingungen entscheidend dafür, inwieweit sich die kleinen und mittleren Betriebe auch zukünftig auf den inländischen Märkten behaupten und darüber hinaus auch stärker die wohlfahrtssteigernden Effekte offener Auslandsmärkte nutzen können. Diesbezüglich weisen die ersten eingeleiteten Reformen am Standort Deutschland zwar in die richtige Richtung, sie sind aber bei weitem nicht ausreichend: Immer noch weist der Standort zahlreiche Schwächen auf und belastet die ansässigen Unternehmen mit erheblichen Wettbewerbsnachteilen. Durch die Erweiterung der EU können es sich die Alt-Mitgliedstaaten und dabei insbesondere Deutschland aber immer weniger leisten, die Anpassung der Rahmenbedingungen an das internationale Umfeld noch weiter in die Zukunft zu verschieben. Denn mit der Erweiterung sind der EU Staaten beigetreten, die den Standortwettbewerb in räumlicher Nähe erheblich verschärfen und die Mängel an anderen Standorten aufdecken. So können die mittel- und osteuropäischen Länder nicht nur deutlich niedrigere Kostenstrukturen und ein in der Regel hohes Qualifikationsniveau der Erwerbstätigen vorweisen, vielmehr haben sie während des Beitrittsprozesses auch eindrucksvoll be-

EU-Erweiterung

327

wiesen, dass sie reformfähig und gewillt sind, sich für eine Mitgliedschaft auch mit harten sozialen und ökonomischen Einschnitten an die Anforderungen anzupassen. Die Regierungen haben in kürzester Zeit die wirtschaftlichen und sozialen Reformen in ihren Ländern vorangetrieben, um sich und ihre Betriebe wettbewerbsfähig zu machen. Dazu haben sie die Verwaltungen reformiert und Bürokratie abgebaut, sie haben die Haushalte in Ordnung gebracht und die Staatsquoten reduziert, und sie modernisieren die Infrastrukturen. Die beigetretenen Länder haben ihre Bemühungen zur Standortverbesserung und zu weitergehenden Reformen mit dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen aber keineswegs eingeschränkt. So hat die Slowakische Republik zum 1. Januar 2004 für die Körperschaftssteuer, die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer einen einheitlichen Steuersatz von 19 % eingeführt, um das Land durch ein sehr einfaches und wettbewerbsfähiges Steuersystem noch attraktiver für Auslandsinvestoren zu machen. Inzwischen liegen die Körperschaftssteuersätze in 6 von 10 beigetretenen Ländern schon unter 20 %, weitere Länder beabsichtigen - nicht zuletzt aufgrund der slowakischen Initiative - die Ertragssteuern in den nächsten Jahren zu senken. Zum Vergleich: Der Körperschaftssteuersatz in Deutschland beträgt knapp über 26 %, hinzu kommen aber in der Regel noch 12 % Gewerbesteuer. Auch wenn die Sätze aufgrund der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen nicht gänzlich miteinander vergleichbar sind, so liegt die tarifliche Grenzsteuerlast der neuen Mitgliedstaaten weit unter der Deutschlands. Vor diesem Hintergrund darf sich Deutschland keinesfalls auf seiner Mitgliedschaft in der EU ausruhen, vielmehr muss es seinerseits alle erdenklichen Schritte einleiten, die notwendigen Strukturreformen druckvoll einzuleiten und umzusetzen. Denn mit der im Zuge des Beitritts einhergehenden Angleichung der Rechtsverhältnisse und drastischen Vereinfachungen des Eigentumserwerbs ist der Anreiz zur Standortverlagerung für die Unternehmen aus den Alt-Mitgliedstaaten enorm angestiegen. Daraus resultiert für Deutschland eine zweifache Verpflichtung. Die Politik muss Reformen mit der Zielsetzung der Verbesserung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen durchsetzen, - um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen am Standort zu verbessern. Dabei geht es in erster Linie um die Reduzierung der Kostenbelastungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im intensivierten Kostenwettbewerb; zum anderen müssen aber vor allem auch die Voraussetzungen und Grundlagen für die kapital- und wissensintensive Produktion gestärkt werden. - um den Standort ,fit' zu machen für die neuen Herausforderungen und um seine Attraktivität zu erhöhen. Zielsetzung muss es sein, mittelfristig die Abwanderung von Unternehmen zu minimieren und den Zuzug von ausländischen Investoren zu steigern. Zu den notwendigen Refoimfeldern in Deutschland gehört die Einführung von schlanken und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung dauerhaft tragfáhigen Sozialversicherungssystemen, eine Vereinfachung des Steuerrechts bei gleichzeitiger Rückführung der Steuerbelastung, Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechts sowie die Rückführung der Staatsquote und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Vor allem aber wird für den Standort entscheidend sein, ob es gelingt, durch erhöhte Anstrengungen in der Bildungs- und in der Forschungspolitik wieder die Grundlage für dauerhafte Wettbewerbsvorteile einer wissensbasierten Gesellschaft zu schaffen.

328

Peter Weiss

Zur Durchsetzung der Strukturreformen ist eine Reform des Föderalismus zwar nicht unabdingbar, aus den Erfahrungen der Vergangenheit aber notwendig, insbesondere, um politische Blockadekonstellationen zu minimieren. Keinesfalls sollte der Versuch unternommen werden, die verschärfte Standortkonkurrenz durch Forderungen nach Harmonisierungen auf europäischer Ebene umgehen zu wollen, wie dies jüngst durch die deutsch-französische Initiative zur Einführung einer Mindestbesteuerung in der EU geschehen ist. Dies würde allenfalls die Anpassungslasten weiter in die Zukunft verschieben und später zu noch höheren Anpassungskosten fuhren.

3. Anforderungen an die Gemeinschaftspolitiken der Europäischen Union Neben diesen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Aspekten ist auch die Europäische Union gefordert, die Weichen für den Erfolg der Erweiterung nach dem Beitritt zu stellen. So erfordert die Aufnahme von aktuell 10 und absehbar weiteren Mitgliedstaaten eine Anpassung der ursprünglich auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ausgelegten Organe der EU an die Realitäten, um auch zukünftig eine ,EU der 25+' handlungsfähig zu erhalten. Darüber hinaus müssen auch die gemeinschaftlichen Agrar- und Strukturpolitiken reformiert werden. Dabei stellen insbesondere die institutionellen Reformen die erweiterte EU vor eine große Bewährungsprobe, zumal die Machtverhältnisse und Entscheidungsmechanismen neu festgelegt werden müssen. In diesem Zusammenhang hat der eigens dafür ins Leben gerufene Europäische Konvent - trotz der im Vorfeld von vielen Seiten geäußerten Skepsis - in seinem im Juni 2003 vorgelegten Verfassungsentwurf die Eckpfeiler des neuen Europa formuliert: Ein für zweieinhalb Jahre gewählter Präsident des Europäischen Rates, das Amt des EU-Außenministers, eine Beschränkung der Kommissariatsposten mit Stimmrecht sowie der überwiegende Übergang zu Mehrheitsentscheidungen beim Abstimmungsverhalten. Mit der Einigung auf diese Grundzüge eines Vertragstextes auf dem Europäischen Gipfel von Brüssel im Juni 2004 haben die Staats- und Regierungschefs einen wegweisenden Schritt in Richtung einer auch in Zukunft handlungsfähigen Europäischen Union getan. Von nicht minderer Bedeutung ist die Neuausrichtung der gemeinschaftlichen Agrarund Strukturpolitiken in der Förderperiode 2007-2013, zumal eine bloße Fortführung der aktuellen Fördersysteme finanziell nicht verkraftbar wäre. Während im Bereich der EU-Agrarpolitik bereits eine Einigung auf die wesentlichen Eckpunkte erzielt werden konnte und eine ökonomisch sinnvolle Entkoppelung der bisher produktionsabhängigen Subventionierung zu einzelbetrieblichen, produktionsunabhängigen Zahlungen angestrebt wird, haben die Diskussionen um eine Neuausrichtung der EU-Strukturpolitik gerade erst begonnen. Dabei entstehen die Hauptprobleme dadurch, dass acht der zehn beigetretenen Länder zu den am forderwürdigsten eingestuften Regionen, den Ziel-1 Gebieten, zählen werden und viele der aktuellen Ziel-1-Regionen einzig aufgrund des statistischen Effektes aus der Förderkulisse herausfallen würden, ohne dass sich an ihrer wirtschaftlichen Situation etwas geändert hätte, so auch Ostdeutschland. Eine Neuausrichtung ist deshalb nicht nur aufgrund einer wünschenswerten Fortsetzung der Förderung in Ostdeutschland erforderlich, sondern vor allem, um die Finanzierungsmittel

EU-Erweiterung

329

nicht ausufern zu lassen. Diesbezüglich sollten folgende Grundsätze in der zukünftigen Strukturpolitik Berücksichtigung finden: - Begrenzung der für die Strukturpolitik bereitzustellenden Mittel durch anteilsmäßige Festschreibung am EU-BIP auf heutigem Niveau, - Beibehaltung einer substanziellen Kofinanzierung, um Mitnahmeeffekte zu reduzieren, - starke Konzentration der Ziele und der Gemeinschaftsinitiativen fur mehr Transparenz und - Stärkung des Förderschwerpunktes KMU. Darüber hinaus ist insbesondere sicherzustellen, dass die strukturpolitischen Mittel nicht zur Ansiedlungsförderung verwandt werden. Ansonsten droht die Gefahr einer Verzerrung des Standortwettbewerbs zu den Alt-Mitgliedstaaten. 4. Fazit und Ausblick Die Erweiterung kann nicht nur für die Europäische Union, sondern auch für Deutschland und die Vielzahl seiner kleinen und mittleren Betriebe ein Erfolg werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Politik die aus der Erweiterung kommende Verschärfung der Standortkonkurrenz erkennt, den daraus resultierenden Reformdruck annimmt und die überfälligen Strukturreformen schnell in die Wege leitet. Denn von der zukünftigen Positionierung Deutschlands im internationalen Standortwettbewerb hängen nicht zuletzt auch die Überlebensfähigkeit und die Entwicklungschancen der mittelständischen Wirtschaft ab, die mit der Erweiterung vor enorme Anpassungserfordernisse gestellt wird, dabei vor allem in den arbeitsintensiven Branchen. Ohne grundlegende Verbesserungen der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen werden die Risiken der Entwicklungen die Chancen überwiegen. Die Beschleunigung der Strukturreformen würde dagegen nicht nur die Unternehmen dabei unterstützen, dem zunehmenden Wettbewerb standhalten zu können, sondern auch dabei, die Chancen der Erweiterung offensiv anzugehen. In diesem Sinne wirkt die Erweiterung als wohlfahrtsfordernder Reformbeschleuniger für Mittelstand und Politik. Literatur Institut der Deutschen Wirtschaft (2004), Standort Deutschland - ein internationaler Vergleich, Köln. KreditanstaltfiirWiederaufbau (2004), Unternehmensfinanzierung: Noch kein Grund zur Entwarnung ... aber Fortschritte bei der Anpassung an neue Spielregeln des Finanzmarktes. Auswertung der Unternehmensbefragung 2003/2004, Frankfurt am Main oder www.kfw.de. Müller, Klaus (2002), Grundsatzfragen der EU-Osterweiterung aus Sicht des deutschen Handwerks, in: Seminar fur Handwerkswesen (Hg.), Perspektiven der EU-Osterweiterung fur das deutsche Handwerk, Kontaktstudium Wirtschaftswissenschaften, Duderstadt. Statistisches Bundesamt (1998), Kostenstrukturstatistik im Handwerk 1994, Fachserie 2: Unternehmen und Arbeitsstätten, Reihe 1.1, Wiesbaden. Zentralverband des Deutschen Handwerks (2000), Auslandsaktivitäten von Handwerksbetrieben, Ergebnisse einer Untemehmensbefragung, Berlin.

Kurzbeitrag

Regional Integration and Policy Coordination: The Case of Central America

Alfred

Schipke

Content 1. How far has regional integration and coordination already gone?

332

2. Will the recently signed free trade agreement (CAFTA) lead to further integration among the Central American countries?

333

3. The need for more policy coordination and harmonization

333

332

Alfred Schipke

Regional integration is gaining momentum across the globe. Spearheaded by the expansion of the European Union, other regions are following suit. Most recently, the member countries of the Gulf Cooperation Council committed themselves to accelerated regional integration, including the creation of a monetary union by the end of the current decade; policymakers in both Asia and Africa are considering similar steps. For smaller countries, regional integration is a strategy to maximize the benefits of scale economies and to participate successfully in a more globalized economy. Formally, Central America's effort to move closer toward regional integration already started in the early 1960s. At that time, the objective was to create a common market similar to the European model. This process was, however, interrupted by a period of conflicts in some countries of the region. Since the beginning of the 1990s, Central America has made substantial strides on both the political and economic levels. Regained political stability has gone hand-in-hand with macroeconomic stability, a reduction in inflation, and a resumption of economic growth. The 1990s also saw a revitalization of the integration effort, which has been accelerating over the past years. Central America seems to be a natural candidate for increased regional integration and cooperation given the countries' shared characteristics including a common language and cultural heritage.

1. How far has regional integration and coordination already gone? While the share of trade with the United States is greater than trade among the Central American countries themselves, cross-border activities are particularly pronounced in the financial sector. Financial institutions that originally focused on the home market have expanded throughout the region by establishing offices, branches, subsidiaries, or using other arrangement (including "off shore" and parallel banking). The percentage of assets held by regionally operating banks is particularly high in El Salvador and Nicaragua, and Panama, with the most important groups being Cuscatlán, Primer Banco de Istmo, and the Banco de América Central. In addition, Central America has a number of institutions in place that foster policy coordination at the regional level. The respective central bank presidents meet regularly at the Central American Monetary Council to exchange information about macroeconomic developments, monetary policy, and financial sector issues. More recently, the Central American Council of Financial Sector Superintendents has become a forum for bank superintendents to search for ways to reduce the risks associated with cross border transactions in the financial sector, including the sharing of information and the adoption of common financial frameworks. Other important regional institutions are the Central American Bank for Economic Integration (CABEI), which finances—among others—regionally focused infrastructure project; and the Secretariat for Central American Economic Integration (SIECA), which has played a key coordination role in the free trade negotiations with the United States (CAFTA) and the planned Central American Customs Union.

Regional Integration and Policy

Coordination

333

2. Will the recently signed free trade agreement (CAFTA) lead to further integration among the Central American countries? In May 2004, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, and the United States signed CAFTA. 1 CAFTA is expected to provide enhanced market access to the United States and is modeled after similar U.S. free trade agreements with Chile and Singapore. While the agreement does not incorporate provisions for intra-regional integration as originally intended, CAFTA is still likely to accelerate the integration process. For example, preliminary estimates suggest that the co-movement of business cycles of the respective countries with the United States will increase. This in turn implies that shocks to the region will become more symmetrical leading to the adoption of similar policy responses and allowing for increased policy coordination. Also, the adoption of similar (most likely U.S. standards) will foster the harmonization of standards across the region.

3. The need for more policy coordination and harmonization While CAFTA is expected to foster regional integration, it also calls for more policy coordination. For example, taxes on profits are currently not standardized and both rates and bases vary across countries. In addition, all Central American countries grant a series of tax incentives including lower or zero statutory rates and partial or total exclusion from the tax base. With CAFTA there is the risk of an intensified "beggar-thyneighbor" tax competition as countries might try to attract more FDI from the United States. To avoid such a race to the bottom, there is substantial scope for the harmonization of taxes and tax incentives. Moreover, increased policy coordination and harmonization is also warranted in other areas such as the financial sector. For example, some of the increased cross border activities mentioned above, reflect regulatory arbitrage rather than the search for economies of scale making policy coordination and the harmonization of regulation and supervision in the financial sector more urgent. Differences in capital adequacy ratios and reserve requirements are incentives for financial institutions to move operations to the country with the weakest prudential requirements. Central America is well positioned to benefit from further regional integration. However, to ensure the largest benefits possible while minimizing the risks of increased vulnerabilities, the integration process should be accompanied by enhanced policy coordination and harmonization.

The Dominican Republic is scheduled to be included in this agreement at a later date.

Autorenverzeichnis Apolte, Prof. Dr. Thomas, Westfälische Wilhelms-Universität, Scharnhorststraße 100, 48151 Münster, [email protected] Bender, Prof. Dr. Dieter, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum, [email protected] Bleischwitz, Dr. Raimund, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Wuppertal Institut, 42004 Wuppertal, [email protected] Boroch, Dr. Wilfried, AOK Hessen, Basler Straße 2, 61352 Bad Homburg, Dr.Wilfried. [email protected] Caspers, Prof. Dr. Rolf, European Business School, Schloss Reichartshausen, 65375 Oestrich-Winkel, [email protected] Cichy, Dr. Ulrich, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, Haroldstraße 4, 40213 Düsseldorf, [email protected] Clausen, Prof. Dr. Volker, Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Universitätsstraße 12, 45117 Essen, [email protected] Delhaes-Guenther, Prof. Dr. Dietrich von, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur, Gustav-Freytagstraße 42, 04277 Leipzig, [email protected] Fehl, Prof. Dr. Ulrich, Philipps-Universität, Universitätsstraße 24, 35032 Marburg, [email protected] Fleischmann, Diplom-Volkswirt Jochen, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth, Jochen. [email protected] Hartwig, Prof. Dr. Karl-Hans, Westfälische Wilhelms-Universität, Am Stadtgraben 9, 48143 Münster, [email protected] Heilemann, Prof. Dr. Ullrich, Universität Leipzig, Marschnerstraße 31, 04109 Leipzig, [email protected] Jungmittag, Dr. Andre, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, [email protected] Koch, Prof. Dr. Lambert T., Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, [email protected] Kreis-Hoyer, Dr. Petra, European Business School, Schloss Reichartshausen, 65375 Oestrich-Winkel, [email protected] Ksoll, Dr. Markus, Deutsche Bahn AG, Potsdamer Platz 2, 10785 Berlin, markus.ksoll @bahn.de Michler, Dr. Albrecht F., Heinrich-Heine-Universität, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, [email protected] Müller, Dr. Christian, Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg, Lotharstraße 65, 47048 Duisburg, [email protected] Neumann, Prof. Dr. Manfred J.M., Universität Bonn, Lennestraße 37, 53113 Bonn, [email protected] Oberender, Prof. Dr. Peter O., Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth, [email protected]

336

Autorenverzeichnis

Paraskewopoulos, Prof. Dr. Spiridon, Universität Leipzig, Marschnerstraße 31, 04109 Leipzig, [email protected] Schäfer, Prof. Dr. Wolf, Hochschule der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg, [email protected] Schipke, Dr. Alfred, Harvard University, John F. Kennedy School of Government, 79 John F. Kennedy Street, Cambridge, MA 02138, [email protected] Schwerd, Joachim, Fehl, Prof. Dr. Ulrich, Philipps-Universität, Universitätsstraße 24, 35032 Marburg, [email protected] Smeets, Prof. Dr. Dieter, Heinrich-Heine-Universität, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, [email protected] Sundmacher, Dr. Torsten, Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg, Lotharstraße 65, 47048 Duisburg, [email protected] Theurl, Prof. Dr. Theresia, Westfälische Wilhelms-Universität, Am Stadtgraben 9, 48143 Münster, [email protected] Thieme, Prof. Dr. H. Jörg, Heinrich-Heine-Universität, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, [email protected] Tietzel, Prof. Dr. Manfred, Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg, Lotharstraße 65,47048 Duisburg, [email protected] Vollmer, Prof. Dr. Uwe, Universität Leipzig, Marschnerstraße 31, 04109 Leipzig, [email protected] Weiss, Dr. Peter, Zentralverband des deutschen Handwerks, Mohrenstraße 20/21, 10117 Berlin, [email protected] Weifens, Prof. Dr. Paul J.J., Bergische Universität Wuppertal, Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW), Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, [email protected] Wilke, Prof. Dr. Thomas, Hochschule Wismar, 23952 Wismar, [email protected] Willms, Prof. Dr. Manfred, Christian-Albrechts-Universität, Olshausenstraße 40-60, 24098 Kiel, [email protected]

336

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Lucius&Lucius Verlags-GmbH, Stuttgart, ISSN 1432-9220 (bis Band 51 : „Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen") Herausgegeben von Gernot Gutmann, Hannelore Hamel, Helmut Leipold, Alfred Schüller, H. Jörg Thieme unter Mitwirkung von Dieter Cassel, Hans-Günter Krüsselberg, Karl-Hans Hartwig, Ulrich Wagner

Band 73: Hubertus Bardt, „Arbeit" versus „Kapital" - Zum Wandel eines klassischen Konflikts, 2003, X/177 S., 32,00 €, ISBN 3-8282-0277-2. Band 72: Dieter Cassel und Paul J.J. Weif ens (Hg.), Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union, 2003, VIII/543 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0278-0. Band 71 : Alfred Schüller und H. Jörg Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, 2002, VIII/524 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0231-4. Band 70: Alfred Schüller, Marburger Studien zur Ordnungsökonomik, 2002, X/348 S., 32,00 €, ISBN 3-8282-0221-7. Band 69:

DirkWentzel, Medien im Systemvergleich, 2002, XVII/268 S., 38,00 €, ISBN 3-82820220-9.

Band 68: Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme unter Reformdruck, 2002, 454 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0204-7. Band 67: Dietrich v. Delhaes-Guenther, Karl-Hans Hartwig und Uwe Vollmer (Hg.), Monetäre Institutionenökonomik, 2001, VIII/400 S., 34,50 €, ISBN 3-8282-0194-6. Band 66: Dirck Süß, Privatisierung und öffentliche Finanzen: Zur Politischen Ökonomie der Transformation, 2001, 236 S., 31,00 €, ISBN 3-8282-0193-8. Band 65: Yvonne Kollmeier, Soziale Mindeststandards in der Europäischen Union im Spannungsfeld von Ökonomie und Politik, 2001, 158 S., 29,00 €, ISBN 3-8282-0179-2.

Band 64: Helmut Leipold und Ingo Pies (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, 2000, 456 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0145-8. Band 63: Bertram Wiest, Systemtransformation als evolutorischer Prozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten, 2000, 266 S., 34,00 €, ISBN 3-8282-0144-X. Band 62: Rebecca Strätling, Die Aktiengesellschaft in Großbritannien im Wandel der Wirtschaftspolitik: Ein Beitrag zur Pfadabhängigkeit der Unternehmensordnung, 2000, 270 S., 31,00 €, ISBN 3-8282-0128-8. Band 61 : Carsten Schittek, Ordnungsstrukturen im europäischen Integrationsprozeß: Ihre Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht, 1999, 409 S., 39,00 €, ISBN 3-8282-0108-3. Band 60: Peter Engelhard und Heiko Geue (Hg.), Theorie der Ordnungen: Lehren für das 21. Jahrhundert, 1999, 369 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0107-5. Band 59: Thomas Brockmeier, Wettbewerb und Unternehmertum in der Systemtransformation: Das Problem des institutionellen Interregnums im Prozeß des Wandels von Wirtschaftssystemen, 1999, 434 S., 39,00 €, ISBN 3-8282-0097-4. Band 58: Karl-Hans Hartwig und H. Jörg Thieme (Hg.), Finanzmärkte: Funktionsweise, Integrationseffekte und ordnungspolitische Konsequenzen, 1999, 556 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0094-X. Band 57: Dieter Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Ordnungstheoretische Grundlagen, Realisierungsprobleme und Zukunftsperspektiven einer wirtschaftspolitischen Konzeption, 1998, 782 S., 49,00 €, ISBN 3-8282-0057-5. Band 56: Hans-Günter Krüsselberg, Ethik, Vermögen und Familie: Quellen des Wohlstands in einer menschenwürdigen Ordnung, 1997, 341 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0055-9. Band 55: Heiko Geue, Evolutionäre Institutionenökonomik: Ein Beitrag aus der Sicht der österreichischen Schule, 1997, 324 S„ 36,00 €, ISBN 3-8282-0050-8. Band 54: Andreas Knorr, Umweltschutz, nachhaltige Entwicklung und Freihandel, 1997, 180 S., 26,00 €, ISBN 3-8282-0035-4.