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German Pages 190 Year 2016
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung
Band 107
In der Mitte Europas Deutschlandforschung aus nationaler und internationaler Perspektive
Herausgegeben von Tilman Mayer
Duncker & Humblot · Berlin
MAYER (Hrsg.)
In der Mitte Europas
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 107
In der Mitte Europas Deutschlandforschung aus nationaler und internationaler Perspektive
Herausgegeben von Tilman Mayer
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-14889-9 (Print) ISBN 978-3-428-54889-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84889-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort des Herausgebers 1989/1990 – zwei Jahre lang, 2014 und 2015, konnte man auf 25 Jahre Wiedervereinigung zurückschauen, Jahre, die für diejenigen, die diese Wiedervereinigung bewusst miterlebt haben, besonders prägend und präsent geblieben sind. Doch die Zeit steht nicht still. Der Ansatz der GfD war es immer, sich nicht nur mit der DDR allein zu beschäftigen, sondern die deutsche Frage historisch und aktuell ernst zu nehmen (diachron) und Deutschland unter komparativen Gesichtspunkten, Bundesrepublik und DDR, synchron zu betrachten. Der Status Quo vor 1989 konnte deshalb für die GfD nicht sakrosankt sein, weil die die DDR infrage stellende Wiedervereinigung – und damit die Lösung der deutschen Frage – das programmatische Gründungsziel der GfD blieb. Und dieses Ziel erreichen zu wollen, stellte unweigerlich die Existenz der DDR infrage. Und nach 1990 dreht sich eben auch nicht alles und allein ausschließlich um die so genannten neuen Bundesländer, sondern erneut um Deutschland als Ganzes, jedenfalls jenes ganze Deutschland, wie es sich 1990 (wieder) etabliert hat und eben international erneut in seiner gesamteuropäischen und globalen Rolle beobachtet wird. Zwei Jahrestagungen, die 2014 und 2015 durchgeführt wurden, werden in diesem Band In der Mitte Europas zusammengeführt. In beiden werden innen- wie außenpolitisch heiße Themen reflektiert. So zum Beispiel wird der Euro betrachtet, dessen Karriere mit der Wiedervereinigung trotz Dementi zu tun hat und als Elitenprojekt etwas Ausgedachtes an sich hat und insofern – gut gemeint – eventuell nicht gut ist für die europäische Integration. Deutschland wird jedenfalls im Kontext der atlantischen Zivilisation mit einer kohäsiven Aufgabe bedacht, von der Mitte aus für den Zusammenhalt in Europa zu sorgen, was im neuen EU-Europa nach 1990 Deutschland auch überfordern könnte. Erwartungen richten sich nach der Bonner Ära – aus der die Wiedervereinigung hervorging und die von ihr gemanagt wurde! – auf die „Berliner Republik“, die jedenfalls unter ganz anderen, besseren Auspizien steht als die wortähnliche „Weimarer Republik“. Gleichwohl bot das Jahr 2014 auch an, über 1914, den Ersten Weltkrieg und die Folgen, zu reflektieren, nach dem Motto: What went wrong? 1989 jedenfalls, als Ergebnis des kurzen 20. Jahrhunderts, war ein erhofftes, aber unverhofft eingetretenes Jahr.
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Vorwort des Herausgebers
Und so fragt man auch immer zurück, was hat die DDR-Forschung dazu beigetragen, worin lagen ihre Stärken und Schwächen? Dass das neue Berlin mit „Weimar“ nichts zu tun hat, steht fest, aber apart ist, aus österreichischer Sicht, beziehungsweise Wiener Perspektive erklärt zu bekommen, warum Berlin nicht Bonn ist. Und innerhalb Deutschlands, ein Blick auf das österreichfreundliche Sachsen werfend, lässt sich sowohl an eine ältere sächsische Tradition erinnern, wie auch zum Ausdruck bringen, ein leistungs- und konkurrenzfähiges Bundesland mit kreiert zu haben. Welches geschichtspolitische Selbstverständnis im „neuen Deutschland“ – ein wirklich real existierendes – nachweisbar ist, darauf wird eingegangen. Und abschließend wird aus Perspektiven dreier Länder eruiert, wie im 25-JahreZeitraum retrospektiv wie prospektiv Neues zu Tage gefördert werden kann. Also durchaus Anlass, selbstbewusst festzustellen, dass sich der Charakter der GfD nach wie vor bestätigen lässt und Anstöße gibt, Podium und Forum für unterschiedliche Disziplinen, Sichtweisen und Analysen zu sein – weit über die erwähnten Disziplinen hinaus. Der Jakob-Kaiser-Stiftung in Königswinter darf ich für die Unterstützung der Jahrestagungen herzlich danken. Tilman Mayer
Inhaltsverzeichnis Dominik Geppert Der Euro: Geburt aus dem Geist der Wiedervereinigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Manfred Görtemaker Die Berliner Republik: Gibt es sie überhaupt? Zur provokativen Begrifflichkeit der Hauptstadtfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ludger Kühnhardt Deutschland, zwei Europas und die Atlantische Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter März Vom August 1914 zum November 1989. Reflexionen über das kurze 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Schroeder Bilanz der DDR-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Brigitte Seebacher 1989 – Zufall oder Notwendigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jan Claas Behrends Russlands Radikalisierung – Eine Herausforderung für die deutsche Ostpolitik
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Andreas Khol Berlin ist nicht Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ulrich Pfeil Die deutsch-französischen Beziehungen in der Ära „Merkollande“. Vom Umgang mit dem Anpassungsdruck in den internationalen Beziehungen . . . . . . . . . 133 Matthias Rößler Die Länderneubildung und Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie am Beispiel des Freistaates Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Gian Enrico Rusconi Eine italienische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Manuel Becker Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Der Euro: Geburt aus dem Geist der Wiedervereinigung? Dominik Geppert Die europäische Integration war keine lineare Fortschrittsgeschichte, sondern vollzog sich in Schüben und Sprüngen, nicht teleologisch auf das ein- für allemal vorgegebene Ziel eines supranationalen Bundesstaates hin, sondern zukunftsoffen: in Reaktion auf unvorhersehbare äußere Ereignisse, in Anpassung an veränderte politische, ökonomische, soziale, auch weltanschauliche Rahmenbedingungen.1 Einen wichtigen Knotenpunkt markiert in diesem Kontext das Ende des Kalten Krieges zwischen 1989 und 1991, das die Ost-West-Spaltung Europas überwand, eine Wiederherstellung der deutschen Einheit ermöglichte und die Gestalt des Kontinents bis in unsere Gegenwart hinein prägte. Zugleich brachten die Jahre von 1988 bis zur Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages 1992 mit der Vollendung des Binnenmarktes und der vertraglichen Einigung auf eine gemeinsame Währung eine enorme Beschleunigung und Verdichtung des europäischen Integrationsprozesses – ebenfalls mit langfristigen Folgen, die bis heute spürbar sind. Beide Prozesse waren so eng ineinander verschlungen, dass verschiedentlich die These aufgestellt worden ist, der Euro sei der Preis gewesen, den Deutschland für die Wiedervereinigung zu zahlen hatte.2 Dies ist eine Verkürzung, die ins Reich der Legenden gehört. Schließlich hatte Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon 1988 eigene Pläne für eine Währungsunion lanciert; auch Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sich das Projekt, nach anfänglichem Zögern, prinzipiell zu Eigen gemacht, bevor die friedliche Revolution in Ostdeutschland begann.3 Zugleich gilt es aber festzuhalten, dass die europäische Gemeinschaftswährung nicht so rasch und auch kaum in der heutigen Form zustande gekommen wäre, wenn ihre Vorgeschichte sich nicht an einem entscheidenden Punkt mit dem Fall der Mauer, der Implosion der DDR und der Überwindung der deutschen Teilung gekreuzt hätte. Schließlich gab es starke Gegenkräfte gerade in 1 Ich greife hier auf Gedanken zurück, die ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe; vgl. D. Geppert, Ein Europa, das es nicht gibt, München/Berlin 2013; ders., Dreierlei Europa: Die EU zwischen Bundesstaat, Staatenbund und Freihandelszone, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 12 (2014), S. 41 – 67. 2 So etwa die Stoßrichtung bei M. Sauga/S. Simons/K. Wiegrefe, „Der Preis der Einheit“, in: Der Spiegel vom 27. 09. 2010. 3 Siehe H.-D. Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 387 – 391; H.-P. Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 435 – 439.
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der Bundesbank, im Finanz- und Wirtschaftsministerium, selbst im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt, die gern auf Zeit gespielt hätten, um die Einheitswährung auf eine unbestimmte Zukunft zu vertagen.4 Der Umbruch im Osten erhöhte den Zeitdruck. Er zwang die Bundesregierung dazu, die Glaubwürdigkeit ihres Bekenntnisses zu Europa unter Beweis zu stellen. Und er gab der französischen Diplomatie einen Hebel in die Hand, einen festen Fahrplan für den Weg in die Währungsunion durchzusetzen. So gesehen, hatte der Essener Historiker Wilfried Loth nicht Unrecht, als er kürzlich feststellte: der Euro war „nicht der Preis, der für die Wiedervereinigung gezahlt werden musste; die Wiedervereinigung bot vielmehr die Gelegenheit, ihn einzuführen“.5 Loth und fast alle anderen, die bisher die Anfänge der Währungsunion zeithistorisch untersucht haben, konzentrierten sich fast ausschließlich auf Deutschland und Frankreich, vor allem auf Helmut Kohl und François Mitterrand. Die Verhandlungen, die im Vertrag von Maastricht gipfelten, werden dabei wahlweise als deutsch-französisches Kräftemessen6, als erfolgreicher deutsch-französischer Deal nach dem Schock des Mauerfalls7 oder als historischer Triumph der Staatskunst der beiden großen Europäer Kohl und Mitterrand8 beschrieben. Ohne Zweifel waren der deutsche Bundeskanzler und der französische Staatspräsident – aus unterschiedlichen Motiven und mit durchaus verschiedenartigen Zielen – die entscheidenden Triebkräfte des Projekts. Dennoch wird sich der folgende Beitrag nicht um die deutsch-französische Achse drehen. Stattdessen schlägt er als Deutungsraster eine Dreiecksbeziehung vor, die neben der Bundesrepublik und Frankreich auch Großbritannien umfasst. Denn seit dem britischen Beitritt zur EG im Januar 1973, spätestens aber mit der Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Binnenmarktes in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war die europäische Einigung keine Angelegenheit mehr, die vorrangig von französischen und deutschen Überlegungen bestimmt wurde. Neben den Föderalismusgedanken der deutschen Tradition und die französischen Vorstellungen eines bürokratisch-administrativen Dirigismus traten zunehmend Ideen ökonomischen Wettbewerbs und wirtschaftlicher Deregulierung, die im angelsächsischen Raum ihren Ursprung hatten.9 Die damit verbundenen unterschiedlichen Europakonzeptionen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens, so die Ausgangsthese, prägten die Auseinander4
Vgl. H. Tietmeyer, Herausforderung EURO. Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München/Wien 2005, S. 115 f.; D. Marsh, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009, S. 176 f. 5 W. Loth, Helmut Kohl und die Währungsunion, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 455 – 480, hier S. 480. 6 So etwa H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 397 – 439, S. 690 – 716. 7 Vgl. F. Bozo, France, German unification and European integration, in: ders. u. a. (Hrsg.), Europe and the End of the Cold War. A Reappraisal, London/New York 2008, S. 148 – 160. 8 Das ist die Interpretation von W. Loth, a.a.O. 9 Vgl. J. Gillingham, European Integration. 1950 – 2003: Superstate or New Market Economy, Cambridge 2003.
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setzung um die Einführung des Euro. Sie präfigurierten die Reaktionen der verschiedenen Länder auf die deutsche Wiedervereinigung in den entscheidenden Monaten zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990. Und sie hatten darüber hinaus Auswirkungen auf den Fortgang der europäischen Einigung und die Gestalt der EU, bis hin zu den gegenwärtigen Problemen in der Eurozone. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden in vier Schritten genauer untersucht werden. Zuerst wird thesenhaft umrissen, welche Positionen, Konzeptionen und Interessenlagen es mit Blick auf die Europäische Währungsunion in Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien vor dem Herbst 1989 gab. In einem zweiten Schritt wird vor allem anhand der mittlerweile edierten, aber für diese Zwecke selten benutzten britischen Akten die Entwicklung der entsprechenden Planungen in den dramatischen Monaten zwischen Oktober 1989 und Sommer 1990 genauer analysiert.10 Drittens gilt es, die Langzeitwirkungen der damals getroffenen Festlegungen bis in die Gegenwart in groben Strichen zu skizzieren. Viertens schließlich soll ein Ausblick auf mögliche künftige Entwicklungsszenarien gewagt werden.
I. Die Vorgeschichte der Europäischen Währungsunion Um die Entstehungsgeschichte der Europäischen Währungsunion zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, welche unterschiedlichen Zielvorstellungen und Erwartungen mit dem Projekt verbunden waren. In Frankreich sah man in einer Gemeinschaftswährung vor allem die Chance, von der D-Mark als europäischer Leitwährung loszukommen und die währungspolitische Hegemonie der Bundesbank abzuschütteln. Das lag durchaus in der Logik und Tradition französischer Europapolitik. Frankreich war traditionell für die europäische Integration, soweit sie die deutsche Wirtschaftsmacht und Finanzkraft einband und solange sie die nationale Souveränität Frankreichs in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht in Frage stellte. So gesehen bildete ein Arrangement zwischen Frankreich und der Bundesrepublik den Kern der westeuropäischen Nachkriegsordnung. Die Westdeutschen brachten ihre Wirtschaftskraft ein und überließen den Franzosen die politische Führung.11 Seit Mitte der 1950er Jahre erwies sich dieser Ausgleich als zunehmend prekär, nicht weil die Deutschen gegen die französische Führungsrolle aufbegehrt hätten, sondern weil sich der Schwerpunkt innerhalb der deutsch-französischen Partnerschaft verschob. Zunächst fürchtete Frankreich vor allem die Stärke der deutschen Industrie.12 Die unterschiedliche industrielle Leistungskraft und Produktivitätsent10 P. Salmon/K.A. Hamilton (Hrsg.), Documents on British Policy Overseas, Reihe 3, Bd. 7: German Unification, 1989 – 1990, London/New York 2010. 11 Vgl. etwa T. Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München/Wien 2006, S. 344. 12 Vgl. etwa das Gespräch zwischen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle in Paris, 13. 03. 1969, abgedruckt in: Akten zur
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wicklung wirkte sich aber immer stärker auch auf die Währungen der beiden Länder aus. Je deutlicher der wirtschaftliche Vorsprung der Bundesrepublik wurde, desto mehr erblickte Frankreich in der Währungspolitik einen Hebel deutscher Hegemonie. Bereits im System von Bretton Woods, das auf feste Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung zielte, war der Franc dreimal ab- und die D-Mark zweimal aufgewertet worden.13 Damit bewahrte Frankreich zwar seine internationale Wettbewerbsfähigkeit, erlitt aber einen schmerzhaften Prestigeverlust. Der Trend verschärfte sich nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods 1973. Denn in den beiden auf die Europäische Gemeinschaft beschränkten Wechselkursverbünden der Währungsschlange und des EWS etablierte sich die D-Mark als Leitwährung. Faktisch bestimmte die Bundesbank die Richtlinien der Geldpolitik nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die anderen Mitgliedsländer, deren Zentralbanken den Vorgaben aus Frankfurt folgten. Als Hüterin der informellen Leitwährung im Rahmen des EWS hatte sie in gewisser Weise weniger zur Aufrechterhaltung der Parität beizutragen als die Zentralbanken von Ländern mit schwächerer Währung. Diese Zentralbanken kauften in währungsstarken Zeiten D-Mark-Bestände und verkauften diese in aller Regel bei drohender Schwächung zur Stützung ihrer Währung, schon bevor die förmliche Grenze zur Intervention erreicht wurde, an der dann auch die Bundesbank zum Eingreifen verpflichtet gewesen wäre.14 Dennoch musste der Franc in den 1980er Jahren gegenüber der D-Mark erneut drei Mal abgewertet werden. Insgesamt verlor er zwischen 1975 und 1995 gegenüber der D-Mark um 48 Prozent an Wert.15 Es lag somit nahe und durchaus in der Logik der französischen Europapolitik, dass man in Paris daran interessiert war, nach Kohle und Stahl auch die D-Mark zu vergemeinschaften und damit die währungspolitische Hegemonie der Bundesbank zu brechen. Dieser französische Wunsch war keine Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung, sondern schon in den 1980er Jahren Ziel der Pariser Politik. Er wurde auch von Jacques Delors geteilt, dem ehemaligen französischen Wirtschafts- und Finanzminister, der seit 1985 Präsident der EG-Kommission war.16 In einem Buch mit dem bezeichnenden Titel La France par l’Europe hatte er geschrieben, die Erschaffung Europas sei ein Weg, die Bewegungsfreiheit zurückzugewinnen, die für „une certaine idée de la France“ notwendig erscheine. Die Formel von der bestimmten Idee Frankreichs griff dabei nicht zufällig die berühmte FormuAuswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) 1969, Bd. 1, Dok. 100, S. 377 – 385. 13 Zum Kontext der ersten Abwertung des Franc siehe K. Dyson/K. Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, Oxford 1999, S. 106. 14 Vgl. W. Loth, a.a.O., S. 456 – 457; H. Ungerer, A Concise History of European Monetary Integration. From EPU to EMU, Westport/Ct. 1997, S. 163. 15 Zahlen nach S. Rometsch, Die Euro-Rettung ist gefährlich, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Mai 2013. 16 Vgl. J. Delors, Erinnerungen eines Europäers, Berlin 2004, S. 274 (Kapitel „Der Horizont der Währungsunion“).
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lierung aus den Kriegserinnerungen General de Gaulles auf.17 Tatsächlich ist unter Delors’ Leitung das von Colbert im 17. Jahrhundert begründete, von der nationalen Regierung und ihrer Administration her gedachte französische Staatsverständnis auf die europäische Ebene transponiert worden. Unter ihm hat die Kommission in Brüssel Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die Planungs-, Lenkungs- und Reglementierungsvorstellungen der französischen Verwaltungstradition in Brüssel durchgesetzt und als treibende Kraft der Integration etabliert.18 Für die Bundesregierung stellte die Frage der Europäischen Währungsunion in erster Linie kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Problem dar. Es ging ihr um die deutsch-französischen Beziehungen, um die Glaubwürdigkeit der deutschen Europapolitik und darum, die Sorge der anderen Europäer, insbesondere der Franzosen, vor einer Abwendung der Deutschen von der EG zu zerstreuen. Zugleich spielte immer auch das Bestreben der FDP eine Rolle, sich als Europa-Partei und als Triebkraft entsprechender Projekte in der bürgerlichen Koalition zu profilieren. Aus all diesen Gründen ging der Bundesaußenminister im Februar 1988 mit einem Plan zur Schaffung eines „Europäischen Währungsraumes“ an die Öffentlichkeit. Genschers „Kampagne für die Wirtschafts- und Währungsunion“ diente dazu, die Widerstände der Bundesbank gegen eine Aufgabe der D-Mark zu überwinden und den zögernden Bundeskanzler unter Zugzwang zu setzen.19 Das gelang ihm. Vertreter der deutschen Industrie, des Handels und der Bankenwelt zeigten sich gegenüber einer Gemeinschaftswährung vielfach positiv eingestellt. Mitterrand wurde im Mai 1987 als Staatspräsident wiedergewählt und präsentierte auf der EG-Ratssitzung im Juni 1988 ein wichtiges französisches Zugeständnis: die Freigabe des Kapitalverkehrs in der Gemeinschaft zum 1. Juli 1990.20 Danach sah Kohl den Zeitpunkt gekommen, auf den Zug aufzuspringen. Sein Zögern hatte eher taktische als grundsätzliche Gründe gehabt. Auch er wollte mehr als ein bloßes Wirtschaftseuropa, wie es seit den Römischen Verträgen als europäischer Binnenmarkt zunehmend gut funktionierte. Als Fernziel, schreibt sein Biograph Hans-Peter Schwarz, habe ihm damals eine Art Bundesstaat vorgeschwebt, mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einem vom Europäischen Parlament legitimierten parlamentarischen Entscheidungssystem und getragen von einem europäischen Solidaritätsbewusstsein, „wie es bis dahin nur die inzwischen zu klein gewordenen Nationalstaaten“ hatten.21 Analogien zur deutschen Geschichte dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Schließlich war aus deutscher Sicht auch dem Deutschen Reich von 1871 eine wirtschaftliche Einigung in Form des Zollvereins 17
J. Delors, La France par l’Europe, Paris 1988, S. 60; C. de Gaulle, Mémoires de guerre, Paris 1954, S. 1. 18 Vgl. L. Siedentop, Demokratie in Europa, Stuttgart 2002, S. 177. 19 H.-D. Genscher, a.a.O., S. 388. 20 Vgl. U. Lappenküper, Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 246. 21 H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 411 f.
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vorausgegangen. Die aus der Währungsreform 1948 hervorgegangene D-Mark hatte am Anfang des westdeutschen Wirtschaftswunders gestanden und war zum Kernbestandteil einer neuen, zivilen Identität für die Nachkriegsdeutschen geworden. Ähnlich sollte nach Kohls Vorstellung der Euro einen europäischen Wirtschaftsaufschwung auslösen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer stärken. In diesem Sinne interpretierte ein kluger Beobachter im britischen Foreign Office das deutsche Engagement für die europäische Einigung eher historisch und psychologisch als in Kategorien des nationalen Interesses: Über weite Strecken der vergangenen 150 Jahre habe Deutschland sich mit seiner Einigung beschäftigt, meistens – wie in der Europäischen Gemeinschaft – durch einen Prozess, der mit einer Wirtschaftsunion begonnen habe.22 Als insoweit Einigkeit zwischen Paris und Bonn hergestellt war, konnte der Europäische Rat im Juni 1988 ein Komitee einsetzen, dem alle Notenbankpräsidenten angehörten und das „Prinzipien für die Entwicklung eines europäischen Währungsraums und ein Statut für die Errichtung einer Europäischen Zentralbank“ erarbeiten sollte. Kohls entscheidender personalpolitischer Schachzug im Vorfeld bestand darin, dass nicht der skeptische Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl den Vorsitz dieses Komitees übernahm, sondern Jacques Delors. Unter dessen straffer und geschickter Leitung einigten sich die Zentralbanker wider Erwarten – oder jedenfalls entgegen der Annahme von Skeptikern wie Pöhl oder auch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher – auf die Konzeption einer Europäischen Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank. Diese Lösung wurde durch eine „intellektuelle Revolution“ ermöglicht, die mittlerweile im europäischen Zentralbankwesen stattgefunden hatte.23 Denn anders als in der Vergangenheit fand die Konzeption einer unabhängigen Notenbank, die von den Einflüssen der Politik frei gehalten wurde, nur auf den Erhalt des Geldwertes ausgerichtet war und sich auf keinerlei andere Aufgaben – etwa in der Konjunktur- oder Arbeitsmarktpolitik – einließ, auch außerhalb der Bundesrepublik breitere Unterstützung. Insbesondere in Frankreich und auch in Großbritannien hatte sich der Eindruck durchgesetzt, die Bundesbank sei in den zurückliegenden Jahrzehnten erfolgreicher gewesen als die Banque de France oder die Bank of England, die bis dahin direkt dem französischen Finanzministerium beziehungsweise dem britischen Schatzamt unterstanden. Auf der Grundlage dieses neuen Konsenses wurde eine Europäische Zentralbank nach deutschem Vorbild entworfen. Die Orientierung am deutschen Modell machte es für die skeptischen Bundesbanker, aber auch für die britische Premierministerin Margaret Thatcher schwieriger, die neue Institution rundweg abzulehnen. Sie habe unter dem im Delors-Bericht erklärten „Ziel einer schrittweisen Realisierung einer 22
Vgl. R. Cooper, Draft Paper by the Policy Planning Staff vom 15. 06. 1990, DBPO, Reihe 3, Bd. 7, Dok. 210, S. 418 – 422, hier S. 422. 23 Siehe hierzu und zum Folgenden H. James, Making the European Monetary System, Cambridge/Mass., London 2012, S. 15.
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Wirtschafts- und Währungsunion“ nur zwischenstaatliche „Zusammenarbeit“ verstanden, notierte sie später in ihren Erinnerungen, die anderen Regierungschefs hätten die Formel hingegen „als Schritt in Richtung Europäische Zentralbank und eine einheitliche Währung [interpretiert]. Zwangsläufig mußten diese beiden unterschiedlichen Deutungen über kurz oder lang kollidieren.“24 Tatsächlich hatte sich Thatcher auf dem Höhepunkt ihres innenpolitischen Erfolges in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum Ziel gesetzt, die von ihr verfochtenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Thatcherismus auf den Kontinent zu exportieren.25 Als Vehikel sollte die Vollendung des europäischen Binnenmarktes dienen: die Abschaffung all jener nicht-tarifären Handelshindernisse, die von der europäischen Zollunion unberührt geblieben waren, wie unterschiedliche nationale Sicherheits-, Gesundheits- und Umweltstandards, Barrieren gegen die freie Bewegung von Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften innerhalb der EG. Thatcher machte sich dieses Programm mit dem ihr eigenen missionarischen Eifer und Durchsetzungsvermögen zu Eigen. Es fügte sich gut in das Leitbild einer von den Gesetzen des Marktes beherrschten Freihandelszone, das ihr als Zukunft der EG vorschwebte. Schon früh hatte sie zu Protokoll gegeben, dass sie die Römischen Verträge vor allem als Freihandelsabkommen las. Die Erfolgsgeschichte der Gemeinschaft interpretierte sie als Folge von Marktwirtschaft und Wettbewerb. Der europäische Binnenmarkt war in ihren Augen der krönende Schlussstein einer Politik, die bereits in den Römischen Verträgen angelegt war. Mit seiner Vollendung hatte auch der Integrationsprozess sein Ziel und Ende erreicht, glaubte die Premierministerin. Anders als Thatcher angenommen hatte, erwies sich die Vollendung des Binnenmarktes jedoch als zweischneidiges Schwert. Was als Export des Thatcherismus auf den Kontinent gedacht war, drohte als Import des rheinischen Kapitalismus nach Großbritannien zu enden, nachdem die Gemeinschaft gegen heftigen Widerstand Londons die Zulässigkeit von Mehrheitsabstimmungen auch auf Bereiche ausgedehnt hatte, die nicht unmittelbar für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes notwendig waren. Wie sehr Thatcher spätestens seit 1988 die Gefahr witterte, die hinter dieser Ausdehnung steckte, wurde in einer berühmt gewordenen Rede deutlich, die sie damals in Brügge hielt. Dort erklärte sie mit Nachdruck, ,,[that] we have not successfully rolled back the frontiers of the state in Britain only to see them reimposed at a European level with a European superstate exercising a new dominance from Brussels.“26 Was die Haltung zu einer gemeinsamen europäischen Währung anbetraf, so war Thatchers Position der französischen diametral entgegengesetzt: Die Währungsfrage 24
M. Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, S. 1025. Siehe hierzu und zum Folgenden D. Geppert, Die Rolle Deutschlands und Europas in Margaret Thatchers politischem Weltbild, in: J. Luh u. a. (Hrsg.), Preußen, Deutschland und Europa 1701 – 2001, Groningen 2003, S. 234 – 250. 26 M. Thatcher, Speech at the College of Europe, Bruges, 20. 09. 1988, in: dies.: The Collected Speeches, London 1997, S. 315 – 325, hier S. 319 f. 25
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hatte aus ihrer Sicht mit dem Binnenmarkt nichts zu tun. Eine Aufgabe des Pfund kam für sie mit Rücksicht auf den Erhalt britischer Souveränität in so einer zentralen Frage wie der Währungshoheit nicht in Betracht. Nur mit großer Mühe konnte ihr Schatzkanzler Nigel Lawson sie dazu überreden, einen britischen Beitritt zum EWS in Erwägung zu ziehen.27 Etwas anderes war die zeitweilige Ankopplung der nationalen Währung an die D-Mark zum Zwecke der Inflationsbekämpfung, wie sie Lawson zwischen 1987 und 1988 betrieb. Ein derartiges „shadowing“ einer fremden Währung war aus Thatchers Sicht zwar auch nicht ideal, aber als Mittel pragmatischer Politik durchaus akzeptabel, wenn es denn der Stabilisierung des Pfundes und dem Kampf gegen die Inflation nützte.28
II. Der Umbruch 1989/1990 In diese Gemengelage platzte im Sommer und Herbst 1989 erst der Umbruch in Polen und Ungarn, dann die friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Berliner Mauer. In London mutmaßte man früh, dass Bonns Engagement für eine Aufnahme Österreichs in die EG nur der erste Schritt für eine Osterweiterung der EG sein würde, die letztlich auch Ungarn, Polen und die DDR einbeziehen sollte. Die Deutschen, so hieß es in einem Memorandum des britischen Außenministeriums vom 20. Oktober 1989, würden sicher weiter Lippenbekenntnisse für die europäische Einigung abgeben. Es stehe aber zu erwarten, dass sie bereit sein würden, den europäischen Zusammenhalt in der Außenpolitik für ihr Ziel einer EG-Osterweiterung zu opfern. Was eine solche Osterweiterung für die geplante Währungsunion bedeute, hätten die Deutschen offenbar noch nicht einmal ansatzweise durchdacht. Im Zweifelsfall, so vermutete man im Foreign Office, würde jedoch die Erweiterung der EG nach Ostmitteleuropa Vorrang vor der Währungsunion haben.29 Der Premierministerin ging die Konzentration ihres Außenministeriums auf die Veränderungen in Ostmitteleuropa zu weit. In einem Gespräch mit dem britischen Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby, warnte sie am 2. November 1989, man solle sich nicht so viele Gedanken über die deutsche Ostpolitik machen. Schließlich seien sowohl Großbritannien als auch Frankreich und die Sowjetunion grundsätzlich gegen eine deutsche Wiedervereinigung; damit stelle sich das Problem nicht, sollte das wohl heißen. Das größere Problem sei Deutschlands Rolle in Westeuropa. Denn hier übe die Bundesrepublik durch ihre massiven Handelsüberschüsse eine immer stärkere ökonomische Vorherrschaft (dominance) aus, die letztlich auf einer unterbewerteten D-Mark und unfairen Subventionen für die deutsche Industrie beruhe. Diese Vorherrschaft komme beispielsweise in dem deutschen Bestreben zum 27
Vgl. M. Thatcher, Downing Street No. 10, a.a.O., S. 977 – 984. Siehe etwa ihre späteren Bemerkungen gegenüber Bundesaußenminister Genscher im Juli 1990, wiedergegeben in: Powell an Wall, 30. 07. 1990, DBPO, Reihe 3, Bd. 7, Dok. 222, S. 439 – 441, hier S. 441. 29 Fretwell an Synnott, 20. 10. 1989, DBPO, Reihe 3, Bd. 7, Dok. 23, S. 63 – 66, hier S. 65. 28
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Ausdruck, die Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder durch die europäische Sozialcharta zu unterminieren. Gemeint war zwar vor allem Großbritanniens Wettbewerbsfähigkeit, aber die Premierministerin argumentierte in diesem Sinne (freilich erfolglos) etwa auch gegenüber dem portugiesischen Ministerpräsidenten Cavaco Silva.30 Die britische Diplomatie sollte sich nach Thatchers Vorstellung auf dreierlei konzentrieren: erstens die Deutschen von einer Unterstützung der restriktiven, wettbewerbsfeindlichen Sozialcharta abzubringen; zweitens der Bundesregierung und der deutschen Industrie die Gefahren deutlich zu machen, die sich durch eine europäische Währungsunion für die Geldpolitik der Bundesbank ergäben; und drittens auf eine Aufwertung der D-Mark hinzuarbeiten.31 Als sich die Ereignisse in der DDR mit dem Mauerfall zuspitzten, wurden derartige Überlegungen Makulatur. In Paris sah man jetzt, ähnlich wie in London – aber anders als dort keineswegs leise erfreut, sondern hell entsetzt – die Möglichkeit, dass der Umbruch im Osten und die Währungsunion als Ziele deutscher Politik miteinander in Widerstreit geraten könnten und dass dabei die gemeinsame Währung auf der Strecke zu bleiben drohte. Schließlich waren in Madrid wichtige Fragen nach dem Zeitrahmen, der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken und der Festlegung fixer Wechselkurse offen geblieben und einer Regierungskonferenz überlassen worden, die erst noch einzuberufen war.32 Am 27. November 1989 schrieb Kohl einen Brief an Mitterrand, in dem er seine Sorge über „große Divergenzen in der Stabilitätsentwicklung“ innerhalb der Gemeinschaft und über die hohen Haushaltsdefizite einiger Mitgliedsländer zum Ausdruck brachte. Er schlug vor, auf dem anstehenden EG-Gipfel in Straßburg sollten die Vorbereitungen für eine Regierungskonferenz in Auftrag gegeben werden. Über deren tatsächliche Einsetzung sollte man dann ein Jahr später entscheiden.33 Zusätzlich brachte der Kanzler den Plan einer „Politischen Union“ ins Spiel, bei dem es insbesondere um eine bessere demokratische Legitimation durch Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Parlaments ging, aber auch um eine Verbesserung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Innen- und Justizpolitik.34 Von der französischen Seite wurde diese Initiative, die zeitlich fast exakt mit Kohls 10-Punkte-Plan zusammenfiel, als versteckte Aufkündigung der Währungsunion verstanden. Als er den Schrecken in Paris erkannte, ruderte der Bundeskanzler 30
M. Thatcher, Downing Street No. 10, a.a.O., S. 1039. Powell an Wall, DBPO, Reihe 3, Bd. 7, Dok. 29, S. 84 – 85, hier S. 85. 32 Vgl. jüngst A. Rödder, Wunschkind Euro, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. 01. 2014. 33 Kohl an Mitterrand, 27. 11. 1989; der Text des Briefes und der beigefügte Arbeitskalender sind abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Nr. 100 und 100 A, S. 565 – 567. 34 Vgl. hierzu und zum Folgenden W. Loth, a.a.O., S. 466 f. 31
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noch vor dem Gipfeltreffen zurück. Er gestand am 5. Dezember in einem Brief an Mitterrand zu, dass schon auf dem Straßburger Gipfel ein förmlicher Beschluss über die Eröffnung der Regierungskonferenz Ende 1990 gefasst werden sollte.35 Der deutsche Vorschlag einer Kopplung von Politischer Union und Währungsunion wurde daraufhin in Straßburg still und leise zu den Akten gelegt, während man die Einsetzung einer Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion förmlich beschloss. Die beiden Prozesse liefen fortan unabhängig voneinander ab. Während man für die Regierungskonferenz über die Währungsunion einen festen Startpunkt ins Auge fasste, blieb das Schicksal der Politischen Union zunächst offen. Das war das entscheidende Zugeständnis der Bundesregierung.36 Bei allem Enthusiasmus für die europäische Einigung war Kohl sich bewusst, dass sein Entgegenkommen in der Währungsfrage gegen traditionelle deutsche Positionen verstieß. Er habe seine Entscheidung „gegen deutsche Interessen“ getroffen, erklärte er dem amerikanischen Außenminister James Baker drei Tage nach dem Straßburger Gipfel, aber der Schritt sei politisch wichtig gewesen, weil Deutschland Freunde brauche.37 Trotzdem blieb Mitterrand misstrauisch. In einem Gespräch mit Thatcher unmittelbar nach der Ratssitzung sagte er, Kohl spekuliere offenbar mit dem nationalen Adrenalin des deutschen Volkes. Deutschland habe niemals in der Geschichte seine wahren Grenzen gefunden. Es bleibe ein Land in ständigem Fluss. Gegenwärtig seien die Deutschen offenbar wieder einmal in Bewegung, und es sehe so aus, als hätten Briten und Franzosen schlechte Karten, sie zu stoppen. Auch die Russen könnten nicht viel tun, und die Amerikaner wollten es nicht. So blieben nur England und Frankreich. Er und Thatcher könnten sich bald in derselben Situation befinden wie ihre Vorgänger in den 1930er Jahren, denen es nicht gelungen war, sich dem beständigen Vorwärtsdrängen der Deutschen entgegenzustellen. In Momenten großer Gefahr, so Mitterrand, habe Frankreich immer besondere Beziehungen mit England entwickelt. Seiner Meinung nach sei so ein Zeitpunkt jetzt wieder gekommen.38 Sechs Wochen später trafen sich Mitterrand und Thatcher erneut, diesmal in Paris. Der Präsident berichtete von seinem Besuch in der DDR und erzählte, er habe unter den Studenten, denen er in Leipzig begegnet war, keine große Begeisterung für eine Wiedervereinigung angetroffen. Er sei vielmehr überzeugt, dass einige ostdeutsche Demonstrationen für die Einheit von westdeutschen „Agenten“ durch die Bereitstellung entsprechender Plakate und anderer Materialien ermuntert worden seien. Au35
Kohl an Mitterrand, 01. 12. 1989, abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Nr. 111, S. 614 f. 36 Der Text der Erklärung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs vom 9. Dezember 1989 ist abgedruckt in: Europa-Archiv, Folge 1 (1990), D5 – D18. 37 Gespräch zwischen Bundeskanzler Kohl und US-Außenminister James Baker am 12. 12. 1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Nr. 120, S. 636 – 641, hier S. 638. 38 Powell an Wall, 08. 12. 1989, ebd., Nr. 71, S. 164 – 166, hier S. 165. Zum Hintergrund siehe J. Lévesque, In the name of Europe’s future: Soviet, French and British qualms about Kohl’s rush to German unification, in: Frédéric Bozo u. a. (Hrsg.), a.a.O., S. 95 – 106.
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ßerdem berichtete der Präsident von einem Gespräch mit Genscher, in dem er den deutschen Außenminister vor einem Rückfall in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt habe, als sich das Reich einem Dreierverband aus England, Frankreich und Russland gegenüber gesehen hatte. Die Haltung Italiens, Belgiens, der Niederlande, Großbritanniens und Frankreichs auf dem Straßburger Gipfel (sprich: Kohls Isolation dort) sollte eine Warnung für Deutschland sein. Der listenreiche Mitterrand konnte sicher sein, mit derartigen Ausführungen bei Thatcher offene Türen einzurennen. Er deutete jedoch zugleich an, dass er keine Möglichkeit sah, die deutsche Einheit zu verhindern. Schließlich seien weder Franzosen und Briten noch Russen bereit, Deutschland wie 1914 den Krieg zu erklären.39 Im Endeffekt entschied sich Mitterrand, das deutsche Problem so anzugehen, wie Frankreich es nach 1945 über weite Strecken erfolgreich praktiziert hatte: durch die Einbindung des stärker gewordenen Deutschlands in europäische Strukturen. Seit Februar 1990 hatten Joachim Bitterlich und Elisabeth Guigou, die europapolitischen Berater Kohls und Mitterrands, eine gemeinsame deutsch-französische Linie für das weitere Vorgehen in Sachen Wirtschafts- und Währungsunion und Politischer Union ausgearbeitet. Nach den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 gab Mitterrand grünes Licht für dieses Vorgehen.40 Mitterrands Verhalten dürfte Thatchers Weltsicht bestätigt haben. Darin kam Frankreich seit 1940 die Rolle des unsicheren Kantonisten und schwankenden Verbündeten zu. In ihren Erinnerungen klagte sie später über Mitterrands „Unfähigkeit, vertrauliche Worte mit öffentlichen Taten zu verknüpfen“.41 Freilich war nicht Thatchers größere Prinzipientreue dafür verantwortlich, dass sie sich länger und hartnäckiger weigerte, die deutsche Einheit zu akzeptieren. Es war vielmehr ein Mangel an Alternativen, denn anders als für Mitterrand kam für die Britin eine Vertiefung der europäischen Integration zur Einhegung deutscher Macht nicht in Frage.42 In einem aufschlussreichen Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher Ende Juli 1990 kam Thatcher auf die aktuellen finanzpolitischen Entwicklungen in Italien und Spanien zu sprechen, wo es hohe Inflationsraten gab und wo aufgrund der entsprechend ebenfalls hohen Zinssätze enorme Finanzinvestitionen aus dem Ausland zu verzeichnen waren. Diese Erfahrungen offenbarten in Thatchers Augen die Schwierigkeit, Wechselkurse zu fixieren, wenn die Disparitäten zwischen den Volkswirtschaften der verschiedenen Mitgliedstaaten derart groß waren. Unter solchen Umständen 39
Powell an Wall, 20. 01. 1990, ebd., Nr. 103, S. 215 – 219, hier S. 216 f. J. Bitterlich, Die deutsch-französischen Beziehungen in der Phase der Deutschen Einheit und des Vertrags von Maastricht, in: Historisch-Politische Mitteilungen 20/2013, S. 289 – 299, hier S. 295. 41 M. Thatcher, Downing Street No. 10, a.a.O., S. 1105. 42 Thatchers strikte Haltung in der Wiedervereinigungsfrage wurde nicht von allen in London geteilt. Insbesondere im Foreign Office plädierten viele für größere Konzilianz, schon um Großbritannien innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in dieser Frage nicht allzu sehr zu isolieren; so argumentiert auch P. Salmon, The United Kingdom and German Unification, in: Frédéric Bozo u. a. (Hrsg.), a.a.O., S. 177 – 190. 40
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könne eine gemeinsame europäische Währung im Endeffekt nur durch gewaltige Transfers zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedsstaaten aufrechterhalten werden. Ihrer Meinung nach gab es keinen Grund, in absehbarer Zeit über das existierende Europäische Wechselkurssystem hinauszugehen. Europa benötige Zeit, um sich auf den gemeinsamen Binnenmarkt einzustellen. Das letzte, was man jetzt brauche, sei neue Unruhe durch irgendwelche Versuche, eine gemeinsame Währung zu schaffen. In Wahrheit, schloss Thatcher, seien diejenigen, die eine europäische Gemeinschaftswährung propagierten, nicht so sehr an ökonomischen Aspekten interessiert, sondern daran, einen europäischen Bundesstaat zu schaffen. Das könne Großbritannien nicht akzeptieren.43 An dieser Stelle vermerkte das Protokoll, Genscher habe Schwierigkeiten gehabt, zu Wort zu kommen. Als es ihm schließlich gelang, bemerkte er, die Bundesregierung wolle, eine Europäische Zentralbank so konzipiert wissen wie die Bundesbank, nämlich unabhängig von den Regierungen. Der beste Weg, andere Länder zu einer vernünftigen Wirtschaftspolitik zu bewegen, bestehe darin, sie zu zwingen, sich der Disziplin einer einheitlichen Währung und einer starken Zentralbank zu unterwerfen. Thatcher widersprach. Sie habe mehr Vertrauen zur D-Mark, die auf der historisch gewachsenen Inflationsangst der Deutschen beruhe, als zu einer Europäischen Zentralbank, in der Deutschland möglicherweise überstimmt werde. Kein Land werde daran gehindert, dem Beispiel Frankreichs zu folgen, um durch eine Ankopplung an die Mark die Geldentwertung niederzukämpfen. Im Übrigen gebe es noch den Aspekt der Souveränität: Eine nationale Währung und nationale Entscheidungen über die Wirtschafts- und Geldpolitik gehörten zu den wichtigsten Kennzeichen staatlicher Souveränität in der modernen Welt.44
III. Die Entwicklung nach 1990 Heute, fast 25 Jahre später, lässt sich kaum bestreiten, dass Margaret Thatcher damals mit ihren Beobachtungen über die ökonomischen Folgewirkungen der europäischen Gemeinschaftswährung einige zentrale Punkte klarer gesehen hat als Mitterrand und Kohl oder Genscher. Thatcher, so hat der Mainzer Historiker Andreas Rödder bemerkt, habe eine klare Vorstellung von den Problemen einer weiteren europäischen Integration gehabt, aber keine Idee für eine europäische Ordnung jenseits des Ost-West-Konflikts. Kohl und Mitterrand hingegen „hatten diese Idee, aber sie hatten keinen Sinn für die Probleme, die daraus folgten“.45 Rödders Feststellung wäre allenfalls hinzuzufügen, dass Mitterrand und Kohl zwar eine Vorstellung von der Ordnung Europas nach dem Kalten Krieg besaßen, 43 Powell an Wall, 30. Juli 1990, DBPO, Reihe 3, Bd. 7, Dok. 222, S. 439 – 441, hier S. 441. 44 Ebd. 45 A. Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 285.
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aber nicht notwendigerweise dieselbe. Der Bundeskanzler hielt an seiner Vision einer Politischen Union parallel zur Wirtschafts- und Währungsunion fest. Er sei, erklärte er im Juni 1991 vor dem Bundesvorstand der CDU, noch nie in seinem Leben so sehr auf ein bestimmtes Ziel hin motiviert gewesen: „Das erste Ziel heißt für mich, nach der deutschen Einheit den entscheidenden Beitrag zum Bau der Vereinigten Staaten von Europa zu bringen, so daß niemand mehr das Ziel verändern kann.“46 Aus dieser Bemerkung spricht nicht nur das Vollgefühl der Überzeugung. Man kann aus ihr auch das unterschwellige Empfinden heraushören, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Kohl glaubte, in seiner Amtszeit Pflöcke einschlagen zu müssen, die weniger europäisch gesinnte Nachfolger nicht mehr würden versetzen können. Nur so erklärt sich die Häufung der Vokabeln „unumkehrbar“, „irreversibel“ und „alternativlos“, die seine Reden jener Jahre wie ein Mantra durchziehen. „Täuschen Sie sich nicht“, hatte er schon bei seinem ersten Treffen mit Mitterrand 1983 gesagt, „ich bin der letzte pro-europäische Bundeskanzler“.47 Der Weg zur Europäischen Union sei unumkehrbar, stellte er acht Jahre später zufrieden fest, als im Bundestag über die Beratungen in Maastricht diskutiert wurde: „Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die ein Auseinanderbrechen oder einen Rückfall in früheres nationalstaatliches Denken mit all seinen schlimmen Konsequenzen unmöglich macht.“48 Diese Rechnung hat sich, wie man inzwischen weiß, als Fehlkalkulation erwiesen. Zwar wurde eine gemeinsame Währung noch in den 1990er Jahren Wirklichkeit. Aber die umfassende Politische Union, die für Kohl das „unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion“ gewesen war und die in seinen Augen das Novum der neu gegründeten Europäischen Union von Maastricht sein sollte, kam nicht zustande.49 Ob eine Politische Union, wie sie Kohl vorschwebte, eine wirksame Stütze der Gemeinschaftswährung geworden wäre, ist allerdings fraglich. Der Bundeskanzler dachte dabei kaum an eine engere Kooperation in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die er für relativ aussichtslos hielt und die ihn auch wenig interessierte. Ihm ging es in erster Linie um eine Demokratisierung der europäischen Institutionen und um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – und mit beiden Vorhaben scheiterte er. Die EU blieb insbesondere in außen- und sicherheitspolitischen Fragen auf die Aushandlungsprozesse der nationalen Regierungen angewiesen. Gerade hier verschafften sich die Nationalstaaten erneut unübersehbar Geltung, auch wenn immer mehr Regelungskompetenzen in anderen Politikbereichen von der nationalen auf 46 Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1989 – 1998, bearbeitet von Günter Buchstab und HansOtto Kleinmann, Düsseldorf 2012, S. 290. 47 Eintrag vom 2. Oktober 1982; J. Attali, Verbatim, Bd. 1: Chroniques des années 1981 – 1986, Paris 1996, S. 326. 48 Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 68. Sitzung, stenographischer Bericht, 12. Dezember 1991, S. 5797 – 5803, hier S. 5797 B. 49 Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 53. Sitzung, stenographischer Bericht, 6. November 1991, S. 4367 B/C.
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die europäische Ebene verlagert wurden.50 Etwas zynisch argumentierend, könnte man sagen, es war kein Wunder, dass Kohl bei der Währungsunion Erfolg hatte und mit der Politischen Union scheiterte. Schließlich hatte die Bundesregierung mit der Europäisierung der Geldpolitik lediglich Kompetenzen abgegeben, die sie ohnehin nicht besaß, weil die Bundesbank politisch unabhängig war. Umgekehrt hatte die französische Regierung ihren bestimmenden Einfluss auf die eigene Geldpolitik nur scheinbar verloren. Denn schließlich war der Franc letztlich von den Entscheidungen der Bundesbank abhängig gewesen. Dafür gewann die französische Zentralbank mit der Währungsunion auf doppelte Weise an Gewicht und Geltung: einmal gegenüber der eigenen Regierung und zum anderen gegenüber der Bundesbank, mit der man jetzt im Rat der EZB auf gleicher Augenhöhe operierte. Bei den Machtverschiebungen, die mit der Politischen Union anstanden, war das anders. Dabei ging es um genuine Kompetenzen nationaler Regierungen, Ministerien und Bürokratien. Die Kernelemente der Politischen Union, so hat Kohls europapolitischer Berater Joachim Bitterlich rückblickend geurteilt, seien nicht nur an den Engländern gescheitert, sondern „letztlich an der vereinten Kraft von Administration, der Innenminister, die sich vehement wehrten … [den deutschen eingeschlossen] … der Verteidigungsminister und der Außenminister, die mit Schrecken darauf schauten, was Kohl vorhat“.51 Von den Vereinigten Staaten von Europa als Zielperspektive der europäischen Integration sprach schon bald kaum noch jemand. Der Begriff des europäischen Bundesstaates befand sich – zumal nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag – in den 1990er Jahren ebenfalls auf dem Rückzug. Auch die CDU strich ihn 1992 aus ihrem Parteiprogramm. Selbst Kohl, so scheint es, verlor in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft den Glauben daran, dass diese Zukunftsperspektive noch erstrebenswert war. Nach dem Ausscheiden von Jacques Delors 1995 sagte ihm die Arbeit der Europäischen Kommission unter einer Reihe eher schwacher Präsidenten immer weniger zu. Wenn es in Europa vorangehen sollte, dann Kohls Meinung nach nur durch die Zusammenarbeit nationaler Regierungen. Eine stärkere Konzentration der Entscheidungsbefugnisse dort habe „nichts mit Renationalisierung zu tun“, bemerkte er gegenüber dem britischen Premierminister Tony Blair. Die Entwicklung hin auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ habe sich „als mißverständliche und falsche Richtung“ erwiesen.52 Nicht nur die deutschen Erwartungen wurden enttäuscht. Auch die französische Rechnung ging nicht auf. Für Mitterrand diente die Politische Union nicht der Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft oder der Schaffung eines europäischen Bundesstaates. Sie war aus seiner Sicht vielmehr in erster Linie dazu bestimmt, 50
Einen ausgewogenen Überblick über die Chancen und Begrenzungen der gemeinsamen europäischen Außenpolitik bietet W. Link, Möglichkeiten und Grenzen einer gemeinsamen Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (6 – 7/2013), S. 23 – 30. 51 J. Bitterlich, J., a.a.O., S. 292. 52 Zitiert nach H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 816.
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durch die Stärkung des Europäischen Rates und die Ausdehnung von Mehrheitsbeschlüssen die gewachsene Macht des vereinten Deutschlands einzudämmen. Demnach, vermerkte Thatcher in ihren Erinnerungen, „traten die Franzosen nicht aus Überzeugung, sondern aus taktischen Gründen für das föderalistische Konzept ein“.53 Der französische Staatspräsident konnte das Scheitern der Politischen Union Anfang der 1990er Jahre deswegen kühler konstatieren als der deutsche Bundeskanzler. Mitterrands Rechenfehler lag anderswo: Die währungspolitische Gleichberechtigung, die er mit dem Euro erreichen wollte, vertrug sich schlecht mit der deutschen Erwartung, die Stärke der deutschen Wirtschaft und die Erfolgsbilanz der Bundesbank rechtfertigten deutsche Standards für die europäische Währungsunion. Die Spannungen, die aus diesem Widerspruch erwuchsen, belasteten die deutschfranzösischen Beziehungen über die Amtszeit Mitterrands hinaus auch unter dessen Nachfolgern Jacques Chirac, Nikolas Sarkozy und François Hollande. Um das Ziel einer europäischen Bändigung der D-Mark zu erreichen, akzeptierte die französische Politik, dass im Maastricht-Vertrag zunächst die deutsche Konzeption der Währungspolitik festgeschrieben wurde. Gleichzeitig jedoch arbeitete die französische Diplomatie seit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages daran, die Vertragsbedingungen im Sinne der eigenen Vorstellungen nachzubessern. Schon im Vorfeld des französischen Referendums zum Maastricht-Vertrag im Jahr 1992 hatte Mitterrand der französischen Öffentlichkeit in einer Fernsehansprache versichert, die europäische Währungspolitik werde – anders als im Vertragstext festgeschrieben – nicht unter Weisung von europäischen Zentralbankern, sondern unter politischer Aufsicht stehen. Demzufolge würde die europäische Währungspolitik weniger auf Inflationsbekämpfung als auf die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gerichtet sein.54 Die französischen Versuche, die Währungsunion gemäß den eigenen Vorstellungen umzuwandeln, vollzogen sich in mehreren Etappen, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Wichtig ist, dass sich spätestens unter dem Druck der europäischen Banken- und Staatsschuldenkrise seit 2010 die Europäische Währungsunion tatsächlich vom deutschen Ordnungsmodell, wie es im Maastricht-Vertrag festgeschrieben worden war, entfernt hat. Stattdessen hat sie sich der stärker auf Staatsintervention und Nachfragestimulierung setzenden französischen Konzeption einer politisierten Zentralbank angenähert. In eine ähnliche Richtung weisen die Pläne, die wirtschafts- und fiskalpolitischen Kompetenzen auf europäischer Ebene zu bündeln und damit eine Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur Zentralbank zu schaffen, wie sie Paris seit langem vorschwebt. Zu Recht hat der Bonner Politikwissenschaftler Ludger Kühnhardt in diesem Kontext auf die „Neudefinition“ der Vokabel „Politische Union“ hingewiesen. In den 1990er Jahren wurden damit die von Kohl favorisierten Schritte zu einer Demokratisierung der EU 53
M. Thatcher, a.a.O., S. 1052. Siehe hierzu und zum Folgenden M. Feldstein, EMU and International Conflict, in: Foreign Affairs 76 (1997), S. 63. 54
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sowie die Bemühungen um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnet; inzwischen versteht man unter „Politischer Union“ das ursprünglich französische Projekt einer europäischen Wirtschaftsregierung durch Vergemeinschaftung der bislang nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitik.55 Frankreichs Dilemma bestand und besteht darin, dass die europäische Schuldenkrise einen doppelten Effekt hat. Politisch entwickeln sich die Dinge durchaus in Richtung französischer Ziele. Die Konzeption der europäischen Währungspolitik hat sich französischen Vorstellungen angenähert. Institutionen wie die EZB entsprechen heute stärker französischen Auffassungen als vor 2010. Im Rat der EZB befinden sich nicht die Vertreter der Banque de France, sondern diejenigen der Bundesbank in einer permanenten Minderheitenposition. Gemeinsam mit Italien, Spanien und den anderen südlichen Mitgliedsländern des Euro kann Frankreich deutschen politischen Vorstellungen wirksam entgegentreten. Wirtschaftlich hingegen hat die Währungsunion die gegenteilige Wirkung. Frankreich droht den Anschluss zu verlieren. Es habe, so lautete das Fazit in einem Länderbericht des Economist, zögerlicher und langsamer als jedes andere europäische Land gehandelt, als es darum ging, den Arbeitsmarkt, das Rentenwesen und die anderen sozialen Sicherungssysteme zu reformieren.56 Statt nach bewährtem Muster Deutschlands Wirtschaftsstärke zu nutzen, um die politische Führung Frankreichs zu stabilisieren, hat die Währungsunion dazu geführt, dass die Bundesregierung sich selbst intensiver um politische Führung bemühen muss, weil sie das Fundament der eigenen Wirtschaft und der gemeinsamen Währung zunehmend gefährdet sieht. Das Ergebnis ist der latente Macht- und Interessenskonflikt in der EU, der zwischen Paris und Berlin ausgetragen wird und der sich etwa in dem politischen Armdrücken um Ausnahmeregelungen für Frankreich beim Erreichen der vereinbarten Defizitziele ausdrückt. Im Rückblick scheint sich Thatchers Prognose bewahrheitet zu haben, ein vereintes Europa werde „den Einfluß eines vereinigten Deutschlands erhöhen und nicht begrenzen“.57 Tatsächlich fürchten Frankreich und die anderen Mitglieder der Eurozone heute nicht mehr wie früher das Diktat der Bundesbank bei der Festlegung der Zinssätze. Sie fühlen sich um politische Kernkompetenzen betrogen und der demokratischen Selbstbestimmung in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik beraubt. Deutschland sei zur Hegemonialmacht des Kontinents aufgestiegen, heißt es immer öfter.58 Thatcher, 55 L. Kühnhardt, Die Europa-Rettung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 03. 2014, S. 6. 56 The Economist vom 17. November 2012, S. 3 – 16. 57 M. Thatcher, a.a.O., S. 1085. 58 Besonders prominent verfocht diese These U. Beck, Das deutsche Europa, Berlin 2012, vgl. mit anderer Akzentsetzung aus britischer Sicht H. Kundnani, The Paradox of German Power, London 2014; aus belgischer Perspektive D. Rochtus, Dominant Duitsland. Economische Reus, Politieke Dwerg?, Kalmthout 2013. Für meine eigene Einschätzung siehe D. Geppert, Halbe Hegemonie: Das Deutsche Dilemma, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), Heft 6/7, S. 11 – 16.
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die eifersüchtig wie kaum sonst ein Politiker die Kernbereiche nationaler Souveränität verteidigen wollte, hat diese Entwicklung deutlicher kommen sehen als andere. Ein zustimmungsfähiges Alternativmodell hatte sie jedoch nicht anzubieten. Ihr „Kreuzzug für ein größeres Europa mit lockereren Banden“ scheiterte.59 Zwar öffnete sich die EU zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich – nicht zuletzt aufgrund deutschen und britischen Drängens – nach Ostmitteleuropa, obwohl es gerade in Frankreich gegen die EU-Osterweiterung erhebliche Vorbehalte gegeben hatte. Doch die britische Erwartung, Erweiterung und Vertiefung schlössen einander aus, trog. Die Bande der Union wurden nicht gelockert, sondern im Verlauf der auf den Maastrichter Vertrag folgenden zwei Jahrzehnte immer fester gezurrt.60 Thatchers Alternative einer loseren Gemeinschaft souveräner Staaten, die sich lediglich zu Zwecken gemeinsamer Verteidigung und der Vertretung gemeinsamer Handelsinteressen zusammenschlossen, fand nicht einmal in der eigenen Ministerialbürokratie ungeteilte Zustimmung. Ein Memorandum aus dem Planungsstab des Foreign Office vom Juli 1990 argumentierte, weder hätten diejenigen Recht, die sich wie die französische Regierung von einer europäischen Einbindung der Bundesrepublik eine Schwächung Deutschlands erhofften, noch deren Kritiker, die wie Thatcher das Gegenteil befürchteten. Eine losere Gemeinschaft, das war die Pointe des Papiers, würde den deutschen Einfluss vergrößern, nicht verringern; dies bedeute aber nicht, dass er deswegen in einem stärker integrierten Europa deutlich abnehmen werde. Die Europäische Gemeinschaft, so die Schlussfolgerung, stelle wichtige Absicherungen gegen einen überproportionalen wirtschaftlichen Einfluss Deutschlands bereit. Eine Vertiefung der Integration werde in dieser Hinsicht keinen großen Unterschied machen, aber eine Schwächung der Gemeinschaft verstoße gegen britische Interessen.61 Im Endeffekt folgte die britische Regierung nach dem Sturz Thatchers, der nicht zuletzt durch deren intransigente Europapolitik verursacht worden war, einer pragmatischen Politik des „Ja, aber“.62 Man legte der Entwicklung keine unüberwindbaren Steine in den Weg, sicherte aber dem eigenen Land durch opt-out-Klauseln, etwa bei der Währungsunion oder in der Sozialpolitik, zuletzt auch mit der Verweigerung, den Fiskalpakt zu unterzeichnen, die Möglichkeit einer abweichenden Entwicklung innerhalb der EU. Je länger sich diese divergierenden Marschrichtungen fortsetzten, desto schwieriger war sowohl der britischen Öffentlichkeit als auch den anderen Europäern zu vermitteln, welche Rolle die britische Regierung für ihr Land in Europa sah. Am vorläufigen Ende dieses Weges steht die Ankündigung Premierminister David Camerons vom Januar 2013, spätestens im Jahr 2017 eine Volksabstimmung 59
M. Thatcher, a.a.O., S. 1049. Siehe etwa die Darstellung bei A. Wirsching, a.a.O., S. 153 – 225. 61 R. Cooper, a.a.O., S. 422. 62 Einen guten Überblick über die britische Europapolitik aus einer für britische Verhältnisse betont europhilen Perspektive findet man bei H. Young, This Blessed Plot. Britain and Europe from Churchill to Blair, Basingstoke 1998. 60
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über die weitere Zugehörigkeit des Vereinigten Königreiches zur Europäischen Union abzuhalten.63
IV. Das Europa der Zukunft Nachdem sich mit dem Ende des Kalten Krieges das Thatcher-Europa der gemeinsamen Verteidigung gegen die Bedrohung aus dem Osten aufgelöst hatte, erleben wir gegenwärtig die Erosion der aus dem Ost-West-Konflikt hervorgegangenen EU Helmut Kohls und François Mitterrands. Wie Adenauers und de Gaulles karolingisches Europa in den 1980er und 1990er Jahren von Grund auf umgeformt wurde, wird in der gegenwärtigen Krise das Europa Kohls und Mitterrands transformiert. Es macht einem neuen Europa Platz, dessen Konturen erst umrisshaft zu erkennen sind. Im Prinzip stehen immer noch drei Modelle zur Auswahl: erstens der verspätete Durchbruch zu den Vereinigten Staaten von Europa, zweitens die Weiterentwicklung der Transfer- und Haftungsunion durch die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen oder drittens eine Integration durch Dezentralisierung und Wettbewerb, innerhalb derer sich die Mitgliedsländer in verschiedenen Konstellationen und unterschiedlicher Intensität zur Kooperation bei Teilprojekten der europäischen Einigung zusammentun. Man kann diese drei Modelle auch die deutsche, die französische und die britische Vision für die Zukunft Europas nennen.64 Das deutsche Modell setzt nach wie vor darauf, dass die großen europäischen Krisen große Integrationsschübe mit sich bringen oder nach sich ziehen und dass wir am Ende dieser Krise ein entscheidendes Stück auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat, einer europäischen Republik, einer Politischen Union Europas vorangekommen sein werden. Nach dieser Vorstellung würde schließlich ein machtvolles europäisches Parlament eine eigene europäische Exekutive wählen und kontrollieren und damit das demokratische Defizit der EU beseitigen. Zugleich würde sich die EU über eine Bankenunion und einen Schuldentilgungsfonds zur Haftungsunion weiterentwickeln. Es gäbe eine zumindest anteilige europäische Steuerhoheit, einen Ausbau der regionalen Umverteilung zur Stärkung der Peripherie, eine gemeinsame europäische Sozialpolitik und auch außenpolitisch würde ein derart geeintes Europa mit einer Stimme sprechen.65 Das Problem des deutschen Modells besteht darin, dass in keinem anderen europäischen Land – über die Vergemeinschaftung der deutschen Wirtschaftskraft und finanziellen Potenz hinaus – ein Wille zu derartigen Aufbrüchen erkennbar ist. Mehrheiten in nationalen Referenden, die für eine Revision des europäischen Vertrags63 D. Cameron, Bloomberg-Rede vom 23. Januar 2013, https://www.gov.uk/government/ speeches/eu-at-bloomberg (zuletzt abgerufen am 30. 11. 2015). 64 Zum Folgenden siehe ausführlicher D. Geppert, Ein Europa, das es nicht gibt. Die fatale Sprengkraft des Euro, 2. Aufl., München 2013, S. 160 – 184. 65 So etwa U. Guérot/R. Menasse, Es lebe die europäische Republik, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. 03. 2013, S. 24.
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werks notwendig wären, um die Integration in diese Richtung weiter voranzutreiben, sind unter den gegenwärtigen Umständen kaum denkbar. In einer Umfrage des Pew Research Center aus Washington äußerten sich im Mai 2013 nur noch 45 Prozent der befragten Deutschen, Franzosen, Briten, Italiener, Spanier, Griechen, Polen und Tschechen positiv über die EU. Nur 28 Prozent von ihnen waren der Ansicht, die ökonomische Integration habe ihre Wirtschaft gestärkt. Außer in Deutschland gab es nirgendwo eine Mehrheit für den Vorschlag, zur Lösung der Krise müssten die Einzelstaaten mehr Kompetenzen an Brüssel abtreten.66 Wahrscheinlicher als das deutsche Modell ist daher die französische Variante: die Fortsetzung der Regierungszusammenarbeit innerhalb der Eurozone mit dem Ziel, die Wirtschafts- und Fiskalpolitik in den verschiedenen Mitgliedsländern besser aufeinander abzustimmen. Höhere Lohnabschlüsse, mehr Ausgaben der öffentlichen Hand und ein gesteigerter Konsum vor allem in Deutschland sollen helfen, die Wettbewerbslücke in der Eurozone zu schließen. Auf diese Weise, so die Erwartung, würden die Wirtschaft und speziell die Exporte in den Schuldenstaaten endlich wieder wachsen, sodass gerade die Länder im europäischen Süden ihre Leistungsbilanzdefizite allmählich abbauen könnten.67 Flankiert wird dieses Modell gegenwärtig durch die von der EZB verfolgte Politik des billigen Geldes, die durch den Kauf von Staatsanleihen mindestens bis Herbst 2016 monatlich 60 Milliarden Euro in die Märkte pumpen will.68 Die Haupthindernisse für einen derartigen Lösungsweg liegen in Deutschland. Etwas höhere Lohnstückkosten im Norden Europas wären für die Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen vermutlich akzeptabel, wenn sie damit die Wettbewerbsfähigkeit im Süden dauerhaft verbessern könnten. Das Ausmaß an Lohn- und Preissteigerung jedoch, das nötig wäre, um ein Land wie Griechenland auf absehbare Zeit wieder konkurrenzfähig zu machen, würde in Deutschland politisch wie wirtschaftlich kaum toleriert werden. Eine solche Solidaritätsaktion könnte nur funktionieren, wenn die Eurozone allein auf der Welt wäre. Gerade die deutschen Unternehmen sind aber stark und in wachsendem Maße mit Märkten jenseits des Euroraums und auch außerhalb der EU verflochten.69 Die Schwierigkeiten, die in die Krise geführt haben, wurzeln jedoch nicht in ungenügenden Transferzahlungen und auch nicht in fehlerhaften politischen Entscheidungsmechanismen. Ihren Kern bilden vielmehr jene politischen, kulturellen, mentalen, auch sozialen und ökonomischen Unterschiede, die gerade die Vielfalt unseres Kontinents ausmachen und ohne die Europa nicht Europa wäre. Diese Unebenheiten 66
Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 05. 2013, S. 11. In diesem Sinne etwa A. Moravcsik, Europe after the Crisis, in: Foreign Affairs 91, Mai/ Juni 2012, S. 54 – 68. 68 Siehe etwa Handelsblatt vom 9. März 2015; http://www.handelsblatt.com/finanzen/anla gestrategie/trends/ezb-kauf-von-staatsanleihen-wir-sind-am-markt-aktiv/11477198.html [zuletzt abgerufen am 21. 04. 2015]. 69 So argumentiert beispielsweise J. Starbatty, Tatort Euro, Wien u. a. 2013. 67
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lassen sich auch durch veränderte institutionelle Arrangements und weiter gesteigerte finanzielle Solidarität nicht in wenigen Jahren glätten. Sowohl in den Vereinigten Staaten von Europa als auch in einer weiterhin von der Zusammenarbeit nationaler Regierungen geprägten Währungsunion würde ein Gefälle zwischen unterschiedlich entwickelten, verschiedenartig wirtschaftenden und auch politisch-kulturell ungleichen Ländern bestehen bleiben und für permanente Spannung sorgen. Ein weiteres Grundproblem der beiden erstgenannten Zukunftsentwürfe besteht darin, dass sie die EU mit der Eurozone gleichsetzen. Die Fortentwicklung der gesamten Union wird von den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Währungsunion her konzipiert und darauf reduziert, was deren Zusammenhalt dient. Die Präferenzen der ostmitteleuropäischen Staaten ohne Euro spielen ebenso wenig eine Rolle wie die Interessen derjenigen Länder in Nord- und Westeuropa, die sich wie Schweden, Dänemark und Großbritannien gegen einen Beitritt zur Gemeinschaftswährung entschieden haben. Auch die spezifischen Anliegen Deutschlands kommen bei einer solchen Betrachtung zu kurz. Als Zentralmacht in der Mitte des Kontinents gehen die deutschen Bedürfnisse weniger in den Belangen der Eurozone auf als die Interessen süd- und westeuropäischer Länder wie Frankreich oder Spanien. Die deutschen Handelskontakte und Wirtschaftsbeziehungen beschränken sich nicht auf den westlichen und südlichen Saum des Kontinents, sondern erstrecken sich auch nach Osten und Norden.70 Auch geostrategisch hat die Bundesrepublik kein Interesse daran, dass sich der Kontinent erneut spaltet, diesmal nicht durch den Eisernen Vorhang des Kalten Krieges, sondern entlang der Außengrenzen des Euroraums. Eine derartige Entwicklung droht aber, wenn die fortdauernden Probleme innerhalb der Währungsunion ihre Erweiterung nach Norden und Osten unmöglich beziehungsweise für potenzielle Beitrittskandidaten dauerhaft unattraktiv machen. Im besten Falle verfestigt sich innerhalb der EU der Zustand einer Zweiklassengesellschaft von Ländern mit und ohne Euro. Im schlimmsten Fall schwindet bei den EU-Staaten außerhalb der Währungsunion die Bereitschaft zu einer Mitgliedschaft zweiter Klasse derart, dass sie der Union ganz den Rücken kehren. In Großbritannien ist dieser Prozess bereits in vollem Gange. Nicht zuletzt um zu vermeiden, dass die EU mittel- oder langfristig auf die Eurozone zusammenschrumpft, ist deswegen die dritte Zukunftskonzeption, das britische Modell, den beiden anderen vorzuziehen. Es setzt auf die flexible Kooperation aller Mitgliedstaaten in einer EU, die gemeinsame Institutionen hat und sich gemeinsame Grundregeln des Zusammenlebens gibt, die aber vom Ziel einer immer engeren Einheit der ihr angehörenden Staaten und Institutionen ebenso Abschied nimmt wie von der Idee einer einheitlichen Regulierung und Normierung möglichst vieler Lebensbereiche. Eine solche EU wäre weniger als ein Bundesstaat, weniger als die Vereinigten Staaten von Europa oder eine europäische Republik. Sie wäre aber mehr als eine bloße Freihandelszone. Sie setzte auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit 70
So schon T. Judt, Europa. Die große Illusion, in: Merkur 50 (1996), S. 993 – 1005.
Der Euro: Geburt aus dem Geist der Wiedervereinigung?
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aller Mitgliedsländer – nicht so sehr durch europaweite Steuerung als vielmehr durch den Wettbewerb um die besten Lösungen in den einzelnen Staaten und Regionen: Vergemeinschaftung durch „horizontale Integration, nicht als Zentralisierung europäischer Politik“, so hat der Grüne Vordenker Ralf Fücks es einmal formuliert.71 Eine derartige flexible und dezentrale Ordnung Europas hätte für Deutschland einen zusätzlichen Vorteil: Größe und Wirtschaftskraft unseres Landes wären in einem weiteren und lockereren Verbund, der auch Großbritannien, Schweden, Dänemark, Polen und die anderen ostmitteleuropäischen Staaten gleichberechtigt einschließt, leichter auszutarieren und für alle Beteiligten erträglicher zu gestalten als in einem wirtschaftlich und fiskalisch festgezurrten, engeren Euroraum mit südund westeuropäischer Schlagseite, in dem Deutschland einerseits übermächtig erscheint, sich aber andererseits in einer ständigen Minderheitenposition und Isolationsgefahr befindet. Außerdem wäre mit einer weltoffeneren, liberaleren EU inklusive Großbritanniens eine Stärkung der Verbindung zu den USA, etwa in Form einer transatlantischen Freihandelszone, leichter zu bewerkstelligen als mit einem auf Süd- und Westeuropa reduzierten und zum Protektionismus tendierenden Rumpf, in dem beispielsweise die anti-amerikanischen Reflexe der französischen Außenpolitik ein größeres Gewicht hätten. Ob zu den unterschiedlichen Kooperationsnetzen einer dezentraleren EU dauerhaft auch eine Währungsunion gehören muss, ist eine offene Frage. Prinzipiell wäre mit dem Modell einer flexibleren Europäischen Union die Rückkehr zu einem System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse durchaus vereinbar. Ein solches Regime würde es ermöglichen, mit Hilfe kontrollierter Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen Druck abzubauen, wenn die Löhne und Preise sich in den verschiedenen Ländern über längere Zeit auseinanderentwickeln. Fiskaltransfers und von der EU erzwungene Eingriffe in die Haushalts-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik der Einzelstaaten wären dann überflüssig. Aber auch eine Gemeinschaftswährung bliebe eine Option. Ihre Mitglieder müssten allerdings zu fiskalischer Selbstverantwortung zurückkehren. Sie müssten sich an die einmal vereinbarten Spielregeln halten und damit auch die Haftung für die von ihnen verantwortete Politik tragen. Anders ist die Wahrung nationaler Selbstbestimmung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht zu haben.72
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Siehe R. Fücks, Jeder, mit wem er will, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. 11. 2012. 72 Vgl. auch H. J. Häfele, Ein „Euro der Willigen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 10. 2012.
Die Berliner Republik: Gibt es sie überhaupt? Zur provokativen Begrifflichkeit der Hauptstadtfrage Manfred Görtemaker Als der Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991 beschloss, den Sitz von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin zu verlegen, war das Ende der „Bonner Republik“ besiegelt. „Eine wunderbare Katastrophe“, urteilte damals das Nachrichtenmagazin Der Spiegel: „Weinende Verlierer, weinende Sieger: Seit dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen […] Willy Brandt hat keine Entscheidung des Parlaments so viele Emotionen geweckt.“1 Schon mit der „Wende“ von 1989/90 und der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hatte sich diese Entwicklung abgezeichnet. Dabei war nicht von Anfang an absehbar gewesen, wie groß der Einschnitt sein würde, der sich daraus ergab. So fand die Debatte über die Hauptstadtfrage eine breite publizistische und öffentliche Resonanz. Die Entscheidung ließ einen gespaltenen Bundestag zurück und blieb die Antwort auf viele Fragen schuldig. Tatsächlich hatte sich die Bonner Republik seit 1949 durch eine bemerkenswerte innere Stabilität sowie durch wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet.2 Auch jetzt, nach 1990, ließen der Fortbestand der Verfassung, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Kontinuität der Westbindung den Bruch nicht als dramatisch erscheinen. Alles, was die Bonner Republik so attraktiv gemacht hatte, war mit dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG keineswegs zu Ende. Aber die Frage schien berechtigt, inwieweit der Umzug von Parlament und Regierung den Stil des Regierens oder gar dessen Inhalte tangieren werde. Diese Frage wurde schon früh gestellt. So veröffentlichte der Journalist und Publizist Johannes Gross, selbst Rheinländer, 1995 ein Buch unter dem provozierenden Titel Begründung der Berliner Republik – Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, in dem er die Behauptung aufstellte, die Bundesrepublik sei „durch die Wiedervereinigung nicht nur größer, sondern dank auch der sie begleitenden Veränderungen der internationalen Politik von Grund auf anders geworden“. Zwar sei die Berliner Republik mit der Bonner Republik staatsrechtlich identisch. Doch gesellschaftlich, politisch und kulturell sei sie es
1
„Eine wunderbare Katastrophe“, in: Der Spiegel vom 24. Juni 1991. Der Schweizer Journalist und Autor Fritz René Allemann prägte dafür 1956 die Formel „Bonn ist nicht Weimar“. Siehe Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956 (Neuausg. Frankfurt am Main 2000). 2
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nicht.3 Mit dem Umzug nach Berlin, meinte Gross, werde „die Binnenisolation der deutschen Politik“, die zu den Charakteristika Bonns zähle, wo die Politik „wie eine Einquartierung“ lebe, beendet. Für die alte Bundesrepublik sei die Kommunikationsschwäche unter den Eliten kennzeichnend gewesen, weil es eine Vielzahl von Zentren, aber eben keine Hauptstadt im Vollsinn des Wortes gegeben habe. Berlin als Hauptstadt werde eine besondere Sogwirkung entfalten und „nicht nur Hauptquartier der Bundespolitik sein, sondern auch Lebensmittelpunkt der sie gestaltenden Personen“ – und das werde sich auf die Atmosphäre des Regierens auswirken.4 Dieser Argumentation, die von einer Änderung der Politik wie von einem Wandel des Politikstils ausging, wurde häufig widersprochen, selten zugestimmt. Insbesondere der Begriff „Berliner Republik“ fand keine Gnade. Bundeskanzler Helmut Kohl nannte ihn einen „ausgemachten Unsinn“, der Umzug sei kein Umzug in eine „andere Republik“. Wolfgang Schäuble bekannte im Juni 1997 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, er halte wenig von derartigen „Wortungetümen“; eine „Berliner Republik“ werde es ebenso wenig geben, wie es eine „Bonner Republik“ gegeben habe. Und Bundespräsident Roman Herzog betonte, er halte von dem Begriff „überhaupt nichts“, denn er sehe nicht, „dass die Berliner eine andere Republik sein sollte als die von Bonn“.5 Indes, die Wegscheide von 1989, die sich im Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin widerspiegelte, war bald immer weniger zu verkennen. Unbestritten waren von Anfang an die grundlegenden Veränderungen in der Außenpolitik. Weitgehend unstrittig sind inzwischen ebenfalls die Veränderungen im Parteiensystem. Auf die Zunahme sozialer und politischer Konflikte und unterschiedlicher Mentalitäten in einer „heterogener“ gewordenen Gesellschaft hat überzeugend der Historiker Gerhard A. Ritter hingewiesen.6 Nicht zuletzt bildete sich in den 1990er Jahren „ein neuer medialer Überbau“ heraus, der sich – so der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister – „von den vergleichsweise idyllischen Bonner Verhältnissen“ deutlich unterscheide.7 „Phantome werden manchmal Realität“, notierte Hachmeister dazu 2007, „so wie das Geistige und Seelische ins Körperliche übergehen und die Welt durch das Gedachte verändert werden kann.“ Nicht anders verhalte es sich mit der Berliner Republik, die zuerst nur Bezeichnung für das größere Deutschland nach
3 Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 7 f. 4 Ebd., S. 92 f. 5 Vgl. Michael Sontheimer, Berlin, Berlin. Der Umzug in die Hauptstadt, Hamburg 1999, S. 222. 6 Gerhard A. Ritter, Continuity and Change. Political and Social Developments in Germany after 1945 and 1989/90, London 2000, S. 25. Siehe auch umfassend Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006. 7 Lutz Hachmeister, Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München 2007, S. 24.
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1989 gewesen sei, dann soziologisches Konzept und sich nun als Lifestyle, „digitale Boheme“ und mediale Aneignung entpuppe.8 Diese Veränderungen sind nicht allein mit der Wiedervereinigung zu erklären. Einige, wie die Entwicklung einer neuartigen Mediengesellschaft, hätten sich in jedem Fall ergeben. Aber andere bedurften durchaus der Effekte des Umzugs von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin, um wirksam werden zu können – den Gegebenheiten der Metropole, die es mit sich bringen, dass sich „publizistische und politische Milieus auffächern und neu verdichten.9 So hat die amerikanische Soziologin Sophie Mützel in ihrer 2002 veröffentlichten Dissertation Making Meaning of the Move of the German Capital: Networks, Logics, and the Emergence of Capital City Journalism in einer empirisch-dichten Beschreibung auf der Basis qualitativer Interviews und Inhaltsanalysen die Herausbildung eines „hauptstadtjournalistischen Stils“ festgestellt.10 Journalisten übernahmen nun einen Teil der intellektuellen Deutungsmacht, die zuvor von den Politikern oder von Professoren und Schriftstellern ausgeübt worden war.11 Mit dem Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik ging zudem ein Generationswechsel in der deutschen Publizistik einher. Von „Berliner Republik“ zu sprechen, ist also sinnvoll, um den Kontrast zur Bonner Republik sowohl im Hinblick auf die Art des Regierens als auch hinsichtlich der innen- und außenpolitischen Gesamtkonstellation und der veränderten Öffentlichkeit deutlich zu machen. Der Unterschied zwischen der Berliner und der Bonner Republik wird dabei weniger durch den Ort des Sitzes von Parlament und Regierung bestimmt – zumal der eigentliche Umzug erst 1999 erfolgte –, als vielmehr durch die Neuartigkeit des politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes, in dem die Bundesrepublik seit 1989/90 agiert. Das ist auch der Grund, weshalb der 3. Oktober 1990 als eigentliches Entstehungsdatum der „Berliner Republik“ anzusehen ist. Ähnlich sieht es Hermann Rudolph, der 1998 im Berliner Tagesspiegel bemerkte, vielleicht stütze nichts so sehr die Absicht, das vereinte Deutschland bewusst als Berliner Republik zu begreifen, wie die Aussicht, dass sie sonst doch nur die alte Bonner Republik bleiben werde – erweitert um ein paar tausend Quadratkilometer, versetzt an einen neuen Standort. Dann, so Rudolph ironisch, fehle nicht viel zu der Einsicht, dass man sich die ganze Mühe hätte sparen können.12 8
Ebd., S. 15. Ebd., S. 24. Vgl. auch Beate Schneider, Massenmedien im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 602 – 629. 10 Sophie Mützel, Making Meaning of the Move of the German Capital: Networks, Logics, and the Emergence of Capital City Journalism, New York 2002. Siehe auch Sophie Mützel, Von Bonn nach Berlin. Der gewachsene Hauptstadtjournalismus, in: Stephan Weichert/ Christian Zabel (Hrsg.), Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt, Köln 2007, S. 55 – 73. 11 Hachmeister, Nervöse Zone, S. 77 f. 12 Hermann Rudolph, Der Argwohn um die Berliner Republik, in: Der Tagesspiegel, 6. September 1998, zit. nach: ders., Das erste Jahrzehnt. Die Deutschen zwischen Euphorie 9
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Die folgenden Ausführungen beschränken sich nunmehr auf drei Fragen: Erstens, worin bestanden die Veränderungen im Bereich der Außenpolitik? Zweitens, wie gestaltete sich der innere Wandel nach 1989/90? Und drittens, wie sieht die Bilanz nach einem Vierteljahrhundert aus: Können wir oder müssen wir gar von einer „Berliner Republik“ sprechen? Oder sind die Kontinuitäten so stark, dass eine derartige begriffliche Differenzierung womöglich irreführend wäre?
I. Veränderungen in der Außenpolitik Wer die Geschichte nach 1990 in außen-, militär- und sicherheitspolitischer Hinsicht betrachtet, wird vier grundlegende Veränderungen feststellen: (1) Der Zusammenbruch des Kommunismus, die Desintegration der Sowjetunion und die daraus erwachsende Unabhängigkeit zahlreicher Staaten Mittel-, Ostund Südosteuropas sowie die Wiedervereinigung Deutschlands waren Prozesse von historischen Dimensionen, die eine weitgehende Neuordnung Europas erforderten. Diese Entwicklungen waren bereits seit den 1970er Jahren im Gange und wurden durch das „neue Denken“, das der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow ab 1985 in der Innen- und Außenpolitik der UdSSR eingeführt hatte, beschleunigt. Das ganze Ausmaß des Wandels ließ sich jedoch erst nach 1990/91 absehen und bezog nun auch das wiedervereinigte Deutschland ein, das angesichts der offenen Grenzen in der Mitte Europas nicht abseits bleiben konnte, als die Revision der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Architektur Europas eine aktive Mitwirkung verlangte. (2) In der Militär- und Sicherheitspolitik sah sich das wiedervereinigte Deutschland nach 1990 zunächst weiterhin – wie zu Zeiten der Bonner Republik – zur Zurückhaltung gezwungen. Ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes kam für die überwiegende Mehrheit der Deutschen und auch für die Bundesregierung nicht in Betracht. Der Golf-Krieg 1991 fand somit ohne direkte deutsche Beteiligung statt. Allerdings trug Deutschland neben Saudi-Arabien, Kuwait und Japan mit knapp 18 Milliarden DM wesentlich zur Finanzierung des Krieges bei. Vor allem in den USA wurde den Deutschen daher „Scheckbuch-Diplomatie“ vorgeworfen – eine Kritik, die schon zu diesem Zeitpunkt erkennen ließ, dass Deutschland bald gezwungen sein würde, seine künftige außen- und sicherheitspolitische Rolle und mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr zu überdenken. Schon 1993/94 wurden dazu von der Bundesregierung, aber auch vom Bundesverfassungsgericht die entsprechenden Weichen gestellt. (3) Der 11. September 2001 war eine Zäsur, die auch die deutsche Außenpolitik im Kern betraf und veränderte. Deutschland wurde nun zur Abwehr des internatiound Enttäuschung. Mit einem Vorwort von Lothar de Maizière, Stuttgart/München 2000, S. 250.
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nalen Terrorismus herangezogen, der als globales Phänomen alte Blockgrenzen ignorierte und damit nicht zuletzt die deutsche Politik vor neue Herausforderungen stellte. Anders als in den 1990er Jahren, in denen Deutschland sich hauptsächlich in Europa, vor allem auf dem Balkan, engagiert hatte, wurde der Handlungsrahmen jetzt maßgeblich erweitert. Ein Beispiel dafür ist die Rolle, die Deutschland bei der Organisation der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn und anschließend bei dem – auch militärisch gestützten – Versuch spielte, Afghanistan zu stabilisieren. Im UNO-Rahmen wurde Deutschland jetzt ebenfalls zunehmend als „international player“ wahrgenommen, wie sich etwa bei der Unterbindung illegaler Waffenlieferungen vor der Küste des Libanon oder bei der Abwehr der Aktivität von Piraten vor Somalia am Horn von Afrika zeigte. (4) Entgegen dem Trend, dass Deutschland sich angesichts der Forderungen nach Übernahme von Verantwortung in der internationalen Politik zunehmend in die Pflicht nehmen ließ, gab es jedoch auch Beispiele, in denen es sich gegenüber den eigenen Verbündeten verweigerte. Dies geschah 2002/03 im Irak-Konflikt und erneut 2011, wenngleich unter etwas anderen Vorzeichen, in der Frage des Schutzes von Aufständischen in Libyen. Und auch in der UkraineFrage 2014/15 ging die Bundesregierung eigene Wege, indem sie entgegen den Bestrebungen in London und Washington versuchte, den Gesprächskanal nach Moskau offenzuhalten und gemeinsam mit der Regierung in Paris eine politische Lösung für den Konflikt zu finden.
II. Veränderungen in der Innenpolitik Als der Jubel nach der Maueröffnung am Abend des 9. November 1989 keine Grenzen kannte und die Menschen wie in Trance nach Westen drängten, sprach der damalige Regierende Bürgermeister Berlins, Walter Momper, von den Deutschen als dem „glücklichsten Volk der Welt“.13 Doch schon wenig später war alles anders: Ernüchterung machte sich breit. Bereits im Sommer 1990 meinten 75 Prozent der Ostdeutschen, sie seien Bürger zweiter Klasse. Die Wiedervereinigung wurde zwar emphatisch begrüßt. Aber eine Identifikation mit der Bundesrepublik fand kaum statt. Je länger die Wiedervereinigungsprobleme andauerten, desto stärker kam es zu einer „Wiedergeburt des ostdeutschen Wir-Gefühls“.14 Die DDR gewann im Rückblick wieder an Attraktivität. Zwei Drittel der Ostdeutschen erklärten 1995, 13
Amélie Mummendey/Thomas Kessler, Deutsch-deutsche Fusion und soziale Identität. Sozialpsychologische Perspektiven auf das Verhältnis von Ost- zu Westdeutschen, in: Hartmut Esser (Hrsg.), Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000, S. 277. 14 Hans-J. Misselwitz, Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen. Das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, Bonn 1996.
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sie seien stolz auf ihr Leben in der DDR. „Alles, was der Einheit misslingt, wird der DDR posthum vergeben“, bemerkte dazu 1998 kritisch der ostdeutsche Journalist und Autor Christoph Dieckmann, – zumal ja deren Utopie „ihre Offenbarung in der Geschichte seit 1989 nicht mehr verantworten“ müsse.15 Tatsächlich wurden im Taumel der Gefühle, die sich mit den überstürzenden Ereignissen der Wendezeit 1989/90 verbanden, vielfach die Schwierigkeiten übersehen, die der notwendige Strukturwandel in beiden Teilen Deutschlands als Folge der Wiedervereinigung mit sich bringen würde. Als Bundeskanzler Helmut Kohl am 21. Juni 1990 in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag behauptete, nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten biete „die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften sein werden, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“, weckte er Erwartungen, die zunächst nur schwer einzulösen waren.16 Dabei entsprach der Begriff der „blühenden Landschaften“, den Kohl in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder verwendete, um seine Zuversicht auszudrücken, dass die Wiedervereinigung gelingen werde, ganz dem Zeitgeist. Aber das damit verbundene Versprechen war nicht, wie viele offenbar glaubten, über Nacht einzulösen. Der Wiederaufbau benötigte Zeit, die nun als Stagnation erschien. Der Begriff verkehrte sich dadurch in sein Gegenteil. Er wurde zum Sinnbild für die Deindustrialisierung Ostdeutschlands: Unter „blühenden Landschaften“ wurden jetzt nicht renovierte Dörfer, pulsierende Städte und florierende Wirtschaftsparks verstanden, sondern stillgelegte Industrielandschaften und Rangierbahnhöfe, die zunehmend von der Natur zurückerobert wurden. Der Begriff geriet zur Karikatur seiner selbst, wie Peter Richter, ein gebürtiger Dresdner, der damals eine regelmäßige Glosse unter dem Titel „Blühende Landschaften“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichte, sinnfällig demonstrierte.17 Die Daten unterstreichen den dramatischen Verfall der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990: Die Industrieproduktion, die bereits von 1989 bis zum Herbst 1990 um die Hälfte gesunken war, fiel bis April 1991 auf 30 Prozent ihres Ausgangsniveaus von 1989 und konnte sich in den folgenden Jahren kaum erholen. 1997 entfielen auf Ostdeutschland nur noch 9 Prozent der Industrieproduktion und rund 10,5 Prozent der Industriebeschäftigten der Bundesrepublik (bei 30 Prozent der Flä-
15 Christoph Dieckmann, Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin 1998, S. 59. 16 Regierungserklärung zum Vertrag vom 21. Juni 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, zu den deutsch-polnischen und zu den westeuropäischen Beziehungen zur Sowjetunion, in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/217, 21. Juni 1990, zit. nach: Helmut Kohl, Bilanz und Perspektiven. Regierungspolitik 1989 – 1991, Bd. 2, Bonn 1992, S. 593. 17 Siehe auch Peter Richter, Blühende Landschaften, München 2004.
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che und einem Anteil von 21,5 Prozent der Bevölkerung).18 Im Vergleich zu den alten Bundesländern betrug das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Ostdeutschland 1991 nur 31,3 Prozent, die Lohnstückkosten jedoch 150,8 Prozent. Auch hier verschoben sich die Relationen in den folgenden Jahren nur unwesentlich. So lag das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Ostdeutschland 1998 immer noch bei 56,1 Prozent der westdeutschen Vergleichsgröße, die Lohnstückkosten bei 124,1 Prozent.19 Ob der Absturz vermeidbar gewesen wäre, zumal in anderen Transformationsländern wie Polen, der Tschechischen Republik oder Ungarn vergleichbare wirtschaftliche Einbrüche ausblieben, ist fraglich. Dort galoppierte die Inflation, die Konvertierbarkeit der Währungen war allenfalls ein Fernziel, die Betriebe – „overstaffed and underfinanced“ – wurden künstlich am Leben erhalten, und die Verarmung großer Teile der Bevölkerung wurde billigend in Kauf genommen. In Deutschland hingegen war die Währungsumstellung im Verhältnis 1:1 ebenso politisch geboten wie die rasche Anhebung der Löhne, die zwar noch lange unter dem Niveau der alten Bundesrepublik blieben, aber doch nur in seltenen Fällen der Produktivität der Betriebe entsprachen. Damit aber blieb keine andere Wahl, als die ostdeutsche Wirtschaft einer „Schocktherapie“ auszusetzen, die sie nicht überleben konnte. So lag die Arbeitslosenquote, die in der Tschechoslowakei in den neunziger Jahren zwischen 4 und 8 Prozent und in Ungarn 6 bis 9 Prozent betrug, in Ostdeutschland anfangs nahezu konstant bei 15 Prozent und stieg ab 1997 sogar auf über 18 Prozent.20 Die Auswirkungen waren nicht nur finanzieller und materieller Art, sondern betrafen auch die Psyche der Menschen. Nach anfänglich großen Hoffnungen und Erwartungen kam es – zumindest vorübergehend – zu einer wachsenden Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen. Zwar war Deutschland jetzt wieder vereint. Aber es existierten noch immer zwei Gesellschaften. Mitte der neunziger Jahre wurde daher vielfach die Frage gestellt, ob dadurch nicht sogar der Wiedervereinigungsprozess gefährdet sei. Die wirtschaftlichen Probleme, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, aber auch das Ausmaß der Veränderung und Entwurzelung im Osten und die wachsende Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung im Westen ließen den Historiker Jürgen Kocka deshalb bereits 1995 von einer „Vereinigungskrise“ sprechen. Es mangele, monierte er, „allenthalben an Patriotismus – nicht zu verwechseln mit Nationalismus –, der als Grundlage zur Legitimierung der Opfer und Neuverteilungen
18 Gerhard Kehrer, Industriestandort Ostdeutschland. Eine raumstrukturelle Analyse der Industrie in der DDR und in den neuen Bundesländern, Berlin 2000, S. 165. 19 Zahlenangaben nach: Michael Kaser, East Germany’s Economic Transition in Comparative Perspective, in: Jens Hölscher (Hrsg.), Germany’s Economic Performance. From Unification to Euroization, New York 2007, S. 231; Klaus Schroeder, Der Preis der Einheit. Eine Bilanz, München/Wien 2000, S. 130 f. 20 Ebd., S. 233. Vgl. auch Alexandra Wagner, Der ostdeutsche Arbeitsmarkt im Transformationsprozess, in: Dirk Nolte u. a. (Hrsg.), Wirtschaftliche und soziale Einheit Deutschlands. Eine Bilanz, Köln 1995, S. 126.
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dienen könnte“.21 Die Verwestlichung der DDR war an ihre Grenzen gestoßen, finanziell wie psychologisch, und war doch nicht mehr zu korrigieren. Das von Kocka beklagte Legitimitätsdefizit wuchs im selben Umfang, in dem die Belastungen zunahmen und die erhofften positiven ökonomischen Resultate auf sich warten ließen. Das Wirtschaftswunder, das in den 1950er Jahren in der alten Bundesrepublik maßgeblich zur Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie, sozialen Marktwirtschaft und Westintegration beigetragen hatte, blieb diesmal zunächst aus. Und eine gemeinsame ideologische Brücke oder ein in Ost und West gleichermaßen favorisiertes Zukunftsmodell der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, an dem man sich hätte orientieren können, gab es nicht. „Vereint und verschieden“ zu sein musste zwar nicht zwangsläufig zu Komplikationen führen, sofern die Integration von beiden Seiten her erfolgte. Doch bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ging es nicht um Integration, sondern um die Angleichung Ostdeutschlands an die westdeutschen Verhältnisse. Die Wiedergeburt des ostdeutschen „Wir-Gefühls“ war demzufolge ein Ausdruck der Schwierigkeiten, die sich bei Fusionen mit Partnern von ungleichem Status ergeben.22 Die Menschen in der ehemaligen DDR empfanden die „Wende“ als radikalen Bruch in ihrer Arbeitswelt, ihrer Lebenswirklichkeit und ihrem Wertegefüge und mussten deshalb eine kulturell-mentale Verarbeitungsleistung erbringen, die sie zumindest zeitweilig überforderte.23 Dennoch stellten sich die Ostdeutschen in weit höherem Maße und mit mehr Erfolg auf die neuen Gegebenheiten ein, als häufig vermutet wird. Ganz abgesehen davon, dass es keinen ostdeutschen „Separatismus“ und keine nennenswerten Bestrebungen gab, das Rad der Geschichte zurückdrehen, wurden der politische Ordnungswechsel, der sich 1989/90 vollzogen hatte, und die Einigung Deutschlands bei Umfragen seit 1990 regelmäßig von etwa 80 Prozent der Befragten bejaht. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese Zustimmung quer durch alle sozialen Schichten und politischen Parteien verlief. Die eingetretene Ernüchterung war demzufolge nicht das Ergebnis einer grundsätzlichen Ablehnung der Wiedervereinigung, sondern hauptsächlich eine Begleiterscheinung der Enttäuschung, die sich aus den schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Einigungsprozesses ergab. Die Hoffnungen und Erwartungen, die viele der ehemaligen DDR-Bürger mit der Übernahme der westdeutschen Marktwirtschaft verbunden hatten, standen aber noch lange in einem scharfen Kontrast zur Realität. Von einem erfolgreichen Zusammenwachsen der beiden deutschen Teilgesellschaften konnte somit bis Ende der neunziger Jahre noch nicht die Rede sein. Auch wenn es übertrieben scheint, die „Mauer in den Köpfen“ zu sehr zu betonen, 21
Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 149. 22 Mummendey/Kessler, Deutsch-deutsche Fusion und soziale Identität, S. 278 f. 23 Vgl. Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990, S. 135 ff.
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da dieses Bild die in Ost und West erbrachten Leistungen für die Wiedervereinigung über Gebühr schmälert, waren die Unterschiede zwischen Ost und West nicht zu übersehen. Auch im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung konnten die Probleme, die in den 1990er Jahren bestanden, nur teilweise gelöst werden. Zwar spielten die mentalen Differenzen und auch die hohe Arbeitslosigkeit, die vor allem die Anfangszeit stark geprägt hatten, eine immer geringere Rolle. Was sich jedoch verstärkt zeigte, waren die Veränderungen im politisch-ökonomischen und sozialen System Deutschlands sowie die Rückwirkungen, die sich dadurch auch für die „alte“ Bundesrepublik ergaben. Die Übertragung des westlichen Modells der Wirtschafts- und Sozialordnung auf die ehemalige DDR und die Notwendigkeit, die Lebensverhältnisse in den beiden Teilen Deutschlands einander anzugleichen, hatte gewaltige öffentliche Transferleistungen von West nach Ost erfordert, deren Ausmaß zunächst vielfach unterschätzt worden war und die nun zu Anpassungen und „Reformen“ zwangen, die vor allem auf eine Neustrukturierung des Sozialsystems hinausliefen. Insgesamt wurden von 1990 bis 2010 mehr als zwei Billionen DM vom Westen in den Osten Deutschlands transferiert. Diese Leistungen stellten eine enorme Belastung der öffentlichen Haushalte dar, die sich in einer hohen Staatsverschuldung niederschlug, die nicht nur auf Kritik bei der Europäischen Union stieß, sondern auch die Gerechtigkeitsfrage aufwarf, da man damit künftigen Generationen einen unverantwortlich hohen Schuldenberg aufbürdete, der von den Nachgeborenen abgetragen werden muss.24 Zudem ließen sich die sozialen Errungenschaften, über die sich die alte Bundesrepublik zu einem wesentlichen Teil definiert hatte und die nach dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 1990 auf ganz Deutschland übertragen worden waren, immer weniger finanzieren. Bereits die Regierung Kohl erkannte deshalb in den 1990er Jahren die Notwendigkeit, grundlegende Reformen vorzunehmen. Diese waren jedoch politisch nicht durchsetzbar. Durch Maßnahmen wie die Senkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Aufhebung des Kündigungsschutzes für Betriebe mit höchstens zehn Beschäftigten und die Anhebung des Rentenalters oder die Kürzung der Arbeitslosenhilfe sollten die Kosten für die Unternehmen gesenkt und die Flexibilität des Arbeitsmarktes verbessert werden. Für Opposition und Gewerkschaften bedeuteten derartige Schritte einen Frontalangriff auf den Sozialstaat. Wie zuvor in Ostdeutschland, wo bereits nach dem Ende der DDR zu Beginn der neunziger Jahre gegen einen „Sozialabbau“ demonstriert worden war, kam es nun auch in Westdeutschland zu Massenprotesten. Als der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Juni 1996 zu einer Kundgebung in Bonn gegen die Politik
24 Detaillierte Zahlenangaben bei Hartmut Tofaute, Kosten der Einheit – Refinanzierung der öffentlichen Haushalte, in: ebd., Tabelle 5, S. 188.
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der Bundesregierung aufrief, beteiligten sich daran nicht weniger als 350 000 Menschen.25 Parallel zu den öffentlichen Protesten nutzte die Opposition das Instrument des Bundesrates, in dem sie die Mehrheit besaß, um entsprechende Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zu Fall zu bringen. Wesentlichen Anteil an dieser Blockadepolitik der Opposition hatte Oskar Lafontaine, der nach einer eindrucksvollen Rede auf dem SPD-Parteitag in Mannheim in einer Kampfkandidatur am 16. November 1995, die er mit 321 zu 190 Stimmen für sich entschied, Rudolf Scharping als Bundesvorsitzenden der SPD ablöste.26 Bereits als saarländischer Ministerpräsident und Bundesratspräsident vom 1. November 1992 bis zum 31. Oktober 1993 hatte Lafontaine daran mitgewirkt, einige von der Zustimmung der Ländermehrheit abhängige Gesetzesvorhaben der von Kohl geführten Bundesregierung im Bundesrat scheitern zu lassen. Jetzt, 1997, gelang es Lafontaine sogar, die geplante große Steuerreform der CDU/CSU-FDP-Koalition – ein zentrales Reformvorhaben der Regierung – im Bundesrat zu blockieren. Der Vorwurf der SPD im Wahlkampf 1998, die Regierung Kohl habe einen „Reformstau“ zu verantworten, richtete sich daher auch gegen die eigene Führung, die selbst maßgeblich dazu beigetragen hatte, notwendige Reformen zu verhindern. Allerdings konnte die SPD darauf verweisen, dass die von der Bundesregierung geplanten Maßnahmen in der Bevölkerung wenig Widerhall fanden, während Union und FDP sich schwer taten, sozialdemokratische Vorstellungen zu berücksichtigen. So entwickelte sich ein politisches Patt, das notwendige Entscheidungen in der Innen-, Wirtschafts- und Steuerpolitik kaum noch zuließ, weil die bestehenden Institutionen sich gegenseitig lähmten. Erst die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder legte mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission 2002 und der Agenda 2010, die Schröder am 14. März 2003 im Bundestag vorstellte, ein Konzept vor, das drastische Kürzungen im Sozialetat vorsah und von dem Grundsatz ausging, dass man, wie Schröder erklärte, „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern“ müsse.27 Diese sozialpolitische Wende wurde zwar von der Regierungskoalition gebilligt. Sie löste aber eine Protestwelle aus, die die SPD spaltete und der PDS, die bis dahin in ihrer Wirkung auf den Osten Deutschlands beschränkt geblieben war, dazu verhalf, bundespolitische Bedeutung zu erlangen und das Parteiengefüge der Bundesrepublik – und damit die Berliner Republik – grundlegend zu verändern. Das zweite Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung war somit von dem Versuch geprägt, die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik an die veränderten 25 Vgl. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 474. 26 Siehe Daniela Forkmann und Michael Schlieben, Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 100 ff. 27 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht. 15. Wahlperiode, 32. Sitzung, Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (Plenarprotokoll 15/32), S. 2479 f.
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Rahmenbedingungen anzupassen und die öffentlichen Haushalte von Ausgaben zu entlasten, die vor der Wiedervereinigung noch finanzierbar gewesen waren, danach aber die Möglichkeiten des Staates überstiegen. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die SPD, die in den 1990er Jahren diese bereits von der Kohl-Regierung geplante Anpassung verhindert hatte, nunmehr gezwungen war, entsprechende Reformgesetze selbst auf den Weg zu bringen. Auch wenn sie sich dadurch parteipolitisch schadete, führte sie die Bundesrepublik damit auf einen Weg, der langfristig eine ökonomische Konsolidierung versprach und zu sinkenden Arbeitslosenzahlen sowie zu einer allmählichen Erholung der öffentlichen Haushalte führte. Mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Gemütlichkeit“ der alten Bonner Republik war es dennoch vorbei. In der Berliner Republik wehte ein anderer Wind: zwar auch als Folge der neuen Globalisierung, vor allem jedoch durch die neuen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen im vereinten Deutschland, die zu einem grundsätzlichen Umdenken zwangen.
III. Medienlandschaft und Öffentlichkeit Paul Nolte bemerkte 2004, „Bericht aus Bonn“ – das klinge nicht mehr nach einem aktuellen Magazin, sondern nach einem historischen Feature. Aber „Bericht aus Berlin“ – das sei nicht einfach eine neue Selbstverständlichkeit. Denn in Berlin werde mehr als nur Politik gemacht. Die Stadt, immer schon schroffer, heterogener und provokativer als die rheinische Residenz alter Bürgerlichkeit, habe sich zu einem „Ort des Diskurses“ entwickelt. Berlin sei „der Brennpunkt politischer und intellektueller Debatten geworden, ein neues Forum des produktiven Austauschs im Schnittfeld von Politik und geistigem Leben, von ,Machen‘ und ,Denken‘.“28 Jochen Thies hielt dem entgegen, dass es gerade wegen der „Beschleunigung“ der Politik eine „hauptstädtische Kommunikationskultur“ bisher nur unzureichend gebe; vielmehr sei an die Stelle einer neuen hauptstädtischen Kultur das Fernsehen getreten, das zwar schnell reagieren könne, aber einen nur dürftigen Ersatz für wirkliche Kommunikation in Ruhezonen biete.29 Unbestritten scheint jedoch das, was viele Autoren übereinstimmend als „Beschleunigung der Politik“ in der Berliner Republik bezeichnen. So meint Karl-Rudolf Korte, der Faktor Zeit stelle „eine zunehmend größere Herausforderung für politische Planung und Politikformulierung dar“. Es gebe eine stetig ansteigende Beschleunigung von Veränderungsprozessen in Ökonomie und Gesellschaft. Dadurch verkürzten sich die Zeiträume zwischen notwendigen sozial- oder wirtschaftspolitischen Anpassungsleistungen. Politik sehe sich damit dem Druck ausgesetzt, immer mehr Entscheidungen zu treffen, deren Wirkungen weit in die Zukunft reichten und 28
Paul Nolte, Ankunft in der Wirklichkeit: Der neue Ernst der Berliner Republik, in: Berliner Republik, H. 6, 2004. 29 Jochen Thies, Ich träumte von Iris Berben: Für eine neue Kultur der Kommunikation in Berlin, in: Berliner Republik, H. 6, 2004.
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Abhängigkeiten erzeugten, die nur schwer zu korrigieren seien. Dies, so Korte, habe auch mit der Beschleunigung der Medienberichterstattung zu tun. Die Vermittlung von Nachrichten in „Echtzeit“ setze politische Akteure unter täglichen „Kommunikationsstress“. Die zur Verfügung stehenden Reaktionszeiten für die eigene Positionsbestimmung und anschließende „Sprachregelungen“, wie sie etwa für die Adenauer-Zeit galten, würden dadurch immer kürzer. Zudem erschwere das mediale „Themenhopping“ nicht nur eine zumindest annähernd konsistente Kommunikation, sondern belaste auch die politische Planung mit Nebenschauplätzen, denen die Politik sich schwer entziehen könne.30 Zwar wäre diese Entwicklung in der einen oder anderen Form auch dann eingetreten, wenn Parlament und Regierung in Bonn geblieben wären. Aber in der Berliner Republik, in der die Medien- und Kommunikationsrevolution sowie die Phänomene von Beschleunigung und Verdichtung die Bedingungen für politisches Handeln offensichtlich verändert haben, sind diese Prozesse verstärkt zu beobachten. Wie sieht nun die Medienlandschaft in der Berliner Republik aus, die auf die Politik einwirkt? In der Literatur ist viel vom „Treibhaus Berlin“ die Rede, von einer Entwicklung, die sich aus dem „Raumschiff Bonn“ zur „verschworenen Berlin-Society“ verlagert habe. Man spricht vom „Anschwellen der Informationsmenge im Beschleunigungskarussell“ und vom wachsenden „Exklusivitätsdruck“.31 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Kommerzialisierung der Medien und der digitalen Medienrevolution, bei der nicht die Medien die Revolution machen, sondern bei der sie selbst von einer Revolution betroffen sind, sind die Veränderungen unübersehbar. Dieser Wandel hat eine quantitative und eine qualitative Dimension. In Berlin sind nicht weniger 2500 Journalisten mit „Politik und Tagesgeschehen“ befasst. Allein in der Bundespressekonferenz sind fast 1000 Mitglieder eingetragen; in Bonn waren es nur halb so viele. Fast alle großen Medienhäuser und Zeitungsverlage sind in Berlin vertreten. Über 60 nationale und internationale Fernsehstationen unterhalten hier eigene Büros. 94 Tageszeitungen sind mit Korrespondenten vertreten. Hinzu kommen die Nachrichtenagenturen und Hunderte freie Journalisten und Redakteure der Berlin-Brandenburgischen Regionalpresse. Die neue Wirkung der Medien ergibt sich aber auch daraus, dass die Zahl der verfügbaren Radio- und Fernsehkanäle dramatisch gewachsen ist und das Informationsangebot im Internet sich explosionsartig entwickelt. Mehr als 1250 Journalisten arbeiten heute in Berlin allein im Online-Journalismus. Aus diesem Meer von Medienvertretern ragen freilich einige „Alpha-Journalisten“ heraus, über die Tissy Bruns urteilt: „Es könnte sein, dass wir mit unseren Alpha-Journalisten Macht und Meinungsführerschaft für die Medien reklamieren, die unser Berufsstand in Wahrheit jeden Tag mehr verliert. Denn der Einfluss des po30
Karl-Rudolf Korte, Die Zeitkrise des Politischen, in: Berliner Republik, H. 1/2010. Siehe hierzu vor allem Leif Kramp/Stephan Weichert, Journalismus in der Berliner Republik – Wer prägt die politische Agenda in der Bundeshauptstadt, in: Netzwerk Recherche, Wiesbaden 2011. 31
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litischen Journalismus auf die Köpfe und Herzen der Menschen wird immer schwächer, weil er im großen Rauschen untergeht.“32 Dieses „große Rauschen“ entsteht vor allem durch die beschriebene Quantität der Medien, die in der Berliner Republik enorm zugenommen hat. Daraus ergibt sich eine Medienpräsenz, die in früheren Zeiten der Bonner Republik nicht bestand. Eine dauerhafte und nachhaltige Beeinflussung der Politik durch die Medien – also ein „CNN-Effekt“ – ist deshalb ebenso naheliegend wie neu. Die Frage der Meinungsführerschaft mag, wie beim Alpha-Journalismus, noch umstritten sein. Daran, dass der Einfluss der Medien insgesamt erheblich gewachsen ist, kann kaum ein Zweifel bestehen. Hinzu kommt noch etwas anderes, geradezu Erstaunliches: Die Tatsache, dass Deutschland in der Zeit der Berliner Republik zunehmend „Führungsverantwortung“ übernommen hat und eine aktive Rolle in der internationalen Politik spielt, wird von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen akzeptiert und scheint auch im Ausland weithin begrüßt zu werden. Die „Kultur der Zurückhaltung“, wie sie in Bonner Zeiten galt, wird demgegenüber als Synonym für „Zaghaftigkeit“ und als Argument für „bequemes Beiseitestehen“ verstanden.33 Seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges haben sich offenbar die Rahmenbedingungen des deutschen Verhaltens so sehr verschoben, dass die alten Prinzipien der Bonner Republik nicht mehr anwendbar sind. Dies bedeutet nicht, dass sämtliche Koordinaten der Bonner Politik ungültig geworden seien. Wer die Kernziele deutscher Politik heute zusammenfasst, wird weiterhin Kontinuitätslinien ziehen können: Die europäische Integration steht nach wie vor im Zentrum deutscher Politik; das Bündnis mit den USA und die Zugehörigkeit zur NATO sind unstrittig; eine Verlagerung der Akzente zugunsten Russlands, wie sie zeitweilig im Vorfeld des Irak-Krieges von 2003 oder im Zusammenhang mit dem Libyen-Konflikt 2011 zu beobachten war, ist dauerhaft kaum zu erwarten. Die großen Kraftlinien der internationalen Politik, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, sind also weiterhin gültig. Ein radikaler Einschnitt war schon deshalb nicht zu erwarten, weil die Bonner Außenpolitik eine Erfolgsgeschichte darstellte und weil das wiedervereinigte Deutschland sich 1990 feierlich zu dieser Tradition bekannte und Kontinuität versprach. Überdies gab es 1990 keine plausible Alternative und erst recht keine „Große Strategie“, die eine signifikante Abweichung von der Grundorientierung deutscher Außenpolitik, wie sie seit 1948/49 bestand, nahegelegt hätte. Deutschlands außenpolitische Elite und die deutsche Öffentlichkeit sind weiterhin ohne Wenn und Aber europäisch und westlich orientiert.
32 Tissy Bruns, Geleitwort, in: Stephan Weichert/Christian Zabel, Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt, Köln 2007, S. 11. Siehe auch Tissy Bruns, Republik der Wichtigtuer. Ein Bericht aus Berlin, Freiburg i. Br. 2007, S. 61. Dort heißt es selbstkritisch: „Alphajournalismus ist die Kehrseite des Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlustes, den die Medien der Politik täglich vorhalten, der sie aber längst selbst erreicht hat.“ 33 Ulrich Schlie, Deutsche Sicherheitspolitik in Fesseln?, in: Internationale Politik, H. 3, Mai/Juni 2010, S. 106 – 109.
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Aber das neue Deutschland nach 1990 ist sich seiner gewachsenen Macht und Stärke in ungewohnter Weise und mit überraschender Selbstgewissheit bewusst geworden. Diese Tatsache hängt weniger mit dem Umzug von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree zusammen, als vielmehr mit der neuen außenpolitischen Konstellation, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges, der Desintegration des sowjetischen Imperiums in Osteuropa und dem Wiederaufleben ethnischer, religiöser und kultureller Spannungen innerhalb und außerhalb Europas ergab. Die zurückgekehrte Flexibilität der internationalen Beziehungen ließ kein „Zeitalter des Friedens“ entstehen, wie man anfangs hoffen konnte, sondern schuf Raum für neue Konflikte und sogar Kriege, so dass die bipolare Struktur vor 1989/90, die lange nur als „Gleichgewicht des Schreckens“ galt, im Rückblick als Periode bemerkenswerter Stabilität erscheint. Diese neue Konstellation forderte auch vom vereinten Deutschland ihren Preis: Die Hoffnung, weiterhin im Windschatten der Weltpolitik segeln zu können, ohne sich politisch, wirtschaftlich und vor allem militärisch nennenswert engagieren zu müssen, erwies sich schon bald als Illusion. Die Erweiterung der Europäischen Union und die Einführung des Euro, besonders aber die Auslandseinsätze der Bundeswehr und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus bedeuteten grundlegend neue Weichenstellungen. Die mit der Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen auch physisch erfahrbare Bedeutung von Außenpolitik ließ die frühere Abstinenz der öffentlichen Diskussion in diesem Bereich nicht länger zu. Was in früheren Jahrzehnten, etwa bei den Auseinandersetzungen um die Westintegration und Wiederbewaffnung unter Bundeskanzler Adenauer oder im Streit um die „neue Ostpolitik“ Willy Brandts, nur zeitweilig der Fall gewesen war, wurde jetzt zur Norm: die öffentliche Diskussion über Außenpolitik. In diesem Prozess generierten die Medien ein Klima, in dem die öffentliche Meinung changierte – und wurden damit selbst zu Akteuren bei der Gestaltung von Politik. Vor allem die Kriegsreportagen vom Balkan, aus dem Irak und aus Afghanistan bieten dafür zahlreiche Beispiele. Die Medienrevolution der 1990er Jahre sowie die hohe Konzentration von Medienvertretern in Berlin nach der Jahrtausendwende taten ein Übriges, einen Bedeutungswandel der Öffentlichkeit herbeizuführen, der auch die Außenpolitik einbezog. Damit ging zugleich eine Veränderung des außenpolitischen Selbstverständnisses der deutschen Eliten wie der deutschen Öffentlichkeit einher, die in ihren Konsequenzen nicht zu unterschätzen ist. Außer in der Militärpolitik ist dieser Wandel vor allem in der Europapolitik unübersehbar, die längst nicht mehr nur von den politischen Handlungsträgern allein bestimmt wird, sondern Teil eines öffentlichen Diskurses geworden ist, in dem Medien und Öffentlichkeit zu engagierten Mit-Akteuren der Politik werden.
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IV. Zusammenfassung Die wirtschaftlichen Folgen des Umbruchs von 1989/90 scheinen inzwischen weitgehend überwunden. Zwar gibt es seit Beginn der Finanz- und Bankenkrise im Herbst 2008 neue Probleme, die sich aus der Weltwirtschaft ergeben. Auch die Euro-Krise seit 2010 bereitet Sorgen. Aber die Wirtschaftsstruktur Ostdeutschlands wurde mit massiver westdeutscher Hilfe hinreichend modernisiert, um für die Anforderungen gewappnet zu sein. Mit einer vollständigen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen Ost und West wird deshalb innerhalb des nächsten Jahrzehnts gerechnet. Dieser Optimismus könnte allenfalls verfrüht sein, wenn die Binnenmigration in Deutschland von Ost nach West anhält, die von 1990 bis 2010 zu einem Rückgang der Bevölkerungszahl in Ostdeutschland von 17 auf 13 Millionen führte. Die Abwanderung junger Arbeitnehmer aus Ostdeutschland verstärkt dort den Überalterungsprozess der Gesellschaft und erschwert die Angleichung. Hinsichtlich der politischen Kultur ist immer noch eine Distanz zwischen Ost und West feststellbar, die man als „fortdauernde gegenseitige Fremdheit“ bezeichnen könnte. Vier Jahrzehnte kommunistische Diktaturerfahrung mit dem Machtmonopol der SED und einer gleichgeschalteten Presse wirken nach. Dabei zeigt sich erneut, dass Mentalitäten dauerhafter sind als politische Verhältnisse, weil sie durch die politisch-kulturelle Sozialisation in den Familien und in den alten Milieus fortgeschrieben werden. Gleichwohl sind Veränderungen in der jüngeren Generation feststellbar, und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis das geeinte Deutschland als selbstverständliche Voraussetzung der eigenen Existenz begriffen wird. Die 1990 vielfach geäußerte Erwartung, dass die Wiedervereinigung binnen weniger Jahre gelingen und zu einer völligen Angleichung zwischen Ost und West führen werde, hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Unterschiede sind auch nach einem Vierteljahrhundert noch erkennbar. Dennoch sollte man die These von der „unvollendeten Einheit“ nicht überstrapazieren. Zwar wurden die Dimensionen und Schwierigkeiten des „Projekts Wiedervereinigung“ zunächst weithin unterschätzt. Die Leistungen der vergangenen zwei Jahrzehnte sind jedoch beachtlich, ja in vieler Hinsicht – gerade auch im Vergleich mit anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks – erstaunlich. Allerdings vollzieht sich der Wiedervereinigungsprozess nicht einfach als Angleichung des Ostens an den Westen, sondern als ein Strukturwandel, der das gesamte Deutschland betrifft. Angesichts der gravierenden Unterschiede, die zwischen den Verhältnissen vor und nach 1989/90 in Deutschland bestehen, ist es daher sinnvoll und zweckmäßig, terminologisch zwischen der Bonner und der Berliner Republik zu unterscheiden. Es ist eine analytische Unterscheidung, die kein Werturteil beinhaltet, sondern lediglich dazu dient, den alten bzw. neuen Rahmenbedingungen gerecht zu werden, unter denen sich die Politik in der Zeit vor und nach 1989/90 vollzog. Letztlich wird dabei aber auch deutlich, dass die Berliner Republik nicht einfach die Fortsetzung der alten Bonner Republik ist, sondern eigenen Gesetzen folgt, die sich in Politik, Wirtschaft
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und Gesellschaft auf höchst eindrucksvolle Weise niederschlagen.34 Nicht zuletzt gilt dies für den Umgang mit der deutschen Vergangenheit, die mit einem veränderten Selbstverständnis einhergeht und zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt hat, das die Deutschen aktiver und eigenständiger als zuvor in der Bonner Republik an der europäischen und internationalen Politik teilhaben lässt.35
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Vgl. hierzu Michael Bienert u. a. (Hrsg.), Die Berliner Republik. Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte seit 1990, Berlin 2013. 35 Vgl. u. a. Joannah Caborn, Schleichende Wende. Diskurse von Nation und Erinnerung bei der Konstituierung der Berliner Republik, Münster 2006; Eckhard Fuhr, Wo wir uns finden. Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin 2005; sowie Karl Kaiser (Hrsg.), Zur Zukunft der Deutschen Außenpolitik. Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik, Bonn 1998.
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I. 67 Jahre – und damit fast dreimal so viel Zeit, wie uns im Jahr 2014 gegeben ist, um „1989“ zu reflektieren – konnte Alexis de Tocqueville überblicken, als er sich anschickte, 1856 die Strukturen des alten Staates, die Ursachen, vor allem aber auch die Folgerungen der Französischen Revolution von 1789 zu analysieren. 67 Jahre waren seit dem Weltbeben vergangen und schon manches Nachbeben hatte stattgefunden: Auch jenes der verwirrenden Revolution von 1848, die Charles Louis Napoléon Bonaparte als Präsidenten aus der ersten Massenwahl der französischen Geschichte hatte hervorgehen lassen, gefolgt von einem kurzen Intermezzo de Tocquevilles als Außenminister seines Landes 1848/49 und vor allem einem intransigenten Verfassungskonflikt zwischen dem durch Volkswahl legitimierten Präsidenten und der ebenfalls durch Volkswahl legitimierten Nationalversammlung; an dessen Ende stand 1851 der coup d’état Charles Louis Napoléon Bonapartes mit seiner Ernennung zum Präsidenten auf Lebenszeit, ein Jahr später gefolgt von seiner Ernennung zum Kaiser Napoleon III., der er bis zum Ende des Zweiten Kaiserreiches 1870 blieb. Die liberale Demokratie war also in Frankreich schon wieder zerstört als de Tocqueville sich anschickte, die Ursachen ihrer Entstehung aus den Zerstörungstrümmern des alten feudalen Regimes zu erfassen.1 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Überwindung der Teilung Europas ist es zu früh, abschließende Geschichtsurteile zu fällen über die Folgen des Weltbebens unserer Zeit. Aber einige zeitlos gültige Einsichten des hellsichtigen Mahners Alexis de Tocqueville lohnen in Erinnerung gerufen zu werden, um einige der Unausweichlichkeiten unserer Zeit, aber auch ihrer gelungenen Folgerichtigkeiten zu verstehen. Erst am Ende einer revolutionären Erhebung, so ist es seit de Tocquevilles Einsicht einer jeden Revolutionsforschung geblieben,2 erwächst das Verlangen nach politischer Freiheit, allein, um rasch wieder durch die Sehnsucht 1 Weiterführend: Ludger Kühnhardt, Alexis de Tocqueville: die Unausweichlichkeit der Massengesellschaft, in: ders., Zukunftsdenker. Bewährte Ideen politischer Ordnung für das dritte Jahrtausend, Baden-Baden 1999, S. 85 – 122. 2 Weiterführend: Ludger Kühnhardt, Revolutionszeiten. Das Umbruchjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang, München 1994.
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nach ökonomischer Gleichheit ersetzt zu werden. Besonders populär ist das de Tocqueville‘sche Diktum geblieben, dass Massendemokratien und die ihnen inhärente „Tyrannei der Mehrheit“ Folge des großen Gleichheitsversprechens der Demokratie sind, ohne dass der zunehmende neue Freiheitsverlust überhaupt noch von allen wahrgenommen wird. Schließlich bleibt eine weitere Einsicht von de Tocqueville zeitlos gültig: dass Revolutionen am Ende zentralisierende Wirkung haben, womit die Frage nach den konstitutionellen Kontroll- und Rahmenbedingungen eines jeden postrevolutionären Systems entscheidend wichtig wird. Vor dem Hintergrund der Revolutionsanalyse von Alexis de Tocqueville drängen sich beim Blick auf die Folgen von 1989 einige Überlegungen geradezu auf. So ist in Deutschland der Freiheitsjubel über den Fall der Berliner Mauer alsbald der bürokratischen Beförderung der Angleichung der Lebensverhältnisse gewichen und selbst eine liberale Partei kann kaum mehr überleben. So ist in Europa die Labilität politischer Systeme im Zeichen massendemokratischer Entwicklungen ein Bestandteil vieler postkommunistischer Transformationsgesellschaften geblieben; aber die populistischen Tendenzen in einer großen Zahl westeuropäischer Demokratien zeigt auch dort das Druckpotential der Massendemokratien und ihrer medialen Hypostasierungen. In Russland schließlich ist konstitutionell verbrämter Autokratismus zu einer neuen Variante pseudolegitimer Verfassungsumdeutung geworden – so als habe Louis-Napoleon Pate für Wladimir Putins Russland-Projekt gestanden. In der Europäischen Union schließlich hält der Zug zur Zentralisierung an, allen Bekenntnissen zur Subsidiarität zum Trotz, und er ist nur mühsam zu kanalisieren in solide europäische Verfassungsformen, die politischen Konsens finden und in Referenden auch den Zuspruch von kritischer gewordenen Bevölkerungen. Im Unterschied zu 1789 war 1989 eine Revolution der Gewaltfreiheit, jedenfalls in weiten Teilen. Mit Staunen erlebte die Welt, dass in Mitteleuropa ein Jahrhundert abgewählt wurde, wie Timothy Garton Ash es so unübertroffen ausgedrückt hat.3 In den baltischen Republiken wurde zudem ein doppeltes totalitäres Okkupationserbe abgewählt. In Südosteuropa wurde es blutig: im Falle Rumäniens, um eine Revolution zu inszenieren, die im Grunde der Staatsstreich eines Teils der herrschenden Eliten und ihrer Sicherheitsapparate war, um die eigene Macht durch die Tötung des vormaligen Conducators in eine neue Zeit zu retten; im Fall Jugoslawiens auf furchtbare Weise in vier Nachfolgekriegen, die inszenierte Machtkämpfe um die Vorherrschaft neuer nationalistischer Führungseliten wurden. In den Räumen der ehemaligen Sowjetunion blieb es lange Zeit vergleichsweise friedlich, von den KaukasusUnruhen und dem Bürgerkrieg in Turkmenistan abgesehen. Gleichwohl war in den ersten zwei postsowjetischen Jahrzehnten nie wirklich eindeutig, ob der Umbau der Sowjetunion zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ein Neubeginn auf dem Weg zu selbstbestimmter Staatlichkeit und freiwilliger Regionalintegration sein würde oder nur eine Zwischenphase vor der Rückkehr eines großrussi3 Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980 – 1990, München 1990.
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schen Imperialanspruchs; im Laufe der Zeit wurde letztere Absicht hingegen immer deutlicher und brach sich 2014 vollends Bahn. Und mittendrin Deutschland. Dessen Entwicklung nach 1989 war in mancher Hinsicht ein Sonderfall, denn der Vollzug der deutschen Einheit bedeutete nicht nur die rasche Konsolidierung von Rechtsstaat, Marktwirtschaft und verfassungsgesicherter Demokratie. Sie bedeutete auch eine unmittelbare Aufnahme der DDR in die Europäische Gemeinschaft ohne jede Mühe eines Beitrittsprozesses mit langwierigen Verhandlungen und Vorgaben des europäischen Rechts. Die DDR trat nicht nur der Bundesrepublik Deutschland bei, sondern eben auch der Europäischen Gemeinschaft. Damit löste sie sich auf dem Weg ihrer seitherigen Transformation in vielerlei Hinsicht von den inneren Entwicklungen in den anderen postkommunistischen Staaten Mitteleuropas, blieb in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung aber gleichwohl an dieses Erbe gebunden. Mehr noch: Der wiederhergestellte deutsche Gesamtstaat wurde in toto – ohne es zu irgendeinem Zeitpunkt so dezidiert zu benennen – (auch) zu einer auch postkommunistischen Gesellschaft mit Themen und Fragestellungen, wie sie die westdeutsche Gesellschaft bislang nicht gekannt hatte und von der sich die ostdeutsche Gesellschaft nicht einfach nur per Einigungsvollzug lösen konnte. Und die inneren Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft (seit 1993: Europäische Union) blieben von Asymmetrien gekennzeichnet. Allen voran die nicht zeitgleiche und auch bezogen auf das Tempo unterschiedlich schnelle Bearbeitung von ökonomischen Transformationsproblemen in Deutschland einerseits, im sonstigen postkommunistischen Raum andererseits. Die Teilung Deutschlands nach Ende des Zweiten Weltkrieges war eine Folge der „deutschen Frage“ und die Teilung blieb bis 1990 ihr schärfster Ausdruck. Aber man darf nicht vergessen: Spätestens seit dem Westfälischen Frieden, der 1648 mit den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück endete, hatte die deutsche Geschichte aufgehört, den Deutschen allein zu gehören. Mit der totalitären NS-Diktatur wurde im 20. Jahrhundert ein neuer Höhepunkt des vergeblichen Versuches erreicht, die als „Joch“ empfundene Einbettung Deutschlands in seine Nachbarschaft abzuschütteln. Der Bruch mit den Verfassungstraditionen vieler europäischer Nachbarstaaten durch die Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland war schon signifikant genug als Absage an die politisch-kulturelle Bindung an Demokratie und Rechtsstaat. Aber Aggression nach außen und ungezügelter Angriffskrieg waren noch weit schlimmer und konnten nicht ungesühnt bleiben; sie führten zum militärischen Gegenschlag der Anti-Hitler-Koalition, zur Besetzung und schließlich zur Teilung Deutschlands. Die Teilung Deutschlands war Doppelfolge des politischkulturellen Systembruchs im Innern und der europaweiten Systemzerstörung nach außen. Sie führte ihrerseits wieder zu einem Systembruch in Deutschland und zu unterschiedlichen außenpolitischen Orientierungen und Bindungen der beiden deutschen Staaten. Am Ende aber wurde die deutsche Einheit nur möglich durch die Freiheitsrevolution in Mitteleuropa, von der die DDR ein Teil war; und sie wurde nur möglich in der Form der vollständigen Westbindung des geeinten Deutschlands im Rahmen von Europäischer Gemeinschaft und Nordatlantischer Allianz.
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II. Die Einigung Deutschlands war insofern immer nur ein Teil der Überwindung der Teilung Europas, wie sie sich seit 1947 im Zuge des Kalten Krieges etabliert hatte. Der Fall der Mauer wurde zum Symbol dieser Überwindung der Teilung, obgleich der Mauerfall selbst diese Teilung noch keineswegs nachhaltig überwinden konnte. Denn dem Mauerfall mussten nachhaltige Entscheidungen folgen, sowohl im Inneren Deutschlands als auch im europäischen Kontext. 1. Im Inneren: Die Etablierung und Konsolidierung des gesamtdeutschen Rechtsstaats war ein Erfolg ohnegleichen, aber doch entkoppelt von der allgemeinen postkommunistischen Transformation. Auf die Menschen in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und in Slowenien, in Estland, Lettland und Litauen sowie in Rumänien, Bulgarien und Kroatien warteten die „Kopenhagener Kriterien“ und mit ihnen ein sich in die Länge ziehender Aufnahmeprozess, an dessen Ende erst 2004 (zugleich auch für die unproblematischen Staaten Zypern und Malta), 2007 und 2013 die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Union erfolgte. Die Überwindung der Teilung ist immer noch unvollständig in Richtung der Länder des sogenannten westlichen Balkan, denen die Mitgliedschaftsperspektive unterdessen länger versprochen worden ist als es seinerzeit gedauert hat, bis die Westmächte zur Partnerschaft mit dem westdeutschen Nachkriegsstaat bereit waren (es dauerte fünf Jahre vom Kriegsende bis zur Schuman-Plan, zehn Jahre bis zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO und zwölf Jahre bis zur Etablierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Bundesrepublik als gleichwertigem Mitgliedsstaat, während fünfzehn Jahre nach Ende der Nachfolgekriege in Jugoslawien nur Slowenien und Kroatien Mitglied der Europäischen Union geworden sind, während die Teilung Europas für Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Albanien solange anhält wie sie im Wartestand der EU Mitgliedschaft verharren müssen). Die Übernahme des westdeutschen Grundgesetzes, Staats- und Verwaltungsrechts in den aus der DDR hervorgegangenen Bundesländern war ein beispielloser Vorgang in der deutschen Geschichte. Dass er indessen zugleich eine eigentümlich nachholende, indirekte Mitgliedschaftsvoraussetzung für die unmittelbar 1990 vollzogene Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft und deren gemeinschaftlichen Rechtsbestand (acquis communitaire) wurde, fand im geeinten Deutschland weniger Beachtung. In Deutschland wurden Einheit und Transformation national unter dem unmittelbar geltenden europäischen Dach vollzogen, ohne dass dies an genuine europäische Bedingungen oder gar Beitrittsverhandlungen geknüpft gewesen wäre. In den mittelost- und südosteuropäischen Staaten musste die nationale Selbstbestimmung nach der Überwindung des sowjetischen Satellitenstatus in jedem Staat auf sich allein gestellt gesichert werden, während die nationale Transformation zur Vorbedingung für die eigentliche „Rückkehr nach Europa“, für die Wiederverwestlichung unter dem Dach der EU wurde. Es gab kein Westpolen, Westungarn oder Westrumänien.
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Deutschland war mithin nach 1989 privilegiert, ohne es zu merken; entwickelte sich dadurch aber auch in Bezug auf die ökonomischen Reformen im Gefolge der Wiedervereinigung nach einem eigenen Rhythmus, ohne es zu wollen; und schuf auch so Umstände und Bedingungen, die in der Komplexität der heutigen Eurozone und ihrer Reformlogik nachwirkt, ohne auch nach mehr als einem Jahrzehnt der Existenz des Euro überwunden zu sein: vom Deutschland als kranker Mann Europas Ende der neunziger Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis zum zweiten Wirtschaftswunder und ungeachtet der Staatsschuldenkrise anderer Partner in der Eurozone seit 2010 verlief ein deutscher Weg, ohne dass dieser unmittelbar ein europäischer gewesen wäre. Das erklärt manche der Friktionen im Kontext des Euro-Krisenmanagements der vergangenen fünf Jahre. 2. Nach Außen: Schon der Vollzug der deutschen Einheit war nur im Konsens mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges möglich. Die Formel „2plus4“ signalisierte deren Respekt vor den beiden deutschen Staaten, die zusammenstrebten. Zu keinem Zeitpunkt ließ die Bonner Regierung Kohl Zweifel aufkommen, dass die Einigung Deutschlands Hand in Hand gehen werde mit der Fortführung der europäischen Einigung und der transatlantischen Partnerschaft. Europäische Gemeinschaft und NATO blieben äußere Bedingungen des inneren Erfolges. Mehr noch: Deutschlands Zukunft nach der Wiederherstellung des nationalen Gesamtstaates wurde an die europäische Einigung und die Atlantische Allianz gebunden. Die politische – in letzter Konsequenz kulturelle – Westbindung blieb auch für das wiedervereinigte Deutschland Staatsräson. Gleichzeitig erweiterte und änderte sich aber deren Begründung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog sich die Westbindung (West-)Deutschlands in einem Prozess, der von der negativen Kontrolle zur positiven Kontrolle der Deutschen führte, von der Besatzung zur Partnerschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges fand die fortwährende Westbindung Deutschlands ihre Begründung darin, dass EU und NATO auch weiterhin Stabilitätsanker für Deutschland seien und Deutschland seine nationalen Interessen auch unter den Bedingungen der vollendeten Gesamtstaatlichkeit nur in der Europäischen Gemeinschaft und in der Atlantischen Allianz verwirklichen könne. Mit der Osterweiterung von NATO und Europäischer Union reichte die Westbindung sozusagen über Deutschlands Ostgrenze hinaus. Das aber bedeutete, dass Deutschland seine Lage und Rolle in der Europäischen Union – und in der NATO – neu zu definieren hatte. In der EU blieb und bleibt das deutsch-französische Tandem essentiell wegen des Gewichts beider Staaten. Es musste aber erweitert werden, was mit dem Weimarer Dreieck einen ersten Ausdruck unter Einbezug von Polen fand. Die entscheidende Erweiterung des deutschen Selbstverständnisses in der Europäischen Union aber betraf und betrifft weiterhin die Frage, ob Deutschland Hegemon der EU sei (oder wie immer ähnliche Begriffe aus dem Sprachrepertoire des 19. Jahrhunderts lauten) oder doch eher europäisch denkender, das heißt das Ganze vor seinen Teilen zu verstehen suchender Führungspartner (partner in leadership). Aus der Perspektive der EU-Partnerstaaten konnte zu
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keinem Zeitpunkt Zweifel an deren Präferenz bestehen: Deutschland wurde als Führungspartner gesucht, gewünscht und akzeptiert. Deutschland als Hegemon, um den sich die anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten sozusagen als Juniorpartner zu scharen hätten, war indessen zu keinem Zeitpunkt akzeptabel und wird, so ein solches Rollenverständnis versucht werden sollte, auch zu keinem künftigen Zeitpunkt akzeptabel sein – weder im Westen noch im Osten der EU, weder bei kleinen noch bei großen Partnern, weder bei industriell und ökonomisch potenten noch bei solchen mit Wettbewerbsschwächen. Deutschland bleibt gut beraten, auch in Zukunft Abstand zu nehmen von jeder Versuchung, Hegemon oder auch nur Halb-Hegemon sein zu wollen. Deutschlands Schicksal und seine große Chance bleibt die europäische Bestimmung im Verbund mit möglichst allen Partnern und der Komplexität des daraus resultierenden Interessenausgleichs. Dieses heißt, die eigenen Stärken zu vernetzen mit denen der Nachbarn und Partner; und es heißt, die eigenen Schwächen zu teilen mit denen der Nachbarn und Partner. Nur so entsteht eine Balance von Subsidiarität und Solidarität in der Europäischen Union; nur so werden zero-sum games ersetzt durch immer wieder gelingende Prozesse des win-win. Bisher ist diese Regel weithin erfolgreich eingehalten worden, letztlich zum Wohle aller in der Europäischen Union. Warum sollte im Alltag der europäischen Innenpolitik, die unterdessen erreicht ist, dieser Ansatz nicht weiter verfolgt werden? Neopopulistische rhetorische Kapriolen werden diesem Alltag längst nicht mehr gerecht. Europa bewährt sich heute in den Mühen der Ebenen, im täglichen Plebiszit des Ringens um die Prozesse des Regierens und Regulierens, die das komplexe Gebäude dieser spezifischen europäischen Föderation auszeichnen. Dies ist wenig spektakulär, ebenso banal wie komplex und umständlich, aber es ist normaler europäischer Alltag, auch wenn dieser gelegentlich von rhetorischen Nebelwerfern überhöht oder untergraben wird.
III. Doch die Frage, in welchem Europa Deutschland sich befindet, ist keineswegs und mit der Freiheitsrevolution von 1989 abschließend beantwortet. Die Wiederverwestlichung4 der Staaten Mittelost- und Südosteuropas ist in einer solchen Weise gelungen, dass der Rechtsraum Europäische Union sich im Prinzip stabil weiterentwickeln kann. Auch wenn postkommunistische Verwerfungen sich an unterschiedlichen Orten und auf unterschiedliche Weise mit neuen Defiziten der demokratischen Massengesellschaft verweben, auch wenn soziale Fragen Sprengstoff beinhalten und die Ordnungsbedingungen einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft erst langsam und nicht an jedem Ort gleichermaßen entfalten können: Die Wiederverwestlichung 4 So Ludger Kühnhardt, Der Osten des Westens und die russische Frage, in: Europa-Archiv. Zeitschrift für internationale Politik, 49. Jahrgang, Folge 9/1994, S. 239 ff.; nachgedruckt in: ders., Mitten im Umbruch. Historisch-politische Annäherungen an Zeitfragen, Bonn 1995, S. 207 – 219.
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des Raumes, den man weiterhin als den Osten des Westens bezeichnen kann, ist erfolgreich. Was aber ist mit den weiter östlich liegenden post-sowjetischen Sphären, denen schon frühzeitig nach 1989 attestiert werden musste, dass sie zwar eine Modernisierung, aber keineswegs eine Verwestlichung anstreben würden?5 Dass diese einhergehen könnte mit einem neoimperialen Erwachen Russlands musste seit Beginn der 1990er Jahre als eine Möglichkeit einkalkuliert werden. Zwar war das kommunistische Herrschaftssystem mit seinem ideologischen Anspruch durch einen Akt der Selbstüberwindung beseitigt worden. Aber die Wiederherstellung eines modernisierten russischen Imperialismus mit mehr oder weniger expliziten antiwestlichen Komponenten war stets eine Denkvariante auf dem postsowjetischen russischen Transformationsweg geblieben, bevor sich 2014 diese Gefahr eine breite Bahn brach. Faktisch bleibt Europa auch 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges – der 1945 in Jalta seinen Ausgang nahm und 1990 in Malta für beendet erklärt worden war – in zwei Ordnungsmodelle geteilt, die sich zwar (immer noch) teilweise überlagern, aber strukturell doch grundverschieden sind: Auf er einen Seite steht mit der Europäischen Union das System des gemeinsame Rechts und demokratischer Institutionen mit dem Anspruch, eine Ordnung der nationenübergreifend verbindlichen Rechts zu schaffen, dessen Macht über dem Recht der Macht steht. In fast sechs Jahrzehnten hat sich im rechtlich verfassten Teil Europas eine Doppeldemokratie etabliert: in den EU-Mitgliedsstaaten und im Institutionengefüge der Europäischen Union. Beides ist nicht frei von Widersprüchen und Defiziten, aber es ist eine Ordnung interdependenter Entscheidungsprozesse entstanden, die auf der Freiheit der Unionsbürger und auf der gemeinsamen Rechtsordnung der EU-Mitgliedsstaaten untereinander gründet, ergänzt und erweitert um die nordatlantische Sicherheitsgemeinschaft NATO, die sich anschickt, zum transatlantischen Binnenmarkt zu werden. Auf der anderen Seite steht das System kollektiver Sicherheit. Eine Ordnung kollektiver Sicherheit zu schaffen war schon das Ziel der Friedenskonferenzen am Ende des Ersten Weltkrieges. Es fand seinen Ausdruck im Völkerbund auf Vorschlag des damaligen amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Die USA selbst blieben dem Friedenskonstrukt ihres 28. Präsidenten fern, die damalige Senatsmehrheit wollte sich nicht an Europas Zukunft binden. Deutschland trat dem Völkerbund bei, aber Hitler setzte alles daran, so bald wie möglich wieder auszutreten. Das sowjetisierte Russland wurde zunächst vor der Tür gehalten und als es beitrat, waren Demokratie, Recht und Frieden auf dem Kontinent schon längst wieder brüchig geworden. Die Hauptlehre des Völkerbundes hat bis heute Bestand: ein System kollektiver Sicherheit kann Frieden und Stabilität bestenfalls sichern, aber weder erzeugen noch erzwingen gegen den Willen einzelner Staatsführungen, die nicht bereit sind, sich in die Völkergemeinschaft einzuordnen. 5
Ebd.
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Nach dem Ende des Kalten Krieges bekam die Idee der kollektiven Sicherheit einen neuen Namen: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Frieden und Stabilität im weiten Raum von Vancouver bis Wladiwostok wahren soll. So manche verdienstvolle Aktivität zur Stabilisierung von Frieden und Recht hat in der postsowjetischen Sphäre stattgefunden, notabene im Kontext von Wahlbeobachtungen und Minderheitenschutz. Aber seitdem Russlands Präsident Putin im März 2014 die einseitige Annexion der Krim mit Subversion und Gewalt erzwungen hat und mit der Putin-Doktrin des unbegrenzten Sicherheitsanspruchs für alle Russen die territoriale und konstitutionelle Integrität anderer europäischer Staaten herausgefordert hat, ist kollektive Sicherheit im Raum von Vancouver bis Wladiwostok wieder das, was sie seit 1919 stets war: Sie kann Frieden und Stabilität sichern, wenn sich alle an die freiwillig gegebenen Regeln halten; sie kann Frieden und Stabilität aber nicht erzeugen oder erzwingen, wenn eine der beteiligten Staatsführungen sich seine eigene Weltsicht zurechtlegt und bereit ist, diese gegen alle Vernunft mit hohem Risiko und diffuser Gewaltanwendung zu exekutieren. Diese grundlegende Lehre aus dem Ersten Weltkrieg und seiner Nachgeschichte ist ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten Krieges im gesamteuropäischen Kontext erneut bedroht. Das Europa des Rechtsraumes EU und das Europa labiler kollektiver Sicherheit: Ob diese beiden Europas sich kooperativ mit- und nebeneinander weiter entwickeln oder ob sie in zwei disparate, ja wieder antagonistische Ordnungen zerfallen, ist seit 2014 unklarer denn je. Mittendrin drohen die Menschen der Ukraine zerrieben zu werden. Solange der russische Imperialismus fortbesteht, gibt es eine russische Frage. An ihr hängt die Verlässlichkeit kollektiver Sicherheit für alle, die mit Russland als Nachbarn leben. Die grundlegende Lehre aus dem Ersten Weltkrieg wird erst dann für alle in allen Teilen Europa zu einem Friedensprojekt, wenn allerorten das Recht vor der Macht steht, so wie sich die EU bemüht – trotz aller Schwächen, die auch Ausdruck menschlicher Freiheit und damit Unzulänglichkeit sind. Eine solche Ordnung aber ist allemal humaner als der imperial-nationalistische Anspruch, über die Selbstbestimmung anderer Völker und Staaten verfügen zu wollen. Solange diese Einsicht nicht von allen Regierungen auf dem Kontinent geteilt wird, bleiben die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg für einen Teil Europas unvollendete Mahnung. Und offen muss dann die Frage wieder werden, was der Begriff des Kontinents Europa für den Raum eigentlich bedeuten soll, den wir im Grunde nur aufgrund früherer willkürlicher Grenzziehungen bis zum Ural Europa nennen. Geographie bleibt eine Funktion der Geschichte und diese eine Funktion der Politik. Der völkerrechtswidrige Anschluss der Krim durch Russland und der unerklärte Bürgerkrieg in der Ukraine, nicht weniger aber auch die seit vielen Jahren eingefrorenen Konflikte in Moldau und Georgien sowie um Armenien und Aserbeidschan (Berg-Karabach) zeigen, dass Frieden und Stabilität nur in dem Teil Europas garantiert bleiben, in dem – bei allen Unzulänglichkeiten und bei allem Grund zu beständiger Selbstkritik – Recht und Demokratie die Macht haben. Aus dem ewigen Frie-
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den, von dem Immanuel Kant träumte, ist die ewige Suche nach Frieden geblieben.6 Eine neue Nüchternheit gegenüber dieser Einsicht verlangt vor allem Klarheit des Denkens, um zu unterscheiden, was in Europa weiter getrennt ist und kaum zusammenwächst. Ein hilfreicher Kompass ist dabei die Frage, ob und in wie weit Europa (und wer in Europa) seine Lektionen aus dem Ersten Weltkrieg – der sich zum Zweiten Weltkrieg und damit zu einem dreißigjährigen europäischen Bürgerkrieg steigern sollte – gelernt hat oder in Gefahr ist, eben diese Lehren wieder zu verlernen.
IV. Der Blick von 1989 muss auch zurückgehen, um das ganze Panorama in den Blick zu nehmen, das bis heute wirkt: bis 1914, zur europäischen Urkatastrophe. Der Erste Weltkrieg endete mit dem Zerfall einer Reihe europäischer Imperien: das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zerfielen in Nachfolgestaaten, die in den Pariser Vorortverträgen teilweise neu konstruiert wurden. Die britischen, französischen, niederländischen und belgischen Kolonialimperien begannen zu wackeln, ehe sie nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig einstürzten und den Weg zur Unabhängigkeit der Staaten der heutigen Dritten Welt freigaben. Lediglich das Russische Imperium ging einen anderen Weg: Aus dem Zarenreich wurde infolge der Oktoberrevolution von 1917 und des nachfolgenden Bürgerkrieges die Sowjetunion. Das russische Imperium gab sich eine neue ideologische Legitimität als Aufbauprojekt des neuen sowjetischen Menschen. 1991 stürzte auch dieses Imperium ein, doch Präsident Putin versucht seit spätestens 2014, das Rad der Geschichte, wo immer er kann, zurückzudrehen. Für ihn war der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht der Weg zu einer europäischen Neubesinnung im Zeichen von Rechtsstaat, Respekt vor nationaler Vielfalt und Marktfreiheiten; für ihn war es die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Putins Russland will bei dem imperialen russischen Sonderweg bleiben und versucht, diesen, soweit es geht, den früheren Republiken der Sowjetunion unter dem Banner einer Eurasischen Union neu aufzudrücken. Die Zukunft seines Volkes sucht er in der Vergangenheit. Damit wird die eurasiatische Orientierung Russlands zum geopolitischen Gegenbegriff zur Atlantischen Zivilisation. Und damit wird Deutschland herausgefordert, wieder Stellung zu nehmen, wohin das Land und seine Gesellschaft gehören, jetzt und auf Dauer. Womit wieder Alexis de Tocqueville aufgerufen werden muss, um zu verstehen, mit welchem Urkonflikt wir es auch 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges zu tun haben. Im Schlusskapitel seiner Studie über die Demokratie in Amerika schrieb Alexis de Tocqueville 1835 über den damals aufstrebenden Grundkonflikt zwischen Amerika und Russland: Die Menschen beider Völker würden einen Weg beschreiten, „deren Ende das Auge noch nicht zu erkennen vermag. Der Amerikaner kämpft mit 6 Weiterführend: Ludger Kühnhardt, Von der ewigen Suche nach Frieden. Immanuel Kants Vision und Europas Wirklichkeit, Bonn, 1996.
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den Hindernissen, die ihm die Natur entgegenstellt; der Russe ringt mit den Menschen. Der eine bekämpft die Wildnis und die Barbarei, der andere die mit all ihren Waffen gerüstete Zivilisation…Dem einen ist Hauptmittel des Wirkens die Freiheit; dem anderen die Knechtschaft.“7 Es ist hart, polemisch und in dieser Pauschalität simpel und ungerecht, so zugespitzt auf zwei große Völker zu schauen. Über lange Zeit wurde der Kernkonflikt zwischen Amerika und Russland als ein geopolitischer angesehen, getrieben von der Vorherrschaft in der Welt und unterlegt mit dem systemischen Gegensatz zwischen demokratischem Verfassungsstaat und bolschewistischer Diktatur. Und in der Phase zuvor: unterlegt mit dem Gegensatz zwischen dem aufkeimenden demokratischen Verfassungsstaat im Westen und dem feudal-imperialen Zarenreich in Russland. Die nach 1989/90 aufgekommene „russische Frage“ hat im Kern einen anderen Inhalt: Russlands Modernisierung folgt seit langer Zeit anderen Regeln und Zielen als die Wiederverwestlichung Mittelost- und Südosteuropas. Russlands heutige Modernisierungsstrategie, so will es Präsident Putin, dient der Wiederherstellung eines neoimperialen Führungsanspruchs über möglichst große Teile des postsowjetischen Raumes. Im Kern handelt die „russische Frage“ mithin von einer unbewältigten kolonialen Frage, von einem unbewältigten und unverarbeiteten russischen Imperialismus. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in seinen zwei Dimensionen – der äußeren im Sinne der nationalen Freiheit und der inneren im Sinne der konstitutionellen Freiheit – ist im postsowjetischen Raum erst dann zur Geltung gebracht, wenn alle Völker der postsowjetischen Sphäre beide Dimensionen in völliger Eigenständigkeit entscheiden und ohne Druck und Einschüchterung so realisieren können, wie sie es wollen – gewaltfrei und frei in der Setzung ihrer Verfassungsnormen und äußeren Beziehungen. Solange dies nicht der Fall ist – und die Annexion der Krim ist signifikanter Ausdruck der Tatsache, dass dies eben noch längst nicht der Fall ist – bleibt die russische Frage im Kern ein Kolonialproblem. Deutschland, die verspätete Nation, war im 19. Jahrhundert auch die verspätete Kolonialmacht. Und dennoch war auch das Deutsche Reich beteiligt an der Aufteilung der Welt zu einer Zeit, in der weder das Prinzip des rechtsstaatlichen Verfassungsstaates noch dasjenige der integrierten europäischen Rechtsgemeinschaft existiert haben. Zurück in jene Zeit führt ein bemerkenswerter Roman des schweizerischfranzösischen Schriftstellers Alex Capus aus dem Jahr 2007, „Eine Frage der Zeit“: „Das ist das Schicksal des kolonialen Menschen:“ so lässt Capus den letzten deutschen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Heinrich Schnee, sprechen, „sich zeitlebens immer wieder für die Selbstverachtung und gegen den Tod entscheiden zu müssen.“8 Der Gedanke ist tiefgreifend: Der koloniale Mensch erniedrigt an erster Stelle sich selbst und erst dann diejenigen, die er kolonialisiert. Im Kern also ist die Entkolonisierung ein anthropologischer Vorgang der Selbsterziehung.
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Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, Stuttgart 1959, S. 478 f. Alex Capus, Eine Frage der Zeit, München 2009 (6. Aufl.), S. 42.
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In diesem Sinne gingen die Vereinigten Staaten von Amerika anderen nach entkolonialisierter Freiheit ringenden Völkern voraus; sie waren im 18. Jahrhundert die ersten, die das koloniale Joch abwarfen zugunsten der republikanischen Selbstbestimmung. Die europäischen Kolonialmächte folgten der Befreiung Nordamerikas mühsam und Zug um Zug mit ihrer eigenen Selbstbefreiung, gedanklich und praktisch. Es war ein langer Weg, der aber auch einen Zweig beinhaltet, auf dem das rechtlich verfasste Europa der Europäischen Union heute sitzt: Die rechtsförmig verankerte Integration partnerschaftlich verbundener Staaten und Völker in Europa. Der europäische Pfeiler ist die eine Stütze dieser Zivilisation des Rechts. Der andere Pfeiler ist die Vielschichtigkeit der transatlantischen Beziehungen – kulturell und demographisch, ökonomisch und politisch, militärisch und strategisch. Zusammen sind diese beiden Pfeiler der Kern dessen, was Atlantische Zivilisation genannt werden kann.9 Die Weiterentwicklung der atlantischen Orientierung Deutschlands bleibt vor diesem Hintergrund die zentrale Aufgabe, die sich die Lehren der Geschichte zu Eigen macht. Die angestrebte Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) ist der folgerichtige Ansatz, um die regulatorische Beziehungsdichte im transatlantischen Binnenmarkt so zu festigen, dass die Marktteilnehmer auf beiden Seiten des Atlantik auch in Zukunft füreinander die engsten und verlässlichsten Partner in einer multilateralen Weltordnung bleiben. Mit Putins neoimperialer Doktrin wird der Gegensatz wieder deutlich, der aus der Geschichte auf uns gekommen ist und weder 1989 noch 1945 noch 1914 vollends überwunden werden konnte: der Gegensatz zwischen einer eurasiatischen und einer atlantischen Orientierung Deutschlands und des integrierten Europa. Das Projekt 1789 ist noch immer nicht vollendet, solange dieser Gegensatz zwei Europas und ein Deutschland einschließt, um dessen Seele wieder neu gerungen wird. Insofern war auch 1989 nur Etappe in einer langen Phase geschichtlicher Transformation und Erneuerung.
9 Lazaros Miliopoulos, Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis. Politische Idee und Wirklichkeit, Wiesbaden 2007.
Vom August 1914 zum November 1989 Reflexionen über das kurze 20. Jahrhundert Peter März
I. Beobachtungen, Zeitkolorit Wenn wir so sehr deutend in Geschichte eingreifen, ja sie manipulieren, dass wir von kurzen oder langen Jahrhunderten sprechen, damit zugleich von interpretatorisch dramatisch komprimierten Ereignissen wie Zäsuren und deren Wirkungen, dann tun wir uns wohl schwer, der berühmten Maxime Leopold von Rankes aus seiner frühen Arbeit über „Die Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 – 1514“ zu folgen: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: Er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“1
„Kurze“ wie auch „lange“ Jahrhunderte – das erfordert eben mehr als zeigen; das erfordert deuten, werten, hierarchisieren. Am Anfang des so genannten kurzen 20. Jahrhunderts stehen im Jahr 1914 – rund fünf Wochen nach der Erschießung des österreichischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, und seiner Gemahlin, der Herzogin von Hohenberg, am 28. Juni 1914 in Sarajewo – einige Szenen in Berlin: das berühmte Bild von der Verkündung des „Zustands drohender Kriegsgefahr“ am 31. Juli 1914, die Entscheidungen zwischen Berlin und Potsdam zu Mobilmachung, Ultimaten und Kriegserklärungen, die Reichstagssitzung vom 4. August mit der einstimmigen Bewilligung der Kriegskredite, die Erklärung des Kaisers, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, das Absingen der „Wacht am Rhein“ nicht zuletzt vor der österreichischen Botschaft und schließlich der Ausmarsch der ersten Regimenter, die Gewehre mit Blumen am Lauf.2 1 Zit. nach Justus Hashagen, Allgemeine Einleitung zu Leopold von Ranke, Weltgeschichte, Bd. 1 – 2. Die älteste historische Völkergruppe und die Griechen, Hamburg (o. J.), Ersterscheinen 1881, S. 8. 2 Im Erinnerungsjahr 2014 ist die Literatur über Anfänge und Verlauf des Ersten Weltkrieges förmlich ins Uferlose gewachsen. Als Gesamtdarstellung, erschienen im Dezember 2013, Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013. Für Lage und Befindlichkeiten in Deutschland Sven Felix Kellerhoff, Heimatfront. Der Untergang der heilen Welt – Deutschland im Ersten Weltkrieg, Köln 2014.
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Die Massen, die ab dem späteren Abend des 9. November 1989 von Ost- nach West-Berlin gelangten, nachdem sie die Mauer friedlich überwunden hatten und die nun den Kudamm in Beschlag nahmen, dürften noch um einiges zahlreicher gewesen sein als die Menschenmengen, die an den ersten Augusttagen 1914 Unter den Linden wogten.3 Geht man übrigens vom 9. November 1989 exakt ein Dreivierteljahrhundert zurück, dann begegnet man dem Ersten Weltkrieg bereits mitten in seinem blutigen Geschehen: Schon sind Hunderttausende gefallen – bis Jahresende 1914 allein 350.000 Franzosen –, der Schlieffen-Plan ist schon seit fast zwei Monaten fehlgeschlagen, gerade findet von deutscher Seite der so genannte „Kindermord“ in Flandern statt: der Einsatz von Kriegsfreiwilligen-Regimentern über offenes Gelände gegen britische MG-Stellungen mit 60.000 Toten. U 9 hat fünf Wochen zuvor, am 22. September, im Ärmelkanal drei britische Panzerkreuzer versenkt und damit auf das Potential dieser Waffe aufmerksam gemacht. Ihr unbeschränkter Einsatz wird Jahre später die USA zur Kriegspartei machen. In Polen bemüht sich die deutsche Armee in den Schlachten bei Warschau und bei Lodz, ein russisches Eindringen in Schlesien wie in Galizien zu verhindern. Seit wenigen Tagen ist das osmanische Reich Kriegspartei auf Seiten der Mittelmächte, seit Kriegsbeginn schnürt die britische Blockade Deutschland von Zufuhren ab, aber noch stellt man sich in Deutschland auf reich gedeckte Tafeln zum ersten Kriegsweihnachtsfest 1914 ein. Fast seit Kriegsbeginn leitet der jüdische Industrielle und Intellektuelle Walter Rathenau, der knapp acht Jahre später als Reichsaußenminister ermordet werden wird, erfolgreich die neu eingerichtete Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium. In Parallele dazu schlägt die großindustrielle Anwendung des Haber-Bosch-Verfahrens zur künstlichen Stickstoffgewinnung positiv zu Buche. Ohne sie wäre Deutschland etwa ab der Jahreswende 1914/15 zur Kriegführung gar nicht mehr in der Lage gewesen. Ein Resultat dieses so genannten deutschen „organisierten Kapitalismus“ ist das mitteldeutsche Leuna-Werk; seine Grundsteinlegung erfolgt im Mai 1916, die Produktionsaufnahme im April 1917. Das Leuna-Werk wird so etwas wie „symptomatisch“ für die deutsche Geschichte im kurzen 20. Jahrhundert: 1921 Ort des mitteldeutschen kommunistischen Aufstandes, ab Mitte der zwanziger Jahre Bestandteil der IG Farben, und für das NS-Regime, seine Autarkie-Ideologie wie seine totalitäre Kriegsführung, wertvoll durch die Verfahren zur synthetischen Kohleverflüssigung. Am 12. Mai 1944 wird es derart erfolgreich bombardiert, dass die deutsche Treibstoffindustrie kollabiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Werk zunächst eine sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) – ca. 50 % der Anlagen werden demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Sodann wird es als „VEB Leuna-Werke Walter Ulbricht“ der größte Chemiebetrieb der DDR, ergänzt durch Leuna II mit Anla3
Zum „Novembererlebnis“ 1989, zumal in Berlin, Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 458: „Für einige Tage lang lag sich fast ganz Deutschland in den Armen. Wochenlang waren die Züge gen Westen und West-Berlin hoffnungslos verstopft. Es gab viele rührende Szenen, die ganze Bücherregale füllen könnten.“
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gen, die durch Erdölbearbeitung Devisen einspielen sollten. Es wird hineingerissen in den industriellen Niedergang der DDR und erscheint nach enorm hohem öffentlichen Aufwand als mitteldeutsche Erdöl-Raffinerie im Jahr 1997 neu am Markt.
II. Fragestellungen Das 20. Jahrhundert, konkret die Zeit seit 1914, auf einen Begriff oder vielleicht auf so etwas wie eine kompakte Formel bringen zu wollen, erweist sich als schwieriges und riskantes Unterfangen. Vorauszuschicken ist zugleich, dass stets auch bedacht werden muss, in welchem Referenzrahmen sich jegliche Deutungsanstrengungen bewegen. Welthistorisch geht es wohl in erster Linie um das Ende der Dominanz Europas und um die bis etwa in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossene Entkolonialisierung, aber auch um die Peripetie der industriellen Revolution – Ökologie und Dienstleistungen bezeichnen vielfach neue gesellschaftspolitische wie ökonomische Prioritäten – sowie um demographischen Wandel und geänderte Gesellschaftsbilder, insbesondere zwischen den Geschlechtern. Auch von weltpolitischer Bedeutung, an erster Stelle aber die europäische Geschichte prägend ist das Aufkommen des Zeitalters der Ideologien4 : Vom bolschewistischen Staatsstreich im November 1917 in Petrograd bis zum Ende des Kalten Krieges 1989/90 prägten die vielfach zu Diesseitsreligionen mit Endzeitverheißungen aufgewerteten Ideologien – deren Konflikte wie die Auseinandersetzungen zwischen Demokratie und totalitären, ideologisch bestimmten Regimen – die Verhältnisse und millionenfach die Schicksale der Menschen auf dem europäischen Kontinent. Es wird im Folgenden freilich zu prüfen sein, wo und wann dieses Strukturmuster von 1917 bis 1990 dominant und prägend war, und wo und wann eben auch andere Faktoren erhebliche Bedeutung besaßen, insbesondere in der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1933 beziehungsweise 1939. Die zweite Fragestellung, auf die hier knapp eingegangen werden soll, ist die nach der Gültigkeit der Formel von einem dreißigjährigen sogenannten europäischen Bürgerkrieg – 30 Jahre gezählt zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 und der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945, beziehungsweise – in der Lesart Ernst Noltes – beginnend 1917 mit der russischen Oktoberrevolution.5 Nolte hebt bei der Begründung für die Formel vom „Bürgerkrieg“ ganz wesentlich auf die Konfliktlagen zwischen Kommunisten/Bolschewiki, Nationalsozialisten und primär italienischen Faschisten ab und vertritt damit ein sehr reduziertes Bild europäischer Geschichte. Die daran anschließende weitere Fragestellung hat den sogenannten „Historikerstreit“ ausgelöst: die Frage nach einer mehr oder weniger kausa4
Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982. 5 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt am Main/Berlin 1987.
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len Beziehung zwischen bolschewistischer Bedrohung und – antisemitischer – nationalsozialistischer Antwort beziehungsweise Abwehrreaktion – sie kann hier außer Betracht bleiben. Empirisch und quellenmäßig umfassend belegt zeigt Andreas Wirsching, dass ein solcher antisemitischer angeblicher Abwehrreflex ganz wesentlich ein geschichtspolitisches Konstrukt darstellte, denn es müsse ganz im Gegensatz dazu gelten, „dass mit dem völkischen Flügel des Rechtsextremismus der verschwörungstheoretisch und rassistisch begründete Antisemitismus schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs zum irreduziblen ideologischen Kernbestand gehörte. Der durch die kommunistische Herausforderung vorübergehend in den Mittelpunkt tretende Antikommunismus diente demgegenüber vor allem auch als Bestätigung, als Verstärker bereits vorgefasster ideologischer Kategorien.“6
Die dritte Formel, die als Ausgangspunkt dienen soll, ist die gerade im Erinnerungsjahr 2014 überstrapazierte vom Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des weiteren 20. Jahrhunderts. Im allgemeinen Verständnis kann Urkatastrophe geradezu alles Mögliche bedeuten: die Eskalation der militärischen Zerstörungsinstrumentarien unter den Bedingungen des Industriezeitalters, Enthemmungen und Zivilisationsbrüche, ökonomische Verluste, millionenfache Traumatisierungen von Menschen wie Verlustängste von ganzen Gesellschaften, Zerstörung von Erwartungen, Hoffnungen, ja geradezu Gewissheiten und Dominanz von ideologischen Heilslehren, welche mittels Zivilisationsbrüchen exekutiert werden sollten. Geprägt hat den Begriff Urkatastrophe der amerikanische Diplomat, Russlandexperte und Historiker George F. Kennan – und zwar am Beginn des ersten Bandes seiner großen Erzählung von der Umstellung der Bündnissysteme in Europa seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts.7 Kennan war – auf amerikanischer Seite vergleichbar vermutlich nur mit Henry A. Kissinger – Historiker und Diplomat in einem. In Berlin hatte er in den dreißiger Jahren russische wie deutsche Geschichte studiert und gelernt. Aus eigener Anschauung kannte er Deutschland, das Baltikum und die Sowjetunion. Als Stalin 1946 den Versuch unternahm, in guter russisch-imperialer Tradition die Hand auf die türkischen Meerengen am Bosporus und den Dardanellen zu legen, antwortete Kennan, der an der US-Botschaft in Moskau tätig war, mit dem berühmten langen Telegramm 6
Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 – 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 518. 7 George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französischrussische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981, Ersterscheinen Princeton 1979, S. 11 f.: „So kam ich dazu, den Ersten Weltkrieg so zu betrachten, wie ihn viele denkenden (sic!) Menschen zu sehen gelernt haben: Als die Urkatastrophe dieses Jahrhunderts, das Ereignis, in dem stärker als in irgendeinem anderen – mit Ausnahme der Entdeckung von Kernwaffen und der Entwicklung von Bevölkerungs- und Umweltkrise – Versagen und Niedergang unserer westlichen Zivilisation begründet liegen.“ Kennan neigt der These zu, es habe ein kohärentes Konfliktgeschehen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg gegeben; er sieht Letzteren als „das Resultat jener ersten großen Vernichtungskatastrophe von 1914/18“ (S. 11). Der Folgeband: ders., Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990.
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vom 22. Februar 1946 nach Washington. In diesem Telegramm analysierte er die sowjetische Politik und versuchte, eine amerikanische beziehungsweise westliche Antwort zu formulieren: „Die Strategie der Sowjetunion würde sich erst ändern, wenn irgendein künftiger Kremlherrscher aufgrund einer genügend langen Reihe von Fehlschlägen einsähe, dass das Verhalten seines Landes nicht zu dessen Nutzen sei. Um das zu bewirken, sei kein Krieg erforderlich. Vonnöten sei vielmehr, wie Kennan es ein Jahr später in einer veröffentlichten Fassung seiner Argumentation ausdrückte, die: „langfristige, geduldige, aber feste und wachsame Eindämmung der russischen Expansionstendenzen“8. Man gewinnt förmlich den Eindruck, dass Kennan im Jahr 1946 nicht nur Antagonismen und Strukturbedingungen des nun anhebenden Kalten Krieges formulierte, sondern einigermaßen zutreffend auch bereits die Art und Weise prognostizierte, wie er überwunden werden würde: nicht durch einen militärischen Konfliktaustrag, der im nuklearen Zeitalter für alle Beteiligten inakzeptabel und kontraproduktiv erschien, sondern durch den auf Dauer unvermeidlichen ökonomischen Abstieg des monolithischen sowjetischen Systems. Der Beginn wie das Ende der sowjetischen Herausforderung war dabei durch eine Mischung aus strukturellen Faktoren und individuellen Akteuren bestimmt: Der Beginn des Aufstiegs der Sowjetunion zur Weltmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen mit den individuellen Ambitionen der stalinschen Imperialpolitik forderten den Westen mit seiner Führungsmacht USA heraus. Am Ende stand die erkennbar gewordene, vor allem ökonomische Überdehnung des sowjetischen Imperiums – eine Erfahrung, wie sie welthistorisch vielen Imperien widerfuhr,9 und am Ende stand das so nicht unbedingt erwartbare Agieren des seit 1985 ersten Mannes im Kreml, Michail Gorbatschow. Gorbatschow, obwohl therapeutisch schwach – ihm standen zu keinem Zeitpunkt ökonomisch wirksame Rezepte zur Verfügung –, war doch diagnostisch klarblickend und politisch hinreichend durchsetzungsstark, um den Kalten Krieg zu beenden.10 Dies half, insbesondere den politischen wie militärischen Antagonismus zwischen West und Ost weitestgehend zu deeskalieren. In den Erfahrungen wie in den Reflexionen von George F. Kennan erscheint die Urkatastrophe somit wesentlich als der Beginn eines durch antagonistische Konfliktmuster geprägten Zeitalters, das 1989/ 90 endete. Fassen wir zusammen: Zeitalter der Ideologien, europäischer Bürgerkrieg und Urkatastrophe – diese drei Formeln umreißen buchstäblich die zu hinterfragenden Muster zur Deutung des Zeitalters, das 1914 beziehungsweise 1917 begann.
8 John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, TB-Ausgabe, München 2008, S. 44. 9 Vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1989, S. 721 ff. 10 Vgl. Michail Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, Für die außenpolitischen Zäsuren insbesondere S. 571 ff.
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III. Langes 19. und kurzes 20. Jahrhundert Wenn man aber überhaupt von kurzen Jahrhunderten – etwa 1914/17 bis 1989/90 – sprechen kann, dann muss es offenkundig auch „lange“ Jahrhunderte geben. Als „langes“ Jahrhundert firmiert gemeinhin das 19. Jahrhundert, über dessen Ende, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, man sich insoweit wohl einig ist. Schwieriger verhält es sich mit seinem Beginn: Liegt er beim Wiener Kongress, der 1814/15 eine ziemlich festgefügte europäische Tektonik schuf?11 Die wiederbefestigte Struktur von fünf europäischen Großmächten – Russland, Preußen, Österreich, Frankreich und Großbritannien – sollte fortan für ein Jahrhundert die internationalen Beziehungen auf dem Kontinent wie auch weltweit bestimmten. Zugleich war diese Struktur elastisch genug für interne Veränderungen, darunter: der Aufstieg des neuen Deutschen Reiches ab 1871 zu einer sogenannten halbhegemonialen Macht, das Hinzutreten Italiens ab 1861 als eine Art Teilgroßmacht, der sukzessive Abstieg Österreich-Ungarns, dessen Verunsicherungen dann zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beitrugen, am Ende schließlich sogar das Hinzutreten außereuropäischer Mächte: der USA und Japans.12 Oder soll man als Beginn des langen 19. Jahrhunderts den Ausbruch der Französischen Revolution 1789 nehmen – die Revolution als weithin anerkanntes Ende des absolutistischen Zeitalters in Europa und als Auftakt zum Kampf um Partizipation und Verfassungsstaat? Dann wären es kalendarisch bis 1914 eineinviertel Jahrhunderte? Oder sollte man gar bis zur Unabhängigkeitserklärung der 13 britischen Kolonien Nordamerikas von 1776 zurückgehen, da mit ihr erstmals die zentralen Gedanken der europäischen Aufklärung auf die politische Agenda gerieten? In jedem Falle wird man für dieses lange Jahrhundert feststellen dürfen, dass es durch drei Fragestellungen bestimmt war: durch die nationale, die konstitutionelle und die soziale. Und alle drei Fragestellungen werden dann auch in das kurze 20. Jahrhundert weiter transportiert. Zunächst: Schon auf dem Wiener Kongress spielen die deutsche, die italienische und die polnische Frage eine zentrale Rolle. Alle drei wurden dann zwar nicht im Nationalstaatssinne gelöst, aber in allen drei Fällen war klar, dass sich die nationale Frage nicht mehr von der europäischen Tagesordnung verdrängen ließ. Viele andere Fälle gehen den Weg zur Nationalstaatsbildung, nicht nur die drei genannten prominenten. Zu nennen sind etwa: die Herauslösung des modernen griechischen Nationalstaates aus dem osmanischen Reichsverband, die Umwandlung der Schweiz in einen Bundesstaat nach dem Sonderbundskrieg von 1847 und die Neukonstituierung Norwegens als Nationalstaat am Beginn des 20. Jahrhunderts.
11
Vgl. Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien/Köln/Weimar 2014. Zur Entwicklung der Internationalen Beziehungen in dieser Zeit Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Die Internationalen Beziehungen 1830 – 1878, Paderborn 19992 (Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 6, hrsg. von Heinz Duchhardt/Franz Knipping). 12
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Zwei große europäische Nationen, die französische und die polnische, erhielten 1791 eine konstitutionelle Verfassung. Schon vor der Französischen Revolution hatte Großherzog Leopold in der Toskana den Weg in einen Verfassungsstaat eingeschlagen, der über den aufgeklärten Absolutismus hinaus wies und echte bürgerliche Teilhabe vorsah. Das Zeitalter von Französischer Revolution und napoleonischem Kaisertum ist dabei zugleich das Zeitalter der beginnenden Industrialisierung – mit Textilindustrie, Dampfmaschine, Dampfschiff und Eisenbahn. Wenn wir nun sagen, dass das 20. Jahrhundert Fragestellungen des 19. Jahrhunderts gewissermaßen mit sich weiter transportiert, dann erfahren wir dies über seine gesamte Zeitstrecke im deutschen Fall mit am prominentesten: Die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates 1990 fügte sich rechtlich gesehen unbestreitbar in die Kontinuität des am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles proklamierten Deutschen Reiches ein. Das dazu Maßgebliche hat – dauerhaft – das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Grundlagenvertrag zwischen den beiden Staaten in Deutschland vom 31. Juli 1973 gültig festgestellt.13 Gerade für diese unsere Gesellschaft, die „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ (GfD), und ihr Entstehen ist die berühmte Begründung von damals zu so etwas wie einer Magna Charta geworden – darunter die Kontinuität der deutschen Staatsangehörigkeit und die Kategorisierung der innerdeutschen Grenze als Ländergrenze wie zwischen Bayern und Hessen. Vor diesem Hintergrund staatsrechtlicher Kontinuität verblasst im Übrigen auch der Übergang von der Monarchie zur Republik am 9. November 1918. Und auch die Tatsache, dass terminologisch von „Reich“ nach 1949 nicht mehr die Rede ist, weil der Begriff durch das so genannte „Dritte Reich“ kontaminiert wurde, kann dieser Kontinuität keinerlei Abbruch tun; „das Reich“ war im Übrigen gerade für Friedrich Ebert, den ersten Reichspräsidenten, begrifflich ganz selbstverständlich, und schlüssig klingt diese Bennenung in dem schönen Satz der Präambel der Weimarer Reichsverfassung an, der leider sehr in Vergessenheit geraten ist: „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich zu erneuern …“
Man wird aber, wenn man hier den Blick über Deutschland hinaus weitet, unbedingt hinzufügen müssen, dass der Erste Weltkrieg gleichsam wie die sich öffnende Büchse der Pandora europaweit verstärkte Bestrebungen zur Schaffung von Nationalstaaten frei werden ließ und die Verwirklichung des so genannten Selbstbestimmungsrechts in einer Weise angefacht hat, die vielfach nicht mehr konstruktiv, sondern destruktiv wirkte – insbesondere dann, wenn apodiktisch gegeneinander erhobene Ansprüche in neue Konflikte mündeten. Ostmittel- und Südosteuropa erwiesen
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Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 „zum Vertrag (…) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (…)“, in: Peter März (Hrsg.), Dokumente zu Deutschland, München 1996, S. 152 – 166.
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sich so als eine Zone, die immer neue Nationalitätenkonflikte entfachte, im Falle Jugoslawiens über das semantische Ende des kurzen 20. Jahrhunderts 1991 hinaus.14 Im Ergebnis des Ersten Weltkrieges schien der demokratische Verfassungsstaat der große Sieger in Europa zu sein, nicht nur in Deutschland und Österreich, auch in Polen, in der Tschechoslowakei, anfänglich selbst im späteren Jugoslawien. Sieht man von Großbritannien, Frankreich, Skandinavien, den späteren BeneluxStaaten und bis 1938/39 der Tschechoslowakei ab, so ist vom demokratischen Verfassungsstaat in Europa aber wenig übrig geblieben: Das galt selbst für das sich eher als Kriegsverlierer sehende, formal auf der Seite der Sieger stehende Königreich Italien, in dem mit Mussolinis Marsch auf Rom 1922 der erste faschistische Staat in Europa15 errichtet wurde. Überall im östlichen Europa entstanden autoritäre Regime, teilweise in das Gewand von Scheindemokratien gekleidet wie etwa im Falle Polens nach dem Staatsstreich Piłsudskis’ von 1926.16 Die Demokratie der Tschechoslowakei schließlich gründete eben auch darauf, dass sie zwei Nationalitäten, die deutsche und die ungarische, strukturell benachteiligte. Nach 1945 nahezu übergangslos in das sowjetische Imperium integriert – am längsten dauerte es noch in der Tschechoslowakei bis zum kommunistischen Putsch vom Februar 1948 – erhielten diese Länder erst nach der europäischen Revolution von 1989/90 eine echte Chance auf Demokratisierung, gestützt und flankiert durch den jeweils bald vollzogenen Beitritt zu europäischer Integration und zum atlantischen Bündnis. Schließlich die soziale Frage: Gerade die Niederlage von 1918, die zur enormen Verengung der ökonomischen Spielräume im damaligen Nachkriegsdeutschland erheblich mit beitrug, stimulierte zugleich den weiteren Ausbau der deutschen Wirtschaftsverfassung in Richtung Partizipation und Sozialtransfers: Schon das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst vom Dezember 1916 hatte die Stellung der Gewerkschaften im deutschen Wirtschaftsleben stark ausgebaut.17 Von hier führt eine Linie über das Stinnes-Legien-Abkommen von 1918, die Einführung von Betriebsräten, deren Stärkung zu Beginn der fünfziger Jahre wie die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie zur heutigen Mitbestimmung in den großen Unternehmen. Die Weimarer Republik brachte eine erhebliche Ausweitung des Infrastrukturangebots der Kommunen insbesondere für die einkommensschwächeren Schichten: im Jahr 1927 etwa die Einführung der Arbeitslosenversicherung und eine Erhöhung der Gehälter für die Beamten um 17 %, die insbesondere dazu bestimmt war, die Inflationsverluste von 1923 auszugleichen. In dieser Linie standen 14
Vgl. Erwin Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919 – 1944, Paderborn u. a. 2001, zum Fall Jugoslawien, über den Zweiten Weltkrieg hinweg und bis zu dessen kriegerischem Untergang ab 1991, Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010. 15 Vgl. Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 95 ff. 16 Wlodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 162 ff. 17 Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin/Bonn 1985, S. 169 ff. („Das Hilfsdienstgesetz und der Triumph der Arbeiterschaft“).
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später die Sozialgesetzgebung der alten Bundesrepublik, d. h. die Rentenreform von 1957, das ganze Bündel an Reformmaßnahmen in der ersten Großen Koalition und in der Ära Willy Brandt, in der weiteren Folge Helmut Kohls Pflegeversicherung und die familienpolitischen Leistungen unserer Tage. Ähnliches lässt sich – teilweise noch viel umfangreicher und die Volkswirtschaft noch deutlich belastender – für Großbritannien beobachten: auch hier nach beiden Weltkriegen, unter deutlich sozialistischen Vorzeichen in der ersten langen Labour-Regierungsphase von 1945 bis 1951. Dies alles aber begründet schwerlich die Formel von einer Spezifik des 20. Jahrhunderts, sozusagen von einem eigenen Label, das es gegenüber der Welt von vor 1914 wie gegenüber der Welt nach 1991, nach dem nun auch offiziellen Ende der Sowjetunion, abgrenzt.
IV. Das „Zeitalter der Ideologien“ Wenn man nach einer Benchmark des 20. Jahrhunderts fragt, dann erscheint doch am tragfähigsten Karl Dietrich Brachers Formel vom „Zeitalter der Ideologien“ – und zwar am tragfähigsten sowohl in Abgrenzung gegen Einzelereignisse als auch gegen andere allgemeine Formeln. Bracher schildert für die Jahre vor 1914 die geistigen wie die mentalen Voraussetzungen, aus denen heraus Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus entwickelt und politisch gestaltungsmächtig werden konnten. Was heißt das? Er geht von einem Klima aus, in dem transzendente Orientierungen ebenso wie liberale Offenheit zusehends verblasst waren, und in dem sich der Gedanke einer starken Führungsfigur bzw. einer starken Führungsgruppe etablierte, die ihren uneingeschränkten Machtanspruch auf die angebliche Verbindlichkeit von Welterklärungslehren,18 also von Ideologien, gründete, die förmlich religiösen Charakter annahmen. Religiös heißt hier: Verheißung paradiesischer Endzustände im Sinne der jeweiligen Lehre – im Falle des Nationalsozialismus ja nur für die eine, privilegierte Rasse –, gültige Geschichtsfahrpläne, und auf all dies gegründet der Anspruch, das Individuum vollständig der Doktrin zu unterwerfen, es gegebenenfalls, wenn dies nötig erscheint, seiner Existenz zu berauben. Biologismus, in Verbindung damit Ras18 Grundlegend Bracher, Zeitalter (Fn. 4), siehe auch Wolfgang-Uwe Friedrich, Formen des Totalitarismus. Zur Phänomenologie ideologischer Herrschaft im 20. Jahrhundert, in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 251 – 283, hier S. 253: „Die wesentliche Komponente ist der Historizismus, der Glaube an geschichtliche Notwendigkeiten, die politisches Handeln in einer bestimmten Weise erfordern oder sogar erzwingen. Eine weitere ist die Vision vom ,neuen Menschen‘, der ein völlig neues Wertesystem übernommen hat, in dessen Mittelpunkt das Kollektiv (Klasse, Rasse, Religionsgemeinschaft) steht. Dieses neue Wertesystem wird (…) notfalls mit Terrormaßnahmen durchgesetzt.“ Zur weiteren Überhöhung von Ideologie als Diesseitsreligion Hans Maier (Hrsg.), ,Totalitarismus‘ und ,Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn u. a. 1996.
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sismus, Naturalismus, Darwinismus, bestimmte soziologische Anschauungen – all dies schuf Voraussetzungen, aber es bedurfte des Ersten Weltkrieges, der mit ihm verbundenen Zerstörungen von Staaten und Gesellschaften, damit diese totalitären Heilslehren und deren führende Akteure auf die politischen Kommandohöhen gelangen konnten. Dieses hierauf bezogene kurze 20. Jahrhundert der Europäer begann im eigentlichen Sinne naturgemäß erst 1917/18, mit dem Staatsstreich der Bolschewiki in Petrograd vom Herbst des Jahres und wenige Monate später mit der Beseitigung der Konstituante, des ersten wirklich frei gewählten russischen Gesamtparlaments durch Lenin.19 Und man wird eben hinzufügen müssen, dass erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gut drei Jahre zuvor die Voraussetzungen für eine Selbstzerstörung des Kontinents in dem Maße schuf, dass diese Heilslehren und ihre Akteure, die vor 1914 sämtlich ganz periphere Figuren gewesen waren, die Kommandohöhen erklimmen konnten, am periphersten wohl Adolf Hitler in seinen Münchener Jahren selbst. In einem sich nach 1914 weitgehend evolutionär fortentwickelnden Europa wären die Hitler und Mussolini, aber auch Lenin und Stalin gesellschaftliche wie politische Außenseiter – und vermutlich auch Randfiguren – geblieben. Das Zeitalter der Ideologien in Europa ist durch mehrere Paradoxien gekennzeichnet: einmal dadurch, dass die ideologischen Antipoden aus taktisch-machtpolitischen Gründen auch zum zeitweisen Bündnis fanden – zu den spektakulärsten Fällen zählt dabei sicherlich das Bündnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion durch das Molotow-Ribbentrop-Abkommen vom 23. August 1939, das Ostmitteleuropa teilte und, so die falsche Erwartung Adolf Hitlers, die Westmächte von einem Eingreifen auf der Seite des zehn Tage später überfallenen Polen abhalten sollte. Kein Zweifel, dass in den Folgemonaten Stalins Sowjetunion tendenziell mehr im deutschen als im britisch-französischen Lager stand.20 19
Die Sprengung der im November 1917 gewählten und am 5. Januar 1918 zusammengetretenen „Konstituante“, der russischen Nationalversammlung, durch die Bolschewiki bei Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 129 ff. 20 Vgl. Andreas Hillgruber, Der Zweite Weltkrieg, 1939 – 1945, in: Dietrich Geyer (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch, Sowjetunion. Außenpolitik 1917 – 1955, Köln/Wien 1972, S. 270 – 342, hier S. 282 ff.: „3. Partnerschaft mit Deutschland“, S. 282 ff. Stalin ging zu Recht davon aus, dass das nationalsozialistische Deutsche Reich den Westmächten mit ihren Imperien strukturell unterlegen sei. Um den Konflikt ins „kapitalistische Lager“ hineinzutragen und dort zu perpetuieren, war er zunächst bemüht, Deutschland durch Rohstofflieferungen wie allerlei strategische Hilfen zu einem längeren Durchhalten zu befähigen. Denn, wie er am 7. September 1939 dem Komintern-Vorsitzenden Georgi Dimitroff ins Notizbuch diktierte: „Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen von kapitalistischen Staaten geführt – (Arme und Reiche) im Hinblick auf Kolonien, Rohstoffe, usw. (…), nicht schlecht, wenn Deutschland die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem England) ins Wanken brächte. – Hitler selbst zerrüttet und untergräbt, ohne es zu verstehen und zu wollen, das kapitalistische System (…). Wir können manövrieren, die eine Seite gegen die andere ausspielen, damit sie sich noch stärker in die Haare kriegen.“ Zit. nach Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945, München 2005, S. 149.
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Die zweite Paradoxie liegt, umgekehrt, darin, dass die Sowjetunion dann im Bündnis mit den großen Demokratien gegen die verbliebenen totalitären Mächte in Europa stand, nach dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941, und ganz am Ende auch gegen den amerikanischen Kriegsgegner Japan. Von den ursprünglich drei ideologisch bestimmten totalitären großen Mächten verblieb mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur eine: die Sowjetunion, die sich schließlich als Widerpart der westlichen Demokratien im Kalten Krieg zeigte. So gesehen zerfällt das Zeitalter der Ideologien in Europa in zwei Subepochen: in die Zeit von 1917 bis 1945, etwa der Zeitraum einer Generation, und die Zeit von 1946/47 bis 1989/91, ein gutes Jahrzehnt länger und nun dadurch gekennzeichnet, dass es jetzt zwei eindeutig definierte Lager gab. Die wenigen formal Neutralen in Europa wie Schweden, Österreich und die Schweiz standen kulturell ganz im westlichen Lager. Der Sonderfall Jugoslawien bleibt hier ausgeklammert. Geht man davon aus, dass mit dem Zeitalter der Ideologien in der Tat so etwas wie ein kurzes 20. Jahrhundert zu Ende gegangen ist, so knüpfen sich daran nun einige weitere Schlussfolgerungen:
V. Abstieg Europas und Globalisierung Offenkundig sind wir ziemlich zeitgleich – und ohne das schon 1989/90 im Banne der deutschen und dann europäischen Wiedervereinigung wahrnehmen zu können – in ein globales Zeitalter eingetreten, das Europa förmlich marginalisiert. Die Ansätze zu dieser Entwicklung waren aber bereits vor 1914 erkennbar: Zum Zeitpunkt der deutschen Reichsgründung verhielten sich die Bevölkerungszahlen der USA und Deutschlands wie 1:1 zueinander, die Wirtschaftsleistungen wie 3:2; bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges – das wilhelminische Deutschland hatte sich über einige Zeit damit gebrüstet, Weltpolitik zu treiben – verhielten sich die Bevölkerungszahlen bereits 3:2 zugunsten der USA; das amerikanische Bruttoinlandsprodukt lag bereits beim doppelten des deutschen. Heute sind die Relationen im Bevölkerungsvolumen USA zu Deutschland 4:1, im Sozialprodukt ca. 6:1.21 Insofern können wir, sozusagen auf einer strukturell unideologischen Ebene, von einer langen Entwicklung ausgehen, die freilich durch die Weltkriege und die damit einhergegangenen Verluste Kontinentaleuropas deutlich beschleunigt wurde. Der Erste Weltkrieg brachte Deutschland zwei Millionen Kriegstote und drei Millionen sozusagen ausgefallene Geburten; der Zweite Weltkrieg brachte sieben Millionen Kriegstote. Auch die demographischen Konsequenzen der großen Kriege im Industriezeitalter schlagen strukturell zu Buch. Inzwischen hat sich die Globalisierung freilich in ihrem dynamischen Epizentrum nach Asien verlagert; die Anfänge dieser Globalisierungswelle liegen in den achtzi21 Zu den säkularen und strukturellen Verschiebungen vgl. Peter März, Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 112 ff.
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ger Jahren des letzten Jahrhunderts und damit zeitgleich in der finalen Krise des sowjetischen Imperiums. Vermutlich treten wir von einem atlantischen in ein pazifisches Zeitalter ein. Europa verlor während des Zeitalters der Ideologien seine kolonialen Imperien – an dieser einen Stelle war Deutschland vermutlich insofern besonderer Nutznießer der Niederlage im Ersten Weltkrieg, als es durch den Versailler Vertrag aller kolonialen Besitzungen und damit, langfristig gesehen, auch aller kolonialen Belastungen verlustig ging. Umgekehrt hatten Frankreich und Großbritannien ihre kolonialen Imperien nochmals deutlich vergrößert – auf Kosten des deutschen Kolonialbesitzes, vor allem aber auf Kosten des osmanischen Imperiums vom Irak bis Palästina. Wie nach dem klassischen Muster imperialer Überdehnung Paul Kennedys22 wurden die außereuropäischen Besitzungen der alten europäischen Großmächte unversehens aber zu Belastungen. Nicht zuletzt die pazifische Seite des Zweiten Weltkrieges – in Deutschland vielfach nicht wahrgenommen – führte dazu, dass der japanische Druck die kolonialen Positionen Frankreichs, der Niederlande und teilweise auch Großbritanniens teils eliminierte, teils unheilbar schwächte, wie die französische Politik im ersten Nachkriegsjahrzehnt schmerzlich in Indochina erfahren musste. Das letzte fehlgeschlagene Abenteuer herkömmlicher europäischer GroßmachtKanonenbootpolitik war der Versuch Großbritanniens und Frankreichs, im Jahr 1956 die Verstaatlichung des Suezkanals durch den ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser rückgängig zu machen; im Ergebnis scheiterte dieses Unternehmen am sowjetischen wie am amerikanischen Einspruch. Diese Konstellation machte damit klar, dass ein Weltmachtstatus etwas anderes war als der einer herkömmlichen europäischen Großmacht, und sie führte zugleich zur Forcierung der kontinentaleuropäischen Integrationspolitik. Für letztere freilich lässt sich konstatieren, dass das herkömmliche Spiel von Hegemonie und Gleichgewicht auf der europäischen Bühne zwar – zumal im globalen Bezugsrahmen gesehen – mindestens zweitrangig wurde, an sich aber keineswegs beendet ist; die Auseinandersetzungen um Währung und Währungskultur in der heutigen EU zeigen das sehr konkret.23 Auf dem Höhepunkt der Suez-Krise von 1956 fuhr eine westdeutsche Regierungsdelegation unter Bundeskanzler Adenauer demonstrativ mit dem Nachtzug nach Paris, wo sie am Morgen des 6. November eintraf. Das nun Folgende schildert Adenauers damaliger Pressesprecher Felix von Eckardt in seinen Erinnerungen: „Als der Kanzler mit den Mitgliedern der französischen Regierung aus dem Bahnhof trat, war der Platz voller Menschen, die Adenauer stürmisch begrüßten. Eine Kompanie der Garde Civil erwies die Ehrenbezeigungen. Das Deutschlandlied und die Marseillaise klangen auf. Der Kanzler nahm die Ehrungen wie ein Standbild unbeweglich entgegen. (…) An 22
Kennedy, Aufstieg und Fall (Fn. 9). Vgl., bezogen auf den Klassiker von Ludwig Dehio, Gleichgewicht und Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der europäischen Staatengeschichte, Krefeld 1948 der Leitartikel von Günter Nonnenmacher, Dehios Dilemma, in: FAZ vom 5. September 2012, S. 1 mit der These, Konflikte um „Hegemonie und Gleichgewicht“ gebe es, freilich sublimiert, auch innerhalb der heutigen europäischen Integration. 23
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diesem Morgen musste der Abgebrühteste die Bedeutung der Stunde und ihre Symbolkraft empfinden. In der ernstesten Stunde, die Frankreich seit Ende des Krieges erlebte, standen die beiden Regierungen eng zusammen. Nichts konnte den großen Wandel in den deutschfranzösischen Beziehungen deutlicher machen. Nichts würde die beiden Völker mehr trennen können.“24
Knapp ein Vierteljahrhundert später fiel die Berliner Mauer. Nun zeigte sich in den Vorbehalten von französischer und britischer Seite gegen die deutsche Wiedervereinigung, dass innereuropäisch herkömmliche Muster durchaus fortbestanden – Vorbehalte, die im Wesentlichen nur deshalb überspielt werden konnten, weil die amerikanische und schließlich auch die sowjetische Interessenlage auf der weltpolitischen Ebene anders codiert waren. Am 30. November 1989, zwei Tage nachdem Helmut Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan zur Wiederherstellung eines bundesstaatlichen deutschen Gesamtstaates ohne lange diplomatische Abstimmungsprozesse ein unüberhörbares Signal gesetzt hatte, besuchte Bundesaußenminister HansDietrich Genscher den französischen Staatspräsidenten François Mitterand. Nach der französischen Mitschrift erklärte der Staatspräsident deutlich erbost Folgendes: „Wenn die deutsche Einheit vor der europäischen Einheit verwirklicht wird, werden Sie die Triple-Allianz (Frankreich, Großbritannien, UdSSR) gegen sich haben, genau wie 1913 und 1939 (…). Sie werden eingekreist sein, und das wird in einem Krieg enden, in dem sich erneut alle Europäer gegen die Deutschen verbünden. Ist es das, was Sie wollen? Wenn die deutsche Einheit dagegen geschaffen wird, nachdem die Einheit Europas Fortschritte gemacht hat, dann werden wir Ihnen helfen.“25
An dieser Stelle sei die Frage nicht weiter vertieft, ob und in welchem Maße die Einführung einer europäischen Währung in einem determinierten Verhältnis zur Wiedervereinigung Deutschlands stand. Tendenziell wird man heute sagen können, dass die D-Mark als das stärkste auch machtpolitische Instrument der alten Bundesrepublik aus der Sicht François Mitterands bereits seit längerer Zeit ein Problem darstellte und dass dann die sich anbahnende deutsche Wiedervereinigung vor dem Hintergrund an sich bereits getroffener Grundsatzentscheidungen für eine gemeinsame europäische Währung das geeignete Vehikel war, um den Prozess möglichst zu beschleunigen und möglichst irreversibel zu machen, der dann zum Euro führte. Bilder von Geschichte, das zeigt dieses Beispiel, prägen also Politik, und die Muster von der Ausgangskonstellation für den Ersten Weltkrieg erschienen (und erscheinen) durchaus abrufbar, auch wenn es sich tatsächlich nicht mehr, jenseits von Rhetorik, um Fundamentalkonflikte von erstrangiger Bedeutung handelt.
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Felix von Eckardt, Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf (o. J.), S. 466. 25 Zit. nach Wilfried Loth, Helmut Kohl und die Währungsunion, in VfZ, 61. Jg. 2013, H. 4, S. 455 – 480, hier S. 467.
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VI. Nochmals: Dreißigjähriger europäischer Bürgerkrieg? Das Muster vom dreißigjährigen Bürgerkrieg unterstellt zunächst eine ideologisch von Anfang an so hoch aufgeladene Auseinandersetzung, dass die herkömmlichen Staatenkonflikte wie sie zuletzt auch bei François Mitterand noch mit anklangen, deutlich zurücktreten. Im Gegensatz dazu wird man aber feststellen müssen, dass der Erste Weltkrieg, trotz der latent in bestimmten Gesellschaften bereits vorhandenen ideologischen Kapazitäten und Annahmen, doch als ein sehr konventioneller Mächtekonflikt ausbrach26 – es ging um jeweilige Annahmen von der abstrakten Existenz als Großmacht, um tatsächliche oder imaginierte Präventivkriegszwänge, um den Fortbestand von Bündnissystemen. Nichts macht diese Ausgangslage deutlicher als der Hinweis darauf, dass 1914 als enge Verbündete gerade jene beiden Mächte agierten, die systemisch durch den damals denkbar breitesten Graben voneinander getrennt waren: die russische Autokratie und die Dritte französische Republik, seit 1892/ 94 feste Alliierte. Auch die weitgehend erst während des Krieges entwickelten und propagierten Annahmen vom normativen Gegensatz der nun im Konflikt stehenden Bündnissysteme – aufgeklärte westliche Demokratie hier, despotisch-imperialistischer deutscher Militärstaat da – oder in der deutschen Lesart: Deutsche Kultur gegen geistlose westliche Zivilisation, nach Werner Sombart, „Händler und Helden“ – auch diese Annahmen wirken insofern nur vordergründig, propagandistisch aufgesetzt. Mit den ideologischen Antagonismen der späteren Zeit sind sie nicht gleichzusetzen. Es spricht nun viel dafür, dass es zwischen den ursprünglichen Kriegsgegnern von 1914, nach der weiteren Konflikteskalation bis zum französischen und belgischen Einmarsch ins Ruhrgebiet 1923, doch im späteren Verlauf der zwanziger Jahre gelang, einen bemerkenswerten Ausgleich zu erzielen; anders formuliert: Das klassisch formulierte deutsche Revisionsverlangen blieb keineswegs erfolglos: Der LocarnoVertrag von 1925 und der Völkerbundbeitritt von 1926 – mit einem ständigen Ratssitz – positionierten Deutschland jedenfalls wieder als förmlich anerkannte europäische Großmacht. Die Turbulenzen und Traumata der Weltwirtschaftskrise verhinderten allerdings, dass die weiteren beachtlichen revisionspolitischen Fortschritte in 26 Auch die gesamte Literatur zum Kriegsausbruch 1914, die 2013/14 erschien, blendet für die beteiligten Mächte, was deren jeweilige Ordnungssysteme anbelangt, systemische Unterschiede weitestgehend aus. Das gilt nicht nur für Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, bei dem insbesondere auf das hohe Maß an intransparenter beziehungsweise vordemokratischer Geheimdiplomatie in den außenpolitischen Apparaten Frankreichs und Großbritanniens abgehoben wird, ganz ähnlich wie bei autoritären oder (spät-)absolutistischen Regimen, in der Lesart des zaristischen Russlands. Dies gilt auch für eine Antipodin von Clark wie Annika Mombauer, Hundertjähriger Krieg um die Kriegsschuld, in: GWU, Jg. 65, Mai/Juni 2014, S. 303 – 337, die in hohem Maße an der dominanten Position der sechziger und siebziger Jahre von der doch weit überwiegenden deutschen Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch festhält. Vgl. auch dies., Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014.
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Deutschland noch adäquat wahrgenommen wurden: Die vorfristige Räumung der letzten besetzten Gebiete im Westen zum 30. Juni 1930, das faktische Ende der Reparationen auf der Konferenz von Lausanne im Sommer 1932 und wenige Monate später auf der Genfer Abrüstungskonferenz das Zugeständnis der Siegermächte, dass das seit 1919 einseitig abgerüstete Deutschland gleichen Anspruch auf Sicherheit wie alle anderen Mächte habe. Mit anderen Worten: Das revisionspolitische Begehren der Weimarer Republik, das aus Niederlage und Versailler Vertrag und damit letztlich aus dem Mächtekonflikt von 1914 resultierte, war bis 1932 in beachtlichem Maße abgearbeitet worden.27 Dazu war Deutschland weiterhin, wenn auch in größerem Abstand als vor 1914, als Industriestaat mit großer potentieller Exportstärke die Nummer Zwei in der Weltwirtschaft. Die Agenda des Zweiten Weltkrieges hingegen war eine sehr deutlich andere als die des Ersten, was das folgende Beispiel schon schlaglichtartig deutlich macht: Große Teile der Eliten der Weimarer Republik sahen sich trotz der latenten Bürgerkriegssituation mit der KPD in einem antipolnischen Bündnis mit der Sowjetunion – letztmals bildkräftig dokumentiert, als Reichspräsident von Hindenburg sowjetische Offiziere bei einem Reichswehrmanöver im Herbst 1932 an der Oder willkommen hieß. Ganz anders die nationalsozialistische Grundhaltung, bestimmt von Rassismus und Raumdenken mit der Attitüde, ein deutsches Imperium bis zum Ural zu erkämpfen und schließlich durch genozidale Zivilisationsbrüche auf denkbar radikale Weise das eigene rassistische Programm zu erfüllen. Das Zwischenspiel des Ribbentrop-Molotow-Paktes vom 23. August 1939 vermag an diesem Gesamtbild nichts zu ändern: Dieser Pakt war weitestgehend nur eine Art Notbehelf,28 weil Polen sich nicht als deutscher Vasall in einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion einfügen wollte, weil Adolf Hitler aber um jeden Preis sein expansives Programm vorantreiben wollte – und sei es auch mit quasi improvisierten Zwischenschritten. Wer hingegen der These vom dreißigjährigen europäischen Bürgerkrieg anhängt, muss gleichzeitig begründen, wie er denn dann den weiteren Fortgang der ideologischen Auseinandersetzung in Europa nach dem Zerfall der sogenannten Anti-HitlerKoalition in sein Gesamtbild einfügen möchte. Denn umgekehrt muss man sagen: Die durch die Installierung des totalitären Sowjetstaates 1917 entstandene Konfliktsituation war ja nicht einfach deshalb beendet, weil seit dem 8. Mai 1945 in Europa die Waffen schwiegen. Das sowjetische Imperium stand nun an der Elbe, und der 27 Aus der Fülle an Literatur zur Außenpolitik der Weimarer Republik und deren revisionspolitischen Erfolgen Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985. 28 Polen ließ sich eben nicht auf die deutschen Pressionen seit Herbst 1938 ein, sich für die eigentlich ideologisch gewollte deutsche Auseinandersetzung mit der Sowjetunion missbrauchen zu lassen. Als Polen sich dieser Zumutung versagte, obsiegte auf deutscher Seite nun sehr situativ die Taktik, zunächst Polen gemeinsam mit der Sowjetunion zu eliminieren, um so strategisch doch die Option für den großen Eroberungsfeldzug nach Osten wahren zu können. Vgl. Rainer F. Schmidt, Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933 – 1939, Stuttgart 2002, S. 316 ff.
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wohl härteste Gegner Adolf Hitlers, Winston Churchill, hatte sehr früh erkannt, dass mit ihm eine neue und eben wieder doch nicht neue Herausforderung entstanden war29 – schließlich war die Sowjetunion den britischen Eliten bereits in den zwanziger Jahren als zentrale Bedrohung erschienen.
VII. Resümee Im Resümee wird man vielmehr so viel festhalten dürfen: 1. Der Erste Weltkrieg selbst begann als klassischer Großmächtekonflikt, insofern etwa vergleichbar mit dem spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714, bei dem auch und ganz selbstverständlich normative Fragen keinerlei Rolle gespielt hatten. 2. Die Selbstzerstörung Europas im Verlaufe dieses Konfliktes, die Verzehrung seiner Ressourcen, die Traumatisierung seiner Gesellschaften – all dies voll spürbar ab ca. 1916 – führte dazu, dass die ideologische Büchse inhumaner und totalitärer Ideologien geöffnet wurde, dass die mit ihnen verbundenen Kräfte die Chance erhielten, politisch voll wirkungsmächtig zu werden, beginnend im Herbst 1917 in Russland. In gewisser Analogie wird man sagen dürfen, dass der innerdeutsche Antisemitismus durch den Ersten Weltkrieg wie das schließliche Erleben der Niederlage neue und starke Triebkräfte erhielt, die sich dann die Nationalsozialisten zunutze machten, mit der schließlichen äußersten Steigerung im Holocaust.30 3. Die genozidalen und territorial-expansiven Vorgehensweisen des so genannten Dritten Reiches provozierten die Bildung einer Koalition, welche in sich, d. h. in ihren politischen Leitvorstellungen, keineswegs kohärent war, und die daher im Augenblick der Niederwerfung ihres Widersachers bereits die verbindende Grundlage einbüßte. 4. Mit diesem, wenn man so will, Zwischenschritt war das Zeitalter der Ideologien in Europa keineswegs beendet, es hielt vielmehr so lange an, bis eine der beiden Parteien, das sowjetische Imperium, sich nicht mehr in der Lage sah, die Konfrontation fortzusetzen. Für uns Deutsche steht naturgemäß am symbolhaftesten für diese Konfliktbeendigung der Fall der Mauer durch unsere Hauptstadt vor knapp einem Vierteljahrhundert. Weltpolitisch war dieses Ereignis freilich in einen gesamten Geschehensablauf eingefügt, der über ein Jahrzehnt dauerte, in der Rückschau vermutlich beginnend mit dem Pontifikat Johannes Pauls II. ab 1978, über die systemische Herausforderung durch die Gründung der Ge29 Vgl. Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bern/München/Wien, Ausgabe 1985, „Der Eiserne Vorhang“, S. 1046 ff., bezogen auf die Entwicklung seit der Konferenz von Jalta im Februar 1945. 30 Aus der Fülle an einschlägiger Literatur Hannah Ahlheim, „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 – 1935, Göttingen 2011.
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werkschaft Solidarnos´c´ in Polen 1980, das Einsetzen substantieller Abrüstungsschritte seit der Installierung Michail Gorbatschows als erstem Mann der Sowjetunion 1985 bis zur Einholung der Roten Fahne auf dem Moskauer Kreml zum Jahresende 1991. 5. Die eine deutsche Fußnote: Die Wiederherstellung des 1871 konstituierten, über die Fährnisse von 1918/19 und 1923 hinweg geretteten deutschen Nationalstaates im Gefolge des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums kam für die Eliten in Westdeutschland ebenso überraschend wie in bestürzend ansehnlichen Teilen von ihnen innerlich abgelehnt;31 daher die damaligen vielfachen Bekenntnisse, Nationalstaat sei entweder historisch prinzipiell überholt oder doch zumindest im deutschen Fall, im Angesicht des deutschen Schuldkontos aus dem Zweiten Weltkrieg. Auf dieser Linie hätte Oskar Lafontaine mit Joschka Fischer als Bündnispartner die präsumtive Bundestagswahl von Anfang 1991, die es so nie gab, gewonnen; mit dem ihnen zu dankenden Fall der Mauer haben die Deutschen in der DDR diese Konstellation historisch ausgehebelt, und Helmut Kohl und George Bush haben dann die weiteren Schritte getan. Freilich kam es nie zu dem, was George Bush ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer in Mainz proklamiert hatte,32 nämlich im Blick auf die künftige deutsche Rolle im sich anbahnenden großen Transformationsprozess, „Partner in Leadership“ zu sein. Wie immer in der Geschichte, so kam auch nach 1990 vieles anders als erwartet. 6. Die andere deutsche Fußnote, bezogen auf die gesamte Geschichte des Landes während des 20. Jahrhunderts: Neben Zivilisationsbrüchen, totalitären Regimen und Diktaturen, Traumata und Verlusten steht auch die sozusagen „andere“ deutsche Geschichte von Modernisierungen und Demokratisierung. In der Zwischenkriegszeit wurde sie durch den Niedergang der Weimarer Republik seit 1930 und durch die schließliche Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 abrupt unterbrochen, und dennoch wurde sie nicht vollständig beendet.33 Die Weimarer Republik, insbesondere und paradigmatisch im Lande Preußen, steht eben auch für vielerlei politischen, kulturellen und sozialen Fortschritt, vom Sport bis zur Wohlfahrtspflege, und mit zahlreichen Ansätzen für die Ausprägung einer demokratischen politischen Kultur. Die Parteien der linken Mitte: SPD, Zentrum und linksliberale Fortschrittspartei, hatten bereits im Kaiserreich mit einer Zweidrittelmehrheit die Reichstagswahl von 1912 gewonnen. Sie standen hinter der Friedensresolution des Reichstages von 1917 wie hinter der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und wiederum – in variierter Form, als CDU/ 31 Immer noch ein Klassiker zur Apologie des SED-Regimes Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin/Frankfurt am Main 1992. 32 Pia Molitor, Partner in der Führung. Die Deutschlandpolitik der Regierung Bush/Baker als Faktor amerikanischen Machterhalts, Paderborn u. a. 2012, S. 128 ff. 33 Vgl. ganz in diesem Sinn Tim B. Müller, Krieg und Demokratisierung. Für eine andere Geschichte Europas nach 1918, in Mittelweg 36, 23. Jg., August/ September 2014, S. 30 – 52.
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CSU, SPD und FDP – im Parlamentarischen Rat von 1948/49 hinter der neuen Ordnung des Grundgesetzes. Der von diesen Kräften geschaffenen und geprägten „alten“ Bundesrepublik traten die Deutschen in der DDR gegen Ende des Kalten Krieges 1989/90 bei, sobald sich ihnen die erste tatsächliche Gelegenheit bot. Diese andere, positive Seite der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt es im historischen Erinnern aufzubewahren.
Bilanz der DDR-Forschung Klaus Schroeder Seit der Öffnung der DDR-Archive gewinnen Zeithistoriker Einblicke in die Geschichte der DDR, die ihnen vorher lange versperrt waren. Anfang der 1990er Jahre wurde es möglich, Entstehung und Entwicklung dieses deutschen Teilstaates genauer zu rekonstruieren und ihn historisch einzuordnen. Gleichzeitig stellte die Öffnung der Archive die DDR-Forschung vor der Wiedervereinigung auf einen empirischen Prüfstand – und schon bald zeigte sich, dass viele Forscher zielgenau am Gegenstand vorbei geforscht und die Realität des SED-Staates nicht angemessen hatten abbilden können. Während über zentrale historische Ereignisse in der DDR und dem geteilten Deutschland inzwischen weitgehend Konsens herrscht, setzte sich auch nach der Zäsur durch den Mauerfall der Streit um Methoden, Bewertungskriterien und die Kennzeichnung der DDR fort. Nicht von ungefähr standen die Konjunkturen der DDR-Forschung und die Dominanz des jeweiligen Ansatzes immer in zumindest mittelbarem Verhältnis zur jeweiligen Deutschland- und Geschichtspolitik. Die wissenschaftliche Betrachtung der DDR steht heute noch vor gleichen oder jedenfalls ähnlichen Problemen: Welche Betrachtung sich durchsetzt bzw. dominant wird, hängt von der Plausibilität des jeweiligen Ansatzes ebenso ab wie vom gerade herrschenden Zeitgeist. Anders als früher müssen sich nach der Öffnung der Archive die Analysen der DDR aber an der empirisch erfassten und archivarisch hinterlassenen Realität messen.
I. Totalitarismusmodelle als Leitlinie zur Erforschung der DDR Die politikwissenschaftliche Beschreibung der SBZ/DDR bediente sich in der Bundesrepublik anfangs der normativen und methodischen Prämissen und Perspektiven der Totalitarismustheorie. Die Kennzeichnung des SED-Staates als totalitäres Regime bildete dabei die Negativfolie zur Bewertung der Westzonen bzw. der Bundesrepublik als sich entwickelndes und realisiertes demokratisches und pluralistisches System.1 Der Totalitarismusbegriff entstand aus der Beschreibung und Analyse nationalsozialistischer und faschistischer wie kommunistischer Systeme und ihnen zugeschrie1 Vgl. Hubertus Buchstein, Die Totalitarismustheorie in der Formierungsphase der Berliner Politikwissenschaft. Unveröffentlichter Beitrag für die Konferenz „Totalitarismustheorie und Modernitätskritik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung am 8./9. Juli 1994.
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bener Analogien im Zuge der politischen Auseinandersetzungen zwischen diesen und liberal-demokratischen Systemen.2 Die spätere Überleitung dieses Begriffs in eine Theorie bzw. verschiedene Theorien, Modelle oder Konzepte erfolgte im Rahmen der begrifflichen Erweiterung bzw. Differenzierung politischer Herrschaftssysteme in den totalitären Herrschaftstypen. In den Hochzeiten des Kalten Krieges, insbesondere in den späten 1940er und in den 1950er Jahren, erlebte die Totalitarismustheorie in den westlichen Staaten eine von der Politik unterstützte und bisweilen nachhaltig geförderte Konjunktur.3 Vor allem Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich/Zbigniew Brzezinski prägten das Totalitarismusmodell. Ihre Beiträge flossen in Argumentationen auf der politischen und auch auf der wissenschaftlichen Ebene ein. Es gibt, um mit einem weit verbreiteten, noch heute vorhandenen Missverständnis aufzuräumen, nicht ein, sondern mehrere Totalitarismusmodelle, die zwar einen gemeinsamen Kern, aber unterschiedliche Argumentationsmuster aufweisen. Und: Weder Vertreter der Totalitarismuskonzeptionen noch seriöse Zeithistoriker behaupten, „rechts“ sei gleich „links“. Gleichwohl hat sich diese geradezu absurde Unterstellung bis zum heutigen Tag gehalten. Hannah Arendt erarbeitete ihr wirkungsmächtiges Modell aus der Kontrastierung einer verfassungsgemäßen Regierung als eigentlichem Kern einer liberal-demokratischen Ordnung mit dem Prinzip terroristischer Verwirklichung ideologischer Fiktionen.4 Dabei begnügt sich der Terror als Wesen totalitärer Herrschaft nicht mit Gesetzlosigkeit oder Willkür; er folgt der Logik bestimmter Prozesse, sei es nach einer strikten Rechtsfiktion oder im Namen vorgeblicher geschichtlicher Gesetze. Die weder klassenstrukturell verankerte noch wertemäßig orientierte Masse bildet für Arendt den Nährboden für die Entstehung von Totalitarismus. Soziale Vereinzelung und der in das diffuse Gefühl eigener Wertlosigkeit mündende Selbstwertverlust sind dabei die wichtigsten Charakteristika der modernen Masse. Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung ist für Hannah Arendt das Kennzeichen der Neuzeit. An diesem psychosozialen Zustand der Massen können totalitäre Ideologien ansetzen, indem die terroristische Erzeugung diffuser Angst den Einzelnen für die totalitäre Herrschaft gefügig macht. Herrschaftszweck ist der prinzipiell ersetzbare, uniforme neue Mensch. Im Unterschied zur Tyrannei, die das öffentliche Leben in unorganisierter Ohnmacht erstickt, inszeniert die totalitäre Herrschaft die organisierte Allmacht. Ideologie und Terror gehen dabei eine eigentümliche Symbiose ein. 2 Vgl. Steffen Kailitz, Der Streit um den Totalitarismusbegriff, in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz, Prägekräfte des 20. Jahrhunderts, München 1997, S. 219 ff. 3 Vgl. Klaus Schroeder, Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik. Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 10, Berlin 1994, S. 6 ff. 4 Vgl. Hannah Arendt, Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform, in: Bruno Seidel/ Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 143 sowie allgemeiner und grundsätzlicher: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl., München 1986, S. 473 ff.
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Ausdrücklich bezieht Hannah Arendt ihre Beschreibung und Einschätzung totalitärer Herrschaft auf die Zeiten des stalinistischen Terrors und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die totalitäre Ideologie erhebt Anspruch auf totale Welterklärung und Erfahrungsunabhängigkeit. Sie dekretiert gewissermaßen axiomatisch – in freiheitsverachtender Unerbittlichkeit – eine absolute Folgerichtigkeit. Der äußere Zwang, der sich im Terror austobt, wird vom inneren Zwang des logischen Folgerns unterstützt. Die hier entwickelte Argumentation sieht als Bewegungsgesetz und Antrieb des totalitären Terrors die ideologisch bedingte angeblich objektive Notwendigkeit der Ausschaltung von Feinden, die nach dieser Logik immer wieder neu und anders definiert werden können. Der Zustand permanenter Bewegung und die damit einhergehende eigentümliche Strukturlosigkeit ist die Basis für wahrhaft totale Macht. Einzig das Führungszentrum gibt Halt und Orientierung. Für Hannah Arendt gibt sich die totale Herrschaft niemals damit zufrieden „[…] von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen; in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren. In diesem Sinne schafft die totale Herrschaft gerade den Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten ab und erzielt einen Zustand, in dem das, was wir unter Macht und Willen zur Macht verstehen, gar keine oder eine sekundäre Rolle spielt.“5
Mit ihrer Theorie liefert Hannah Arendt gewissermaßen eine anthropologisch geprägte sozialphilosophische Letztbegründung für das in den Grundzügen schon von Siegmund Neumann und Gerhard Leibholz bestimmte Wesen totalitärer Herrschaft, das diese als stete Revolution, als permanenten Ausnahmezustand bzw. als totale Mobilmachung einer Nation erkannt hatten. Friedrich und Brzezinski nehmen die Gedanken der Totalitarismusforschung auf und entwerfen in verschiedenen Studien ein auch formalisiertes, theoretisches Totalitarismusmodell.6 Die totalitäre Diktatur wird als die der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts angepasste Form der Autokratie gekennzeichnet7; sie ist faschistischen bzw. nationalsozialistischen und kommunistischen Regimen gleichermaßen eigen, ohne dass eine vollständige Wesensidentität behauptet wird. Ideologisch verschieden motivierte totalitäre Diktaturen sind sich nur im Grunde ähnlich, oder jedenfalls ähnlicher als andere Systeme.8 Die historische Neuartigkeit begründet sich nicht allein im Anspruch totaler Kontrolle des täglichen Lebens – Regime mit diesem Anspruch hat es auch schon früher gegeben – sondern in der auf moderner 5
Vgl. H. Arendt (Fn. 4), S. 527. Vgl. Carl Joachim Friedrich unter Mitarbeit von Zbigniew Brzezinski, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, und Carl Joachim Friedrich/Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: B. Seidel/S. Jenkner (Fn. 4), S. 600 ff. 7 Vgl. Carl Joachim Friedrich, Das Wesen totalitärer Herrschaft, in: Der Politologe, 20/ 1966, S. 43. 8 Vgl. C.J. Friedrich/Z. Brzezinski (Fn. 6), S. 601. 6
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Technik basierenden Durchsetzung dieser Zielsetzung. Erst die moderne Technik erlaubt die Entwicklung von Organisationsformen und Kontrollmöglichkeiten, die auf eine völlige Zerstörung und einen anschließenden Wiederaufbau der Massengesellschaft abzielen. Bei den von Friedrich/Brzezinski aufgestellten und viel diskutierten sechs Grundmerkmalen totalitärer Diktaturen handelt es sich um Ideologie, Monopolpartei, Terrorsystem, Massenkommunikationsmittel, Gewaltmonopol sowie zentrale Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft.9 Diese sechs Grundmerkmale sind wesensmäßig miteinander verflochten und erlauben in ihrer Kombination die Charakterisierung von Systemen als totalitär. Vier der sechs genannten Grundmerkmale sind technisch bedingt, und erst sie ermöglichen eine totalitäre Kontrolle der Gesellschaft. Totalitäre Diktaturen pendeln zwischen den Extremen totalitärer Gewalt und tatsächlichem Zusammenbruch.10 Die Differenzierung des Totalitarismusbegriffs in ein primäres und mehrere sekundäre Phänomene durch Martin Drath gibt dem Totalitarismusmodell eine spezifische begriffliche Zuspitzung und zugleich Vereinfachung, die sich bis heute als praktikabel für die Beschreibung totalitärer Gesellschaften erwiesen hat. Als besonderes charakteristisches Merkmal – das Primärphänomen – des Totalitarismus kennzeichnet er dessen Bestreben, ein von den bisher in der Gesellschaft vorherrschenden Maßstäben fundamental unterschiedenes Wertesystem durchzusetzen. Im Unterschied zu autoritären Diktaturformen ist daher der Totalitarismus regelmäßig mit dem Gebrauch einer neuen (sozialen) Ideologie verbunden. Totalitäre Regime streben nach sozialer und politischer Homogenisierung der Gesellschaft; bis in die Metaphysik hinein soll das neue Wertesystem durchgesetzt werden. Die Mittel und Instrumente zur Durchsetzung dieses Bestrebens sind Sekundärphänomene, die in ihrem Zusammenwirken und ihrer Bedeutung wechseln können und die in ihrer Intensität und Reichweite von ihnen nicht weiter definiert werden. Drath lässt bewusst offen, welche Werte eine totalitäre Bewegung/Partei der Gesellschaft aufoktroyiert; ob dieses Wertesystem inhaltlich begründet, rational, antimodern etc. ist, hat für ihn keine Bedeutung. Aber er ist sich sicher, „dass der Begriff ,Totalitarismus‘ lediglich vom Standpunkt freiheitlicher Demokratie aus gebildet werden kann, weil er nur für sie etwas Wesentliches aussagt und Erscheinungen zusammenfasst, die von ihr aus gesehen gleichartig sind.“11
Agnes Heller, Ferenc Fehér und György Markus zeichnen in ihrer Analyse der Sowjetunion die Konturen eines Systems, dessen Herrscher eine „Diktatur über die Bedürfnisse“ anstreben. Für sie zeigt die Sowjetunion als absolutistischer Staat eine Tendenz zur Totalisierung von Macht und Kontrolle. Totalitäre Gesellschaften sind hiernach politische Gesellschaften mit einer Identität von privater 9
Vgl. C.J. Friedrich/Z. Brzezinski (Fn. 6), S. 610 f. Vgl. C.J. Friedrich/Z. Brzezinski (Fn. 6), S. 629. 11 Vgl. Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. Vorwort, in: Ernst Riechert, Macht ohne Mandat, Köln/Opladen 1958, S. XXIV. 10
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und öffentlicher Sphäre. Die Machthaber streben danach, alle staatsfreien Räume abzuschaffen. Die Autoren konstatieren: „Eine Gesellschaft ist totalitär, wenn in ihr der Pluralismus kriminalisiert wird.“12
Die Grundannahme von Martin Drath zur Erklärung des (linken) Totalitarismus – sein Versuch der umfassenden Durchdringung der Gesellschaft durch eine Ideologie – findet sich ebenfalls bei osteuropäischen Intellektuellen wie z. B. bei Leszek Kolakowski.13 Er unterscheidet totalitäre und autoritäre Gewaltregime durch ihre Neigung und ihren Anspruch, alle menschlichen Aktionsbereiche zu steuern, die Menschen – materiell wie seelisch – total zu enteignen und sie gleichsam in Staatseigentum zu verwandeln. Das Endziel der modernen totalitären Lüge sei die totale geistige und moralische Enteignung der Menschen, die deren individuelle Existenz im sozialen Ganzen auflöse. Peter Graf Kielmannsegg14 stellte Ende der 1970er Jahre eine Neuformulierung des Totalitarismusmodells zur Diskussion, die dem eingetretenen politischen Wandel in den kommunistischen Gesellschaften Rechnung tragen sollte. Als erste Bestimmung für totalitäre Herrschaft ergibt sich für ihn die monopolistische Konzentration der Chancen von Einflussnahmen durch ein Führungszentrum, eine prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems sowie eine weitgehend unbeschränkte Intensität der Sanktionen. Entscheidungsmonopol bedeutet für Kielmannsegg nicht, dass alles vom Monopol entschieden wird, sondern nur, dass keine Entscheidung gegen das Monopol getroffen und durchgesetzt werden kann. Die Monopolpartei artikuliert Überzeugungen und nicht Interessen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Bevölkerung immer wieder neu auf von der Ideologie bestimmte Ziele hin zu mobilisieren. Das Ziel totalitärer Regime: die vollkommene monopolistische Steuerung des sozialen Verhaltens, erfordert insofern nicht nur Kontrolle, sondern auch die Fähigkeit zu motivieren. Ideologie und Partei sind von daher entscheidende Faktoren in der Kielmannseggschen Totalitarismusanalyse. Indem er strukturelle Momente mit prozessualen verbindet, kann Kielmannsegg auch die von Richard Löwenthal beschriebene Tendenz poststalinistischer Regime, die Revolution zu institutionalisieren, erfassen. Dies relativiert die Bedeutung des Terrors, wie es gleichzeitig auch Modifikationen der Ideologie impliziert. Die Verbürokratisierung des Totalitarismus führt freilich nicht zu einer prinzipiellen Veränderung der Herrschaftsform, im Gegenteil: Das postrevolutionäre totalitäre Regime schafft sich die doppelte Herrschaftsstruktur, das spezifische Geflecht von Staats- und Parteibürokratie, um die revolutionäre Dynamik fortzusetzen und den ideologischen Charakter der Herrschaft zu bewahren. 12 Vgl. Agnes Heller/Ferenc Fehér/György Markus, Der sowjetische Weg. Bedürfnisdiktatur und entfremdeter Alltag, Hamburg 1983, S. 189. 13 Vgl. Leszek Kolakowski, Totalitarismus und die Wirksamkeit der Lüge, in: Dieter Hasselblatt (Hrsg.), Orwells Jahr. Frankfurt/Main 1984, S. 87 ff. 14 Vgl. Peter Graf Kielmannsegg, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus, Düsseldorf 1978, S. 61 ff.
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Diese Strategie der Inbesitznahme des Staates durch die Kommunistische Partei findet sich, von Lenin angefangen, bei allen kommunistischen Ideologen. In der DDR warnte der ehemalige Sozialdemokrat und erste Ministerpräsident Otto Grotewohl im Juli 1948 vor der Gefahr, dass die Übernahme des Staates durch die SED zu einer Restauration des alten bürgerlichen Staates führen könne, sollte es die Partei versäumen, tatsächlich einen „neuen“ Staat aufzubauen. „Die Aufgabe unserer Partei ist es, dafür Sorge zu tragen, dass sich die Verbürgerlichung des sozialistischen Teils des Verwaltungsapparates nicht ein zweites Mal vollzieht, sondern dass jeder Einzelne von uns, der in einem Verwaltungssessel sitzt, wissen muss, dass seine Aufgabe darin besteht, bei der Partei zu stehen, in der Partei zu stehen und für die Partei zu stehen.“15
Obschon die Übergänge zwischen autoritären und totalitären Regimen fließend sind, lässt sich, so Juan Linz,16 eine statische (oder beliebige) Klassifizierung vermeiden, indem je nach Grad von Pluralismus, ideologischer Ausrichtung, Mobilisierung und anderen Faktoren unterschieden und gemessen wird. Linz kennzeichnet ein System als „totalitär“, wenn folgende drei Faktoren gleichermaßen zutreffen: (1) Das System verfügt über eine Ideologie. (2) Es weist eine Einheitspartei mit Massencharakter und andere gelenkte Massenorganisationen auf. (3) Die Macht ist in der Hand einer Person oder einer kleinen Gruppe konzentriert. Diese ist keiner größeren Wählerschaft verantwortlich und kann nicht mit institutionalisierten friedlichen Mitteln von der Macht entfernt werden. Die Ideologie als Quelle für Legitimität bildet eine Begründung für die Berufung der Herrschenden.17 Gleichzeitig streben totalitäre Regime nach einer ostentativen Akklamation der Massen. Nicht zuletzt dadurch kann nach außen der Eindruck einer „partizipativen Demokratie“ entstehen.18 Die jahrzehntelange Inszenierung des Herrschaftsverhältnisses durch die SED ließ tatsächlich einige Zeithistoriker annehmen, der Herrschaftscharakter der einstmals totalitären Diktatur hätte sich gewandelt. Realiter führten jedoch erst Massenflucht und Massendemonstrationen im Sommer/Herbst 1989 zum Ende dieser Inszenierungen. In der westlichen, vor allem der westdeutschen politikwissenschaftlichen Forschung wurden seit den 1960er Jahren die am Totalitarismuskonzept orientierten 15
Zit. nach: Klaus Schroeder, Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED, in: Peter März (Hrsg.), 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 99. 16 Vgl. Juan Linz, Typen politischer Regime und die Achtung der Menschenrechte: Historische und länderübergreifende Perspektiven, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Bonn 1996, S. 485 ff. 17 Vgl. Juan Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000, S. 35. 18 Diesen von den Herrschenden erzeugten Anschein halten auch nach dem Zusammenbruch der DDR einige Wissenschaftler für die Realität. Vgl. insbesondere Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2009 und Andrew Port, Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland, Berlin 2010.
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Richtungen zurückgedrängt.19 Sie fristeten bis in die 1980er Jahre hinein ein wissenschaftliches Schattendasein. Erst in den 1980er Jahren erfolgte eine Revitalisierung des Totalitarismusmodells, nicht zuletzt aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen und wissenschaftlicher Debatten um die Charakterisierung des Kommunismus in anderen westlichen Ländern – wie zum Beispiel in Frankreich, wo ehemalige Maoisten der 68er-Bewegung erst mit dem Stalinismus und dann mit dem Kommunismus abrechneten. In der Bundesrepublik setzte dieser Prozess – öffentlich wahrnehmbar – erst nach der Wiedervereinigung ein.
II. Paradigmenwechsel – Die systemimmanente DDR-Forschung Hatte die wissenschaftliche und politische Bewertung der DDR aus totalitarismustheoretischer Sicht auf der politischen Ebene der Legitimation des eingeschlagenen westdeutschen Weges zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft und der damit einhergehenden Abgrenzung zu Diktatur und Zentralplanwirtschaft gedient, so bereitete die Ablösung des Totalitarismusparadigmas einen wissenschaftlichen und politischen Perspektivwechsel vor. Der politische Zeitgeist der späten 1960er Jahre ließ einige Politikwissenschaftler annehmen, die DDR und andere sowjetisch dominierte Staaten seien trotz aller zu kritisierenden Details und ihrer demokratischen Defizite eine „fortgeschrittenere“ und „fortschrittliche“ Gesellschaftsformation.20 DDR-Forscher wie Peter-Christian Ludz und Hartmut Zimmermann hatten bereits Anfang der 1960er Jahre erste Zweifel an der weiteren Brauchbarkeit des Totalitarismusbegriffs bei der Analyse der DDR geäußert. Nicht zuletzt mit Blick auf den seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 vermeintlich eingetretenen politischen und sozialen Wandel in sozialistischen/kommunistischen Staaten und unter strikter Ablehnung einer Analogie zwischen Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus plädierten diese beiden Politikwissenschaftler bei der Analyse kommunistischer Systeme für eine methodische Herangehensweise von „innen heraus“. Sie behaupteten, aus dem totalitären Ein-Parteien-Staat DDR sei ein auf Funktionstüchtigkeit angelegter Industriestaat konsultativ-autoritativen Gepräges geworden.21 Die sich herausbildende „neue Gesellschaft“ habe neue, fundamental andere Strukturen als die in der alten Gesellschaft vorhandenen entwickelt. Der eingetretene politische und soziale Wan19
Vgl. Klaus Schroeder/Jochen Staadt, Der diskrete Charme des Status quo: DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: Klaus Schroeder (Hrsg.), Geschichte und Transformation des SED-Staates, Berlin 1994, S. 309 ff. 20 Die SED und die von ihr gelenkte DKP bezeichneten bis zum Ende der deutschen Teilung Personen, die das westliche Modell kritisierten oder ablehnten und die DDR weichzeichneten, als „fortschrittliche Kräfte“. Hiermit sollte suggeriert werden, der „Fortschritt“ gehe Richtung Sozialismus. 21 Vgl. generell zu diesem Ansatz Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln/Opladen 1968.
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del könne ihrer Meinung nach mit den normativen Prämissen westlicher Gesellschaften nicht mehr erfasst werden.22 Alle in der DDR wirkenden maßgeblichen Kräfte zielten auf eine systemimmanente Veränderung, so Ludz. Die DDR müsse nun als ein sozial stabilisierendes System betrachtet werden. Kräfte, die einen Totalumsturz der etablierten Herrschaft anstrebten, berücksichtigte er nicht, weil sie für ihn keine Relevanz besaßen. Auf der letzten Plenarsitzung des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands prognostizierte er für die Entwicklung der DDR eine Aufweichung des ideologischen Dogmatismus und eine Modernisierung auch der Parteidoktrin.23 Einige Jahre später stellte sich heraus, dass Ludz in vielen seiner Studien vor allem zu Fehlurteilen gelangt war. Das Zentralkomitee blieb bis zum Ende der DDR ein Akklamations- und Deklamationsgremium und seine Zusammensetzung veränderte sich nicht in Richtung eines Aufstiegs fachlich geschulter Funktionäre. Der Parteiapparat wandelte sich ebenfalls nicht wie angenommen, die „Verfachlichung“ seiner Arbeit trat nicht ein und auch die marxistisch-leninistische Ideologie veränderte sich nicht tiefgehend. Die zusammenfassende Bewertung von Ludz, „so ist festzuhalten, dass dem Wandel im Organisationssystem und der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Parteielite ein Wandel in der philosophisch-soziologischen Deutung der Gesellschaft zugeordnet werden kann“,24
bestätigte sich in den beiden Jahrzehnten bis zum Ende der DDR nicht. Seinen Forschungsansatz und den Verzicht auf normative Bewertungsmaßstäbe charakterisierte er Mitte der 1970er Jahre explizit: „Immanente Analyse meint, dass kritische Gesichtspunkte der Beurteilung nicht abstrakt willkürlich von außen an einen Gegenstand herangetragen werden, sondern die Entstehungs-, Entwicklungs- und strukturellen Bedingungen dieses Gegenstandes mitberücksichtigen. Im Falle der DDR-Forschung bedeutet dies, dass eine unspezifizierte, unreflektierte ,westliche Sicht’ als Maßstab der Beurteilung abzulehnen ist.“25
Die grundsätzliche Annahme von Ludz und anderen systemimmanenten Forschern, die DDR würde sich unter dem Druck der Industrialisierung modernisieren müssen, erfüllte sich nicht. Die systemimmanente Forschung beachtete weder die repressive Dimension der sozialistischen Diktatur, noch war das MfS gesondert Untersuchungsgegenstand. Die Schriften des Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der schon
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Vgl. kritisch hierzu: K. Schroeder/J. Staadt (Fn. 19), S. 312 ff. Vgl. Fred Klinger, Die Wirtschaft der DDR aus Sicht der BR Deutschland, in: Peter Eisemann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Dem Zeitgeist geopfert, Mainz/München 1992, S. 110 f. 24 P. Chr. Ludz (Fn. 21), S. 327. 25 Zitiert nach: K. Schroeder/J. Staadt (Fn. 19), S. 317. 23
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vor dem Mauerfall diesem zentralen Unterdrückungsapparat besondere Aufmerksamkeit widmete,26 nahm sie kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis. Auch der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme sah 1975 den Realsozialismus in vielen Ländern „heute hinreichend legitimiert durch die Zustimmung der Mehrheit und durch objektive Erfolge“
und erklärte ihn sogar zum Vorbild für westliche Gesellschaften: „So lässt sich nicht leugnen, dass sozialistische Systeme auch nach bürokratischen Degenerationserscheinungen immer wieder Perspektiven für die Innovation und Fortentwicklung des Systems entwickelten. Gewiss, auch bürgerliche Demokratien wiesen gelegentlich Innovationskräfte auf, die ihnen viele nicht mehr zutrauten, aber um den Preis der geistigen Anleihen beim Sozialismus (Sozialstaatlichkeit, Basisdemokratisierung, Systemplanung usw.).“27
Seit den 1980er Jahren galt die DDR vielen Sozial- und Politikwissenschaftlern als moderne Industriegesellschaft, die zwar konträr und alternativ zu den westlichen demokratischen Industriegesellschaften stand, aber diesen prinzipiell ebenbürtig war. Die repressive Seite des Realsozialismus blendeten sie weitgehend aus. Auf normativ begründete und bewährte Untersuchungskriterien verzichteten sie und attestierten dem östlichen deutschen Teilstaat Stabilität und Erfolg. Christoph Kleßmann sprach 1988 von einem „Wirtschaftswunder DDR“ und behauptete, „Modernisierung“ sei in der DDR seit den 1960er Jahren „nicht nur Programm, sondern bestimme auch die politische und soziale Realität.“28 Selbst der ehemalige Nestor der westdeutschen DDR-Forschung, Hermann Weber, der nach seiner Abkehr vom Stalinismus in den 1950er Jahren zumeist unbeirrt von politischen Forschungskonjunkturen den diktatorischen Charakter der SEDHerrschaft in das Zentrum seiner Arbeiten stellte, bezeichnete in seiner Mitte der 1980er Jahre erschienenen „Geschichte der DDR“ das DDR-Wirtschaftssystem als „ein effizientes und relativ erfolgreiches“29. Trotz aller Mängel und ihres „keinesfalls widerspruchsfreien Systems“ beurteilte er die DDR nicht rundum negativ: „Die historische Wirklichkeit ist banaler und tatsächlich ist etwas anderes positiv zu vermerken, nämlich, dass die DDR einer der historisch stabilsten Staaten der neueren deutschen Geschichte ist.“30
26 Vgl. z. B. Karl Wilhelm Fricke, Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, 3. akt. Aufl., Köln 1989. 27 Klaus von Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus, München/Zürich 1975, S. 320 und 348. 28 Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1945 – 1970, Bonn 1988, S. 11 f. 29 Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985, S. 16. 30 H. Weber (Fn. 29), S. 7.
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Ein Jahr vor dem Untergang der DDR sah der Sozialdemokrat Weber vor dem Hintergrund der Annäherung von SPD und SED sogar „grundsätzliche Wandlungen im Selbstverständnis der Hegemonialpartei der DDR aufscheinen.“
Nach ihrem Gang in die Opposition diskutierte die SPD über mehrere Jahre mit der SED über Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Beide Seiten attestierten beiden Systemen Reformfähigkeit.31 Der Kurswechsel in der DDR-Forschung, der zu einer gänzlich anderen Sicht des deutschen Teilstaates in vielen Medien, Schulen und Hochschulen, aber auch in der Politik führte, sollte nicht nur die Entspannungspolitik und vor allem die Akzeptanz und Fortschreibung deutscher Zweistaatlichkeit legitimieren, sondern auch den Boden für einen politischen und sozialen Kurswechsel in der Bundesrepublik selbst begründen. Dabei profitierte die systemimmanente Forschung sowohl vom linken politischen Zeitgeist als auch von der sozialliberalen (Entspannungs-)Politik. Aus beiden Perspektiven sollte die DDR „wertfrei“ und „vorurteilsfrei“ analysiert und gleichzeitig sozialistische Vorstellungen auch für die Bundesrepublik politisch salonfähig gemacht werden. Den Protagonisten dieser Forschungsrichtung ging es mithin in der Mehrzahl nicht um eine kritiklose Verteidigung der DDR, sondern (in der politischen Perspektive) eher um einen „Dritten Weg“ oder einen „Demokratischen Sozialismus“. Dies bedeutete jedoch gleichzeitig eine Verschiebung des Bewertungsmaßstabes für die Beurteilung sozialistischer Gesellschaften; zuweilen war man gar – wie der systemimmanente Forscher Gerd-Joachim Glaeßner – der Meinung, Abschied nehmen zu müssen von einer politischen Wissenschaft als „Demokratiewissenschaft“, „die sich eine demokratische Gesellschaft nur als bürgerlich-parlamentarische Gesellschaft vorstellen kann.“32
Das Ende der DDR und die nachfolgende deutsche Wiedervereinigung, auf die zumindest die „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ – mehr intentional als realpolitisch – hingearbeitet hatte, stellten das in den letzten Jahrzehnten gezeichnete DDR-Bild auf den Prüfstand kritischer Wissenschaft und Öffentlichkeit. Nach der Öffnung der Archive traten nicht nur die Fehleinschätzungen der systemimmanenten Forschung offen zutage, sondern es wurde gleichzeitig deutlich, dass die kaum zur Kenntnis genommenen totalitarismusorientierten Analysen ein realistischeres Bild der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschaften gezeichnet hatten. Die vom So31
Vgl. das 1987 veröffentlichte Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. 32 Gerd-Joachim Glaeßner, Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus- und DDR-Forschung, Opladen 1982, S. 240.
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wjetkommunismus dominierten Staaten brachen zusammen, weil sie sich aufgrund des nie aufgegebenen totalitären Macht- und Gestaltungsanspruchs der sie regierenden kommunistischen Parteien als innovations- und reformunfähig erwiesen. Gerade diesen Zusammenhang hatten Totalitarismusmodelle immer wieder hervorgehoben. Die systemimmanente Forschung konnte hingegen weder die Gründe für den Zusammenbruch noch den (desolaten) inneren Zustand der Gesellschaften aufzeigen. Ihre beiden zentralen Dogmen – die Anerkennung der Legitimation und Existenzberechtigung der DDR sowie deren primäre Einordnung als sozialistische Industriegesellschaft – hatten den Blick auf das Wesentliche verstellt: auf die Strukturen und Wirkungsmechanismen eines diktatorischen Systems mit totalitärem Macht- und Gestaltungsanspruch. Als zentrale Fehler erwiesen sich die weitgehend unkritische Übernahme der SED-Sicht, die Vernachlässigung bestimmter Themenbereiche (MfS, Grenzregime, etc.), die das Ansehen der DDR hätten beeinträchtigen können, und vor allem der Verzicht auf zentrale, auch normativ begründete Untersuchungskategorien sowie mangelnde eigene Bewertungsmaßstäbe.
III. Die Erforschung der DDR nach 1990 Seit dem Ende der DDR kann der SED-Staat nun als abgeschlossene historische Periode untersucht werden; die inzwischen zugänglichen Daten und Akten ermöglichen darüber hinaus seine realitätsnahe Beschreibung. Die Auseinandersetzung um seine theoretische Einordnung und Kennzeichnung setzte sich indes fort, wenngleich auf einer anderen Ebene. Unterschiedliche methodische Zugänge und Blickwinkel führten weiterhin zu einer kontroversen Einschätzung. Allerdings mussten sich jetzt begriffliche Zuordnungen auch an einer empirisch rekonstruierbaren Wirklichkeit messen lassen. Inzwischen liegen zur Entstehung und Entwicklung der DDR und zu zentralen Ereignissen umfassende empirische Studien vor.33 Die schnelle sozialistische Umwälzung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in der SBZ und die Rolle der Sowjetunion sind ebenso wie die SED-Gründung umfassend erforscht. Gleiches gilt für den Aufbau des Partei- und Machtapparates und für das Verhältnis von Partei und Staat. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 ist bis in einzelne Städte und Kreise hinein analysiert, mit dem Ergebnis, dass es sich zweifelsfrei um einen Volksaufstand handelte. Die Umstände der Kollektivierung der Landwirtschaft sind in Umrissen ebenfalls rekonstruiert worden, allerdings mangelt es hier noch an regionalen und lokalen Studien. Der Mauerbau wurde zwar minutiös beschrieben, aber es gibt weiterhin eine Kontroverse, ob die DDR oder die Sowjetunion Haupttriebkraft der vollständigen 33 Vgl. die jeweiligen Argumentationen und Literaturhinweise in: Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, 3. vollst. überarb. und stark erw. Neuausgabe, Köln/Weimar/Wien 2013.
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Schließung der innerdeutschen und innerberliner Grenze war. Angesichts gleichgerichteter Interessen handelt es sich jedoch um einen eher aufgesetzten Streit. Beide Seiten wollten vorrangig West-Berlin von der politischen Landschaft tilgen, was aufgrund der harten Haltung der USA nicht gelang. Der Mauerbau stellte insofern für beide die zweitbeste Lösung dar, denn ohne Zustimmung der Sowjetunion hätte die DDR die Mauer nicht errichten können. Die Erforschung des Grenzregimes befindet sich noch in den Anfängen, zumindest bezogen auf die Opfer. Während für Berlin entsprechende Untersuchungen vorliegen, werden die Ergebnisse eines am Forschungsverbund SED-Staat laufenden Projektes zu den Opfern des DDR-Grenzregimes erst 2015/16 vorliegen. Gleichwohl lässt sich schon jetzt festhalten, dass die mörderische Dimension des Grenzregimes außer Frage steht. Bezogen auf die wirtschaftliche Entwicklung gibt es nur sehr wenige Gesamtdarstellungen, die das ganze Ausmaß der desaströsen Entwicklung der zentralistischen Planwirtschaft offenlegen. Es mangelt an Studien zur letzten Verstaatlichungswelle, aber auch zu den Gründen für die nachhaltige Produktivitätsschwäche. Die vorliegenden Arbeiten unterscheiden sich im methodischen Zugang und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Weitgehend ausgeblendet blieb bisher die Untersuchung der Ungleichheitsstrukturen in der DDR. Eine genauere Analyse der Einkommens- und Vermögensverhältnisse gibt es bisher nicht. Selbst die datenmäßig erfasste Ungleichheit fand bisher kaum Eingang in die öffentliche Debatte. Unbeantwortet ist bisher die Frage, warum und aus welchen Gründen die Vermögensungleichheit in beiden deutschen Staaten in etwa gleich ausfällt. Ein weiteres bisher unterbelichtetes Forschungsfeld ist die Entstehung und Entwicklung von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Zwar liegen einige Arbeiten hierzu vor, die aber die Frage, warum es zu so einer starken Verbreitung dieses menschenverachtenden Gedankenguts kommen konnte, nicht angemessen beantworten. In der öffentlichen Debatte verknüpfen insbesondere ostdeutsche Politiker und (linke) Wissenschaftler die Ausbreitung des Rechtsextremismus in den neuen Ländern mit dem Wiedervereinigungsprozess und übersehen bewusst oder unbewusst die Kontinuitätslinien. Nicht zuletzt wegen der Existenz der BStU sind wohl die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit am intensivsten erforscht worden. Hierdurch entstand aber in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Stasi hätte das Geschehen in der DDR bestimmt. Deren Einbettung in die Herrschaftsstruktur ist bisher nicht ausreichend dargelegt worden. Gut erforscht sind die Oppositionsgruppen in den verschiedenen Entwicklungsabschnitten sowie in Kunst, Kultur und Sport. Nur in Umrissen beleuchtet sind die deutsch-deutschen Beziehungen. Hier kann erst die Offenlegung bundesrepublikanischer Akten zu neuen Erkenntnissen führen. Erst am Anfang stehen regionale und
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lokale Analysen, die verdeutlichen, wie es der SED gelang, über Jahrzehnte zumindest nach außen hin Stabilität zu sichern und die Gesellschaft zu kontrollieren. Generell unerforscht sind die Dimensionen einer sozialistischen Mitläufergesellschaft, die mehr war als ein Resultat von Unterdrückung. Generell unterbelichtet ist ein Forschungsansatz, der einzelne inhaltliche Dimensionen systemübergreifend untersucht und den Stellenwert deutsch-deutscher Bezüge rekonstruiert; auch liegt bisher keine angemessene Gesamtbetrachtung der deutschen Teilungsgeschichte vor. Sicherlich gibt es noch weitere unerforschte Bereiche, die aber das jetzt existierende grundsätzliche Bild der DDR nicht erschüttern werden.
IV. Der Streit um die Bewertung der DDR nach 1990 Die sich in der ostdeutschen Bevölkerung nach der Wiedervereinigung ausbreitende Stimmung, den diktatorischen Charakter der DDR auszublenden und durch die Konzentration auf das Alltagsleben einen positiven Bezug zur Vergangenheit herzustellen,34 fand in der wissenschaftlichen Debatte eine Entsprechung. Historiker und Politikwissenschaftler, die zum Teil schon vor 1989 den diktatorischen Kern des ostdeutschen Teilstaates in ihren Forschungen außen vor ließen, betrieben nun eine Geschichtspolitik, die an offizielle geschichtspolitische Sichtweisen zur NSVergangenheit in der Bundesrepublik der frühen 1950er Jahre erinnert: Versucht wurde, Täter und Mitläufer durch die Betonung des Alltagslebens, der individuellen Lebensleistung, etc. von ihrer Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Diktatur frei zu sprechen. Darüber hinaus behaupteten manche, viele Bürger in den neuen Ländern wollten nicht von Westdeutschen belehrt werden. Der Vorsitzende der Historischen Kommission der SPD, Bernd Faulenbach, ein Westdeutscher, wies auf die angebliche Gefahr hin, „dass Westdeutsche mit ungeeigneten Maßstäben die DDR-Realität und das Verhalten der Menschen beurteilen.“35
Die neu entflammte Kontroverse, ob die DDR-Geschichte vornehmlich als Politik- oder Sozialgeschichte zu untersuchen sei, wird dem Untersuchungsgegenstand jedoch kaum gerecht. Da weitgehend unbestritten ist, dass die DDR primär eine „politische Gesellschaft“ (Agnes Heller) war, in der die Monopolpartei SED mit ihrem (totalitären) Anspruch auf umfassende Gestaltung, Beherrschung und Kontrolle von Staat und Gesellschaft dominierte, sollten daher auch bei der gesellschaftsgeschichtlichen Beschreibung die Analyse der Umsetzung und Realisierung des (totalitären) 34
Vgl. Klaus Schroeder, Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Berlin 2010, S. 66 ff. 35 Bernd Faulenbach, Geteilte Vergangenheit – eine Geschichte? Eine Bestandsaufnahme, in: Christoph Kleßmann/Hans Misselwitz/Günter Wichert (Hrsg.), Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S. 28.
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Herrschaftsanspruchs im Vordergrund stehen. Hier miteinbezogen werden müssen neben den politischen auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Strukturen und Handlungen, die jedoch in hohem Maße Folgeerscheinungen der Politik waren. Anders als bei demokratischen Gesellschaften kann im DDR-Sozialismus nicht von einer Interdependenz zwischen den verschiedenen Sphären ausgegangen werden; vielmehr handelte es sich um ein hierarchisches Verhältnis. Dabei ist es unerheblich, ob der Gestaltungsanspruch als totalitär bezeichnet wird; an der Faktizität ändert dies nichts. Die Ausblendung der Herrschaftsgeschichte zugunsten der Konzentration auf Gesellschaftsgeschichte erklären viele der DDR nach wie vor verbundene Autoren nicht weiter. Andere versuchen, dies nicht etwa methodologisch oder wissenschaftstheoretisch, sondern mit dem Hinweis auf die Alltagserfahrungen von Menschen zu begründen. „Die DDR, […] die in ihrem Diktaturcharakter nicht aufging, und das Leben in ihr bewegte sich nicht nur zwischen den Polen von Anpassung und Widerstand. Auch nach über zehn Jahren teils erbitterter, teils einfühlender Auseinandersetzung bleibt die Frage offen, inwieweit die Verdammung des Systems auch die Biographien seiner Bürger entwertet oder nicht und dass es also ein richtiges Leben im falschen geben konnte oder nicht. Sie zwingt zu ambivalenten Antworten, die beides berücksichtigen: Auf der einen Seite der Zwang zur Anpassung im ,Ansteckungsstaat‘, der man nicht entgehen konnte, und auf der anderen Seite die Forderung nach dem aufrechten Gang auch in gedrückten Verhältnissen.“36
Einen Schritt weiter geht der in der DDR ausgebildete Soziologe Wolfgang Engler. Ohne weitere Begründung lehnt er herrschaftsgeschichtliche Analysen ab, die die DDR mit Begriffen wie Diktatur, Unrechtstaat, Totalitarismus, Kommandowirtschaft oder Gewaltherrschaft kennzeichnen, da diese den Erfahrungen der Ostdeutschen nicht gerecht würden. Maßstäbe und Urteile müssten – so Engler in unbewusster oder jedenfalls nicht ausdrücklich erwähnter Anlehnung an die systemimmanente DDR-Forschungsrichtung – von innen und nicht von außen kommen. Da Wissenschaftler gemeinhin nicht ohne implizite und explizite Bewertungsmaßstäbe auskommen und Engler nicht in der affirmativen Weise wie seine ideologisch mit der DDR verbundenen Landsleute vorgeht, bezieht er sich positiv auf kommunistische Intellektuelle wie Harich, Janka und andere, die die SED-Führung verfolgte und inhaftierte. Zwar erwähnt er weder deren Kotau vor Stalin noch die Selbstkritik Harichs vor seiner Verurteilung, teilt jedoch offenbar deren Vorstellungen von einer Reform des Kommunismus.37 36 Martin Sabrow, Die Diktatur des Paradoxons. Fragen an die Geschichte der DDR, in: Günter Hockerts (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts, München 2004, S. 170. 37 Vgl. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, und Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002. Engler sieht die Bundesrepublik und die DDR auf Augenhöhe. Beide Systeme hätten Vor- und Nachteile gehabt. Aus seiner Perspektive stehen sich individuelle und soziale Menschenrechte gleichberechtigt gegenüber, wobei die individuellen eine „unendlich verdünnte, triviale und primitive
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Rein sozial- und gesellschaftsgeschichtlich orientierte Ansätze werden weder dem Anspruch auf eine angemessene Gesellschaftsanalyse noch der Beschreibung der Herrschaftsstrukturen in einem linkstotalitär verfassten Staat gerecht. Die von der SED-Politik systematisch betriebene Entdifferenzierung der Gesellschaft erschwert eine analytische Trennung von „System“ und „Lebenswelt“ und führt eine gesonderte Betrachtung der DDR in Form einer Gesellschaftsgeschichte ad absurdum. Es wäre geradezu fatal, die Gesellschaft der DDR als „eigenständige und nicht ableitbare Größe“38 zu bestimmen. Umgekehrt vernachlässigt eine Kennzeichnung der DDR als „stillgelegte Gesellschaft“39 das – bisher wenig erforschte – informelle Eigenleben von Teilen des Gemeinwesens. Die Entwicklung der Gesellschaft stand immer unter dem Primat der Politik, die versuchte, sich den jeweiligen Erfordernissen gesellschaftlicher Teilbereiche anzupassen bzw. diese nach ihren Vorgaben zu steuern. Da die DDR jedoch keine autarke Insel und somit Einflüssen von außerhalb ausgesetzt war, blockierte die zentralistische Politik teilweise funktional notwendige Prozesse. Vor allem der Weltmarkt und die innerdeutsche Systemkonkurrenz erzwangen schließlich eine (politisch gesteuerte) Veränderung, die den Konflikt zwischen externen und internen Vorgaben konstitutiv in sich trug. Im Ergebnis kam es zu einer verzögerten gesellschaftlichen Entwicklung, die aber zumindest im Bereich der Wirtschaft weitgehend dem Entwicklungsmuster westlicher Industrialisierung folgte bzw. folgen musste. Obschon die DDR wie andere realsozialistische Staaten gemäß ihres marxistischleninistischen Grundverständnisses auf eine technologisch induzierte Entwicklung der Produktivkräfte und damit die Weiterentwicklung der industriellen Basis setzte, vergrößerte sich gerade auf diesem Feld trotz aller Anstrengungen im Laufe der Jahrzehnte der Abstand zu den westlichen Ländern. Die Verlangsamung des Modernisierungsprozesses resultierte aus dem instrumentellen und technizistischen Verständnis der Produktivkraftentwicklung im Marxismus. Die politisch verordnete sozialstrukturelle und kulturelle Nivellierung und die damit einhergehende Verhinderung oder zumindest weitgehende Einschränkung eigenständigen Denkens und Handelns blockierten die Innovationskräfte, die über die technologische Entwicklung hinaus für den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess bestimmend sind. Obwohl die SED eine Überlegenheit des Sozialismus im Bereich von Technik und Wissenschaft proklamierte, hinkte die DDR zum Schluss dem technischen Fortschritt mindestens zwanzig Jahre hinterher und konnte im Wettbewerb nicht bestehen.
Form der Menschenrechte“ darstellen. Vgl. Wolfgang Engler, Das Leben der Ostdeutschen. Die Macht der kleinen Leute und das Paradox der demokratischen Revolution, in: Telegraph 2/1999. 38 So etwa bei Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 1/1995, S. 96 ff. 39 Siegrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19/1993, S. 5 ff.
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Sozialgeschichtlich orientierte Autoren begründen die (vermeintliche) Überlegenheit ihres Ansatzes auch mit Kritik an Totalitarismusmodellen. Sie behaupten, „totalitarismustheoretische Spielarten“ hätten „analytische Defizite in der Einzelforschung“ und seien deshalb methodisch unbrauchbar.40 Darüber hinaus unterstellen sie – was niemand behauptet –, die DDR sei nicht in den beiden Polen Anpassung und Widerspruch aufgegangen. So betrieben totalitarismustheoretische Ansätze, die Anspruch und Verwirklichung unter der Hand in eins setzen, eine Einengung, die dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht werde.41 Einer „Politik-reduktionistischen Sichtweise“ (Lindenberger) setzen sozial- bzw. gesellschaftsgeschichtlich orientierte Zeithistoriker die Erkenntnis entgegen, angesichts der Komplexität des Systems müssten sich Wissenschaftler damit abfinden, „dass die DDR nicht auf einen einheitlichen Begriff zu bringen ist“.42 Stattdessen „erfinden“ sie eine Vielzahl von Begriffen, die den Gegenstand – die DDR – mehr vernebeln als erhellen. Die neuerdings viel beschworenen „Bindungskräfte“ des SED-Staates z. B. entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Folge einer ideologisch gescheiterten Politik und einer restriktiven Vertreibungspolitik alter Eliten nach 1945. Es erfordert schon sehr viel Phantasie, das Arrangement der Menschen in einer totalitären Diktatur, die vermeintlich eine Bestandsgarantie hatte, da sie durch die sowjetische Besatzungsmacht geschützt war, als Resultat von „Bindungskräften“ zu bezeichnen. Sozialgeschichtliche Ansätze stehen bei der Beschreibung und Bewertung in der Gefahr, in ihrer Rede oder Annahme von der „sozialen DDR“ die partielle Nivellierung nach „unten“ mit einer sozial gerechten Gesellschaft gleichzusetzen. Dies setzt allerdings voraus, die privilegierten Schichten in der Darstellung außen vor zu lassen. Selbstredend produzierten die von der SED gesetzten Rahmenbedingungen eine gewisse Gleichförmigkeit der Lebensverläufe und eine vergleichsweise sozial homogene Gesellschaft, ohne dass diese jedoch als egalitär oder sozial gerecht zu bezeichnen wäre. Stattdessen kam es zu sozialen Differenzierungen und zu beträchtlichen materiellen Ungleichheiten.43 Entscheidender Faktor waren dabei immer die Nähe zur Macht oder die Gewährung von Freiräumen durch die Herrschenden.
40 Martin Sabrow, Die DDR in der deutschen Gesellschaft, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949 – 1989, Berlin 2001, S. 25. 41 Vgl. M. Sabrow (Fn. 40) und Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952 – 1968, Köln u. a. 2003. Belege für ihre Behauptung liefern die beiden Autoren freilich nicht. 42 M. Sabrow (Fn. 40), S. 35. Nimmt man diese „Erkenntnis“ für bare Münze, könnten tatsächlich komplexe Systeme und Staaten auch nicht auf einen einheitlichen Begriff gebracht werden. Das erinnert doch sehr an die Weisheit des Volksmundes, in der Nacht seien alle Katzen grau. 43 So besaßen 10 % der Konteninhaber etwa 60 % des Geldvermögens und auch die Haushaltseinkommen waren ungleich verteilt; insbesondere Rentner lagen mit einem hohen Anteil unter der Armutsgrenze. Vgl. K. Schroeder (Fn. 33), S. 701 ff.
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Weitgehend unbestritten ist heute unter ernstzunehmenden Sozialwissenschaftlern und Zeithistorikern die Kennzeichnung der DDR als „Diktatur“, die weder Gewaltenteilung noch – vor allem im politischen Strafrecht – Rechtsstaatlichkeit kannte, Menschen- und Bürgerrechte systematisch verletzte und deren Herrschaft nicht durch freie Wahlen legitimiert war. Dass es sich um eine „sozialistische“ Diktatur bzw. eine „sozialistische Parteidiktatur“ handelte, unterschlagen jedoch einige Autoren. Offenbar wollen sie „sozialistisch“ nicht mit „Diktatur“ zusammen nennen, weil sie befürchten, der „Sozialismus“, der ja ideologisch mehrere Facetten kennt, könnte generell diskreditiert werden. Auch wenn nur wenige Politiker und Wissenschaftler aus dem linksradikalen Spektrum den Diktaturcharakter in Frage stellen, entbrannte unter seriösen Wissenschaftlern eine Neuauflage des Streits um die Frage, ob die DDR darüber hinaus als ein totalitäres bzw. spättotalitäres System einzuordnen ist.44 Erneut wird auch gestritten, welche Kriterien bei der Beurteilung der DDR anzulegen sind. Der Potsdamer Zeithistoriker Sabrow lehnt, wie andere (linke) Wissenschaftler, die normativen Kategorien einer freiheitlich-demokratischen Ordnung ab, „weil sie das innere Band der außerhalb des eigenen Wertehorizonts liegenden Gesellschaftsverfassung nur sehr eingeschränkt zu fassen vermögen und auf deren tatsächliche Binnenplausibilität keinen systematischen Zugriff haben.“45
Damit ist Sabrow wieder beim Ansatz der systemimmanenten Forschung angelangt, die sich (inzwischen) als „sozialwissenschaftliche“ Forschungsrichtung bezeichnet. Im Kern aber nimmt sie die alten methodischen Prämissen und Bewertungskriterien der systemimmanenten Forschung erneut auf. Die Ablehnung der Kennzeichnung „totalitäres Regime“ seitens linker Politologen und Zeithistoriker resultiert weniger aus einer wissenschaftlich begründeten Analyse, als vor allem aus der Unkenntnis der Genese und Weiterentwicklung des Begriffs, dem Bestreben, das SED-Regime vom Nationalsozialismus begrifflich stärker abzusetzen und aus einer politisch motivierten Rücksichtnahme auf aktuelle politische Kontroversen bzw. auf Teile der ehemaligen DDR-Bevölkerung. Gegenüber dem Konzept der „stalinistischen Gesellschaft“, wie es zum Beispiel Hermann Weber vertritt, hat das Totalitarismuskonzept den entscheidenden Vorteil, die Reformunfähigkeit eines geschlossenen gesellschaftlichen Systems hervorzuheben. Dagegen suggeriert die Kennzeichnung sozialistischer Systeme wie der DDR als „Stalinismus“ eine Fehlentwicklung kommunistischer Systeme, die nicht zwingend ist, sondern systemimmanent korrigiert werden kann. Offensichtlich soll hiermit zumindest begrifflich und theoretisch die Option eines „demokratischen Sozialismus 44 Vgl. z. B. die Diskussion um den Gedenkstättenentwurf des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. 45 Martin Sabrow, Herrschaftslegitimation im geteilten Deutschland, in: Christoph Kleßmann/Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Schwalbach 2006, S. 61.
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oder Kommunismus“ aufrechterhalten werden. Die Geschichte hat freilich diese Annahme nicht bestätigt. Die Scheu vieler Wissenschaftler vor dem methodisch angemessenen Gebrauch eines modifizierten totalitarismustheoretischen Ansatzes zur Analyse von Geschichte und Gesellschaft der DDR ist nicht zuletzt deshalb unverständlich, weil, wie Jürgen Habermas betont, nach der Aufhebung der Teilung und des Systemgegensatzes in Politik und Wissenschaft ein antitotalitärer (oder zumindest antidiktatorischer) Konsens gebildet werden könnte, „der diesen Namen verdient, weil er nicht länger selektiv ist. Jedenfalls können liberale Haltung und demokratische Gesinnung der Geburtshilfe durch Antikommunismus oder Antifaschismus erst dann entbehren, wenn sich die politische Sozialisation der Nachwachsenden nicht mehr unter dem polarisierenden Generalverdacht gegen innere Feinde vollzieht.“46
Heute kann der Totalitarismusbegriff jenseits politischer Instrumentalisierung auf seinen wissenschaftlichen Kernbestand begrenzt bleiben, wobei selbstverständlich jeder Zentralbegriff in der Politischen Wissenschaft und der Zeitgeschichte einen politischen Bezug hat und tagespolitisch genutzt werden kann. Dies ändert jedoch nichts an dessen Tragfähigkeit, wenn er wissenschaftlich begründet und plausibel ist.47 Sogar Hans-Ulrich Wehler plädiert für die Einbeziehung einer Totalitarismustheorie bei der Analyse kommunistischer und/oder faschistischer bzw. nationalsozialistischer Systeme: „Aber die Regimephase kann sehr wohl mit Hilfe einer undogmatischen, historisch flexiblen Totalitarismustheorie angegangen werden. Berührungsängste sind hier ganz unangebracht, und die Versicherung, dass man noch nach den Charakteristika ,moderner Diktaturen‘ suche, verhindert allzu leicht die nüchterne Prüfung von Kategorien und Denkfiguren, die mit den totalitarismustheoretischen Überlegungen bereits zur Verfügung stehen.“48
Da für Wehler „die wichtigsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts in ihrem Kern totalitär und auch deshalb a limine vergleichbar sind“
und die politische Instrumentalisierung der Totalitarismustheorie nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben ist, steht einer vergleichenden Analyse der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur nichts mehr im Wege. Darüber hinaus hält er, anders als die im neuen Gewand wieder aufgeflammte systemimmanente Forschung, den Bezug auf die 46 Jürgen Habermas, Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden deutschen Diktaturen für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. IX, Baden-Baden 1995, S. 686 ff. 47 Zur Brauchbarkeit von Kategorien und wissenschaftlichen Ansätzen vgl. die Überlegungen in Norbert Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt/Main 1983. 48 Hans-Ulrich Wehler, Umbruch und Kontinuität, München 2000, S. 115.
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„Menschen- und Grundrechte des westlichen Verfassungs- und Rechtsstaats […] als Vergleichsmaßstab“
für unabdingbar.49 Völlig unverständlich bleibt, warum Historiker wie Christoph Kleßmann und Martin Sabrow den Begriff „totalitäre Diktatur“ mit dem Argument ablehnen, er produziere „verbreitet eher Blockade oder Ablehnung als Einsicht und Zustimmung“.50 Die Brauchbarkeit wissenschaftlicher Begriffe beurteilen sie erneut nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach dem Grad ihrer Zustimmung oder Ablehnung in der Bevölkerung. Hier wird ein opportunistisches und politisch motiviertes Verständnis von Wissenschaft und ihren Ergebnissen sichtbar. Kleßmann ergänzt seine Kritik an Totalitarismuskonzepten mit dem lapidaren Hinweis, „sie vermögen jedoch komplexe moderne Staatengebilde kaum angemessen auf den Begriff zu bringen.“
Eine Begründung für dieses Urteil gibt er nicht.51 Ohnehin bliebe zu klären, ob der SED-Staat tatsächlich „ein komplexes modernes Staatsgebilde“ war. Die entscheidende Schwäche des (alten) systemimmanenten und mitunter auch des (neuen) sozialgeschichtlichen Ansatzes bei der Analyse war und ist die Annahme, die SED hätte wie andere kommunistische Parteien erkannt, dass die bestehenden politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen dem sozialen und gesellschaftlichen Wandel hätten angepasst werden müssen, um eine sogar über die Ökonomie hinausgehende Modernisierung des Systems zu erreichen. Sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Forschungsansätze sollten die Argumentation der systemimmanenten Forscher mit der nun empirisch rekonstruierbaren Realität vergleichen, um nicht erneut der Versuchung zu erliegen, aus vornehmlich geschichtspolitischer Motivation heraus diesem Staat mittels „Bindungskräften“ oder metaphysisch konstruiertem „Konsens“ zwischen Herrschern und Beherrschten eine Stabilität zuzuschreiben, die er nie hatte. Ohne Gewalt bzw. Gewaltandrohung hätte die DDR nicht vier Jahrzehnte überleben können. Gegen die vorgenannten, sei es aus ideologischer Überzeugung oder mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit der ostdeutschen Bevölkerung, konstruierten Kennzeichnungen der DDR ist es analytisch sinnvoll, weiterhin von einem (spät)totalitären, sowjetisierten deutschen Teilstaat zu sprechen.52 Diese Charakterisierung nimmt die wesentlichen Dimensionen des SED-Staates auf: den totalitären Herrschaftsanspruch der SED, der in den 1980er Jahren nach und nach erodierte, den maßgeblichen 49
H.-U. Wehler (Fn. 48), S. 117. Christoph Kleßmann/Martin Sabrow, Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B39/1996, S. 3 ff. 51 Christoph Kleßmann, Der schwierige gesamtdeutsche Umgang mit der DDR-Geschichte, in: APuZ 30 – 31/ 2001, S. 5. 52 Vgl. die Ausführungen in: K. Schroeder (Fn. 33), S. 905 ff. 50
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Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht sowie den Bezug zum anderen deutschen Teilstaat im Kampf der Systeme. Das Bild der DDR in der Wissenschaft – so mein Fazit – ist 25 Jahre nach dem Mauerfall zumindest in der begrifflichen Kennzeichnung und der Wahl der Untersuchungsgegenstände äußerst umstritten. Indem Themen wie Kunst und Kultur oder Sozialstaat und Alltag losgelöst von der diktatorischen Dimension in den Vordergrund gestellt werden, entsteht oftmals ein verharmlosendes DDR-Bild. Tendenzen zur Weichzeichnung zeigen sich nicht nur bei DDR-Apologeten – zumeist ehemalige SED-Funktionäre und SED-Wissenschaftler – und im Umfeld der Partei „Die Linke“, sondern auch bei Sozialwissenschaftlern und Zeithistorikern, die (mehr oder weniger bewusst) anknüpfend an die systemimmanente Forschungsrichtung die Gesellschaft und den Alltag der DDR in den Vordergrund rücken und dabei Gefahr laufen, die diktatorischen Verhältnisse auf Rahmenbedingungen zu reduzieren. In vielen Beiträgen wird zumeist so pauschal und pauschalisierend von den Ostdeutschen geredet, als seien Lebensläufe und die Stellung zum System mehr oder weniger identisch gewesen. Dies wird den realen Verhältnissen vieler in der DDR Gebliebener und vor allem den in den Westen Geflohenen oder Übergesiedelten nicht gerecht. Diejenigen, die sich mehr oder weniger deutlich den Anmaßungen der SED-Diktatur widersetzten und hierfür erhebliche Nachteile in Kauf nehmen mussten, sind zu Recht gekränkt, wenn in der Auseinandersetzung immer nur von ost- und westdeutscher Sicht gesprochen und nicht die jeweilige Binnendifferenzierung beachtet wird. Die Vehemenz des Streites erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bezug der jeweiligen Wissenschaftler zum Sozialismus als System oder Utopie. Der prinzipiellen, nicht unbedingt auf die DDR bezogenen Befürwortung steht eine generelle, über die DDR hinausgehende Ablehnung des Sozialismus/Kommunismus gegenüber. Dabei geraten leider oft die Fakten, d. h. die Empirie des nach gut vier Jahrzehnten aus der deutschen Geschichte verschwundenen Systems einigen Wissenschaftlern aus dem Blick. Wie vor 1989 stehen sich auch heute zwei polare Deutungen und Bewertungen der DDR gegenüber: eine von der Macht- bzw. Herrschaftsstruktur ausgehende und in einem Totalitarismusmodell zugespitzte und eine von der gesellschaftlichen Basis ausgehende sozialgeschichtlich orientierte. Beide Interpretationen nehmen mehr oder weniger direkten Bezug auf die totalitarismustheoretischen oder systemimmanenten Zugänge und Interpretationen vor 1989. Die DDR ist vergangen – die Kontroversen um ihre historische und vor allem theoretische Einordnung und politische Bewertung bleiben bestehen.
1989 – Zufall oder Notwendigkeit? Brigitte Seebacher Eine Zahl. Ein Zeichen. Nie zuvor hat sich eine Zeitenwende in einem einzigen Jahr verdichten und auf einen einzigen Begriff bringen lassen – Mauerfall 1989. Wann hatte sich die Geschichte, die in vielen Ländern spielte, so anschaulich, anfassbar, vollzogen wie in jenem Augenblick, da in Berlin der Zement zerbröselte und zusammenwuchs, was zusammengehörte. Willy Brandt verlieh dem Ereignis die Kraft des Wortes, in das hineinlegen konnte, was immer einer hineinlegen wollte. Man sprach von Wahnsinn, glaubte an Wunder und überwiegend an „Wieder“-Vereinigung; es würde wieder sein, wie es einmal war. Dem Ereignis wurde ein innerer Sinn zugemessen. Nicht in der Form und nicht im Zeitpunkt, die mochten zufällig sein. Doch im Wesentlichen vollzog sich die Geschichte, so das unterschwellige Gefühl bis heute, mit Notwendigkeit. Helmut Kohl war auf einem schmalen Grat gewandelt, Volkes Wille aufnehmend, den Kreml nicht überfordernd. Die Sicherheit des Gefühls, das ihn trug, die Entschlusskraft, mit der er zu Werke ging, das Glück, das er dabei hatte, verstärkten den Eindruck, dass hatte kommen müssen, was kam. Eine Zeit erfüllte sich. Seither haben die Historiker und bisweilen auch die Akteure Ursachenforschung betrieben und um die Deutungshoheit gerungen. Westbindung, Ostpolitik, Nachrüstung, Einheitsschwüre und immer wieder Gorbatschow, die Glieder der Kette fügen sich nicht leicht zueinander und lassen sich auch nicht nummerieren. Welcher Stellenwert gebührt dem Krieg um Afghanistan? „Damit die Berliner Mauer fallen konnte, musste der erste Schlag in Afghanistan geführt werden“, sagt der damalige pakistanische Staatschef. Dabei bezieht er sich auf das Debakel, das die Sowjets nach dem Einmarsch Ende 1979 durchlebt und das die Amerikaner mit massiver Unterstützung der Taliban beschleunigt hatten.1 Kein Hinweis ist falsch. Aber was ist richtig? Je mehr Erinnerungen mitgeteilt, Forschungen angestellt und Deutungen geliefert werden, desto weniger scheint die Wahrheit ans Licht kommen zu wollen. Die Wahrheit über den Kalten Krieg und sein trotz langen Siechtums plötzliches Ende. Immer schon, seit Beginn der Teilung, hatten Regimegegner den Mut gezeigt, der die Macht beeindruckte. Sie ließ sich aber lange nicht beeindrucken, geschweige denn ins Wanken bringen. Die breiten Massen hätten immer weiter mit den Füßen abgestimmt, wäre nicht die Mauer hoch- und der Eiserne Vorhang herunter gezogen worden. Mit unüberwindbaren Grenzen lebte die DDR noch zwei Jahrzehnte unge1
Pervez Musharaf in einem Gespräch, in: Der Spiegel 22/2005.
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fährdet. Zu Beginn der achtziger Jahre taten sich Risse auf, die im Laufe des Jahrzehnts tiefer wurden, spiegelbildlich zur Lage im Ostblock insgesamt. Die DDR stand und fiel mit der Macht des Kreml. Warum also hat die Sowjetunion die Ideologie solange unterfüttern und das Imperium mit eisernem Griff so lange umfassen und zusammenhalten können? Und dann nicht mehr? Wo haben jene Kräfte, die Ideologie und Imperium unterminierten, ihren Ursprung? Und haben sie nur im Osten gewirkt? Wer ist warum Sieger im Kalten Krieg gewesen? Heute, 25 Jahre später und im Licht galoppierender Globalisierung muten die deutschen Debatten selbstgefällig an. Die nationale Nabelschau ist ihr hervorstechendes Merkmal. Um das Verständnis der Zeitenwende und jener Wirkungsmächte, die sie erst herbei- und dann über sie hinausgeführt haben, wird noch kaum gerungen.
I. Nie zuvor herrschte so viel Gewissheit. Darüber dass die Übel der Welt der Vergangenheit angehörten. Die Ursachen der Verwerfungen waren beseitigt; das Imperium der Sowjetunion zerbrochen, die Ideologie verfallen; die Teilung in Ost und West, sichtbar geworden in der Teilung Deutschlands, überwunden; die Ära des Kalten Krieges versunken. Man wusste nicht, welche neue Ära folgen würde, und behalf sich mit dem Wort von der Zeit-nach-dem-Kalten-Krieg, der postcold-war-order. Selbst der Konflikt zwischen Nord und Süd, der im Jahrzehnt zuvor die Auseinandersetzung zwischen Ost und West überlagert hatte, würde sich nun entschärfen lassen. Vorbei die Zeit, in der ein Land in Geiselhaft genommen und Stellvertreterkriege geführt werden konnten. Eine Friedensdividende lockte. Geld, das statt in die Rüstung in den Kampf gegen Hunger und Armut fließen würde. Der Kampf zweier Supermächte war ausgekämpft. Und der Sieger, die Vereinigten Staaten von Amerika? Sie würden sich dem Willen der Völkergemeinschaft beugen. Die Vereinten Nationen sahen einer neuen und neuartigen Bedeutung entgegen. Im Krieg gegen den Irak, der sich am 2. August 1990 Kuweit einverleibt hatte, bestaunte die Welt die elektronisch gesteuerten Waffen und beunruhigte sich darüber nicht. Denn das UN-Mandat wurde gesucht und respektiert; der Marsch auf Bagdad fand nicht statt. In seiner Rede zur Begründung des Militärschlags hatte sich Präsident Bush auf das Ende des Kalten Krieges bezogen, von einem historischen Augenblick gesprochen und eine neue Weltordnung ausgemalt: „An order in which a credible United Nations can use its peacekeeping role to fulfill the promise and vision of the U.N.’s founders.“2 Die Hochstimmung war nicht allgemein und der Einwand durchaus konkret. Ein deutscher Nationalstaat habe Hitler und den Holocaust hervorgebracht und trage das Unheil in sich. Ob ernst oder nur aufgesetzt, das Frankreich Mitterrands, der sich erst als Sozialist und dann als Europäer präsentierte, und mehr noch das Großbritannien 2
Rede vom 16. 1. 1991, in: US-Information Service, Bonn 1991.
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der Eisernen Lady, die sich der ökonomischen Erneuerung verschrieben hatte, wetterten laut und vernehmlich gegen eine deutsche Vereinigung. Das Recht auf Selbstbestimmung? Die Bekenntnisse, seit den frühen fünfziger Jahren in schöner Regelmäßigkeit abgelegt, schienen für den Ernstfall nicht gedacht gewesen. Oder vergaß man sie über der Angst vor einer alt-neuen Macht in der Mitte Europas? Vor der Wiederkehr des Immergleichen? Auch in Deutschland wurde der Widerspruch gegen die Einheit vorgebracht, in der DDR von den einstigen Dissidenten, die erst den eigenen Staat reformieren und dann, vielleicht, über einen Zusammenschluss nachsinnen wollten. In der Bundesrepublik, überwiegend im linken Lager, ging es lautstark und mit erhobenem Zeigefinger zur Sache. Jürgen Habermas hatte zwei Jahrzehnte lang, gerade in den achtziger Jahren, den Ton angegeben. Jetzt verstärkte er die Abwehr gegen einen Einheitsstaat durch Geißelung der spätkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Im Wort vom „DM-Nationalismus“3 wurden jene zwei Stränge verflochten, die der deutschen 68er Bewegung das intellektuelle Gepräge gegeben hatten: Antifaschismus und Antikapitalismus. Wo würde ohne diese Gewissheiten und ohne die DDR jene „kulturelle Hegemonie“ bleiben, die man gerade durchgesetzt hatte? Ein Vierteljahrhundert aber deckt auch schwere Irrtümer zu. Unter dem Befund von damals hat der Nimbus von Habermas bis heute nicht gelitten. Über die Einwände, mochten sie draußen oder drinnen erhoben worden sein, ging die Zeit rasch hinweg. Mitterrand drehte bei, wie es seine Art war, wenn Gegenwind aufkam und die Würfel fielen. Mrs. Thatcher stürzte im November 1990 auch darüber, dass sie die Zeichen der Zeit verkannt und ihr Deutschland-Bild, ausgemalt im Jahr 1942, nicht überdacht hatte. Die deutschen Kritiker des Kohl’schen Einheitskurses stellten sich auf den Boden der Tatsachen, unverzüglich, sobald diese geschaffen waren. Der hohe moralische Ton verstummte. Die ihn angestimmt hatten, waren beweglich und mit letztem Ernst ohnehin nie bei einer Sache. Jedenfalls wollten sie sich künftiger Wirkungsmöglichkeiten nicht begeben und taten, als sei insoweit nichts gewesen. Der Streit um Selbstbestimmung und nationalstaatliche Einheit hatte sich erschöpft. Erörterungen, ob Deutschland den Weg nach Westen oder, wie es die antinazistische Tradition vorgab, zu sich selbst gefunden habe, waren Nachhutgefechte. In Festreden und Feuilletons wurde das Gerede von den Gefahren fortgesetzt, gewohnheitsmäßig und auch um eine wichtige Nuance bereichert: Der Nationalstaat könne den Nationalismus in sich tragen und der Sozialstaat, der sich gegen keinen Staatssozialismus mehr behaupten musste, unsozial werden. Die Gespenster wurden immer schemenhafter. Die Wirklichkeit diktierte eigene Gesetze, auch wenn noch lange verborgen blieb, wie neu diese Gesetze waren. Das vereinte Land hatte mit sich selbst zu tun und suchte weder Mittel noch Wege, alte Machtspiele neu anzusetzen. Rhetorik und rege Reisetätigkeit täuschten nicht 3 Jürgen Habermas, Nochmals: Zur Identität der Deutschen. Ein einig Volk von aufgebrachten Wirtschaftsbürgern?, in: ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990, S. 205 – 223, hier S. 205.
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darüber hinweg, dass Deutschland in keiner Mitte mehr lag und allein keine Macht mehr darstellte. Die Europäische Währungsunion ist auch insoweit eine Lehre. Und im Innern? Über die rasche Anpassung der Lebensverhältnisse, zunächst in der sich auflösenden DDR, dann in den neuen Ländern, gab es Streit in vielen Einzelheiten, aber nicht im Grundsätzlichen. Die Bundesrepublik verstand sich als Sozialstaat und so würde es das vereinte Deutschland auch tun. Gelegentlich wurde erörtert, so im Hinblick auf Gleichberechtigung und Kinderbetreung, ob nicht auch die DDR nachahmenswerte Beispiele gegeben habe; es blieb bei der Erörterung. Dem Wunsch der DDR, einfach nur beizutreten, hatte die Bundesrepublik nur zu gern entsprochen. Damit konnten die westlichen Standards, aus Überzeugung oder der Einfachheit halber, auf die neuen Länder ausgedehnt werden. Was kennzeichnete, materiell und ideell, die Standards und warum rührte sich kein Protest gegen ihre allgemeine Gültigkeit? Und warum wurden sie angesichts rasant wachsender Schuldenberge nicht im Westen selbst hinterfragt? Immerhin war der westliche Sozialstaat 1989, vor der Zeitenwende, schon lange nicht mehr bei Kräften. Zwar sank die Neuverschuldung, doch alle anderen Indikatoren deuteten auf anhaltende Überdehnung, unbeschadet der Frage, welchem Ideal mit welchen Mitteln nachgestrebt wurde. Die DDR war Inbegriff staatlicher Allmacht, versorgend, vorsorgend, bevormundend. Niemand war für sich selbst verantwortlich, niemand durfte es sein. Ist damit nicht auch ein Merkmal des westlichen Sozialstaats erfasst? Groß war die Sorge, die Menschen für das System haftbar zu machen, und groß daher das Streben, ihnen Sicherheit zu bieten. War nicht Sicherheit ein tragendes Prinzip auch des eigenen Sozialstaates, das nicht angetastet werden durfte? Darüber verlor sich der Mut, die systembedingten Folgen des Umbruchs auch nur beim Namen zu nennen. Wenn alle einer Arbeit nachgehen mussten, ob die nun ökonomisch sinnvoll war oder nicht, schnellte im Übergang zur Marktwirtschaft die statistische Arbeitslosigkeit zwangsläufig in die Höhe. Und wenn die Renten, dem westlichen Niveau rasch nahe kommend, aus Kassen bezahlt wurden, in die niemand eingezahlt hatte, musste auch dieses Defizit steigen. Dass die DDR zu den zehn größten Industriestaaten der Welt gezählt hatte, war westliches Wunschdenken. Es grenzte an Selbstbetrug. Als die Treuhand ihre Arbeit aufnahm, wurde mit einem Ertrag von 300 Milliarden Mark gerechnet. Als sie ihre Bücher schloss, verzeichnete die Bilanz 500 Milliarden Verlust. Unterm Strich kostete der Verkauf der Staatsbetriebe 800 Milliarden Mark. Welch eine Erbschaft. Eine Reform an Haupt und Gliedern? Der Augenblick war nicht geeignet und der Umbruch ohnehin groß genug. Woher hätte im Westen der Wille kommen sollen umzubauen, was man nicht umbauen wollte und woran man gewohnt war? So erneuerten, wie von Geisterhand gezogen, Nationalstaat und Sozialstaat jene Ehe, die im 19. Jahrhundert geschlossen worden war. Und das in einem Augenblick, in dem die Zeichen weltweiten Umbruchs nicht auf Wiederkehr standen, sondern auf Wagnis. Die Zeitgenossen, gebannt von den Erscheinungen und Erschütterungen an der ideologisch-imperialen Oberfläche, dachten darüber nicht nach und legten Wert auf das „Wieder“ in der Vereinigung. Bis heute. Auch Helmut Kohl wusste um neue Um-
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stände, hielt sie jedoch für ephemer und weigerte sich, von anderem zu sprechen als einer „Wieder“-Vereinigung. So konnte man weitermachen wie bisher. In seiner strikten Abwehr gegen die „Wieder“-Vereinigung – bei gleichzeitigem leidenschaftlichen Schwur auf die Einheit, eine „Neu“-Vereinigung – stand Willy Brandt allein und zog insoweit keine Spuren. Er ahnte spätestens seit den 80er Jahren, dass neue Kräfte am Werk waren und nichts werden würde, wie es war. In der Zeitenwende fühlte er sich bestätigt; die Sozialdemokratie kam auch dort nicht wieder auf die Beine, wo sie einstmals gegründet und stark gewesen war. Die amerikanische Art, die Zeitenwende allen Beiwerks zu entkleiden und als Sieg von Demokratie und Kapitalismus zu preisen, stieß in Deutschland, wie in allen europäischen Sozialstaaten, auf wenig Gegenliebe. Doch als Francis Fukujama das „Ende der Geschichte“ verkündete, fand er breiten Widerhall. Die Formel war einfach, eingängig, vergangenheitsbezogen, auf Stillstand gerichtet. Es werde zwar noch Ereignisse geben, aber eine universale Entwicklung über den liberalen Staat hinaus sei nicht mehr denkbar. Schon 1988, also lange vor dem Mauerfall, hatte er das Ende des Kommunismus wie der Ideologien überhaupt ausgerufen und den ultimativen Triumph der westlichen Idee gefeiert. Die liberale Demokratie und die liberale Wirtschaft, die er ursächlich nicht miteinander verknüpft wissen wollte, setzten „ein Bewusstsein“ voraus: „I believe that both economics and politics presuppose an autonomous prior state of consciousness that makes them possible.“ Warum aber ist diese Voraussetzung jetzt gegeben? Warum ist die Planwirtschaft erst in den achtziger Jahren unrettbar abgestürzt und hat der Kommunismus erst jetzt seine Fahnen eingezogen? Der Denker wandelt auf hegelianischen Spuren und begnügt sich mit dem Hinweis auf das Bewusstsein, das Eliten und Regenten eben jetzt erst erfasst habe.4 Eine Zauberei im Reich der Ideen?
II. Am 11. Oktober 1998, unbeeindruckt von der asiatischen und russischen Finanzkrise, tritt Merrill Lynch, eine der großen Investmentbanken der Welt, die weitere zehn Jahre später, in der Finanzkrise 2008, vom Erdboden verschwinden sollte, mit ganzseitigen Anzeigen hervor. Unter dem Titel „Die Welt ist 10 Jahre alt“ wird mitgeteilt, wann sie geboren wurde, nämlich als die Mauer fiel, und wie sie heißt: Global Economy. Viele Märkte seien gerade erst befreit worden. Doch damit werde das Versprechen nicht kleiner; es war ein Jahrzehnt zuvor gegeben worden, damals als die alte, von lauter Mauern durchzogene Welt verschied. Die Ausbreitung von freien Märkten und Demokratie – in dieser Reihenfolge! – erlaube überall auf der Welt immer mehr Menschen, nach einem besseren Leben zu streben, „to turn their aspirations into achievements.“ Technologie habe die Macht, nicht nur geo4 Francis Fukujama, The End of History?, in: The National Interest, Summer 1989, S. 3 – 118, hier S. 7 f.
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grafische Grenzen einzureißen, sondern auch die menschlichen. „It seems to us that, for a 10-year-old, the world continues to hold great promise. In the meantime, no one ever said growing up was easy.“5 Die Mauer ist gefallen, und in gleichem Augenblick, so die Nachricht, blüht der Markt auf und wird global. Die Globalisierung marschiert, auch wenn man noch nicht weiß oder wissen will, was sie mit sich fortreißen wird. Schon im Verlauf dieses ersten Jahrzehnts stellt sich heraus, dass tatsächlich nicht nur die eine Mauer gefallen ist und es in sich geschlossene Territorien nirgends mehr gibt. Keine Inseln mehr, keine Zufluchtsorte. Und kein Geschrei, mit dem sich das Gesetz der Globalisierung aufheben ließe. Dieses Gesetz bezeichnet die neue weltweite Arbeitsteilung; ein Auto wird nicht mehr nur in einem Land produziert und eine Buchhaltung nicht mehr dort getätigt, wo das Unternehmen sitzt. Der Verweis auf Handel und Handelswege, wie sie früheren Epochen eigen waren, sticht nicht. Erst jetzt, seit der Geburt jener neuen Welt, die nicht nur Merrill Lynch feiert, lösen sich die nationalen Volkswirtschaften auf und entgrenzen sich. Sie sind sich nicht mehr selbst genug und eingebunden in einen Wettbewerb, den nur vernachlässigt, wer auf einem sehr hohen Ross sitzt und verdrängt, dass Wohlstandsverluste der Preis sind. Die Deutschen richteten sich ein im gemeinsamen Haus. Es hatte einen neuen Anstrich, der alles überstrahlte, auch das alte Interieur. Das Leben würde sich, koste es was es wolle, in ruhigen Bahnen fortsetzen lassen. Eine Geschichte hatte sich erfüllt. Musste deshalb gleich eine neue kommen? Die Sicht war bequem, auch erhebend. Wo die idealistische deutsche Philosophie nachwirkte und Fukujama ihr nachspürte, aber vor allem im alten Europa musste der Anfang, der dem Ende innewohnte, übersehen werden. Es war ein Anfang unter technischen, materialistischen Vorzeichen. Ein Anfang mit unbekannten, auch unheimlichen Größen. Ein Anfang, von dem man vielleicht schon ahnte, dass er jahrhundertealte Traditionen aufbrechen würde, im Denken, in der Kunst, in der Politik. Das Bewusstsein breitete sich zuerst dort aus, wo die Global Economy ihren Ausgang genommen hatte – in Amerika. Wer lernen wollte, lernte rasch: Der globale Markt, gekennzeichnet durch Arbeitsteilung, hat zwei Ursachen: Technologie und Teilnehmer. Diese Ursachen wirken weiter. Sie sind die Antriebskräfte, die Märkte immer weiter zu verfeinern, auch zu vereinheitlichen. Hinter der Mauer, die in Berlin so spektakulär einstürzte, kamen eben nicht nur die Landsleute zum Vorschein, sondern auch eine halbe Milliarde Mittel- und Osteuropäer sowie Bewohner der ehemaligen Sowjetrepubliken, eine Milliarde Inder und eine Milliarde Chinesen. Sie alle betraten nun die Bühne der Welt, im Angebot nichts als ihre Arbeitskraft und ihren Willen besser zu leben. China hatte den kapitalistischen Pfad schon in den achtziger Jahren beschritten und gelernt, dass die Katze Mäuse fangen müsse, gleich welcher Farbe, um zu bestehen. Dank der Eigendynamik, die freigesetzt wurde, und wegen seiner schieren Größe wurde China eine Kraft sui generis, die den Prozess der Globalisierung vorantrieb, als das Wort noch kaum in 5
Zit. nach Thomas L. Friedman, The Lexus and the Olive Tree, New York 1999, S. XVI.
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Umlauf war. Für die Inder war tatsächlich erst die Zeitenwende der Anlass, der sozialistischen Experimente abzuschwören und die eigenen Mauern einzureißen. Stattdessen errichteten sie, mathematisch begabt und englischsprachig, was bald das „Backoffice“ der Welt genannt wurde. Eine erste, zweite und dritte Welt ließen sich kaum noch voneinander abgrenzen. Der Gegensatz zwischen Nord und Süd, der zu Beginn der achtziger Jahre ausgemacht worden war, hatte sich schon mit dem Ende der Blockpolarität abgeschliffen. In Südostasien waren Länder den Industrialisierungsweg gegangen, die kurz zuvor nur Reis produziert hatten. Die Tiger, wie sie bald hießen, warfen ihr Gewicht in die Wagschale der Weltwirtschaft. Und wurden, im Gegenzug, an deren Maßstäben gemessen. Ihr verfilzter Kapitalismus, crony capitalism, war kein Aushängeschild. Die Globalisierung diktiert nicht nur die Frage, ob jemand teilhaben will, sondern auch wie. Diese erste weltweite Finanzkrise hatte sich von Südostasien über Russland nach Brasilien fortgepflanzt. Die Domino-Theorie war einst politischer Natur gewesen und Ausfluss des Kalten Krieges; wenn erst ein Staat in Südostasien den Kommunisten in die Hand fiele, würde die gesamte Region und bald die ganze Welt nachfolgen, so lautete die Logik des Vietnam-Krieges. Jetzt lebte sie auf, unter ökonomischem Vorzeichen, und bezeichnete jene allseitige Vernetzung, die das Merkmal der Globalisierung ist und den neuen Technologien innewohnt. Ohne Vernetzung keine Globalisierung! Sie ist der Anfang von allem. Schon in jenem ersten Lebensjahrzehnt der Global Economy ist die Leistung des Rechners immer größer geworden und hat die Speicherkapazität um mehr als 60 Prozent zugenommen. Im gleichen Zeitraum sind die Kosten rapide nach unten gegangen, von 5 Dollar pro Megabyte auf 5 Cents, und die Geschwindigkeiten, mit der Daten übertragen und Entfernungen überwunden werden, nach oben. Darin liegt, so Thomas Friedman schon 1999, die demokratisierende Wirkung der neuen Technologien begründet. Hunderte von Millionen Menschen rund um den Globus könnten unter einander in Verbindung treten und austauschen, was sie wollten, „news, knowledge, money, familiy photos, financial trades, music or television shows in ways, and to a degree, never witnessed before.“6 Der moderne Mensch, vernetzt und mobil, verhält sich anders als das Wesen, das an die überkommenen Kategorien von Raum und Zeit gewohnt ist. Im Netz verändern sich die kognitiven Gewohnheiten. Die Global Economy ist das Ergebnis einer Entgrenzung. Nachdem die Computertechnik die Labore erobert hatte, konnte der Weg zur Entschlüsselung des Lebens und sogar zur Entzauberung des Bewusstseins beschritten werden. Es war ein Zufall mit Sinn, dass inmitten der Zeitenwende 1989 erstmals eine Gentherapie angewendet wird; in die immunkranken Körperzellen eines Mädchens werden neue Gene eingeschleust. Und es fällt gerade jetzt der Startschuss für das Humangenomprojekt; das menschliche Erbgut wird kartografiert. Noch bevor der 10. Geburtstag der Global Economy eingeläutet wird, hat Dolly das Licht erblickt, jenes schottische Schaf, 6
Ebd., S. 50.
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das Aussichten eröffnet, mittels der Klontechnik auch menschliche Embryonen herzustellen. Das Spiel mit dem Feuer, das Prometheus einst begann, wird weiter gespielt, immer weiter. Die Entfesselung der technischen Produktivkräfte müsse „moralisch“ beherrschbar bleiben und die „Enthemmung“ sei begründungspflichtig,7 so und ähnlich lauten die Einwände, von Habermas bis Ratzinger. Vergebens. Welche Moral? Nach wessen Maßstab? Wer wollte was global bestimmen? Der Rubikon hat sein Bett schon immer verlegt, jetzt tut er es in bisher völlig unbekanntes Gelände. Und die Moral wandelt sich auch, mit Zeitverzug. In der Epoche der Industrialisierung verlangte der technische Fortschritt nach dem Kollektiv; Solidarität war die Parole. Heute verlangt er nach dem Individuum. Der Zusammenhang ist offenkundig: „Deregulierung und Flexibilisierung sind nicht mehr nur Forderungen der neoliberalen Ideologie und von der Globalisierung ausgehende wirtschaftliche Zwänge, sondern entsprechen auch dem Emanzipationsstreben der Individuen.“8 Die Krise von 2008 hat die Diagnose nur oberflächlich widerlegt; andernfalls könnte der Reformdruck auf die europäischen Schuldenländer nicht so hoch sein. 1989 ist die Chiffre für eine gewaltige Umwälzung. Was ihr zum Opfer gefallen und was aus ihr hervorgegangen ist und noch hervorgeht, kann wissen, wer wissen will. Im Abstand von zweieinhalb Jahrzehnten lässt sich benennen, welche Epochen einander abgelöst haben. Auf den Kalten Krieg, der in das Industriezeitalter weit hineinragt, folgt die Globalisierung. Erst nach ihrem zehnten Geburtstag hat die Global Economy, eine wesentliche Triebkraft des Prozesses, so richtig Fahrt aufgenommen und die Welt zu dem gemacht, was sie unwiderruflich geworden ist – flat. „The World is Flat“ heißt denn auch der Titel jenes amerikanischen Bestsellers, der manchem Anschein zum Trotz seine Gültigkeit nicht verloren hat.9 Er beschreibt eine Welt, in der Deutschland nur noch vorkommt, weil hier die eine Mauer auf so spektakuläre Weise gefallen ist. Wenn die Chiffre 1989 aber nicht nur für dieses eine Ereignis steht, sondern für einen Prozess, wo liegen dessen Anfänge? Gewiss nicht in deutschen Treueund Einheitsschwüren, nicht in der Aufstellung einiger neuer Raketen und nicht in der Persönlichkeit eines einsichtigen Sowjetherrschers.
III. Die 80er Jahre läutet ein bis dato unbekanntes Wesen ein. Zur Symbolfigur des neuen Jahrzehnts wird Sony’s Walkman. Jetzt, 1980, ist sich das Individuum, wenn es unterhalten werden will, selbst genug. Im August 1981 bringt IBM jenen PC auf den Markt, der die Initialzündung für eine riesige Industrie ist und ein neues Zeitalter einläutet. Noch ist sich niemand des7 Rüdiger Safranski, Vom Recht, geboren und nicht gemacht zu werden, in: FAZ vom 23. 9. 1999. 8 Florian Rötzer, Mein Genom gehört mir, in: FAZ vom 2. 2. 2001. 9 Thomas L. Friedman, The World is Flat, New York 2005.
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sen bewusst. Der Chef von Intel, 1968 gegründet, kann sich 1981 nicht vorstellen, dass „irgendwann auf jedem Schreibtisch ein PC stehen“ werde. Der Mikroprozessor, so Craig Barnett, sei schon in den 70er Jahren erfunden worden, doch niemand habe gewusst, „was der eigentlich zu leisten vermag.“ Mit dem PC sei, immerhin, „das Spektrum der Möglichkeiten“ demonstriert worden.10 Mit der industriellen Standardisierung, die IBM 1981 schafft, wird, in Hard- wie Software, Ersparnis durch Mengeneffekte möglich. Es purzeln die Preise. Und die demokratisierenden Wirkungen verstärken sich. Der PC erobert eine Welt, deren Herz im Silicon Valley schlägt; der Name setzt sich nun vollends durch. Die neuen Technologien sind eine amerikanische Angelegenheit. Eine solche Dynamik hat man noch nicht gekannt, nicht in diesem Tempo. Microsoft, 1975 von zwei sehr jungen Leuten, Bill Gates und Paul Allen, gegründet, wird 1981 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und 1986 an der Börse notiert. Als die Global Economy ihren zehnten Geburtstag feiert, Ende der 90er Jahre, zählt Microsoft weltweit 29.000 Beschäftigte. Zunächst aber schlägt sich der Computer nicht, noch nicht, in ökonomischen Ziffern nieder. In den siebziger Jahren hatte sich das Wachstum in Produktivität und Einkommen deutlich abgeschwächt. Der Wohlfahrtsstaat fing an Schulden zu machen, um zu überleben. Dieser Abwärtstrend wird oft mit den beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1979 in Zusammenhang gebracht. Doch war der Fortschritt schon vorher ins Stocken geraten, und gesellschaftlicher Wandel hatte sich längst schon bemerkbar gemacht, spätestens seit 1968. Kann überhaupt ein Ölpreis, der im übrigen auch wieder sank, eine so weitreichende Krise auslösen? Und ein so weitreichendes Krisenbewusstsein, wie es die westliche Welt erfasste? In einer bahnbrechenden Untersuchung, erschienen 1989, hat der amerikanische Wissenschaftler Paul A. Davis, die Ungleichzeitigkeit zwischen technischem Fortschritt und ökonomischem Ertrag erklärt. Sein Beispiel ist der Dynamo, sein Interesse aber gilt dem Computer. Er zieht ausdrücklich die Analogie.11 Die Inkubationszeit der Computertechnologien ist die Zeit, in der sich die Möglichkeiten der alten, schweren, energieintensiven Industrien erschöpfen; sie gründeten in Fließband und Massenproduktion. Im rhetorischen Lärm, den Ronald Reagan verbreitete, als er zu Beginn des Jahres 1981 ins Weiße Haus einzog, ging unter, dass die amerikanische Wirtschaft einen wenn auch noch schmalen Wachstumspfad bereits beschritten hatte. Die Reaganomics – Wachstumsschübe durch Inflations- und Steuersenkung sowie Lockerung des Regelwerks – sind denn auch nicht die Ursache des Aufschwungs gewesen. Sie begünstigten jedoch die Entfaltung der neuen Technologien. Sie verlangten genau das, was in den Vereinigten Staaten ohnehin im Kurs stand und nun, in der Angebotsökonomie, erst recht gefragt war – Individualisierung, Flexibilisierung und, frei nach Schumpeter, kreative Zerstörung. Die alten Schwerindustrien verfielen. Arbeitsplatzverluste wurden mehr als wettgemacht durch neue Jobs im Zuge 10
Craig Barnett in einem Gespräch, in: Der Spiegel 15/2006. Paul A. David, Computer and dynamo: the modern productivity paradox in a not-toodistant mirror, Stanford University 1989. 11
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neuer Produkte. Zum Vergleich: Helmut Kohl und seine christlich-liberale Regierung sind, am Beginn der 80er Jahre, angetreten mit dem Schlachtruf, die sozialdemokratischen Hinterlassenschaften wegzuräumen und die Bundesrepublik zu neuen Ufern zu führen. Nichts davon wird wahrgemacht. In trauter Eintracht nehmen alte und neue Akteure den Faktor Arbeit als feste unveränderliche Größe und folgen der Parole, die der überkommenen Industriegesellschaft eingewoben ist – Verteilung. Wochen- und Lebensarbeitszeit werden kräftig gekürzt. Innovation? Fehlanzeige! Wo soviel erhalten und subventioniert wird, macht der Erfindergeist sich rar. Die Mittel, die in den Bergbau fließen, das Herzstück der Industriegesellschaft, bleiben in den 80er Jahren so hoch, wie sie seit der Kohlekrise Ende der 60er Jahre gewesen sind. Das Denken wandelt in nationalen Bahnen, in der Wirtschaft allerdings immer weniger. 1989 erwirbt die Deutsche Bank eine englische Investmentbank und begibt sich auf den Weg zum globalen Institut. In einem Akt von höchster Symbolkraft entscheidet im selben Jahr 1989 die Firma Mannesmann, gegründet in der hohen Zeit der Industrialisierung, aus dem Stahl aus- und in die Telekommunikation einzusteigen. 1989 orientiert sich auch eine finnische Papierfabrik neu; Nokia wendet sich ab sofort dem Mobiltelefon zu. Als das Jahrzehnt beginnt und der Computer marschiert, finden nicht nur in den USA, in Großbritannien und in Deutschland Regierungswechsel statt. In Frankreich dreht ein Präsident die Schraube kräftig zurück und schreibt einen „Socialisme à la française“ auf die Fahnen. Als sei das Land noch sein eigener Herr. Nach nur zwei Jahren, 1983, wird der Bankrott angemeldet und eine Kehrtwende eingeleitet. Kehrtwende? Sie besteht lediglich darin, dass weitere Wohltaten nicht verteilt werden. Die Strukturen verfestigen sich. Mit der Folge, dass sich Frankreich im Zeitalter der Globalisierung besonders schwer zurechtfindet. Der unterschwellige auch in Deutschland tief verankerte Glaube, dass mit einem Strukturkonservativismus das vertraute Denken und die vertrauten Werte gerettet würden, trügt überall. Familie und Vaterland, Kapital und Arbeit, Christentum und Sozialismus, einschließlich aller seiner Ableger wie der katholischen Soziallehre, Kollektiv und Individuum, Bewahrung und Vision, Rechts und Links – in diesen 80er Jahren wird alles durcheinandergewirbelt. Denn es kommt jene Welt an ihr Ende, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Damals haben sich die Kategorien herausgebildet, die uns heute noch hindern, die neue Welt zu erfassen. Es erschöpften sich auch die Möglichkeiten einer Gesellschaft, die geprägt war von Klassen und Kollektiven, Hierarchien und Bindungen, nationalen Begrenzungen und ideologischen Bestimmungen. Die Arbeiter konnten sich der kapitalistischen Ausbeutung nur gemeinsam erwehren, in Solidarität. Der Sinn des Kampfes, die Seele, lag in der Utopie, der Vision eines Zustands, den August Bebel sozialistisch nannte und den er paradiesisch ausmalte. Erst später brach der Konflikt auf, der in der Arbeiterbewegung angelegt war: Wie gelangt man dorthin? Friedlich oder durch Zwang, mit dem Stimmzettel oder dank einer kämpfenden Vorhut, einer Avantgarde,
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durch Reform oder Revolution? Die Bewegung spaltete sich im Ersten Weltkrieg über der Frage der Gewalt, beschleunigt durch den bolschewistischen Umsturz in Russland. Die Parteien des freiheitlichen, demokratischen Sozialismus blieben der Arbeiterklasse verhaftet, solange diese Bestand hatte, und dem sozialistischen Endziel verpflichtet, solange es Halt und Hoffnung gab. Erst als sich in den fünfziger Jahren die Klassengrenzen abschliffen und die Arbeiter, durch Wohlstand beflügelt, in die Gesellschaft hineinwuchsen, schüttelte die SPD die Dogmen ab. Verstaatlichung der Produktionsmittel und Planwirtschaft wurden Fragen der Zweckmäßigkeit. Die Godesberger Programmatik beinhaltete die Öffnung zur Volkspartei, von dem alten, noch durchaus kräftigen Stamm ausgreifend, diesen nicht etwa kappend. Der Glaube an die Kraft des Kollektivs und die Macht des Staates und dessen Aufgabe der gerechten Güterverteilung trug auch und gerade die Godesberger SPD. Er trug solange, wie die Gesetze der Schwerindustrie, von Kohle, Stahl und Elektrizität in Kraft waren und dauerhaftes Wachstum bescherten. Die Sowjetunion zwang ihr planwirtschaftliches System, von Stalin 1928 eingeführt, dem Imperium auf, das sie sich 1945 einverleibt hatte: Je schwerer, größer, länger, desto besser. „Weight equals value“, lautete der Grundsatz während des Kalten Krieges. Die Kombinate waren in sich geschlossene Welten, gesteuert von einer zentralen Instanz. Aller Systemmängel zum Trotz, jene Möglichkeiten, die der Schwerindustrie innewohnten, wurden auch im Ostblock genutzt. Andernfalls hätten die Wachstumsraten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nicht so beachtlich sein können. Immerhin, die Sowjets verfügten über den Sputnik und leistungsstarke Raketen. Zu Zeiten der KSZE, 1975, als sich der Bogen der Entspannungs- und Ostpolitik schloss, flachte im gesamten Imperium das Wachstum ab und kehrte nie wieder zurück. In den 80er Jahren wies die Kurve deutlich nach unten. Der Paradigmenwechsel, der sich im Westen vorbereitete, berührte den Ostblock nicht einmal. Die Computertechnologie konnte sich nicht entfalten. Am Ende des Jahrzehnts hielt Erich Honecker einen riesigen Chip hoch; er wusste wohl selbst nicht, dass es sich um eine Attrappe handelte. Robotron brach nach der Zeitenwende wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Seit 1980, als in Polen keine Repression stark genug war, die Gewerkschaftsbewegung unter Kontrolle zu bringen, und die DDR begann, sich Reisefreiheiten ihrer Bürger von Bonn bezahlen zu lassen, eröffnete sich nirgendwo mehr eine Perspektive. Niemand mehr sprach von Ein- oder gar Überholen des Westens. Die Ideologie erstarrte vollends und faszinierte niemanden mehr. Überall wuchs der Schuldenberg. Ungarn konnte Mitte der 80er Jahre nicht einmal mehr seine Zinsen zahlen. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan um die Jahreswende 1979/80 und die massenhafte Stationierung der SS-20-Raketen vermittelten allerdings einen gegenteiligen Eindruck. Man sprach vom Ende der Entspannung und wieder auflebendem Kalten Krieg. Doch als Präsident Reagan 1983, die amerikanische Wirtschaft nahm gerade Fahrt auf, ankündigte, das „Evil Empire“ kaputtrüsten zu wollen, wusste er, dass die wirtschaftliche Lage schlecht war und noch schlechter werden würde. Die
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Tür, die er eintrat, stand bereits halb offen. Und ihr Hüter hieß seit 1985 Gorbatschow. Der Mann hatte die Größe, den Druck im Kessel zu senken, indem er ein Ventil öffnete, erst sachte, dann immer mehr. Bis das Ventil nicht mehr zu schließen war. Am Anfang glaubte Gorbatschow, das System reformieren zu können. In der Wirtschaft, auch der Landwirtschaft, wurde es aber gar nicht erst versucht. Das System war nicht reformierbar. Verfall und Elend wuchsen. Am Ende fühlte sich Gorbatschow der europäischen Sozialdemokratie verbunden. Wofür aber stand diese noch? Wieviel Kraft steckte noch in ihr? Schließlich hatte sie die gleichen Wurzeln wie der diktatorische Sozialismus. Wurzeln, die nicht mehr sehr tief reichten. Im „winter of discontent“, 1978/79, als der Niedergang Großbritanniens nahezu vollendet schien, als die Gewerkschaften das öffentliche Leben lahmlegten, mangels Heizung die Schulen geschlossen und die Toten in Alufolie gewickelt wurden, bereitete Margaret Thatcher ihren Feldzug gegen den sozialstaatlichen Kollektivismus vor. Zehn Jahre später trug die Lady das Label „eisern“ vor sich her. Das Industrielle Zeitalter hatte einst in Großbritannien begonnen. Hier kam es auch zuerst an sein Ende. Mit welchen Folgen für die Labour Party? Nach Mrs. Thatchers drittem Wahlsieg 1987 und umstürzendem Wandel im Land betraten zwei radikale Modernisierer die Bühne, Gordon Brown und Tony Blair. Labour würde nur mit einer klaren Absage an die eigene Tradition überleben: Good Bye to all that. Fortan stand auch für die einstige Arbeiterpartei das Individuum im Mittelpunkt. Wohlstand, so wurde überdies verkündet, musste erst geschaffen werden, bevor es an dessen Verteilung ging. Blair wusste, von Bill Clinton inspiriert, dass eine „tax-and-spend“-Partei nie mehr würde gewinnen können. Labour kam in der Globalisierung an, als die Schwesterparteien noch nicht wussten, wie das Wort geschrieben wird, und prompt jede Gestaltungsmacht einbüßten. Aber stand Blair noch in einer sozialistischen Tradition? *** Die Welt, wie sie sich seit der Zeitenwende herausgebildet hat, lädt ein zu einer Zeitreise in die 80er Jahre. Erst im Blick zurück enthüllt sich die Vorgeschichte, die zugleich das letzte Kapitel des Industriezeitalters ist. Dessen Gesetze hat die digitale Revolution überall außer Kraft gesetzt. Die achtziger Jahre, so schrieb Ralf Dahrendorf, als diese noch nicht einmal zu Ende waren, „haben den sozialdemokratischen Parteien der freien Welt wenig Freude gebracht.“ Von den Ursachen machte er sich noch einen falschen Begriff, seine These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ war dennoch genial.12 Der Sozialismus kam, in allen seinen Spielarten, an das Ende seiner Epoche. Im kapitalistischen Westen brach sich, wo Altes verfiel, Neues Bahn. Aufstieg und Fall gingen ineinander über, wenn auch verschieden in Tempo und Durchschlagskraft.
12 Ralf Dahrendorf, Das Elend der Sozialdemokratie, in: Merkur 41/1987, S. 1021 – 1038, hier S.1021 f.
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In den zentral gelenkten Planwirtschaften des Ostens fand die digitale Revolution nicht statt. Es herrschte Zerstörung ohne Kreativität. Der Zusammenhalt schwand, erst langsam, dann immer schneller, nach Innen wie nach Außen. Die Ungarn öffneten eine erste Grenze; wenn man bankrott ist, fällt Anstand nicht schwer. Immer noch hätte jemand durchdrehen und den Zerfallsprozess aufhalten können, aber doch nicht mehr für lange. Mit jedem Loch im Zaun, auch im Botschaftszaun, verlor die Mauer in Berlin ihren Daseinszweck. Sie musste fallen, früher oder später. Als es soweit war, konnten die neuen Technologien sich erst richtig ausbreiten und entfalten. Denn nun betraten neue Teilnehmer den Markt, und der wurde, was er nie zuvor gewesen war – global.
Russlands Radikalisierung – Eine Herausforderung für die deutsche Ostpolitik Jan Claas Behrends Der im vorvergangenen Jahr scheinbar plötzlich ausgebrochene Konflikt zwischen Moskau, Kiew und dem Westen hat in Berlin Angst und eine gewisse Ratlosigkeit verursacht. Zahlreiche Politiker und Kommentatoren flüchteten und flüchten sich in historische Analogien. In Deutschland ist es besonders beliebt, vor einer „Spaltung Europas“ oder einem „neuen Kalten Krieg“ zu warnen. Die Linkspartei – geschlossen – und einige versprengte, quer durch die anderen Parteien verstreute Politiker bekunden hingegen Verständnis für Moskaus traditionelle „Einflusssphären“, wobei unklar bleibt, wo die Grenzen legitimen Einflusses verlaufen. Sie beschuldigen den Westen, allen voran die NATO und die USA, diese nicht zu respektieren und damit eigentlich die Krise verursacht zu haben. Tatsächlich tragen solche historischen Abziehbilder, die selten mit konkreten Inhalten gefüllt werden, wenig zu einem tieferen Verständnis der Auseinandersetzung bei. Weiterführender ist es, den Versuch zu unternehmen, den russischen Staat der Gegenwart, sein Verhältnis zum Westen und sein Führungspersonal zu verstehen. Dazu ist es nötig, mit einigen Mythen aufzuräumen, die seit dem Ende des Kalten Krieges einen unvoreingenommenen Blick nach Osten trüben. Seit der Perestroika und dem friedlichen Epochenjahr 1989 ging die europäische Politik davon aus, dass sich die postsowjetischen Staaten auf dem Weg der Annäherung und Verflechtung mit dem Westen befinden. Obwohl oft belächelt, prägte Francis Fukuyamas These vom Siegeszug des westlichen Liberalismus den Blick der deutschen und europäischen Eliten auf Europas Osten.1 Trotz zahlreicher Probleme und Rückschläge habe auch Moskau, so bis zum letzten Sommer die Prämisse, diesen Weg der Konvergenz nicht verlassen. Diese Grundannahme stand hinter der Entscheidung, Moskau in die G7-Gruppe aufzunehmen oder hinter dem Anliegen Berlins, Russland noch 2008 – nach dem Georgienkrieg! – eine privilegierte „Modernisierungspartnerschaft“ mit Berlin anzubieten. In dieselbe Phase westlicher Russlandspolitik fiel auch Barack Obamas „reset“. Letztlich gründete diese Politik auf der Annahme, dass Michail Gorbatschows Idee einer „oktroyierten Zivilisierung“ – wie ich das an anderer Stelle genannt habe – der russischen Politik und Gesellschaft unumkehrbar sei, dass seine Nachfolger zwar unterschiedliche Akzente setzten, aber dass der Kreml nun grundsätzlich bereit sei, die institutionellen und völkerrechtlichen Regeln Europas zu akzeptieren. Dies war (und ist) eine attraktive, weil beque1
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me, Sicht auf unsere Beziehungen mit Osteuropa: Sie erlaubte den deutschen Eliten, im russischen Gegenüber sich selbst zu sehen. Es war stets einfach, anzunehmen, dass auch in Moskau politische Entscheidungen nach ähnlichen Prämissen und in einem mit dem Westen vergleichbaren System getroffen würden. Es bedurfte erst der Besetzung und Annexion der Krim, des russischen Einmarsches in die Ukraine sowie des Abschusses von MH 17 über dem Donbas, um diese Illusionen des politischen Berlin zu zerstören. Erschrocken stellten Brüssel und Berlin fest: Wir sind gar keine Partner, sondern Gegner. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? In zeithistorischer Perspektive zeigt sich, dass sich Russlands Weg nach 1989 deutlich von anderen Staaten Osteuropas unterscheidet.2 Und zwar nicht erst seit der Machtübernahme durch Vladimir Putin. Ein Schlüssel, so meine These, ein vernachlässigter Schlüssel zum Verständnis Moskauer Außenpolitik liegt in der Analyse der innenpolitischen Entwicklungen. Dabei verdienen drei Aspekte unser besonderes Augenmerk: die politische Verfassung Russlands, die unterbliebenen Reformen der 1990er Jahre und der Moskauer Blick auf den post-imperialen Raum, d. h. auf die frühere Sowjetunion und Osteuropa. Dabei treten einerseits die historischen Spezifika Russlands hervor, die einige Kontinuitäten nahelegen. Andererseits lassen sich aber auch konkrete Wegmarken zu benennen, an denen die politische Führung Russlands sich gegen eine Fortsetzung von Liberalisierung und Pluralisierung Gorbatschowscher Prägung entschieden hat. Wie die anderen Staaten Osteuropas stand Russland mit der Desintegration des kommunistischen Parteistaates 1991 vor der Herausforderung, sich eine neue politische Verfassung zu geben. Michail Gorbatschow scheiterte mit dem Versuch, die Sowjetunion in eine demokratische Föderation umzuwandeln. Das war auch gar nicht möglich. Dennoch gab er mit der Zerstörung des kommunistischen Machtmonopols den Anstoß zur Pluralisierung. Michail Gorbatschow und seine Reformmannschaft experimentierten seit Ende der 1980er Jahre mit der Parlamentarisierung und einem Präsidialsystem in der UdSSR – ohne sich für eine der beiden Verfassungen zu entscheiden.3 Die historischen Hürden für den Umbau des politischen Systems waren ohnehin beträchtlich: Nach Jahrzehnten von Willkür und Gewaltherrschaft würde es jeder Regierung schwer fallen, juristischen Normen Geltung zu verschaffen und unabhängige Institutionen aufzubauen. Doch die Attraktivität und der Wohlstand, die ein freiheitliches System versprachen, bildeten zunächst einen starken Anreiz und Gorbatschows Credo, politische Konflikte möglichst gewaltlos zu lösen, eine wichtige Voraussetzung für zivilen Wandel. Doch bereits sein Nachfolger, Boris Jelzin, gab nur noch Lippenbekenntnisse zu den liberalen Reformen seines 2 Zum postsowjetischen Russland siehe beispielsweise: Lilia Shevtsova, Yeltsin’s Russia. Myths and Reality, Washington 2000; David Satter, Darkness at Dawn. The Rise of the Russian Criminal State, New Haven 2003; Anders Aslund, Russia’s Capitalist Revolution. Why Market Reform Succeeded and Democracy Failed, Washington 2007. 3 Siehe hierzu ausführlich: Jan C. Behrends, Oktroyierte Zivilisierung. Genese und Grenzen des sowjetischen Gewaltverzichts 1989, in: Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 401 – 424.
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Vorgängers ab. Mit dem Sturm auf das Weiße Haus 1993 und dem Krieg gegen das abtrünnige Tschetschenien 1994 machte er die Gewalt wieder zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung.4 Auch der Versuch, die Institutionen der neuen Verfassung mit Eigenleben zu füllen, war bestenfalls halbherzig. An ihre Stelle trat ein Geflecht persönlicher Loyalität in Männernetzwerken und informeller Zirkel, in denen wichtige Entscheidungen unter Jelzin getroffen werden. Bereits vor der Machtübernahme Vladimir Putins war die Institutionenordnung Russlands nicht mehr als eine leere Hülle, die der Gesellschaft politische Teilhabe und dem Ausland Demokratie vorgaukelte.5 Wahlen waren bereits unter Jelzin weder frei noch fair. Machterhalt war das oberste politische Ziel russischer Eliten. Auch die neue Terminologie Putins, die Rede von der „Machtvertikale“ und der „souveränen Demokratie“ verschleierte den Kern der politischen Ordnung. Es entstand kein starker Staat. Nein, ein dysfunktionales System löste ein anderes ab – freilich unter günstigeren wirtschaftlichen Bedingungen.6 Tatsächlich erhöhte sich die Abhängigkeit von Personen unter Putin weiter und Institutionen wie die Duma verloren endgültig ihre Bedeutung.7 Wahlen, wo sie noch stattfanden – Gouverneurswahlen wurden alsbald abgeschafft – waren die Akklamation vorher im kleinen Kreis getroffener Entscheidungen. Politik wurde durch einen Personenkult und die Vergötzung der Staatsmacht ersetzt.8 Die Entpluralisierung der 2000er Jahre bedeutete konkret: In Russland entscheidet der Zugang zum Machthaber über die politische oder wirtschaftliche Zukunft Einzelner. Diese Entwicklung wurde auch deshalb möglich, weil Russland es in den 1990er Jahren versäumte, die sowjetischen Macht- und Sicherheitsapparate aufzulösen oder zu reformieren.9 Es fand zwar eine publizistische Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit statt: Sie hatte jedoch keine Konsequenzen für die politische Gegenwart. Nach dem Ende des osteuropäischen Imperiums 1989 und dem gescheiterten Putsch 1991 fielen die Apparate in eine kurze Schockstarre. Doch es gab keine 4 Zu Jelzin siehe die wohlwollende Biographie Timothy J. Colton, Yeltsin. A Life, New York 2008. 5 Zu Putin: Fiona Hill/ Clifford C. Gaddy, Mr. Putin. Operative in the Kremlin, Washington 2014; zum „virtuellen“ politischen System Russlands grundlegend Andrew Wilson, Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World, New Haven 2005. Als Insiderbericht interessant: Peter Pomorantsev, Nothing is True and Everything is Possible. The Surreal Heart of the New Russia, London 2014. 6 Siehe hierzu Lilia Shevtsova, Putin’s Russia. Washington 2005; Ben Judah, Fragile Empire. How Russia Fell in and out of Love with Vladimir Putin, New Haven 2014. 7 Alina V. Ledeneva, How Russia Really Works. The Informal Practices that Shaped PostSoviet Politics and Business, Ithaca 2006. 8 Zum Kult des Staates und Führers unter Putin siehe Anna Arutunyan, The Putin Mystique. Inside Russia’s Power Cult, London 2014. 9 Siehe Amy Knight, Spies without Cloaks. The KGB’s Successors, Princeton 1996; siehe auch Vadim Volkov, Violent Entrepreneurs. The Use of Force in the Making of Russian Capitalism, Ithaca 2002, S. 126 – 154 und Olga Kryschtanowskaja, Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Russlands unter Putin, Köln 2005.
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Lustration, keine russische Gauck-Behörde, keinen Zugang zu den Archiven des KGB. Das war ein zentraler Unterschied zur früheren DDR und zu Osteuropa. Bereits Boris Jelzin stützte sich in seiner Herrschaft wieder auf die sog. Machtministerien: Inneres, Verteidigung, die Geheimdienste. In diesen sowjetisch-imperial geprägten Apparaten ist Gewalt stets eine politische Option, im Inneren wie in der Außenpolitik. Die unterbliebene Auflösung oder Reform der Polizei und der Geheimdienste gehörte zu den Faktoren, die verhinderten, dass das Recht in Russland Geltung erlangte. Letztlich wurde der Versuch, einen Rechtsstaat aufzubauen, bereits in den 1990er Jahren aufgegeben. Dies führte dazu, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in der Ökonomie Gefolgschaft und informelle Praktiken wichtiger sind als abstrakte Normen und Gesetze. Die Schutzlosigkeit des Bürgers vor dem Staat prägte die UdSSR und prägt auch das postsowjetische Russland. Diese fundamentale Erfahrung betrifft jeden Staatsbürger vom Obdachlosen bis zum Oligarchen und auch die ausländischen Firmen, die in Russland investieren. Hier lässt sich auch die Brücke von der Innen- zur Außenpolitik schlagen: Ein politisches System, das im Inneren von Gesetzlosigkeit geprägt ist, hat kaum Anlass sich in seinen Außenbeziehungen am Völkerrecht zu orientieren – es sei denn, der Normenbruch zöge Konsequenzen nach sich. Bei den Kriegen in Tschetschenien seit 1994 oder mit Georgien 2008 hat die Moskauer Führung jedoch gelernt, dass der Westen nicht in der Lage ist, seinen Werten Geltung zu verschaffen.10 Doch nicht nur in der Bewertung von Krieg und Frieden unterscheiden sich Russland und Europa. Es ist von ebenso entscheidender Bedeutung zu begreifen, wie grundsätzlich sich das außenpolitische Denken in Brüssel und Moskau unterscheidet. Während nach 1989 in Europa das Wilsonsche Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf demokratischer Grundlage als Norm akzeptiert wurde, denken die herrschende Elite Moskaus und der Machthaber selbst in Kategorien, die der Großraumlehre Carl Schmitts ähneln. Wiederum fand hier die entscheidende Weichenstellung bereits in den 1990er Jahren statt: Nach dem Umbruch in Osteuropa und dem Zusammenbruch der UdSSR begann die Moskauer Führung seit Mitte der 1990er Jahre von den post-sowjetischen Staaten als „nahem Ausland“ zu sprechen. Diese Terminologie implizierte, dass es sich hier um einen Raum handelte, den Russland als exklusive Einflusssphäre beansprucht und zwar ganz im Schmittschen Sinne mit einem Interventionsverbot für fremde Mächte. Moskau entschied sich für die imperiale Kontinuität, gegen die Nationsbildung. Aus der Perspektive des Kremls hat der Westen bereits mit der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO gegen diese Raumordnung verstoßen. Die „orangene Revolution“ in der Ukraine von 2004 und der erneute antiautoritäre Umsturz in Kiew werden vom Kreml, der hinter Bürgerbewegungen und Opposition zu Hause wie im „nahen Ausland“ stets den Westen ver10
Als Überblick Mark Galeotti, Russia’s Wars in Chechnya 1994 – 2009, Oxford 2014. Siehe auch V. A. Tishkov, Chechnya, Life in a War-Torn Society, Berkeley 2004; Emma Gilligan, Terror in Chechnya. Russia and the Tragedy of Civilians in War, Princeton 2010; Ronald D. Asmus, A Little War that Shook the World. Georgia, Russia and the Future of the West, New York 2010.
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mutet, als weitere Grenzüberschreitung der USA und der Europäischen Union wahrgenommen.11 Der Machthaber und sein innerer Zirkel, die sich von fremden, in ihre innere Ordnung intervenierenden Mächten umgeben wähnen, sehen es als Zeichen eigener Schwäche, nicht zu reagieren. Und da Moskau glaubt, keine schwerwiegenden Strafen fürchten zu müssen, hat es sich dazu entschieden, der eigenen Vorstellung eines russisch dominierten Raumes im „nahen Ausland“ militärisch Geltung zu verschaffen. Es ist anzunehmen, dass es auch über die Ukraine hinaus bereit ist, seine Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Diejenigen, die in den Jahren der Perestroika und des friedlichen Wandels in Europa groß geworden sind, haben sich gewünscht, dass Russland den Weg der Liberalisierung seiner politischen Ordnung weiter verfolgt. Im Rückblick erkennen wir, dass das schon seit langem nicht mehr der Fall ist. Gorbatschow und seine Mitstreiter waren eine historische Ausnahme. Es ist höchste Zeit, dass Berlin und Brüssel sich mit dem Russland beschäftigen, das uns gegenübertritt und nicht mehr mit einem Land, das wir gerne sehen würden. Denn Moskau ist nicht länger bereit, die postsowjetische Landkarte zu akzeptieren. Nur ein besseres Verständnis hilft, Strategien zur Eindämmung von Konflikten und Szenarien zur Stabilisierung der europäischen Ordnung zu entwickeln. Dazu gehört auch die Einsicht, dass es zur Verständigung eines Partners bedarf, der sich verständigen will. Wo eine Annäherung nicht möglich ist, bleibt nur die Rückkehr zum Prinzip der Eindämmung, des containment. Aber schon der Erfinder des containment, George F. Kennan, wusste, wie wichtig es ist, Russland zu verstehen, um seine Macht zu begrenzen.12 Der Vordenker der amerikanischen Diplomatie verstand, dass der Westen Russlands Handeln nur dann richtig deuten kann, wenn er die historischen und kulturellen Kontexte zu entschlüsseln vermag, die seine Machthaber prägen.13 Doch leider ist die Osteuropaforschung in Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges abgebaut worden. Kompetenzen sind verloren gegangen. Hier besteht nicht nur außen-, sondern auch wissenschaftspolitisch Handlungsbedarf. Damit richte ich den Blick auf Deutschland, insbesondere auf die Tradition der deutschen Ostpolitik. Der russische Einmarsch in die Ukraine, das kann man jetzt wohl behaupten, hat die Ära der Ostpolitik beendet. Ihr Scheitern ist offensichtlich und dramatisch: Von der Besetzung der Krim, über den wilden Krieg im Donbass, bis zum Einmarsch regulärer russischer Einheiten reicht die Kette taktischer Triumphe Moskaus, die zugleich Niederlagen der Ukraine, aber auch des Westens und insbesondere strategische Niederlagen Berlins sind. Denn keine andere westliche Re11 Andrew Wilson, Ukraine Crisis. What it Means for the West, New Haven 2014. Siehe auch die Beiträge in: Juri Andruchowitsch (Hrsg.), Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin 2014; Claudia Dathe (Hrsg.), Majdan! Ukraine, Europa, Berlin 2014; Katharina Raabe/Manfred Sapper (Hrsg.), Testfall Ukraine. Europa und seine Werte, Berlin 2015. 12 Zu Kennans Leben und Wirken grundlegend John Lewis Gaddis, George F. Kennan: An American Life, New York 2011. 13 Zur gegenseitigen Wahrnehmung aufschlussreich Lilia Shevtsova, Lonely Power. Why Russia Has Failed to Become the West and the West Is Weary of Russia, Washington 2010.
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gierung pflegt so enge Beziehungen mit Moskau. Doch ohne Erfolg: Ihre Ziele – Frieden, Sicherheit, Stabilität und Ausgleich in Europa – hat die deutsche Ostpolitik allesamt verfehlt. Sie steht, auch wenn wenige sich das eingestehen, vor einem Trümmerhaufen. Die deutsche Ostpolitik kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie ist ein Kind des Kalten Krieges.14 Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt versuchte der globalen Konfrontation, die Deutschland teilte, die Schärfe zu nehmen. Bonn war bereit, Regime und Grenzen anzuerkennen, um Entspannung zu stiften. Die Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin schufen das Fundament für bessere Beziehungen. Sie zementierten jedoch die Moskauer Hegemonie östlich der Elbe. In der Bundesrepublik wurden die Ostverträge bald als Geste der Versöhnung positiv bewertet. Mit der Ostpolitik, so schien es, verfügte Bonn über ein Instrument, das den Kalten Krieg beherrschbar machte. Und wer die détente kritisierte, wurde fortan als Scharfmacher gebrandmarkt. Tatsächlich zeigte sich jedoch schon früh, dass die Ostpolitik nur bedingt in der Lage war, Spannungen zu entschärfen. Sie verhinderte weder den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan noch die polnische Krise zu Beginn der 1980er Jahre. Der beschworene Wandel durch Annäherung – ein Hauptargument der Architekten der Ostpolitik – blieb aus. Im Gegenteil: Die Menschenrechtslage im Ostblock verschlechterte sich, und die Repressionsapparate wurden in den Staaten des Ostblocks ausgebaut. Von der Ostpolitik blieben der kurze Draht Bonns zu Moskau, das einträgliche Sowjetuniongeschäft der deutschen Industrie sowie das Gefühl größerer Erwartungssicherheit für die Westdeutschen. Auf dem Weg zur deutschen Einheit hat Bonn sicherlich von seinen guten Beziehungen zu Moskau profitiert. Doch zum Ende des Kalten Krieges hat die Bundesrepublik nicht maßgeblich beigetragen. Es war die Entscheidung des Kremls, der Mannschaft Gorbatschows, eine Auseinandersetzung zu beenden, die er weder gewinnen noch finanzieren konnte.15 Dennoch nahmen die Protagonisten der Ostpolitik stets für sich in Anspruch, den Weg zum friedlichen Systemwechsel geebnet zu haben. Nach 1991 hat sich das souveräne Deutschland entschlossen, seine Beziehungen zu Russland noch weiter auszubauen. Die Ostpolitik ging weiter. Und wieder wurde die Idee eines Wandels durch Annäherung bemüht, um eine Verflechtung zu rechtfertigen, die von den Verbündeten oft beargwöhnt wurde. Die Kontinuität deutscher Ostpolitik sollte Europa helfen, den Risikofaktor Russland zu beherrschen. Selbst als sich spätestens Ende der 1990er Jahre abzeichnete, dass der Aufbau eines Rechtsstaates in Moskau nicht weiterverfolgt wurde, hielt Berlin nicht nur an seiner Ostpolitik fest, sondern baute sie sogar noch weiter aus. Die North Stream Pipeline – 14 Zur Ostpolitik siehe kritisch bereits Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993; als Kritik am westlichen Umgang mit dem Russland Putins klassisch Edward Lucas, The New Cold War. Putin’s Russia and the Threat to the West, London 2009. 15 Behrends, Oktroyierte Zivilisierung mit weiteren Hinweisen.
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gegen den Protest Polens verwirklicht – steht symbolisch für eine Außenpolitik, die kaum Rücksicht auf Warschau, Riga oder Tallinn nahm. Mit der überstürzten „Energiewende“ nach Fukushima vergrößerte sich die Abhängigkeit von Russland nochmals – und das obwohl der Kreml mehrfach bewiesen hat, dass er Gas als politische Waffe einsetzt. Geo- und energiepolitisch hat Nord Stream den russischen Einmarsch in die Ukraine erst möglich gemacht – auch dies ist ein Vermächtnis deutscher Ostpolitik. Um an seiner Ostpolitik festzuhalten, hat Berlin in den letzten zwei Jahrzehnten die Warnsignale von Tschetschenien bis Georgien ebenso ignoriert wie den autoritären Umbau des russischen Staates. Die „Modernisierungspartnerschaft“ sollte um jeden Preis weiterverfolgt werden. Warnungen aus Polen oder dem Baltikum wurden als Unkenrufe abgetan.16 Durch diese Haltung gerieten Deutschland und Europa in eine Position der Schwäche, in der wir uns gegenwärtig befinden. Und wie zu Beginn der 1980er Jahre – in den Zeiten des Kriegsrechts in Polen – zeigte sich auch 2014, dass die deutsche Ostpolitik nicht krisenfest ist. Sie beruht nämlich auf einer Prämisse, die keiner Überprüfung standhält: der Reziprozität in den bilateralen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau. Noch die Regierung Merkel ging davon aus, dass eine ökonomische Verflechtung Moskau zu moderater Politik verpflichten würde. Dabei wiesen sowohl die autoritäre Entwicklung im Inneren als auch die Außenpolitik Moskaus im letzten Jahrzehnt darauf hin, dass eine Konfrontation mit dem Westen bevorsteht. In der Ukrainekrise zeigte sich, wie gering der Einfluss Berlins ist. Die wechselseitigen Verflechtungen haben den Kreml nicht am militärischen Eingreifen gehindert. Berlin hat jedoch selbst dann an seiner Ostpolitik festgehalten, als ihr Scheitern schon manifest war. Dabei haben die privilegierten Beziehungen zwischen Berlin und Moskau die europäische Stabilität nicht erhalten, sondern untergraben. Sie ließen den Westen gespalten und schwach erscheinen. Selbstverständlich trägt allein der Kreml die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine. Doch Berlin trifft ein gehöriges Maß an Schuld für die schwierige Lage Deutschlands und Europas: Zu lange ist das Auswärtige Amt bequemen Denkmustern gefolgt, zu viel wurde beschwichtigt, zu tief ging die Verflechtung mit einer Macht, auf die wir letztendlich keinen Einfluss haben. Die Ostpolitik war und ist in Deutschland populär, weil sie der Öffentlichkeit die Illusion von Sicherheit, Frieden und Stabilität bot. Das Label „Friedenspolitik“ überhöhte sie moralisch. Militärische Konflikte sollten in Europa der Vergangenheit angehören. Dieses Wunschdenken galt so lange bis der Kreml nicht mehr Worte, sondern Waffen sprechen ließ, und ein Berlin, das keine Alternativen zur moskaufixierten Ostpolitik besaß, staunend zurückließ. Selbst aus einer Folge von Treffen und Telefonaten entstand kein Dialog mit dem Kreml. Dies hat zuletzt auch das Abkommen Minsk II gezeigt. Moskau hatte längst andere Prioritäten gesetzt und sich für die militärische Option entschieden. 16 Zur postkommunistischen Entwicklung Osteuropas siehe Padraic Kenney, The Burdens of Freedom. Eastern Europe since 1989, New York 2006; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.
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Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gilt es, darüber nachzudenken, wie Berlin, Brüssel und der Westen die Initiative zurück erlangen können, wie sie Moskaus Optionen beschneiden, die Souveränität der Verbündeten schützen, wirtschaftliche Abhängigkeiten beenden und vor allem Frieden und Sicherheit in Europa wiederherstellen können. Die Ostpolitik alter Schule hat ausgedient, doch für die Fehler der Vergangenheit werden wir bezahlen. Berlins Sonderbeziehung zu Moskau war ein historischer Irrweg. Neue Ideen sind nun gefragt: Vor Deutschland und Europa liegen schwere Entscheidungen. Wo liegen Perspektiven für Ostpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Dazu habe ich fünf Thesen formuliert: ¢ Erstens: Ostpolitik ist nicht Russlandpolitik. Unsere Verbündeten sind Deutschlands Partner in Osteuropa: Polen und das Baltikum. Hier wurde Berlins Nähe zu Moskau seit jeher skeptisch gesehen. Ihre Befürchtungen haben sich zu großen Teilen bewahrheitet. In der Krise gilt nun, dass ihre Sicherheit unsere Sicherheit ist. Berlin muss bereit sein, ihnen diplomatischen Beistand und im Rahmen der Nato militärischen Schutz zu bieten – auch wenn das teuer und unpopulär ist. Ansonsten riskieren wir nicht nur weitere Enttäuschung und Verärgerung in der Region, sondern die Stabilität Europas. Die deutschen Sonderbeziehungen mit Moskau sollten durch eine engere Partnerschaft mit unseren Verbündeten in der Region ersetzt werden. Außerdem gilt: die Stabilisierung einer demokratischen Ukraine ist deutsches Interesse. Die Ukraine ist in diesem Konflikt was Westdeutschland zu Beginn des Kalten Krieges war: the state that cannot fail. ¢ Zweitens: Ostpolitik bleibt Russlandpolitik. Deutschland hat ein starkes und legitimes Interesse an engen und guten Beziehungen zu Russland. Doch Partnerschaft mit einer revisionistischen Macht ist keine Option. Wie kann es also weitergehen? Kurzfristig ist es ebenso richtig, Gesprächskanäle beizubehalten, als auch weitere gezielte Schritte zur Eindämmung russischer Macht zu unternehmen. Der Primat der Politik über die Wirtschaft muss wieder hergestellt werden. Mittelfristig gilt es, die Abhängigkeit Deutschlands und Europas von russischen Ressourcen stark zu verringern. Grundsätzlich jedoch, grundsätzlich muss Berlin die Grenzen seines Einflusses erkennen und mit dem Russland rechnen, das wir vorfinden – und nicht mit dem, das wir uns wünschen. Wandel durch Annäherung war eine Chimäre: Russland entscheidet sein Schicksal selbst. Europa muss verstehen, dass Moskau für absehbare Zeit kein Partner mehr ist. ¢ Drittens: Ostpolitik ist Europapolitik. Die Europäische Union ist bisher primär eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Bedrohung durch Russland zwingt sie, auch eine Sicherheitsgemeinschaft zu werden. Dazu muss sie ihre außenpolitische Schlagkraft erhöhen, Handlungsfähigkeit beweisen und eine gemeinsame Ostpolitik formulieren. Zudem muss der Einfluss Russlands in der Union beschnitten werden (Griechenland, Zypern). Eine erfolgreiche und stabile EU ist von globaler Bedeutung, weil sie die Vorzüge liberaler Ordnungen gegenüber der autoritären Herausforderung demonstriert.
Russlands Radikalisierung – Eine Herausforderung für die deutsche Ostpolitik
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¢ Viertens: Ostpolitik ist transatlantische Politik. Die Vereinigten Staaten sind der Garant der Sicherheit Deutschlands und Europas. Deshalb muss die deutsche Ostpolitik wieder eng mit Washington und der Nato abgestimmt werden. Die Zeit der Sonderwege – wie etwa unter Guido Westerwelle bei der Libyen-Abstimmung des Weltsicherheitsrates – ist vorbei. Berlin sollte darauf drängen, dass die Vereinigten Staaten ihr Engagement in Europa nicht noch weiter reduzieren. Ein westliches Deutschland wird dann auch wieder mehr Gewicht in Washington haben. Wir müssen zu partnership in leadership zurückkehren. ¢ Fünftens: Ostpolitik ist Geopolitik. Deutschland ist Schutzmacht der kleineren Verbündeten in Ostmitteleuropa. Diese Rolle müssen wir akzeptieren und sinnvoll ausfüllen. Seine bisherige Verweigerungshaltung in dieser Frage wird Berlin nicht durchhalten können; wir sollten uns der eigenen Bedeutung entsprechend an der Sicherung der Außengrenzen von Nato und EU beteiligen. Wer glaubt, dass es im postsowjetischen Raum keine „militärischen Lösungen“ gibt, der irrt. Die Gefahr weiterer Kriege wie in der Ukraine kann jedoch durch containment vermindert werden.
Berlin ist nicht Bonn Andreas Khol Vor 25 Jahren vereinigten sich die BRD und die DDR zu Deutschland. In der Folge wurde die Hauptstadt dieses neuen, alten Deutschlands wieder nach Berlin verlegt. Das liebgewordene Bonn als Zeichen für die frühere Bundesrepublik wurde Geschichte; Berlin, mit all seinen historischen Bezügen, wieder Symbol für das wieder erstandene größere Deutschland. Sind die Befürchtungen wahr geworden, die damals allerorts gehegt wurden? Wurde aus der wirtschaftlich so erfolgreichen, aber politisch zurückhaltend und bescheiden auftretenden Bundesrepublik wieder ein nach Vorherrschaft strebendes, ehrgeizig und machtbewusst auftretendes Deutschland? Diese Frage stellte sich natürlich auch in Österreich. Seit dem Untergang des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation 1806 entwickelten sich langsam die Nationalstaaten Österreich und Deutschland. Österreich selbst sah sich nicht als Nationalstaat sondern als multikulturelles Gebilde, und bis 1870 gab es eine Vielzahl deutscher Königreiche und Länder. Ab 1870 wurde daraus das Deutsche Reich: ein Land von dem Österreich durch die gemeinsame Sprache getrennt war, wie es Karl Kraus in der Zwischenkriegszeit ironisch formulierte. Zuerst war Österreich Führungsmacht, ab 1866 drängte das preußische Deutschland an die Spitze, ab 1870 war Österreich schon abgehängt. Deutschland und Österreich, eine vielschichtig schwierige Beziehung. Auch das Verhältnis zwischen Wien und Bonn war ja nicht von vorneherein Wonne und Waschtrog, sondern zuerst eher aus vielen Gründen distanziert, dann korrekt und zum Schluss fast, aber nicht ganz freundschaftlich, jedenfalls nie wirklich herzlich. Die Schweizer waren des Österreichers liebste Nachbarn. Auch für Österreich galt, was Giulio Andreotti, der große italienische Staatsmann knapp vor der von ihm nicht wirklich gewollten Vereinigung so ausgedrückt hatte: „Wir haben Deutschland so lieb, dass wir am liebsten zwei davon haben!“ Das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich seit der Vereinigung steht daher heute im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Was ist daraus geworden? Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit kennen. Vorhersagen sind ohnehin immer nur Mutmaßungen. Daher folgen sie mir bitte bei einem raschen Parcours durch unsere Geschichte! In der Sommerresidenz des Prinzen Eugen in Wien, im Schloss Belvedere ist unlängst eine sehenswerte Ausstellung eröffnet worden. Sie ist dem Wiener Kongress 1815 gewidmet. In neun Monaten wurde unter österreichischer Führung Europa nach
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der Französischem Revolution, den Napoleonischen Kriegen und Wirren, und dem Ende des ehrwürdigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation neu geordnet. Drei Herrscher Persönlichkeiten wurden besonders herausgestellt: Franz I., Kaiser des Kaisertums Österreich, Zar Alexander I. von Russland, und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Österreich war am Höhepunkt seiner Macht – die erste europäische Großmacht! Preußen war zu einer der fünf führenden europäischen Mächte aufgestiegen. An die Stelle des Heiligen römischen Reichs trat der Deutsche Bund. Seine Führungsmacht war Österreich. Die Heilige Allianz zwischen Österreich, Russland und Preußen gestaltete bis 1848 Europa. Metternich saß auf dem Kutschbock. Nach 1848, im Gefolge der europäischen Revolutionen und des Aufstiegs des Bürgertums, kündigte sich allerdings der Niedergang Österreichs an, während der Aufstieg Preußens stetig schneller vonstattenging. Nur die russische Hilfe rettete 1848 das Kaisertum Österreich vor dem Zerfall. Der Zar schlug mit harter Hand den ungarischen Aufstand gegen Habsburg nieder. Im Jahre 1848 tagte auch die Frankfurter Nationalversammlung, unter Vorsitz des legendären Erzherzogs Johann von Österreich. In ihr ging es um die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Die sogenannte großdeutsche Lösung sah vor, dass die Mitglieder des deutschen Bundes unter Einschluss des Kaisertums Österreich diesen deutschen Nationalstaat bilden sollten. Sie scheiterte. Die kleindeutsche Lösung obsiegte: Ein deutscher Nationalstaat aller Länder des Deutschen Bundes, ohne das Kaisertum der Habsburger sollte das Ziel sein – und unausgesprochen unter preußischer Hegemonie stehen. All dies blieb aber in der Schwebe. Die Schlacht bei Königgrätz 1866 besiegelte den Abstieg Österreichs. Die Preußen straften die österreichische Spruchweisheit: „so schnell schießen die Preußen nicht“ Lügen, schossen doch sieben Mal schneller als die Österreicher und vernichteten die kaisertreue österreichische Armee und die Armeen ihrer Verbündeten – die meisten nichtpreußischen Mitglieder des deutschen Bundes wie z. B. das Königreich Sachsen fochten an der Seite Österreichs. Die politischen Folgen waren schwerwiegend. Der Deutsche Bund wurde endgültig aufgelöst und durch den Norddeutschen ersetzt. Preußen, vor allem Bismarck als Bundeskanzler, übernahm die Führung. Österreich, wegen seines überwiegend nicht deutschen, sondern multinationalen Charakters durfte nicht Mitglied sein. Das seit 1848 zerrüttete Verhältnis mit Ungarn wurde durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 neu geregelt. Reichskanzler Bismarck hatte sich im Hintergrund auf die Seite der Ungarn gestellt: Deutschland unterstützte bis zum Ende der Monarchie die (calvinistischen) und Habsburg-kritischen Ungarn. Aus dem österreichischen Teil des Kaisertums Österreich wurden „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Ungarn war nicht im Reichsrat. Österreich war de facto in zwei Teile gespalten. Seine Führungsrolle in Europa war damit beendet. Außenpolitisch isoliert, war die österreichische Reichshälfte darauf konzentriert, mit ihrem schwierigen Innenleben fertig zu werden. Eine
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von allen Nationalitäten angenommene Neugestaltung der Monarchie scheiterte nach langen Streitigkeiten und Sprachkonflikten. Ungarn beharrte auf seiner Sonderstellung und blieb bis 1918 ein vom Großadel regiertes Land. Die anderen Teile des Habsburger Reichs wurden zwar in einer konstitutionellen Monarchie demokratischer regiert, aber eine echte Föderalisierung gelang nicht. So erreichte Habsburg keinen politisch tragfähigen Ausgleich mit den Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainern, Italienern und den Südslawen. Im Inneren war der österreichische Reichsteil weiter gespalten. Die deutschsprachigen Teile der Monarchie waren Großteils kleindeutsch eingestellt: Sie wollten ins Bismarckreich. Das deutsche Kaiserreich wurde angehimmelt. Das sorgte für einen erbitterten innerösterreichischen Zwist, der auch das Ende der Monarchie überdauerte und bis 1938 andauerte. Er schwächte natürlich die ganze Monarchie und vor allem den deutschen Teil. Ohne es deutlich auszusprechen, aber für alle fühlbar, übernahm das deutsche Kaiserreich im deutsch-österreichischen Verhältnis die Führungsrolle. Wer Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ kennt, kennt auch die darin beschriebene Parallelaktion – trefflicher kann das damalige Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich wohl nicht versinnbildlicht werden. Österreich hinkte nach, beanspruchte aber aus historischen Gründen den ersten Platz. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde Deutschland zum immer einigeren Kaiserreich, rüstete auf und war wirtschaftlich erfolgreich. Österreich war zwar wirtschaftlich auch gut aufgestellt, konnte aber seine innere Zerrissenheit nicht überwinden und vernachlässigte seine militärische Rüstung sträflich. Dies war eine der fatalen Folge des schon beschriebenen Ausgleichs mit Ungarn. Jede der beiden Reichshälften hatte seine eigene Armee – die Ungarn die Honved, die Österreicher die Landwehr. Die davon getrennte gemeinsame Armee erhielt ihr Budget durch übereinstimmende Beschlüsse beider Reichsteile. Ungarn, von Deutschland nach der Devise divide et impera heimlich kräftig unterstützt, verhinderte jahrzehntelang eine angemessene Dotierung der gemeinsamen Landesverteidigung. So betrugen beispielsweise die Haushaltsmittel dafür im Jahre 1900 gerade einmal 35 % der britischen, 41 % der deutschen, 40 % der russischen und 45 % der französischen Finanzmittel. Was Großbritannien für 6 Divisionen aufwandte, musste in Österreich für 48 Divisionen reichen! 1914, vor dem Ausbruch des Krieges, hatte Österreichs Landesverteidigung gerade einmal eine Truppenstärke von 335.000 Mann und war damit eine der kleinsten Armeen Europas. Beim Ausbruch des 1. Weltkriegs hatte Deutschland Österreich schon weit hinter sich gelassen: in der Rüstung, in der Wirtschaftskraft, in der einheitlichen politischen Handlungsfähigkeit. Der Krieg wurde von Österreich in Verkennung seiner Schwäche betrieben und erklärt, kräftig angetrieben von der deutschen Kriegspartei und den Ungarn. Wie wir wissen, war dieser Krieg von allen anderen, auch Deutschland mit verursacht und in manchen Kreisen herbeigesehnt. Der „gute alte Kaiser“ war treibende Kraft und führend in der Kriegspartei, zusammen mit den Ungarn, die von
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Deutschland aus gesteuert waren. Der ermordete Kronprinz war strikter Kriegsgegner gewesen. Der Weltkrieg war für Österreich, wie Geoffrey Wawro es in seinem überaus Habsburg-kritischen neuen Buch formuliert, eine verrückte Katastrophe. Die Monarchie zerstörte die sich damit selbst und hätte es wissen können. Das Menetekel des unerwartet viel kostspieligeren und langwierigeren Bosnienkriegs 1908 war nicht richtig gedeutet worden. Schlecht gerüstet, die Pläne teilweise verraten, die Russen arrogant unterschätzend, von Unfähigen geführt, wurde Österreich in den ersten 6 Kriegsmonaten an der Ostfront vernichtend geschlagen. Eine verantwortungslose, unfähige Führung opferte Hekatomben von Soldaten, über 100.000 Soldaten starben in den ersten Monaten! Mein Großvater führte als Hauptmann eine Kompanie von Tiroler Kaiserschützen nach Galizien. Von den 250 Männern überlebten gerade 6 (sechs) die ersten Kriegsmonate. Danach übernahmen die Deutschen die politische und militärische Führung und retteten die Österreicher an vielen Fronten. Nach dem Tod des greisen Kaisers versuchte Kaiser Karl einen Sonderfrieden für Österreich mit Italien und den Alliierten, scheiterte, und war von dort an nur mehr ein Anhängsel der deutschen Kriegsführung. Das Land war tief gespalten: Die deutschsprachigen Österreicher verehrten die Deutschen, die anderen wollten ihre eigenen Unabhängigkeiten und Staatsnationen. Karl Kraus schildert dies alles bedrückend realistisch in seinem Monumentalwerk „die letzten Tage der Menschheit.“ In den Pariser Vororteverträgen, ein Jahrhundert nach dem Wiener Kongress, wurde Europa neu geordnet. Österreich spielte keine Rolle mehr, der Friedensvertrag wurde ihm diktiert. Die Habsburgermonarchie wurde beendet, die nichtdeutschen Reichsteile verließen die Monarchie, die Republik Österreich war nach den Worten des französischen Ministerpräsidenten das, was übrig blieb. Auf die Frage was denn Österreich sei, nach der Schaffung der Tschechoslowakei, des SHS Staates, Ungarns, Rumäniens, des neuen Italiens, Polens und der Ukraine antwortete Clemenceau trocken: „L’Autriche c’est ce qui reste.“ Dieses neu geschaffene Österreich glaubte nicht an seine eigene Lebensfähigkeit. Die Habsburger Monarchie hatte viel an Ansehen verloren, bei den Kleindeutschen vor allem durch den Versuch, ohne Deutschland einen Sonderfrieden zu erreichen, und bei den wenigen Österreich-Treuen durch die Unfähigkeiten der Kriegsführung. Die ehedem sogenannten Kleindeutschen wurden nun zu den Großdeutschen. Sie strebten eine Vereinigung Österreichs mit der Weimarer Republik an – also das Finis Austriae durch Selbstaufgabe. Die neue Republik nannte sich sogar offiziell Deutschösterreich und verstand sich als Teil der deutschen Nation und des Reichs. Dies war Konsens quer durch alle politischen Parteien. Mit dem Friedensvertrag von St. Germain wurde dieser Anschluss Österreichs verboten, es musste sich Österreich nennen und erhielt ein förmliches Anschluss-Verbot. Die kleine österreichische Republik fand nur schwer zu sich selbst, war ein Staat den keiner wollte. Der Anschluss blieb das Ziel der Meisten. Ein Bundesland nach dem anderen führte Volksabstimmungen darüber durch, die alle mit über 90 prozen-
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tigen Mehrheiten für Deutschland ausgingen, bis die Allierten weitere Abstimmungen verboten. Vorarlberg hatte sich im Übrigen für den Anschluss an die Schweiz entschieden, die Schweiz lehnte ab. Spöttisch nannte man damals Vorarlberg den Kanton Übrig. Österreich gab nicht auf: 1930 und 1931 versuchten es beide Regierungen noch einmal und schlossen einen Vertrag zur Bildung einer Zollunion ab. Die Alliierten sprachen sich massiv dagegen aus, übten finanziellen Druck aus, und befassten den Ständigen Internationalen Gerichtshof, der den Zollvertrag als im Widerspruch zu den österreichischen internationalen Verpflichtungen sah. Österreich blieb also gegen seinen Willen selbständig, die meisten im Parlament vertretenen Parteien waren großdeutsch, wollten also einen Anschluss an Deutschland so schnell wie möglich. Außenpolitisch war Österreich fast vollständig isoliert. Einzig das bald faschistische Italien unterstützte Österreich international. Im Inneren war Österreich mehrfach zerrissen. Die Sozialisten strebten nach der Diktatur des Proletariats, die Christlich-Sozialen trauerten der Monarchie nach, die dritte Kraft waren die Großdeutschen, die den Anschluss auch an Nazi-Deutschland wollten. Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 in Deutschland spaltete sich Österreich erneut in zumindest zwei Lager: die Christlich-Sozialen, die eine eigene Kanzlerdiktatur errichteten, und die Sozialisten und Großdeutschen im Untergrund und im Ausland, die den Anschluss oder eine Räterepublik anstrebten. Die Christlich-Sozialen unter der Führung von Engelbert Dollfuß wollten Österreich als zweiten deutschen Staat errichten und vertraten die Idee einer eigenen österreichischen Nation. Sie scheiterten an den Nationalsozialisten in Österreich und Deutschland und der inneren Gespaltenheit. Nach massivem deutschem Terror im Untergrund, Arbeiteraufstand, Bürgerkrieg, Ermordung des österreichischen Kanzlers, der Demütigung seines Nachfolgers Schuschnigg durch Hitler wurde 1938 der Anschluss vollzogen, Österreich wurde Teil des deutschen Reichs. 1945 wurde die Republik Österreich wieder errichtet. Die Grundsatz Entscheidung trafen schon 1943 Roosevelt, Stalin und Churchill, die zukünftigen Befreier in der Moskauer Deklaration. Die Initiative ergriffen 1945 die beiden großen politischen Lager: Sozialisten und Christdemokraten, geläutert durch die gemeinsame Haft in den deutschen Konzentrationslagern, vor allem in Dachau. Das war einer der Mythen am Beginn der 2. österreichischen Republik: der Mythos der Lagerstraße von Dachau. Der andere: Österreich als erstes Opfer der Nationalsozialisten, so bezeichnet in der Moskauer Deklaration der Alliierten 1943 und dankbar von den überlebenden Österreichern aufgenommen und als Standarte vor sich hergetragen. Zuerst von den Alliierten besetzt, konnte Österreich nach zehn Jahren zähen Ringens 1955 durch seinen Staatsvertrag von Wien die volle Unabhängigkeit gewinnen. Der politische Kaufpreis war ein erneuertes Anschlussverbot und die Erklärung der freiwilligen, immerwährenden Neutralität Österreichs. Der Staatsvertrag enthielt eine Reihe weiterer gegen Deutschland gerichtete Bestimmungen. Die neue Koalitionsregierung wagte keine Volksabstimmung über die Rückkehr zur Verfassung des Jahres 1920. Die Liebe zu Deutschland hatte Adolf Hitler vielen Österreichern
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ausgetrieben, die Großdeutschen wurden immer weniger, aber die Österreicher zweifelten an sich selbst. Der Gedanke einer eigenen österreichischen Nation wurde allerdings in der Folge immer durchschlagender, vor dem Eintritt in die EU 1995 bekannten sich schließlich 90 % der Bevölkerung dazu. Das Verhältnis zur BRD war zuerst gespannt. Die von Konrad Adenauer geführte Bundesrepublik war strikter Gegner der österreichischen Neutralität. Adenauer durchschaute, dass Österreich Gegenmodell zur deutschen Teilung und Lockvogel zugleich war: Gegenmodell zur festen Verankerung im freien Westen durch die Nato Mitgliedschaft der BRD und der Zugehörigkeit der DDR zum Warschauer Pakt – und Lockvogel: Vereinigung der beiden Teile Deutschlands nach österreichischem Muster: immerwährend neutral. Die Neutralität war ein gewagtes Experiment, auch in Österreich – es ging gut aus, das wusste man aber 1955 noch nicht! Es hätte ebenso gut eine Zwischenstufe zum Weg in die kommunistische Diktatur werden können. Kein deutscher Bundeskanzler besuchte nach dem Staatsvertrag und der Neutralitätserklärung Wien, kein österreichischer Bonn – das Verhältnis war offiziell korrekt, die Bevölkerungen natürlich befreundet. „Verfreundete Nachbarn“ nannte es später 1995 die österreichische Diplomatin Gabriele Matzner-Holzer ihr Buch über Österreichs Verhältnis zu Deutschland. 1962 wurden die offenen Vermögensfragen zwischen Deutschland und Österreich vertraglich geregelt, 1964 kam es zum ersten deutschen Staatsbesuch in Wien. Parallel dazu entwickelte sich das Verhältnis zur DDR besser als von der BRD gewünscht. Eine Rolle spielte dabei sicherlich auch die enge Zusammenarbeit mit den politischen Parteien der BRD. Die ÖVP Bundeskanzler hatten zu den Staatsmännern der CDU und CSU engere Beziehungen. Die Stars der Sozialdemokratie, versinnbildlicht durch das Trio Brandt – Palme – Kreisky arbeiteten auch recht eng miteinander und feierten sich auch international als das Gegenbild zur Herrschaft der Christdemokraten. Ab den frühen 60er Jahren spielte bereits die sich abzeichnende europäische Integration eine große Rolle. Die österreichischen Sozialdemokraten bevorzugten die EFTA als Freihandelsorganisation mit den anderen Neutralen, die Christdemokraten suchten den Beitritt zur EWG – und stellten auch schon 1966 einen Assoziationsantrag. So blieb das Verhältnis freundlich aber unterkühlt, die Beitrittsfrage zur EWG wurde von österreichischer linker Seite mit dem Anschlussverbot und der Neutralität verknüpft – die damals ideologisch noch recht linken Sozialisten wussten schon, dass die EWG eine Gemeinschaft der Sozialen Marktwirtschaft war und mit sozialistischen Visionen von einer Zentralverwaltungswirtschaft unvereinbar wäre. So trug Österreich im Verhältnis zu Deutschland Wasser auf beiden Schultern, der BRD und der DDR. Als Horst Sindermann, damals Präsident der DDRVolkskammer, im Zuge der Ostpolitik zu einer Aussprache in einen Ausschuss des europäischen Parlaments eingeladen wurde, stellten ihm zwei prominente Abgeordnete Fragen: Fürst Philip Bismarck und der Chef des Hauses Habsburg, Dr. Otto Habsburg. Der Sachse Sindermann, mit den Kopfhörern am Kopf vermeinte zu flüstern, als er sei-
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nem diplomatischen Begleiter für alle im Raum aber deutlich vernehmlich sagte: „Dem Preußen antworten wir nicht, aber dem Österreicher schon, schließlich sind wir mit den Österreichern 1866 gegen die Preußen im Felde gestanden …“ In einer Meinungsumfrage 1967 unter 1500 Österreichern nach den beliebtesten Nachbarn machten damals die Schweizer das Rennen. Die österreichische politische Elite war zweigeteilt: in die Ostler und die Westler. Die Ostler, vor allem in Wien vertraten die Neutralität quasi als Staatsdoktrin, pflegten besonders gute Beziehungen zu den Sowjets und den Staaten des Warschauer Pakts, und stellten der europäischen Integration nach dem Muster der supranationalen EWG ein vages Konzept von Mitteleuropa entgegen, das den Donauraum umfassen sollte. Die Westler strebten den Beitritt zur EWG an, Neutralität und Anschlussverbot hin oder her: Großdeutsch – Kleindeutsch wieder aufgelegt. In Österreichs öffentlicher Meinung wurde der Sonderstatus Österreichs als immerwährend neutrales Land zu einem politischen Leitmotiv und dann zur heiligen Kuh. Vor allem Bruno Kreisky benutzte eine politisch und wirtschaftlich konstruierte Neutralität als Basis für Österreichs globale Gehversuche im Rahmen der UNO und der Dritte Welt Bewegung. Die NATO – wenngleich heimlich als Garant gegen sowjet-kommunistischen Imperialismus herbeigewünscht – wurde öffentlich sehr niedrig gehängt. Deutschland wurde in diesem Rahmen als wirtschaftlich immer stärker, aber politisch unterentwickelt erlebt. Die Deutschen wiederum sahen in Österreich einen liebenswürdigen Trittbrettfahrer mit guten Wintersportlern und schönen Urlaubsorten. Aber Österreich änderte sich: aus einem Staat, den keiner wollte, wurde ein Staat, den plötzlich alle wollten. Die Österreicher selbst fanden zu ihrer Republik und wurden stolz auf ihre wirtschaftlichen Erfolge, auf die kulturellen Leistungen, die sportlichen Spitzenleistungen im alpinen Schisport. Auf die Frage: „ist Österreich eine eigenen Nation“ antworten heute 92 % völlig unbefangen „Ja“. Auch die österreichische Rolle im NS Staat begannen die Österreicher ab 1986 im Gefolge der Waldheim-Diskussion ehrlicher zu sehen. Erst 1993 wurde es ausgesprochen: die Republik war zwar Opfer, aber sehr viele Österreicher waren Täter. So war dann die Frage des deutsch-österreichischen Verhältnisses keine offene Frage mehr, die Beziehungen entwickelten sich unbefangen auf allen Ebenen. Die Perestroika und Michael Gorbatschow leiteten eine neue Entwicklung in Europa ein. Für Deutschland brachte sie letztlich die Vereinigung nach dem Mauerfall. Für Österreich den Beitritt zur Europäischen Union. Beides nicht vorhersehbare Umstürze fest verankert erscheinender politischer Ordnungssysteme. Die deutsche Entwicklung lief zeitlich nahezu parallel zur österreichischen. Mit Gorbatschow stand den EU Gegnern in Österreich plötzlich nicht mehr das Anschlussverbot an Deutschland und die Neutralität als Instrumente der Verhinderung zur Verfügung. Der EU Beitritt bedeutete keinen Anschluss, das setzte sich bald durch. Der politische Grund der Neutralität wurde von Gorbatschow ausdrücklich nicht mehr in Anspruch genommen, der Beitritt sei ausschließlich eine österreichische Frage, so erklärte er in Helsinki schon 1987.
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In der ÖVP überzeugten die Westler die noch zögernden Ostler, die gab es nämlich auch in der ÖVP. In der SPÖ war es der kühle Ex –Banker und damit wirtschaftlich geprägte Franz Vranitzky, der seine Partei wie ein Reiter sein Pferd zwischen die Knie nimmt und über die Hürde hebt, die SPÖ über die Hürde der ideologischen Bedenkenträger in die EG hineinhob. Die EG war einfach wirtschaftlich und politisch erfolgreicher als die EFTA und für Österreich war die Mitgliedschaft zur wirtschaftlichen Existenzfrage geworden. So entschloss sich die ÖVP im Jahre 1987 im Alleingang zur Antragstellung bei der EU, die SPÖ folgte etwas später. Die anderen EFTA Mitglieder, vor allem die Neutralen waren noch nicht so weit, und die EG zögerte. Frankreich wollte vor allem sein Verhältnis zu Russland nicht gefährden, das Entscheidungs-Establishment der EG fürchtete um die Vertiefung der Gemeinschaft und die Verwässerung durch neutralbleibende Mitglieder. Von 1987 an warb Österreich um die Mitgliedschaft, anfänglich auf hoffnungslosem Terrain. Österreich wurde von vielen anderen EG-Mitgliedern als kleiner deutscher Bruder gesehen, sozusagen die zweite Stimme Deutschlands in den Entscheidungsorganen. Daher war es sehr delikat, den richtigen Weg zu gehen. In dieser Situation erwiesen sich die Deutschen, allen voran Helmut Kohl als initiative, verlässliche und wirkkräftige Freunde Österreichs. Vor jedem europäischen Rat kamen aus Brüssel kalte Duschen, dann tagte der Rat und danach hatte Kohl eine Österreich-freundliche Entscheidung in der Schlusserklärung durchgesetzt – die er vorab mit Mitterand geklärt hatte. Sein Berater Joachim Bitterlich leistete dabei unschätzbare Dienste. So gelang schließlich der Beitritt, Österreich konnte alle Hürden nehmen. Die deutsche Frage, also das Verhältnis Österreichs zu seinem Nachbarn spielte dabei keine Rolle mehr, weder in der politischen Diskussion, noch in der Debatte vor der Volksabstimmung. Die Freiheitliche Partei, die aus ihrer „deutschnationalen“ Tradition schon sehr früh für einen EG Beitritt Österreichs geworben hatte, als Teil ihrer „Deutschtümelei“, sprang dann letztlich auf den Zug der Grünen und der Kommunisten, die gegen den Beitritt waren. Zwei Drittel stimmten für den Beitritt, eine Zustimmungsrate, die bis heute unverändert ist. Parallel dazu lief die deutsche Vereinigung: Ganz unabhängig von manchen Vorbehalten in der linken politischen Elite und bei manchen „Mitteleuropäern“ unterstützten das österreichische Volk und die öffentliche Meinung die deutsche Vereinigung aus vollem Herzen, und leistete dazu ihren kleinen Beitrag bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs und seiner späteren Zerstörung. Dennoch war es makaber, dass der damalige österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky nach dem Fall der Mauer, und vor der Vereinigung, noch einen offiziellen Besuch in der bereits zusammenbrechenden DDR machte, um mit der neuen Führung rund um Hans Modrow die Zusammenarbeit zu besprechen. Nur wenige Tage später machte die Volkskammerwahl 1990 dem ganzen Spuk ein Ende. Dennoch bewirkten EG-Beitritt Österreichs und deutsche Vereinigung eine völlig neue Qualität in den Beziehungen der beiden Staaten. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde immer enger und für beide Länder vorteilhafter, die Freizügigkeit
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schlug voll durch: Aus der heutigen EU stellen die Deutschen das größte Kontingent an sehr beliebten Zuwanderern, die in Österreich ihre wirtschaftliche Existenz dauerhaft begründen. Vor allem aus den neuen Bundesländern strömen viele in den Tourismus und sind dort sehr geschätzte Mitarbeiter. Politisch rückten Österreich und Deutschland enger zusammen, ohne Anschlussverdacht und Hegemonialstreben. In vielen wirtschaftlichen Fragen gehören beide EURO Länder in den gleichen Hartwährungsblock. Die Zusammenarbeit der Fachminister funktioniert problemlos, von Mobiltelefon zu Mobiltelefon. Die Neutralität Österreichs, von vielen in der EU vor dem Beitritt Österreichs als trojanisches Pferd gefürchtet, spielte seit der Umsetzung des Amsterdamer Vertrags in Österreich keine Rolle mehr. Es gilt die Formel: im Rahmen der EU und der UNO Solidarität, in außereuropäischen bilateralen Konflikten Neutralität. So wurde aus der integralen Neutralität eine differenzierende. Erstmals seit 1866 hat ein völlig verändertes Österreich wieder seinen Platz in einem völlig veränderten Europa erreicht. Die österreichische Außenpolitik wurde auf die Europa – Innenpolitik konzentriert, Donauraum und Balkan wurden weiterhin als Schwerpunkte der österreichischen Interessen gepflegt, die schließlich erfolgte Erweiterung der EU um die MOEL besonders betrieben – hier liefen österreichische und deutsche Anstrengungen parallel. Österreich machte es sich zur Maxime, bei allen weiteren Integrationsschritten mitzumachen – so bei der ESVP und beim EURO. Auch damit liefen seine Interessen parallel zu den deutschen. Der wirtschaftliche Erfolg Österreichs hielt an, es überholte bald Deutschland im Pro-Kopf-Einkommen und baute seinen Standort auch als Sitz Internationaler Organisationen aus. Auch als europäische Zentrale für viele in den MOEL tätig werdende Unternehmungen war und ist Wien attraktiv, Vorarlberg vor allem für Unternehmungen aus der Schweiz. Die österreichischen und die deutschen Regierungschefs „konnten“ stets gut miteinander – Helmut Kohl hatte ein Faible für Österreich, urlaubte regelmäßig im Salzkammergut – und auch die Zusammenarbeit in der Europäischen Volkspartei gestaltete sich sehr intensiv. Gleichermaßen engagierten sich die Sozialdemokraten in der Sozialistischen Internationale und arbeiteten eng mit den deutschen Sozialdemokraten zusammen. Eine besondere Krise ist heute zur Episode geworden: Wer erinnert sich heute noch an die im Jahre 2000 von den anderen EU Ländern über Österreich verhängten „Sanktionen“? Österreichs Christdemokraten hatten es gewagt, mit den Freiheitlichen Jörg Haiders eine Koalition einzugehen. Österreich wurde Opfer eines Scherbengerichts und ungerecht behandelt, darüber ist man sich heute weitgehend einig. Niemand will es im Übrigen gewesen sein, also die Schuld am damaligen Ostrazismus haben. Österreich wurde regelrecht gemobbt, seine Politiker- und Politikerinnen „geschnitten“, man sprach nicht mit ihnen. Deutschland unter Gerhard Schröder und Außenminister Josef Fischer hatte eine maßgebende Rolle gespielt, Schröders Kabinett organisierte die anderen, ausgekocht wurde das Ganze bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale am 26. Jänner 2000 in Stockholm. Die SPD unterstützte dabei ihre österreichische Schwesterpartei, CDU und CSU standen unverbrüchlich zu Österreich und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Wolfgang Schäuble und
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dann Angela Merkel als Parteivorsitzende gestalteten damit das Verhältnis zu Österreich noch enger und bewährten sich als treue Freunde. Beide, die Bundeskanzlerin und der Bundeskanzler arbeiteten von dort in einer neuen Qualität zusammen. Das ist so geblieben. Auch die Bevölkerungen nahmen die gemeinsame Währung und das Verschwinden der Grenzen dankbar in Kauf. Die wechselseitige Durchdringung wurde immer stärker, die Migrationsströme gehen und gingen durchaus in beide Richtungen. Die andauern große Anzahl deutscher Studenten in Österreich ist ein Sonderfall. Der Begriff der Kulturnation ist geschichtlich und ideologisch belastet. Die gemeinsame Sprache trennt uns allerdings nicht mehr, sondern verbindet uns, auch im Zeichen des Verlagswesens und der vielen gemeinsam gestalteten und gesehenen Fernsehprogramme. Auch der Fremdenverkehr ist nicht mehr Einbahnstraße. Sehr viele Österreicher „erarbeiten“ sich jene Städte und Gebiete, von denen sie immer schon gewusst und gelesen haben und die sie jetzt bereisen können: von Dresden in die Lausitz, in die Seenplatte, zu den historischen deutschen Städten, von Quedlinburg über Eisenach auf die Wartburg, Lutherstadt, Stralsund usw. und natürlich hat auch Berlin seine große Anziehungskraft. Deutschland war von Bonn nach Berlin übersiedelt, Berlin wurde planmäßig zur großen deutschen Metropole ausgebaut. Seine politische Rolle konzentrierte sich aber auf der europäischen Ebene. Die Finanzkrise 2008 machte den Ausbau der Wirtschaftsunion zu einer echten Währungs- und Finanzunion nötig. Deutschland setzte sich an die Spitze der Umgestalter. Die Sicherung der gemeinsamen Währung machte viele weitere Integrationsschritte in atemberaubender Geschwindigkeit nötig. Deutschland gestaltete und wies den Weg. Die EU Länder, die nicht zu den Euroländern gehörten gerieten etwas ins Hintertreffen. Ebenso jene Länder, welche die europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik mangels Reformkraft nicht mitmachen konnten – so rutschten große EU-Länder wie Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien in die zweite Reihe. Was sich schon längere Zeit vorher angedeutet hatte, wurde mit der Krim – Krise deutlich, die sich zur Ukraine Krise entwickelte. Das Ende der Geschichte ist in Europa, um Francis Fukuyama zu paraphrasieren, nicht erreicht: der Einbau Russlands in eine europäische Friedensordnung ist noch nicht gelungen. Der ganze Kontinent gerät wieder in Bewegung. Ebenso unruhig wurde es innerhalb der EU: die Griechenland- und Eurokrise im größeren EU Zusammenhang, im Inneren der Mitgliedsländer. Der Vormarsch der EU-feindlichen Parteien am rechten Rand zeigen, dass große Herausforderungen noch zu beantworten sind. Angela Merkel und Frank Walter Steinmeier ist es gelungen, in wechselnden Allianzen innerhalb der EU die unbestrittene Führungsrolle recht unaufdringlich zu spielen. Geführt vom Bundespräsidenten und klar ausgesprochen von Ursula von der Leyen unlängst in München, kehrt Deutschland als mittlere Macht in die Weltpolitik zurück. Neue Anfechtungen tun sich allerdings auf, die antideutschen Gefühle in Krisenländern der Union sind beunruhigende Zeichen von erneut stärker werdenden zentri-
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fugalen Kräften in der Union. Bei allem ist die alte bipolare Welt, geprägt vom Antagonismus zwischen NATO, id est der freie Westen, und dem Warschauer Pakt, id est die Knechtschaft des Kommunismus, schon lange dahingegangen. Die USA als Führungsmacht ist nicht sehr erfolgreich und daher umstritten, die NATO sucht ihre neue Rolle – vieles weitere könnte man nun anführen, aber hier ist nun der Schlusspunkt zu setzen. Bonn ist nicht Berlin – ja, das trifft zu. Aber die Befürchtungen, nach der deutschen Vereinigung weit verbreitet, waren und sind unbegründet. Deutschland hat sich weiter entwickelt, wurde stärker, aber diese Stärke wird im europäischen Einigungswerk gezeigt und genutzt, nicht in bilateralem Großmachtstreben. So wurde Deutschland nach dem Mauerfall, der mehrfachen Erweiterung der Union, ihrer damit gleichlaufenden ständigen Vertiefung, mehr als nur der Primus inter Pares in der EU. Das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland erreichte eine neue Qualität: aus dem Wettlauf um den ersten Platz im deutschen Sprachraum, den zuerst Österreich einnahm, um dann von Deutschland abgehängt zu werden, ist eine gleichberechtige Partnerschaft innerhalb der Europäischen Union geworden. Weder die Politiker, noch die politischen Eliten, noch die Bevölkerungen haben miteinander grundsätzlich Probleme. Das geht so weit, dass sich die Österreicher sogar freuen, wenn ein Deutscher das Schifliegen gewinnt und damit nicht mehr fünf Österreicher unter den ersten Drei sind.
Die deutsch-französischen Beziehungen in der Ära „Merkollande“ Vom Umgang mit dem Anpassungsdruck in den internationalen Beziehungen Ulrich Pfeil Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 wurden nicht zuletzt im 50. Jubiläumsjahr des Élysée-Vertrages 2013 als Beispiel für eine geglückte Versöhnungsgeschichte beschrieben.1 Nachdem drei Kriege innerhalb von 75 Jahren das Konstrukt des „Erbfeindes“ zu bestätigen schienen, gelang es relativ schnell nach Kriegsende, einen politischen und gesellschaftlichen Annäherungsprozess einzuleiten sowie ein immer dichter werdendes soziokulturelles Netz zu weben, das bis heute einzigartig in seiner Vielfalt ist.2 Den Rahmen dieser Beziehungen bildete zum einen die Europäische Integration mit ihrem Prinzip der Kontrolle durch Einbindung als Grundlage der französischen Sicherheitspolitik.3 Für die Bundesrepublik war die Westbindung die Möglichkeit, staatliche Souveränität Schritt für Schritt zurück zu erlangen. Zum anderen erleichterte der 1947 ausgebrochene Kalte Krieg die Annäherung zwischen beiden Ländern, denn nach und nach machte das Feindbild vom deutschen Nachbarn der Vorstellung von den „Russen am Rhein“ Platz. Dass Deutschland dabei geteilt war, mag dem einen oder anderen Franzosen den Annährungsprozess zudem erleichtert haben. Die Blockbildung rückte eine Wiedervereinigung in weite Ferne, so dass sich die verschiedenen französischen Präsidenten beruhigt zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen bekennen konnten, denn die Nagelprobe schien nicht absehbar. So war ein Beziehungsgleichgewicht entstanden, in dem seit den 1970er Jahren die Bundesrepublik eher in Wirtschaftsfragen den Ton angab, während Frankreich politisch dominierte.4 1
Vgl. Corine Defrance, Die Meistererzählung von der „Versöhnung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) 1/3, S. 16 – 22. 2 Vgl. Nicole Colin/Corine Defrance/Ulrich Pfeil/Joachim Umlauf (Hrsg.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013. 3 Vgl. Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/Main 2014. 4 Vgl. Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949 – 1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, 2 Bde., München 2001; Corine Defrance/Ulrich Pfeil, Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 10: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945 – 1963, Darmstadt 2011; Hélène Miard-Delacroix, Deutsch-französische Geschichte, Bd. 11: Im Zeichen der europäischen Einigung: 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt 2011.
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Mit dem Fall der Berliner Mauer, der deutschen Einigung und dem Ende der Bipolarität des Kalten Krieges geriet dieses ganze Koordinatensystem ins Rutschen.5 Deutschland hatte mit der Einheit sein prioritäres außenpolitisches Ziel erreicht, während Frankreich seine Rechte für Deutschland als Ganzes verlor und damit in gewisser Weise auch seinen Status als Siegermacht. Das wiedervereinigte Deutschland weckte dabei nicht alleine bei François Mitterrand ernste Sorgen vor einer Machtverschiebung, wie nicht zuletzt bei seiner DDR-Reise im Dezember 1989 zum Ausdruck kam.6 Deutlich wurde aber in den 1990er Jahren, dass sich Frankreich einem Veränderungsdruck stellen musste. Noch in den Monaten vor der Vereinigung drängte Paris auf eine Vertiefung der europäischen Integration, wollte es Mitterrand doch nicht ausschließen, dass Deutschland mit der Öffnung der Grenzen nach Osten abdriftet, ganz nach dem bis heute nicht völlig vergessenen Rapallo-Komplex.7 Ohne die deutsch-französischen Beziehungen schön oder glatt reden zu wollen, ohne die unterschiedlichen Interessen im europäischen Integrationsprozess aus den Augen zu verlieren, so erreichten es die beiden Ländern doch immer wieder in den letzten 25 Jahren, dem Einigungsprozess entscheidende Impulse zu geben. Auch im Irakkrieg 2003 gelang es Deutschland und Frankreich im Vorfelde des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages, anfangs unterschiedliche Positionen zu einem Kompromiss zu führen und den USA die Stirn zu bieten.8 Genannt seien hier weiterhin die Währungsunion, die Verträge von Maastricht und Lissabon sowie institutionelle Fragen bei der EU-Erweiterung. Diese deutsch-französische Fähigkeit zur Kompromissbildung gehört sicherlich zu den herausstechenden Charakteristiken der deutsch-französischen Beziehungen. Hier hat sich der Élysée-Vertrag maßgeblich bewehrt, denn er sorgte gerade ab den 1970er Jahren für eine kontinuierliche Arbeit am Projekt der deutsch-französischen Verständigung und Kooperation.9 Er hatte die Regierenden in beiden Ländern zu regelmäßigen Konsultationen verpflichtet, die zwar bisweilen von eisiger Kälte geprägt waren, so dass es den Übersetzern oft schwerfiel, das Schweigen des einen in die Sprache des anderen zu übertragen, doch ließ er den Kontakt nie abbrechen und zwang die verantwortlichen Politiker, vor der interessierten Öffentlichkeit Resultate zu präsentieren. Der Abstim5 Vgl. Wichard Woyke, Deutsch-Französische Beziehungen – Das Tandem fasst wieder Tritt, Opladen 22004. 6 Vgl. Ulrich Lappenküper, Mitterrand und Deutschland – die enträtselte Sphinx, München 2011. 7 Vgl. Andreas Wilkens, Retour à Rapallo. À propos d’un mythe qui vient de loin, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.), Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XXe siècle = Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bern 2012, S. 87 – 110. 8 Vgl. die Einleitung in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 – 1963 – 2003, München 2005. 9 Vgl. Claudia Hiepel, Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München 2012; Matthias Waechter, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre, Bremen 2011.
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mung dienen auch seit Januar 2001 die sogenannten Blaesheim-Treffen, bei denen sich Kanzler und Staatspräsident informell und ohne feste Tagesordnung austauschen und gerade im Vorfelde von Gipfelgesprächen auf europäischer Ebene Positionen harmonisieren. Der breiteren Konzertation dient seit 2003 der Deutsch-Französische Ministerrat, eine halbjährliche Zusammenkunft des deutschen Bundeskabinetts mit dem französischen Kabinett. Sie gingen mit der Kompromissbildung also vielfach mit gutem Beispiel voran, so dass auch die innereuropäische Kompromissbildung vorankam. Zudem gelang es beiden Ländern oft, Bilateralismen zu multilateralisieren. Mögen dabei manche Staaten auch mit den Zähnen knirschen, so stehen doch keine alternativen Staatenpaare oder -koalitionen noch führungsstarke EUInstitutionen bereit, um den deutsch-französischen Bilateralismus zu ersetzen. Deutsch-französische Uneinigkeiten bzw. misslingende Kommunikation blockieren vielmehr den europäischen Einigungsprozess und beeinträchtigen seine Handlungsfähigkeit, wie sich beim Gipfel in Nizza vom Dezember 2000 zeigte, als Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorfelde darauf pochte, Deutschland stehe im Ministerrat der Europäischen Union aufgrund seiner Bevölkerungszahl mehr Einfluss zu, und Jacques Chirac auf stur schaltete. Dabei muss es im Interesse von Paris und Berlin sein, dritte Partner stets mit ins Boot des Abstimmungsprozesses zu nehmen, wie sich u. a. bei der europäischen Finanzkrise zeigte, die einen funktionierenden und offenen deutsch-französischen Bilaterismus als unverzichtbares Ordnungselement erfordert.10 Diese skizzenhafte Einleitung in die Pfeiler der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 soll die Grundlage sein, um auf den folgenden Seiten die Entwicklung dieses Beziehungspaares in der Gegenwart zu diskutieren. Ausgangspunkt soll dabei die Wahl von François Hollande zum französischen Staatspräsidenten im Mai 2012 sein, der sich schwierige Beziehungen zwischen Paris und Berlin anschlossen. Der Russland-Ukraine-Konflikt ab 2014 war hierbei Kristallisationspunkt, der beide Seiten vor neue Herausforderungen stellte und vermutlich noch stellen wird,11 so dass er als Lackmustest für die Fähigkeit der deutsch-französischen Beziehungen verstanden werden kann, sich dem Veränderungsdruck auf internationalem Parkett zu stellen und eigenständige Lösungsansätze zu präsentieren.
10 Vgl. Daniel Göler/Joachim Schild, Reformperspektiven der EU nach Nizza, in: Dokumente, 57. Jg. (2001) H. 6, S. 1 – 14; Joachim Schild, „Den Rhein vertiefen und erweitern?“ Deutsch-französische Beziehungen nach dem Nizza-Gipfel, in: Aktuelle Frankreich-Analysen, hrsg. v. Deutsch-Französischen Institut, Ludwigsburg, 7. Jg. (2001), H. 17, S. 1 – 12. 11 Vgl. auch Stephan Martens, La politique à l’Est de l’Allemagne unifiée. Changements dans la continuité ou l’Ostpolitik à l’épreuve de la crise ukrainienne, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande, 47. Jg. (2015), H. 1, S. 59 – 76.
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I. Verschiebungen im internen Gleichgewicht der deutsch-französischen Beziehungen Seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise, aber stärker noch mit dem Beginn der Eurokrise 2010 einigen Jahren beobachten wir eine Verschiebung in der internen Balance zwischen Deutschland und Frankreich als Folge einer divergierenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Wurde dieser Eindruck anfangs durch das Bild vom Paar „Merkozy“ überdeckt, das die Öffentlichkeit in die Tradition der deutsch-französischen Paarbildung seit Adenauer und de Gaulle stellte, gelang es François Hollande nach seinem Amtsantritt im Mai 2012 nicht, in den deutsch-französischen Beziehungen eine Brücke über den Rhein zu Angela Merkel zu schlagen. Anscheinend wollte er es der Kanzlerin nicht vergeben, dass sie sich in den Präsidentschaftswahlkampf zugunsten seines Widersachers Nicolas Sarkozy eingemischt und es sogar abgelehnt hatte, den Kandidaten Hollande zu einem Gespräch im Kanzleramt zu empfangen, wie es in der Vergangenheit Tradition gewesen war. Wie wir jetzt aus einem Dokument wissen,12 das Wikileaks veröffentlicht hat,13 plante Hollande noch vor Merkels Antrittsbesuch in Paris eine geheime Einladung an eine SPD-Delegation (Sigmar Gabriel, Frank-Walter-Steinmeier und Peer Steinbrück). Auf Anraten des damaligen Premierministers Jean-Marc Ayrault wurde diese dann aber doch offiziell im Élysée-Palast empfangen.14 Unterschiedliche wirtschaftliche Ansätze, Konsolidierung der Haushalte auf der einen, Investitionspolitik auf der anderen Seite, erschwerten zudem eine Annäherung bzw. eine gemeinsames Vorgehen in der europäischen Schuldenkrise. Selbst den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages im Jahre 2013 konnten Merkel und Hollande nicht nutzen, um den Beziehungen einen neuen Elan zu geben. Bei den gemeinsamen Auftritten schien es eher bis zum Frühjahr 2014 zu fremdeln, so dass der freundschaftliche Umgang in erster Linie gespielt wirkte. Noch beim deutsch-französischen Ministerrat im Élysée-Palast im Februar 2014 kam es wie eine kleine Provokation herüber, als Angela Merkel zu Hollande sagte: „Na, dann müssen wir uns überlegen, lieber François, wohin wir mal gemeinsam fahren können.“15 Doch auch im weiteren Verlauf des Jahres 2014 war in den deutsch-französischen Beziehungen keine gemeinsame Richtung festzustellen. Vielmehr deuteten Aussagen verschiedener deutscher Politiker in den letzten Wochen des Jahres 2014 darauf hin, dass sie mit Frankreich langsam die Geduld zu verlieren schienen, wie u. a. ExKanzler Gerhard Schröder am 3. Dezember 2014 in Regensburg: „Wir haben in 12 Vgl. Manuela Wiegel, Der Zorn des Präsidenten. NSA spioniert Frankreich aus, in: FAZ vom 24. 6. 2015. 13 Vgl. French President Approves Secret Eurozone Consultations, Meeting with German Opposition, 22. 5. 2012; https://wikileaks.org/nsa-france/intercepts/WikiLeaks_NSA_Eaves drops_Hollande_on_Greek_Exit.pdf (letzter Zugriff am 25. 6. 2015). 14 Ein Besuch von Freunden, in: Zeit Online vom 14. 6. 2012; http://www.zeit.de/politik/ deutschland/2012-06/spd-troika-hollande (letzter Zugriff am 25. 6. 2015). 15 Manuela Wiegel, Ein Präsident findet seine Rolle, in: FAZ vom 5. 2. 2015.
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Deutschland notwendige Strukturreformen früher als andere europäische Staaten gemacht. Diese stehen nun vor vergleichbaren Herausforderungen, insbesondere Frankreich und Italien.“16 Auch Angela Merkel wurde deutlicher, wie in der „Welt“ vom 7. Dezember 2014: „Die Kommission hat einen Zeitplan festgelegt, wann Frankreich und Italien weitere Maßnahmen vorlegen müssen. Das ist vertretbar, denn beide Länder befinden sich ja tatsächlich in einem Reformprozess. Die Kommission hat aber auch deutlich gemacht, dass das, was bis jetzt auf dem Tisch liegt, noch nicht ausreicht. Dem schließe ich mich an.“17 Der Reformunwille westlich des Rheins und die damit einhergehenden schlechten Wirtschaftszahlen waren auch immer wieder Anlass für die deutsche Presse, sich am Nachbarn abzuarbeiten. Fragen wie „Wird Frankreich das neue Griechenland?“18 oder das von „Bild“ und „Focus“ bemühte Wortspiel „Krankreich“19 sowie die vom „Handelsblatt“ gewählte Bezeichnung „Bonsai-Machiavelli“20 für François Hollande taten ihr Übriges, um die Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis immer wieder anzuheizen. Parallel zu einem nicht zu übersehenden Frankreich-Bashing in der deutschen Presse war auf französischer Seite eine gespaltene Öffentlichkeit zu beobachten. Gemein war ihr, dass sie Deutschland zum Referenzpunkt für innerfranzösische Reformdebatten machte. Dabei war das „modèle allemand“ für die einen Vorbild, für die Anderen hingegen Vogelscheuche, was nicht selten zu germanophoben Äußerungen aus den verschiedenen Lagern der politischen Landschaft in Frankreich führte21. Bevorzugt waren diese zu hören, wenn auf französischer Seite der Eindruck entstand, dass Deutschland sich in die inneren Angelegenheiten Frankreichs einmische. In aller Schärfe bekam dies Wolfgang Schäuble zu spüren, den der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon dazu aufforderte, sich bei den Franzosen zu entschuldigen.22 In Karikaturen wurde Deutschland dabei in unterschiedlicher Weise als dominieren16 Manuskript der Rede von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder an der Universität Regensburg am Dienstag, 2. Dezember 2014; http://gerhard-schroeder.de/2014/12/03/agenda2030/ (letzter Zugriff am 22. 6. 2015). 17 Würden Sie Krieg mit Russland führen, Frau Merkel?, Interview in „Die Welt“ vom 7. 12. 2014. 18 Vgl. Frank Doll, Krisenherd in der Euro-Zone. Kann Frankreich das neue Griechenland werden?, in: Wirtschaftswoche, 9. 5. 2015. 19 Vgl. u. a. Dirk Müller-Thederan, Hollande in Not. Regierungs-Chaos in KRANKreich, in: Bild vom 25. 8. 2014; Tanja Kuchenbecker/Henning Lohse, Der Krankreich-Report, in: Focus online vom 8. 9. 2014 (letzter Zugriff am 25. 6. 2015). 20 Thomas Hanke, Der Bonsai-Machiavelli: Hollande. Frankreichs Präsident brüskiert aus Parteiräson die Partner, in: Handelsblatt 73/16. 4. 2015, S. 14. 21 Vgl. Georges Valence, Petite histoire de la germanophobie, Paris 2013. Typisch für diesen links-nationalen Diskurs ist u. a. Guillaume Duval, Made in Germany. Modèle allemand au-delà des mythes, Paris 2013. 22 Vgl. „Wolfgang Schäuble suscite l’ire de la classe politique française“, in: Le Point.fr, 17. 4. 2015; http://www.lepoint.fr/politique/wolfgang-schauble-suscite-l-ire-de-la-classe-poli tique-francaise-17-04-2015-1922311_20.php (letzter Zugriff am 22. 6. 2015).
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des Land in Europa dargestellt, dem sich Frankreich zu unterwerfen bzw. zu gehorchen habe. Deutsches Drängen auf eine Sanierung des französischen Haushalts wird dabei oft als Ausdruck einer Sparpolitik verstanden, die Frankreich immer weiter in die Krise treibe. So sind auch die französischen Forderungen zu verstehen, Wachstum, Beschäftigung und staatliche Investitionsprogramme zu unterstützen, wie im Oktober 2014 im Magazin „Le Nouvel Observateur“ zu lesen war, das auf der Titelseite den deutschen Warnruf „Achtung!“ hinterherschickte.23 Auch mit Referenz an die deutsche Besatzung, aber in eine völlig andere Richtung, ging der französische Fußballweltmeister von 1998, Emmanuel Petit, der vor allem die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse Frankreichs zum Ausdruck brachte: „Manchmal denke ich, dass es uns Franzosen besser gehen würde, wenn uns Deutschland damals (während des Zweiten Weltkrieges, U.P.) besetzt hätte und uns nun führen würde“. Und weiter: „Deutschland zeigt uns heute, dass es besser ist als wir. Politisch, wirtschaftlich und in sportlicher Hinsicht.“24 Letztere Bemerkung sollte sicherlich nicht überbewertet werden, sagt sie doch weniger über das französische Deutschlandbild aus, sondern ist vielmehr Ausdruck für die tiefe Unzufriedenheit der Franzosen mit der eigenen politischen Klasse. Auch wenn Politikeraussagen wie die Zitierten zumindest das wechselseitige positive Bild vom Nachbarn nicht allzu stark beeinflusst zu haben scheint25, so hielten es die beiden Generalsekretäre des Deutsch-Französischen Jugendwerkes im September 2014 gleichwohl für geboten, sich im „Nouvel Observateur“ in die Debatte einzumischen. Sie beklagten den kriegerischen Stil mancher öffentlicher Äußerung auf beiden Seiten des Rheins und befürchteten, dass sie die deutsch-französischen Beziehungen zu einem Zeitpunkt weiter schwächen würden, als beide Länder dazu aufgerufen waren, den 100. Jahrestag des Kriegsausbruch von 1914 feierlich zu begehen.26
23 Vgl. dazu: Stefan Simons, Frankreichs Sozialisten: Zusammenprall der Egos, in: Spiegel online, 24. 10. 2014; http://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-streit-von-hollande-undvalls-entzweit-sozialisten-a-998946.html (letzter Zugriff am 22. 6. 2015). 24 Emmanuel Petit, „En ayant été envahis par les Allemands, on serait mieux dirigés“, in: L’Express, 2. 12. 2014; http://www.lexpress.fr/actualite/sport/football/emmanuel-petit-enayant-ete-envahis-par-les-allemands-on-serait-mieux-diriges_1628233.html (letzter Zugriff am 25. 6. 2015). 25 Vgl. in einem größeren Kontext: Corine Defrance/Ulrich Pfeil, Die Entwicklung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Martin Koopmann u. a. (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, Baden-Baden 2013, S. 179 – 198. 26 Vgl. Béatrice Angrand/Markus Ingenlath, France–Allemagne: les dérapages verbaux des politiques fragilisent cette relation, in: Le Nouvel Observateur vom 22. 9. 2014.
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II. Auf dem Weg zu einer neuerlichen Annäherung Als Anfang 2014 der Russland-Ukraine-Konflikt ausbrach, waren Paris und Berlin also schlecht vorbereitet, war das Verhältnis doch zu sehr von gegenseitigen Missverständnissen geprägt gewesen. François Hollande stand in Deutschland im Ruf, in außenpolitischen Fragen unerfahren zu sein, war er doch vor seiner Präsidentschaft nie Minister, sondern einzig Vorsitzender der Parti socialiste gewesen. Diese mangelnde Erfahrung in diplomatischen Fragen beeinträchtigte auch die Definition einer gemeinsamen Politik in Osteuropa, das bis 2014 „ein blinder Fleck auf seiner Landkarte“ war.27 Hinzu kamen die innenpolitischen Probleme, Wirtschaftskrise, steigende Arbeitslosigkeit, Reformblockaden und unterirdische Popularitätswerte. Er wollte ein „président normal“ nach dem „président bling-bling“ sein, doch erntete dafür nur Hohn und Spott. Berlin beobachte es mit Sorge, dass sich Frankreich im Ukraine-Konflikt zu dieser Zeit so wenig exponierte. Während eines OSZE-Ministertreffens in Basel, bei dem die Lage im Osten der Ukraine besprochen wurde, weilte Außenminister Laurent Fabius lieber bei einem bilateralen französisch-algerischen Treffen in Paris. Darüber hinaus zauderte Präsident Hollande bei der Entscheidung, ob Frankreich die beiden Hubschrauberträger vom Typ „Mistral“ an die russische Marine liefern sollte. Entschlossener zeigte er sich dagegen gegenüber Putin bei dem bilateralen Treffen auf dem Moskauer Flughafen am 7. Dezember 2014 in der Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Er bekräftigte gegenüber seinem russischen Gesprächspartner Frankreichs Überzeugung, ein mögliches Nato-Beitrittsgesuch der Ukraine nicht zu unterstützen. Dafür erwarte er jedoch ein Entgegenkommen von Putin im Ukraine-Konflikt. Das Zusammentreffen der beiden Staatsmänner blieb nicht ohne Kritik, denn es drängte sich der Eindruck auf, dass Putin den französischen Staatspräsidenten nur empfangen habe, um den Westen und die Europäische Union in der UkraineFrage zu spalten. Merkel verteidigte hingegen weiterhin ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen der EU-Staaten gegenüber Russland: „Ich bin überzeugt, dass die gemeinsame europäische Antwort auf Russlands Handlungen richtig ist.“28 Deutlich wurde ein weiteres Mal, dass eine bilaterale Politik mit Moskau keinen Erfolg versprach, im Gegenteil, sie drohte eine einheitliche europäische Linie in Frage zu stellen. Zudem zeigte es sich, dass Frankreichs Gewicht in den internationalen Beziehungen, nicht zuletzt als Folge seiner schwachen Wirtschaftsdaten, sichtlich abgenommen hatte.
27
Manuela Wiegel, Ein Präsident findet seine Rolle, in: FAZ vom 5. 2. 2015. Hier auch folgendes Zitat. 28 Albrecht Meier, Hollande glaubt nicht an Nato-Beitritt Kiews, in: Der Tagesspiegel vom 7. 12. 2014.
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III. Das Attentat gegen „Charlie hebdo“ als Wendepunkt Es bedurfte wohl des Attentats gegen „Charlie hebdo“ am 7. Januar 2015, um auch in der Frage einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik neue Wege zu gehen. Hollande schien nun endlich seine Rolle als Staatspräsident gefunden zu haben, zeigte überzeugend Härte gegen die Attentäter und Empathie gegenüber der eigenen Bevölkerung. Bei seiner halbjährigen Pressekonferenz am 5. Februar gab er sich staatstragend. Hollande sagte selber, dass ihn das Attentat gegen „Charlie hebdo“ verändert habe. Mit stärkerem Selbstbewusstsein trat er in der Tat auf, was bereits bei dem Schweigemarsch nach den Attentaten zu sehen war, bei dem es Hollande in dieser Konstellation erstmals gelang, mehrere Dutzend Staatsmänner nach Paris zu holen. Trauer und Stolz auf ihre Republik vereinten Millionen Franzosen, und François Hollande schritt voran, mit Angela Merkel an seiner Seite, so dass er zum ersten Mal in seiner Amtszeit sein Land inkarnierte und bei den Franzosen Stolz auf ihren Präsidenten aufkam. Der Kampf gegen den Terror – den Frankreich in Mali, in der Sahelzone und im Irak führt – gab Frankreich wieder das Gefühl, seinem Selbstverständnis als Land der Menschenrechte näher zu kommen, und damit ein „großes Land“ zu sein: Frankreich als Land, das sich für seine Werte erhebt und sich auch seiner Verantwortung für eine europäische Friedensordnung bewusst ist. Der Publizist Alain Duhamel brachte es auf folgende Formel: „Die Tragödie machte aus François Hollande einen Staatsmann.“29 Diese Pressekonferenz vom 5. Februar warf aber auch ein neues Bild auf die deutsch-französischen Beziehungen. Nach seinen Ausführungen zum internationalen Terrorismus kam Hollande schnell auf die Ukraine-Krise zu sprechen: „Aber der Frieden ist auch an den Grenzen Europas in Gefahr, in der Ukraine. Ja, in der Ukraine herrscht Krieg. Schwere Waffen sind in Gebrauch, Zivilisten werden jeden Tag getötet“. Die Vision von einem „totalen Krieg“ nur wenige Flugstunden von Paris entfernt bewog auch Hollande, gemeinsam mit Deutschland möglichst schnell nach einer diplomatischen Lösung zu suchen: „Seit dem 6. Juni 2014 ist Frankreich zusammen mit Deutschland aktiv. Mit Angela Merkel haben wir in den vergangenen Monaten viel gearbeitet, wiederholt Aufrufe gestartet, mit beiden Parteien gesprochen. Und wir konnten Fortschritte erzielen, sie haben den Befürwortern des Kräftemessens nicht standgehalten. Sanktionen wurden erhoben, sogar zahlreiche, die ihre Wirkung hatten, aber nicht zu einem Ende der Feindseligkeiten geführt haben. Also habe ich zusammen mit Angela Merkel beschlossen, eine neue Initiative zu ergreifen. Wir werden heute Nachmittag nach Kiew reisen und einen neuen Vorschlag zur Beilegung des Konflikts unterbreiten.“30
Hollande scheint in diesen Wochen mehr und mehr Vertrauen zu Merkel gefasst zu haben, die ihrerseits Zeichen gesandt hatte, die zerbrechlichen Knospen eines deutsch-französischen renouveau nicht unnötig kaputt zu machen. Dies zeigte 29
Alain Duhamel, La réunification de François Hollande, in: Libération vom 11. 2. 2015. http://www.ambafrance-de.org/Pressekonferenz-von-14460 (letzter Zugriff am 25. 6. 2015). 30
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sich u. a. Anfang Dezember 2014, als sich Nicolas Sarkozy nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der UMP kurzerhand zum CDU-Parteitag einlud, ohne jedoch die CDU-Spitze informiert zu haben: „Offenbar wollte der Franzose das Duo Merkozy, das gemeinsam die Eurozone durch die Schuldenkrise geführt hatte, wieder beleben. Ein Auftritt neben der mächtigsten Politikerin Europas hätte Erinnerungen an die alten Zeiten geweckt – und seinen angekratzten Ruf verbessert.“31 Als Sarkozy dann kurz darauf selber den Besuch in Köln aus „Termingründen“ absagte, hatte Merkel ein Problem weniger und konnte sich wieder ganz auf Hollande konzentrieren.
IV. Gemeinsame Politik im Normandie-Format Die Ukraine-Krise gab beiden Ländern die Gelegenheit, den deutsch-französischen Motor wieder anzuwerfen. Erste schüchterne Anzeichen waren bereits am Rande der Feierlichkeiten aus Anlass des 70. Jahrestages der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 2014 zu beobachten gewesen, als sich Hollande und Merkel gemeinsam als Mittler zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem designierten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko einschalteten. Die vier Politiker kamen im „Normandie-Format“ zusammen, das das französische Nachrichtenmagazin „L’Express“ – mit dem Wissen um den schiefen Vergleich – als kleine Schwester von Jalta bezeichnete.32 Es erwies sich für diesen Zweck als sehr viel effizienter als das 1991 ins Leben gerufene „Weimarer Dreieck“, das anfänglich das Ziel verfolgte, nicht nur Polen, sondern auch die anderen neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen.33 In der weiteren Folge sollte es als loses außenpolitisches Gesprächs- und Konsultationsforum dazu dienen, die Politik der drei Länder untereinander besser abzustimmen. Nachdem die drei Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Laurent Fabius und Radoslaw Sikorski Anfang Februar 2014 nach Kiew gereist waren, kamen sie am 31. März und 1. April in Weimar sowie am 24. Oktober bei Paris zusammen, um über die künftige Perspektive der Ukraine, das Verhältnis zu Russland und die europäische Nachbarschaftspolitik zu diskutieren. Hier regte sich nun aber Widerstand in London und Rom, die sich übergangen sahen; zudem fühlten sich die Russen von den Aussagen Sikorskis im Oktober 2014 provoziert, der in einem Interview verlauten ließ, dass Putin Polen bereits 2008 die Zerschlagung der Ukraine vorgeschlagen habe, so dass er zurückrudern musste und von einer Überinterpretation seiner
31 Severin Weiland, Neuer UMP-Chef: Sarkozy kommt doch nicht zum CDU-Parteitag, in: Spiegel online vom 5. 12. 2014. 32 Sébastian Pommier, Ukraine: la diplomatie made in „Normandie“, in: L’Express vom 19. 2. 2015. 33 Vgl. in einem breiteten Kontext: Corine Defrance/Michael Kißener/Jan Kusber/Pia Nordblom (Hrsg.), Deutschland – Frankreich – Polen seit 1945. Transfer und Kooperation, Brüssel 2014.
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Worte sprach.34 Steinmeier reagierte und lud in der Folge mehrmals seine Außenministerkollegen aus Paris, Moskau und Kiew in die Villa Borsig nach Berlin ein, um im Normandie-Format die Diskussionen vertraulich weiter zu führen. Mochten London, Rom und Brüssel über dieses Vorgehen auch nicht wirklich begeistert gewesen sein, so wurde die deutsch-französische Initiative doch eher akzeptiert. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch Sand im Getriebe in dem Verhältnis zwischen der Kanzlerin und dem Staatspräsidenten war, so demonstrierten die beiden Außenminister Steinmeier und Fabius den Willen zur engen Kooperation, der im Jahre 2014/15 auch in gemeinsamen Besuchen in Georgien, Moldawien, Tunesien und Nigeria zum Ausdruck kam. Das wechselseitige Vertrauen bekundeten sie zudem durch die Anwesenheit des deutschen Außenministers bei einem französischen Ministerrat im Mai 2014 und die Teilnahme von Fabius an einer Kabinettssitzung in Berlin im November des gleichen Jahres, so dass der französische Außenminister schon witzelte: „Wenn Frank-Walter nicht mit seiner Frau zusammen war, dann war er mit mir zusammen.“35 Nachdem die französische Ostpolitik in den Monaten zuvor eher blass geblieben war, begann sie nun wieder an Profil zu gewinnen. Unter dem Eindruck einer immer dramatischeren Situation in der Ost-Ukraine und den US-Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine reisten Hollande und Merkel am 5. Februar nach Kiew und Moskau, um über einen Ausweg aus der Krise zu sprechen. Beide setzten damit ein wichtiges Zeichen, war der Ausgang dieser Initiative doch ungewiss – und ist es auch weiterhin, wie Stefan Kornelius in der SZ vom 5. Februar schrieb: „Wieder einmal exponieren sich die wichtigsten Vermittler in diesem Krieg, wieder einmal setzen sie ihr politisches Kapital ein – und wieder einmal haben sie keine Garantie; dass ihr Einsatz auch belohnt wird.“36 Schon dass Angela Merkel und François Hollande in der ersten Februarhälfte viele Stunden und Tage zwischen Paris, Berlin, Kiew, Moskau und Minsk miteinander verbrachten, deutete auf eine Veränderung in ihrem persönlichen Verhältnis hin. Nach den innenpolitischen Querelen und Diskussionen um sein Privatleben verstand er den Schritt von Merkel in seine Richtung als Aufwertung, so dass er mit einer „gewissen Gelassenheit“ darüber hinweg sehen konnte, „wer hier wen mit nach Minsk genommen hat“37. Zugleich erhielt auch das deutsch-französische Duo eine neue Dimension, denn Merkel und Hollande handelten bei ihren Bemühungen um den Frie34 Russlands Präsident Wladimir Putin hat Polen nach Angaben des ehemaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski schon im Jahr 2008 eine Aufteilung der Ukraine vorgeschlagen. Putin habe diesen Vorschlag dem damaligen polnischen Regierungschef Donald Tusk bei dessen Besuch in Moskau unterbreitet, zitierte das US-Magazin Politico Sikorski: „Er wollte, dass wir uns an der Aufteilung der Ukraine beteiligen“, wird Sikorski weiter zitiert. 35 Zitiert nach: Gregor Mayntz, Steinmeier und Fabius: Freunde in schwerer See, in: Rheinische Post vom 16. 10. 2014. 36 Stefan Kornelius, Wie Merkel und Hollande die Eskalation stoppen wollen, in: SZ vom 5. 2. 2015. 37 Manuela Wiegel, Köchin und Kellner, in: FAZ vom 7. 3. 2015.
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den in der Ukraine über den Rahmen der Europäischen Union hinaus. Dass sie sich in Minsk am 11./12. Februar 2015 zu einem Akteur in den internationalen Beziehungen aufschwangen, muss als Novum bezeichnet werden. Dass sich Deutschland für dieses Format entschied, hatte vermutlich verschiedene Gründe. Zum einen konnte den amerikanischen Hardlinern der Wind aus den Segeln genommen werden, die Waffenlieferungen an die Ukraine forderten, wohingegen Merkel und Hollande immer wieder betonten, dass es nur eine politische Lösung geben könne. Darüber hinaus kam Berlin Forderungen auch aus Washington nach, in der internationalen Politik stärkere Verantwortung zu übernehmen. Das gemeinsame Vorgehen mit Frankreich ermöglicht es Merkel dabei aber, den deeskalierenden Ansatz zu bevorzugen. Michaela Wiegel von der FAZ weist auf einen weiteren Aspekt hin: „Dass Paris dabei ist, soll auch deutlich machen, Deutschland vermittle nicht im Bismarckschen Sinne als ehrlicher Makler, sondern sei als Teil Europas Partei, nämlich jene, die das Interesse leitet, die Souveränität der Ukraine und damit die europäische Sicherheitsarchitektur politisch zu verteidigen. Freilich kommt in der Hinzunahme Frankreichs auch ein immer noch vorhandenes Unbehagen Berlins mit seiner neuen Rolle zum Ausdruck: Frankreich als Feigenblatt – weniger, um Ängste anderswo vor deutscher Hegemonie zu zerstreuen, als vielmehr, um Selbstzweifel zu überdecken.“38
Frankreich sieht sich durch seine neue Rolle an der Seite Deutschlands in seinem Selbstverständnis als europäische Führungsmacht bestätigt, nachdem die wirtschaftliche Schwäche der letzten Jahre diese Rolle trotz Sitz im UN-Sicherheitsrat und Atomstreitmacht in Frage gestellt hat. Betonte schon de Gaulle immer den besonderen „Rang“ Frankreichs in der Welt, so scheint auch Hollande an alte glanzvolle Zeiten anknüpfen zu wollen, „als ohne Frankreich in und für Europa nichts entschieden werden konnte“39. Ähnlich wie der General drängt auch Hollande nun immer stärker darauf, die europäische Friedensordnung als Sache der Europäer zu verstehen. Diese Sicht auf die Dinge resultiert zum einen aus der Abwesenheit von Großbritannien auf der europäischen Bühne, denn angesichts des von David Cameron in Aussicht gestellten Referendums über die EU-Mitgliedschaft von Großbritannien und dem Erstarken der euroskeptischen Kräfte scheint sich der Premierminister im Vorfelde der Unterhauswahlen auf dieser Bühne nicht exponieren zu wollen, im Gegenteil: London muss nun den Preis „für seine Hau-drauf-Politik in Brüssel“ bezahlen.40 Zum anderen sind die Gründe in einem gestörten Verhältnis zur Obama-Administration zu suchen, die zwar Syrien mit den Luftschlägen gedroht hatte, dann jedoch vor einer solchen Entscheidung Abstand genommen hatte, während Hollande die französische Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Zugleich sieht auch die französische 38
Majid Sattar/Michaela Wiegel, Merkel und Hollande Zwei für alle Fälle, in: FAZ vom 13. 2. 2015. 39 Ebd. 40 Stefanie Bolzen, „No“ hat keine Chance, in: Die Welt vom 5. 4. 2015; Merkel und Hollande gemeinsam, Cameron einsam, in: FAZ vom 26. 5. 2015.
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Seite in den von den USA ins Spiel gebrachten Waffenlieferungen an die Ukraine keine Lösung, würden sie doch nur zu einer Eskalation der Lage beitragen.41 Außerdem blickt Frankreich immer wieder gerne in die Geschichte zurück, um sich Kraft für die Gegenwart und Zukunft zu holen, während Deutschland hier zwangsläufig in Sprache und Symbolik zurückhaltender ist, reservierter auftritt und sich fast schon fatalistisch den neuen Herausforderungen stellt.
V. Beziehungen auf Augenhöhe? Wer sich momentan die deutsch-französischen Beziehungen im Sommer/Herbst 2015 anguckt, mit abgestimmten Kommuniqués, regelmäßigen Telefonabsprachen, gemeinsamen Reisen, Verhandlungen und Auftritten als europäisches Führungsduo, der fühlt sich bisweilen schon an die Hochzeiten des couple Kohl/Mitterrand erinnert, an das der Sozialist Hollande unlängst schon einmal erinnert hatte. Die deutsch-französischen Beziehungen lebten ab den 1970er Jahren immer von einem Verhältnis auf Augenhöhe. Weil Frankreich in letzten Jahren wirtschaftlich immer abgehängter wirkte, schien dieses Charakteristikum jedoch keine Tragfähigkeit mehr zu besitzen. Deutschland war sich seinerseits aber auch bewusst, dass es in Europa kein leadership ausüben kann und wohl auch nicht will, wie aus der Rede von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der 51. Münchner Sicherheitskonferenz abzulesen war: „Verstehen wir unter Führung das Führen mit der Pickelhaube? Nein! Führen in der Form, dass Deutschland das Lenkrad an sich reißt und die Richtung vorgibt? Nein! Führung, indem Deutschland voranstürmt, weil es glaubt, Nummer eins unter Europäern sein zu müssen? Nein! Das alles entspricht nicht der politischen Kultur Deutschlands im 21. Jahrhundert. Ich möchte sagen, zu welcher Art Führung Deutschland sehr wohl bereit ist: Es ist die Führung aus der Mitte. Dies ist der Anspruch, den unsere Partner an uns haben – und dies sollte auch unser eigener Anspruch an uns selbst sein. Führen aus der Mitte bedeutet, selbst das Beste an Ressourcen und Fähigkeiten in die Bündnisse und Partnerschaften einzubringen […]. Wir verstehen Führen aus der Mitte so, dass dadurch andere Partner mit weniger Ressourcen ihre unverzichtbaren Beiträge auf Augenhöhe einbringen können. Und in dieser Logik verzahnen wir unsere Fähigkeiten.“42
Indem die Bundesrepublik keine Bereitschaft zeigt, sich in der Außen- und Sicherheitspolitik alleine zu exponieren, gab sie auch Frankreich wieder die Möglichkeit, sich als außenpolitischer Führungspartner Deutschlands zu profilieren. Die Verhandlungen im Rahmen der Ukrainekrise geben Hoffnung, dass das deutsch-franzö41 Vincent Jauvert, Hollande en Ukraine : un voyage pour contrer les Américains, in: L’Obs vom 5. 2. 2015. 42 Manuskript der Rede der Verteidigungsministerin anlässlich der 51. Münchner Sicherheitskonferenz, München, 6. 2. 2015; http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYvBCsI wEET_aDfpTW_WgngREUHrRdJmCQtNUtZtvfjxJofOwIPhMfjC0uRWDk45JzfhE_uR98 MXhrgGiJz4oyS8RPAk722DkKeEj3r3BGNOpJVKSbkwiNMsMGfRqZpFpBhgj72xX Wus2WJ_u_vpeLk2je3O7Q3nGA9_o3h5fQ!!/ (letzter Zugriff am 2. 10. 2015).
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sische Tandem wieder Tritt gefasst haben könnte. Ob die Hoffnung in Berlin, Hollande bringe, gestärkt durch diplomatische Erfolge, die Kraft auf, nun auch die innenpolitischen Strukturreformen anzugehen mit Blick auf die Schuldenkrise in Europa, gerechtfertigt ist, muss sich zeigen. Welch große Sensibilität Merkel und Hollande an den Tag legen müssen, zeigte sich nach ihrem gemeinsamen Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, als sie der belgische Premier Charles Michel erbost fragte, mit welchem Mandat sie gesondert verhandelt hätten. Doch angesichts der fehlenden Autorität der EU und ihrer Führungspersönlichkeiten erscheint es angesichts der Krisen in der Ukraine und in Griechenland nur notwendig, dass sich Berlin und Paris in einer Union der Gleichen in begründeten Fällen über dieses Prinzip hinwegsetzen. Da eine deutsche Sonderrolle für Berlin nur schwer zu schultern ist bzw. „für den Rest der EU nicht immer gut zu ertragen“, geht kein Weg an einem konzertierten deutsch-französischen Vorgehen vorbei: „Zur Schau getragene Stärke führt in der EU nur zur Schwäche. Sie provoziert Abwehr und macht Führung unmöglich […]. Zumindest in dieser Hinsicht ist die Union wieder dort angekommen, wo sie schon vor Jahrzehnten war. Sie lebt von wechselnden Bündnissen, unterschiedlichen Interessengemeinschaften, ist zur Fortbewegung aber immer angewiesen gewesen auf den deutsch-französischen Motor. Wenn er läuft, ist er den anderen gelegentlich zu laut. Steht er aber, ist die Stille nicht zu ertragen.“43
Das außenpolitische Parkett gab Hollande die Gelegenheit, von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten zuhause abzulenken. Doch schon wenige Tage nach den Gesprächen von Minsk erinnerte die EU-Kommission Frankreich daran, seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. EU-Währungskommissar Pierre Moscovici forderte von seinen ehemaligen Ministerkollegen in Paris, bis April ein „ehrgeiziges und detaillierteres nationales Reformprogramm“ vorzulegen, sonst drohen der Regierung in Paris schlimmstenfalls Strafzahlungen. Gleichzeitig muss Frankreich bis 2017 die Neuverschuldung unter die im Maastricht-Vertrag vorgesehene Marke von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) drücken. Die EU-Kommission gibt den regierenden Sozialisten in Paris jetzt bis zum Jahr 2017 Zeit, um dieses Ziel zu erreichen. Spätestens bei der schweren Niederlage der französischen Sozialisten bei den Départementswahlen im März 2015 zeigte sich jedoch, wie geschwächt François Hollande und sein Premierminister Manuel Valls auf innenpolitischem Parkett sind. Nach den Kommunalwahlen im März 2014 und den Europawahlen im Mai des gleichen Jahres straften die Wähler den französischen Staatspräsidenten und seine sozialistische Partei ein weiteres Mal für die schlechte Wirtschaftslage, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, ausbleibendes Wachstum und die vielen Schulden ab. Zwar konnte der Front national nicht die vorausgesagten Ergebnisse erzielen und sich in keinem Département durchsetzen, doch sind die Wahlergebnisse ein deutliches Zeichen für einen Rechtsruck in der politischen Landschaft Frankreichs. 43 Daniel Brössler, Darum müssen es Merkel und Hollande allein machen, in: SZ vom 20. 3. 2015.
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Auch in der eigenen Partei gerät Manuel Valls immer stärker unter Druck, droht die Partei doch ihre lokale Verankerung zu verlieren.44 Auch wenn er immer wieder betont, die Reformen für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes fortsetzen zu wollen, so geriet dieser vom linken Flügel der Partei als sozialdemokratisch diffamierter Kurs zunehmend in die Kritik45. Dass sich Valls am Tag nach dem zweiten Wahlgang dazu entschloss, nicht zum deutsch-französischen Ministerrat zu reisen, sondern sich der Kritik aus der eigenen Partei zu stellen, deutet auf die explosive Stimmung innerhalb der PS hin. Der linke Flügel sieht sich in seiner Kritik am Wirtschaftskurs der Regierung bestätigt. Ganz allgemein lässt sich aber festhalten, dass das Wahlergebnis ein weiteres Anzeichen dafür ist, dass sich viele Franzosen in der globalisierten Welt bedroht und fremd fühlen, gerade weil sie bei den traditionellen politischen Eliten oftmals nicht die Antworten auf ihre Fragen finden. So vermitteln die Wahlergebnisse erneut den Eindruck, dass „zwischen Berlin und Paris derzeit Welten liegen“46, was die deutsch-französische Kooperation in Zukunft nicht erleichtern wird. Die deutsche Öffentlichkeit sieht Hollande in der Zwickmühle, denn wenn er sich nicht zu noch weitergehenden Reformen durchringt, werde er 2017 keine zufriedenstellende wirtschaftliche Lage präsentieren können und nur wenige Chancen auf eine Wiederwahl besitzen. Bei einem wirtschaftsfreundlicheren Kurs müsse er jedoch damit rechnen, dass ihm seine immer noch in sozialistischen Dogmen verharrende Partei die Gefolgschaft verweigere. So stand der 17. Deutsch-französische Regierungsgipfel am 31. März 2015 zweifellos im Schatten der französischen Innenpolitik, doch gleichzeitig spiegelten die Bilder beider Politiker eine bis Januar 2015 nicht gekannte Herzlichkeit. Nach dem Attentat gegen „Charlie-Hebdo“ und dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen seien Deutschland und Frankreich „in Bewährungsproben enger zusammengerückt“, so Angela Merkel. François Hollands wies auf die besonderen Herausforderungen hin, mit denen beide Länder in diesen Situationen konfrontiert waren: „Da sind unsere beiden Länder nur noch ein Land.“47 Ein enger Vertrauter von Hollande sprach von einer „connivence spontanée“ („spontanen Einverständnis“).48 Zusammen mit diesen tragischen Ereignissen scheint die Unterzeichnung von „Minsk 2“ jedoch auch positive politische Konsequenzen zu haben, so dass die beiden französischen Journalisten Dominique Gallois und Frédéric Lemaître 44
Vgl. Bruno Cautrès, Départementales: cette défaite va coûter cher au PS. Elle fragilise les finances du parti, in: http://leplus.nouvelobs.com/contribution/1346835-departementalescette-defaite-va-couter-cher-au-ps-elle-fragilise-les-finances-du-parti.html (letzter Zugriff am 31. 3. 2015). 45 Wegen Wahlschlappe: Frankreichs Premier Valls sagt Berlin-Besuch ab, in: http://www. euractiv.de/sections/eu-innenpolitik/wegen-wahlschlappe-frankreichs-premier-valls-sagt-berlinbesuch-ab-313396 (letzter Zugriff am 31. 3. 2015). 46 Nikolas Busse, Frankreich im Zweifel, in: FAZ vom 30. 3. 2015. 47 Vgl. Sascha Lehnartz, Woche der „deutsch-französischen Brüderlichkeit“, in: Die Welt vom 7. 4. 2015. 48 Hollande, à Berlin, doit rassurer Merkel après sa défaite électorale, in: ladepeche.fr vom 31. 3. 2015.
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bereits von einem neuen „mythe franco-allemand“ sprechen.49 Pragmatischer und mit weniger Pathos beschreibt Sascha Lehnartz das momentane Verhältnis zwischen Hollande und Merkel: „Die Situation ist nicht ohne Ironie, denn möglicherweise bemerkt Merkel gerade dieser Tage, dass sich in krisenhaften Zeiten wie diesen mit dem berechenbaren Präsidenten – der im Übrigen einen ähnlich trockenen Humor pflegt wie die Bundeskanzlerin – eigentlich in Europa geräuschloser und effizienter Politik machen lässt als mit einem eher irrlichternden Politikertypus wie Nicolas Sarkozy […]. Man darf bezweifeln, dass man auf den Fluren des Kanzleramtes angesichts der Möglichkeit eines Sarko-Comebacks bereits Freudentänze aufführt.“50
Die Situation in der Ost-Ukraine – genauso wie die in diesem Beitrag nicht thematisierte Griechenlandkrise – erforderte in der ersten Jahreshälfte 2015 eine permanente Abstimmung zwischen Paris und Bonn. Gerade auf der Ebene der Außenminister bzw. im Normandie-Format setzten die Vertreter aus Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine ihre Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts fort. So trafen sie sich u. a. am 13. April 2015 in Berlin zum fünften Mal in dieser Konstellation und riefen nach bisweilen kontroversen Gesprächen die Konfliktparteien auf, die Mitte Februar beschlossene Waffenruhe einzuhalten und die schweren Waffen abzuziehen. Darüber hinaus sollten vier Arbeitsgruppen eingesetzt werden, die sich mit humanitären, wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Fragen in der Ost-Ukraine beschäftigen. Nachdem es anfangs als erstes positives Ergebnis verstanden wurde, dass die prorussischen Separatisten eine einseitige Waffenruhe im Donbass verkündeten,51 waren in der Folge doch immer wieder Verstöße gegen die Minsker Friedensvereinbarungen zu beobachten gewesen. Die Brüche der Waffenruhe und der neuerliche Einsatz schwerer Waffen bewogen schließlich Merkel und Hollande am 22. Juni, gemeinsam mit Putin am Telefon die Situation in der Ost-Ukraine zu besprechen.52 Am folgenden Tag trafen sich die vier Außenminister in Paris erneut im „Normandie-Format“ und forderten „eine schnelle Deeskalation und eine sofortige Waffenruhe, die Fortschritte im politischen, humanitären und sozio-ökonomischen Bereich erlaubt.“53 Ob es zu einer dauerhaften friedlichen Regelung kommen wird, bleibt weiterhin fraglich. So werden auch in Zukunft neue deutsch-französische Anstrengungen von Nöten sein, doch der Ausgang bleibt ungewiss.
49 Dominique Gallois, Frédéric Lemaître, Berlin et Paris affichent leur „entente cordiale“, in: Le Monde vom 31. 3. 2015. 50 Sascha Lehnartz, Woche der „deutsch-französischen Brüderlichkeit“, in: Die Welt vom 7. 4. 2015. 51 Vgl. Benoît Vitkine, En Ukraine, une trêve de plus en plus fragile, in: Le Monde vom 14. 4. 2015. 52 Merkel telefoniert 45 Minuten mit Putin zur Ukraine, in: Die Welt vom 22. 6. 2015. 53 Die von Laurent Fabius veröffentlichte Erklärung wurde zitiert nach: Außenminister fordern Waffenruhe im Donbass, in: FAZ vom 24. 6. 2015.
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VI. Fazit Die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 verdeutlicht eindrücklich, dass dieses bilaterale Verhältnis nicht ohne weiteres als blütenweiße Erfolgsgeschichte verstanden werden kann, sondern sich durch ein permanentes Auf und Ab, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sowie Unvollkommenheiten auszeichnet. Die Komplexität dieser Beziehungen spiegelt auch der Élysée-Vertrag, dessen Ziele schon bei seiner Unterzeichnung umstritten waren, so dass viele der guten Absichten lettre morte blieben bzw. erst viele Jahre später umgesetzt werden konnten. Dabei zeigte sich über die Jahre, dass es Frankreich und der Bundesrepublik immer wieder gelang, unterschiedliche Interessen – bisweilen auch nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen – zu überwinden. Dass die jeweiligen Regierungen in Paris und Bonn/Berlin in einen neuen deutsch-französischen Arbeitsmodus gelangen, erwartet die große Mehrheit der öffentlichen Meinungen in beiden Ländern, aber auch im Ausland. Berlin und Paris werden sich dabei mit den amerikanischen Interessen und dem Ruf nach der Einbindung Dritter und nationalen Egoismen konfrontiert sehen.54 Weiterhin wird die deutsch-französische Kooperation Hoffnungen wecken, aber auch Enttäuschungen provozieren, wenn sie nicht funktioniert, wie in der ersten Phase unter Merkel und Hollande. Die Krisen in der Ukraine und in Griechenland haben aber ein weiteres Mal gezeigt, dass Europa ein eng abgestimmtes couple franco-allemand braucht, um die anstehenden Probleme zu lösen: „Das neue deutsch-französische Bündnis könnte Europa eine neue Handlungsfähigkeit verleihen – nicht nur außenpolitisch. Noch ist Europa nicht verloren.“55
54 Theo Sommer, Europäische Union. Wir brauchen die Polen, in: Zeit online vom 30. 6. 2015. 55 Peter Riesbeck, Spätes Glück, in: Berliner Zeitung vom 26. 1. 2014.
Die Länderneubildung und Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie am Beispiel des Freistaates Sachsen Matthias Rößler Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Tilman Mayer, meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall 1989 und der deutschen Einheit 1990 blicken wir an den beiden vor uns liegenden Tagen gemeinsam mit namhaften Wissenschaftlern auf die Grundlagen und die Entwicklung unserer Länder zurück, die damals geschaffen worden sind. In diesem ersten Beitrag wende ich mich daher ganz bewusst noch einmal den Anfängen zu und liefere eine Binnenperspektive aus sächsischer Sicht, um meine Erfahrungen und Bewertung zum Einigungsprozess und zur neuen politischen Kultur am Beispiel des Freistaates Sachsen in die Diskussion einzubringen. Denn die Länderneubildung und Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie infolge der friedlichen Revolution und der deutschen Einheit war der zukunftsentscheidende Systemwechsel im Deutschland des 20. Jahrhunderts. An seinem Anfang stand die friedliche Revolution, deren 25. Jubiläum wir im vorigen Jahr deutschlandweit gewürdigt haben. Überall in der DDR ist im Herbst 1989 Weltgeschichte geschrieben worden. Zu Hunderttausenden trugen Bürgerinnen und Bürger ihre Forderungen nach Freiheit und Demokratie auf die Straßen und Plätze hinaus. Aber der entscheidende Wendepunkt wird immer mit dem 9. Oktober in Leipzig verbunden sein. Mit dem Demonstrationszug der 70.000 hat sich entschieden, dass diese Revolution als eine friedliche in die Geschichte Einzug gehalten hat. Es entstanden basisdemokratische Gruppierungen und neue Parteien. In Städten und Gemeinden wurden Ende 1989 und Anfang 1990 Runde Tische ins Leben gerufen, an denen zwischen alten und neuen Kräften um die politische Zukunft, die Reform der gesamten Gesellschaft und den Weg der Demokratie gerungen wurde. Die Wiedererrichtung der Länder war eine der wichtigsten sächsischen Forderungen der friedlichen Revolution. Gestatten Sie mir, dass ich an dieser Stelle Biografie und Zeitgeschichte in der persönlichen Erinnerung verknüpfe. Ich selbst habe vor 1989 nicht zur organisierten Opposition gehört, hatte meine Nische in unserer evangelischen Kirche und wäre vielleicht irgendwann nach dem Westen ausgereist. Aber ich demonstrierte als junger Gastwissenschaftler 1984 mit polnischen Solidarnosc-Kollegen in Danzig gegen das
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Kriegsrecht und stimmte in der Kommunalwahl 1989 gegen die Kandidaten der Nationalen Front. Im Herbst 1989 stürzte ich mich regelrecht in die politische Arbeit und habe mich nach gezielter Suche – am 9. November 1989 war ich noch bei einer SPD-Gründungsveranstaltung – im Dezember dem Demokratischen Aufbruch angeschlossen. Ich wollte nie eine andere oder bessere DDR, sondern die Wiedervereinigung Deutschlands. Wir – und damit meine ich die Mehrheit der DDR-Bürger im Jahr 1990 – wollten leben wie im anderen Teil unseres Vaterlandes. Diese Ziele konnte ich in dieser neuen Partei konsequent verfolgen. Im Ringen um die ersten freien Wahlen in der DDR verfasste ich im Januar 1990 zumindest für Dresden erste Flugblätter des Demokratischen Aufbruchs, das westdeutsche politische Freunde in einer Stückzahl von 60.000 Exemplaren gedruckt haben. Der Inhalt des Flugblattes spiegelt die politischen Positionen des Demokratischen Aufbruchs von 1989/1990 authentisch wider, gewissermaßen als zeitgeschichtliches Dokument. Er endet mit den Sätzen: „Die staatliche Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung ist Nahziel unserer Politik. Der Weg dazu führt von einer vertraglichen Bindung zwischen den deutschen Staaten über einen Staatenbund zum Bundesstaat. Dazu brauchen wir die schnellstmögliche Wiedereinrichtung der Länder. Der Demokratische Aufbruch fordert Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung!“
Diese Position war damals durchaus keine Selbstverständlichkeit. Der Bürgerrechtler und Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs Rainer Eppelmann wie Ministerpräsident Lothar de Maiziere und seine Regierung versuchten damals möglichst lange an der eigenständigen DDR festzuhalten. Große Teile des Demokratischen Aufbruchs wollten das nicht. Nach unserer Meinung musste die Wiedervereinigung schnell kommen. Wir diskutierten damals sogar darüber, nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik beizutreten, notfalls als neukonstituierte Bundesländer ohne die restliche DDR. Einer der Gründe dafür bestand in der Sorge, dass sich die SED-Kader nach dem Schock der Demonstrationen wieder sammeln würden. Es entbrannte ein Kampf um die Besetzung der neuen Verwaltungsstrukturen. Daher galt es dafür zu sorgen, dass die alten Funktionäre abgelöst wurden und nicht wiederum beherrschenden Einfluss bekämen. Man musste den Mut haben, selbst nach der Macht, der politischen Verantwortung zu streben. Viele Vertreter der anderen Gruppen an den Runden Tischen, geprägt vom kirchlichen Oppositionsmilieu, wollten eigentlich keine Macht ausüben. Diese fatale Schwäche, die für die DDR-Opposition vom ersten Tag an bezeichnend gewesen ist, hat die Gruppe des heutigen Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz, der vom Neuen Forum kam und in die CDU eintrat, in Sachsen bewusst durch-
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brochen. Wir beschränkten uns nicht auf die Montagsdemonstrationen und nicht auf endlose Diskussionen. Wir begannen unseren Marsch in die Verwaltung des Rates des Bezirkes Dresden. Wir griffen nach der Macht in Sachsen an den Runden Tischen, in der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg und dem Koordinierungsausschuss zur Bildung des Landes Sachsen. Die Geburtsstunde des Runden Tisches des Bezirkes Dresden – für die ich hier als Vertreter des Demokratischen Aufbruchs aus eigener Erfahrung sprechen kann – schlug am Abend des 8. Dezember 1989, nur einen Tag nach der Bildung des zentralen „Runden Tisches“ in Berlin. „Der Runde Tisch wurde notwendig, um für das Volk, das durch Machtmissbrauch und Korruption der ehemaligen Staats- und Parteiführung, unter Ausnutzung der festgeschriebenen Führungsrolle der Partei der SED, in eine tiefe Krise geführt wurde, umfassende demokratische Strukturen zu schaffen. Er ist legitimiert durch den Willen des Volkes, das auf der Straße gewaltfrei den Weg zur Demokratie erzwungen hat.“
Mit diesen Sätzen leitete der Runde Tisch des Bezirkes Dresden sein Statut ein, das im Januar 1990 beschlossen worden ist. Zu diesem Zeitpunkt stand der Runde Tisch noch unter erheblichem Einfluss des Rates des Bezirkes und widmete sich unter diesem Einfluss einem bunten Strauß von Themen. Die alten Machthaber beschäftigten uns Bürgerbewegte anfangs mit allen möglichen Dingen, zum Beispiel mit der Versorgungslage und den Schließungszeiten von Kindergärten. Wie eine Schar von Hühnern – ich gebrauche einmal dieses Bild – pickten wir in irgendwelchen Ecken die Körner auf, die die Funktionäre ausstreuten. Während dessen haben die hinter unserem Rücken ihre Schäfchen ins Trockene gebracht, Immobilien und Konten beiseite geschafft und ihre Machtpositionen stabilisiert. Es gab allerdings ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Beratungen des Runden Tisches zog: Das war die Wiedererrichtung des Landes Sachsen. Der Moderator des Runden Tisches und als mein Amtsvorgänger der spätere langjährige Präsident des Sächsischen Landtags, Erich Iltgen, erinnert sich, dass am 18. Januar 1990 zum allerersten Mal am Runden Tisch die Idee auftauchte, das Land Sachsen zu gründen. Der Runde Tisch fasste den Beschluss, den Rat des Bezirkes zu beauftragen, „am 25. Januar 1990 dem Runden Tisch in Berlin einen Vorschlag für einen gemeinsamen Antrag an die Volkskammer der DDR zur föderalistischen Landesstruktur vorzulegen.“ Nach nur sechs Wochen bestätigte ein Beschluss der 11. Beratung am 1. März: „Der Runde Tisch stimmt dem Vorschlag der Tagungsleitung zur Bildung einer Initiativgruppe für die Koordinierung der Aktivitäten des Runden Tisches und der Räte der Bezirke zur Bildung des Landes Sachsen zu.“
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Der Wortlaut der vorstehend genannten Entschließung lässt erkennen, dass neben dem Bezirk Dresden auch die anderen beiden sächsischen Bezirke Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz und Leipzig schon an der Erarbeitung von Unterlagen zur Bildung des Landes Sachsen beteiligt waren. Die nun folgenden Wochen waren die wohl entscheidendsten in der Arbeit des Runden Tisches und dem Ringen zwischen alten und neuen Kräften, das damit permanent verbunden gewesen ist. Zuerst ging es darum, den Räten der Bezirke die Macht zu nehmen. Sie hatten sie an sich gerissen, als die SED-Regierung 1989 gelähmt und handlungsunfähig geworden war. Eine Gemischte Kommission Sachsen/Baden-Württemberg etablierte sich und bildete zehn Arbeitsgruppen für unterschiedliche Politikfelder. Unter dem Druck der Runden Tische und des CDU-Fraktionsvorsitzenden Erwin Teufel im Stuttgarter Landtag, der als erster voll auf die neuen politischen Kräfte gesetzt hat, leiteten dann prominente Vertreter der Basisdemokratie eigene Arbeitsgruppen. Ursprünglich durch meine Herkunft aus der kirchlichen Umweltbewegung und dem Demokratischen Aufbruch mehr auf Umweltpolitik fixiert, habe ich mich dann aber doch für den Bereich Wissenschaft und Bildung entschieden. Ich leitete die Fachkommission „Wissenschaft und Bildung“, besetzt mit Rektoren, Prorektoren und Bezirksschulräten. Ziel war die Zusammenarbeit in allen Bereichen von Wissenschaft und Bildung, vor allem zwischen Schulen, Universitäten und Hochschulen, wissenschaftlichen Bibliotheken und Archiven, Einrichtungen der Erwachsenenbildung sowie Jugendpflege, Jugendarbeit und Sport. Die oftmals stasibelasteten AltKader wurden einer nach dem anderen durch unbelastete Personen aus Basisgruppen und Initiativen ersetzt. Am 18. März 1990 fanden nach vier Jahrzehnten kommunistischer Diktatur in der DDR erstmals freie, gleiche und geheime Wahlen zur Volkskammer statt. In einer Situation, die vom intensiven Tauziehen um die Rolle der Bezirksgremien im Landesbildungsprozess bestimmt war, tagte der Runde Tisch des Bezirkes Dresden am 29. März 1990 erstmals in der an die Volkskammerwahlen angelehnten Zusammensetzung. Die erste demokratische Wahl der Volkskammer hatte also ganz sichtbare Auswirkungen im Sinne der parlamentarischen Demokratie auf den Runden Tisch des Bezirkes Dresden. Eine Sitzung aus dieser Phase ist es wert, an dieser Stelle ganz besonders hervorgehoben zu werden. Ein Antrag, der drei Wochen zuvor noch zu einer ergebnislosen Endlosdebatte geführt hatte, kam bei der 17. Sitzung am 19. April 1990 zum Beschluss: Der Runde Tisch richtete an den Bezirkstag die Empfehlung, sich aufzulösen. In Leipzig reagierte der Runde Tisch am selben Tag mit einem entsprechenden Beschluss zur Selbstauflösung des Bezirkstages. Zu Reformen aus sich selbst heraus eigneten sich die Strukturen des SED-Staates nicht. In der gleichen Sitzung wurde auf SPD-Antrag eine Arbeitsgruppe „Land Sachsen“ ins Leben gerufen, die „geeignete Lösungsvorschläge zur weiteren Koordinierung der Arbeit zur Vorbereitung des Landes Sachsen“ erarbeiten sollte. Wesentlichs-
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te Inhalte der am 8. Mai 1990 unter dem Titel „Vorbereitungen der Bildung des Landes Sachsen“ übermittelten Vorschläge waren: „1. Es wird ein Vorparlamentarischer Ausschuss gebildet, der sich paritätisch aus 120 Vertretern der drei sächsischen Bezirke zusammensetzt. Dabei ist zu beachten, dass die regionalen Vertretungen innerhalb des Bezirkes ausreichend wahrgenommen werden“
und „2. Zur sachlichen und organisatorischen Vorbereitung des Zustandekommens und der notwendigen Entscheidungsgrundlagen für gesetzgebende Instanzen wird vorgeschlagen, einen Koordinierungsausschuss aus Vertretern der drei sächsischen Bezirke zu bilden.“
Dem Schreiben beigefügt war ein vom 6. Mai 1990 datiertes Memorandum „Vorschlag eines demokratischen Weges zur Bildung des Landes Sachsen“, in dem die Kompetenz der regionalen Runden Tische zur Länderbildung untermauert wird. Ich selbst sollte im Koordinierungsausschuss – wie bereits in der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg – für Wissenschaft und Bildung zuständig sein. Ab dem Frühjahr 1990 haben uns nicht nur die Partner in Baden-Württemberg und den anderen alten Bundesländern auf Augenhöhe akzeptiert, sondern zudem auch noch die Funktionäre im Rat des Bezirkes. Die kleine Gruppe friedlicher Revolutionäre war von nun an permanent im Vormarsch, legitimiert vom Druck der Montagsdemonstrationen, akzeptiert von westdeutschen Aufbauhelfern. In diesem revolutionären Mikrokosmos vom Demokratischen Aufbruch über die DSU zur Vereinigten Linken kannte man sich persönlich. Der zentralistische Weg der Länderbildung der Regierung de Maiziere stieß damals überall dort auf Proteste, wo die Gefahr gesehen wurde, dass eigenständige regionale Entwicklungen gestoppt oder gar rückgängig gemacht würden. Für den eigenständigen sächsischen Weg standen Leipzig, Chemnitz und Dresden mit ihren Runden Tischen der Bezirke. Aus Dresdner Sicht war weniger die Frage der Legitimität entscheidend, sondern die Tatsache, dass sich in Dresden Personen zusammenfanden, die der aktive und gestalterische Wille verband, sich in die eigenen Belange einzumischen und die Bildung Sachsens nicht der sich selbst abschaffenden Regierung der DDR zu überlassen. Zugleich ist es uns gelungen, eine Kontinuität von der Idee des Runden Tisches zum Landtag zu schaffen. Damals habe ich die Funktion des Landesstrukturbeauftragten für Kultus übernommen. Ich leitete den Arbeitsstab „Kultus“ und bereitete ein großes Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Sport und Kunst vor. Zu diesem Zeitpunkt wurden hier Vorgaben aus Berlin kaum noch akzeptiert. Dies galt insbesondere bei konkreten Vorschlägen für Ministerien, die mit den eigenen Ausarbeitungen kollidierten, die konkrete Situation in Sachsen kaum reflektierten
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und erkennbar darauf hinausliefen, DDR-Regierungsstrukturen samt Personal neue Bestätigungsfelder zu erschließen. Aus den einzelnen Arbeitsstäben des Koordinierungsausschusses heraus sind die späteren Ministerien und der Sächsische Landtag entwickelt worden. Der Freistaat Sachsen ist von unten nach oben, aus der friedlichen Revolution und nicht von Berlin aus entstanden. Dabei gab es ständig Auseinandersetzungen mit der Ostberliner Regierung unter Lothar de Maiziere, wo wir als „Revoluzzer“ bezeichnet worden sind. Dort setzte man zu sehr auf die alten Apparate, aus denen ein Großteil ihrer Verantwortungsträger kam. Der Koordinierungsausschuss war tatsächlich eine Art „Revolutionsregierung“, mit der sich die aus der friedlichen Revolution hervorgegangenen neuen Kräfte bei der Bildung des Landes Sachsen die größten Verdienste erworben haben. Vielleicht wäre eine radikalere personelle und strukturelle Erneuerung notwendig gewesen. Wir nutzten eine einmalige historische Chance nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und hatten Angst, den Bogen zu überspannen. Unsere westdeutschen Berater mahnten so viel Veränderung wie möglich an, bevor die Übernahme des Grundgesetzes ab 3. Oktober 1990 alle Besitzstände konservieren würde. Die Bürgerbewegten am Runden Tisch in Berlin und die einzige frei gewählte DDR-Regierung hätten mehr verändern können. Aber der Runde Tisch in Berlin konnte aus seinem Selbstverständnis heraus nicht mehr verändern. Die Regierung de Maiziere nutzte ihre Macht eher zur Konservierung alter DDR-Besitzstände. So unterblieben 1990 in den entscheidenden Phasen viele Veränderungen, und die neuen Bundesländer hatten lange unter den Folgen zu leiden, zum Beispiel unter den gewaltigen finanziellen Lasten der Sonderversorgungssysteme der DDR. In Sachsen fanden die geschilderten Entwicklungen ihren Höhepunkt in der Wiedererrichtung des Freistaates am 3. Oktober 1990 auf der Albrechtsburg in Meißen. Niemals in meinem Leben werde ich diese Sternstunde der Geschichte vergessen, die ich damals miterleben durfte. Die Vertreter der neuen Kräfte saßen in der ersten Reihe. „Die Wiedererrichtung des Freistaates Sachsen war die Erfüllung eines Auftrages, der in der friedlichen Revolution seinen Ursprung hat. Dieser Auftrag hat seine Legitimation aus der Mitte des Volkes heraus erhalten.“ Mit diesen Worten brachte Erich Iltgen einen Prozess auf den Punkt, der vor 25 Jahren mit dem Festakt zum Tag der Deutschen Einheit und zur Bildung des Landes Sachsen auf der Albrechtsburg in Meißen seine Vollendung fand. Um die damalige Euphorie und Aufbruchsstimmung zu begreifen, müssen wir uns heute vergegenwärtigen, dass zwischen den Zügen mit den Flüchtlingen aus der Botschaft in Prag von Anfang Oktober 1989 und der deutschen Einheit nur ein einziges Jahr ins Land gegangen war. In zwölf Monaten lief das Uhrwerk der Geschichte mit atemberaubender Geschwindigkeit.
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In nur Jahresfrist trat das über Jahrzehnte Unvorstellbare ein, dass für viele von uns bis heute ein Wunder ist. Deutschland wurde wieder vereint und in der Mitte Europas kehrten die ostdeutschen Länder in die Geschichte zurück. Die nach 57-jähriger nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur wieder aus freien und geheimen Wahlen hervorgegangenen Landtage sind und bleiben das nach der Länderbildung wichtigste Ergebnis der friedlichen Revolution. Am 14. Oktober 1990 haben in allen neuen Bundesländern zum ersten Mal freie Landtagswahlen stattgefunden. Bereits im August 1990 war der Demokratische Aufbruch der CDU beigetreten. Die CDU-Basis meines Wahlkreises nominierte mich für den Sächsischen Landtag, in den ich damals gewählt worden bin. In Sachsen stand nach Auszählung der Stimmen fest, dass die CDU von 160 Abgeordnetensitzen 92 gewonnen hatte, die SPD 32, die Linke Liste/PDS 17, Bündnis 90/Grüne zehn und die FDP neun. Die allermeisten der 160 Abgeordneten, die am 27. Oktober 1990 zur Konstituierung des 1. Sächsischen Landtages in der Dreikönigskirche in Dresden zusammengekommen waren, hatten keine Erfahrungen in der Politik. Aber sie waren vom Geist der Demokratie getragen. Viele von ihnen gehörten zu jenen, die als Mitarbeiter an den Runden Tischen sowie im Koordinierungsausschuss die Vorschule der Demokratie von der Pike auf absolviert hatten. Einige friedliche Revolutionäre saßen später in der Staatsregierung von Kurt Biedenkopf, an dessen Seite sie auf dem Fundament, das vom Koordinierungsausschuss geschaffen worden war, ein festes staatliches Gebäude errichteten. Von Anfang an ist im Sächsischen Landtag immer wieder an die revolutionär-demokratischen Vorleistungen erinnert worden. Es wurde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Kultur des Runden Tisches im Umgang mit politisch Andersdenkenden, das Aushalten von Spannungen, die Bereitschaft zum Konsens Eingang in die parlamentarische Arbeit finden mögen. Der Auftrag an die sächsischen Abgeordneten, aus den gemeinsamen Erfahrungen heraus gesellschaftliches Neuland zu bestellen und zu gestalten, zeichnete dann auch die von ganz unterschiedlichen Ideen aufgeladene Diskussion um unsere Sächsische Verfassung aus. Auch die Verfassung des Freistaates Sachsen ist ein Kind der Friedlichen Revolution und der Menschen, die damals politisch und gesellschaftlich aktiv geworden sind. Dem Plenum konnte ein Verfassungstext empfohlen werden, der in der abschließenden Beratung am 26. Mai 1992 mit der überwältigenden Mehrheit von 132 zu 15 Stimmen bei vier Enthaltungen angenommen wurde. Ich bin auch heute noch der Meinung, dass dieses damalige Votum nicht hoch genug bewertet werden kann. Es hat einem Gesetzestext gegolten, in den sich die Vielfalt unterschiedlichster Berufs- und Lebenserfahrungen eingeschrieben hat und verschiedene weltanschauliche Positionen im Dialog zueinander gefunden haben.
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Matthias Rößler
Diese Verfassung hat ihre Bewährungszeit und Zukunftsfähigkeit längst mit Bravour bestanden und wird in ihrer Dynamik auch vor künftigen Generationen noch tragfähig sein, weil in ihr Vision und Wirklichkeit aufeinander zugeschnitten und eng miteinander verbunden sind. In einer seiner Reden im Deutschen Bundestag hat dessen Präsident Norbert Lammert mir – wie in vielen anderen Fällen auch – aus dem Herzen gesprochen, wenn er sagt: „Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität.“ Diese Botschaft ist eine Forderung der Stunde, wenn es um den Bestand der Demokratie und ihrer Akzeptanz durch die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland und in Europa geht. *** Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir im Rahmen dieser Jahrestagung an Traditionen erinnern und Perspektiven aufzeigen wollen, dann verbinde ich damit die Hoffnung, dass es uns heute und in Zukunft gemeinsam gelingen wird, über die Forschung hinaus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Dabei ist es mir ganz besonders wichtig, die Vertreter der jungen Generation zu erreichen, die das Ende der DDR und die Bildung und den Aufbau der neuen Bundesländer nicht mehr persönlich miterlebt haben. Die Verwirklichung von föderaler Staatlichkeit und die Stiftung regionaler Identität bieten uns allen eine sichere Grundlage dafür, die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen und allen deutschen Ländern in der Mitte Europas eine Zukunft zu geben. Ich danke der Gesellschaft für Deutschlandforschung – hier vor allem Prof. Dr. Tilman Mayer – sowie allen Referenten, die zum Gelingen unserer Tagung beitragen werden, für ihr wissenschaftliches Engagement. Der Veranstaltung und allen Beteiligten wünsche ich weit über den Tag hinaus recht nachhaltige Erfolge bei der Gestaltung und Entwicklung der deutschen Demokratie. Vielen Dank!
9. März 2015, Berlin
Eine italienische Perspektive Gian Enrico Rusconi
I. Damals und heute Es ist erstaunlich, wie sich fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer die Meinung über dieses Ereignis – oder besser die Gefühle – rückblickend gewandelt haben. Was von den einstigen Emotionen und den gewaltigen weltweiten Hoffnungen bleibt, sind emphatische Medienechos, Feuerwerkspektakel, aber auch Nüchternheit; im Ausland, in Italien eine Mischung von Zurückhaltung und Enttäuschung im Vergleich zu den damaligen großen Erwartungen. Nicht gegenüber der deutschen Einheit als solcher, aber gegenüber ihren unerwarteten weiten Konsequenzen. Die Erinnerungen mehrerer Protagonisten werden neu interpretiert und erzählen die Geschichte so, als ob sie damals gewusst hätten, wie sie enden würde. Das gilt besonders für den schnellen und entscheidenden Zusammenhang zwischen Mauerfall und deutsche Wiedervereinigung, wovon man heute spricht, als ob er selbstverständlich wäre. Seit 1989/90 hat Europa sich tiefgreifend verändert; die gesamte politische und wirtschaftliche Lage zeigt sich in einer ganz neuen Form. Eindrucksvoll ist vor allem die neue zentrale Rolle Deutschlands. Heute stellt man sich die Frage, ob Deutschland zum Hegemon Europas oder zu einer Orientierungsnation geworden ist. Darüber sind die italienischen Geister gespalten. Noch ein kurze Rückblick. Wer konnte sich 1989 vorstellen, dass wir heute an der Staatsspitze der Bundesrepublik zwei Persönlichkeiten stehen sehen, die aus der DDR stammen? Ich meine die Kanzlerin Angela Merkel und den Bundespräsidenten Joachim Gauck. Zwei unterschiedliche und zugleich sehr repräsentative Persönlichkeiten. Erstere ist heute Deutschlands beliebteste Kanzlerin und wird von ausländischen, nicht nur europäischen Regierungen sowohl gefürchtet als auch respektiert. Aber ich möchte auch an den damals unbekannten russischen Beamten des sowjetischen Geheimdiensts erinnern, der bis 1991 in Ostdeutschland, in Dresden, für die Stasi arbeitete und heute der mächtige und unangefochtene Präsident Russlands und furchterregende Antagonist des Westens ist, Wladimir Putin. Vom Herzen Deutschlands aus hatte auch Putin an seiner eigenen Haut den Mauerfall und Gorbatschows unbewusste Konkurs-Politik erfahren müssen, die den Auftakt zum Einsturz des gesamten sowjetischen Systems bildete – auf diesen Punkt werde ich in meiner Geschichtsanalyse zurückkommen. Hat der damalige Oberst Putin besser als Andere
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den Sinn dessen verstehen können, was bevorstand, und konnte er daraus die Konsequenzen für seine zukünftige Konfrontationspolitik mit dem Westen ziehen? Nach dem Mauerfall hat der Westen in der Tat von einer Expansion nach Osteuropa – mit der Ausweitung der EU und der Nato – profitiert, um dann auf verhängnisvolle Weise an seine äußersten Grenzen zu stoßen. Erklärt dies das Verhalten Putins in der heutigen Ukraine-Krise? Aber ist es nicht paradox, dass zwei der wichtigsten Politiker Europas und Ansprechpartner der jüngsten Krise auf dem europäischen Kontinent, Angela Merkel und Putin, von einer verdeckten Position aus und zugleich von innen heraus, die Geschehnisse von 1989/90 hatten beobachten können?
II. Italiens Ratlosigkeit während des Einigungsprozesses1 Während man die Berliner Ereignisse in aller Welt live auf dem Bildschirm verfolgen konnte – und dies in einer allgemein euphorischen Stimmung –, machten einige europäische Regierungen keinen Hehl aus ihrer Unsicherheit. Auch die italienische Regierung von Giulio Andreotti nicht. Zunächst einmal rechnete niemand wirklich mit der staatlichen Einigung Deutschlands. Noch am 23. November war in einer Erklärung der Europäischen Gemeinschaft die Rede davon, dass die Bürger der DDR das Recht hätten, über das zukünftige politische und wirtschaftliche System sowie die Regierungsform frei zu entscheiden, wobei die Möglichkeit eines vereinten Deutschland in einem vereinten Europa nicht ausgeschlossen wurde. Man sprach von einer föderativen Lösung. Aber die auf ein föderatives Staatssystem verweisende Formel „vereintes Deutschland“ entsprach allerdings nicht der Staatsform, die sich schließlich durchsetzen sollte. Die europäischen Regierungen teilten die Auffassung Gorbatschows, der von der unumkehrbaren historischen Realität der beiden deutschen Staaten sprach, die von der UNO anerkannt und Mitglieder zweier miteinander unvereinbarer Militärbündnisse waren – auch wenn sie ihre feindselige Haltung dem jeweils anderen gegenüber inzwischen aufgegeben hatten. Am 28. November ergriff Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm die Initiative. Hierin war von „Sofortmaßnahmen“ zur Regelung der anhaltenden Fluchtbewegung in Richtung Westen und von der Förderung der deutsch-deutschen Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Umweltschutz und Kommunikation die Rede. Außerdem wurde ein „grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR“ gefordert, der zu „freien, gleichen und geheimen Wahlen“ und zum Abbau der sozialistischen Planwirtschaft führen müsse. Weiter schlug Kohl die Bildung von Kommissionen vor, die dem Prinzip der „Vertragsgemeinschaft” entspra1 Vgl. Gian Enrico Rusconi, Deutschland-Italien,Italien-Deutschland, Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi, Padernborn 2006, cap XII 1990: ,You are not part of the game.‘ Vgl. Wilfried Loth, Helmut Kohl und die Wärungsunion, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 61 (2013), S. 455 – 480.
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chen, wie es der neue DDR-Regierungschef Hans Modrow gefordert hatte. Desweiteren skizzierte er die Entwicklung „konföderativer Strukturen“ zwischen beiden deutschen Staaten, deren Ziel die Schaffung einer Föderation innerhalb eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ sei, in dem die Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aber auch die Integrität und Sicherheit jedes einzelnen Staates gewährleistet sein müssten. Schließlich betonte Kohl noch einmal die entscheidende Rolle der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wobei insbesondere der KSZE-Prozess vorangebracht werden müsse, der ein „Herzstück [der] gesamteuropäischen Architektur“ sei. Kohls Zehn-Punkte-Programm rief zwiespältige Reaktionen hervor. Auf den ersten Blick enthielt es viele beinahe selbstverständliche Aspekte, die freilich nach allen Richtungen hin offen schienen. Einige europäische Partnerländer, die nicht über den Inhalt des Plans informiert worden waren, hatten jedoch den Eindruck, damit vor die vollendete Tatsache der deutschen Wiedervereinigung gestellt zu werden, deren Bedingungen Kohl indirekt allein festlege. Das schöne Wort von einer gesamteuropäischen Perspektive erschien als rhetorisches Mittel, sich stillschweigend den Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft zu entziehen. Auch die Tatsache, dass Kohl die Frage der Ostgrenze, die Zugehörigkeit zur NATO und die „Rechte” der Siegermächte nicht erwähnt hatte, sorgte für Irritation. Bei Licht betrachtet bewies der Bundeskanzler allerdings durchaus taktisches Geschick, indem er dem Ziel der deutschen Einheit zustrebte, ohne sich vorzeitig auf eine bestimmte Formel oder Vorgehensweise festzulegen, sondern gerade auf die Unsicherheiten und Divergenzen seiner Gesprächspartner setzte. Eine deutliche Ablehnung erfuhr er dabei aus Moskau, was dem Kanzleramt nicht zuletzt durch die italienische Regierung zugetragen wurde. So ließ der italienische Außenminister De Michelis verlauten, dass der sowjetische Außenminister, der gerade in Rom zu Gast war, sein Missfallen über einen Plan geäußert habe, der die historischen Tatsachen, die Bündnispflichten und die Unantastbarkeit von Grenzen verkenne. Die Sowjets seien nur dann bereit, über das Zehn-Punkte-Programm zu diskutieren, wenn es einen elften Punkt enthalte, der die Wiedererrichtung der Grenzen von 1937 ausschließe. In der Tat sollte die Frage der Unantastbarkeit, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs festgelegten Grenzen, insbesondere zwischen Deutschland und Polen, ein Kernproblem der Debatte bleiben – und dies nicht nur für die sowjetische Seite, sondern auch für den Westen. In diesem Zusammenhang ergab sich beim NATO-Gipfel am 4. Dezember ein Moment höchster Spannung zwischen Kohl und Andreotti, der von zahlreichen Beobachtern geschildert und analysiert worden ist.2 Zu Beginn der Sitzung der Staats2 Vgl. Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 64 – 67; Philip Zelikow/Condoleeza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997 [OA Cambridge 1995], S. 136; Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, S. 177; Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte. Mit den wichtigsten Dokumenten, Bergisch Gladbach 1991, S. 158 – 168.
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und Regierungschefs erläuterte der amerikanische Präsident George Bush die sogenannten „Vier Prinzipien“ zur deutschen Frage, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: Das Selbstbestimmungsrecht sei das Grundprinzip der deutschen Politik. Die Wiedervereinigung dürfe die deutsche Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Gemeinschaft nicht beeinträchtigen; außerdem seien dabei die völkerrechtliche Situation und die Rechte der vier Siegermächte zu berücksichtigen. Der Vereinigungsprozess müsse weiterhin friedlich und schrittweise erfolgen. Hinsichtlich der Grenzfragen galten schließlich die Prinzipien der KSZESchlussakte von Helsinki. Bezüglich der Modalitäten der Wiedervereinigung hatten die USA also keineswegs festgelegte Vorstellungen – mit Ausnahme der fortbestehenden Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO. Die Möglichkeit einer deutschen Neutralität hingegen wurde von vornherein ausgeschlossen. Nach Bushs Ausführungen bekräftigte Kohl, dass niemand es besser als der amerikanische Präsident selbst vermocht habe, die Position der NATO darzustellen und versuchte, die Sitzung in diesem Sinne zu schließen – woraufhin sich Andreotti zu Wort meldete, um seinen Bedenken hinsichtlich der deutschen Frage Ausdruck zu verleihen. Die Äußerungen des italienischen Ministerpräsidenten sind naturgemäß sehr unterschiedlich interpretiert worden. Betrachten wir zunächst die Einschätzung Horst Teltschiks, eines wichtigen politischen Beraters des Bundeskanzlers. Teltschik ist der Ansicht, Kohl habe deshalb auf eine Vertagung der Sitzung gedrängt, da er, zufrieden mit den amerikanischen Grundsatzerklärungen, nun fürchtete, Bushs deutliche Worte könnten „in einer Diskussion verwässert“ werden, sodass seine dezidierte Absicht beeinträchtigt würde, den Plan zur Wiedervereinigung ohne Rücksicht auf die eventuellen negativen Folgen für die internationale Situation rasch umzusetzen. Andreottis Einwände bestätigten diese Sorge. Im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht für Deutschland fragt er [Andreotti], ob es in gleicher Weise Litauen, Lettland und Estland gewährt werden solle, damit auch sie morgen souverän seien. Das Selbstbestimmungsrecht könne nicht aus der KSZE-Schlussakte herausgelöst werden. Diese stelle insgesamt ein ausgewogenes System dar. Wenn jetzt die Frage der Wiedervereinigung aufgeworfen werde, dann werde in einem schwierigen politischen Umfeld der Eindruck vermittelt, sie könne sofort gelöst werden. Das sei ein Risiko, weil damit der Eindruck entstehe, dass die Mauer durch eine Volksbewegung viel leichter und schneller überwunden werden könne als mit Hilfe geduldiger Diplomatie. Andreotti mahnt zu Behutsamkeit. Man solle sich Zeit zur Prüfung aller Probleme nehmen, um zu verhindern, daß die Regierungen die Kontrolle über die Ereignisse verlieren.3 Die Aufzeichnungen Teltschiks sind nicht zuletzt deshalb sehr aufschlussreich, weil sie, im Unterschied zu anderen Kommentaren, deutlich machen, dass es Andreotti vor allem darum ging, die internationale Relevanz der deutschen Frage herauszustellen, indem er sie mit dem heiklen Thema der gegen Moskau rebellierenden baltischen Staaten und der Schlussakte von Helsinki in Verbindung brachte. Der Ein3
Teltschik, 329 Tage, S. 65 f.
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wand des italienischen Regierungschefs war also keineswegs gegen die deutsche Wiedervereinigung als solche gerichtet, wie gelegentlich behauptet worden ist, um Kohls gereizte Reaktion, Andreotti würde wohl anders denken, „wenn der Tiber sein Land teilen würde“, zu rechtfertigen.4 Einige Tage später, am 8. und 9. Dezember 1989, skizzierten die zwölf Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft unter der Leitung von François Mitterand in Straßburg einen Weg, die Rechte der Deutschen mit der – relativ langfristig geplanten und unter allen Staaten abgestimmten – europäischen Einigung und dem gemeinsamen Willen, sie mit Hilfe der Währungsunion voranzutreiben, in Einklang zu bringen. Insbesondere die Franzosen aber standen für die Umsetzung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion noch vor der deutschen Wiedervereinigung, da diese das innergemeinschaftliche Gleichgewicht möglicherweise empfindlich stören könne. Der italienische Ministerpräsident warnte vor übereilten Entscheidungen: Es wäre falsch, wenn wir, um eine eilige Lösung für die deutsche Frage zu finden, ganz Europa durcheinanderbrächten. Wir dürfen es nicht riskieren, dass politische und diplomatische Überlegungen von Emotionen beherrscht werden. Wir wissen, dass Andreotti, ebenso wie Margaret Thatcher, kein Befürworter der deutschen Einheit war. Im Grunde genommen ging es ihm hier jedoch darum, vor der explosiven Wirkung einer bedingungslosen, da von Emotionen geleiteten Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu warnen. Dabei dachte er – ganz im Einklang mit dem Kreml – in erster Linie an die Gefahren, die mit einer unvermeidbaren Anwendung dieses Rechts auf die baltischen Republiken verbunden wären. Das Problem bestand also weniger in der deutschen Wiedervereinigung, die in kontrollierten Bahnen, das heißt unter internationaler Aufsicht erfolgen würde, als vielmehr in den Nachahmungsprozessen, die sie möglicherweise hervorrufen und die eine Auflösung der bestehenden politischen Ordnungen mit sich bringen würde. Das mit Andreotti assoziierte Gespenst des „Pangermanismus“ spukte also weiterhin in den Köpfen. Noch 1999 sprach Kohl in einem Interview mit Guido Knopp für das ZDF im Zusammenhang mit der Straßburger Sitzung vom 8. Dezember 1989 von der harten Kritik Andreottis am „Pangermanismus“. Allein den offiziellen Sitzungsprotokollen zufolge war davon nie die Rede gewesen.
III. „Zwei-plus-Vier“ – Italien ist irritiert Geduldig wob Genscher weiter an seinem Netz, um die Gemüter zu beruhigen und die verschiedenen Sicherheits- und Prestigeansprüche der einzelnen Staaten, insbesondere aber der beiden Supermächte, in Einklang zu bringen. 4
Weidenfeld, Außenpolitik, S. 177.
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Was Genscher auf diese Weise zwischen Washington und Moskau zu erreichen suchte, schien der Quadratur des Kreises nahezukommen: Während die USA auf einer NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland beharrten, schloss die UdSSR dies grundsätzlich aus, zeigte sich jedoch offen gegenüber anderen Möglichkeiten. Es schien dem Außenminister daher angeraten, einerseits die Perspektive eines militärischen Sonderstatus’ für das Territorium der DDR zu entwickeln und andererseits die Strukturen von NATO und Warschauer Pakt so zu verändern, dass Stabilität, Sicherheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent gewährleistet werden konnten. Die Lösung des Problems sollte dann allerdings erst durch Gorbatschow und Schewardnadse erfolgen, die im Juli 1990 unerwartet bereit waren, sich dem amerikanischen Standpunkt anzunähern. Hierin zeigt sich nicht nur, wie unvorhersehbar und schnell sich die Dinge wenden konnten, sondern vor allem, dass Moskau einen weitaus größeren Einfluss auf die weitere Entwicklung zu nehmen vermochte als Bonn oder Washington. Freilich ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, dass es der sowjetischen Führung vor allem darum ging, der Krise im eigenen Land, die nur ein Jahr später zum definitiven Zusammenbruch der Sowjetunion führen sollte, Herr zu werden. Am Ende war es allerdings nicht die KSZE, in deren Rahmen eine definitive Lösung für das Problem der deutschen Wiedervereinigung gefunden wurde. Dies bildete vielmehr den Gegenstand der „Zwei-plus-Vier”-Gespräche, auf die man sich im Februar 1990 am Rande der „Open-Skies“-Konferenz der Mitgliedsstaaten von NATO und Warschauer Pakt in Ottawa verständigt hatte. Ziel dieses Prozesses war die direkte und autonome Regelung aller außenpolitischen Fragen, die mit der deutschen Wiedervereinigung in Zusammenhang standen. Man konnte dies durchaus als einen Erfolg der deutschen Diplomatie betrachten, da man es so vermied, schwierige Fragen in einem kaum zu überschauenden Rahmen – wie etwa einer großen Friedenskonferenz unter Mitwirkung aller Beteiligten des Zweiten Weltkriegs oder auch nur aller KSZE-Mitglieder – zu klären. Nicht zuletzt fand auf diese Weise auch jener „Alpdruck von Potsdam“ ein Ende, der Adenauer umgetrieben hatte, also eine Entscheidung der vier Siegermächte über den Kopf Deutschlands hinweg. Einige Konferenzteilnehmer von Ottawa reagierten allerdings ebenso überrascht wie ablehnend – dies galt vor allem für die Außenminister der Niederlande, Hans van den Broek, und Italiens, De Michelis. Ihre Forderung bestand in erster Linie darin, an den Verhandlungen über die deutsche Einheit, in denen es ja auch um die Sicherheit der Nachbarländer Deutschlands ging, beteiligt zu werden. Nach Einschätzung zweier aufmerksamer Beobachter des Geschehens, „[reflektierte] die Unruhe des italienischen Außenministers […] ein über Jahrzehnte währendes Unbehagen der römischen Regierung, von exklusiven Beratungen der Deutschen mit Amerikanern, Briten und Franzosen – wie den traditionellen Deutschland-Frühstücken vor NATORäten – ausgeschlossen zu sein. In Rom herrschte die Vorstellung vor, die gesamte NATO an den Verhandlungen über die deutsche Frage zu beteiligen. Das westliche
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Bündnis – so die Befürchtung der Regierung Andreotti – könnte seine Natur ändern, wenn Regelungen über die Präsenz sowjetischer Truppen und den militärischen Status der DDR getroffen würden.“5 Doch dem von italienischer Seite durchaus ernst gemeinten Einwand wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr weckte er die Ironie der Anwesenden: „Die Atmosphäre im Konferenzraum war aufgeladen. De Michelis stand in seiner beträchtlichen Leibesfülle erregt gestikulierend an seinem Delegationsplatz. Hinter ihm wirbelten seine beflissenen Berater – alle von ungleich kleinerer Statur. Es war wie eine Szene aus der commedia dell’arte. […] Der Kreis der Teilnehmer müsse“, so Genscher, „– neben den beiden betroffenen deutschen Staaten – auf diejenigen beschränkt bleiben, die aus der Kriegs- und Nachkriegszeit neben ihren Rechten auch Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland als Ganzes hätten. Als der Niederländer van den Broek und der Italiener De Michelis sich hiermit nicht zufrieden geben wollten, entfuhr es Genscher, wie Diplomaten genüsslich kolportierten: „You are not part of the game!“6 Aus heutiger Sicht mag diese Episode zweitrangig erscheinen. Für die Konferenzteilnehmer – insbesondere Genscher selbst – war sie es nicht. Dem Zwist mit De Michelis widmete der deutsche Außenminister, der in einer freundschaftlichen Beziehung zu seinem italienischen Amtskollegen stand, dann auch einige Seiten seiner Erinnerungen.7 Leicht sei es ihm jedenfalls nicht gefallen, so zu sprechen, doch habe er keine andere Wahl gehabt.
IV. Ein diplomatisches Meisterwerk? Am 1. und 2. Oktober 1990 wurde der „Zwei-plus-Vier“-Vertrag vor der Außenministerkonferenz der KSZE in New York formell bekanntgegeben. Am 19. und 20. November unterschrieben die vierunddreißig Mitgliedsstaaten der KSZE die Charta von Paris, in der die Teilung Europas mit der Lösung der deutschen Frage für beendet erklärt wurde. Zahlreiche Forscher haben im deutschen Einigungsprozess einen der größten diplomatischen Triumphe unserer Zeit, ja ein Beispiel außerordentlicher Regierungskunst gesehen.8 Die Einigung sei für alle beteiligten Parteien ehrenvoll und zugleich vorteilhaft gewesen, zumal es, dem sowjetischen Außenminister zufolge, weder Sieger noch Besiegte gegeben habe. Doch gerade in der Sowjetunion fühlte man sich als Verlierer: So sah sich Schewardnadse nur wenige Monate später gezwungen, sein Amt niederzulegen, da er zunehmend unter den Druck jener politischen Kreise geriet, 5
Richard Kiessler/Frank Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993, S. 103. 6 Ebd., S. 104. 7 Die folgenden Zitate in: Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 729. 8 Vgl. etwa Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 20 – 26 sowie die sorgfältig recherchierte Rekonstruktion von Zelikow und Rice, Sternstunden der Diplomatie.
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die der Auffassung waren, der Kreml habe die Früchte des historischen Sieges gegen den Nationalsozialismus vergeudet. Viele sowjetische Militärs verließen entsprechend resigniert die seit 1945 unter ihrer Aufsicht und ihrem Schutz stehende DDR – dem fortschrittlichsten der sozialistischen Staaten, der über lange Jahre hinweg der NATO die Stirn geboten hatte. Eine differenzierte Einschätzung der sowjetischen Situation müsste allerdings den gesamten Kontext von Gorbatschows Reformpolitik berücksichtigen, in den auch das Einvernehmen mit Deutschland und den USA gehört. Heute ist man weitgehend der Ansicht, dass die im Juli 1990 im kaukasischen Archys geschlossenen Vereinbarungen – entgegen aller Erwartungen – zu einer Schwächung Gorbatschows geführt und damit den Zusammenbruch der Sowjetunion noch beschleunigt haben. Angesichts dieser schwelenden innenpolitischen Krise vermochte niemand abzuschätzen, wie realistisch die im Raum stehenden Alternativen – der Austritt Deutschlands aus der NATO, eine Neutralisierung und Entmilitarisierung Zentraleuropas oder aber die Errichtung eines neuen Sicherheitssystems, das NATO und Warschauer Pakt miteinander vereinen würde – tatsächlich waren. Ebenso wenig wusste man, ob der Kreml durch eine härtere Verhandlungsstrategie größere politische und wirtschaftliche Vorteile hätte erzielen können als es Gorbatschow gelungen war. Allerdings ist es nur schwer vorstellbar, dass der innere Auflösungsprozess der UdSSR und des gesamten kommunistischen Systems durch ein dezidierteres Auftreten im Hinblick auf die militärstrategische Lösung der deutschen Frage hätte aufgehalten werden können.
V. Hegemon oder Orientierungsnation? Das Deutschland der Neunziger Jahre musste schwierige Aufgaben bewältigen, vom Wiederaufbau der Wirtschaft im Osten bis zur endgültigen und erfolgreichen Integration in den neuen internationalen Kontext. Vor allem aber hat es mit Entschlossenheit in den Aufbau der Europäischen Union investiert und sehr aufmerksam die Einführung der gemeinsamen Währung beaufsichtigt. In Italien sind derzeit viele Kommentatoren der Meinung, dass Deutschland große Vorteile aus dem „Konstruktionsdefizit – bzw. Grenze“ der EU, besonders des Euro, gezogen hat. Vor allem aber sei Deutschland verantwortlich für einen verpassten schnelleren und effizienten Ausweg aus der aktuellen Krise. Genau bei diesem Thema zeichnet sich eine Spannung zwischen der deutschen Regierung und einigen europäischen Regierungen ab. Die Deutschen haben das unangenehme Gefühl, dass einige europäische Partner etwas von ihnen verlangen, das nicht nur dem Wortlaut sondern dem Geiste selbst der gemeinsam unterzeichneten EU-Verträge widerspricht. Obendrein versäumen einige Partner, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Dagegen denunzieren diejenigen, die die Politik – etwa in puncto Schulden, oder durch die sogenannten Eurobonds, etc. – verändern wollen, ein „Demokratiedefizit“ der EU und eine unangemessene Hegemonie Deutschlands.
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Der Begriff „Hegemonie“, der in der internationalen Presse im Zusammenhang mit Deutschland gebraucht wird, wird jedoch oft von einschränkenden Adjektiven begleitet. Der Economist schlug in einer Sondernummer über Deutschland mit dem inzwischen berühmten Titel Europe’s reluctant hegemon die Debatte über Deutschland als „zögerlicher Hegemon“ oder „Hegemon wider Willen“? auf.9 Wird umgekehrt das Wort „Hegemon“ positiv verwendet, so geht man von einer „pädagogischen“, „pragmatischen“, gleichsam „ethischen Führung“ aus, eben von Deutschland als Bezugs- und Beispielnation. „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“, lautete der Leitspruch von Kanzlerin Merkel in kritischen Situationen der letzten Jahre. Unausgesprochen blieb dabei der Zusatz, dass der Euro, um nicht zu scheitern, von Berlin aus gesteuert werden muss. In diesem Sinne wirft Deutschland sein ganzes Gewicht in die Waagschale, damit die Korrekturmaßnahmen und für notwendig erklärten Reformen die von Deutschland als unverzichtbar angesehene Wirtschafts- und Finanzstruktur der Union nicht gefährden. Bis heute stehen effektive Alternativen zur Berliner Linie nicht auf der Tagesordnung des Institutionsapparates der EU. Von einigen Enthaltungen und kritischen Stimmen abgesehen wird die Berliner Linie de facto auch von den EU-Verantwortlichen angenommen. Lediglich die Europäische Zentralbank unter der Leitung Mario Draghis – der von seinen deutschen Kritikern abfällig „der Italiener“ genannt wird – scheint eine flexiblere Währungspolitik zu praktizieren, was in Deutschland Kritik auslöste. Aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt und Ort, diese komplexe Problematik zu diskutieren. Es wäre ein historischer, logischer und psychologischer Fehler, die Einflussnahme Deutschlands auf Europa als Machtmissbrauch einer Führungsgruppe misszuverstehen. Eines steht sicher fest: In Europa lässt sich nichts ohne – und umso weniger auch gegen – Deutschland entscheiden. Diese Behauptung klingt unschön, sie impliziert allerdings auch den Kern des Demokratieverständnisses der Union: Diskussionen, Debatten, Überredungen, Anfechtungen, grenzwertige Androhungen, sogar Erpressungen – ohne dass es dabei zu einem Bruch kommt. Wenn wir uns nun wieder Italien zuwenden, zeichnet sich gegenüber Deutschland ein Bild differenzierter und auch wandelbarer Haltungen. Die Reihe der Regierungen, die sich nach der Amtsniederlegung Silvio Berlusconis gebildet hatten – die Regierung Mario Monti, Enrico Letta und heute Matteo Renzi – war, abgesehen von einigen kritischen Stimmen und Momenten, bestrebt, mit Deutschland übereinzukommen. Vor allem Renzi hat nicht gezögert zu erklären, dass „Deutschland in einigen Aspekten beispielhaft“ ist und dass die Reformen in Italien nicht aufgrund fremder bzw. deutscher Auflagen, sondern aufgrund einer innerstaatlichen Notwendigkeit vorgenommen wurden. Momentan scheint diese Haltung von einer knappen Mehrheit der Italiener geteilt zu werden, auch wenn relativ kleinere Parteien (wie die 9
Europe’s reluctant hegemon. The Economist vom 15. Juni 2013.
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Lega Nord oder die Bewegung „Cinque stelle“ von Beppe Grillo) aktiv dabei sind, anti-europäische und/oder anti-Euro Ideen – diesbezüglich mit bezeichnender Verwirrung – zu verteidigen. „Europa braucht Deutschland. Italien braucht Europa.“ Diese Äußerung aus einer harten Zeit der Geschichte Italiens und Deutschlands, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entstammt einem italienischen Diplomaten, der sich für die Wiederaufnahme guter Beziehungen zwischen den beiden Ländern nach den Schrecken des Krieges einsetzte. Auf eine gewisse Art und Weise wurde dieser Satz 1989/90 wieder bestätigt. Meiner Meinung nach gibt es keine Alternative zu einer engen Partnerschaft und kritisch-loyalen Freundschaft von Italienern und Deutschen in einem Europa, das sie gemeinsam aufgebaut haben und das sie eventuell auch, was einige der politisch-ökonomischen Grundlinien betrifft, gemeinsam mit den anderen europäischen Partnern ändern dürfen und können.
VI. Apropos ,Merkelismus‘ – Eine Anmerkung Wenn man heute vom „Merkelismus“ spricht, dann ist das mehr als nur ein journalistisches Stichwort. Die Kanzlerin Merkel weist auf den ersten Blick keine Analogie zu ihren Vorgängern auf. Sie hat etwas geschaffen, was mehr ist als lediglich ein neuer Regierungsstil. Sie hat eine großartige politische Figur gewonnen, allerdings auf Kosten ihrer Partner. In der eigenen Partei hat sie um sich herum mögliche Konkurrenten verdrängt; im Lager der Opposition findet sich ebenfalls niemand, der sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Die deutsche Kanzlerin liebt die großen politischen Theorien nicht, selbst wenn sie über die föderale Zukunft Europas und mögliche Reformen der Institutionen spricht. Vor einiger Zeit erschien ein Buch von ihr mit dem überraschenden Titel Machtworte. Darin findet sich nichts, was einer politischen Philosophie ähnlich sähe. Nicht von Macht oder Regierung ist die Rede, sondern im Plauderton von Freiheit, Geschichte und Abendland. Eine Schlüsselpassage befindet sich in einem Kapitel, das sich mit der Finanzkrise beschäftigt. Es ist überschrieben Den Ratschlag der schwäbischen Hausfrau beherzigen. Frau Merkel behauptet, wenn man eine solche Bürgerin befrage, würde sie eine ebenso zutreffende wie schlichte Lebensweisheit von sich geben: „Auf lange Sicht kann man nicht über seine Verhältnisse leben. Das ist der Kern der Krise.“ Ist das pure Demagogie? Populismus? Das lässt sich leicht behaupten, aber das Geheimnis der Bundeskanzlerin besteht darin, dass sie eben nicht nur zu den Hausfrauen, den Handwerkern, den Arbeitern und Arbeiterinnen, etc. – spricht, sondern auch zu Unternehmerinnen, Managerinnen, Bankiers und Wirtschaftsführern, die ihr Gefolgschaft leisten. Momentan sieht es so aus, als stünde die gesamte Führungsschicht des Landes hinter ihr, auch wenn sie hier und da wohlerzogene Kritik äußert. Merkels hartnäckige Verteidigung des „deutschen Modells“, dem sich die anderen
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Europäer angleichen sollen, passt der deutschen Führungsriege gut, aber sie weiß auch, dass sich der deutsche Erfolg nicht nur den eigenen unbestrittenen professionellen Qualitäten – oder den Tugenden der schwäbischen Hausfrau – verdankt, sondern den Mechanismen des Marktes, von denen die deutsche Wirtschaft und Unternehmenswelt profitiert hat – verdientermaßen, aber vielleicht in überzogener Weise im Verhältnis zu den schwächeren – und möglicherweise weniger tugendhaften – europäischen Partnern. Der Erfolg verdankt sich bekanntlich auch den Reformen, die zuvor von Gerhard Schröder durchgesetzt worden waren, der dafür damals heftig kritisiert worden ist. Wenn die Bundeskanzlerin heute ihre Linie unter dem Leitmotiv „Haushaltsdisziplin und Reformen“ gegenüber den anderen europäischen Partnern durchsetzen will, wohlwissend, dass ihre Argumente von diesen nur zum Teil akzeptiert werden, dann tut sie dies jedenfalls in der Gewissheit, dass Europa nichts ohne Deutschland und noch weniger gegen Deutschland entscheiden kann. Diese Feststellung klingt nicht besonders schön, aber sie bringt eine typische Seite der EU zum Ausdruck, in der sich die Kanzlerin wiedererkennt: Da wird diskutiert und debattiert, man versucht zu überzeugen, operiert aber auch mit Drohung und Erpressung. Darin ist Merkel Meisterin, auch in ihrem eigenen Land. Ihre Art zu entscheiden ist vorsichtig und schrittweise, manchmal aber auch plötzlich, etwa unter dem Druck äußerer Umstände – wie bei der Energiewende –, dabei hartnäckig und zielstrebig, wenn die Entscheidung einmal gefallen ist. Aber ihre Handlungslinie lässt erahnen, was sie beabsichtigt: einen Föderalismus der Exekutiven, der Regierungen, der den Platz der gegenwärtigen, ineffizienten Kombination aus Parlament, Kommission und Gipfeltreffen der Regierungschefs einnimmt. Wird dies die institutionelle Zukunft Europas sein? Ein „Föderalismus der Exekutiven“, natürlich getragen von den einzelnen Nationalparlamenten? Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Aber hinter den behutsamen Wahldebatten über die Institutionen Europas lauert auch diese Lösung. Wir werden sehen.
Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“ Manuel Becker Der Begriff Geschichtspolitik reiht sich in den Kontext einer weit verbreiteten Tendenz in verschiedenen Wissenschaftszweigen ein. Sowohl in den naturwissenschaftlichen Disziplinen (v. a. in der Neurowissenschaft) als auch in den Sozialwissenschaften ist in den vergangenen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren eine kaum zu übersehende Hochkonjunktur zum Themenfeld Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte zu verzeichnen. Zuvor waren solcherlei Arbeiten nahezu ausschließlich im Bereich der Psychologie beheimatet.1 Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat das Gedächtnis als „postsäkulares Paradigma“2 bezeichnet. Nicht von ungefähr wird die heutige Forschergeneration vom amerikanischen Historiker Jay Winter als „Generation der Erinnerung“3 apostrophiert, sind doch die Modethemen Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte geradezu zu einer „Obsession“4 für die Wissenschaft geworden. Die Bezeichnung „Geschichtspolitik“ existiert bereits recht lange. Harald Schmid hat sie in adjektivischer Form in der ideologisch rechts gerichteten Publizistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nachgewiesen.5 Der Begriff wurde also nicht 1986 erstmals genannt, wie gelegentlich behauptet wird.6 Richtig ist hingegen, dass seine politische Wirkmächtigkeit und Durchschlagskraft in den letzten 15 Jahren des vergangenen Jahrhunderts beträchtlich zugenommen hat. 1 Um dem fachübergreifenden Zugang gerecht zu werden, wurde im Jahr 2001 ein eigenständiges interdisziplinäres Lexikon „Gedächtnis und Erinnerung“ aufgelegt. Vgl. Nicholas Pethes/Jens Ruchaz (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001. 2 Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner/ Gotthart Wunberg (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen, 2. Aufl., Freiburg 2003, S. 27 – 47, S. 27. 3 Jay Winter: Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den „Memory-Boom“ in der zeithistorischen Forschung, in: Werkstatt Geschichte 30 (2001), S. 5 – 16. 4 Vgl. Alon Confino/Peter Fritzsche: Introduction. Noises of the past, in: Alon Confino/ Peter Fritztsche (Hrsg.), The work of Memory. New directions in the Study of German Society and Culture, Chicago 2002, S. 1 – 21, S. 1. 5 Vgl. Harald Schmid, Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie „Geschichtspolitik“, in: ders. (Hrsg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen 2009, S. 53 – 75. Belegt ist es etwa bei August Eigenbrodt, Fürst Bismarck und die Nachwelt. Drei geschichtspolitische Gedenkreden, Würzburg o. J. (1914). 6 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. II, München 2000, S. 446.
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Die Beschäftigung mit geschichtspolitischen Mechanismen und Prozessen gestattet interessante Perspektiven auf die politische Kultur eines Gemeinwesens. In der deutschen Geschichte gibt es eine gewisse Tradition, die demokratischen Phasen nach einer für sie besonders relevanten Stadt zu benennen. Die fragile demokratische Phase zwischen dem Kaiserreich und dem Nationalsozialismus zwischen 1918 und 1933 wurde nach Weimar benannt – nach jenem Ort, an dem die Nationalversammlung seinerzeit die Verfassung ausgearbeitet hatte.7 Der Begriff „Bonner Republik“ stammt aus der Mitte der 1950er Jahre und ist wirkmächtig durch den prominenten Buchtitel des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann „Bonn ist nicht Weimar“8 in den intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik eingegangen. Interessanterweise wurde der Begriff im zweigeteilten Deutschland von der Bundesrepublik aus Gründen, die die Offenhaltung der deutschen Frage betrafen, nicht verwendet. Stattdessen nutzte ihn die DDR als Propagandabegriff gegen den ungeliebten, westdeutschen Konkurrenzstaat.9 Nachdem diese konfrontative Grundkonstellation seit der Wiedervereinigung aufgelöst war, scheint der Begriff „Bonner Republik“ jedoch zu einer ebenso beliebten wie akzeptierten Kategorie im politisch-kulturellen Diskurs avanciert zu sein.10 Im Lichte der terminologischen Praxis, einen wirkmächtigen geografischen Ort zum Ausgangspunkt für eine politisch-kulturelle Chiffre zu machen, lag es in den 1990er Jahren nahe, diese Tradition für das wiedervereinigte Deutschland fortzuschreiben und der „Weimarer“ und der „Bonner“ eine „Berliner Republik“ folgen zu lassen. Die Politikwissenschaft ist ebenso wie die Zeitgeschichtsforschung auf dergleichen bewusst vereinfachende Zuschreibungen als Etikettierungen angewiesen, um ihrer analytischen und hermeneutischen Arbeit nachkommen zu können. Dabei ist es nur natürlich, dass es im Dienste der Orientierung zu Vergröberungen kommt, die mit guten Gründen angezweifelt werden können. Die Rede von der „Berliner Republik“ setzt eine bestimmte, bereits implizit deutende Periodisierung der deutschen Geschichte voraus, bei der die Trennung, die Zweistaatlichkeit und die Wiedervereinigung die entscheidenden Orientierungspfeiler markieren.11 Nachdem die „Berliner Republik“ als Terminologie nicht lange nach der Entscheidung des 7 Dies war bereits zeitgenössisch stark umstritten. Vgl. Sebastian Ullrich, Mehr als Schall und Rauch. Der Streit um den Namen der ersten deutschen Demokratie 1918 – 1949, in: Moritz Füllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005, S. 187 – 207. 8 Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. 9 Vgl. Axel Schildt, Abschied vom Westen? Zur Debatte um die Historisierung der „Bonner Republik“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2000), S. 1207 – 1218, hier S. 1208. 10 Vgl. statt vieler Marion Dönhoff et al. (Hrsg.), ZEIT-Geschichte der Bonner Republik 1949 – 1999, Reinbek bei Hamburg 1999. – Vgl. auch Karl Dietrich Bracher, Rückblick auf Bonn, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33 (1999), S. 3 – 8. 11 Vgl. Roland Czada: Nach 1989. Reflexionen zur Rede von der „Berliner Republik“, in: Roland Czada/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Von der Bonner zur Berliner Republik. 10 Jahre Deutsche Einheit. Leviathan-Sonderheft 19 (1999), S. 13 – 45, S. 27.
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Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991, Berlin zum neuen Parlaments- und Regierungssitz zu machen, durch das politische Feuilleton geisterte,12 erfolgte die erste ausführliche Auseinandersetzung in einer essayistisch angelegten Monografie des Publizisten Johannes Groß im Jahr 1995: „Wenige Jahre nach der Umwandlung der Bundesrepublik zum Nationalstaat für alle Deutschen ist es an der Zeit, die politische Physiognomie einer Republik, die nicht mehr Bonn als Hauptstadt hat, zu zeichnen. Mag das Gesicht der Berliner Republik in allen Zügen, Falten und Runzeln auch noch nicht erkennbar sein, die Unterschiede zum alten Bild sind es.“13
So wie die so genannte „Bonner Republik“ über eine spezifische Geschichtspolitik verfügte, zeigen sich Unterschiede zur der Geschichtspolitik, wie sie sich in der „Berliner Republik“ darstellen.14 Diese Unterschiede sollen im Folgenden zumindest in einigen Umrissen herausgearbeitet werden. Die verschiedenen Tendenzen und Aspekte zur Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“ werden dabei bewusst in Thesenform gekleidet und gebündelt, da mit ihnen zum kontroversen Dialog angeregt werden soll.
I. Der Begriff Geschichtspolitik wird sowohl im öffentlichen Diskurs wie auch in der Wissenschaft noch immer sehr unscharf verwendet Der Gedächtnisdiskurs in den Kultur- und Naturwissenschaften wird von einer Debatte flankiert, die vor allem unter den Schlagwörtern „Vergangenheitspolitik“, „Geschichtspolitik“ und „Erinnerungspolitik“ geführt wird und in der Aspekte thematisiert werden, die auf den politisierten Rückgriff auf die Geschichte verweisen. Besonders in Bezug auf den zentralen Begriff „Geschichtspolitik“ herrscht eine geradezu babylonische Sprachverwirrung.15 Es zeigt sich eine ganze Palette von unterschiedlichen Verwendungsweisen: Mit dem Begriff werden in verschiedenen Studien so unterschiedliche Aspekte wie die Institutionalisierung von Geschichtsdokumentationszentren,16 politisch intendierte Wirkungen von historischen Ausstellungen,17
12 Vgl. exemplarisch Gunter Hofmann, Das Wagnis eines späten Neuanfangs. Wird aus der Bonner eine Berliner Republik – und was würde dies bedeuten, in: DIE ZEIT vom 28. Juni 1991. 13 Johannes Groß, Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 7. 14 Vgl. dazu grundlegend Manuel Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzepte und Kontroversen, Wiesbaden 2013. 15 Vgl. dazu auch die Begriffsabgrenzungen bei Stefan Troebst, Postdiktatorische Geschichtskulturen im östlichen und südlichen Europa. Eine vergleichende Einführung, in: Stefan Troebst (Hrsg.), Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und im Osten Europas. Bestandaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010, S. 11 – 51, S. 19 – 25. 16 So bei Ulla-Britta Vollhardt, Geschichtspolitik im Freistaat Bayern. Das Haus der bayerischen Geschichte. Idee, Debatte, Institutionalisierung, München 2003.
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der strategische Einsatz der Geschichte gegenüber konkurrierenden Regimen,18 die Einspannung von Historikern zur Herrschaftslegitimation,19 die Schaffung von politischen Mythen und des Heldenkults herausragender Persönlichkeiten,20 eine der harten Realpolitik kontrastierende moralisierende politische Leitlinie,21 die durch die Überhöhung lokaler Persönlichkeiten entstehende Integrationsdynamik,22 die Wirkung einer Denkmalkultur23 sowie die verschiedenen Deutungsangebote von Denkmälern und „Gegendenkmälern“24 eingefangen. Diese Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen.25 Gerade in Sammelbänden und Festschriften wird die Bezeichnung (mitunter kombiniert mit dem Terminus Erinnerungskultur) in den Titel aufgenommen, um darunter die heterogensten Themen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abzuhandeln.26 17 Vgl. Rüdiger Haude, „Kaiseridee“ oder „Schicksalsgemeinschaft“. Geschichtspolitik beim Projekt „Aachener Krönungsausstellung 1915“ und bei der „Jahrtausendausstellung Aachen 1925“, Aachen 2000. 18 Vgl. Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“. Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005. 19 Vgl. Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. – Vgl. auch Rainer Lindner, Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik in Weißrußland. Erinnerungskonkurrenzen in spät- und postsowjetischer Zeit, in: Helmut Altrichter (Hrsg.), Gegen Erinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006, S. 79 – 98. 20 Vgl. Matthias Waechter, Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940 bis 1958, Göttingen 2006. 21 Vgl. Werner Bergmann, Realpolitik versus Geschichtspolitik. Der Schmidt-Begin-Konflikt von 1981, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 266 – 287. 22 Vgl. Robin Kiera, Der große Sohn der Stadt Kassel? Der Großmarschall Otto Philipp Braun als Symbol lokaler Geschichtspolitik, Marburg 2009. 23 Vgl. Heidemarie Uhl, Erinnerung als Versöhnung. Zur Denkmalkultur und Geschichtspolitik der Zweiten Republik, in: Zeitgeschichte 5 (1996), S. 146 – 160. – Vgl. auch Heidemarie Uhl, Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Geschichtspolitik und Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 317 – 341. 24 Vgl. die kunsthistorische Untersuchung von Corinna Tomberger, Das Gegendenkmal. Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Bielefeld 2007. 25 Vgl. Friedemann Neuhaus, Geschichte im Umbruch. Geschichtspolitik, Geschichtsunterricht und Geschichtsbewußtsein in der DDR und in den neuen Bundesländern 1983 – 1993, Frankfurt a. M. 1998. – Manfred Wilke, Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages, in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 607 – 613. – Alexander Fleischhauer, Die Enkel fechten’s besser aus. Thomas Müntzer und die Frühbürgerliche Revolution. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR, Münster 2010. 26 Vgl. Jan Eckel/Claudia Moisel (Hrsg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008. – Vgl. Ursula Bitzegeio et al. (Hrsg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Freiburg i. Br. 2009. – Vgl. Jan Korte/Gerd Wiegel (Hrsg.), Sichtbare Zeichen. Die neue deutsche Geschichtspolitik.
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Geschichtspolitische Untersuchungen beschränken sich trotz der Vielfalt der Herangehensweisen zumeist auf die Manifestationen von Geschichtspolitik wie etwa Denkmäler oder Geschichtsbilder. Demgegenüber bleiben die Akteure, Adressaten sowie deren Kommunikations- und Rahmenbedingungen häufig außen vor. Es besteht eine grundlegende Schieflage zwischen der steigenden Anzahl empirischer Einzeluntersuchungen und der theoretisch-methodischen Auseinandersetzung mit Geschichtspolitik. In einschlägigen politikwissenschaftlichen Lexika sucht man die Begriffe Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik und Vergangenheitspolitik weitestgehend vergeblich.27
II. Es steht zu erwarten, dass die Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“ in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird Die Geschichtspolitik hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine signifikante Aufwertung erfahren und den Charakter eines eigenständigen politischen Handlungsfeldes angenommen.28 Carola S. Rudnick kommt am Ende ihrer umfangreichen Studie zur DDR-bezogenen Geschichtspolitik zu dem eindeutigen Schluss, dass es nach 1989 zu einer „Politisierung der Erinnerungsfrage“ gekommen sei: „In einem Ausmaß wie nie zuvor wurde um die Definition deutscher Vergangenheit
Von der Tätergeschichte zur Opferperspektive, Köln 2009. – Christoph Kühlberger/Clemens Sedmak (Hrsg.), Europäische Geschichtskultur, europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas, Innsbruck 2009. – Ebenso Jens Kroh, Transnationale Erinnerung im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt a. M. 2006. 27 Vgl. Dieter Nohlen et al. (Hrsg.), Lexikon der Politik, 7 Bände, München 1998. – Dieter Nohlen et al. (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, 6 Bände, München 1985. – Everhard Holtmann et al. (Hrsg.), Politik-Lexikon, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1994. – Gerlinde Sommer/Raban Graf von Westphalen (Hrsg.), Staatsbürgerlexikon. Staat, Politik, Recht und Verwaltung in Deutschland und der Europäischen Union, München 1999. – Carsten Lenz/ Nicole Ruchlak (Hrsg.), Kleines Politik-Lexikon, München 2001. – Einzig das von Manfred G. Schmidt herausgegebene „Wörterbuch zur Politik“ hat in seiner zweiten Auflage von 2004 einen, wenn auch nur sechszeiligen Eintrag zum Stichwort „Vergangenheitspolitik“ aufgenommen. Vgl. Vergangenheitspolitik, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Wörterbuch zur Politik, 2., vollst. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2004, S. 744. In die dritte Auflage von 2010 wurde ein achtzeiliger Beitrag über „Geschichtspolitik“ aufgenommen. Vgl. Vergangenheitspolitik, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Wörterbuch zur Politik, 3., vollst. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2010, S. 300. „Erinnerungspolitik“ sucht man nach wie vor vergeblich. 28 Vgl. zu diesem Befund auch Bertrand Perz, Erinnern und Gedenken am Scheideweg. Ein österreichischer Zwischenruf, in: Manfred Grieger et al. (Hrsg.), Die Zukunft der Erinnerung. Eine Wolfsburger Tagung, Wolfsburg 2008, S. 7 – 19. – Ebenfalls von einem neuen Politikfeld spricht Peter Steinbach, Geschichte im politischen Kampf: Wie historische Argumente die öffentliche Meinung manipulieren, Bonn 2012, S. 50.
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und um die Frage nach dem diesbezüglichen Umgang gestritten.“29 Dieses Urteil wird man sicher ein Stück weit relativieren müssen, da der politisierte Zugriff auf Geschichte von der Studentenrevolte in den 1960er Jahren bis zum „Historikerstreit“ in den 1980er Jahren auch in der alten Bundesrepublik eine gewichtige Rolle gespielt hat. Außerdem gilt es in Rechnung zu stellen, dass dem Politikfeld Geschichtspolitik bei Weitem keine solche Bedeutung zukommt, dass man mit ihm beispielsweise Wahlen gewinnen könnte. Da geschichtspolitische Themen zumeist nur von einer bestimmten, bildungsbürgerlich ausgerichteten Klientel perzipiert und rezipiert werden, sind sie keine klassischen Wahlkampfmobilisatoren, die man in das Zentrum der Auseinandersetzung vor einer Bundestagswahl rücken könnte. Daher gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie einen Wahlkampf, in dem ein geschichtspolitisches Thema eine wirklich relevante Rolle gespielt hat. Hier bleiben andere Politikfelder wie etwa die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik deutlich wichtiger. Dies zu konzedieren heißt keinesfalls, Abstriche von der hohen Bedeutung der Geschichtspolitik für das Politische insgesamt machen zu müssen. Es geht bei der Geschichtspolitik nicht ausschließlich um Deutungshoheit im intellektuellen Diskurs, sondern um harte Machtinteressen und finanzielle Ressourcen. Geschichtspolitische Debatten werden häufig von einer intensiven Emotionalisierung getragen und von verschiedenen Akteuren nicht selten mit massivem Empörungsgestus begleitet, wie in der Analyse der drei Fallbeispiele immer wieder deutlich geworden ist. Der Rekurs auf prinzipielle Identitätsfragen und die gleichsam naturgemäße Ideologisierung der Geschichtspolitik erschweren die nüchterne, rationale und sachorientierte Entscheidungsfindung auf diesem Politikfeld in besonderem Maße. Die Kontroversität geschichtsbezogener Themen liegt in dem anthropologischen Verhältnis des Menschen zur Geschichte begründet. Der Zugriff des Menschen auf die Geschichte muss schon von seiner Natur her immer selektiv bleiben, da die Vergangenheit in ihrer Totalität nicht zugänglich ist. Bei jeder Selektion stellt sich die Frage nach den Auswahlkriterien. Der selektive Zugriff des Menschen auf die Geschichte schließt die individuelle und subjektive Deutung unvermeidbar mit ein. Gerade bei zeitgeschichtlichen Themen gewinnen diese Selektionsmechanismen an besonderer Brisanz, da sich hier die persönliche Erinnerung an erlebte Geschichte von Zeitzeugen mit den um Objektivierung bemühten Methoden der wissenschaftlichen Rekonstruktion des Forschers konfrontiert sieht. Das Dresdener Bombenopfer oder der vertriebene Ostpreuße hat durch die Verknüpfung mit seinem persönlichen Schicksal und der damit verbundenen emotionalen Betroffenheit einen gänzlich anderen Zugang zur Thematik als der nachgeborene Forscher mit dem von ihm erlernten methodischen Instrumentarium und seiner professionell antrainierten Neutralität. Wer vom ehemaligen MfS der DDR ausgespäht oder vielleicht sogar von diesem gefoltert wurde, bringt eine andere Perspektive auf die Aufarbeitungsprozesse in der Stasi-Unterlagenbehörde mit ein als der westdeutsche Wissenschaftler. Auch ein Armenier oder Grieche wird die Möglichkeit einer Mitgliedschaft der Türkei in der Eu29 Carola S. Rudnick, Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 732.
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ropäischen Union anders beurteilen und mit anderen Maßstäben messen als ein deutscher Politikwissenschaftler. Der Politik kommt die schwierige Aufgabe zu, diese konfligierenden Grundkonstellationen mit den sich daraus ergebenden legitimen Interessen, Präferenzen und Repräsentationswünschen in der Erinnerungskultur eines Gemeinwesens zum Ausgleich und letzten Endes zur Entscheidung zu bringen.
III. Die doppelte deutsche Diktaturvergangenheit beschreibt heute die wichtigste Achse in der Geschichtspolitik der „Berliner Republik“ Auch wenn den Miterlebenden angesichts der grundstürzenden Ereignisse in den Jahren 1989 bis 1991 bereits zeitgenössisch klar war, dass sie Zeugen eines Prozesses von weltgeschichtlicher Bedeutung wurden, so zeigt sich erst im Rückblick immer eindrücklicher, welch tiefe Bedeutung dieser Zäsur nicht nur politisch, sondern vor allem geistesgeschichtlich zukommt. Das gilt für die Bundesrepublik in einem ganz besonderen Maße – und zwar nicht nur mit Blick auf eine jahrzehntelange Trennung der Bevölkerung. Hob sich bereits die Vergangenheitsbewältigung der „Bonner Republik“ durch ihre starke Fixierung auf den Nationalsozialismus von derjenigen anderer Nationen in charakteristischer Weise ab, so gilt dies für die Geschichtsaufarbeitung in der „Berliner Republik“ umso mehr. Deutschland wurde durch die Epochenzäsur 1989/90 zur weltweit einzigen Demokratie, die sich in ihrer Geschichtsaufarbeitung mit zwei Diktaturen entgegengesetzter ideologischer Prägung auseinandersetzen kann und muss. Man mag zwar an einige osteuropäische oder südamerikanische Staaten denken, die ebenfalls ein ideologisch rechtsgerichtetes und ein ideologisch linksgerichtetes Regime durchlitten haben. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Deutschland im weltweiten Maßstab einen einzigartigen Fall darstellt, sowohl was die weltanschauliche Intensität als auch was die praktische Herrschaftsdurchsetzung in den beiden Diktaturen angeht. Diese Rahmenbedingung stellt die Geschichtspolitik der „Berliner Republik“ vor große Herausforderungen: Wie lassen sich beide Diktaturen in einem adäquaten Verhältnis erinnern? Wie können die Verbrechen des DDR-Regimes angemessen vergegenwärtigt werden, ohne damit die nationalsozialistischen Gräueltaten zu relativieren, zu verharmlosen oder zu banalisieren? Ist es überhaupt gerechtfertigt, von einer „doppelten Diktatur“ oder „zwei totalitären Systemen“ zu sprechen, ohne damit den Nationalsozialismus und die DDR bereits gedanklich gleichzusetzen? Die doppelte deutsche Diktaturvergangenheit stellt eine zentrale Achse der Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“ dar. Der Historiker Bernd Faulenbach benannte auf einem Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung Mitte der 1990er Jahre im Kontext der Schlussstrichdebatte mit Blick auf die BStU-Akten den zentralen Spagat der gesamtdeutschen Geschichtspolitik:
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„Es stellt sich im vereinigten Deutschland die Frage, ob die Gesellschaft sich als fähig erweist, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, das die Erinnerung an vielfältige Widersprüchlichkeiten der verschiedenen Vergangenheiten bewahrt, die Bedeutung der NS-Zeit mit ihren einzigartigen Verbrechen nicht einebnet, sich mit den Erfahrungen der SED-Diktatur auseinandersetzt und die aus beiden Erfahrungskomplexen zu folgernde tägliche Einlösung von Menschen- und Bürgerrechten zur permanenten Aufgabe erhebt.“30
Da die meisten der deutschen Erinnerungsstätten einer der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gewidmet sind, kommt es mancherorts zu einer Überlagerung der Erinnerungsschichten. So sind etwa die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen primär auf die Erinnerung an das nationalsozialistische Konzentrationslager ausgerichtet, allerdings muss hier gleichzeitig die spätere Nutzung als sowjetisches Speziallager und als ideologisch instrumentalisierte Mahn- und Gedenkstätte der DDR thematisiert werden.31 Die institutionelle Verbindung von zweierlei Erinnerung, oftmals sogar auf dem gleichen Gelände, kann nie frei von Spannungen sein und stellt die in demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen auszuhandelnde Erinnerungspolitik vor spezifische Herausforderungen.32 Jürgen Danyel beschreibt diese Problematik der neueren Erinnerungspolitik folgendermaßen: Die Erfahrung des NS-Regimes müsse eine zentrale Achse bilden; auch die durch die DDRErfahrung bewirkte Aufspaltung des nationalgeschichtlichen Gedächtnisses in Deutschland mitsamt der mentalitätsgeschichtlichen Folgewirkungen müsse berücksichtigt werden.33 Nicht zuletzt die Kontroversen um die „Sabrow-Kommission“ haben offenbart, wie stark die Gedenkstättenpolitik von den Konfliktlinien der parallelen Erinnerung an beide Diktaturen geprägt ist. Eine grundlegende Fehlkonstruktion bei der Einberufung der Kommission war es, einseitig einen DDR-bezogenen Geschichtsverbund schaffen zu wollen. Konsequenterweise berücksichtigte die gelungene, in Teilen auf den Empfehlungen der Expertenkommission aufbauende Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die im Juni 2008 verabschiedet wurde,34 die ver30 Bernd Faulenbach, Totalitärer Terror. Zur gegenwärtigen Bedeutung historischer Erfahrung, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die Akten der kommunistischen Gewaltherrschaft. Schlußstrich oder Aufarbeitung? Dokumentation, Leipzig 1994, S. 28 – 34, hier S. 34. 31 Vgl. Winfried Meyer, Friedhofsgärtnerei statt Elfenbeinturm? Thesen zu Bedingungen und Aspekten zeitgeschichtlicher Forschung in Gedenkstätten, in: Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, S. 21 – 26, hier S. 21. 32 Vgl. Norbert Haase, Zwischen Konsens und Konkurrenz: Deutsche Erinnerungskulturen im politischen Spannungsfeld, in: Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Historisches Erinnern und Gedenken, S. 27 – 44, hier S. 27. 33 Vgl. Jürgen Danyel, Unwirtliche Gegenden und abgelegene Orte. Der Nationalsozialismus und die deutsche Teilung als Herausforderungen einer Geschichte der deutschen „Erinnerungsorte“, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 463 – 475, hier S. 475. 34 Vgl. Regierung online, Verantwortung wahren, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption, in: http://www.bundesregierung.de/ Content/DE/_Anlagen/BKM/2008 – 06 – 18-fortschreibung-gedenkstaettenkonzepion-barriere frei.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff am 29. September 2015).
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gleichende Perspektive dann umso deutlicher. Der geschichtspolitische Spagat der Fortschreibung bestand darin, die beiden Diktaturen miteinander in Beziehung zu setzen und zu unterscheiden sowie dabei gleichzeitig keinerlei Angriffsfläche für den Vorwurf der Verharmlosung des NS-Regimes und den der Bagatellisierung der DDR zu bieten.35 Die Gedenkstättenlandschaft zur Erinnerung an die NS-Diktatur besitzt in Deutschland eine über Jahrzehnte hinweg gewachsene und etablierte Struktur. Daher geht der größere Anteil der staatlichen Förderung noch immer an die NS-Gedenkstätten. Die DDR-bezogenen Gedenkstätten36 haben sich in den vergangenen 20 Jahren etwas „naturwüchsiger“ entwickelt. Es ist einerseits richtig, dass in der Geschichte wohl kaum eine Diktatur so umfassend und mit solch hohem personellen und finanziellen Aufwand in die Gedenkstättenarchitektur eines demokratischen Gemeinwesens integriert worden ist wie das SED-Regime. Auf der anderen Seite ist die Kulturförder- und Gedenkstättenpolitik in finanzpolitischen Krisenzeiten oftmals eines der ersten Felder, die dem haushaltspolitischen Rotstift zum Opfer fallen. Die Angemessenheit der Proportionierung von Geldern wird daher in den kommenden Jahren immer wieder neu zu überprüfen und zu legitimieren sein.37 Die beschriebenen Herausforderungen der doppelten deutschen Diktaturvergangenheit können und sollten von Wissenschaft und Geschichtspolitik selbstbewusst angenommen werden. Geschichtspolitik zeichnet sich gerade in einem freiheitlichen Gemeinwesen dadurch aus, dass sie die Schattenseiten der Vergangenheit nicht ausklammert, sondern den offenen Dialog darüber fördert. Ein Vergleich der bundesdeutschen Gedenkstättenpolitik mit derjenigen in der DDR vermag diesen fundamentalen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur plastisch an konkreten Beispielen zu erhellen.38 Es spricht für das wiedervereinigte Deutschland, dass wohl kein anderer Staat der Welt so umfangreiche Archivmaterialien zu zwei diktatorischen Herrschaftssystemen unterschiedlicher ideologischer Provenienz seinen Bürgern ohne größere Barrieren zur Verfügung stellt. Auch zur Überwindung der viel zitierten „Mauer in den Köpfen“ im Dienste des Ziels der „inneren Einheit“ könnte der geschichtspolitische Dialog über die beiden deutschen Diktaturen wertvolle Dienste leisten.
35 Vgl. Winfried Sträter, Bestandsaufnahme und Neujustierung. Anmerkungen zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, in: Deutschland Archiv 4 (2008), S. 581 – 586, hier S. 581. 36 Vgl. zum Überblick Annette Kaminsky (Hrsg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig 2004. 37 Vgl. Manuel Becker, Die Bedeutung des Diktaturenvergleichs für die politische Kultur der „Berliner Republik“, in: Deutschland Archiv 3 (2011), S. 403 – 410. 38 Vgl. Bernd Faulenbach, Erinnerung und Politik in der DDR und der Bundesrepublik. Zur Funktion der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 599 – 606, S. 604 – 605. – Vgl. für einen konzisen Überblick über Mahnmäler und Gedenkstätten in Ost und West sowie nach der Einheit Stefanie Endlich, Orte des Erinnerns. Mahnmale und Gedenkstätten, in: Peter Reichel et al. (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, S. 350 – 377.
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IV. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist nach wie vor der sensibelste Bereich in der Geschichtspolitik der „Berliner Republik“ Von dem im Vorangegangenen Ausgeführten unberührt bleibt die These, dass ungeachtet der Dominanz der doppelten deutschen Diktaturaufarbeitung die Erinnerung an den Nationalsozialismus noch immer den sensibelsten Rezeptor in der Geschichtspolitik der „Berliner Republik“ darstellt. Die Tagespolitik liefert regelmäßig Belege dafür, dass inadäquate und unreflektierte Bezugnahmen auf das „Dritte Reich“ von Empörungswellen begleitet werden und Politiker mitunter ihre Karrieren kosten können. Man denke an die Reaktionen auf die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der die Nennung von Namen reicher Mitbürger in der Vermögenssteuerdebatte als „neue Form von Stern an der Brust“ bezeichnet hatte.39 Man denke ferner an die rot-grüne Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, die ihren Hut nehmen musste, weil sie in einer Podiumsdiskussion George W. Bushs Praxis, durch riskante außenpolitische Manöver von innenpolitischen Problemen ablenken zu wollen, als Muster bezeichnet hatte, das seit „Adolf Nazi“ gebräuchlich sei.40 Gleiches galt für den CDU-Politiker Martin Hohmann, den sein unqualifizierter Gebrauch des Wortes „Tätervolk“ in einer Rede zum 3. Oktober 2003 politisch den Kopf kostete.41 Man denke weiterhin an den SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler, der im Bundestagswahlkampf 2005 mit Äußerungen für Schlagzeilen sorgte, der Unions-Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ erinnere ihn an die Nazi-Parole „Arbeit macht frei“.42 Auch Oskar Lafontaine brachte seine Verwendung des Wortes „Fremdarbeiter“ in Bedrängnis.43 In der jüngeren Vergangenheit haben die Politiker der Piratenpartei ihre einschlägigen Erfahrungen mit dem Nazi-Vergleich machen müssen.44 Wie man an der hier zusammengestellten Beispielliste, die beliebig erweitert werden könnte, erkennen kann, treten Politiker jeder parteipolitischen Couleur in regelmäßigen Abständen in das offensichtlich allseits beliebte „NS-Fettnäpfchen“. Diese geschichtspolitischen Reaktionsmuster hat Julia Kölsch mit dem Luhmannschen Begriff des strukturfunktionalen Latenzschutzes eingefangen.45 NS-Themen sind in der politischen Kultur der Bundesrepublik mit einem deutlich höheren Latenzschutz ver39 Vgl. o. V.: „Neue Form von Stern“. Koch löst Eklat aus, in: FAZ vom 12. Dezember 2002. 40 Vgl. o. V.: Däubler-Gmelin: Bush will ablenken, in: Schwäbisches Tagblatt vom 19. September 2002. 41 Vgl. Richard Herzinger, Der Fall Hohmann, in: DIE ZEIT vom 13. November 2003. 42 Vgl. Kurt Kister, Eine Schande für die SPD, in: SZ vom 13. Juli 2005. 43 Vgl. Reiner Burger, Lafontaine und der rechte Rand, in: FAZ vom 17. Juni 2005. 44 Vgl. Michael Schlieben, Piratenpartei. Nazi-Vergleiche und Machtkämpfe, in: DIE ZEIT vom 23. April 2012. 45 Vgl. Julia Kölsch, Politik und Gedächtnis. Zur Soziologie funktionaler Erinnerung, Wiesbaden 2000, S. 24 – 30.
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sehen als Themen aus anderen Bereichen der deutschen Geschichte. Als beispielsweise Gregor Gysi im bayerischen Landtagswahlkampf 2008 die Macht der CSU in Bayern mit derjenigen der SED in der untergegangenen DDR verglich,46 blieb dies lediglich eine publizistische Randnotiz, die kaum Beachtung fand – obwohl diese Einlassung gerade mit Blick auf die immer wieder aufkeimende Diskussion um die Distanzierung der LINKEN von ihrer Vergangenheit im Grunde genügend Konfliktpotential für eine aufgeregte Debatte geboten hätte. Dass der öffentliche Aufschrei hier ausblieb, unterstreicht, dass es nach wie vor in erster Linie NS-bezogene Themen sind, die das kollektive Geschichtsgefühl der Deutschen zu reizen vermögen. Auf der einen Seite scheint es begrüßenswert zu sein, dass die Deutschen durch die Schrecken des Nationalsozialismus und dem mit der Shoah verbundenen Zivilisationsbruch nach Esterházys Schlagwort zu „Weltmeistern der Vergangenheitsbewältigung“47 geworden sind. Es ist nicht nur eine Phrase der politischen Sonntagsrede, dass die fortwährende Vergegenwärtigung dieser alle bis dato bekannten Maßstäbe brechenden totalitären Diktatur den besten Schutz dafür bietet, dass sich ähnliche Entwicklungen nicht wiederholen. Auf der anderen Seite darf aber auch die selbstkritische Frage gestellt werden, ob die Empfindlichkeiten in Bezug auf die NS-Vergangenheit nicht auch negative Konsequenzen für die politische Kultur in Deutschland zeitigen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Harald Mey hält die NS-Vergangenheit in Deutschland für ein Problem bei der konstruktiven Aufnahme der amerikanischen Kommunitarismusdebatte. Der Betonung des Gemeinschaftsdenkens hafte in Deutschland problematischerweise das Odium völkischer Gemeinschaftstümelei an, wodurch der Blick auf einen bürgerschaftlich-solidarischen Gemeinschaftsbegriff leicht verstellt werde.48 Diese Überlegung verdient zumindest eine ernsthafte Diskussion, anstatt dass sie als rückwärtsgewandte Geschichtsrelativierung abqualifiziert wird. Doch gleich, wie man zu der nach wie vor prägenden Fixierung der Deutschen auf den sensibelsten Punkt in ihrem Geschichtsbewusstsein steht, auch in der „Berliner Republik“ steht es erst einmal nicht zu erwarten, dass NS-bezogene Themen weniger empfindlich und weniger reizbar diskutiert werden.
46 Vgl. Miriam Hollstein, Gregor Gysi vergleicht die CSU mit der SED, in: DIE WELT vom 13. September 2008. 47 Zit. Edgar Wolfrum, Die Anfänge der Bundesrepublik, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Fernwirkungen bis heute, in: Ursula Bitzegeio et al. (Hrsg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Freiburg 2009, S. 363 – 377, hier S. 374. 48 Vgl. Harald Mey, Deutsche Probleme mit der Gemeinschaft. Schwierigkeiten in der deutschen Kommunitarismus-Rezeption wegen der NS-Erfahrung, in: Wolfgang Bergem (Hrsg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S. 205 – 226. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, 3. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 239 – 270.
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V. Die „Berliner Republik“ verfügt über ein im Vergleich zur „Bonner Republik“ deutlich positiver akzentuiertes Geschichtsbild Dass der Nationalsozialismus immer noch den mit Abstand empfindlichsten Punkt in der bundesdeutschen Erinnerungskultur markiert, heißt nicht, dass er dort noch immer den gleichen Stellenwert einnimmt, wie es in der altbundesrepublikanischen Erinnerungskultur der „Bonner Republik“ der Fall war. Auch in diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Epochenzäsur 1989/90 hervorzuheben, die neue Perspektiven auf die Bewertung und Einordnung des deutschen Geschichtsbilds aufzeigte. Geschichtsbilder stehen in einem ganz engen Wechselverhältnis zum Selbstbild eines politischen Gemeinwesens. Die Bedeutung der US-amerikanischen und der Französischen Revolution für die Vereinigten Staaten und die Französische Republik heute kann kaum überschätzt werden.49 In der „Bonner Republik“ war es nach 1945 vor allem die Abgrenzung vom Nationalsozialismus, mithin die Fokussierung auf ein negatives Geschichtsbild, die das Selbstbild der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusste. Diese tradierte Monopolstellung der einseitig ausgelegten historischen Fixierung auf das „Dritte Reich“ beginnt zunehmend zu bröckeln. Die braune Vergangenheit ist nicht mehr länger der einzige Ansatzpunkt, von dem aus die übrige deutsche Geschichte gedacht und gedeutet wird. Als Kronzeuge für diese Entwicklung lässt sich Heinrich August Winkler zitieren. Winkler schreibt im Vorwort zu seinem opus magnum „Der lange Weg nach Westen“, dem vielleicht wichtigsten historischen Grundlagenwerk der „Berliner Republik“: „Historische Darstellungen bedürfen eines Fluchtpunktes. Fluchtpunkte ändern sich im Verlauf der Zeit. Für Darstellungen der jüngeren deutschen Geschichte bildeten nach dem Zweiten Weltkrieg die Jahre 1933 und 1945 die Fluchtpunkte, auf die hin deutsche Geschichte geschrieben wurde. Inzwischen gibt es einen neuen Fluchtpunkt: das Jahr 1990. […] Das Jahr 1990 als Fluchtpunkt zu wählen heißt auch manche Deutung zu überprüfen, die die deutsche Geschichte von 1945 bis 1990 erfahren hat.“50
Winkler gibt in diesem Vorwort dem Leser die zentrale Deutungslinie seines Œuvres bereits vor der Lektüre mit auf den Weg. Das Diktum vom „langen Weg nach Westen“ als Leitnarrativ einer Geschichte der Deutschen von 1806 bis 1990 zu wählen, verweist auf eine gänzlich andere Interpretation der Geschichte als sie für die „Bonner Republik“ charakteristisch war. Die deutsche Geschichte gilt Winkler nicht länger als eine Geschichte des moralisch-politischen Verfalls, der konsequenterweise in den Nationalsozialismus mündet, sondern als ein 200jähriger windungsreicher und vielfach zerklüfteter Weg hin zum vollen Anschluss an das westliche Wertesystem. Diese Perspektivenweitung machte noch eine weitere Neuerung möglich. Nach dem oftmals überkritischen Blick auf die eigene Nation und die eigenen Geschichte, der noch den so genannten „Historikerstreit“ do49 50
Vgl. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, S. 51 – 72. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. I, München 2000, S. 2.
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minierte,51 scheint es heute weitgehend unumstritten zu sein, dass sich die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte deuten lässt. Aus diesem Grund fand ein deutlich positiver akzentuiertes Geschichtsbild der Deutschen Eingang in die neuere Historiografie: Eine der prominentesten Überblicksdarstellungen über die Geschichte der Bundesrepublik aus der Feder von Edgar Wolfrum trägt den programmatischen Titel: „Die geglückte Demokratie“.52 Der Journalist Eckhard Fuhr hat die hier beschriebenen Tendenzen auf den Punkt gebracht: „Die Geschichtswende von 1989, das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates, das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und die Öffnung der Geschichtsräume Mittel- und Osteuropas haben jenes spezifisch bundesrepublikanische Geschichtsgefühl, aber auch die melancholische und verbitterte Widerrede, obsolet gemacht. Die Verhältnisse sortieren sich neu.“53
VI. Die tradierten weltanschaulichen Lagergrenzen der „Bonner Republik“ werden in den geschichtspolitischen Debatten der „Berliner Republik“ immer wieder transzendiert Eine weitere Tendenz zeigt sich in dem sich immer wieder erhärtenden Eindruck, dass die gewohnten Lagergrenzen der „Bonner Republik“ an Bedeutung zu verlieren scheinen. In der alten Bundesrepublik konnte man die öffentlichen Diskutanten noch sehr trennscharf nach ihrer weltanschaulichen Orientierung einordnen. Aus der Parteimitgliedschaft oder zumindest aus der Nähe zu einer bestimmten Partei konnte man recht treffsicher darauf schließen, welche Position zu einer konkreten Streitfrage vertreten wurde. „Rechts“ stand für tendenziell konservativ, national und elitär, während „links“ eher für progressiv, international und egalitär stand. Dergleichen Zuordnungen sind nun wesentlich komplizierter geworden. In der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei überraschte es nicht wenige, dass es mit Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Jürgen Kocka gerade drei Historiker aus dem sozialdemokratischen Lager waren, die sich als die wichtigsten Stimmen der Beitrittsgegner im öffentlichen Diskurs profilierten und sich damit der offiziellen parteipolitischen Position von CDU/CSU anschlossen. Alle drei Geschichtsprofessoren führten im Wesentlichen historisch-kulturalistische Elemente an, warum die morgenländische Tradition der Türkei mit der von der abendländi51 Vgl. Volker Kronenberg, Verfassungspatriotismus. Zur Rezeption eines Begriffs im Lichte des „Historikerstreits“, in: Volker Kronenberg (Hrsg.), Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“. 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008, S. 123 – 135. 52 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. 53 Eckhard Fuhr, Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1 – 2 (2007), S. 3 – 7, S. 3 f.
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schen Kultur geprägten Europäischen Union nicht zusammenpassen könne. Angela Merkel nutzte dies in der parteipolitischen Auseinandersetzung als Instrument gegen den politischen Gegner. Der sozialdemokratisch geführten Regierung hielt sie in der parlamentarischen Debatte vor, sie möge auf den klugen Rat ihrer eigenen Historiker hören.54 Umgekehrt outeten sich mit Volker Rühe und Ruprecht Polenz zwei ausgewiesene außenpolitische Experten der CDU als Beitrittsbefürworter und begründeten ihre abweichende Haltung zur Parteilinie primär mit dem historischen Argument der sich aus der über Jahrzehnte eröffneten Beitrittsperspektive ergebenen historischmoralischen Verpflichtung. Überblickt man die über zwanzig Jahre der öffentlichen Debatte zur Stasi-Unterlagenbehörde, so war es insbesondere das Debattenmotiv des „Schlussstrichs“, an dem sich das Abschleifen weltanschaulicher Lagergrenzen am besten verdeutlichen lässt: Da ist zum Ersten das bunt gemischte Interessensbündnis aus alten DDR-Regimekadern und dem Bonner Beamtenapparat, das zu Beginn der 1990er Jahre eine Schließung bzw. sogar eine Vernichtung der MfS-Akten der Einrichtung einer Sonderbehörde vorzog. Da ist zum Zweiten das von Marion Gräfin Dönhoff u. a. initiierte Manifest „Weil das Land Versöhnung braucht“, das kurzsichtig für eine baldige Schließung der Behörde eintrat.55 Neue historische Kenntnisse wie etwa die Enthüllung, dass der Todesschütze von Benno Ohnesorg, Karl-Heinz Kurras, auf der Gehaltsliste des MfS stand, luden zu einer Hinterfragung der tradierten Polarisierung im Geschichtsbild der 68er-Generation ein. Wenn die in den Empfehlungen der „Sabrow-Kommission“ vorgesehene Stärkung alltagsgeschichtlicher Aspekte in der Erinnerungskultur zur DDR-Geschichte als Versuch einer von Rot-Grün intendierten Weichspülung der zweiten deutschen Diktatur gedeutet wird, so wirkt dies deshalb so angestrengt und konstruiert, weil hier alte geschichtspolitische Reflexe aufleuchten, die von einer eindeutigen Trennung zwischen „rechter“ und „linker“ Geschichtsdeutung ausgehen, die so trennscharf nicht mehr gegeben ist. Ähnliche Tendenzen lassen sich bei dem Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen ausmachen: selbst wenn dieses von rechtskonservativen Kreisen aus initiiert wurde, so waren es mit Peter Glotz und Otto Schily prominente Sozialdemokraten, die es aus Überzeugung unterstützten und öffentlich dafür eintraten. Auch Daniel Cohn-Bendit56 war ein Vertreter, den man nach altbundesrepublikanischen Maßstä54 Vgl. Manuel Becker, Historische Argumentationsmuster in parlamentarischen Debatten. Die Frage nach dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (2014), S. 615 – 631. 55 Marion Dönhoff/Peter Bender/Friedrich Dieckmann/Adam Michnik/Friedrich Schorlemmer/Richard Schröder/Uwe Wesel: Ein Manifest II: Weil das Land Versöhnung braucht, Hamburg 1993. 56 Cohn-Bendit war zu Beginn Mitglied der Jury des Franz Werfel-Menschrechtspreises der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen. Neben ihm bestand die Jury zu Beginn auch aus Ralph Giordano, Peter Glotz, Otto von Habsburg, Klaus Hänsch, Helga Hirsch, György Konrad, Otto Graf Lambsdorff, Lennart Meri und Erika Steinbach. Vgl. Stiftung ZgV: Mitteilung der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen vom 21. Januar 2003, in: http://www.z-g-v. de/aktuelles/index.php3?id=6 (letzter Zugriff am 29. September 2015).
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ben nicht auf der Seite der Zentrumsbefürworter hätte vermuten mögen. Es nicht zuletzt viele bekannte Altlinke der früheren Bundesrepublik, die den neuen Opferdiskurs in Deutschland vorangetrieben haben. Autoren wie Gustav Seibt, Peter Becher und Helga Hirsch kritisierten die politische Linke in Deutschland dafür, dass sie lange Zeit blind und unempfindsam für die Themen Flucht und Vertreibung sowie für das mit ihnen verbundene Leid gewesen seien.57 Niemand hat die Perspektive, dass Deutsche auch als Opfer des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden können, so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert wie Günter Grass mit seiner Novelle „Im Krebsgang“58 – vielleicht gerade, weil diese Botschaft in den Augen vieler von politisch „unverdächtiger“ Seite kam. Dass ausgerechnet von den hier genannten Autoren die Opferperspektive auf die Deutschen in dieser Weise thematisiert wurde, hätte man sich Ende der 1980er Jahre noch kaum vorstellen können. Zwar darf nicht der vorschnelle Schluss gezogen werden, dass die weltanschaulichen und parteipolitischen Lagergrenzen in der „Berliner Republik“ gar keine Rolle mehr spielen würden. Diese Schlussfolgerung ginge zu weit. Es ist mitnichten der Fall, dass sich jegliche politische Überzeugung in einem willkürlichen, gleichsam „hyperlibertären“ weltanschaulichen Gefüge aufgelöst hätte und dass ein Ende der parteipolitischen Konfrontation und Zuspitzung erreicht sei. Aber die hier zusammengetragenen Belege und Indizien deuten doch darauf hin, dass sich neue, anders gelagerte Konfliktlagen herauskristallisieren, für die die klassische Rechts-LinksUnterscheidung zwar immer noch bedeutsam, aber längst nicht mehr allein dominierend ist. Es wird spannend sein, zu beobachten, in welche Richtung sich diese Tendenzen in Zukunft entwickeln werden.
VII. In den geschichtspolitischen Kontroversen der „Berliner Republik“ sind Journalisten unangefochten die wirkmächtigsten „Sinnproduzenten“ Die öffentliche Meinungsbildung in Demokratien funktioniert keineswegs so egalitär, wie es die politische Alltagsintuition vieler Bürger oftmals nahelegt. Ein großer Teil der Bürger bildet sich das politische Urteil durch die Zustimmung zu oder die Ablehnung von Deutungsangeboten, wie sie so genannte „Sinnproduzenten“59 unterbreiten. Sinnproduzenten übernehmen eine Art Elitenfunktion im öffentlichen Dis57 Vgl. Gustav Seibt, Heimat und Totengedenken, in: SZ vom 18. Juli 2003. – Vgl. Peter Becher, Das Leid der Opfer nicht vergessen, in: SZ vom 30. Oktober 2003. – Vgl. Helga Hirsch, Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40/41 (2003), S. 14 – 26. 58 Günter Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002. 59 Max Kaase, Sinn oder Unsinn des Konzepts „Politische Kultur“ für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, Opladen 1982, S. 144 – 171, S. 163.
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kurs. Sie spielen eine entscheidende Rolle für die politische Deutungskultur.60 Die Deutungsmacht in den historischen und geschichtspolitischen Kontroversen lag seit der Geburt des politischen Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts klassischerweise in der Regel bei Literaten und Intellektuellen.61 Lutz Hachmeister hat die These vertreten, dass dieses „Ideal des Universalintellektuellen, des geistig und kulturell normensetzenden savant“ in den vergangenen Jahren zunehmend durch „den welt- und zukunftsdeutenden Journalisten“62 ersetzt worden sei. Hachmeister vermutet den Bedeutungsverlust von Philosophie und Sozialwissenschaften, den Aufstieg von Kultur- und Medienwissenschaften sowie den Einzug von Unterhaltungsmustern in die Wissensvermittlung als Hauptgründe für diesen Prozess. Schon in der „Bonner Republik“ nahmen neben Intellektuellen klassischen Typs wie beispielsweise Jürgen Habermas und Odo Marquard aus dem akademischen Kontext oder etwa Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger aus dem literarischen Bereich Journalisten wie Marion Gräfin Dönhoff, Sebastian Haffner und Joachim Fest die Rolle der wirkmächtigsten Sinnproduzenten im öffentlichen Diskurs ein. Folgt man Hachmeister, so ist der „welt- und zukunftsdeutende Journalist“ noch weiter aufgewertet worden. Dass die Medien eine wichtige Rolle in Bezug auf die öffentliche Meinungsbildung einnehmen, ist eine politik-psychologische Binsenweisheit und hätte für sich genommen keiner weiteren Thematisierung bedurft. Dass allerdings die Journalisten, hier konkret vor allem die Feuilleton- und Kulturredakteure, den klassischen frei schwebenden Intellektuellen im Angebot öffentlicher Deutungen zu geschichtspolitischen Kontroversen in ihrer Funktion als Sinnproduzenten zunehmend verdrängen, verweist auf einen qualitativen Wandel der politischen Kultur. Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob mit diesem gewandelten Rollenverhalten auch gleichzeitig eine intellektuelle Verflachung, eine gewisse Kurzatmigkeit und ein Mangel an Tiefe in den Kontroversen verbunden sein könnten. Dieser Überlegung müsste jedoch in einer eigenständigen Untersuchung nachgegangen werden.
60 Zur Unterscheidung von politischer Sozio- und politischer Deutungskultur vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung politischer Kulturforschung, in: PVS-Sonderheft 18 (1987), S. 39 – 49, S. 41 – 44. 61 Vgl. hierzu Michel Winock, Le siècle des intellectuels, Paris 1997. – Hauke Brunkhorst, Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens, Frankfurt am Main 1990. 62 Lutz Hachmeister, Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München 2007, S. 78. [Hervorbebung im Original, M. B.].
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VIII. Geschichtspolitisches Denken und Handeln findet in der „Berliner Republik“ immer stärker im europäischen Kontext statt Die geschichtspolitischen Kontroversen der „Bonner Republik“ trugen noch sehr stark die Züge von nationalen Selbstbespiegelungen und fanden wenig Beachtung durch ausländische Kommentatoren. In der „Berliner Republik“ ist auf dem Feld der Geschichtspolitik wie in vielen anderen Politikfeldern auch eine zunehmende Europäisierung zu beobachten. Nicht nur in Deutschland, sondern in sehr vielen Staaten Europas prägen Erinnerungsdebatten in den vergangenen Jahren immer stärker das öffentliche Bewusstsein. Claus Leggewie und Anne Lang haben sieben „Kreise“ der europäischen Erinnerung identifiziert: Holocaust als negativer Gründungsmythos Europas, Sowjetkommunismus, Vertreibungen, Kriegs- und Krisenerinnerungen, Kolonialismus, Einwanderungsgeschichte und Erfolgsgeschichte.63 Ob sich aus den jeweiligen nationalen Nachkriegserzählungen einmal so etwas wie eine gesamteuropäische Erinnerungskultur herauskristallisieren wird,64 bleibt bis auf Weiteres abzuwarten. Die politischen Tendenzen weisen jedoch in eine eindeutige Richtung. Am 15. Dezember 2008 beschloss das Präsidium des Europäischen Parlaments, in Brüssel ein Haus der Geschichte Europas nach dem Vorbild des Bonner Hauses der Geschichte einrichten zu lassen.65 Die Eröffnung dieses gesamteuropäischen Museumsprojekts ist für 2016 angekündigt. Im April 2009 verabschiedete das Europäische Parlament die Entschließung „Europas Gewissen und der Totalitarismus“, die nicht nur die Einrichtung des 23. Augusts als zentralen „Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ festlegte, sondern auch konkrete Deutungsmuster zur europäischen Nachkriegsgeschichte enthielt.66 Dergleichen erinnerungspolitische Initiativen im europäischen Mehrebenensystem verweisen auf eine zunehmende Europäisierung der Memorialkultur. Standardisierungsbe63
Vgl. Claus Leggewie/Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 15 – 48. 64 Vgl. dazu Leggewie, Ein Schlachtfeld wird besichtigt, in: Manfred Grieger et al. (Hrsg.), Die Zukunft der Erinnerung. Eine Wolfsburger Tagung, Wolfsburg 2008, S. 21 – 34. 65 Vgl. die vorangeschrittenen Überlegungen zu diesem Projekt Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, in: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/dv/ 745/745721/745721_de.pdf (letzter Zugriff am 29. September 2015) – Vgl. dazu Wlodzimierz Borodziej, Das Haus der Europäischen Geschichte. Ein Erinnerungskonzept mit Mut zur Lücke, in: Volkhard Knigge et al. (Hrsg.), Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung, Köln 2011, S. 139 – 146. – Helga Trüpel, Haus der europäischen Geschichte, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 9 (2009), S. 185 – 191. – Vgl. kritisch zu Genese und Entwürfen des Projekts Marcel Siepmann, Ein Haus der europäischen Geschichte wird eingerichtet, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 11 (2012), S. 690 – 704. 66 Vgl. Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus, in: http://www.europarl.europa.eu/sides/ getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009 – 0213+0+DOC+XML+V0//DE (letzter Zugriff am 29. September 2015).
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mühungen waren ein großes Thema in der europäischen Geschichtspolitik der vergangenen Jahre. Timothy Garton Ash warf den Gedanken einer „Deutschen Industrie Norm“ (DIN-Standards) für die Erinnerung auf.67 Katrin Hammerstein und Julia Trappe sehen in Entwicklungen wie dem Versuch einer Zentralisierung der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland oder in den in Frankreich verabschiedeten lois mémorielles sowie in Rahmenbeschlüssen des Europäischen Rats zur strafrechtlichen Bekämpfung rassistischer Äußerungen Indizien für eine fortschreitende Normierung der Aufarbeitung.68 Gegen diese Ausbreitung von Normierungstendenzen regte sich Widerstand. Im Oktober 2008 unterzeichneten prominente europäische Historiker den so genannten Appel de Blois: Es sei nicht Aufgabe von politischen Autoritäten, die historische Wahrheit zu definieren und die Freiheit des Historikers einzuschränken. Die kollektive Gedächtnispflege gehöre zwar zu den Aufgaben eines demokratischen Staatswesens, eine Institutionalisierung von Staatswahrheiten per Gesetz müsse hingegen bedrohliche Konsequenzen für die Freiheit des Intellekts zeitigen.69 Auch wenn der Appell ebenfalls von namhaften deutschen Repräsentanten wie Jan und Aleida Assmann sowie Heinrich August Winkler unterzeichnet wurde, ignorierte man ihn in der Bundesrepublik über Fachkreise hinaus weitgehend.
IX. Die geschichtspolitischen Kontroversen der „Berliner Republik“ folgen noch immer einer nationalen Eigenlogik Ungeachtet der anhand vielfältiger Tendenzen feststellbaren Europäisierung der Geschichtspolitik folgten die untersuchten Kontroversen in je spezifischer Weise einer nationalen Eigenlogik. Mit Ausnahme von Frankreich wurde die europapolitische Grundsatzfrage, ob die Türkei in die EU aufgenommen werden sollte, in keinem anderen Land so stark durch historische Argumente präformiert wie in Deutschland.70 In vielen europäischen Ländern spielte die Geschichte als Diskurselement überhaupt keine Rolle, was sich mit je unterschiedlichen nationalstaatlichen Rahmenbedingungen und prägenden Faktoren der jeweiligen politischen Kultur erklären lässt. Die Erfahrungen der Deutschen mit der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 haben entscheidend mit dazu beigetragen, dass es zur frühzeitigen Öffnung der 67
Vgl. Timothy Garton Ash, Mesomnesie, in: Transit 22 (2002), S. 32 – 48. Vgl. Katrin Hammerstein/Julia Trappe, Aufarbeitung der Diktatur, Diktat der Aufarbeitung? Einleitung, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur. Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 9 – 18, S. 11 f. 69 Appel de Blois vom 10. Oktober 2008, abrufbar unter http://www.lemonde.fr/idees/arti cle/2008/10/10/appel-de-blois_1105436_3232.html (letzter Zugriff am 29. September 2015). 70 Vgl. Angelos Giannakopoulos/Konstadinos Maras, Einleitung, in: Angelos Giannakopoulos/Konstadinos Maras (Hrsg.), Die Türkei-Debatte in Europa. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005, S. 7 – 9, hier S. 7. 68
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Stasi-Akten nach den im rechtsstaatlich organisierten Verfahren ausgehandelten Regelungen des Stasi-Unterlagengesetzes kommen konnte. Die Bundesrepublik wurde vielfach für diese Institution gelobt: Für Eckhard Fuhr gelten die Deutschen im Ausland heute gar als „Musterschüler […] im Fach Vergangenheitsbewältigung“71 und die französisch-polnische Politikwissenschaftlerin Dorota Dakowska geht sogar davon aus, dass man bei einer Klassifikation der europäischen Demokratien je nach Stand und Grad der Geschichtsaufarbeitung der Bundesrepublik „zweifellos“ die Goldmedaille verleihen müsste, „da Deutschland seit Jahren als ein gewisser ,Champion der Aufarbeitung‘ erscheint.“72 Diese Lobeshymnen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Wären die erinnerungskulturellen Rahmenbedingungen andere gewesen, so hätte man die BStU nicht in dieser Form einrichten können. Es ist schlicht den aus historischen Erfahrungen geronnenen spezifischen Mechanismen der politischen Kultur in der vereinten Bundesrepublik und der günstigen Konstellation des Anschlusses einer vormaligen Diktatur an eine etablierte Demokratie geschuldet, dass die Öffnung der Stasi-Akten in dieser Weise rechtsstaatlich abgesichert erfolgen konnte. Es muss nicht als a priori verwerflich gelten, wenn jedes Land sich seiner Vergangenheit nach eigenen Maßstäben und Rahmenbedingungen stellt. Marianne Birthler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es „den Königsweg, mit dem historischen Erbe von Diktaturen umzugehen, nicht gibt.“73 Jede Nation muss die ihrer politischen Kultur, ihrem normativen Koordinatengefüge und ihren Traditionen Rechnung tragende Art und Weise der Geschichtsaufarbeitung finden. Damit wird die Anschlussfähigkeit an die Möglichkeit von europäischen Erinnerungsdiskursen und auch von vergemeinschafteter Erinnerungspolitik bei bestimmten Projekten in keiner Weise in Frage gestellt. Vielleicht verhalten sich die Dinge ja so, dass erst auf der Basis souveräner historischer Selbstvergewisserung im nationalstaatlichen Kontext die europäische Dimension hinzutreten kann, sodass sich erst dann beides in einem fruchtbaren Komplementaritätsverhältnis ergänzen kann.
X. Die Analyse der Geschichtspolitik rechtfertigt die Rede von der „Berliner Republik“ Es ist eine ganze Fülle von veränderten Rahmenbedingungen, neuen Elementen und gewandelten Diskursstrukturen, die die Geschichtspolitik der „Berliner Republik“ von derjenigen in der „Bonner Republik“ unterscheidet: Zunächst stellt die Tat71
Eckhard Fuhr, Schwieriges Erbe, in: DIE WELT vom 13. Mai 2006. Dorota Dakowska, Aufarbeitung „made in Poland“ und die Frage nach dem deutschen Standard – IPN und BStU im Vergleich, in: Hammerstein et al. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur, S. 86 – 96. 73 Marianne Birthler, Vorwort, in: Agnes Bensussan et al. (Hrsg.), Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizei in Deutschland und in Polen, Essen 2004, S. 8. 72
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sache, dass die Geschichtspolitik im wiedervereinigten Deutschland kontinuierlich weiter an Bedeutung zu gewinnen scheint, ein erstes Indiz dafür dar, dass sich das Gemeinwesen als solches gewandelt hat. Die zentrale veränderte Rahmenbedingung besteht darin, dass nach der jahrzehntelangen Fixierung auf den Nationalsozialismus die Aufarbeitung einer zweiten deutschen Diktatur hinzugekommen ist, die noch dazu eine der ersten entgegengesetzte ideologische Ausrichtung hatte. Es war im Grunde eine logische Konsequenz, dass gewohnte und ein Stück weit auch festgefahrene weltanschauliche Lagergrenzen von dieser Kontextveränderung nicht unberührt bleiben konnten. Tradierte Deutungsmuster mussten, wenn auch nicht gleich über Bord geworfen, so doch einer eingehenden Prüfung unterzogen werden, die nicht selten auf Perspektivenweitungen und mitunter auf Neujustierungen hinauslief. Diese Überlegung vermag zu erhellen, warum die Konfliktlinien in den untersuchten Deutungskontroversen nicht mehr eindimensional der überschaubaren Logik einer altbekannten Rechts-Links-Dichotomie folgten, sondern von weiteren, quer dazu liegenden Konfliktlinien überlagert worden sind. Dass die Journalisten als „Sinnproduzenten“ im öffentlichen Diskurs immer stärker den Takt der Geschichtspolitik vorgeben, ist ein weiteres Indiz für Veränderungen in der politischen Kultur. Auf eine Kontinuitätslinie verweist hingegen, dass der Nationalsozialismus nach wie vor die sensibelste Bezugsgröße im bundesdeutschen Geschichtsbewusstsein darstellt. Die perspektivische Weitung für weitere, bisher unterrepäsentierte Aspekte der deutschen Geschichte im Allgemeinen sowie der nationalsozialistischen Geschichte im Besonderen führte jedoch zu einem insgesamt positiveren Geschichtsbild der Deutschen, was wiederum auf einen zentralen Unterschied zur Debattenkultur in der alten Bundesrepublik hinweist. Die zunehmende Europäisierung der Geschichtspolitik in den Jahren nach 1990 bei gleichzeitiger Persistenz einer nationalen Eigenlogik, der die Kontroversen folgen, beschreibt ein weiteres Spannungsverhältnis. Die vorliegenden Ausführungen konnten nicht mehr leisten als eine Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen des Wandels, von denen noch nicht absehbar ist, worauf sie einmal hinauslaufen und was sie für die Bundesrepublik in Zukunft bedeuten werden. Klar geworden sein mag in jedem Fall, dass die Beschäftigung mit geschichtspolitischen Diskursen und Praktiken erkenntnisträchtige Perspektiven auf das Selbstverständnis eines Staates und einer Gesellschaft bietet. Wenn die Annahme stimmt, dass sich Staat und Gesellschaft im 21. Jahrhundert mit einer als immer unsicherer werdend wahrgenommenen Zukunft konfrontiert sehen, so steht zu erwarten, dass die Bedeutung von historischer Selbstvergewisserung und damit auch die Bedeutung von Geschichtspolitik in gleichem Maße zunehmen wird. Aus diesem Grund wäre die Politikwissenschaft gut beraten, sich in Zukunft stärker als bisher der Geschichte als Element des politischen Handelns sowohl in ideentheoretischer wie auch in policy-orientierter Perspektive zuzuwenden.
Herausgeber und Autoren Becker, Manuel, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn Behrends, Jan Class, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam Geppert, Dominik, Dr., Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn Görtemaker, Manfred, Dr., Prof. für Neueste Geschichte, Historisches Institut der Universität Potsdam Khol, Andreas, Dr., Prof. em. für Verfassungsrecht und Internationale Organisationen, Politiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), ehemaliger Präsident des österreichischen Nationalrates Kühnhardt, Ludger, Dr., Prof. für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie und Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn März, Peter, Dr., Historiker, Ministerialrat im Bayerischen Kultusministerium Mayer, Tilman, Dr., Prof. für Politische Theorie, Idee- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung und Stellvertretender Vorsitzender der Jakob-Kaiser-Stiftung Königswinter Pfeil, Urich, Historiker, Dr., Prof. für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine – Metz Rößler, Matthias, Dr., Präsident des Sächsischen Landtages Rusconi, Gian Enrico, Dr., Prof. em. für Politikwissenschaft an der l’Università de Torino Schroeder, Klaus, Dr., Prof. für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin Seebacher, Brigitte, Dr., Hon. Prof. für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn