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German Pages 182 Year 2014
Petra Moser Nah am Tabu
Lettre
Für Martin
Petra Moser lehrt Entwicklungspsychologie und Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich und ist als Bereichsleiterin Berufspraxis tätig. Seit 1998 arbeitet sie als Kostüm- und Bühnenbildnerin für das Theater.
Petra Moser
Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten«
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Jürgen Oelkers für seine Unterstützung und erlesene Literaturhinweise. Für Kritik und manchmal ausgefallene Hinweise danke ich Dr. Dr. Jochen Greven †, Dr. Werner Morlang, Prof. Dr. Hans Bokelmann, Prof. Dr. Dr. Klaus Schonauer und Prof. Dr. Martin Jürgens. Irmgard Moser, meiner Mutter, danke ich für ihre Geduld an einem strahlenden Herbsttag des Jahres 2011 auf der Strecke von Münster nach Zürich. Sie weiß, was gemeint ist. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2011 auf Antrag von Prof. Dr. Jürgen Oelkers und Prof. Dr. Philipp Gonon als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung: Der Bildungsroman/»Jakob von Gunten« als seine Kontrafaktur?/ Zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Literatur | 9 Das Selbstexperiment — sein Ethos und die Lust an ihm | 17 Unzarter Griff und gouvernantenhaftes »Huch«/ Erste Blicke auf das Selbstexperiment in »Jakob von Gunten« | 21 Das Selbstexperiment von 1905 | 29 Vermutungen | 30 Motive | 33 Literarische Vorbilder? | 41 Ein literarisches Nachbild | 48 Das Timbre des ›herrschaftlichen Dieners‹ | 52 Exkurs: »Hochwohlgeboren« und sein »gehorsamer Diener« – Der Brief des J. J. Orandt – | 63 Die »kugelrunde Null« als Metapher des Widerspruchs | 67 Der Roman von 1909: Experimentelle Selbsterziehung und erotischer Eigensinn | 69 Jakob und die Zöglinge | 73 Jakob und das Fräulein | 81 Jakob und der Vorsteher | 88
Die Namen und die Epitheta | 90 Die Orte: Das Kontor und die inneren Gemächer | 93 Vom Befehl zum Geständnis/Jakobs Provokationslust | 97 Die Auf hebung der erzieherischen Asymmetrie | 110 Exkurs: Ein szenisches Interpretationsangebot | 112 Jenseits der europäischen Kultur? | 118 Experiment und Erfahrung im Raum der ästhetischen Fiktion/ Die Kunst als Schule der Aufmerksamkeit und der unbefangenen Moral bei Dewey | 125 Nah am Tabu/Walter Benjamin, Gustav Wyneken und das Lehrer-Schüler-Verhältnis in »Jakob von Gunten«/ Der pädagogische Eros und die Reformpädagogik/Missbrauch und Sprachlosigkeit/Walsers ›zerschnittenes Ich-Buch‹ und die Diffusion von Identität/Nah am Tabu und darüber hinaus | 135 Literatur | 165 Abbildungsverzeichnis | 175
Vorwort Es genügt nicht die einfache Wahrheit. VOLKER B RAUN Die Entdeckung wird niemals gemacht; sie ist immer am Werk. J OHN D EWEY
In der Regel bleiben die Diskurse der Erziehungswissenschaft im Rahmen des akademischen Milieus, in dem sie entstehen. Die damit mögliche Normalität eines unaufgeregten Für und Wider sieht sich seit Beginn des Jahres 2010 durch eine Reihe öffentlicher und veröffentlichter Skandale aufgestört. In deren Mittelpunkt standen und stehen Vorgänge, die mit dem Wort »sexueller Übergriff« nur unzureichend, ja verharmlosend umschrieben sind. Das aktuelle empörte Interesse richtet sich auf kirchliche Einrichtungen, vor allem aber auf eine bislang von einer breiten Öffentlichkeit für vorbildlich gehaltene Institution der pädagogischen Reformgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – die Odenwaldschule. Die an sie gerichteten Vorwürfe und Anschuldigungen bedienen sich vor allem eines seit dem neunzehnten Jahrhundert auch auf Menschen anwendbaren Rechtsbegriffs1, den des Missbrauchs. Der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung verlangt, den sich in der aktuellen Auseinandersetzung schärfenden Blick zurückzuwenden. Robert Walsers 1909 erschienener Roman »Jakob von Gunten« eig1 | Die Brockhaus-Enzyklopädie bezieht sich in ihrer 14. Auflage (1894-1896) auf diesen Rechtsbegriff unter Verweis auf das Strafgesetzbuch von 1871; Missbrauch sei der schlechte Gebrauch einer Person oder Sache.
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net sich – so ist zu hoffen – für einen Versuch, eine literarisch gestiftete Konstellation auf ihren erziehungstheoretisch fruchtbaren Gehalt hin zu befragen. Dass das im Lichte aktueller Auseinandersetzungen geschieht, kann als Vorteil erkannt werden, wenn man sich einer Denkfigur anvertraut, die Walter Benjamin in seinem letzten Text, den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1939, entworfen hat: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.«2 Die Gefahren, die wir in der Diskussion um den Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen unserer Tage auf blitzen sehen, finden sich in dem über hundert Jahre alten Text von Robert Walser auf eine Weise zur Sprache gebracht, die ein hohes Maß an Mut und Souveränität verrät. Immerhin geht das Begehren in »Jakob von Gunten« einen keineswegs gewaltfreien Gang; der Roman endet in der Vision einer Lehrer-SchülerBeziehung jenseits der geltenden kulturellen Norm. Sich an dieses pädagogische Exempel in dem von jedem Reaktionszwang entlasteten Raum einer Romanfiktion zu erinnern, könnte jenes gelassene und produktive Verhalten ermutigen, das in der aktuellen Debatte eher selten ist.3 Was sich daraus für eine Reflexion in erziehungstheoretischer Perspektive ergibt, soll am Ende dieser Arbeit erörtert werden.
2 | Benjamin 1974, S. 695. 3 | Dass eine Lehrer-Schüler-Konstellation wie die in »Jakob von Gunten« einmal im Lichte eines so aktuellen Interesses erscheinen könnte, war undenkbar, als ich vor einigen Jahren mit der Arbeit an diesem Projekt begann.
Einleitung: Der Bildungsroman/»Jakob von Gunten« als seine Kontrafaktur?/Zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Literatur
Der Beginn des bürgerlichen Zeitalters bedeutete in Deutschland bekanntlich nicht den triumphalen Einzug ins Reich der politischen Freiheit. Er versprach vielmehr zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein umfassendes Bildungsprogramm und die Eröffnung neuer mannigfaltiger Erfahrungsräume. Deren Aneignung sollte in der Ausbildung einer reichen, in sich stimmigen, widerstandsfähigen Identität ihr Ziel finden. Der bürgerliche Bildungsroman lieferte die idealtypischen Entwürfe für dies Projekt eines gründlich aufgeklärten Individuums. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gelangte dies Vorhaben an ein vorläufiges Ende. Das Lebenspathos der Jahrhundertwende 1 signalisierte nicht das Bewusstsein von Fülle, sondern die Erfahrung eines generellen Mangels an unreglementierter Erlebnismöglichkeit. Nur so scheint die Emphase erklärbar, mit der große Teile der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz den Beginn des Ersten Weltkriegs als Ausweg aus der dumpfen Enge der institutionell verfestigten Verhältnisse begrüßten, so als habe das Leben da am nächsten gelegen, wo das massenhafte Sterben vorbereitet wurde. In der Geschichte der Literatur bilden sich allerdings bereits in den Jahren vor 1914 die Konturen eines gründlich veränderten Typus des Bildungsromans heraus, bis hin zu seiner Travestie. In ihm geht es nicht mehr um die freie, bildungsbewusste Inanspruchnahme von Erfahrungsräumen, sondern um den Versuch, wirkliche Erfahrung überhaupt zu ermöglichen, gegen das Beharrungsvermögen institutionengestützter 1 | Vgl.: Rasch 1967, S. 4ff. und 186ff.
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Tradition.2 Das Verhalten der literarischen Helden wird auch und gerade im Rahmen restriktiver Institutionen – wie Kadettenanstalten oder Dienerschulen – inkonsistenter und experimenteller, bis hin zum Versuch, jenseits garantierter Sicherheiten (auch moralischer Art) zu leben und dabei sogar die eigene Identität zur Disposition zu stellen. In dieser Spätform des Bildungsromans wird eine jugendliche Variante des modernen, in sich gebrochenen Romanhelden sichtbar, für den die Kategorien der Abweichung, des Scheiterns und der mehr oder weniger bewussten Negation die Grundlagen einer immer gefährdeten Identität bilden. Um einen solchen Romanhelden wird es im Folgenden gehen. Er heißt Jakob von Gunten und ist der Titelheld und das erzählende Ich in Robert Walsers drittem, 1909 erschienenen Roman. Das Projekt seines Lebens wird von ihm selbst gegen Schluss des Romans entworfen. Es reicht von einem knappen Rückblick auf die Kindheit bis an die Schwelle seines antizipierten Todes und ist eine einzige ruhige Absage an das Ideal einer starken Identität, an jede Entwicklung zu Größerem und Höherem hin. Jeder soziale Aufstieg, jede Nähe zur Macht werden hier verworfen im Bewusstsein, dass es sich nur »in den untern Regionen atmen« 3 lässt. Diese in der einschlägigen Literatur häufig zitierte Passage wird am Schluss dieser Studie eingehend als Quintessenz eines erzieherischen Selbstexperiments interpretiert werden. Ihr Schluss lautet so: Wie glücklich bin ich, dass ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag! Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluss gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den untern Regionen atmen. 4
2 | Vgl.: Johann 2003. Johanns Studie ist die bislang umfangreichste und detaillierteste Arbeit zur Internatsliteratur um die Jahrhundertwende. Im Zentrum stehen Hermann Hesses »Unterm Rad« von 1906 und Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«, ebenfalls von 1906. 3 | JvG, S. 145. 4 | JvG, S. 144f.
Einleitung
Schon diese drei Sätze legen nahe, Robert Walsers Roman als eine Kontrafaktur zur Idealgestalt des bürgerlichen Bildungsromans aufzufassen,5 etwa zu Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich«. Den Gefallen eines solch holzschnittartigen Gegenentwurfs tut uns Robert Walser allerdings nicht. Sein Roman stellt vielmehr einen hellen Moment im widersprüchlichen Kontinuum des Übergangs von bürgerlicher Identitätsgewissheit zu prekärer Modernität vor Augen. Von ihm aus erscheint rückblickend sogar der berühmte Held seines großen Schweizer Kollegen Keller als eine schwankende Figur des Transitorischen. Wie Karl Wagner in seiner Dissertation zu Walsers »Der Gehülfe« zeigt, hat Gottfried Keller seinem Helden in einem Exposé von 1850 eine so schwach konturierte Identität attestiert, dass er fast als ein Vorläufer der Walserschen Helden aus dem zwanzigsten Jahrhundert erscheinen kann: »Als aber die Zeit naht, wo er sich in ein festes geregeltes Handeln, in praktische Tätigkeit und Selbstbeherrschung finden soll, da fehlt ihm dieses alles. Es bleibt bei den schönen Worten, einem abenteuerlichen Vegetieren, bei einem passiven ungeschickten Umhertreiben.« 6 Die Wahl des »Jakob von Gunten« als Gegenstand (nicht ›aus dem Leben‹ oder aus dem ›Schulleben‹, sondern aus der Literaturgeschichte) verdankte sich anfangs eher einem Zufall und einer aus ihm folgenden subjektiven Vorliebe.7 Im Kontext dieser Arbeit ergibt sich aus ihr zusätzlich die Frage nach dem generellen Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Literatur. Obwohl sie sich eher am Ende dieser Untersuchung beantworten bzw. genauer stellen lässt, scheint es sinnvoll, einige Prämissen zu nennen, die für die folgenden Detailuntersuchungen hilfreich waren: Weder folgt ein literarisches Werk – ob willentlich oder ›objektiv‹ – einer wissenschaftlichen These oder Hypothese, noch ist es ein Beleg für sie und ihre Leistung und Reichweite. Es ist – so Jürgen Oelkers – ein Ausdruck der modernen Subjektivität, so wie diese »als ›Werk‹ ihrer selbst, 5 | In vergleichbarer Weise hat Peter von Matt versucht, Walsers Roman »Der Gehülfe« als eine Kontrafaktur zu Gustav Freytags »Soll und Haben« aufzufassen. Von Matt 2007, S. 39. 6 | Wagner 1980, S. 47. 7 | Gemeint ist damit meine Arbeit als Bühnen- und Kostümbildnerin in einer Inszenierung des »Jakob von Gunten« für ein Projekt außerhalb der üblichen Theaterpraxis. Der »Exkurs: Ein szenisches Interpretationsangebot« und die Filmsequenz mit einem Ausschnitt aus dieser Inszenierung geben hierüber näheren Aufschluss.
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also ästhetisch, gedacht« 8 werden muss. Zugleich ist jede Literatur ein der Wahrheit fähiger Versuch, wie andere auch, die den Menschen möglich sind9, nur ohne vorab geltende methodische Restriktionen, die ihre Bewegungsform oder ihren Bewegungsradius einschränken könnten. Mit einem Werk der Literatur umzugehen, erfordert seitens der Wissenschaft die Rücksicht, den Mut, die Vorsicht und die Gelassenheit derer, die den Drang nach Eindeutigkeit nicht für das non plus ultra jeder Leistung halten mögen und deren Beweis nicht für die ultima ratio jeder wissenschaftlichen Anstrengung.10 Einer solchen Haltung versucht das in dieser Untersuchung verwendete Verfahren eines sozialgeschichtlich orientierten Close Reading11 bei 8 | Oelkers 1985, S. 11. Erkennt man dies an und hat man ein Interesse daran, sich auf die Spezifik moderner Subjektivität zu beziehen, so ist nach Oelkers ein Perspektivenwechsel notwendig: »Wer sich als Pädagoge auf sie beziehen will, muss die Perspektive wechseln. Er muss sich auf Poesie, auf Kunst im weiteren Sinne, einlassen, die in der modernen Gesellschaft der Ort des subjektiven Ausdrucks geworden ist.« Oelkers 1985, S. 11. 9 | So spricht z.B. Herwig Blankertz in seiner »Geschichte der Pädagogik« davon, dass sich jede Sozialwissenschaft, wenn sie Kritik sein wolle, neben der Philosophie auch an die »Umgangsweisheit« und die Alltagsweisheit gebunden begreifen solle. Blankertz 1982, S. 307. 10 | Vergleiche hierzu Oelkers: »Die Verbesserung des wissenschaftlichen Wissens über Erziehung bringt weder automatisch eine Verbesserung des Erziehungshandelns mit sich, noch auch macht es hinreichend sensibel, um ein Abgleiten des vorherrschenden pädagogischen Denkens in technologische Erwartungen zu verhindern. Wenn die Dichter an die wesentlichen Fragen erinnern, soll dies ein Aufruf zur Selbstbescheidung der Wissenschaften sein, die nicht länger Illusionen über ihre eigenen praktischen Möglichkeiten produzieren dürfen, sondern sich in einem vernünftigen Verhältnis zu den praktischen Erfahrungen der Erziehung zu begreifen haben, die sie nie erreichen oder ersetzen können oder sollen.« Oelkers 1981, S. 279f. 11 | Close Reading ist ein deskriptiv-analytisches Interpretationsverfahren aus dem angloamerikanischen Raum, das zur Erschließung des Textes auf historische Kategorien verzichtet und außerliterarische Aspekte zunächst unberücksichtigt lässt. In Frankreich gilt es seit 1920 an Universitäten als verbindliche Form der Textanalyse. Die Methode verspricht einen unideologischen, nicht vereinnahmenden, genauen Zugriff auf literarische Texte. Sie entstammt dem New Criticism,
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der Interpretation der herangezogenen Textpassagen zu entsprechen. In den Mikrostrukturen der Wendungen, Halbsätze, Sätze, in der Konsequenz oder im Alogischen der Satzfolgen findet sich sedimentiert, was nicht Botschaft genannt werden sollte, sondern eher impliziter sozialer Gehalt. Ihn im kleinen Detail aufzuspüren und für die Interpretation des Ganzen fruchtbar zu machen, gehört zur Arbeitsmoral derer, die versuchen, sich im Sinne des Close Reading im Text zu bewegen und dabei auch mehrfache Textdurchgänge nicht scheuen, wenn eine Anreicherung der Perspektiven in Aussicht steht. Das Bestehen auf der Tugend einer genauen, am Detail orientierten und ins Detail gehenden Lektüre scheint innerhalb der neueren literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion keine Selbstverständlichkeit zu sein. Joachim Rickes hat das in seiner Polemik »Das ungenaue Lesen in der gegenwärtigen Germanistik« gezeigt.12 Vor allem die den Text programmatisch transzendierenden Zugriffsweisen (Sozialgeschichte, Psychoanalyse, Philosophie, Medienanalyse usw.) werden von Rickes am Beispiel einer ihm misslungen erscheinenden Neuinterpretation des Gedichts »Auf eine Lampe« von Eduard Mörike in die Schranken gewiesen. Ob es sich dabei um mehr handelt als um einen Beitrag zu innergermanistischen Positionskämpfen, kann bezweifelt werden. Das Insistieren auf detailgetreuer Solidität beim Lesen der Texte und beim Belegen von Lesarten und Ansichten sollte jedoch für jeden, also auch für jeden erziehungswissenschaftlichen Umgang mit Texten selbstverständlich sein. Ob aber Rickes additives Modell »der wechselseitigen Ergänzung ›werkzentrierter‹ und ›werktranszendierender‹ Betrachtungsweisen« 13 aus der dessen Vertreter literarische Texte als ästhetisches Phänomen betrachten, das im Augenblick seiner Entstehung die subjektiven, jeweiligen Bedingungen seiner Entstehung zurück lässt. Damit können weder der Autor noch sein persönlicher oder historischer Kontext als Ansatz für eine Interpretation herangezogen werden. Close Reading gilt als Gegensatz zu positivistischen Ansätzen, die Literatur primär als Produkt der Umstände ihrer Genese untersuchen und interpretieren. Mitte der 60er Jahre begann sich die Germanistik von der werkimmanenten Literaturbetrachtung abzuwenden. Die Qualitäten intensiven Lesens und philologischer Genauigkeit traten dadurch in den Hintergrund. Vgl.: Martin 2007; van Raden 2003; Kain 1998; Rickes 1999. 12 | Vgl.: Rickes 1999. 13 | Rickes 1999, S. 440f.
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fruchtlosen Konfrontation der genannten Positionen herausführt, erscheint fraglich. Interessanter erscheint es, auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive, die Tugend des Close Reading in einem Masse zu intensivieren, dass sich aus den in präziser Lektüre ermittelten sprachlichen Details die werktranszendierenden Bezüge ohne gewaltsame Hinzufügungen ergeben.14 Dem philosophischen und erziehungswissenschaftlichen Pragmatismus dürfte ein solcher Versuch sympathisch sein, dies deshalb, weil der Begriff der Erfahrung bei ihm mehr wert ist als anderswo. Für Walser und seinen Helden gilt das – wie zu zeigen sein wird – in durchaus vergleichbarer Weise. Wenn es denn möglich wäre, würden sie Sätzen wie diesen von John Dewey zustimmen: »Gewöhnliche Erfahrung«, so heißt es in »Kunst als Erfahrung«, »ist oftmals mit Apathie, Mattigkeit und Stereotypie infiziert. Weder bekommen wir die volle Wirkung von sinnlicher Qualität durch die Sinne mit, noch auch die Bedeutung von Dingen durch Nachdenken. Die ›Welt‹ ist uns zu beschwert oder voller Zerstreuung. Wir sind nicht hinreichend empfänglich, den scharfen Ton der Sinne zu fühlen oder gar durch Gedanken bewegt zu werden.«15 Einer solchen Überlegung auf seine Weise nachfolgend, kann ein Jakob von Gunten seine erfahrungssüchtige Befindlichkeit und die der Zöglinge um ihn herum so formulieren: »Wir vibrieren. […] die Empfindungen schicken wir nach allen möglichen Windrichtungen aus«.16 An anderer Stelle heißt es: »Ich schätze nur Erfahrungen, und die sind in der Regel von allem Denken und Vergleichen vollkommen unabhängig. So schätze ich an mir, wie ich
14 | In dieser Arbeit wird das vor allem im Mittelteil »Der Roman von 1909: Experimentelle Selbsterziehung und erotischer Eigensinn« und in der Interpretation einer zentralen Passage aus Walsers Roman »Nah am Tabu/Walter Benjamin, Gustav Wyneken und das Lehrer-Schüler-Verhältnis in »Jakob von Gunten«/Der pädagogische Eros und die Reformpädagogik/Missbrauch und Sprachlosigkeit/ Walsers ›zerschnittenes Ich-Buch‹ und die Diffusion von Identität/Nah am Tabu und darüber hinaus« versucht. Zum methodischen Problem des Interpretierens vgl. in dieser Arbeit die Anmerkungen zu Susan Sontag im »Exkurs: Ein szenisches Interpretationsangebot«. 15 | Dewey [1934] 1995, S. 305. 16 | JvG, S. 92.
Einleitung
eine Tür öffne. Im Türöffnen liegt mehr verborgenes Leben als in einer Frage.«17 Im Sinne solcher Erwartung und gegen die Apathie des Alltags kann eine literarische Figur wie die des Jakob von Gunten zum Anlass eines geschärften Interesses werden, erst recht dann, wenn in ihr eine Haltung anschaulich wird, die im Kontext eines Werkes der richtungslosen Konvention widerspricht. Das Medium der Kunst und Literatur als Ort gesteigerter Erfahrung steht somit in scharfem Kontrast zur müden Routineexistenz, wie sie Dewey pointiert benannt hat: »Die Gegner der Ästhetik sind weder die Praktiker noch die Intellektuellen. Es sind die Langweiler; die Schlaff heit loser Enden; die Unterwerfung unter die Konvention auf praktischem und auf geistigem Gebiet. Strenge Abstinenz, erzwungene Unterwerfung und Härte einerseits und Haltlosigkeit, Inkonsequenz und richtungslose Nachgiebigkeit andererseits führen in gegensätzlichen Richtungen von der Einheit der Erfahrung weg.«18 In der Kunst und in der Literatur scheint sie noch imaginierbar. Auch wenn die »Einheit der Erfahrung« angesichts des erreichten Standes der gesellschaftlichen Arbeitsteilung kein naiv postulierbares Ziel mehr sein kann, soll Deweys am Erfahrungsbegriff orientierte Kunsttheorie zum Movens der Reflexion des Textes von Robert Walser werden. Dass deren Ziel im zwanzigsten Jahrhundert kein strahlender Optimismus gesellschaftlicher und/oder pädagogischer Art sein kann, liegt auf der Hand. Gerade deshalb ist die Kunst auch heute noch ein Gegenstand höchsten Interesses; sie bleibt – so ein Diktum Franz Kafkas – ein »Spiegel, der ›vorausgeht‹ wie eine Uhr«, ein Medium, in dem die »Verunstaltungen« notiert werden, »die noch nicht in unser Bewusstsein eingedrungen sind«19. Wäre es möglich, dies Bewusstsein exemplarisch zu schärfen, wäre viel gewonnen: Über den Umweg einer intensiven Vergegenwärtigung des Eigensinns eines jungen Romanhelden des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts könnte es gelingen, unsere gegenwärtige Heillosigkeit im Umgang mit unseren fragmentierten, medial überformten und therapeutisch beschworenen Restbeständen von Identität in ein helleres Licht zu rücken. Dass dabei die erotischen und sexuellen Motive von besonderem Interesse sind, sollte nicht verwundern. Sie 17 | JvG, S. 90. 18 | Dewey [1934] 1995, S. 53. 19 | Kafka in Janouch 1961, S. 100.
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gelten zwar weithin als die dunkle Seite unseres Selbst; je mehr wir aber von ihnen wissen, umso heller könnte es um uns herum werden. Von der »Lichtwirkung« des »Jakob von Gunten« hat – noch im Jahr seines Erscheinens – Franz Kafka gesprochen.20 In Walsers Roman verdankt sie sich einem Verfahren, das eher in der Medizin als in der Literatur üblich ist – einem erhellenden Selbstexperiment.
20 | Kafka in Kerr, 1978, S. 76f.
Das Selbstexperiment — sein Ethos und die Lust an ihm
Wer sich einem Selbstexperiment aussetzt, riskiert einiges. Er ist Subjekt und Objekt seines Handelns zugleich. Den Erfolg hat er sich ebenso zuzurechnen wie den Misserfolg. In der Medizin gehörte das seit der Zeit der Aufklärung zum Ethos der Forschung: Man solle die Folgen eines Mittels oder eines Verfahrens am eigenen Leibe erfahren, bevor man zum Versuch am Patienten übergehe.1 Heute gibt es gefahrlosere Wege, medizinische Wirkungen zuverlässig zu ermitteln. 1 | So beispielsweise eine Forderung des kaiserlichen Leibarztes Anton Störck in Wien (1731-1803): Auf die chemische Formel habe der Tierversuch zu folgen, dann der Selbstversuch und dann erst die Anwendung an Patienten. Vgl.: Vocelka 2003, S. 32. Der erste in der Medizingeschichte bekannte Selbstversuch wurde vom englischen Arzt J. Hunter (1728-1793) zur Aufklärung der Syphilis-Krankheit durchgeführt. Vgl.: Müller 1993, S. 197. Dem Reiz von Selbstversuchen, hier mit Coca, ist bekanntlich auch Sigmund Freud erlegen – nicht zuletzt, weil er sich dadurch materiellen Erfolg erhoffte. So schreibt er am 21.4.1884 an Martha Bernays: »[…] Mit einem Projekt und einer Hoffnung trage ich mich jetzt auch, die ich dir mitteilen will; vielleicht wird’s ja auch nichts weiter. Es ist ein therapeutischer Versuch. Ich lese von Cocain, dem wirksamen Bestandteil der Cocablätter, welche manche Indianerstämme kauen, um sich kräftig für Entbehrungen und Strapazen zu machen. […] Ich will mir nun das Mittel kommen lassen und auf Grund naheliegender Erwägungen es bei […] nervösen Schwächezuständen […] versuchen. Vielleicht arbeiten schon viele andere damit, vielleicht taugt es nichts. Aber das Versuchen will ich nicht unterlassen und Du weißt, was man oft versucht und immer will, das gelingt dann einmal. Mehr als einen solchen glücklichen Wurf brauchen wir nicht, um an unsere Hauseinrichtung denken zu dürfen. Setz Dir, Weibchen, aber nicht zu fest in den Kopf, dass es diesmal gelingen muss. Du weißt, das Temperament des
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Der lockende Reiz des Selbstexperiments in der alltäglichen Lebenspraxis der Menschen hält dagegen bis heute an. Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es dafür eine Fülle von Beispielen – in der Lebensreformbewegung ebenso wie in den Drogenexperimenten 2 seit dem Surrealismus über die Versuche eines ›wilden Lebens‹ in der BeatGeneration, in der antiautoritären Bewegung seit 1968 bis hin zu den kalkulierten Exzessen in der Techno- und Partykultur unserer Tage. Von außen gesehen, erst recht aus der Perspektive bürgerlichen Anstands, erscheinen solche Beispiele selbstexperimentellen Verhaltens bis heute als Symptome gefährlichen Mutwillens, als Selbstgefährdung und Abweichung von geltenden sozialen Normen. Für Künstler, Musiker und Schriftsteller gilt das seit etwa 1900 nur bedingt; von ihnen wird die Normabweichung zunehmend eher erwartet als befürchtet. Nicht selten sind sie die Avantgarde einer jeweils neuen Phase im Verhältnis der Subjekte zu sich selbst, geht es dabei nun um einen existentiellen Neuentwurf oder lediglich um den Versuch einer Ummodellierung des Erscheinungsbildes.3 Dennoch gibt es auch im zwanzigsten Jahrhundert hinreichend viele Beispiele für die Grenzen der Akzeptanz, auch im Umkreis der ästhetischen Praxen selbst. 4 Von einem solchen Beispiel wird im Folgenden mit Blick auf Walsers »Jakob von Gunten« die Rede sein. Seiner Entstehung liegt ein Selbstexperiment des Autors zugrunde. Im Text des Romans dient es als Modellskizze für die fiktive Konstellation, in die der Held sich hineinbegibt. Das Forschers braucht zwei Grundeigenschaften: Sanguinisch beim Versuch, kritisch bei der Arbeit.« Freud 1980, S. 114. 2 | Eine Mischung aus Drogenexperimenten und wissenschaftlichem bzw. therapeutischem Forschungsinteresse stellen die halluzinogenen Selbstversuche von Psychiatern zu Beginn des 19. Jahrhunderts dar. Vgl.: Géraud und Bourgeois 1994, S. 645f. Selbstversuche sind jedoch auch auf dem Gebiet der Chirurgie bekannt geworden. »An die 140 Eigen-Experimente von Medizinern innerhalb der letzten vier Jahrhunderte zählte der amerikanische Arzt und Journalist Lawrence K. Altman 1972 in einer Untersuchung […].« O.A.: Feld der Ehre, S. 272. 3 | Vergleiche hierzu Helmut Kreuzers breit angelegte Studie zur Geschichte der Bohème. Vgl.: Kreuzer [1968] 2000. 4 | Ein instruktives Beispiel bieten die juristischen und publizistischen Auseinandersetzungen um Arthur Schnitzlers Stück »Reigen« zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Selbstexperiment — sein Ethos und die Lust an ihm
Tagebuch-Ich berichtet in seinen Aufzeichnungen von seinen Motiven, vom Verlauf des Experiments und von seinem Ausgang. Bevor auf all dies näher eingegangen wird, soll eine Momentaufnahme versucht werden, in der am Beispiel einer ungelenken und provinziellen Kritik an einer einzigen Szene die Grenze der Akzeptanz aufscheint, die die frühe literarische Karriere Robert Walsers getragen hatte. In ihr gerät zugleich zum ersten Mal in den Blick, was in dieser Untersuchung zentral sein wird, die Folge erotischer und sexueller Motive in Walsers Roman und der experimentelle Umgang mit ihnen.
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Unzarter Griff und gouvernantenhaftes »Huch«/ Erste Blicke auf das Selbstexperiment in »Jakob von Gunten«
Im Mai 1909 rezensiert der Literaturkritiker Joseph Viktor Widmann in der Berner Zeitung »Der Bund« Walsers vor Kurzem erschienenen Roman. Sein Text ist von jener patriarchalen Behäbigkeit, die sich bereits in seinen einschlägigen Kritiken der vergangenen Jahre gezeigt hat. Schon 11 Jahre zuvor (1898) hatte Widmann – ebenfalls im »Bund« – auf den jungen Walser aufmerksam gemacht und einige seiner frühen Gedichte abgedruckt, allerdings ohne den Namen des Autors zu nennen. Der kommt nur als ein »zwanzigjähriger Handelsbeflissener in Zürich, R.W.« vor, »der schon mit vierzehn Jahren aus der Schule ins Comptoir gekommen war und also durchaus keinen regelmäßigen, höhern Bildungsgang durchmachen durfte«.1 Gleichwohl seien seine Gedichte ein Beleg dafür, »dass, wie es immer wieder einen neuen Frühling giebt [sic!], so auch in allen Landen und erfreulicherweise besonders oft in unserm Lande immer wieder neue und eigenartige Talente erblühen, die eine Hoffnung der Zukunft bedeuten und schon als Gegenwart der Beachtung wert sind.«2 Die nachfolgende Publikation seiner Texte solle für den »zwanzigjährigen Verfasser […] ein Sporn sein, seine Naturbegabung durch getreue Arbeit und Fleiß zu dem zu entwickeln, was meisterliche Kunst ist«.3 Es war Walsers erste Veröffentlichung.
1 | Widmann in Kerr 1978, S. 11. 2 | Widmann in Kerr 1978, S. 12. 3 | Widmann in Kerr 1978, S. 12.
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Ob der Entdecker der »Naturbegabung« vom Vorabend der Jahrhundertwende im »Jakob von Gunten« das hohe Ziel einer »meisterliche(n) Kunst« erreicht sah, kann nur bezweifelt werden. Schon im ersten Satz seiner Rezension signalisiert Widmann auf Umwegen seinen Generalvorbehalt: So wie es in »der neueren Malerei« Mode geworden sei, den Kopf des Malers »aufdringlich groß« vor eine Landschaft zu stellen, so seien auch Walsers Bücher »Vordergrundselbstporträts« und das »ausnahmslos«. »Das Gegenständliche ist ihm nur Vorwand und jeder Stoff ihm recht, sein eigenes Wesen daran darzutun.« 4 Um diesen Vorwurf eines unziemlichen Interesses an der eigenen Subjektivität weiterzuverfolgen – ohne allzu harsch zu wirken – zitiert Widmann längere Passagen aus einem Essay Hermann Hesses, der kurz zuvor in der Berliner Zeitung »Der Tag« erschienen war und der als erste umfangreiche Gesamtwürdigung Walsers gelten kann. In diesem Essay geht auch Hesse auf Distanz, wenngleich mit einer Vorsicht, die seine grundlegende Sympathie erkennen lässt: »alles was in den früheren Büchern zum Teil hübscher und liebenswürdiger klang«, sei in diesem Buch »vertieft und herber geworden, die Menschen sehen uns verzerrt und dennoch unheimlich lebenswahr wie aus allzunah aufgenommenen Fotografien an«.5 Die Tagebuchform entspreche dem »Konfessionsbedürfnis des Dichters, der im Wiederholen und beinahe verbrecherhaften Umkreisen dunkler Punkte im eigenen Wesen« 6 an Knut Hamsun erinnere. Deutlicher wird Hesse, wenn er konzediert, man ärgere sich zuweilen über »freche Naivetäten in der Betrachtung der Dinge, über sprachliche Bummeleien«.7 An der Stelle geht Widmann, zum eigenen Text zurückkehrend, einen Schritt weiter: »Auch im Tagebuch des Jakob von Gunten gibt es dergleichen verdrießliche Stellen. Und wenn eine Tirade […] ein-
4 | Widmann in Kerr 1978, S. 33f. 5 | Hesse in Kerr 1978, S. 35. 6 | Hesse in Kerr 1978, S. 35. In vergleichbarer Weise äußerte sich 1909 auch Josef Hofmiller in einer Kritik in den Süddeutschen Monatsheften: »Mit Robert Walsers neuem Roman konnte ich noch weniger anfangen als mit dem vorjährigen. Solch kraft- und saftloses Geschreibe in den Tag hinein ist nicht zum aushalten. Desto feineren Genuss bieten Walsers zart hingestrichelte Gedichte […]«, Hofmiller in Echte 2008, S. 250. 7 | Hesse in Kerr 1978, S. 37.
Unzar ter Griff und gouvernantenhaf tes »Huch«
mal schließt: ›Welch ein Geschwätz!‹, so mag wohl vorkommen, dass der Leser dazu mit Bleistift schreibt: ›Ja! weiß Gott!‹« 8 Geht dies als Geste affektiver Ablehnung, die dem Leser indirekt zum Nachvollzug empfohlen wird, schon recht weit, so brechen sich in den nächsten Sätzen das Erschrecken vor dem Obszönen und Ungehörigen und der Wille zur moralisierenden Abmahnung unmittelbar Bahn: Einmal verzeichnet Jakob von Gunten eine obszöne Handlung, deren sich ein Mitzögling ihm gegenüber schuldig gemacht hat; es geschieht in so groben, hässlichen Ausdrücken, dass diese eine Stelle das Buch für die Hand jedes Mädchens unmöglich macht. Warum solche Plumpheit oder Gleichgültigkeit bei einem Verfasser, der, wenn er will, alles fein und schön zu sagen weiß?9
Diese leicht gouvernantenhafte Entrüstung mag aus heutiger Sicht als liebenswerter Anachronismus erscheinen; im Hinblick auf den Roman und im Zusammenhang seiner frühen Rezeption signalisiert sie streng die Grenze des noch Akzeptablen. Sie gilt einer Passage im fünfzehnten Tagebucheintrag, in der der Ich-Erzähler den sexuellen Übergriff eines Mitzöglings auf sich selbst schildert. Er tut das – zumindest der äußeren Form nach – im Ton entschlossener moralischer Verurteilung – ein Umstand, den Widmann im Überschwang seiner Empörung nicht bemerkt zu haben scheint: An solch einem Putztag hat sich mir einmal Tremala, einer der Kameraden, der älteste unter uns allen, mit einem hässlichen Unfug genähert. Er stellte sich leise hinter mich und griff mir mit der abscheulichen Hand (Hände, die das tun, sind roh und abscheulich) nach dem intimen Glied, in der Absicht, mir eine widerliche, an den Kitzel eines Tieres grenzende Wohltat zu erweisen. Ich drehe mich jäh um und schlage den Verruchten zu Boden. Ich bin sonst gar nicht so stark. Tremala ist viel stärker. Aber der Zorn verlieh mir unwiderstehliche Kräfte. Tremala hebt sich empor und wirft sich auf mich, da geht die Türe auf, und Herr Benjamenta steht auf der Schwelle derselben. »Jakob, Schlingel!« ruft er, »Komm einmal her!« Ich trete zu meinem Vorsteher hin, und er frägt gar nicht, wer den Streit angefangen habe, sondern gibt mir einen Schlag an den Kopf und geht weg.10 8 | Widmann in Kerr 1978, S. 37. 9 | Widmann in Kerr 1978, S. 37. 10 | JvG, S. 36.
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Die Szene endet damit, dass Jakob seinen Impuls, dem Institutsvorsteher Benjamenta nachzulaufen und »ihm engegenzubrüllen, wie ungerecht er ist«, in sich bekämpft, »einen Blick über die gesamte Knabenschar«11 wirft und wieder an seine Arbeit geht. Der sexuelle Übergriff und die ihm folgende Gewalt scheinen nur ein Zwischenspiel im Kontinuum jenes arbeitsamen, absoluten Gehorsams, dem Jakob von Gunten sich mit dem Eintritt in Benjamentas Dienerschule verschrieben hat. In der Passage vor der Schilderung des sexuellen Übergriffs findet sich sein, alle Fragen nach Sinn absorbierendes Einverständnis: »[…] warum wir müssen, das weiß keiner von uns recht. Wir gehorchen, ohne zu überlegen, was aus all dem gedankenlosen Gehorsam noch eines Tages wird, und wir schaffen, ohne zu denken, ob es recht und billig ist, dass wir Arbeiten verrichten müssen.«12 Anhaltende Arbeit, für die sogar noch Schulgeld bezahlt wird, fragloser Gehorsam und die Wiederkehr des Immergleichen: Die Gewöhnung daran gedeiht in einem Ambiente von Kargheit und Mangel, das zu Beginn der Tagebucheintragung beschrieben wird: Unser Schulzimmer ist im übrigen sehr trocken ausstaffiert. Außer dem länglichen Tisch, einigen zehn bis zwölf Stühlen, einem großen Wandschrank, einem kleineren Nebentisch, einem kleineren zweiten Schrank, einem alten Reisekoffer und ein paar anderen geringfügigen Gegenständen enthält es kein Möbel.13
Gleichwohl ist auch dieser Lernort nicht frei von Zeichen, in denen sich die hier herrschenden Machtverhältnisse verdichten. Neben einem recht familiär-gemütlichen Bild des verstorbenen Kaiserpaares im Schulzimmer und einem Gruppenphoto mit früheren Zöglingen ist das ein Arrangement über dem vom Korridor erreichbaren Zugang zu den ›inneren Gemächern‹; es ist dies jener für die Knaben nicht zugängliche Bereich, der vom Leiter des Instituts und seiner Schwester bewohnt wird. Über der Tür zu ihm hängen die Symbole eines preußisch-männlich geprägten Gehorsams: ein Schutzmannssäbel, überkreuzt von seinem Futteral, darüber angebracht der dazugehörige Helm. Schon die Beschreibung dieser »Dekoration« zeugt von spöttischer Distanz und keineswegs von jenem 11 | JvG, S. 37. 12 | JvG, S. 36. 13 | JvG, S. 35.
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»gedankenlosen Gehorsam«, von dem – wie gezeigt – kurz danach die Rede ist: »Über der Türe […] hängt als Wandschmuck ein ziemlich langweilig aussehender Schutzmannssäbel mit dito quer darüber gelegtem Futteral. Darüber thront der Helm.«14 Die nachfolgende Reflexion entwertet die Machtsymbole weiter zum verstaubten Dekor aus zweiter Hand: Diese Dekoration mutet wie eine Zeichnung oder wie ein zierlicher Beweis der Vorschriften an, die hier gelten. Was mich betrifft, ich möchte diese wahrscheinlich bei einem alten Trödler erhandelten Schmuckstücke nicht geschenkt erhalten. Alle vierzehn Tage werden Säbel und Helm heruntergenommen, um geputzt zu werden, was eine sehr nette, obwohl sicher ganz stupide Arbeit genannt werden muss.15
›Sehr nett‹ und ›ganz stupide‹: Dies Zusammentreffen konträrer Wertungen in einem kurzen Nebensatz kann als paradigmatisch für das emotionale Zwielicht gelten, in dem die Zöglinge dieser Dienerschule des Herrn Benjamenta ihre Tage verbringen. Der von Jakob gewollte und immer wieder beschworene Gehorsam – »bis hinunter zur Nichtswürdigkeit«16 – kann unvermittelt in eine Heiterkeit umschlagen, die bis in die Nähe der Aufsässigkeit reicht. Im fünfzehnten Tagebucheintrag zeigt sich dieser Umschlag in der Schilderung der Putztage, die die Knaben immer erneut erleben. An diesen Tagen oszilliert nicht nur der Charakter der ihnen abverlangten Arbeit zwischen Mühe und anarchischer Fröhlichkeit, sondern auch ihre sexuelle Identität. Es sind die Schürzen, die sie sich zu der »Zimmermädchenarbeit« umbinden, die ihre Wirkung tun. In ihnen werden die 14 | JvG, S. 35. 15 | JvG, S. 35. Einer vergleichbaren Arbeit im Schulzimmer unterzieht sich die Hauptfigur Diederich Heßling in Heinrich Manns Roman »Der Untertan« mit großer Freude. Diese Figur lässt sich durchaus als eine Kontrastfigur zu Jakob von Gunten auffassen: Heßling, eigentlich ›ein weiches Kind‹, liebt die Teilhabe an der Macht über alles: »Denn Diederich war so beschaffen, dass die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, dass die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.« Mann [1918] 1973, S. 8. 16 | JvG, S. 8.
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Zöglinge auf eine koboldartige Weise so übermütig, dass ein Übergriff, wie ihn sich Tremala erlaubt, an solchen »Putz-, Reib- und Waschtagen« so nahe liegt wie bei mancher bis heute in Schulen zu beobachtenden Balgerei im Umkleideraum vor oder nach der Turnstunde: Oft putzen und waschen wir Zöglinge das Schulzimmer mit Seife und Warmwasser aus, dass nachher alles von Sauberkeit duftet und glänzt. Alles müssen wir selber machen, und jeder von uns hat zu dieser Zimmermädchenarbeit eine Schürze umgebunden, in welchem an die Weiblichkeit gemahnenden Kleidungsstück wir alle ohne Ausnahme komisch aussehen. Aber es geht lustig zu an solchen Aufräumetagen. Der Fußboden wird fröhlich poliert, die Gegenstände, auch die der Küche, werden blank gerieben, wozu es Lappen und Putzpuder in Menge gibt, Tisch und Stühle werden mit Wasser überschüttet, Türklinken werden glänzend gemacht, Fensterscheiben angehaucht und abgeputzt, jeder hat seine kleine Aufgabe, jeder erledigt etwas. Wir erinnern an solchen Putz-, Reib- und Waschtagen an die märchenhaften Heinzelmännchen, die, wie es bekannt ist, alles Grobe und Mühselige aus reiner übernatürlicher Herzensgüte getan haben.17
Überblickt man die zweieinhalbseitige Tagebucheintragung, so bietet sich das folgende vorläufige Resümee an: In nuce sind hier jene Elemente präsent, die im Roman insgesamt wirksam sind: •
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ein scheinbar allen Sinn und alle Fragen nach ihm suspendierender Gehorsam, der ein Umschlagen in spöttische Distanz nicht ausschließt; eine sich in der Repetition erschöpfende Arbeit, die sich in Übermut verkehren kann; die Begierden, die in der von Inhalten weithin entleerten Institution wie in einem Treibhaus wuchern und über die Grenzen der tradierten Geschlechterrollen hinausgehen; die Gewalt, in der sich diese Begierden äußern und jene, die sie in ihre Schranken verweist.
Aus der in sich beweglichen Konstellation dieser Elemente bildet sich die Atmosphäre des Traumhaften, Irrealen, Rätselhaften, die in der Sekundärliteratur immer wieder umschrieben wird. In ihr ist als Lockung 17 | JvG, S. 35f.
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und Drohung zugleich virulent, was jeder festgefügten Vorstellung von Identität entgegenarbeitet. In ihr liegt die Überschreitung in Richtung des Unerhörten näher, als es der routinierten Erwartung lieb sein kann. Widmann und auch Hesse haben dafür auf ihre Weise ein Gespür gehabt: daher ihre Distanz, ihr Erschrecken und bei Widmann der blinde Impuls zur Maßregelung. Kann das aus heutiger Sicht als eine Anerkennung der Kraft des Textes ex negativo aufgefasst werden – 1909 war es der Beginn jener Missachtung und Verkennung, unter denen Robert Walser bis zu seinem Tode gelitten hat.18 Diese Missachtung ist nicht zuletzt eine Reaktion auf jene Vernachlässigung von Identität, die für die Helden Walsers generell charakteristisch ist.19 Zu Recht hat Karl Wagner schon für die Figur des 18 | Vergleiche hierzu vor allem Jochen Grevens Nachwort zum »Jakob von Gunten« in JvG, S. 167ff. sowie Sauvat 1995, S. 98ff. 19 | Walsers Helden übernehmen damit scheinbar jenes Desinteresse, das den Subalternen in der Geschichtsschreibung aber auch in weiten Teilen der Kunst- und Literaturgeschichte entgegengebracht worden ist. In seiner 2010 erschienenen Mediengeschichte der Dienerfigur hat Markus Krajewski auf diesen Tatbestand hingewiesen. Krajewskis eigenes Interesse zielt darauf ab, die Dienertätigkeiten als »unterschätzte Basisarbeit an den Wurzeln der Kultur in den Mittelpunkt zu rücken.« Krajewski 2010, S. 15. Bei Krajewski heißt es dazu: »Einerseits gilt es, dem ebenso produktiven wie untergründigen Anteil des Dieners an Prozessen der Wissensproduktion, seinem Anteil an der Macht sowie nicht zuletzt der Frage nach seinem Status als Erkenntnisfigur nachzuspüren. Diese Studie beabsichtigt daher die Leitfrage zu verfolgen, welche medialen und erkenntnistheoretischen Merkmale dem Diener eigen sind, um diese Eigenschaften in einer umfassenden, epistemologische wie medientheoretische Aspekte einschließenden kulturgeschichtlichen Spannbreite zu entfalten.« Krajewski 2010, S. 15. So eindrucksvoll Krajewski dies gelingt – vor allem in seinen literaturgeschichtlichen Kapiteln – so im allerbesten Sinne fragwürdig erscheint jene Seite seines Erkenntnisinteresses, die den Dienerfunktionen im Kontext der heutigen »Wirkungsmacht im Digitalen« nachspüren. Krajewskis Befund im Hinblick auf die Verdinglichung der dienenden Funktionen ist durchaus zuzustimmen: »Denn längst schon sind die klassischen Funktionen der Subalternen delegiert an ein kaum durchschaubares Ensemble aus Maschinen, elektronischen Netzwerken und standardisierten Protokollen, die etwa im weltweiten Zusammenspiel von (elektronischen) Briefkästen unsere Kommunikation bestimmen.« Krajewski 2010, Seite 15. Fraglich erscheint jedoch,
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Joseph Marti in »Der Gehülfe« die Frage gestellt, ob hier von Identität noch gesprochen werden könne.20 Für »Jakob von Gunten« und für Walsers »Räuber«-Roman ist das keine Frage mehr. In beiden Romanen scheint individuelle Freiheit und Identität »nur noch in einem außersozialen oder gar asozialen Sinne möglich.« 21 Dass es so ist, ist weder Zufall noch Missgeschick, noch Schicksal, sondern die Folge jenes bewussten Experiments mit sich, für das niemand verantwortlich ist als der Protagonist selbst. Walser ist ihm 1905 in seiner Lebenspraxis vorausgegangen.
ob mit dieser Verdinglichung die Figur des Dieners nicht endgültig als Teil einer sozialen Beziehung verschwindet und nur noch metaphorisch weiterlebt, so in der Bezeichnung eines hochkomplexen technischen Instruments als ›Server‹. 20 | Vgl.: Wagner 1980, S. 48. 21 | Wagner 1980, S. 185.
Das Selbstexperiment von 1905
Das Photo von 1905 zeigt Robert Walser in der Dreizimmerwohnung seines Bruders Karl im vierten Stock des Hinterhauses der Kaiser-FriedrichStraße 70 in Berlin. Im April dieses Jahres war Walser – nach mehreren Anläufen in den Jahren zuvor – hierher übergesiedelt. Abbildung 1: Photo Robert Walser 1905 in der Wohnung seines Bruders Karl in Berlin-Charlottenburg
Die Photographie ist etwas unscharf und leicht verwackelt; sie zeigt den Siebenundzwanzigjährigen im Profil, fast als Schattenriss vor einem – wie es scheint – leicht geöffneten Fenster im Hintergrund, hinter dem sich durch einen wallenden Vorhang hindurch die Äste und Zweige
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eines Baumes abzeichnen. Walser trägt ein streng anmutendes, dunkles Jackett; darüber ist undeutlich ein bis unter das Kinn reichender weißer Stehkragen auszumachen. Unter dem Revers zeichnen sich vage einige Lichtreflexe ab, die von leicht übergroßen Knöpfen oder Schließen kommen könnten. In der Erinnerung der Schwester Fanny ist das Walsers Dieneruniform gewesen.1 Wenn das zuträfe, ließe sich der Zeitpunkt der Aufnahme auf den Herbst 1905, genauer auf den September datieren. In diesem Monat tritt Robert Walser in eine Berliner Dienerschule ein und absolviert für mehrere Wochen einen Kursus, bevor er später im Herbst für einige Monate als Diener – Monsieur Robert – auf dem Schloss Dambrau in Schlesien eingestellt wird – wahrscheinlich auf Empfehlung seines Bruders Karl hin. Möglicherweise aufgrund einer Bewerbung mit dem Photo, das er im Kaufhaus Wertheim anfertigen lässt und das in seiner etwas steifen Korrektheit dem perfekten Abbildung 2: Idealbild eines Dieners entspricht. Photo Robert Walser im Herbst 1905
V ERMUTUNGEN
Aus dieser Spanne Lebenszeit im Frühherbst 1905 sind nicht mehr als diese wenigen Fakten überliefert. Weder wissen wir, in welcher Berliner Dienerschule Walser war, noch ob es sich dabei um eine Schule mit angeschlossenem Internat gehandelt hat (was der Roman, wenn man ihn als Quelle auffasst, nahelegt) und welcher Art die Ausbildung gewesen ist. Bernhard Echte hält es in seiner umfangreichen Publikation zum Leben Walsers für möglich, dass es die Dienerschule des G. Manthei in der Wilhelmstraße 141 in Berlin Mitte gewesen ist und dass Mantheis kleine Schrift »Der herrschaftliche Diener. Ein Lehrbuch zum Selbstunterricht« als Vorbild für das Büchlein »Was bezweckt BenjamentaϞs Knabenschule?«2 in Frage kommt.
1 | Echte 2008, S. 179. 2 | JvG, S. 8.
Das Selbstexperiment von 1905
Abbildung 3: Titelblatt zu: »Der herrschaftliche Diener. Ein Lehrbuch zum Selbstunterricht.« [Autor: G. Manthei]
Ein mit Photos illustrierter Artikel aus dem »Welt-Spiegel« vom 5. Dezember 1901 gibt Aufschluss über den Alltag des Mantheischen Unternehmens. Er trägt den Titel »Berliner Dienerschulen«; sein Autor ist der deutsch-amerikanische Journalist und Schriftsteller Oskar Theodor Schweriner. In seiner Reportage schildert Schweriner die Schule als ein »Unikum«. »Die ganze Lehrmethode, der ›Stundenplan‹, die Schüler« seien so eigenartig, dass es »der Mühe werth gewesen ist, einige besonders interessante Momente aus einem solchen Schultage photographisch festzuhalten.«3 Es sind allerdings keineswegs Momentaufnahmen, wie Schweriner schreibt, sondern sehr gestellt wirkende Photos, die den 3 | Schweriner 1901, ohne Seitenangabe. Vgl. auch Schweriner in Echte 2008, S. 180.
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schulischen Alltag zeigen: ein ›learning by doing‹, bei dem Stiefel geputzt, Fenster poliert, Jagdgewehre gesäubert, Gläser getrocknet, Parkett gebohnert, Koffer gepackt werden.4 Besonderen Wert legt die Schule auf das korrekte Servieren an der festlichen Tafel und auf das Benehmen in unterschiedlichen sozialen Situationen, in die ein Diener geraten kann, mitsamt der nötigen Phantasie:
Abbildung 4: Photo von Dieneranwärtern in G. Mantheis Berliner Dienerschule 1901
Zum Schluss folgt noch eine Stunde im Benehmen, ›Anstandsstunde‹, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich bewunderte die Phantasie der Lehrer sowie der Schüler. Sie mussten sich in alle möglichen Situationen hineindenken. Ein Diener musste sich einer Dame vorstellen – die betreffende Dame war ein Mann – oder er musste sich auf Reisen wähnen, mit einem Offizier, mit einem jungen Brautpaar, mit einer nervösen alten Dame; oder er musste Besuche anmelden, Bestellungen machen, grüßen, sich verbeugen, Thüren öffnen und was nicht noch alles. 5
Für die meisten Bestandteile dieses Unterrichts in der Dienerschule Manthei finden sich in Walsers Roman durchaus Entsprechungen.6
4 | Vgl.: Schweriner 1901, ohne Seitenangabe. Vgl. auch Schweriner in Echte 2008, S. 180. Sieht man das Photo genauer an, kann der Verdacht aufkommen, dass es sich um eine frühe Form der Montage handeln könnte. 5 | Schweriner 1901, ohne Seitenangabe. 6 | Vgl. hierzu in dieser Untersuchung »Das Timbre des ›herrschaftlichen Dieners‹«.
Das Selbstexperiment von 1905
M OTIVE Ist die Quellenlage für den Lebenslauf eines Schriftstellers prekär, bietet es sich an, die literarischen Texte auf ihren biographischen Gehalt hin zu befragen und auszuwerten. Dies Verfahren kommt in der Sekundärliteratur zu Robert Walser häufig zur Anwendung, zum einen in Ermangelung von Alternativen, zum anderen aber auch, weil die Texte Walsers zweifellos weithin autobiographisch grundiert sind. Zuverlässige Quellen sind sie allerdings nur bedingt. Im Hinblick auf die Frage nach den Motiven, die Walser zum Eintritt in die Dienerschule veranlasst haben, geben sie allerdings durchaus einigen Aufschluss. Das erscheint umso wünschenswerter, als das Selbstexperiment Robert Walsers der selbstexperimentellen Hauptströmung im zwanzigsten Jahrhundert widerspricht. Im ›Normalfall‹ zielt der Entschluss zu experimentellem Leben auf Erweiterung, auf einen Zuwachs an Möglichkeiten und auf eine Steigerung von Erfahrungsintensität. Man will ins Größere, Unübersichtliche hinein; das Ziel ist Entgrenzung, nicht bewusste Beschränkung, ist erhöhte Souveränität bis hin zum wilden, gefährlichen Leben, nicht habitualisierter Gehorsam und subalterne Aufopferungsbereitschaft. Die jedoch bilden das Wunschbild, dem Walser und Jahre später sein Protagonist Jakob zustreben. Im Prosatext »Tobold (II)« aus dem 1917 erschienenen Sammelband »Kleine Prosa« findet sich dies Ideal als eine sich mit der Zeit verdichtende »fixe Idee« charakterisiert. Übrigens war ich noch ziemlich lang mit dem bloßen Einfall, mit dem bloßen spielenden Gedanken herumgelaufen, der sich freilich mit der Zeit fast bis zur fixen Idee entwickelte. […] Die Idee, so verrückt sie scheinen oder in Wirklichkeit sein mochte, war einmal in meinem Kopf und ließ mir keine Ruhe. Ideen streben nach Vergegenwärtigung, nach Versinnbildlichung; ein lebhafter Gedanke will früher oder später in lebendige Wirklichkeit, in Körperlichkeit verwandelt sein.7
Die Einwände seitens eines »feinen, klugen, angesehenen Herrn« – gemeint sein könnte hier Franz Blei, ein früher Förderer Walsers – werden umstandslos akzeptiert: »[…] Ich glaube ganz wie Sie, dass ich absolut nicht geeignet bin.« 8 Folgen hat das nicht: Ein »Leben ohne Sonderbarkei7 | SW. Band 5, S. 226. 8 | SW. Band 5, S. 226.
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ten, ohne sogenannte Verrücktheiten« erscheint Tobold nicht erstrebenswert. Er imaginiert sich als Nachfolger des Don Quijote und verteidigt seine Idee des Dienens gegen jeden Einspruch der praktischen Vernunft: »Wenn der Ritter von der traurigen Gestalt seine verrückte Ritteridee wahrmachte, so mache ich meinerseits meine Dieneridee wahr, die ohne Zweifel mindestens ebenso verrückt, wenn nicht gar noch um einige Grade verrückter ist als jene.«9 Die von Tobold beanspruchte Parallele erscheint aufschlussreich: So wie das Rittertum in »Don Quijote« historisch bereits vergangen ist und nur noch in den einschlägigen Romanen seine Wirklichkeit hat, ist die Figur des Dieners zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eher eine Reminiszenz an eine vergangene Gesellschaftsformation als eine selbstverständliche Gestalt der damaligen Gegenwart. Sie dürfte auf der Bühne häufiger zu finden gewesen sein als im Berliner Alltag der damaligen Zeit.10 Es ist eine Ironie des Zufalls, dass das erste Auftauchen der Dienerfigur im Leben Robert Walsers unter dem Vorzeichen des Theatralischen steht: Als Siebzehnjähriger betätigt sich Walser in seiner Geburtsstadt als Mitglied des »Dramatischen Vereins Biel«; er spielt kleinere Rollen, begeistert sich für die großen – vor allem für den Karl Moor – und hat nur einen einzigen Gedanken: Schauspieler werden. Als er aber in einem Stück einen Lakaien spielen soll, »der unter anderem eine Ohrfeige hinzunehmen hat«, weigert er sich entschlossen: »Nein, das kann er nicht spielen, das ist zu elend. Das verletzt zu sehr.«11 Was der Siebzehnjährige auf der Bühne zu spielen verweigert, die Dienerrolle, wird er in seinem Leben in Abständen immer wieder zu 9 | SW. Band 5, S. 227. 10 | Vgl.: Angerer 2000, S. 208. Zu den statistischen Veränderungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts: »Zum mindesten bis zum ersten Weltkrieg blieben in Europa die häuslichen Dienste eine Selbstverständlichkeit. Im Deutschen Reich gab es 1881 eine Million und 325 000 Dienstboten; das waren 2,9 Prozent der Bevölkerung. Zur gleichen Zeit betrug der Anteil des Hausgesindes an der Gesamtbevölkerung in Österreich 3,5 Prozent, in England 5,5 Prozent (Schottland 4,2), in Frankreich sogar 6,8 Prozent. Dabei betrug in Deutschland der Anteil der weiblichen Bediensteten 96,8 Prozent. Im ganzen Reich gab es noch 42 510 Diener; hier hatte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel vollzogen.« Lahnstein 1989, S. 245. 11 | SW. Band 2, S. 89.
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verwirklichen versuchen. In Zürich ist er kurze Zeit Hausdiener bei einer reichen jüdischen Frau.12 Einige Jahre später besucht er Franz Blei in München: »Walser sah immer aus wie ein Page«, erinnert sich Blei 1925 in einem Artikel in »Die literarische Welt«: »Von solchem Dienst schwärmte er auch. Einer Dame die Schleppe tragen.« 13 Bei dem Dichter Alfred Walter Heymel, der in München ein üppiges Palais in der Leopoldstraße bewohnte und unter anderem die literarische Zeitschrift »Die Insel« finanzierte, bewirbt er sich um eine Stelle als Diener. Aber – so Franz Blei – »es stellte sich heraus, dass er weder Silber putzen, noch Zylinder bügeln konnte.« 14 Der leicht ironische Ton, in dem Blei hier spricht, ist nur die Kehrseite seiner Bewunderung für Robert Walser, dem er an anderer Stelle etwas attestiert, was »heute in der Zeit journalistischen Alles-Versuchens und fast Alles-Könnens so selten« geworden sei. Walser verkörperte für ihn das »Phänomen jener gewissen Identität zwischen Person und Werk […]. Hier wird nicht anders geschrieben als gelebt, nicht anders gelebt als geschrieben. Da ist es egal, ob diese Einheit groß oder klein ist: dass es eine Einheit ist, ist im gespielten und fingierten Chaos heutiger Schriftstellerexistenz viel und alles.«15 ›Nicht anders geschrieben als gelebt‹: In Walsers »Jakob von Gunten« ist das nicht nur exemplarisch wahr geworden; es wird ins Experimentelle gesteigert. Dass dabei anders als bei den bisher vorgeführten Beispielen für die Verwirklichung der Idee des Dienens das Verhältnis von dienender und herrschender Rolle zur Disposition gestellt wird – auch im Blick auf die ihnen zugrundeliegenden sexuellen Identitäten – wird noch zu zeigen sein. Im Ausgriff auf die Zeit nach dem »Jakob von Gunten« zeigt sich diese Tendenz im Kontext der Biographie Walsers ein letztes Mal in einer Episode von 1924. Es geht dabei um eine letzte Möglichkeit für Walser, im Hinblick auf einen Roman mit einem Verlag handelseinig zu werden. Der Roman trug den Titel »Theodor«; sein Manuskript ist verlorengegangen, wahrscheinlich im Rowohlt Verlag. Ein etwa zwanzigseitiger Auszug erschien 1923 in Max Rychners Zeitschrift »Wissen und Leben«. Der Schweizerische 12 | Mächler 1966, S. 46. 13 | Blei 1925. In: Kerr 1978, S. 65. 14 | Blei 1930. In: Kerr 1978, S. 69. 15 | Blei 1925. In: Kerr 1978, S. 66.
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Schriftstellerverein hatte den Roman bereits mit einer Summe von 1500 Franken beliehen, war also auch, wie Walser selbst, am Zustandekommen eines Verlagsvertrages interessiert. Der Zürcher Grethlein Verlag zeigte sich zu ernsthaften Verhandlungen bereit – nicht nur für »Theodor«, sondern auch für die drei in Berlin bei Cassirer verlegten Romane, eine Chance, die sich zuvor nicht geboten hatte und bedauerlicherweise auch danach nicht mehr. Robert Walser verhält sich im Vorfeld der anstehenden Verhandlungen – der Verleger Hauschild wollte ihn treffen – und beim vereinbarten Termin provokant und ohne Rücksicht auf das eigene Interesse. Der Vorgang findet sich in den biographischen Arbeiten zu Walser nirgends besser dargestellt als in der frühesten, der von Robert Mächler: Walser teilte dem Inhaber dieses Verlags, Konsul Hauschild, brieflich mit, er sei bereit, ihn an einem bestimmten Tag bei sich zu empfangen. Das Schreiben war unterzeichnet: Cäsar, Diener von Herrn Walser. Als Hauschild, der Einladung Folge leistend, zu dem ärmlichen Mansardenzimmer emporgestiegen war, öffnete ein Mann in Hemdsärmeln die Tür: Ja, sein Herr, Robert Walser, sei zu sprechen, er lasse bitten, sich einen Augenblick zu gedulden. Zwei Minuten danach ging die Tür wieder auf, und vor dem Besucher stand der gleiche Mann, jetzt mit einem Rock bekleidet: Er sei Walser. Konsul Hauschild, solchen Scherzen abhold, verhehlte seinen Ärger nicht.16
Nur auf den ersten Blick ist dies ein Zeugnis schrullenhaften oder halbverwirrten Verhaltens mit absehbaren Folgen. Hier wird mehr inszeniert als eine private Variante von Nestroys »Einen Jux will er sich machen«. Der gesellschaftliche Antagonismus von Herr und Knecht, der auch das Verhältnis von Verleger und Autor umschließt, wird zunächst in dem Brief an Hauschild aufgegriffen. Die fingierte Einladung des Dieners im Namen seines Herrn erhebt diesen auf die Augenhöhe der realen Verlegerfigur, hier sogar eines Konsuls. Das im Brief als gegeben behauptete Verhältnis von Herr und Diener wird dann zu Beginn des beschwerlichen Besuchs des Verlegers in einem spielerischen Rollen- und Kleiderwechsel ausagiert. Dass dies szenische Präludium vor dem Verhandlungsbeginn in der Wohnung Walsers kein übermütiger, spontaner Einfall gewesen sein kann, geht aus dem vorbereitenden Brief hervor, vor allem aber aus 16 | Mächler 1966, S. 179.
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dem Namen, den Walser seinem fiktiven Diener gibt, den eines Kriegsherrn und Herrschers: Cäsar. Damit wird das Verhältnis von Herr und Knecht zu einem sarkastischen Paradox: Der Herr Walser hat einen Diener, dessen Name zugleich der des höchsten Herrschaftstitels des antiken Rom ist, Keimzelle von ›Kaiser‹ und ›Zar‹. Dass Hauschild den Titel Konsul trug (also den des höchsten Staatsbeamten) könnte für Walser der Anlass zum Entwurf der verbalen und szenischen Maskerade gewesen sein. Der Verleger Hauschild hat sie nicht genossen, wie aus seinem bitteren Brief an den Schriftstellerverein vom 4. April 1924 hervorgeht: Ich […] konnte trotz unzähliger Briefe an Herrn Walser und eines mehrstündigen persönlichen Besuchs bei ihm nicht mit ihm einig werden, weil Herr Walser auf positive Vorschläge nicht wie andere Menschen zu reagieren pflegt. Ich spreche es ganz offen aus: er ist ein schrullenhafter Herr, ein Bohémien, ein Eigenbrötler, der aber noch nicht so alt ist, als dass er sich diese für den geschäftlichen Verkehr absolut nicht geeigneten Manieren nicht noch abgewöhnen könnte. 17
Was von außen als ›nicht geeignete Manieren‹ erscheint, ist im Überblick über die Geschichte der faszinierenden Idee des Dienens im Leben Walsers der souveräne Endpunkt einer Entwicklung: Der Dualismus von oben und unten ist zur spielerischen Dialektik geworden und in das Selbstbild ›eingewandert‹. In Briefen Walsers aus seiner Berner Zeit finden sich Grußformeln, in denen sich der Autor in semantisch-paradoxer Kombination von Adjektiv und Substantiv als Einheit von Herr und Knecht gleichermaßen empfiehlt und verabschiedet: Ich bedanke mich einstweilen noch für die guten netten Zeilen, die Sie an mich adressierten und begrüße Sie in unvorstellbarhoher, ächter Hochachtung als Ihr hochgeborner Diener Robert Walser.18
17 | Mächler 1966, S. 180. 18 | Walser 1975, S. 228. Die Typographie folgt derjenigen der Briefe Walsers.
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Bestens, d.h. überaus herzlich grüßt Sie Ihr diensteifriger Herrscher Robert Walser.19
Und so grüßt sie denn inzwischen ruhig und freundlich, fast mit der Allüre der Großartigkeit Ihr allezeit treues Hundeli Robert Walser. 20 Auch hier fungieren, wie in der Szene mit Hauschild, Herr und Knecht als Spielfiguren des eigenen Ichs, die der Autor bewegt, unbekümmert davon, wie erbärmlich, ungezogen oder lächerlich er damit nach außen wirken mag. Das hat seinen Preis. Wie hoch er ist, lässt sich abschätzen, wenn man die Schlusspassage eines Prosatextes ernst nimmt, der vor einiger Zeit wieder aufgefunden wurde. Der Text ist von 1907, also aus der Zeit zwischen dem Selbstversuch in der Dienerschule und dem Abfassen des »Jakob von Gunten«. Er heißt »Der Schriftsteller«; in ihm ist gegen Ende vom Autor als einer sogenannten lächerlichen Person die Rede, die »immer ein Schatten« sei: »Der Schriftsteller ist im Leben oft eine sogenannte lächerliche Person, jedenfalls ist er immer ein Schatten, er ist immer daneben, wo andere das unaussprechliche Vergnügen haben dürfen, mitten drin zu sein […].«21 Es ist dies eine ›Abseitigkeit‹, die aus dem inneren Motiv des Schreibens kommt, der Fähigkeit des Schriftstellers zur Mimesis: […] er ist Karrenschieber, Wirt, Raufbold, Sänger, Schuster, Salondame, […] Tänzerin, Mutter, Kind, Vater, Betrüger, Erschaffener, Geliebte. Er ist der Mondschein, und er ist das Brunnengeplätscher, der Regen, die Hitze in den Straßen […] Er ist der Hungernde und der Sattgegessene, der Prahler und der Prediger, der Wind und das Geld. Er fällt mit dem Goldstück auf den Zahltisch, wenn er schreibt: und sie (eine polnische Gräfin) zählt das Geld auf. Er ist das Erröten auf der Wange der Frau, die merkt, dass sie liebt […] Für ihn gibt es nur eine Religion, nur ein Gefühl,
19 | Walser 1975, S. 267. 20 | Walser 1975, S. 225. 21 | Walser 2003, S. 26.
Das Selbstexperiment von 1905
nur eine Weltanschauung: in die Anschauung, in das Gefühl, in die Religion anderer, womöglich aller, liebend aufpassend unterzuschlüpfen. 22
Diese Leidenschaft, sich anzuverwandeln, sich rückhaltlos mimetisch zu verhalten, ist kein bloß ästhetisches Ethos. Sie ist bei Walser immer auch ein anhaltend starker erotischer Affekt, in dessen Reichweite die vor Augen geführten Gegenstände libidinös aufgeladen werden, bis sie dem erzählenden Ich als begehrenswerte Fetische erscheinen. Pia Reinacher ist der fetischistischen Imprägnierung der walserschen Prosa am Beispiel der weiblichen Bekleidung nachgegangen.23 Für diese fetischistische Neigung finden sich auf der Ebene der Biographie Robert Walsers etliche Parallelen – vor allem in den Briefen an Frieda Mermet. Einige davon sind bis jetzt nicht veröffentlicht – aus Gründen, die sich bei der Lektüre von Passagen wie dieser erahnen lassen. Abbildung 5: Unveröffentlichte Briefe von Robert Walser an Frieda Mermet vom Januar/Februar 1915
22 | Walser 2003, S. 26f. 23 | Vgl.: Reinacher 1991, S. 199.
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[…] Darf ich Sie, liebe Frau Mermet um etwas Liebes bitten? Ich möchte so gern ein getragenes Bubenhöseli von Louis haben, um es zu lieben und zu verehren und innig anzuschauen. Vielleicht haben Sie so ein altes, was der liebe junge Herr jetzt nicht mehr trägt und schicken es mir, womit Sie mir eine große Freude machen würden. […]
Frau Mermet ist diesem Wunsch nachgekommen. In einem Brief Walsers vom Januar/Februar 1915 heißt es:
[…] und herzlichen Dank, liebe Frau Mermet, für Ihren lieben Brief samt Sendung der Höseli Ihres lieben Louis, an denen ich viel Freude habe, weil sie so bubig, so kindlich aussehen mit den kurzen beiden Hosenlängen. Die Höseli erinnern fast ein wenig an Frauenhöschen, die ich gern einmal an einer lieben Persönlichkeit
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zu sehen kriegen möchte, die ein lustiges Näschen hat und schlank ist wie ein hübsches junges Tännchen.[…]
Ob Sätze wie diese Teil eines gewagten erotischen Spiels sind oder peinliche verbale Fehltritte, ist in dieser Untersuchung nicht zu erörtern. Der Briefschreiber Walser jedenfalls ist hier so ›daneben‹ wie der devote Schatten, als den er die Figur des Schriftstellers in dem Text von 1907 aufgefasst hat. – Wenn auf Assoziationen Verlass ist, kehrt hier jener Schatten wieder, als der Walser 1905 in der Wohnung seines Bruders photographiert wurde, in seiner Dieneruniform.
L ITER ARISCHE V ORBILDER ? Es ist eine bedenkliche Spätfolge des Geniekultes, dass wir dazu neigen, unsere Lieblingsautoren und deren Texte als einsame Größen aufzufassen. Ohne Vorbild scheinen sie uns, und nach ihnen mögen wir zwar Nennenswertes finden, aber wenig oder nichts Vergleichbares. Für die Rezeption Robert Walsers gilt das in besonderem Masse, und es gibt Gründe dafür. Wer mit vierzehn von der Schule abgeht – wie Widmann 1890 bewundernd schrieb – scheint, was er ist und schreibt, vor allem aus sich zu schöpfen, ist sich selbst sein Alleinstellungsmerkmal, um einen aktuell virulenten Begriff zu verwenden. Die Bewunderung, auf die der junge Walser traf, hebt dann auch immer wieder auf den eigenen Ton 24 ab, den man in Walsers frühen Gedichten und Prosastücken wahrnahm. Es ist jedoch nicht nur der besondere Ton, der das Staunen vor dem Frühwerk Walsers beflügelt; es ist auch die in der Tat staunenswerte Treffsicherheit und Sensibilität, mit denen der junge Walser hochkomplexe Konstellationen zu benennen vermag, die außerhalb der literarischen Welt z.B. in der Frühphase der Psychoanalyse zum Thema wurden. So erscheint das Dramolett »Schneewittchen« – geschrieben 1900 – wie die literarische Probe auf das psychologische Exempel von Freuds »Die Traumdeutung« (von Freud 1899 auf das Jahr 1900 datiert), ohne dass ein unmittelbares oder mittelbares Vorbild für Walser auszumachen wäre oder gar die Kenntnis von Freuds Schrift. Dass solche Entsprechungen geniekultische Vorstellungen begünstigen, liegt auf der Hand. 24 | Vgl.: Benjamin 1970, S. 62ff.; Sprengel 2004, S. 209; Kimmich S. 25f.
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Ähnlich verhält es sich mit »Jakob von Gunten«, der sich, wie Catherine Sauvat schreibt, »noch mehr von den zeitgenössischen Formen und vorgefassten Meinungen entfernt« und eben deshalb »als einzigartige Herausforderung für die deutsche Literaturkritik« 25 gelten kann. Eine ähnliche Einschätzung hatte bereits George C. Avery in seinem Buch »Inquiry and Testament« gegeben: Jakob von Gunten sei »einzigartig in der Schaffung eines hermetischen Kosmos durch meisterhafte Verteilung heller und dunkler Stiltöne.«26 Auf diese Weise scheint Walsers Roman aus dem Kontinuum von Vorbild, Anregung, Nachahmung und Variation herausgehoben. In der Sekundärliteratur sind denn auch eher Seitenblicke auf vergleichbare Erziehungs- und Zöglingsromane zu finden,27 nicht aber Hinweise auf identifizierbare Vorbilder, mit einer – wie es scheint – ernst zu nehmenden Ausnahme. 1970 veröffentlichte Otto F. Best in »Modern Language Notes« einen Aufsatz mit dem Titel »Zwei Mal Schule der Körperbeherrschung und drei Schriftsteller«.28 Hierin vertritt er die These, Frank Wedekinds Fragment gebliebene Erzählung »Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen« sei als Vorbild zu Walsers Roman aufzufassen: »Frank Wedekinds hermetischer Kosmos […] half Walsers Schule des Dienens vorbereiten, trug zur Formung von Konzept und Grundriss eines utopischen Erziehungsprogramms bei«29. Die Parallelen seien »geradezu verblüffend. Dies gilt für die Grundhandlung: Eintritt in die geschlossene Welt der Schule, Ausbildung, Rückkehr ins Leben, nicht weniger als für gewisse Charakterzüge der Figuren und des Inventars.«30 Mehr noch: Otto F. Best sieht in »Mine-Haha« den Beginn einer Linie, die sich über Walsers Zöglingsroman bis hin zu Kaf kas »Das Schloss« ziehen lasse. Der letzte Satz seines Aufsatzes stellt denn auch die Frage, ob »es sich in Zukunft wohl vermeiden lassen wird, […] Frank Wedekind einer Fußnote zu würdigen, wenn es um Kafka, um die Vorgeschichte und die Folgen des Ereignisses Kafka geht?«31 25 | Sauvat 1995, S. 99. 26 | Avery 1968, S. 91. 27 | Vgl.: Johann 2003, S. 94ff.; S. 206ff.; S. 565ff. 28 | Best 1970. 29 | Best 1970, S. 741. 30 | Best 1970, S. 728f. Von einer »Rückkehr ins Leben« kann bei »Jakob von Gunten« allerdings keine Rede sein. 31 | Best 1970, S. 741.
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Die in dieser Frage noch einmal formulierte These Bests, in der Walsers Roman eine mittlere Position zwischen Wedekind und Kafka zukommt, hält einer näheren Überprüfung jedoch nicht stand. Dabei läge von den biographischen Fakten her eine Anregung Walsers durch Wedekind durchaus im Bereich des Möglichen. Best nennt in diesem Zusammenhang folgendes: Mine-Haha wurde 1901 erstmals gedruckt, und zwar in der Zeitschrift Die Insel […], zu deren Mitarbeitern Robert Walser gehörte. Vieles spricht dafür, dass Walser 1899 mit Franz Blei und den Gründern der Insel in München zusammentraf und bei dieser Gelegenheit noch andere diesem Forum verbundene Autoren kennenlernte. Unter ihnen R. A. Schröder, Eduard von Keyserling und Frank Wedekind. Eine erste Fassung von Mine-Haha wurde 1895 dem Abschluss nahegebracht, existierte bereits zu einer Zeit, als Wedekind zu Walsers Bekanntenkreis gehörte. Der Annahme, dass Robert Walser, dessen Roman Jakob von Gunten 1909 erschien, Wedekinds Erzählung Mine-Haha gekannt hat, kommt somit ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit zu, zumal die beiden Autoren in Bruno Cassirer damals sogar den gleichen Verleger hatten. 32 [Hervorhebungen im Original]
Wendet man sich nun, durch die belegbare Nähe der beiden Biographien neugierig gemacht,33 den Texten zu, so werden die Differenzen schon 32 | Best 1970, S. 729. 33 | Das Verhältnis Robert Walsers zu Frank Wedekind ist durchaus distanziert und zum Teil provokant gewesen. So heißt es in einem Mikrogrammtext von etwa 1926 zu einem Besuch Walsers bei Wedekind in München: »Wedekind, dieser bereits auf vorliegendem Blatte mehrfach Genannte, empfing mich mit, wie mir vorkam, geziemender Kühle, also mit einem Gemisch von Distanzierung und Freude, d.h. so, wie ein Großer einen Anfänger gelegentlich der Absolvierung eines Besuches in seine Wohnung hineinzubitten [Hervorhebung im Original] pflegt. ›Nehmen Sie bitte Platz.‹ Ich gehorchte. ›Rauchen Sie eine Zigarette?‹ Die Frage wurde bejaht. Er offerierte mir eine Parisienne, und während ich sie anzündete, fand Wedekind für passend, mein Äußeres einer selbstverständlich nur oberflächlichen Prüfung zu unterwerfen, was zur Folge hatte, dass er mir sehr offenherzig erklärte: ›Ihr Anzug gefällt mir. Wo kauften Sie ihn?‹ Ich gab Einkaufsort sowohl wie Preis trocken an. Was die Getrocknetheit meiner Stimme oder Stimmung betrifft, so wird man es begreiflich finden, wenn ich sage, dass mir Wedekind einen unglaublich[en] Respekt einflößte.« Walser 1990, S. 222. Offen provokativ verhielt sich Robert Walser
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nach Kurzem augenfällig. Es ist nicht nur der Unterschied zwischen einem fiktiven Tagebuchtext bei »Jakob von Gunten« und einem fiktiven Wedekind gegenüber während eines Weihnachtsfestes in Berlin. Bei Tilla Durieux heißt es dazu: »Im Jahre 1907, als Wedekind noch in Berlin war, bevor er nach München übersiedelte, erlebte ich ein tragikomisches Weihnachtsfest mit ihm. In meine kleine Bude hatte ich Wedekind, […], Kles […] und die beiden riesenlangen Brüder Walser eingeladen. Paul sorgte für Getränke, und so war es gegen Mitternacht schon recht munter geworden. Der Maler Karl Walser sah wie eine Sonnenblume aus, mit seinem flachen, breiten, von blondem Haar umrahmten Gesicht. Er vertrug viel, aber, wenn es zuviel wurde, verübte er mit lächelnd sturer Miene ganz still die tollsten Dinge, sekundiert von seinem Bruder Robert, dem Schriftsteller. Plötzlich kam Karl Walser an diesem Abend auf die Idee, mit Wedekind, seinem halben Landsmann, ›Hoselupfe‹ zu probieren. Das ist ein Schweizer Ringen, bei dem sich die Burschen am Hosenbund packen und versuchen, den Gegner auf die Erde zu werfen. Abgesehen davon, dass Wedekind keineswegs sportlich veranlagt war, betrachtete er diese Aufforderung als Entwürdigung und Hohn. Er lehnte schroff ab. Kles aber fand die Idee köstlich und ließ nicht ab, zu diesem Ringen zuzureden. Daraufhin wurde die Stimmung so drohend, dass Wedekind abrupt aufstand und […] die Wohnung verließ. Ich hatte nun genug, nahm meinen Mantel, um aus meinen eigenen vier Wänden und vor meinen rabiaten Gästen zu fliehen, doch kam es dabei zum allgemeinen Aufbruch. Die beiden langen Walser wollten wir, um sie unschädlich zu machen, in eine Droschke setzen. Waren sie jedoch von der einen Seite hineingestopft, stiegen sie beide zu der anderen Seite wieder aus, alles ohne ein Wort und ruhig lächelnd. Endlich gelang uns das schwere Werk, die Türen wurden fest zugehalten, der Kutscher trieb an und die Fuhre setzte sich in Gang. P.C. und ich strebten in die Potsdamer Straße zum Café Austria, wo wir Wedekind zu treffen hofften. Wir fanden ihn und hatten ihn gerade soweit versöhnt, dass er wieder ziemlich ruhig sein Bier trank, als die Drehtüre des Cafés die beiden Walser hereinzog, die sich nahe unserem Tisch niederließen und grinsend herüberstarrten. Wedekind klopfte sofort nervös den Kellner herbei, und trotz unserer Beschwichtigungsversuche bestand er darauf, aus dem Lokal zu verschwinden. Als er an dem Tisch der beiden Walser vorbeiging, erhob sich der Schriftsteller und rief ihm freundlich grinsend zu: ›Schafskopf‹. Wedekind stürmte derart rasch zur Drehtüre hinaus, dass sie ihn wieder hereindrehte und er abermals vor dem Tisch der Walser zu stehen kam. Nun erhob sich der Maler freundlich und ruhig und lächelte ihm zu: ›Schafskopf‹. Diesmal gelang die Flucht aus dem Café. Die beiden langen Walser waren aber für immer in Ungnade gefallen.« Durieux 1971, S. 107f.
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Erinnerungsbericht einer alten Dame, nicht nur die Differenz der erzählten Zeit (über ein Jahrzehnt in »Mine-Haha«, mehrere Monate in »Jakob von Gunten«) sondern vor allem der eklatante Unterschied der Erzählperspektiven und -intentionen und die krass kontrastierende Spezifik des sprachlich-stilistischen Ausdrucks: •
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auf der einen Seite ein von differenzierten, teils höchst selbstironischen Dauerreflexionen und Traumprotokollen durchsetzter Bericht eines jungen Mannes, der sich selbst beim Abstieg in die »untern Regionen«34 des sozialen Lebens zusieht und dabei den exemplarischen Zusammenbruch einer Bildungsinstitution erlebt, bis hin zur Perspektive eines Lebens jenseits der kulturellen Konvention; auf der anderen Seite der voyeurhafte Bericht von der Zurichtung blutjunger Mädchen in kurzen weißen Kleidern durch Tanz, rhythmische Bewegung und Akrobatik in einer geschlossenen Parkanlage mit Springbrunnen und einem hell fließenden Bach, die beide hinreichend Gelegenheit für jene nymphenhafte Nacktheit geben, die später die Schaulust großstädtischer Zuschauer befriedigen soll.
»Das junge Weib« – so Otto F. Best – werde erzogen »zum schönen, grazilen Tier, zu dessen Pflichten es gehört, falls die Wahl es trifft […] im geheimnisvollen ›Theater‹ ein lüsternes Publikum mit erotischen Pantomimen zu unterhalten.« 35 Diese männerphantasieorientierte Konstruktion dient bei Best dem höheren Ziel, eine verloren gegangene Ganzheit wieder herzustellen: »Ordnung und Rhythmus sind oberstes Gesetz, das den Dualismus von Körper und Geist, Natur und Moral zu einer von Schönheit und ›Heiligkeit‹ (›heilig‹ verstanden als ›sündlos‹) bestimmten Ganzheit verklammert.«36 Wedekinds Erzählung wird bei Best auf diese Weise zu einem »sinnenfrohe[n], parabelhafte[n] Idealbild«37, das 34 | JvG, S. 145. 35 | Best 1970, S. 730. 36 | Best 1970, S. 730. Deutlich weniger ›heilig‹ und ›sündlos‹ nimmt sich Hanns von Gumppenberg Wedekinds »Mine-Haha« vor – in seinem parodistischen Gedicht »Mine haha succuba. Zur Erziehung der jungen Mädchen: »[…] Hebe dein Pilasterbein,/Tritt den Grabstein der Gesetze –/Doch in Höschen hüll’ es ein,/Dass die Hölle ganz dich schätze! […]«. 37 | Best 1970, S. 730.
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am Ende dem flachen bürgerlichen Alltag unterliegt. Als paradiesisches Gegenbild kommt ihm indirekt eine kritische Funktion zu; am Schluss seines Aufsatzes spricht Best sogar von Beiträgen »zu einer ›Erziehung des Menschengeschlechts‹«38 ex negativo. Ortrud Gutjahr geht in ihrem Aufsatz »Mit den Hüften denken lernen?« noch einen Schritt weiter: Für sie scheint »Mine-Haha« »wie kein anderer Text der Jahrhundertwende im Schnittpunkt dieser körperorientierten Reformmodelle, Gesellschaftsutopien, Alternativbewegungen und Emanzipationsbestrebungen verortet zu sein oder sie gar vorwegzunehmen.«39 Wedekinds »Modell eines Mädchenphilantropins« versuche »abseits der zivilisatorischen Verdichtung im Zuge der Urbanisierungsprozesse Enklaven und Kolonien der naturverbundenen Lebensführung zu errichten.« 40 Gegen diese die Tendenzen der damaligen Zeit umstandslos in Anspruch nehmende Interpretation lässt sich der Text Wedekinds selbst ins Feld führen: Seine Neigung zur Erotisierung des gesamten Ambientes des Mädcheninternats und seine Vorliebe für sanfte lesbische Szenen und für leichten Sadismus in der Schilderung der jungen Körper lässt zwar die Umrisse seines Zielpublikums erkennen; zugleich aber bleibt kein Zweifel daran, dass das letzte Ziel aller Ausbildung die Vernutzung in einer Reihe von Aufführungen vor einem gut zahlenden Publikum ist. Der Leser ist an der Vorbereitung dazu beteiligt; nolens volens wird er beispielsweise zum Voyeur von Szenen, in denen die Scham der jungen Frauen noch sichtbar wird, die aber aus den pantomimischen Arrangements auf der Bühne verbannt wird:
38 | Best 1970, S. 740. 39 | Gutjahr 2001, S. 38. 40 | Gutjahr 2001, S. 38. Im von Gutjahrs Text aufsteigenden Diskursnebel ist jene ›naturverbundene Lebensführung‹ allerdings schwer auszumachen: »Die überdeutlichen Einspielungen von körperzentrierten Epochendiskursen in den Text können also nicht als Zitationen eines Kontextes verstanden werden, durch den sich der kritische Aussagegehalt des Textes innerhalb eines Bewertungsspektrums von Affirmation oder Absage generieren ließe. Vielmehr baut die Erzählung in diesen überdeterminierten Bezügen und zugleich Durchkreuzungen ein Bedeutungsnetz auf, in dem sich die vertrauten Diskursformationen um ein neues Zentrum gruppieren, das selbst aus dem Diskurs herausfällt.« Gutjahr 2001, S. 40.
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Wir mussten uns entkleiden; welch ein sonderbares Gefühl! So sehr wir es unter uns gewohnt waren, einander nackt zu sehen, so hatte sich doch keine, seitdem sie im Park war, je vor Erwachsenen ohne Kleidung gezeigt. Viel machte es ja nicht aus, da beim Tanzen immer die Röcke in die Höhe flogen und wir, ohne uns zu genieren, auf den Händen gingen. Aber das sah man selber nicht, und es blieb immer das Empfinden der Kleidung zurück. Jetzt sah ich bei einer wie der anderen, während wir uns mitten im Saal entkleideten, wie sie rot im Gesicht wurde, mit den Augen zwinkerte und sich auf die Lippen biss. Auch der Schuhe und Strümpfe mussten wir uns so entledigen und jedes seine Habe dann auf den Diwan tragen. Dann wurde eine nach der anderen bei Namen aufgerufen. Als die Reihe an mich kam, sauste es mir vor den Ohren, und vor den Augen sah ich rote Flammen. Nachdem ich, die Hände eingestützt, die Ellbogen nach hinten, mit langsamen Schritten durch den Saal gegangen, musste ich einen Augenblick tanzen […]. 41
Ist die Zeit ausstellenswerter Jugendfrische vorbei, werden die jungen Frauen einer Reihe von Knaben zugeführt; einer von ihnen wird im Vorgriff »Freund und Beschützer«42 genannt, womit das Gewerbe erkennbar wird, das auf die nicht mehr öffentlich reizende Jugend wartet.43 Mit dieser Szene bricht die Erzählung ab – ein konsequenter Schluss, weil das Alter jedem Voyeurismus die Nahrung verweigert. Auch wenn man – wie Otto F. Best und Ortrud Gutjahr – geneigt ist, diesem ernüchternden Schluss eine kritische Distanz zu den vorherigen Schilderungen des Mädcheninternats zu attestieren – der Vergleich mit Walsers Internatsroman liegt in großer Ferne. Mit einer kulturkritisch gewendeten antibürgerlichen Feier des enthemmten Lebens junger Frauen hat Robert Walsers »Jakob von Gunten« ebenso wenig zu tun, wie mit den stilistischen Untiefen der erotischen Literatur seiner Zeit.
41 | Wedekind [1903] 1955, S. 33f. 42 | Wedekind [1903] 1955, S. 40. 43 | Zu Frank Wedekinds »Utopie einer ursprünglichen Sexualität« im Allgemeinen und zu seinem Text »Mine-Haha« vgl.: Fellner 2003, S. 16ff.
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E IN LITER ARISCHES N ACHBILD Anders verhält es sich mit einem Roman von Ernst Weiß, der neunzehn Jahre nach »Jakob von Gunten« erstmals erschien, damals unter dem Titel »Boëtius von Orlamünde«44 . Klaus Johann hat in seiner materialreichen Studie zur deutschsprachigen Internatsliteratur als erster und bisher einziger darauf aufmerksam gemacht, dass dies Buch »in einem eigentümlichen Verhältnis« zu »Jakob von Gunten« stehe: »Erzählhaltung und –perspektive« seien dem Roman von Walser ähnlich: »Der im Titel genannte Protagonist erzählt im Präsens über seinen Aufenthalt im Internat«.45 Zwar sei WeißϞ Roman nicht unmittelbar in Tagebuchform verfasst, vermittle aber – unter anderem durch Tagesdaten und genaue Datierungen – »einen vergleichbaren Eindruck«.46 Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die von Weiß virtuos gehandhabte Technik des Tempuswechsels, durch die das geschilderte Geschehen die Aktualität des eben Erlebten und Aufgezeichneten erhält: »Nicht ohne Grund nahm unser Zeremonienmeister […] neben dem geistlichen Hirten den ersten Platz ein. Das Exerzieren unter dem Kommando eines Präfekten dauert nur eine halbe Stunde am Tage.«47 Die im zweiten Satz genannte Form des Lernens als ein Exerzieren, bis hin zur Dressur, ist ein weiteres Element, das beiden Romanen gemeinsam ist. Anderes kommt hinzu: In beiden Fällen handelt es sich um ein Internat im Niedergang; deren Ende – jeweils nach wenigen Monaten erzählter Zeit – ist einmal die Schließung des Instituts nach dem Weggang der letzten Zöglinge (im »Jakob von Gunten«), zum Anderen ein Brand, der nichts von der üppigen Anlage des Internats übrig lässt (in »Boëtius von Orlamünde«). Die Protagonisten kommen in beiden Fällen aus dem Adel; die Familien sind entweder verarmt wie im Roman von Weiß, oder sie haben ihre soziale Dominanz verloren – so im »Jakob von Gunten«. Die beiden jugendlichen Helden nehmen im System der Schule und gegenüber den anderen Zöglingen eine Sonderstellung ein. Ihnen wird sogar ein eigenes Zimmer, anstatt eines Bettes im Schlafsaal zugewiesen. Beide haben eine freundschaftliche Beziehung mit deutlich 44 | Ab 1930 wurde der Roman unter dem Titel »Der Aristokrat« publiziert. 45 | Johann 2003, S. 565. 46 | Johann 2003, S. 565. 47 | Weiß [1928] 1969, S. 9.
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homoerotischen Zügen zu einem Mitzögling, der ihnen erkennbar unterlegen ist. Und beide sind einer Unterrichtspraxis ausgesetzt, die die formellen Regeln anständigen Verhaltens zum Hauptinhalt hat. Nun blickt er uns mit seinen slawischen Augen an, damit wir uns tief verbeugen. Nie tief genug. Keine königliche Hoheit hat so viel Verbeugungen von hohen Aristokraten entgegengenommen wie er. Er spielt so lange den Herrscher, bis wir den Herrscher in ihm sehen. Antworten, Schweigen, den Vortritt lassen, den Vortritt nehmen, Benehmen bei Tisch, Begrüßung und Abschied von Höherstehenden, Gleichgestellten, Domestiken, alle Feinheiten des aristokratischen Verkehrs, Körperhaltung, seelische Haltung, Selbstbeherrschung, Takt, Selbstverständlichkeit im Befehlen und vor allem stets Distanz wahren und sich seiner Stellung bewusst bleiben, sei sie hoch oder niedrig – das sind die Fächer, die er lehrt. Stunde für Stunde, bei den Mahlzeiten, selbst dann, wenn wir schlafen. 48
Diese Beschreibung – bis hin zu ihrem ironischen Abschluss – findet sich im Roman von Ernst Weiß. Für sie lassen sich im »Jakob von Gunten« ohne Mühe etliche Parallelen finden: Der Gruß, das Eintreten in eine Stube, das Benehmen gegenüber Frauen oder ähnliches wird geübt, und zwar sehr langfädig, oft langweilig, aber auch hier, wie ich jetzt merke und empfinde, steckt ein tiefverborgener Sinn. 49 Wir müssen eintreten, grüßen, uns verneigen, sprechen, eingebildete Geschäfte oder Aufträge erledigen, Bestellungen ausrichten, dann plötzlich sitzen wir bei Tisch und essen auf hauptstädtische Manier, und Diener bedienen uns. 50
Blickt man zurück auf die Schilderung der Alltagspraxis der Dienerschule Manthei in Schweriners Reportage,51 so wirken die Passagen in dem Roman, als habe der journalistische Text für sie das Modell geliefert. Die pädagogischen Institute, in denen Boëtius und Jakob leben, verfolgen allerdings höchst unterschiedliche Absichten: Während das »Ins-
48 | Weiß [1928] 1969, S. 9f. 49 | JvG, S. 63. 50 | JvG, S. 110. 51 | Vgl.: »Vermutungen« in dieser Arbeit.
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titut Benjamenta«52 die Dieneranwärter instruiert, damit sie in Zukunft für eine Herrschaft brauchbar seien, hält das Internat in WeißϞ Roman an einer standesgemäßen Erziehung der jungen Adligen fest. Jakob von Guntens Eintritt in die Dienerschule ist motiviert von dem irritierenden Wunsch, etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im Leben zu werden, während Boëtius sich im Umkreis des Adels zu bewähren sucht – höchst eindrucksvoll geschildert in einer Szene, in der er den allgemein geltenden Modus der Dressur an einem widersetzlichen Pferd zur Anwendung bringt. Vom Ende her gesehen, sind beide Helden jedoch erfolgreich in der Aufgabe ihrer angestammten Privilegien. Jakob wird zum dienenden Knappen des zum Ritter avancierten Institutsleiters Benjamenta53; Boëtius wird Fabrikarbeiter und findet in der schweren Arbeit in einer Turbinenhalle eine neue, angstfreie und stabile Identität: Wir sind Werkzeugmaschinen aus Eisen und solche aus Fleisch und Blut und erzeugen Werkzeugmaschinen. Ich habe jetzt vor dem Stillestehen und vor einem Sturz in den Abgrund des unausweichlich Wirklichen ebensowenig Angst, wie ein Sternbild sich vor seiner Bewegung ängstigt. 54 52 | Dies ist der Name der Dienerschule, der der Held des Romans, Jakob, zu Beginn beitritt und die er am Ende verlassen wird. Über die Herkunft des Namens »Benjamenta« gibt es wenig Aufschluss. Wahrscheinlich ist, dass er zurückgeht auf den Bieler Familiennamen »Pagnamenta« Vgl.: Echte 2008, S. 248. Im Roman wird das Institut in einem Theaterstück, das die Zöglinge aufführen, in banalisierender Absicht »Bagnamenta« genannt: ein Hinweis dafür, dass Echtes Vermutung zutreffen könnte. JvG, S. 113. Bislang unveröffentlichte Notizen eines Gesprächs zwischen dem Walser-Herausgeber Jochen Greven und Prof. Dr. Roland Kuhn, dem ehemaligen Psychiater und Chefarzt der kantonalen thurgauischen Nervenheilanstalt in Münsterlingen, dessen Mutter Robert Walser gekannt hatte, legen etwas anderes nahe: Aus Erzählungen seiner Schwester berichtet Kuhn, dass es in der Anstalt Münsingen einen schizophrenen Patienten mit Namen »Bajamenta« gegeben habe. Die Familie des Patienten war in Biel ansässig und es umgab sie etwas »Geheimes« – vielleicht handelte es sich, so Kuhn, um italienische Flüchtlinge. Kuhn hält es weiter für möglich, dass dieser Patient als Vorbild für den Vorsteher und das gleichnamige Institut im »Jakob von Gunten« gedient hat. Greven 1997, S. 2. 53 | Vgl.: JvG, S. 163. 54 | Weiß [1928] 1969, S. 187.
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Solche Parallelen sind mehr als erstaunlich; stößt man auf sie, gelangt man zu der Frage, ob auch auf der Ebene der Textgenese bei Weiß und beim Vergleich der beiden Schriftstellerbiographien ein Einfluss nachweisbar ist. In einem strengen Sinn ist das nicht möglich. Es gibt jedoch einen Umstand, der darauf hindeutet, dass Ernst Weiß den Roman von Walser gekannt hat: seine langjährige Freundschaft mit Franz Kafka. Diese Beziehung beginnt im Juni 1913; Ernst WeißϞ 1923 erschienener Roman »Die Feuerprobe« gehört zu den letzten von Kafka gelesenen Büchern. Kafka starb im Juni 1924. Es ist schwer vorstellbar, dass Weiß die Wertschätzung, die Kafka den Büchern Walsers entgegenbrachte, verborgen geblieben ist. Sie konnte – wie Max Brod unter Nennung des »Jakob von Gunten« mitgeteilt hat – so enthusiastisch sein, dass Kafka sie nicht für sich zu behalten vermochte: Manchmal kam er unerwartet in meine Wohnung gestürzt, nur weil er etwas Neues, Großartiges gefunden hatte. So ging es mit Walsers Roman-Tagebuch Jakob von Gunten, so mit kleineren Prosastücken Walsers, den er ungemein liebte. Ich erinnere mich, wie er Walsers Skizze Gebirgshallen […] mit ungeheurer Lustigkeit, entzückt, ja geradezu saftig vortrug. Ich war allein mit ihm, aber er las wie vor einem Publikum von Hunderten. Er unterbrach manchmal: »Jetzt aber höre mal, was nun kommt.« 55 [Hervorhebungen im Original]
Ein Publikum von Hunderten hat Robert Walser kaum je gehabt, erst recht nicht in den Jahren nach 1909. Aber er hatte in Kafka einen entflammten Leser. Sollte es diesem gelungen sein, Ernst Weiß mit seiner Wertschätzung anzustecken, so läge die Vermutung nahe, dass »Jakob von Gunten« als Vorbild für Weiß »Boëtius« in Frage kommt. »Boëtius« wäre dann ein Nachbild im Sinne der optischen Erscheinung eines vergangenen Eindrucks auf der Netzhaut. Damit wäre für Walsers Roman ein Wunsch aus dem Bleistiftgebiet wahr geworden »O, wenn ich doch auch verloren gehen und nach so und so viel Zeit wieder zum Vorschein kommen könnte. Das wäre so schön. Ich würde so etwas einfach für einzig halten.«56
55 | Kerr 1978, S. 85f. 56 | Walser 1985, S. 273.
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D AS TIMBRE DES › HERRSCHAF TLICHEN D IENERS ‹ Neben kaum bestimmbaren literarischen Vorbildern, mittelbar erschließbaren Motiven aus der Biographie und nur wenigen überlieferten Fakten gibt es im Falle des »Jakob von Gunten« eine merkwürdige, mittlerweile schwer zugängliche Textsorte, die herangezogen werden kann, um das Umfeld des Textes auszuleuchten. Es handelt sich um Schriften für den Gebrauch in Dienerschulen bzw. für das Selbststudium des angehenden Dieners. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch in der Schule, die Walser besucht hat, ein solcher Leitfaden zum Selbststudium verwendet wurde. Wie erwähnt, hat Bernhard Echte eine dieser Schriften als ein mögliches Pendant zu dem im Roman verwendeten Büchlein »Was bezweckt BenjamentaϞs Knabenschule?« genannt. Es ist dies G. Mantheis »Der herrschaftliche Diener«, erschienen um 1900. Diese Broschüre hat zumindest eine zweite Auflage erlebt. Die drei weiteren im Folgenden herangezogenen Lehrbüchlein dürften über die Anfangsauflage kaum hinausgekommen sein. Als unmittelbare Vorlagen für das genannte Romanrequisit kommen alle vier kaum in Frage57 – eines schon deshalb nicht, weil es frühestens 1913, also nach dem Roman von Walser, erschienen ist. Gleichwohl ist es nicht unwahrscheinlich, dass das in ihnen vernehmbare, erstaunlich homogene Timbre bestimmte stilistische Vorlieben bei Walser stimuliert hat. Vergleicht man die zu Heftchen oder Büchlein gebundenen Dienerschulen miteinander, so fällt zunächst auf, dass sich der formelle Ton, in dem die Vorschriften für das Verhalten des Dieners abgefasst sind, stark ähnelt – bis in die Formulierungen hinein. Heißt es bei Orandt »Den Damen des Hauses, namentlich der gnädigen Frau gegenüber, hat sich der Diener stets eines gewandten Wesens zu befleißigen«58, so findet sich bei Manthei: »Es sei hier noch erwähnt, dass sich der Diener der Hausfrau gegenüber eines ganz besonders gewandten Wesens befleißigen muss.«59 Auf die Ausgangsfrage, was ein junger Mann, »der sich dem Dienerfache widmen will«, vor allem zu bedenken habe, postuliert Freuthal: »[…] ob sich sein Charakter und sein Temperament dazu eignen, allen Anforde57 | Auf der Ebene des Textvergleiches gibt es jedenfalls dafür keinerlei Anhaltspunkte. 58 | Orandt 1885, S. 5. 59 | Manthei [um 1900], S. 4.
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rungen, die an ihn gestellt werden, gerecht zu werden.«60 Bei Manthei heißt es dazu: »Derselbe muss bedenken, ob sich sein Charakter auch eignet, den Anforderungen, welche der Dienerberuf an ihn stellt, in jeder Hinsicht gerecht zu werden, da an ihn viele Ansprüche gestellt werden, er muss z.B. unverdrossen, treu, ehrlich, fleißig, willig, schweigsam sein […]«.61 Diese Liste von Adjektiven wandelt Freuthal nur geringfügig ab. Abbildung 6: Titelblatt zu: »Der herrschaftliche Diener wie er sein soll. Eine Selbstinstruktion« von J. Orandt von 1885
Solche Ähnlichkeiten finden sich auch in den Anweisungen für das Verhalten in konkreten Situationen, zum Beispiel beim Grüßen einer dem Diener bekannten Herrschaft auf der Straße. Freuthal schreibt vor: »Der Diener hat die zu begrüßende Person anzusehen, die Kopfbedeckung schnell abzunehmen, und zwar mit der Hand, welche der Herrschaft abgewandt ist. Die Kopf bedeckung muss dann so gehalten werden, dass sie 60 | Freuthal [1913], S. 9. 61 | Manthei [um 1900], S. 3.
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mit der Innenseite gegen die Brust liegt.«62 Bei Manthei heißt es dazu: »Begegnet der Diener seiner oder einer ihm bekannten Herrschaft auf der Straße, so hat er die Kopfbedeckung abzunehmen, dieselbe muss mit derjenigen Hand angefasst werden, welche der Herrschaft abgewandt ist, das Futter der Kopf bedeckung muss nach innen gewendet sein und kann bei der Begrüßung eine kleine Verbeugung gemacht werden [sic!].«63 Abbildung 7: Anleitung zum Serviettenbrechen in S. Freuthals »Die Dienerschule« [1913]
Was für solche Details gilt, gilt auch für das Inventar der Themen. In welcher Abfolge auch immer, die Bestandteile bleiben sich nahezu gleich. Erörtert werden: • das äußere Erscheinungsbild des Dieners; • der Tagesablauf vom Aufstehen des Dieners etwa eine Stunde vor dem der Herrschaft bis zur letzten Frage am Abend, ob die Herrschaft noch einen Befehl habe; 62 | Freuthal [1913], S. 11. 63 | Manthei [um 1900], S. 4.
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die Hilfe beim Ankleiden; das Decken des Tisches und das Servieren; das Verhalten auf Reisen; die Pflege der Gegenstände und das Reinigen der Zimmer; das Führen eines Tagebuches und eines Kassenbuches.
Besondere Aufmerksamkeit richten die Autoren auf die korrekte Aussprache bei der Benennung der Weine, die es richtig zu »frappieren« (gemeint ist temperieren) gilt, auf das Tranchieren des Fleisches sowie auf das Serviettenbrechen. Letzteres nimmt bei Freuthal nicht weniger als siebzehn Seiten in Anspruch, während für das Tranchieren auf »ein einziges Mittel« verwiesen wird: »[…] es sich in der Küche zeigen zu lassen«, dies allerdings nicht, ohne abschließende Mahnung: »[…] namentlich muss man sich dabei sehr in acht nehmen, sich nicht selbst zu schneiden.«64 Versucht man nun, den Romantext als einen Resonanzraum aufzufassen, in dem die Tonlage dieser kleinen Lehrbücher vernehmbar wird – wie gebrochen auch immer – so findet sich als erstes die dem Katechismus entlehnte Struktur von Frage und werthaltiger Antwort. Deren Anspruch ist, nicht nur zur Kenntnis genommen zu werden; es gilt vielmehr, sie auswendig zu lernen, sie sich wörtlich einzuprägen. Schon der zweite Satz des »Jakob von Gunten« verwendet dies Verb: »Der Unterricht, den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld und Gehorsam einzuprägen«65. Das ist – was den theoretischen Teil des Unterrichts in der Dienerschule angeht – im wortwörtlichen Sinn zu verstehen; die Lehren der Schrift »Was bezweckt BenjamentaϞs Knabenschule?«66 sind auswendig zu lernen; während es Jakob leicht fällt, hat der ihm liebste seiner Mitschüler Kraus damit deutlich mehr Mühe:
64 | Freuthal [1913], S. 117f. 65 | JvG, S. 7. 66 | JvG, S. 8.
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Auswendiglernen, das ist eine unserer Hauptaufgaben. Ich lerne sehr leicht auswendig, Kraus sehr schwer, daher ist er immer am Lernen. Die Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat, sind das Geheimnis seines Fleißes und dessen Lösung. Er hat ein schwerfälliges Gedächtnis, und doch prägt er sich, wenn auch mit vieler Mühe, alles fest ein. Das, was er weiß, ist dann in seinem Kopf sozusagen in Metall graviert, und er kann es nicht wieder vergessen. 67
Den Autor Freuthal hätte das bei seinen Lesern gefreut, denn in seiner »Anleitung zum Lernen nach diesem Buche« verfügt er: »Es genügt nicht, dieses Buch durchzulesen, sondern der Inhalt muss wörtlich eingeprägt werden.«68 Jakob von Gunten akzeptiert das Auswendiglernen nicht nur; er begreift diese repetitive Weise des Lernens als Teil einer ›großen Welt mit eigener Würde‹: »Wenig lernen! Immer wieder dasselbe! Nach und nach fange auch ich an, zu begreifen, was für eine große Welt hinter diesen Worten verborgen ist. Etwas sich in der Tat fest, fest einprägen, für immer! Ich sehe ein, wie wichtig, vor allen Dingen, wie gut und wie würdig das ist.«69 Sieht er es wieder einmal nicht ein – und das geschieht des Öfteren – versucht Kraus, der »die Treue, der Diensteifer und das unauffällige, selbstlose Entgegenkommen Abbildung 8: selber«70 ist, ihn in den Umkreis der nützlichen Vorschriften des InTitelblatt von S. Freuthals stituts zurückzuholen. Auf Jakobs »Die Dienerschule« [1913]
67 | JvG, S. 62f. 68 | Freuthal [1913], gegenüber S. 6. 69 | JvG, S. 63. 70 | JvG, S. 49.
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provozierende Frage, ob er sich nicht auch von Zeit zu Zeit langweile, antwortet er, der wieder einmal in Benjamentas Lehrbuch liest, mit der ihm eigenen Bedächtigkeit: Langeweile? Du bist wohl nicht ganz gescheit, Jakob. Und erlaube mir, dir zu sagen, dass du ebenso naive wie sündhafte Fragen stellst. Wer wird sich in der Welt langweilen? Vielleicht du. Ich nicht, das sage ich dir. Ich lerne hier aus dem Buch auswendig. […] Man kann immer, wenn nicht nach außen, so doch wenigstens nach innen, ein wenig tätig sein, man kann murmeln, Jakob. […] Ich murmle und wiederhole immer Worte. Das ist gesund, kann ich dir sagen.71
Im Mittelteil dieser Rede bedient sich Kraus (fast als zitiere er) einer jener Sentenzen, die die fraglose Notwendigkeit andauernder nützlicher Tätigkeit vor Augen stellen: »Man kann immer […] ein wenig tätig sein«. Sätze wie diese beschreiben nicht nur ein nützliches Verhalten im Medium ständiger Arbeit; sie schreiben es vor, implizit oder explizit. Von solchen präskriptiven Sentenzen ist der Text des Romans nahezu durchwirkt, wenn auch bisweilen mit deutlich ironischen Untertönen: Es werden im Institut Benjamenta keine Essreste auf den Tellern geduldet.72 Wer stottert und Furcht zeigt, setzt sich der Verachtung unseres Fräuleins aus, aber klein sollen wir sein und wissen sollen wir es, genau wissen, dass wir nichts Großes sind.73 Lärm soll nicht vorkommen. Es darf nur gehuscht und geschlichen und nur im Flüstertone gesprochen werden.74 In unserem Lehrbuch: »Was bezweckt die Knabenschule« heißt es auf Seite acht: »Das gute Betragen ist ein blühender Garten.« […] Führt sich einer von uns schlecht auf, so wandelt er wie von selber in einer garstigen, finstern Hölle. Hält er sich aber
71 | JvG, S. 86. 72 | JvG, S. 30. 73 | JvG, S. 64. 74 | JvG, S. 71.
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brav, so geht er unwillkürlich zum Lohn zwischen schattigem, sonnenbetupftem Grün spazieren.75 Nasen von Zöglingen sollen stumpf und gestülpt erscheinen, so verlangen es die Vorschriften, die an alles denken, und in der Tat, unsere sämtlichen Riechwerkzeuge sind demütig und schamhaft gebogen. Sie sind wie von scharfen Messern kurzgehauen. Unsere Augen blicken stets ins gedankenvolle Leere, auch das will die Vorschrift. Eigentlich sollte man gar keine Augen haben, denn Augen sind frech und neugierig, und Frechheit und Neugierde sind von fast jedem gesunden Standpunkt aus verdammenswert.76 Es ist eine Freude. Das Dressierteste an uns ist aber doch der Mund, er ist stets gehorsam und devot zugekniffen.77 Unser Haar ist stets sauber und glatt gekämmt und gebürstet, und jeder hat sich einen geraden Scheitel in die Welt da oben auf dem Kopf einzuschneiden, einen Kanal in die tiefschwarze oder blonde Haar-Erde. So gehört sich’s. Scheitel sind nun einmal auch vorschriftsmäßig.78 Die Augen lachen so gern. Und den Augen Vorschriften zu machen, das ist zwar ganz gut möglich, aber doch ziemlich schwer. So zum Beispiel darf hier nicht geblinzelt werden, blinzeln ist spöttisch und daher zu vermeiden, aber man blinzelt halt doch manchmal. So ganz die Natur zu unterdrücken, das geht eben doch nicht. Und doch geht’s.79
Es ist vor allem die immer erneut verlangte Kontrolle unmittelbarer Reaktionen, die das Verhalten in den Grenzen der vom Diener verlangten kühlen instrumentellen Neutralität halten soll. Dazu dienliche Sollbestimmungen finden sich in den zum Selbststudium bestimmten Lehrschriften in großer Zahl.80 Sie gipfeln im wiederholten Gebot, sich zu 75 | JvG, S. 83f. 76 | JvG, S. 55. 77 | JvG, S. 56. 78 | JvG, S. 57. 79 | JvG, S. 103. 80 | Dass die Zeit solcher bis ins Einzelne gehender Normierung nicht ganz vorbei ist, geht aus einem Artikel hervor, den »Der Spiegel« 2009 veröffentlichte; in ihm
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jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit, die die Anwesenheit eines Dieners erfordert, so leise und unmerklich zu verhalten, daß sogar die Präsenz selbst unbemerkt bleiben kann, ein Grenzfall, der die Funktion des Dienens untergräbt, in dem »ein bescheidenes ›der Herr Baron befehlen?‹«81 unerlässlich wird, so die fast bedauernde Empfehlung des adligen Autors von »Der korrekte Diener«. In diesem recht erfolgreichen Heftlein wird sogar das Übersehenwerden in einem Ausmaß gerühmt, dass ein einziger Satz fast zur Paradoxie werden kann: »Wirklich gut geschulten Lakaien wird dieses ›Übersehenwerden‹ am allerersten passieren, was ihnen dann nur zum Lobe gereichen kann, denn je leiser ein Lakai sich zu bewegen weiß, um so besser ist der Eindruck, denn [sic!] er macht.« 82 wird die Ausbildung zum Butler im holländischen Zeist beschrieben, unter anderem so: »Lachmann kniet vor dem langen Festmahltisch, einen Meterstab in der Hand. Damit misst er die Abstände zwischen Tischkante und Teller, zwischen Teller und Messer und zwischen Messer und Gabel. Jeder Abstand ist millimetergenau vorgeschrieben und muss stimmen. Sonst ist Chief Butler Wennekes nicht zufrieden. ›Was ist falsch an diesen beiden Tellern?‹, fragt Wennekes den Butleranwärter. Lachmann rückt seine Brille zurecht und betrachtet die beiden Teller ganz genau, bis sie seine Nase fast berühren. Der Chief Butler hilft ihm. ›Die Verzierungen auf den Tellern schauen nicht in eine Richtung. Es muss eine Linie bestehen, der gedeckte Tisch muss zum Essen einladen. Sonst ist die ganze Arbeit umsonst.‹ ›Jawohl, Sir‹, sagt Lachmann. […] Dann klatscht der Chief Butler in die Hände, die neun Novizen ziehen ihre schneeweißen Handschuhe an, nehmen ein Tablett in die Hand, Wennekes klatscht noch einmal, die Reihe setzt sich in Bewegung. Die Gäste im Festsaal kichern, als die Anwärter einen Gang nach dem anderen servieren: Räucherlachs, Kartoffelcrème mit gebackenem Kalb, Limonensorbet mit Früchten, Rind mit Knoblauchbrot, Tiramisu mit Espressosirup. Alles ist genau vorgegeben. Wie der Anwärter den Deckel vom Teller hochheben muss, nach wie vielen Sekunden die Anwärter die Teller vom Tisch nehmen. Lachmann ist konzentriert, die Haltung gestreckt.« Back 2009, S. 2f. 81 | Heinrich [1900] 2007, S. 19. 82 | Heinrich [1900] 2007, S. 19f. Bei Krajewski heißt es zu diesem Paradox mit einem abschließenden Seitenblick auf die Quellenlage zur Geschichte der Subalternen: »Das Paradox der Bedienten, trotz ihrer andauernden Präsenz möglichst abwesend zu wirken, sich also ganz in den Dienst der Sache zu stellen, möglichst vollständig in ihren medialen Funktionen aufzugehen, um dabei so lautlos wie unsichtbar die an sie gerichteten Aufträge zu erledigen, verhindert
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Die hier gerühmte Unmerklichkeit 83 wird durch ein weit reichendes Berührungsverbot ergänzt. Abbildung 9: Photo in: Heinrich Prinz Reuß: »Der korrekte Diener« von 1900
eine größere Sichtbarkeit der Subalternen, auch in den Quellen.« Krajewski 2010, S. 245. 83 | Diese Unmerklichkeit und zugleich die Abwesenheit jedweder persönlichen Beteiligung wird vom Diener Modlizki in Hermann Ungars »Die Klasse« beinahe perfekt beherrscht: »Ich vermesse mich vielleicht nicht, wenn ich sage, dass ich ein guter Diener bin. […] Ich verstehe es, geräuschlos zu servieren. Mir ist der Ort jedes Kleidungsstückes und der Anlass, zu dem es getragen wird, bekannt. Es ist mir bekannt, welche Bestecke aufgelegt und aus welchen Gläsern die verschiedenen Getränke genossen werden. Der Wein wird verlässlich gehalten. Ich bin anwesend, wenn die Dame abends Klavier spielt. Ich höre, aber ich höre gewissermaßen nicht zu. Die Herrschaften hören zu und schwärmen. Ich bin Diener. Ich bitte mir aus, dass man von mir verlangt, dass ich mit schwärme. […] Dieses lehne ich ab. Meine Anwesenheit bei Klavierspiel, Gespräch, Mahlzeit und Reise ist beruflich. Ich lehne eine persönliche Teilnahme ab.« Ungar [1927] 1973, S. 46.
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Hierfür nur ein Beispiel samt Illustration: »Bringt der Lakai einen Brief, eine Zeitung oder dergleichen herein, so hat er sie auf einem Tablett zu präsentieren und nicht mit der Hand direkt zu überreichen.« 84 Dem Postulat kontaktloser Dienstleistung entspricht das strenge Verbot jeder die Herrschaft inkommodierenden Emotion. 85 So darf der Diener »[…] nie, auch nur durch Verziehung einer Miene seine Unzufriedenheit kund geben, […] besonders wenn er in Diensten eines nervösen Herrn ist.« 86 Auch Freuthal empfiehlt die Rückdämmung des Ausdrucks eigener Befindlichkeit vor allem für diejenigen Diener, deren Herrschaft zu Nervosität neigt, auch hier in dem von ihm bevorzugten Wechsel von Frage und Antwort: Was hat der Diener bei der persönlichen Bedienung seines Herrn zu beobachten? Der Diener hat seine Verrichtungen leise auszuführen, eine würdige Miene anzunehmen, und aufmerksam auf jeden Befehl seines Herrn zu hören. […] Er muss es besonders gut verstehen, sich zu beherrschen, wenn die Herrschaft nervös ist. Was ist Nervosität? Nervosität ist ein Zustand krankhafter Erregbarkeit, welcher sich gewöhnlich in einer reizbaren Stimmung äußert. Was hat der Diener zu tun, wenn der krankhafte Zustand des Nervösen zum Ausbruch kommt? Er hat darauf zu achten, dass der Kranke nicht noch mehr gereizt wird.
84 | Heinrich [1900] 2007, S. 20. 85 | Dass ein solches Verbot auch in anderen Ländern selbstverständlich war, geht unter anderem aus einem Motto hervor, mit dem Frank Victor Dawes sein Buch über das Dienerwesen in England einleitet: »›Do not smile at droll stories told in your presence, or seem in any way to notice, or enter into, the family conversation, or the talk at table, or with visitors…‹ (From Rules for the Manners of Servants in Good Families, 1901)«. Dawes [1933] 1993; hier vor allen Dingen S. 54ff. 86 | Manthei [um 1900], S. 3f.
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Wodurch kann er dies vermeiden? Durch freundliche Miene, leises Auftreten und Unverdrossenheit. […] Der Diener darf sich auch nie durch die wechselvollen Launen des Nervösen zu einem unzufriedenen Gesichtsausdruck verleiten lassen. 87
Für den Zustand der perfekten Affektkontrolle88 als Folge einer »vollkommenen Armut und Abhängigkeit«89 gibt es im »Jakob von Gunten« eine sich wiederholende Metapher – die vom zu erreichenden Zustand einer Null. So heißt es bereits am Ende der ersten Tagebucheintragung: »Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.«90 Als Jakob in seinem Tagebuch auf seinen Bruder Johann zu sprechen kommt, der in der Stadt als »ein namhaft bekannter Künstler«91 lebt und den zu besuchen er bisher vermieden hat, definiert er sich ihm gegenüber ein weiteres Mal als Null: »Was bin ich, und was ist er? Was ein Zögling des Institutes Benjamenta ist, das weiß ich, es liegt auf der Hand. Solch ein Zögling ist eine gute runde Null, weiter nichts.«92 Bei einem zufälligen Zusammentreffen mit Johann – »und zwar im dichtesten Menschengewimmel«93 – kommt Jakob diese Selbstdefinition aus dem Munde des Bruders entgegen: »Er sagte: ›Du bist jetzt sozusagen eine Null, bester Bruder. Aber wenn man jung ist, soll man auch eine Null sein, denn nichts ist so verderblich, wie das frühe, das allzufrühe
87 | Freuthal [1913], S. 25f. 88 | Der Kontext, in den dieser Begriff gehört, ist Norbert Elias’ Theorie zur Soziogenese der europäischen Zivilisation seit dem Mittelalter. In diesem Prozess vollzieht sich eine grundlegende »Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens«, in dem gesellschaftliche Zwänge zunehmend zum Selbstzwang der Subjekte werden. Die hierzu beitragende Kontrolle der Affekte wird in den Dienerschulen um 1900 zu einem Hauptinhalt der Ausbildung. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, sind es jedoch gerade die Affekte, die dies Modell des Lernens unterminieren und damit auch das Ziel der perfekten Selbstbeherrschung. Vgl.: Elias [1939] 1979, S. 312. 89 | JvG, S. 8. 90 | JvG, S. 8. 91 | JvG, S. 53. 92 | JvG, S. 53. 93 | JvG, S. 65.
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Irgendetwasbedeuten.«94 Der letzte Eintrag im Gesamttext schließlich berichtet knapp vom »Zusammenpacken, Abbrechen, Aufräumen, Auseinanderzerren, Schieben und Rücken«95 und davon, dass Jakob nichts hinterlassen werde, dass nichts ihn binde und verpflichte. Vor dem endgültigen Adieu, das er dem Institut Benjamenta zuruft, wird ein letztes Mal – und diesmal unter dem Vorzeichen möglichen Verderbens – die eigene Zukunft als die einer Null benannt: »Und wenn ich zerschelle und verderbe, was bricht und verdirbt dann? Eine Null. Ich einzelner Mensch bin nur eine Null.«96 Die Schriften zum Selbststudium des Dienerberufs kennen den Tenor solch nüchterner Hellsichtigkeit nicht. Sie sind getreue, distanzlose Abbilder jenes subalternen Verhaltens, das sie ihren Adepten empfehlen. Ihnen geht es um die Brauchbarkeit des zukünftigen Dienerpersonals, nicht um dessen armselige Zukunft.
E xkurs: »Hochwohlgeboren« und sein »gehorsamer Diener« – Der Brief des J. J. Orandt – Dass ihre Autoren selbst der Armseligkeit ganz nahe sein konnten, belegt ein Zufallsfund: In Orandts Schrift »Der herrschaftliche Diener wie er sein soll. Eine Selbstinstruktion.« fand sich ein zwei Seiten umfassender handgeschriebener Brief des Autors. Über dessen Leben und dessen sonstige Schriften (sein Brief deutet an, dass es sie gegeben hat) ließ sich bis zum Abschluss der Arbeit an dieser Untersuchung nichts ermitteln. Sicher ist nur, dass er männlichen Geschlechts war; anzunehmen ist, dass er die Kenntnisse zur Qualifikation als Diener nicht aus der eigenen Praxis, sondern von der Warte eines Bedienten aus erworben hat.
94 | JvG, S. 66. 95 | JvG, S. 164. 96 | JvG, S. 164.
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Abbildung 10: Brief J. J. Orandts vom 20. Juli 1885
Sein Schreiben ist ein Bettelbrief, gerichtet an einen Mann in offensichtlich höherer gesellschaftlicher Position. Sein Name wird nicht genannt; angesprochen wird er zu Beginn des Briefes mit »Hochzuverehrender Herr ! Hochwohlgeborener Herr !« Dem Duktus des Briefes97 haftet etwas Schematisches an; so wird die Selbstcharakterisierung des Schreibers ebenso wiederholt wie die jeweils 97 | Einige Unsicherheiten bei der Transkription bleiben wegen des schlechten Erhaltungszustands des Originals.
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nachfolgende, auf das Mitleid des Lesers abzielende Erläuterung – diese allerdings in kleinen Varianten: Beide Male spricht Orandt von sich als einem »armen schwachen Mann«, »dem es früher sehr wohlging aber durch die Wucht der Verhältnisse in eine traurige Lage gekommen« sei, so im ersten Teil des Briefes. Danach ist dann nur von ›unglücklichen Verhältnissen‹ beziehungsweise von ›diesen Verhältnissen‹ die Rede. Die verbale Unterwürfigkeit des Briefes richtet sich darauf, vom Adressaten den Betrag von einer Mark zu erhalten; sie greift am Ende sogar zur Schilderung einer bevorstehenden Notlage, die zu Ende des Monats eintreten könne, wenn »die Miethe für bescheidene Wohnung« fällig sei und die Wegnahme der letzten Möbel durch die harten »Berliner Hauswirthe« drohe.
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Hier die Transkription zum Faksimile mit Zeilenbrechung: Berlin den 20. July 1885 Hochzuverehrender Herr ! Hochwohlgeborener Herr ! Euer Hochwohlgeboren wollen hochgeneigtest verzeihen daß ich mir erlaube Ihnen beigehend unter Kreuzband 1 Exemplar einer von mir verfaßten kleinen Schrift: »Der herrschaftliche Diener wie er sein soll« zur geneigten Einsicht zuzusenden. Ich bin ein armer schwacher Mann und da ich schon seit längerer Zeit ohne Erwerb bin und es mir deshalb sehr traurig geht, so möchte ich mir nun erlauben Euer Hochwohlgeboren herzlich zu bitten, mir doch dieses Exemplar für den Preis von 50 Kopeken (1 Mark) abzukaufen und mir den Betrag zusenden. Euer Hochwohlgeboren würden damit einem armen schwachen Mann dem es früher sehr wohlging aber durch die Wucht der Verhältnisse in eine traurige Lage gekommen, eine Wohlthat erweisen [.] Meine Voreltern hatten große Besitzungen in Lifland, die mein Vater durch unglückliche Verhältnisse verloren hat und seitdem friste ich mein Leben durch den dürftigen Ertrag meiner Feder weil ich mein in Deutschland begonnenes Studium deshalb aufgeben mußte. Wenn nun Euer Hochwohlgeboren die Güte hätten mir 1 Exemplar für den Preis von 50 Kopeken abzukaufen und hätten die Güte und mir den kleinen Betrag zu senden, so würden Sie damit einem armen schwachen Mann, dem es früher sehr wohlging aber durch Verhältnisse in eine traurige Lage gekommen, eine Wohlthat erweisen. (unleserlich) Am 1[.] August d.J. habe ich einen schweren Tag da die Miethe für bescheidene Wohnung zu bezahlen und Berliner Hauswirthe hart sind und dem Miether
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das letzte Stück Möbel fortnehmen. Vielleicht hätten Euer Hochwohlgeboren die Güte mir den Betrag zu diesem Tage zu senden. Mit der herzlichsten Bitte um Verzeihung zeichnet Euer Hochwohlgeboren gehorsamer Diener J.J. Orandt Privatgelehrter Steinmetzstraße 30 Graf im Keller (Seitlich:) Adresse: Steinmetzstraße 30 Graf im Keller J.J. Orandt Privatgelehrter Der ›arme schwache Mann‹, als den sich Orandt darstellt, ist allerdings nur die Endgestalt eines sozialen Abstiegs; auch das teilt der Brief mit, wenn auch in allgemeinen, nebulös erscheinenden Formulierungen: Die »Voreltern« sollen »große Besitzungen in Lifland« gehabt haben, die der Vater durch die genannten ›unglücklichen Verhältnisse‹ verloren habe. In der Folge habe dann der Sohn sein »in Deutschland begonnenes Studium« aufgeben müssen und friste jetzt sein »Leben durch den dürftigen Ertrag« seiner Feder. In der Figur des Schreibers, so wie sie von ihm selbst skizziert wird, ist mithin die höhere soziale Position der Vergangenheit ebenso erkennbar wie das dringliche Elend der aktuellen Lage. Dies Zwitterhafte gewinnt in der abschließenden Grußformel Gestalt: Der da »zeichnet« ist »euer Hochwohlgeboren gehorsamer Diener J. J. Orandt Privatgelehrter Steinmetzstraße 30 Graf im Keller«. Die Nähe zu den bereits erwähnten Grußformeln in Briefen Robert Walsers liegt auf der Hand – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Orandts Brief hat nichts von Walsers souveräner Ironie; er bleibt ein Ausdruck sozialen Elends – wie glaubwürdig auch immer dieser »Graf im Keller« erscheinen mag.
D IE » KUGELRUNDE N ULL« ALS M E TAPHER DES W IDERSPRUCHS Insgesamt erscheint der Einfluss der Anleitungen zum Dienerberuf auf Walsers Roman begrenzt. Gleichwohl ist in ihnen jener Originalton des sich Bescheidens und der gelernten Demut vernehmbar, auf den Walser
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in und mit seinem Text geantwortet hat – spielerisch und oft mit halb ironischer, mimetischer Lust. Die Intention seines Textes und seines Protagonisten ist damit allerdings noch nicht in den Blick gerückt. Sie beginnt sichtbar zu werden, sobald man sich einer für dies Buch zentralen Metapher näher zuwendet. Die metaphorische Rede von der Null ist im Blick auf die mathematische Funktion dieser Zahl höchst eindrucksvoll; als Beschreibung der Idealform des Dienens könnte sie kaum präziser sein. Die Null ist zwar – wie die Figur des Dieners auch – reell, eine reelle Zahl, aber zugleich die einzige, die weder positiv noch negativ ist. Dies entspricht exakt der Erwartung emotionaler Abstinenz beim Diener. Auch bei der Operation des Addierens ist die Null ein neutrales Element; als solches entspricht der Diener der Erwartung seiner Herrschaft. Und doch geht die »kugelrunde Null«98 im »Jakob von Gunten«, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, nicht in ihrer dienenden Funktion auf. Nimmt man die Definitionsformel aus dem Bereich der Mathematik ernst, die die Null als die ›Mächtigkeit der leeren Menge‹ benennt, so lässt sie sich in Bezug auf den Roman ihrerseits als eine Metapher des Widerspruchs lesen. So aufgefasst ist das von Jakob angestrebte Ziel alles andere als ein sich Bescheiden in der eigenen Machtlosigkeit.
98 | JvG, S. 8.
Der Roman von 1909: Experimentelle Selbsterziehung und erotischer Eigensinn
Beim Eintritt in die Dienerschule wird Jakob von Gunten aufgefordert, seinen Lebenslauf zu verfassen. Wie die Handreichungen zum Selbststudium der angehenden Diener gezeigt haben, fungiert der Text des Lebenslaufes als Grundlage für die Bewerbungen der Eleven nach Abschluss der Schule. Jakob drückt sich eine zeitlang vor der lästigen Aufgabe, liefert dann aber doch das Gewünschte. In seinem autobiographischen Abriss schildert er seine familiäre Herkunft und die Absicht, die er mit seinem ungewöhnlichen Berufswunsch verfolgt: Unterzeichneter, Jakob von Guten […] ist als Eleve in das Institut Benjamenta eingetreten, um sich die paar Kenntnisse anzueignen, die nötig sind, in irgend jemandes Dienste zu treten. Ebenderselbe macht sich durchaus vom Leben keine Hoffnungen. […] Die von Gunten sind ein altes Geschlecht. In früheren Zeiten waren sie Krieger, aber die Rauflust hat nachgelassen, und heute sind sie Großräte und Handelsleute, und der Jüngste des Hauses, Gegenstand dieses Berichtes, hat sich entschlossen, gänzlich von aller hochmütigen Tradition abzufallen. Er will, dass das Leben ihn erziehe, nicht erbliche oder irgend adlige Grundsätze.1
Dieser Plan, sich von einer Instanz namens Leben erziehen zu lassen, in die – wie schon der zweite Satz des Lebenslaufs zeigt – keine Hoffnung gesetzt wird, wird kurz danach als Projekt aktiver Selbsterziehung kenntlich: Nein, nie nehme ich je Hilfe (Geld) von den zärtlich verehrten Eltern an. Mein verletzter Stolz würde mich aufs Krankenlager werfen, und futsch wären die Träume 1 | JvG, S. 50f.
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von einer selbsterrungenen Lebenslaufbahn, vernichtet für immer diese mir in der Brust brennenden Selbsterziehungspläne. Das ist es ja: um mich quasi selbst zu erziehen, oder mich auf eine künftige Selbsterziehung vorzubereiten, deshalb bin ich Zögling dieses Institutes Benjamenta geworden, denn hier macht man sich auf irgend etwas Schweres und Düster-Daherkommendes gefasst. 2
Führt man sich vor Augen, was hier von einem jungen Mann geplant wird, der es ›von Hause aus‹ nicht nötig hätte, wird eine erste Paradoxie sichtbar: die von eigenem Entschluss und Fremdbestimmtheit, von aktiver Einwirkung auf sich im Sinne der erwünschten Selbsterziehung und gewollter Passivität, von Autonomie und Heteronomie. Hier ist einer zielbewusst entschlossen, hinzunehmen, was man mit ihm vorhaben wird. Das pädagogische Paradox scheint einmal um die eigene Achse gedreht: Die Freiheit zu sich geht den Weg über ihr institutionalisiertes Gegenteil. Die Erfahrung, die hier gewollt wird, liegt in der Gegenrichtung all dessen, was als ihre Steigerung vorstellbar ist: Sie ist umso radikaler, als sie die Kontrolle über den Verlauf des Selbstexperiments von vornherein abgibt – an eine Institution, deren dubioser Charakter schon in der ersten Tagebucheintragung deutlich wird. Das Geld als formelles Mittel eines jeden gesellschaftlichen Spielraums wird Jakob von Gunten sofort abgenommen; einen Lehrplan gibt es nicht, und von Lehrern kann auch bei gutem Willen keine Rede sein. Kenntnisse werden uns keine beigebracht. Es fehlt […] an Lehrkräften das heißt die Herren Erzieher und Lehrer schlafen, oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert, gleichviel, jedenfalls hat man gar nichts von ihnen. 3 Entweder sind die Lehrer unseres Institutes gar nicht vorhanden, oder sie schlafen noch immer, oder sie scheinen ihren Beruf vergessen zu haben. Oder streiken sie vielleicht, weil man ihnen die Monatslöhne nicht ausbezahlt? Wunderliche Gefühle ergreifen mich, wenn ich an die armen Eingeschlummerten und Geistesabwesenden denke. Da sitzen sie nun, oder kauern an den Wänden eines extra für die Ruhebedürftigen eingerichteten Zimmers. 4
2 | JvG, S. 69. 3 | JvG, S. 9. 4 | JvG, S. 58.
Experimentelle Selbsterziehung und erotischer Eigensinn
Nimmt man diese für jede erzieherische Absicht katastrophale Situation in den Blick und konfrontiert sie mit dem Selbsterziehungswunsch des Romanhelden, so wird die (im normalen Leben unmögliche) ästhetisch gestiftete Radikalität des Selbstexperiments Jakobs deutlich. Sie gewinnt an Schärfe wenn man sie mit den Ansprüchen und Leistungen konfrontiert, die John Dewey dem Modus des Experimentierens zuschreibt. Bei Dewey wird Erfahrung als »Ergebnis des Experimentierens«5 aufgefasst, nicht als Resultat empfangener Eindrücke. Exemplifiziert wird dies – wie noch im Detail gezeigt werden wird 6 – anhand einer Alltagsbeobachtung, in der die Tätigkeit der Kinder nicht als bloßes Spiel, sondern als Arbeit an der eigenen Erkenntnis aufgefasst wird. Für eine aufgeklärte Schule bedeutet das, dass die Schüler in und von ihr in eine Welt »hineingestellt werden, in der die Möglichkeiten und Anreize zur Betätigung so ausgewählt sind, dass sie zum Lernen hinleiten.«7 Sobald die Einsicht praktisch wird, »dass es kein rechtes Erkennen und kein fruchtbares Verstehen gibt, das nicht aus dem Tun entspringt«8, geht die Erfahrung gleichsam in einen anderen Aggregatzustand über: »Erfahrung ist dann nicht mehr bloß empirisch, sondern wird experimentell.«9 Jakob von Guntens Selbstexperiment wird sich im Sinne dieses Satzes nicht nur auf die Erfahrung des Kleinseins richten, so als sei mit ihr ein definiertes Ziel zu erreichen; vielmehr wird die sich bewegende Erfahrung selbst immer erneut experimentell werden und als solche über sich hinausgehen. Dabei erweist sie sich als in hohem Masse von erotischen und sexuellen Motiven getragen.10 Sie reichen vom Interesse an vagen ho5 | Dewey [1916] 2010, S. 354. 6 | Vgl.: »Experiment und Erfahrung im Raum der ästhetischen Fiktion/Die Kunst als Schule der Aufmerksamkeit und der unbefangenen Moral bei Dewey« in dieser Arbeit. 7 | Dewey [1916] 2010, S. 358. 8 | Dewey [1916] 2010, S. 359. 9 | Dewey [1916] 2010, S. 361. 10 | Liest man »Tobold (II)« als einen Text, der auf der Schwelle zwischen autobiographischem Zeugnis und eigenständigem Prosatext steht, so findet sich eine Reihe an Passagen, in denen schon die Dienertätigkeit erotisch aufgeladen erscheint: »Als wir auf unserem Leiterwagen oder groben Lastfuhrwerk in den Schlosshof hineinfuhren (ich sah zum erstenmal in meinem Leben einen solchen, nämlich einen Schlosshof), sprang mit sehenswerter Behendigkeit und Geschicklichkeit
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moerotischen Tändeleien mit einigen Zöglingen des Instituts über den erotisch grundierten Dienst an einer leidenden hohen Frau, seiner Lehrerin, bis hin zum raffinierten und nicht ungefährlichen Wechselspiel zwischen masochistischen und sadistischen Provokationen gegenüber dem Institutsvorsteher Benjamenta. Entbunden wird darin – in unterschiedlicher Intensität – der Eigensinn des Erotischen und Sexuellen. Unter dem Vorzeichen eines die eigene Identität in den Blick nehmenden Selbstversuches entwickelt er Kräfte, die man jener Moral des Kleinseins11, von der in der Literatur zu Walser und zu seinem »Jakob von Gunten« so häufig die Rede ist, nicht zutrauen würde. Diesem Eigensinn wird in den folgenden Unterkapiteln nachgespürt. Es wird dabei zunächst um das Verhältnis des Romanhelden zu seinen Mitzöglingen gehen, dann um das zu Fräulein Benjamenta, seiner Lehrerin und im Anschluss daran um die Beziehung zu Herrn Benjamenta, dem Leiter des gleichnamigen Instituts.12 Betrachtet man die Zahl der die Mamsell oder Zofe vom Fuhrwerk herab und beeilte sich, auf einen jungen feinen Herrn in vornehmer grüner Jägertracht hinzuzuspringen, dem sie unter einem sehr graziösen, gewissermaßen altfranzösischen Knix und Huldigungskompliment flink und überaus zierlich die vornehm dargehaltene Hand küsste. Der Handkuss hatte für mich Schlossneuling etwas ebenso Verblüffendes als Erstaunliches. ›Sonderbare altertümliche Sitten hier‹, glaubte ich für mich murmeln zu müssen.« SW. Band 5, S. 228f. »Der Sekretär bat mich einmal, der Baronin H . . . [sic!] in seinem Namen ein Glas Zitronenlimonade aufs Zimmer zu bringen. Der zarte und schwierige Auftrag setzte mich in das freudigste Entzücken. Rasch und zugleich begreiflicherweise sehr feierlich trug ich das Getränk zu der schönen Frau, die mir wie aus lauter frischer Milch gebaut und geformt schien. Die Baronin H . . . [sic!] war in der Tat eine ungewöhnliche Schönheit, schlank und groß, aber gleichwohl weich und voll. Nietzsche sagt gewiss mit Recht, dass Frauen, die klein und unansehnlich von Figur sind, unmöglich schön sein können. Ich trat in das Gemach ein und überreichte der Baronin, die ich ganz einfach anbetete, die Limonade mit folgenden scheinbar entweder sehr vorsichtigen und gewählten oder äußerst unvorsichtigen und überschwenglichen Worten […]«. SW. Band 5, S. 242. 11 | Vgl. in dieser Arbeit die letzten Seiten des letzten Kapitels. 12 | Szenen mit erotischen und sexuellen Motiven im Sinne der Benennung eines Themas gibt es im »Jakob von Gunten« auch außerhalb des Ambientes der Dienerschule. Sie können in dieser Untersuchung unberücksichtigt bleiben; in ihnen ist wenig mehr am Werk als die Lust am reizenden Augenblick und am eigenen spiele-
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erotischen und sexuellen Motive und ihre Zuordnung zu der genannten Personengruppe beziehungsweise zu den einzelnen Personen, so ergibt sich folgende erstaunliche Verteilung: Je unwahrscheinlicher die Beziehung ist, um die Jakob von Gunten sich stets ohne wirklichen Eifer bemüht, umso häufiger und intensiver die erotisch-sexuellen Elemente im Text des erzählenden Ichs.
J AKOB UND DIE Z ÖGLINGE In Kapitel »Unzarter Griff und gouvernantenhaftes ›Huch‹/erste Blicke auf das Selbstexperiment in »Jakob von Gunten« wurde bereits auf jene Szene eingegangen, in der Tremala, einer der Zöglinge im Institut Benjamenta, einen sexuellen Übergriff auf Jakob unternimmt. Für einen Literaturkritiker des Jahres 1909 war deren Schilderung in hohem Masse anstößig. Im Kontext des Tagebuchs des Jakob von Gunten ist der unrischen Umgang mit ihm. Überdeutlich wird das in der Episode, die im »Restaurant mit Damenbedienung« spielt. Vgl.: JvG, S. 26. Jakob gerät in die Hände eines aus Polen stammenden Freudenmädchens, »schlank und geschmeidig und so entzückend sündhaft«. JvG, S. 27. Er wird nach allen Regeln der Animierkunst ausgenommen, verliert seine letzte kleine Geldreserve und genießt es – bis hin zum verbal nur leicht verschleierten Geschlechtsakt: »Und in der Tat: Was ist man für ein Halunke, wenn man, ohne Liebe und Schönheit zu empfinden, an Orte hingeht, wo nur das Entzücken entschuldigt, was die Liederlichkeit unternommen hat? Ich log ihr vor, dass ich Stallbursche sei. Sie sagte: ›O nein, dafür benimmst du dich viel zu schön. Sag’ mir guten Tag.‹ Und da tat ich ihr das, was man an solchen Orten guten Tag sagen nennt, das heißt sie setzte es mir lachend und scherzend und mich küssend auseinander, und da tat ich es.« JvG, S. 27. Dies Entzücken »ohne Liebe und Schönheit zu empfinden« gilt im »Jakob von Gunten« auch den beiläufigen Reizen, die die Großstadt bereithält: »Beine aus einem Rock hervorstechen zu sehen, hat etwas eigentümlich Anheimelndes. So ein weibliches Bein, straff bestrumpft, man sieht es nie, und nun sieht man es plötzlich.« JvG, S. 22. Zu diesen beiläufigen Reizen gehört ebenfalls eine kurze Begegnung mit einem Mädchen »in der Anlage, wo ich auf einer Bank sitze. Sie scheint Verkäuferin zu sein. Sie biegt jedesmal den Kopf nach mir um und sieht mich lang an. Sie schmachtet zu sehr. Übrigens hält sie mich für einen Herrn mit monatlichem Salär. Ich sehe so gut, nach etwas so Rechtem aus. Sie irrt sich, und ich ignoriere sie daher.« JvG, S. 112.
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erwartete und grobe Übergriff eher der besonderen Situation geschuldet: Es sind die an das andere Geschlecht gemahnenden Schürzen, in denen die Knaben am gemeinsamen Putztag übermütig werden, weil ihnen die Verpflichtung auf sexuelle Eindeutigkeit gelockert vorkommt. Zumindest ansatzweise vergleichbare Situationen gehörten und gehören bisweilen zum Alltag jeder pädagogischen Einrichtung. In den Schulund Internatsromanen vor und nach 1900 spielen sie keine geringe Rolle.13 In ihnen sind es nicht selten die jungen Männer mit mädchenhaften 13 | So finden sich in Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« Stellen wie diese: »Vorerst war es überhaupt nur die Nacktheit des schlanken Knabenkörpers gewesen, die ihn geblendet hatte.« Musil [1906] 2005, S. 155. »Das probate Mittel des Entkleidens machte, nachdem man die Türen verschlossen und Posten ausgestellt hatte, allgemeinen Spaß.« Musil [1906] 2005, S. 185. »Ein körperlicher Einfluss schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann.« Musil [1906] 2005, S. 132. »Als er ganz klein war, – ja, ja, da war’s, – als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging, hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese Sehnsucht saß nicht im Kopfe, – oh nein, – auch nicht im Herzen, – sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja es gab Augenblicke, wo er sich so lebhaft als ein kleines Mädchen fühlte, dass er glaubte, es könne gar nicht anders sein.« Musil [1906] 2005, S. 122. »Beineberg sprach völlig ernsthaft, mit verhaltener Erregung. Törleß hielt noch immer fast ununterbrochen die Augen geschlossen; er fühlte Beinebergs Atem zu sich herüberdringen und sog ihn wie ein beklemmendes Betäubungsmittel ein.« Musil [1906] 2005, S. 84. »Er hatte sich jetzt halb vom Fenster abgewandt und beobachtete Beineberg, der sich eine Zigarette drehte. […] Diese schmalen dunklen Hände, die eben geschickt den Tabak in das Papier rollten, waren doch eigentlich schön. Magere Finger, ovale, schön gewölbte Nägel: es lag eine gewisse Vornehmheit in ihnen. Auch in den dunkelbraunen Augen. Auch in der gestreckten Magerkeit des ganzen Körpers lag eine solche. Freilich, – die Ohren standen mächtig ab, das Gesicht war klein und unregelmäßig, und der Gesamteindruck des Kopfes erinnerte an den einer Fledermaus. Dennoch – das fühlte Törleß, indem er die Einzelheiten gegeneinander abwog, ganz deutlich – waren es nicht die hässlichen, sondern gerade die vorzüglicheren derselben, die ihn so eigentümlich beunruhigten.« Musil [1906] 2005, S. 26f. Vergleichbares findet sich – wenn auch wesentlich seltener – in Hermann Hesses »Unterm Rad«: »Langsam streckte Hermann Heilner seinen Arm aus, fasste Hans an der
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Zügen, in deren Gemeinschaft jene lockere und lockende Atmosphäre entsteht, in der es sich wegträumen lässt von den Regeln des Alltags und von den geltenden Normen des Verhaltens. Im »Jakob von Gunten« ist es in Andeutungen zunächst Heinrich, der »jüngste und kleinste unter uns Zöglingen«, von dem eine solche Wirkung ausgeht. Ihm gegenüber sei man – so Jakob – »unwillkürlich zärtlich gesinnt«. Seine Stimme sei »so dünn wie ein zartes Vogelgezwitscher« und man müsse »unbewusst den Arm um seine Schulter legen, wenn man mit ihm spazieren geht oder mit ihm spricht.«14 Wäre er ein Prinz, »ich würde der erste sein, der das Knie vor ihm beugte und ihm huldigte.« 15 Bleiben diese Beschreibungen noch ganz in den Stimmungen des Tagebuch schreibenden Ichs gefangen, so werden von Schacht schon Erfahrungen berichtet. Dies ›seltsame Wesen‹ bildet sich ein, »wundervoll Geige« spielen zu können, und Jakob glaubt ihm das, »wenn ich seine Hand anschaue«.16 Hinzu kommen plötzliche Wechsel der Emotionen; Lachen verwandelt sich in »schmachtende Melancholie, die ihm unglaublich gut zu Gesicht und Körperhaltung steht«,17 und so wechselt Jakob Schulter und zog ihn zu sich her, bis ihre Gesichter einander ganz nahe waren. Dann fühlte Hans plötzlich mit wunderlichem Schreck des andern Lippen seinen Mund berühren. Ihm schlug das Herz in einer ganz ungewohnten Beklemmung. Dies Beisammensein im dunkeln Dorment und dieser plötzliche Kuss war etwas Abenteuerliches, Neues, vielleicht Gefährliches; es fiel ihm ein, wie entsetzlich es gewesen wäre, dabei ertappt zu werden, denn ein sicheres Gefühl ließ ihn wissen, dass dies Küssen den andern noch viel lächerlicher und schandbarer vorkommen würde […]. Sagen konnte er nichts, aber das Blut stieg ihm mächtig zu Kopf […]. Ein Erwachsener, welcher die kleine Szene gesehen hätte, hätte vielleicht seine stille Freude an ihr gehabt, an der unbeholfen scheuen Zärtlichkeit einer schamhaften Freundschaftserklärung und an den beiden ernsthaften, schmalen Knabengesichtern, welche beide hübsch und verheissungsvoll waren, halb noch der Kindesanmut teilhaftig und halb schon vom scheuen, schönen Trotz der Jünglingszeit überflogen.« Hesse [1906] 1953, S. 230. »Beide frühreife Knaben kosteten in ihrer Freundschaft mit ahnungsvoller Scheu etwas von den zarten Geheimnissen einer ersten Liebe unwissend voraus.« Hesse [1906] 1953, S. 249. 14 | JvG, S. 10. 15 | JvG, S. 11. 16 | JvG, S. 13. 17 | JvG, S. 13.
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von der Introspektion zur Beobachtung und im nächsten Satz wieder zurück – von der äußeren Gestalt (»ganz weißes Gesicht und lange schmale Hände«) zur Vermutung eines »Seelenleiden[s] ohne Namen«.18 Instabile Namenlosigkeit und schwankende Identität als junger Mann: Da liegen die Vergleiche mit einem Wesen des anderen Geschlechts nahe, dem man unter Einnahme milder Drogen naheliegen möchte – selbst dann, wenn es gegen die »Vorschriften« ist: Er gleicht einem kränklichen, eigensinnigen Mädchen, er schmollt auch gern, was ihn einem jungen, etwas verzogenen weiblichen Wesen noch ähnlicher macht. Wir, ich und er, liegen oft zusammen in meiner Schlafkammer, auf dem Bett, in den Kleidern, ohne die Schuhe auszuziehen, und rauchen Zigaretten, was gegen die Vorschriften ist.19
Im genussvollen Bewusstsein des Vorschriftswidrigen träumen sich die beiden mit ihren erlebten und erst recht mit ihren erfundenen Geschichten aus ihrer Jetztzeit davon; die »enge, dunkle Kammer erweitert sich, es erscheinen Straßen, Säle, Städte, Schlösser, unbekannte Menschen und Landschaften, es donnert und lispelt, redet und weint usw.«20 Das abschließende »usw.« reicht, wie die nachfolgenden Sätze mitteilen, über die »feinsinnige Unzufriedenheit, das heißt die Sehnsucht nach etwas Schönem und Hohem« hinaus und hin zur Neugier auf das »nicht ganz anständige[s] Leiden«21 des Mitzöglings Schacht. Diese Neugier will zur Schaulust werden, wenn Jakob Schacht bittet, ihm »den Gegenstand der Erkrankung zu zeigen«, was Schacht – »ein wenig böse« geworden – verweigert; sie wird schließlich zum schüchternen Übergriff auf den anderen, unvergleichlich jenem, dem Jakob von Seiten des Tremala ausgesetzt sein wird, in seiner Zielrichtung aber ihm ähnlich: »Einmal wagte ich, seine Hand leise zu mir zu nehmen, doch er entzog sie mir wieder und sagte: ›Was machst du für Dummheiten? Lass das.‹«22 Das Zustandekommen der träumerisch zaghaften Nähe zwischen den beiden wird begünstigt durch die Schwäche der Institution, in der 18 | JvG, S. 13. 19 | JvG, S. 13. 20 | JvG, S. 14. 21 | JvG, S. 14. 22 | JvG, S. 14.
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sich alle Eleven befinden: »Wir Zöglinge des Instituts Benjamenta sind zu einem oft halbtagelangen seltsamen Müßiggang verurteilt. Wir kauern, sitzen, stehen oder liegen immer irgendwo.«23 In dieser Situation richtungs- und aufgabenloser Leere liegt der Verstoß gegen die Regeln der Institution nahe: »Ich und Schacht zünden in der Kammer zu unserem Vergnügen oft Kerzen an, das ist streng verboten. Aber gerade deshalb macht es uns Spaß, es zu tun. Vorschriften hin, Vorschriften her: Kerzen brennen so schön, so geheimnisvoll.«24 In ihrem Licht verklärt sich nicht nur das Gesicht des Kameraden Schacht, sondern auch die eigene subalterne Lage. Jakob gesteht, dass er sich im Kerzenschein vermögend vorkommt. Mehr noch: Die von ihm gewollte und im Institut eingeübte Rollenidentität tritt ihm von außen entgegen, als schicke er sich an, als reicher junger Mann auszugehen: »Wenn ich Kerzen brennen sehe, komme ich mir vermögend vor. Im nächsten Augenblick kommt immer der Diener und reicht mir den Pelz.«25 Der nächste Satz wischt den Spuk solchen Rollentausches als Unsinn weg, teilt aber zugleich mit, wie verführerisch er für Jakob ist: »Das ist Unsinn, aber dieser Unsinn hat einen hübschen Mund und lächelt.«26 Das homoerotisch getönte Tändeln mit der Gegenwelt unterwürfigen Dienens bleibt jedoch eine Episode. Als Schacht nach drei erfolglosen Tagen in der Stellung eines Dieners enttäuscht ins Institut zurückkehrt, hat Jakob in seinem Tagebuch wenig mehr als nachsichtigen Spott für ihn übrig: Armer Schacht. Er ist ein Kind, und er sollte in Melodien schwelgen und sich in gütige, weiche, sorgenlose Dinge betten können. Für ihn sollte es heimliches Plätschern und Vogelgezwitscher geben. […] Seine Augen sollten selig geschlossen bleiben dürfen, und Schacht sollte wieder ruhig einschlummern dürfen, wenn er des Morgens in den warmen, lüsternen Kissen erwachte. 27
Er prophezeit seinem Schulkameraden, er werde »im Krankenhaus verenden« oder »in einem von unsern modernen Gefängnissen schmach-
23 | JvG, S. 15. 24 | JvG, S. 15. 25 | JvG, S. 15. 26 | JvG, S. 15. 27 | JvG, S. 123.
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ten.«28 Von der früheren Nähe, auf dem Bett liegend und Zigaretten rauchend, ist nichts geblieben. Die Figur des Schacht und das Verhältnis Jakobs zu ihm, spielen bis zum Schluss des Romans keine nennenswerte Rolle mehr. Anders verhält es sich mit dem mühsam seine Lektionen memorierenden Kraus. In ihm erkennt Jakob das Idealbild, dem er mit seinem Versuch der Selbsterziehung zustrebt. Immer wieder preist er ihn als ein Vorbild diensteifriger Perfektion – manchmal auch in leicht ironischem Tonfall: Wer hebt das Fallengelassene vom Boden auf und reicht es eichhornhaft schnell dem Fräulein? Wer springt zum Haus hinaus auf Kommissionen? Wer trägt der Lehrerin die Markttasche nach? Wer scheuert die Treppe und Küche, ohne dass man es ihm hat befehlen müssen? Wer tut das alles und frägt nicht nach Dank? Wer ist so herrlich, so gewaltig in sich selbst froh? Wie heißt er? Ah, ich weiß es schon. 29
Im zwanzigsten Jahrhundert ist Kraus ein lebender Anachronismus: »Er gehört eigentlich ins Mittelalter, und es ist sehr schade, dass ihm kein zwölftes Jahrhundert zur Verfügung steht. Er ist die Treue, der Diensteifer und das unauffällige, selbstlose Entgegenkommen selber.«30 Vergleichbare Formeln, die die Identität des angehenden Dieners Kraus mit den von ihm verlangten Tugenden emphatisch preisen, finden sich im Buch immer wieder. KrausϞ unerschütterbare Fähigkeit, »der Selbstzucht so nah zu sein«31, mit seiner subalternen Rolle zu verschmelzen, in ihr »ein festes, gutes Ganzes«32 darzustellen, führt Jakob sogar dazu, ihn als »ein tiefes unauflösbares Rätsel«33 zu preisen, das Gott der Welt aufgegeben habe. In ihm sind die Widersprüche des Hohen und des Niedrigsten ebenso aufgehoben wie die zwischen beiden angesiedelte Figur des Dienenden: »Kraus ist ein echtes Gott-Werk, ein Nichts, ein Diener.« 34 In den
28 | JvG, S. 124. 29 | JvG, S. 49. 30 | JvG, S. 49. 31 | JvG, S. 80. 32 | JvG, S. 79. 33 | JvG, S. 81. 34 | JvG, S. 81.
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zwei nachfolgenden Sätzen steigern sich die Lobpreisungen des Kraus hin zu einer Paradoxie: Kraus, die Bescheidenheit selber, die Krone, der Palast der Demut, er will ja geringe Arbeiten verrichten, er kann’s und er will’s. Er hat nichts anderes im Sinn, als zu helfen, zu gehorchen und zu dienen, und das wird man gleich merken und wird ihn ausnutzen, und darin, dass man ihn ausnutzt, liegt eine so strahlende, von Güte und Helligkeit schimmernde, goldene, göttliche Gerechtigkeit. 35
Nach einigen weiteren Zeilen gipfelt Jakobs Begeisterung für die Figur des Kraus in einem Ausruf mit erotischem Unterton: »Reizend, reizend, dreimal reizend finde ich das.«36 Anders als in seinem Verhältnis zu Schacht gibt es keine intimen Situationen, in denen sich Kraus und Jakob näher kommen, kein gemeinsames Fabulieren einer anderen Welt, keine Neugier. Ein einziges Mal nur kommt es zu einem Liebesgeständnis – das allerdings nur dem Wortlaut nach und ohne Folgen. Die Szene spielt in der halbdunklen Schulstube; Kraus sitzt da, »von einem bräunlichen Lichtstrahl umflossen«. 37 Jakob hat gerade im Zimmer des Institutsleiters Herrn Benjamenta zugehört, der sich die Blöße gegeben hat, zu gestehen, er habe »eine seltsame, eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe«38 für ihn gewonnen. Dies Geständnis erschüttert nicht nur den »riesenhaft gebaute[n] Herr[n] Vorsteher« der »leise, leise zitterte«,39 sondern auch seinen Zögling. Es ist ein Moment vibrierenden Glücks, in dem in der Wahrnehmung Jakobs alles schwankt und zugleich alles möglich erscheint: Ich blieb lange stehen. Tatsächlich, lange stund ich so, denn ich konnte etwas, irgend etwas, nicht ganz begreifen. Es war mir, als sei ich zu Hause. Nein, es war mir, als sei ich noch nicht geboren, als schwämme ich in etwas Vor-Gebürtigem. Es wurde mir heiß und meerhaft-undeutlich vor Augen. 40
35 | JvG, S. 82. 36 | JvG, S. 82. 37 | JvG, S. 95. 38 | JvG, S. 94. 39 | JvG, S. 94. 40 | JvG, S. 95.
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In dieser Situation geht Jakob zu Kraus und macht ihm – so als gelte es im Gestehen fortzufahren – sein Geständnis: »Ich ging zu Kraus und sagte ihm: ›Du, Kraus, ich habe dich lieb.‹« 41 KrausϞ Reaktion ist harsch und vorhersehbar: »Er knurrte, was das für Redensarten seien. Rasch zog ich mich in meine Kammer zurück.«42 Angesichts der emotionsfreien Korrektheit des Kraus kann Nähe nur imaginiert werden, bis über die Schwelle leichten Ekels hinweg. Kraus hat sich beim Frisör infiziert mit einem »Kranz von rötlichen kleinen Pflanzen«43 im Gesicht, »kurz gesagt, Punkten, noch kürzer, und ganz unbarmherzig gesagt, Pickeln.«44 Jakob stört sich daran nicht: »Mich zum Beispiel würden die Punkte, die ihn verunzieren, nicht im mindesten hindern, ihn zu küssen, wenn es darauf ankäme.«45 Als es darauf ankommt, ganz am Ende, als Kraus das Institut Benjamenta verlässt, versucht Jakob zum zweiten und letzten Mal, sich Kraus zu nähern; ihm ist, als sei die Sonne geschwunden, »als wenn es von jetzt ab in der Welt und Umwelt nur noch Abend sein könnte.«46 Aber fast schon im Abgang, »indem er mir, beinahe ärgerlich darüber, dass er es tun musste, die Hand reichte« 47, hält Kraus ihm eine letzte Standpauke, wirft ihm noch einmal seine Unarten vor, seine Sorglosigkeit und seine »lächelnde[n] Trägheit«.48 Als Jakob ihn umarmen will, geht er. »Und ich wollte ihn umarmen. Doch er verhinderte das auf die einfachste Art der Welt, indem er sich rasch, und für immer, entfernte.«49 Damit verschwindet die Figur des Kraus aus der Romanhandlung in Richtung auf eine ihm angemessene Domestikentätigkeit und mit ihm auch die Figuration der homoerotischen Beziehung unter den gleichaltrigen Zöglingen. Im Prozess des bewussten Experimentierens des Jakob von Gunten mit sich selbst bleibt diese Variante der éducation sentimentale eher peripher. Die Nähe zur mädchenhaften Gestalt des Schacht 41 | JvG, S. 95. 42 | JvG, S. 95. 43 | JvG, S. 32. 44 | JvG, S. 32. 45 | JvG, S. 32. 46 | JvG, S. 153. 47 | JvG, S. 154. 48 | JvG, S. 154. 49 | JvG, S. 155.
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hinterlässt keine erkennbaren Spuren. Die libidinösen Züge in Jakobs Verhältnis zu Kraus berühren den Kern seines Interesses nicht; der liegt im Vorbildcharakter dieser Gestalt perfekter Unterordnung und Dienstfertigkeit.50 Wenn es hier erotische Komponenten gibt, dann in Form der masochistischen Subordination unter die Macht eines Ideals, das straft, indem es unerreichbar bleibt, nicht indem es handgreiflich wird: »Manchmal möchte ich von diesem Kraus gehauen sein. Aber Menschen wie er, wie könnten sie hauen. Kraus will nur Rechtes und Gutes. Das ist durchaus nicht übertrieben gesprochen. Er hat nie schlechte Absichten.«51 Das gleiche lässt sich – wenn auch mit gänzlich anderem Akzent – von der einzigen Frauenfigur sagen, die im »Jakob von Gunten« eine wirkliche Funktion hat.
J AKOB UND DAS F R ÄULEIN Ihr Name ist Lisa Benjamenta, und die Eleven nennen sie ›das Fräulein‹. Sie ist die Schwester des Institutsleiters Benjamenta und die einzige Lehrperson, die die Zöglinge im pädagogischen Alltag zu Gesicht bekommen. Jakob von Gunten wirft sich ihr bei der ersten Begegnung zu Füssen und fleht sie an, ihm ein eigenes Zimmer zu geben. Es ist dies nicht nur eine den ganzen Körper fordernde Geste der Unterwerfung, sondern zugleich ein kleiner erotischer Angriff, denn Jakob hält »die Beine der jungen Dame fest umschlungen«.52 Das Fräulein nimmt es mit einem Lächeln auf. Jakob bemerkt dies und es gibt ihm Anlass, noch etwas zudringlicher zu werden und zugleich seinen künftigen Gehorsam zu geloben: »Schon lächelte sie, ich merkte es, ich fügte daher rasch, mich noch fester an sie schmiegend, hinzu: ›Ich will brav sein, ich verspreche es Ihnen. Ich will
50 | Hier wird die Differenz zu vergleichbaren Internats- und Schulromanen der Zeit deutlich. Im »Jakob von Gunten« entfaltet sich das Spektrum sadistischer und masochistischer Affekte zwischen den Zöglingen nur im Ansatz, anders als etwa in Heinrich Manns Prosastück »Abdankung« von 1906, in dem die ganze Skala von libidinöser Machtausübung und Unterwerfung durchlaufen wird. Vgl. Mann [1906] 1963, S. 532ff. 51 | JvG, S. 49. 52 | JvG, S. 16.
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allen Ihren Befehlen zuvorkommen. Sie sollen sich nie, nie über mein Benehmen zu beklagen haben.‹«53 Dieses Zuviel an Nähe hat durchaus Erfolg; Jakob erhält sein eigenes Zimmer und die erhöhte Aufmerksamkeit seiner Lehrerin. Diese Aufmerksamkeit ist mehr als pädagogische Routine; sie ist eine Form hilfloser Zuwendung und kommt aus einem Kummer, den die Lehrerin immer weniger verbergen kann. Irritiert registriert Jakob seine Symptome: Heute hat Fräulein geweint. Warum? Mitten in der Schulstunde stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen. Das berührt mich seltsam. Jedenfalls werde ich die Augen offen behalten. Es macht mir Spaß, auf irgend etwas, was keinen Ton geben will, zu horchen. 54
Und Jakob tut mehr, als seine Augen aufzubehalten. Er beobachtet genau, mit großer Empathie bis hin zur Schwärmerei und bringt zugleich die Wirkung auf sich als Beobachter zur Sprache. Begünstigt wird seine sensible und komplexe Aufmerksamkeit durch die anhaltende, gedämpfte Leere, die in den Räumen des Instituts herrscht, wenn der Unterricht vorbei ist: Von drei Uhr nachmittags an sind wir Eleven fast ganz uns selbst überlassen. Niemand kümmert sich mehr um uns […] und im Schulzimmer herrscht Öde, eine Öde, die einen beinahe krank macht. Lärm soll nicht vorkommen. Es darf nur gehuscht und geschlichen und nur im Flüstertone gesprochen werden. […] Eine Grabesstille herrscht überall. Der Hof liegt verlassen da wie eine viereckige Ewigkeit […] Wenn man so da ist und nichts tut, spürt man plötzlich, wie penibel das Dasein sein kann. 55
Zeigt sich die Lehrerin an einem solchen Nachmittag, erscheint sie Jakob wie ein Geist: »Es ist, als wenn da jemand von weit, weit her käme.«56 In der nachfolgenden Beschreibung herrscht ein Ton hochnervöser Schwärmerei, der das Ganze der Gestalt der Lisa Benjamenta in der Evokation nur einiger Details ihres Gesichtes zu vergegenwärtigen versucht. Vor 53 | JvG, S. 16. 54 | JvG, S. 50. 55 | JvG, S. 71. 56 | JvG, S. 71f.
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allem die Augen, die Augenbrauen und ihre Wangen haben es Jakob angetan. Deren Beschreibung bleibt nie bei sich, geht jedes Mal zur Benennung der Wirkungen über, die von ihnen ausgehen: Meist sieht man sie gesenkten Auges. Sie hat Augen, die sich zum Niederschlagen herrlich eignen. Ihre Augendeckel (o, ich beobachte das alles scharf) sind üppig gewölbt und der raschen Bewegung wundersam fähig. Diese Augen! Sieht man sie einmal, so blickt man in etwas Abgrund-Banges und Tiefes hinein. […] Die Augenbrauen sind bis zum Zerreißen dünn und rund darüber gezeichnet und gezogen. Wer sie betrachtet, fühlt Stiche. Sie sind wie Mondsicheln an einem krankhaft blassen Abendhimmel, wie feine, aber um so stechendere Wunden, innerlich schneidende. 57
Gegen Ende des Tagebucheintrags wird die Wirkung der Schönheit der Lehrerin als tödlich imaginiert: »Wenn man Fräulein Benjamentas Wangen ansieht, vergeht einem die Lust, weiterzuleben«.58 Das »man« dieses Satzes erscheint kurz darauf als Synonym für alle Zöglinge des Instituts. Höre man das Fräulein weinen, »dann vergeht man. Neulich hörten wir es, mitten in der Schulstunde. Wir alle haben gezittert wie Espenlaub. Ja, wir alle, wir lieben sie. Sie ist unsere Lehrerin, unser höheres Wesen. Und sie leidet an etwas, das ist klar. Ist sie krank?«59 Dies leidende höhere Wesen wird Jakob – und nur ihm – gegen Ende des Romans diese Frage beantworten. Bis es dahin kommt, gibt es zwischen Lisa Benjamenta und Jakob außerhalb der sich wiederholenden Unterrichtsstunden vorsichtige Gespräche, flüchtige Berührungen, Zurechtweisungen und Ermahnungen seitens der Lehrerin. Jakob hat schon in seiner ersten Nacht in der Dienerschule von seiner Lehrerin geträumt. Einen weiteren Traum zeichnet er später in allen Details auf. Das Fräulein erscheint in ihm als sanfte Zauberfee, die ihn aus der Schulstube führt und ihm die Zustände zeigt, die die Zukunft für ihn bereit hält.60 In einer phantasmatischen Reise geht es zunächst in das blendende, dann rasch 57 | JvG, S. 72. 58 | JvG, S. 72. 59 | JvG, S. 73. 60 | Für diesen wie auch für einige andere Träume im »Jakob von Gunten« gilt das, was Klaus-Michael Hinz in seinem Essay »Robert Walsers Souveränität« anmerkt: »Jakobs Traum ist ein souveränes Experiment.« Hinz 1987, S. 168. Hinz bezieht
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zerfallende Licht des Glücks, durch die schneidend riechenden Kellergänge der Armut und Entbehrung, zur »Sorgenwand«,61 dann auf die Eisbahn einer kalten Freiheit und schließlich nach kurzer Rast im Ruhegemach lüsternen Wohllebens in die Regenfluten des Ungemachs. Hier lässt »die Hervorzauberin all dieser Erscheinungen und Zustände«62 Jakob allein. Der geträumte Gang durch die Szenerien des Imaginären wird durch die Rückkehr einiger Zöglinge »von einem gemeinsamen Ausgang« 63 beendet. Das Fräulein, das hinter Jakob »in der dunkelnden Schulstube« 64 steht und ihm die Wangen streichelt, »aber nicht so, als wenn sie mich, sondern, als wenn sie sich selber trösten müsste«,65 zieht ihre Hand weg und geht in die Küche. Die nüchterne Realität der Dienerschule ist zurückgekehrt, samt den sparsamen Verlockungen, die ein Abendessen in diesem Institut darstellt. Die Kontinuität des Alltags in der Dienerschule mit ihren kleinen Freuden und den immergleichen Übungen findet jedoch ein plötzliches Ende. Fräulein Benjamenta konfrontiert Jakob nach einer hektischen Reihe von knappen Fragen zu Jakobs Benehmen, die sie sich sofort selbst beantwortet, mit der Mitteilung von ihrem bevorstehenden Ende. »Die Lehrerin schauderte plötzlich jählings zusammen. Sie fasste sich aber rasch und sagte: ›Ich gehe, Jakob, ich gehe. Es geht mit mir‹«.66 Kaum ausgesprochen, dementiert Fräulein Benjamenta wie in Panik das eben Gesagte und schließt mit einer Frage, die Jakob beglücken müsste, stünde sie nicht unter dem Vorzeichen des angekündigten Todes: »›Doch ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht ein anderes Mal. Ja? Ja, nicht wahr, vielleicht morgen, oder in acht Tagen erst. Es ist dann noch immer Zeit genug, es dir zu sagen. Sage mir, Jakob, hast du mich ein wenig lieb? Bedeute ich deiner Brust, deinem jungen Herzen irgend etwas?‹«67
sich in seinem Text vor allem auf die subversiven Strategien der Verschwendung in Walsers Romanen. 61 | JvG, S. 100. 62 | JvG, S. 102. 63 | JvG, S. 103. 64 | JvG, S. 103. 65 | JvG, S. 103. 66 | JvG, S. 120. 67 | JvG, S. 120.
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Von jedem denkbaren Standpunkt pädagogischer Verantwortlichkeit ist diese Folge von schmerzhafter Nachricht, halbem Dementi und indirekter Liebeserklärung weit entfernt. Eine Ahnung davon ist der Körperhaltung der Lehrerin abzulesen, die der nächste Satz schildert: »Sie stand mit wütend zusammengekniffenen Lippen vor mir da.«68 Die Wirkung von all dem auf Jakob und seine Reaktionen gleichen einem emotionalen Erdbeben, das die widersprüchlichen Affekte jeder Kontrolle entzieht: Ich beugte mich schnell auf ihre Hand, die unsagbar wehmütig an ihrem Gewand herabhing, hinunter und küsste sie. Ich war so glücklich, es ihr so sagen zu dürfen, was ich für sie immer empfunden hatte. »Schätzest du mich?« fragte sie mit ganz hoher, nach der Höhe zu schon fast erstickter, gestorbener Stimme. Ich sagte: »Wie können Sie zweifeln? Ich bin unglücklich.« – Aber mich empörte es, dass ich fast weinen musste. Ich ließ ihre Hand schroff fahren und nahm respektvolle Haltung an. Und sie ging, indem sie mich beinahe bittend anschaute. 69
Die letzten drei Sätze der Tagebucheintragung ziehen ein vorläufiges Resümee, in dem die Dominanz des in der Dienerschule herrschenden Regelwerks erschüttert erscheint: Wie hat sich hier im einst so herrischen Institut Benjamenta alles verändert! Es schrumpft alles zusammen, die Übungen, der Schneid, die Vorschriften. Lebe ich in einem Toten- oder in einem überirdischen Freuden- und Wonnenhause? Etwas ist los, aber ich fasse es noch nicht.70
Der vorangegangene Affektsturm hat nicht nur die in Rollen festgeschriebene Identität von Jakob und seiner Lehrerin ins Schwanken gebracht, sondern auch die Identität der Institution, die beide umfasst. Im nachfolgenden Eintrag berichtet Jakob von seinen Versuchen, erneut Stabilität zu gewinnen: in einem Gespräch mit Kraus, in einem weiteren mit Fräulein Benjamenta über Kraus. Er bemüht sich dabei, »mit Absicht sehr förmlich« zu sprechen und »ein wenig Kälte zu zeigen« 71 – mit geringem Erfolg. 68 | JvG, S. 120. 69 | JvG, S. 120. 70 | JvG, S. 120. 71 | JvG, S. 122.
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Auch Jakobs sehr förmliche, an das Fräulein gerichtete Rede im übernächsten Abschnitt, in der es um nichts anderes geht, als um die Lauterkeit seiner Verehrung für sie, trägt kaum zur Beruhigung für seinen »zusammengepeitschten Geist« bei. Das Fräulein schaut ihn »blinzelnd an« und lächelt und spottet »ein wenig«, wirkt »ganz zufrieden« und ist doch »das merkte ich […] in Gedanken mit etwas Fernabliegendem beschäftigt.« 72 Dies ›Fernabliegende‹ steht kurz bevor. Es ist der Tod der Lehrerin; das Fräulein sieht ihn kommen – er »steht dicht hinter mir« – und teilt es Jakob erneut und deutlicher als zuvor mit, befiehlt ihm aber darüber zu schweigen, auch gegenüber ihrem eigenen Bruder, verspricht ihm, bald mehr zu sagen, drückt ihm »so etwas wie Hauch auf die Stirne« 73 und geht. Was dann geschieht, ist staunenswert: Anders als in der affektbeladenen Szene zuvor, bleibt Jakob nahezu unberührt. Wieder allein, denkt er »daran, dass mir Geld mangle. Das war mein Gedanke. So bin ich, so roh und so gedankenlos.« 74 Nicht einmal Selbstvorwürfe helfen ihm da weiter: »Fräulein Benjamenta sagt so etwas Entsetzliches, und ich, der ich sie anbete, weiß nichts von Tränen«.75 Die Folge der sich an diese Frage anschließenden Reflexionen sind ein Muster an Diskontinuität; sie sind sprunghaft und alogisch und unfähig zur Wahrheit, und ebendies ist auch ihr eingestandenes Ergebnis: Hier spricht jemand, dem es unmöglich ist, sich die Wahrheit zu sagen. In den Worten Jakobs: Ich bin gemein, das ist es. Doch halt. Zu sehr heruntermachen will ich mich auch nicht. Ich bin stutzig, und deshalb – –. Lügen sind das, lauter Lügen. Ich habe das ja alles eigentlich gewusst. Gewusst? Das ist wieder eine Lüge. Es ist mir nicht möglich, mir die Wahrheit zu sagen.76
Diese hellsichtige Distanz zu sich als einem wahrheitsfähigen Wesen nimmt Jakob ein weiteres Mal ein, als seine Lehrerin zu ihm kurz vor ihrem Tod über dessen Ursache spricht. Was an ihr nagt, ist weniger ein 72 | JvG, S. 126. 73 | JvG, S. 134. 74 | JvG, S. 134. 75 | JvG, S. 135. 76 | JvG, S. 135.
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körperliches Leiden als die Folge einer großen Enttäuschung. Sie sterbe, teilt sie Jakob mit, weil sie »keine Liebe gefunden habe«; sie gehe »am Unverständnis derjenigen, die mich hätten sehen und fassen sollen, am Wahn der Vorsichtigen und Klugen, und an der Lieblosigkeit des Zauderns und Nicht-recht-Mögens zugrunde.« 77 In ihrem Glauben an die Unbedingtheit des Gefühls sieht sie sich tödlich getäuscht: »Etwas, das überlegen und unterscheiden kann, ist kein Gefühl.« 78 Zum Abschluss will sie Jakob »ein einziges unschuldiges Mal«79 küssen. Ob es dazu kommt, teilt Jakobs Text nicht mit. Was sich aus ihm mitteilt, ist Jakobs neuer, nüchterner Sinn für die Fakten: Das Fräulein ist für ihn kein höheres Wesen mehr, keine »zarte Prinzessin«, sondern »ein leidender feiner weiblicher Mensch. Keine Prinzessin.« 80 Ihr Aussehen nach ihrem Tod wird vorab knapp skizziert; weiter ausgemalt – erst recht nicht in ihrer emotionalen Wirkung – wird diese Skizze nicht: »Sie wird also eines Tages da drinnen im Bett liegen. Der Mund wird starr sein, und um die leblose Stirne werden sich die Haare trügerisch kräuseln. Doch wozu sich das ausmalen?«81 Stattdessen wird auf ein bevorstehendes weiteres Treffen mit Herrn Benjamenta eingegangen, der Jakob zu sprechen wünscht. Das TagebuchIch ist hieran ungleich mehr interessiert als am absehbaren Schicksal der vom Leben enttäuschten Lehrerin. Das eine scheint bereits eine Sache der Vergangenheit zu sein, das andere ein Versprechen auf ein Leben, das bevorstehen könnte: »Auf der einen Seite eine Mädchenklage und -leiche, auf der anderen Seite ihr Bruder, der noch gar nicht gelebt zu haben scheint.« 82 Jakob schlägt sich schon hier auf die Seite des noch ungelebten Lebens, so unvorhersehbar es ist. Dies Leben als ein Versprechen für Kommendes und Zukünftiges ist seit Längerem an die Figur des Herrn Benjamenta gebunden. Ihr hat Jakob zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Während der Totenwache neben der Leiche des Fräuleins werden sie eine gemeinsame Zukunft planen, jenseits des vor dem Ende stehenden Dienerinternates,
77 | JvG, S. 145f. 78 | JvG, S. 146. 79 | JvG, S. 146. 80 | JvG, S. 147. 81 | JvG, S. 147. 82 | JvG, S. 147.
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jenseits von dem, »was man europäische Kultur nennt«83 und jenseits der tradierten Geschlechterrollen. Die libidinöse Dynamik in der Beziehung Jakobs zu Herrn Benjamenta ist – wie zu zeigen sein wird – ungleich größer als die zu den gleichgeschlechtlichen Zöglingen und ungleich gefährlicher als die zum Fräulein Lehrerin. Dem entsprechen die Intensitäten und das Ausmaß der erotischen Aktivität Jakobs: Im Hinblick auf seine Mitschüler bleiben sie temporär und im Stadium leicht frivoler Tändelei; in Bezug auf die Lehrerin führen sie in die bedrohliche Nähe einer Destabilisierung der eigenen Identität. Die Beziehung zu Herrn Benjamenta dagegen ist vom erotisch neutralen Anfang an eine Sache von Bedrohung, Lockung, Provokation und Gefahr. In ihr kommt das Selbstexperiment, das den bewussten sozialen Abstieg und den Weg nach unten in die Neutralität diensteifriger Unterordnung vorschreibt, in die Krise. Was Jakobs Experiment an Eindeutigkeit verloren geht, gewinnt es in Richtung einer risikobereiten Souveränität.84 In diesem Prozess steht nicht zuletzt die erotische und sexuelle Identität des Protagonisten zur Disposition.
J AKOB UND DER V ORSTEHER Die Prosa Robert Walsers neigt nicht zur Kontinuität besonnenen, überlegten Erzählens und nicht zur Eindeutigkeit dessen, was man farbige Schilderung nennt. Ihr Verhältnis zur Welt ist in sich gebrochen, hoch subjektiv, ironisch, sprunghaft und immer darauf bedacht, sich als ein literarisch gestiftetes kenntlich zu machen. Die Sekundärliteratur weist auf diese Qualitäten des ›mannigfaltig zerschnittenen und zertrennten Ich-Buches‹ aus ihren jeweils favorisierten Blickwinkeln hin.85 Diese am 83 | JvG, S. 162. 84 | Vgl. hierzu: Hinz’ souveränen Aufsatz von 1987 über Robert Walsers Souveränität. 85 | Vgl. z.B.: Rodewald 1970, S. 123ff. und Jürgens 1973, S. 109ff. Das Zitat wird mit einer Reihe von Reflexionen zum Geschäft des Schriftstellers eingeleitet: »Ich weiß, dass ich eine Art handwerklicher Romancier bin. […] Bin ich gut aufgelegt, d.h. bei guter Laune, so schneidere, schustere, schmiede, hoble, klopfe, hämmere oder nagle ich Zeilen zusammen, deren Inhalt man sogleich versteht. Man kann mich, falls man Lust hiezu hat, einen schriftstellernden Drechsler nen-
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Ganzen des Werks aufweisbaren Merkmale können innerhalb eines einzelnen Textes potenziert auftreten. Vergleicht man in Walsers »Jakob von Gunten« die Bilder, die der Text von den einzelnen Figuren vor Augen stellt, so ergeben sich charakteristische Unterschiede. Den größten Teil seiner Mitschüler zeichnet das Tagebuch-Ich mit schnellen, kräftigen und treffsicheren Strichen: Fuchs ist schräg, Fuchs ist schief. Er spricht wie ein misslungener Purzelbaum und benimmt sich wie eine große, zu Menschenform zusammengeknetete Unwahrscheinlichkeit. Alles an ihm ist unsympathisch, daher unbeherzigenswert. 86 Ja, er ist wie ein Vogel. […] Ein Vogel gibt einem die Hand, wenn er sie gibt, ein Vogel geht so und steht so. Alles ist unschuldig, friedfertig und glücklich an Heinrich. 87 Hans ist der rechte Bauernjunge, wie er in Grimms Märchenbuch steht. Er kommt tief aus Mecklenburg, und er duftet nach blumigen üppigen Wiesen, nach Kuhstall und Bauernhof. 88
Das große Vorbild Kraus wird in einer Reihe von Tagebucheinträgen immer wieder in seinem rührend bornierten Verhalten beschrieben.89 Vergleichbares gilt für Fräulein Benjamenta: Sie ist die Geheimnisvolle und die Strenge, die mit dem »kleinen weißen Stab« 90 in die Schulstube tritt, die Unnahbare im weißen Gewand, in die sich alle verlieben, und sie ist die Unglückliche, die aus tiefer Enttäuschung zugrunde geht. Die Widersprüche, die ihre Gestalt ausmachen, bilden für die Wahrnehmung Jakobs wie für die der Leser seines Tagebuchs kein Problem. Im Gegenteil: nen. Indem ich schreibe, tapeziere ich. […] Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.« SW. Band 20, S. 322. 86 | JvG, S. 43. 87 | JvG, S. 10. 88 | JvG, S. 39. 89 | Vgl.: JvG, S. 31f. 90 | JvG, S. 9.
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Sie reichern die Binnenzeichnung der Figuren an, machen sie geheimnisvoller im Sinne des Versteh- und Genießbaren.
Die Namen und die Epitheta Anders verhält es sich mit der Figur des Institutsvorstehers. Die für ihn im Text gebrauchten Namen und Synonyme und die ihm geltenden Epitheta zeichnen ein Bild von höchster Disparatheit. Noch bevor das Tagebuch-Ich sein erstes, von latenter Gewalt überschattetes Zusammentreffen mit ihm beschreibt, ist die Figur bereits im Text präsent. Schon der erste Satz des Tagebuch-Romans nennt seinen Namen als Bestandteil der Bezeichnung der Einrichtung, in die Jakob eingetreten ist und in der er es »bereits fertiggebracht« hat, sich »zum Rätsel zu werden«91: »Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen«.92 Zu Beginn der zweiten Tagebucheintragung ist von der Schrift die Rede, die den Hauptinhalt der Schulstunden bildet und gleichfalls den Namen des Institutsleiters trägt; ihr Titel lautet »Was bezweckt BenjamentaϞs Knabenschule?«93 Kurz danach wird er bereits in seiner Funktion als Leiter des Instituts benannt, zusammen mit seiner Schwester, die an »Stelle der Lehrer, die aus irgendwelchen sonderbaren Gründen tatsächlich totähnlich daliegen und schlummern« die Zöglinge »unterrichtet und beherrscht«: »die Schwester des Herrn Institutvorstehers, Fräulein Lisa Benjamenta.« 94 Beim Eintritt in die Dienerschule über den ärmlichen »Treppenaufgang eines gewöhnlichen großstädtischen Hinterhauses« fällt der Name Benjamenta erneut. Jakob fragt Kraus, ob er zu sprechen sei und tritt »zum Vorsteher herein«95, und von dem Moment an lebt er zunächst ganz im Schatten von Benjamentas unberechenbarer, bisweilen bis zum Jähzorn gesteigerter Gewalt. Die Namen, die Jakob ihm in seinen Aufzeichnungen gibt, und die ihm geltenden Epitheta zeigen es überdeutlich. Benjamenta ist »ein Riese«, ein »Lenker und Gebieter«, demgegenüber
91 | JvG, S. 7. 92 | JvG, S. 7. 93 | JvG, S. 8. 94 | JvG, S. 9. 95 | JvG, S. 11.
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die Zöglinge »Zwerge« sind. Er ist ein »Herkules« 96 und »der riesenhaft gebaute Herr Vorsteher«,97 dem man als einem »Herrscherähnlichen«98 zu begegnen hat, der aber auch als »Räuber und Schwindler« 99 erscheint, als er Jakob um sein Geld erleichtert. Er gleiche »dem Löwen, ich aber der Maus«100, schreibt Jakob. Er ist »allmächtig« und »dem unbarmherzigen Sturmwind«101 ähnlich; in seinem Zorn erscheint er als »Simson« und als »Riese[n] Goliath«.102 Die in diesen Namen, Vergleichen und Epitheta beschworene Gewalt kann sich unvermittelt bis ins Pathologische steigern, zu einer »unbeschreibliche[n] Wut« wie ein »dunkles Stück verrückt gewordenen Jähzornes«.103 Die Kräfte, die diese blinde enthemmte Gewalt motivieren und mobilisieren, bleiben Jakob ebenso lange verborgen wie den Lesern seines Tagebuches. Sie enträtseln sich – wie noch zu zeigen sein wird – nach und nach, und für diesen Prozess ist Jakob maß- und zielgebend verantwortlich. Irritierend ist allerdings, dass neben die Namen gewalttätiger Größe, die sich in Jakobs Tagebuch finden, schon bald andere Benennungen und andere Zuschreibungen treten. So kann der Vorsteher seinem Zögling Jakob schon nach kurzer Zeit »geradezu schön« erscheinen, ein Attribut, für das sich Jakob schon in der nächsten Zeile selbst rügt: »Ein herrlicher brauner Bart – was? Herrlicher brauner Bart? Ich bin ein Dummkopf. Nein, am Herrn Vorsteher ist nichts schön, nichts herrlich […]«; gleichwohl kann er nicht umhin, hinter dem Verhalten des Institutsleiters ein Schicksal zu vermuten, dem seine Empathie gelten könnte: »[…] aber man ahnt hinter diesem Menschen schwere Schicksalswege und -schläge, und dieses Menschliche ist es, dieses beinahe Göttliche ist es, was ihn schön 96 | JvG, S. 17f. 97 | JvG, S. 94. 98 | JvG, S. 43. 99 | JvG, S. 12. 100 | JvG, S. 108. 101 | JvG, S. 140. 102 | JvG, S. 142. An einer Stelle wird Herr Benjamenta sogar als »Gott« angesprochen, jedoch bereits mit einem leicht ironischen Unterton, da Jakob seine verbale Hochachtung an das »wenn« einer Erwartung knüpft: »[…] ›Sie sind mein Gott, Herr Vorsteher, wenn Sie mir erlauben, Geld und Achtung verdienen zu gehen.‹« JvG, S. 62. 103 | JvG, S. 142f.
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macht.«104 Es ist vor allem die Einsamkeit dieses Herrschers und Schulvorstehers Benjamenta, die Jakob andere Worte für ihn finden lässt, während seine Sympathie für ihn zunimmt. Er sitzt eigentlich immer zu Hause, er hält sich ohne Zweifel so auf eine Art im Verborgenen auf, er verkriecht sich »in der Einsamkeit«, und in der Tat, schauderhaft einsam muss dieser sicher edle und kluge Mann dahinleben. Irgendwelche Ereignisse müssen auf diesen Charakter einen tiefen, vielleicht sogar vernichtenden Eindruck gemacht haben, aber was weiß man? Ein Eleve des Institutes Benjamenta, was, was kann ein solcher wissen? […] Ja, dieser Mensch hat es mir angetan, er interessiert mich.105
Gegen Ende des Romans treten an die Stelle der Epitheta ornantia für einen seiner Sinne kaum mächtigen Herrscher die Attribute eines vorsichtigen und zärtlich Liebenden: Benjamenta, »der noch gar nicht gelebt zu haben scheint«,106 kann jetzt als »die Güte und Schonung selber«107 wahrgenommen werden; »angesichts der überströmenden Zärtlichkeit und Lebenslust, die aus den Augen des Mannes hervorbrachen« 108 wächst die Bereitschaft Jakobs, diesem Mann zu folgen, die Schule hinter sich zu lassen, sich dem Leben anzuvertrauen, das »Wallungen« verlange, »nicht Überlegungen.« Zum Leben und den Affekten übergelaufen, resümiert Jakob in den letzten Zeilen des Romans die Geschichte seiner Beziehungen in der Dienerschule: »Fräulein Benjamenta liegt unter der Erde. Die Eleven, meine Kameraden, sind zerstoben in allerlei Ämtern.« In solchen Ämtern sieht er keine Zukunft mehr; die liegt in dem, was in seinem Tagebuch »Wüste« und »Wildnis« heißt und in der Figur des gewesenen Institutsvorstehers, die zuvor als der Ritter imaginiert wurde, dem Jakob als Knappe dient: »Mir passt dieser Mensch, und ich frage nicht mehr, warum.«109
104 | JvG, S. 44. 105 | JvG, S. 45. 106 | JvG, S. 147. 107 | JvG, S. 148. 108 | JvG, S. 157. 109 | JvG, S. 164.
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Die Orte: Das Kontor und die inneren Gemächer Von diesem Ende her, das Entgrenzung verspricht, ist einzuschätzen, was die interne Topographie der Dienerschule bedeutet, wie sich in deren Gefüge zunächst die Herrschaftsverhältnisse geordnet sehen und wie sie nach und nach enträtselt und ihrer Kraft beraubt werden. Versucht man, sich anhand der Angaben im Text den Grundriss des Instituts Benjamenta vorzustellen, so entsteht zwar kein vollständiges und detailliertes Bild, wohl aber eine Struktur, die die Verteilung der Zöglinge wie der Geschwister Benjamenta auf die Räume erlaubt; zugleich werden die damit verbundenen Zugangsregeln sichtbar. Wo immer sich die Schulstube, Jakobs Kammer und die Schlafräume der Zöglinge, von denen es etwa drei geben dürfte, befinden mögen – sie sind für die jugendlichen Bewohner und für die beiden Geschwister zugänglich, wahrscheinlich über einen von allen erreichbaren Flur. Für das »Bureau«110 des Vorstehers (bisweilen auch »Kontor«111 genannt) und für die »inneren Gemächer«,112 in denen das Geschwisterpaar wohnt, gilt das nicht. Zu letzteren ist den Zöglingen, mit Ausnahme von Kraus113, der Zutritt strikt verboten; die Schwelle zu ihnen wird jedoch an jedem Abend114 »gegen neun Uhr« durch ein Ritual markiert, bei dem die Knaben für »ein kurzes Gutenachtlied […] im Halbkreis nahe bei der Türe [stehen], die in die innern Gemächer führt«: […] dann geht die Türe auf, Fräulein Benjamenta erscheint auf der Schwelle, ganz in weiße, wohlig herabfallende Gewänder gekleidet, sagt uns »gute Nacht, Knaben«, befiehlt uns, uns schlafen zu legen, und ermahnt uns, ruhig zu sein. Dann löscht Kraus jedesmal die Schulzimmerlampe, und von diesem Augenblick an darf 110 | JvG, S. 12. 111 | JvG, S. 18. 112 | JvG, S. 133. 113 | In einer der ersten Tagebucheinträge heißt es dazu: »Ich bin bis heute noch nie dort gewesen. Kraus wohl, den man bevorzugt, weil er so treu ist. Aber Kraus will keine Auskunft über die Beschaffenheit der Vorsteherswohnung geben.« JvG, S. 20. 114 | Dieses Ritual findet ohne Herrn Benjamenta statt, denn abends »lässt sich der Herr Vorsteher überhaupt nie blicken. Ob das nun merkwürdig ist oder nicht, jedenfalls ist es auffallend.« JvG, S. 34.
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kein leisestes Geräusch mehr gemacht werden. Auf den Zehen muss jeder gehen und sein Bett suchen.115
Das Betreten des Kontors des Vorstehers Benjamenta ist durch strenge Eintrittsregeln normiert; deren Anwendung ist in das Belieben dessen gestellt, der hier »brummend und grübelnd«116 kaum mehr tut, als seine Zeitung zu lesen. Benjamentas Willkür in der Kontrolle der Zöglinge reicht bis ins Sadistische hinein. Jakob erfährt das bereits »am Morgen des zweiten Tages«117: Ich trat zu ihm ins Kontor, aber ich kam nicht dazu, meinen Mund zu öffnen. »Geh wieder hinaus. Versuche, ob es dir möglich ist, wie ein anständiger Mensch ins Zimmer einzutreten«, sagte er streng. Ich ging hinaus, und dann klopfte ich an, was ich ganz vergessen hatte. »Herein«, rief es, und da trat ich ein und blieb stehen. »Wo ist die Verbeugung? Und wie sagt man, wenn man zu mir eintritt?« – Ich verbeugte mich und sagte in kümmerlicher Tonart: »Guten Tag, Herr Vorsteher.« – Heute bin ich schon so gut dressiert, dass ich dieses »Guten Tag, Herr Vorsteher« nur so hinausschmettere. Damals hasste ich diese Art, sich untertänig und höflich zu benehmen, ich wusste es eben nicht besser. Was mir damals lächerlich und stumpfsinnig vorkam, erscheint mir heute schicklich und schön. »Lauter reden, Bösewicht«, rief Herr Benjamenta. Ich musste den Gruß »Guten Tag, Herr Vorsteher« fünfmal wiederholen.118
Nach etwa der Hälfte der Zeit, die Jakob im Institut Benjamenta verbringt, ist dasselbe Kontor Zeuge einer ganz anderen Szene. In ihr und mit ihr beginnen sich die Dominanzverhältnisse zwischen Herrn Benjamenta und Jakob von Gunten umzukehren. Das Prinzip des Iterativen, das die Szene mit dem wiederholten Eintritt Jakobs in das Zimmer des Vorstehers bestimmt, bis hin zur fünfmaligen Grußformel, findet sich hier wieder. Herr Benjamenta konfrontiert Jakob mit einer Folge von drei Geständnissen, die nur ein Thema variieren. Benjamentas Zuneigung zu Jakob:
115 | JvG, S. 34. 116 | JvG, S. 18. 117 | JvG, S. 18. 118 | JvG, S. 18.
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Ich muss dir ein Geständnis machen, Jakob. Höre, ich halte dich für einen klugen, anständigen jungen Menschen. Jetzt, bitte, werde frech. Und ich fühle mich veranlasst, dir noch etwas anderes zu gestehen: ich, dein Vorsteher, ich meine es gut mit dir. Und noch ein drittes Geständnis: Ich habe eine seltsame, eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe für dich gewonnen.119
Als ob es darauf ankäme, das Prinzip der Wiederholung noch zu steigern, stellt er Jakob abschließend drei Fragen, die den Schüler dazu provozieren sollen, ihm gegenüber zu jener Strafpraxis zu greifen, die in der frühen Szene von ihm selbst angewandt wurde. »›Du wirst jetzt mir gegenüber recht frech sein, nicht wahr, Jakob? Nicht wahr, junger Mensch, jetzt, nachdem ich mir vor dir eine Blöße gegeben habe, wirst duϞs wagen, mich mit Wegwerfung zu behandeln? Und du wirst jetzt trotzen? Ist es so, sage, ist es so?‹«120 Das gesamte Gefüge sadistischer und masochistischer Momente und Motive, das die Entwicklung der Beziehung der beiden von dieser Szene an bestimmen wird, wird noch zu zeigen sein. Hier jedoch wird zum ersten Mal das Ausmaß der Destabilisierung ahnbar, die Benjamenta an sich und Jakob an Benjamenta erfährt: »Und nun bemerkte ich, dass der riesenhaft gebaute Herr Vorsteher leise, leise zitterte.«121 Dies Zittern bedeutet nichts weniger als die Peripetie der im Tagebuch Stück für Stück nachgezeichneten Handlung, in der sich schließlich auch die Entzauberung der »inneren Gemächer« ereignet. Als der Niedergang der Schule bereits absehbar ist, betritt Jakob – ohne Mitteilung darüber, wie das möglich wurde – diese Räume. Ich bin übrigens jetzt endlich in den wirklichen innern Gemächern gewesen, und ich muss sagen, es existieren gar keine. Zwei Zimmer sind da, aber diese beiden Räume sehen nach nichts Gemachartigem aus. Sie sind möbliert wie die Sparsamkeit und Gewöhnlichkeit selber, und sie enthalten durchaus nichts Geheimnisvolles. Seltsam. […] Es sind allerdings Goldfische da, und Kraus und ich müssen das Bassin, in welchem diese Tiere schwimmen und leben, regelmäßig entleeren, säubern und mit frischem Wasser auffüllen. Ist das aber etwas nur entfernt Zauberhaftes?
119 | JvG, S. 93f. 120 | JvG, S. 94. 121 | JvG, S. 94.
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Goldfische können in jeder preußischen mittleren Beamtenfamilie vorkommen, und an Beamtenfamilien klebt nichts Unverständliches und Absonderliches. 122
Am Ende werden die inneren Gemächer die Leiche der Lehrerin enthalten; alle Schüler werden sich hier von der Toten verabschieden, und Jakob und Herr Benjamenta werden an der Leiche ihre gemeinsame Zukunft ins Auge fassen. Wirft man von diesem Ende her noch einmal einen Blick auf die Raumstruktur des Instituts Benjamenta und nimmt man die affektiven Bewertungen hinzu, die an die Räumlichkeiten und die für sie geltenden Zugangsregeln gebunden sind, so lässt sich folgende Karte der sozio-psychischen Topographie der Dienerschule zeichnen:
122 | JvG, S. 130f.
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In dieser Topographie finden sich die jungen Zöglinge eingeschlossen zwischen einer ersehnten aber verbotenen Raumfolge ungewissen Ausmaßes (die »inneren Gemächer«) mit deutlicher Prägung durch das von Fräulein Benjamenta verkörperte weibliche Prinzip, und dem Raum einer strafenden, Geld und Zukunft verwaltenden männlichen Instanz (das »Bureau«/das »Kontor«). Das Zugangsrecht der Zöglinge endet an der Tür zu den »inneren Gemächern«, die zugleich der Ort der allabendlichen rituellen Adoration der Lehrerin ist. Die Tür zum Institutsvorsteher ist die Schwelle zum Zentrum der männlich verfügten Macht, die nur mit deren Erlaubnis überschritten werden darf.123 Die Sehnsucht richtet sich auf das Unbekannte, das am einen Ende des Flures beginnt; die Angst macht Halt am anderen Ende, bis sie vorgelassen wird. So bewegen sich die Affekte, fasst man sie als Akteure auf, zwischen männlichem und weiblichem Prinzip, im Wechsel angezogen und abgestoßen.124
Vom Befehl zum Geständnis/Jakobs Provokationslust Von diesen Affekten wird nach und nach auch der Vorsteher Benjamenta ergriffen. So wie die Namen für seine Übermacht sukzessive von solchen abgelöst werden, die ihn als einen »der Erschütterung und Schwäche«125 fähigen zeigen, ändern sich auch die Merkmale der von ihm bevorzugten Rede- und Verhaltensweisen. Diese Änderungen sind alles andere als gewollt. Sie verdanken sich fast einzig den mehr oder minder bewussten Strategien, derer sich Jakob bedient und hinter denen die »sonderbare Energie« wirksam ist »das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine unbezwingliche Lust, Menschen und Dinge zu stacheln, dass sie sich mir offenbaren. Hier fällt mir Herr Benjamenta ein.«126 In der Tat: Die Provokation des Institutsleiters ist Jakobs bevorzugtes Mittel, dem Wunsch nachzukommen, allen vormaligen Hochmut hinter sich 123 | Hinter ihr reicht die Bewegungsfreiheit nur bis zu einem Schalter; dahinter liest der Vorsteher seine Zeitung. 124 | Nur in einem Raum kommen alle zusammen, in der Schulstube, die Zöglinge und ihre verehrte Lehrerin regelmäßig, der Vorsteher nur im Fall der strafenden Intervention. 125 | JvG, S. 140. 126 | JvG, S. 114.
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zu lassen und sich dem Leben auszusetzen. Benjamenta gegenüber ist die soziale Distanz am größten; seine Herrschsucht verspricht erhöhten Lernwert in jenem experimentellen Prozess der Selbsterziehung, auf den sich Jakob eingelassen hat. Aus diesem Grund können die an Benjamenta beobachtbaren Veränderungen nur im Kontext und in ihrer Wechselwirkung mit Jakobs Kommunikations- und Provokationsabsichten dargestellt werden. Am Anfang, bei Jakobs Eintritt in die Anstalt, stehen wortkarge Fragen Benjamentas nach Name und Herkunft und harsche Befehle: »›So gib es her. Rasch!‹«127 Damit befiehlt Benjamenta seinem neuen Zögling, sein Geld abzugeben. Einwände werden nicht zugelassen: »Da fand ich den Heldenmut, schüchtern um eine Quittung zu ersuchen, doch man gab mir folgendes zur Antwort: ›Schlingel wie du erhalten keine Quittungen.‹«128 Die Folge der Zurechtweisungen setzt sich – wie gezeigt – fort in Benjamentas Bestehen auf dem perfekten Grußzeremoniell. Als das endlich zur Befriedigung des Institutsleiters ausfällt und Jakob die Gelegenheit nutzt, sein Geld zurückzufordern und sich über den verwahrlosten Zustand des Instituts zu beklagen, holt Benjamenta zu einer Belehrung aus, die auf eine untergründige Art mit dem Wunsch Jakobs korrespondiert, sich vom Leben erziehen zu lassen: »Einmal einbezahlte Geldbeträge werden nicht mehr zurückerstattet. Was deine törichte Meinung betrifft, du könntest hier nichts lernen, so irrst du dich, denn du kannst lernen. Lerne vor allen Dingen erst deine Umgebung kennen. Deine Kameraden sind es wert, dass man wenigstens den Versuch macht, sich mit ihnen bekannt zu machen. Sprich mit ihnen. Ich rate dir, sei ruhig. Hübsch ruhig.« – Dieses »hübsch ruhig« sprach er wie in tiefen, mich gar nicht betreffenden Gedanken versunken.129
127 | JvG, S. 12. 128 | JvG, S. 12. 129 | JvG, S. 19. Die Forderung, sich mit den Dingen und Menschen bekannt zu machen, findet sich später als ein Postulat wieder, das Jakob an sich selber richtet: »Mir ist alles, sogar das Kleinste, viel. Ein paar Menschen vollkommen kennen zu lernen, dazu bedürfte es eines Menschenlebens.« JvG, S. 116.
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Aus der Lethargie, in die der Vorsteher hier zurücksinkt, taucht er erst wieder auf, als er Jakob jenen »Schlag an den Kopf«130 versetzt, mit dem die Szene endet, die mit Tremalas sexuellem Übergriff beginnt. Es ist dies die erste Berührung durch Benjamenta, von der Jakob in seinem Text berichtet. Die zweite – knapp nach dem ersten Viertel der Tagebucheinträge insgesamt – ist eine heftige Antwort auf das provokante Verhalten des neuen Schülers; auf Jakobs Mitteilung hin, er habe den Lebenslauf immer noch nicht verfasst, drückt ihm Benjamenta seine »riesige Faust vor die Nase.«131 Jakob bekennt darauf hin, dass sein »Wunsch, Erfahrungen zu machen […] zu einer herrischen Leidenschaft« heranwachse. Mehr noch: »[…] der Schmerz, den mir der Unwille dieses seltsamen Mannes verursacht, ist nur klein gegen die bebende Begierde, ihn zu verleiten, sich ein wenig mir gegenüber auszusprechen. O ich träume davon – herrlich, herrlich –, dieses Menschen hervorbrechendes Vertrauen zu besitzen.«132 Wer so spricht, ist von keinem nüchternen Kalkül geleitet und erst Recht von keinem Bedürfnis nach vegetarischer Selbsterfahrung; ihn treibt eine Leidenschaft, die er selbst ›herrisch‹ nennt, und die angestrebten Erfahrungen tragen die Farben jener ›bebenden Begierde‹, die er eingesteht. Sie oszillieren – wie schon hier erkennbar wird – zwischen sanftsadistischer Keckheit und offenkundigem Unterwerfungsbedürfnis: »Hast du den Lebenslauf geschrieben? Wie?« werde ich gefragt. Ich antworte: »Noch nicht. Aber ich werde es tun.« Herr Benjamenta tritt auf mich zu, das heißt bis zum Schalter, an welchem ich stehe, und drückt mir die riesige Faust vor die Nase. »Du wirst pünktlich sein, Bursch, oder – – – du weißt, was es absetzt.« – Ich verstehe ihn, ich verbeuge mich wieder und verschwinde. Seltsam, wieviel Lust es mir bereitet, Gewaltausübende zu Zornesausbrüchen zu reizen. Sehne ich mich denn eigentlich danach, von diesem Herrn Benjamenta gezüchtigt zu werden? Leben in mir frivole Instinkte? Alles, alles, selbst das Niederträchtigste und Unwürdigste, ist möglich.133
Der Gestus, in dem hier die vorausgegangene kurze Konfrontation reflektiert wird, ist der einer verwunderten Selbstbefragung; die setzt dreimal 130 | JvG, S. 36. 131 | JvG, S. 44. 132 | JvG, S. 45. 133 | JvG, S. 43f.
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an und mündet schließlich in eine irritierte Feststellung. Die hier beobachtete psychische Disposition liegt – wie die zwei Substantive des letzten Satzes zeigen – unterhalb der moralischen Durchschnittsnorm; zu was sie führen kann, scheint unabsehbar, denn alles ist möglich. Versucht man, die Abbreviaturschrift der Affekte unterhalb der Sätze dieser Passage zu lesen, so finden sich: eine Lust, die auf das Erleben akuter Gewalt aus ist (›Lust, die Gewalt zum Zorn zu reizen‹) und ein Sehnen nach Züchtigung. Diese Tendenz zum provokativen Masochismus scheint das Tagebuch-Ich allerdings nicht zu beunruhigen. Seine Reflexionen führen ihn nicht in die Tiefe grüblerischer, existentiell grundierter Selbstbefragung; sie wenden sich vielmehr dem Problem des noch zu schreibenden Lebenslaufes zu. Dann umkreisen sie im Plauderton die Gestalt des Herrn Benjamenta und enden schließlich in der Zuversicht, dass es möglich sein werde, »in das Geheimnis der Benjamentas endlich noch einzudringen.«134 Im letzten Satz des Tagebucheintrages findet sich dann nochmals eine schwach ausgeprägte Spur jenes frivolen Ineinanders von Leiden und Lust. Der Zauber, den das gelingende Eindringen in das Geheimnis der Benjamentas verspricht, erhält das Adjektiv ›unerträglich‹, und der Satz endet mit dem Ausdruck vagen Genusses einer verheißungsvollen Zukunft: »Geheimnisse lassen einen unerträglichen Zauber vorausahnen, sie duften nach etwas ganz, ganz unsäglich Schönem. Wer weiß, wer weiß. Ah – – –« 135 An dieser Zukunft arbeitet Jakob im Folgenden planungsbewusst, höchst aufmerksam und mit einer Konsequenz, für deren Würdigung er sich sogar eines militärischen Begriffs bedient: Nach zweimaliger Lektüre von Jakobs Lebenslauf tritt »etwas wie ein schimmerndes Lächeln«136 auf die Lippen Benjamentas, und Jakob konstatiert befriedigt: »Es ist ein Vorpostengefecht gewonnen.«137 Wer da erobert werden soll, hat ein kurzer Satz zuvor ausgeplaudert: »O gewiss, ich habe meinen Mann scharf beobachtet.«138 Leicht wird es Jakob mit ›seinem‹ Mann nicht haben, und er weiß es: »Was muss man doch für Sprünge machen, Menschen, denen
134 | JvG, S. 45. 135 | JvG, S. 45. 136 | JvG, S. 52. 137 | JvG, S. 53. 138 | JvG, S. 52.
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man die Hände küssen möchte, zu einer nur ganz flüchtigen freundlichen Regung zu bewegen.«139 Der Erfolg, den er mit seinem Lebenslauf hat, erscheint ganz am Ende der Tagebuchnotiz jedoch in einem anderen, schwankenden Licht. Die Freude über den Gewinn des ›Vorpostengefechts‹ läuft auf so hohen Touren, dass dem erzählenden Ich das psychische Gleichgewicht gefährdet erscheint: »Heute muss ich unbedingt noch irgendeinen Streich verüben. Ich muss mich sonst kaputtfreuen, kaputtlachen. Aber Fräulein Vorsteher weint? Was ist das? Warum bin ich so seltsam glücklich? Bin ich verrückt?«140 Jakobs Text beantwortet diese Frage nicht, und wie ernst sie gemeint ist, kann offen bleiben. Die nachfolgenden Aufzeichnungen wenden sich anderen Dingen und Personen zu: dem Bruder Johann etwa, der als angesehener Künstler in der gleichen Stadt lebt, den skurrilen Besonderheiten des Unterrichts, einem Traum, in dem Jakobs ehemalige Lehrer auftauchen, einem Ausflug in die Stadt. Schließlich – so teilt Jakob mit – habe er sich »nicht bezwingen können« und sei wieder zu Benjamenta »ins Bureau gegangen«.141 Diese Begegnung ist eine erneute Provokation, aber eine, die sich im Vergleich zur vorigen konträrer Mittel bedient: Nicht auf ein Zeichen der Freude hat es Jakob abgesehen, sondern unmittelbar auf Benjamentas Zorn; er bietet ihm nichts an – schon gar nicht sich selbst – sondern droht indirekt mit seinem Verschwinden. Er verlangt sogar, dass der Vorsteher dafür die Voraussetzungen schafft, indem er ihm zu einer Anstellung verhilft. Nach der üblichen tiefen Verbeugung erhebt er seine Forderung – nicht ohne rhetorischen Aufwand und nicht ohne mit sich selbst und seinem Körper zu beginnen: »›Ich habe Arme, Beine und Hände, Herr Benjamenta, und ich möchte arbeiten, und daher erlaube ich mir, Sie zu bitten, mir recht bald Arbeit und Geldverdienst zu verschaffen. Sie haben allerlei Beziehungen, ich weiß es. […]‹«142 Das Bild der feinen, vermögenden Gesellschaft, das Jakob im Folgenden ausmalt, wird von Herrn Benjamenta als das verstanden, was es ist – eine Herausforderung: »›Hüte dich, frech zu werden‹, warnte er mich, 139 | JvG, S. 52. 140 | JvG, S. 53. 141 | JvG, S. 61. 142 | JvG, S. 61.
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doch ich weiß nicht, ich empfand gar keine Furcht mehr vor seinen Fäusten, und ich sprach weiter, die Worte flogen mir nur so heraus […].« Jakob bleibt bei seiner Forderung, verweist darauf, dass er »schon so viel gelernt« habe und muss sich anhören, er habe »noch gar nichts gelernt«.143 Schließlich wird er aus dem Zimmer gewiesen: »Augenblicklich.«144 Bevor Jakob dieser Aufforderung Folge leistet, treibt er den Konflikt auf die Spitze, indem er in drei kurzen Sätzen die Figur des Vorstehers abwertet, seinen Abschied und zugleich seinen Übertritt ins Milieu der Straße und der Kriminalität ankündigt: Ich rief laut aus: »Ich erblicke in Ihnen einen hervorragenden Menschen, aber ich irre mich, Sie sind gewöhnlich wie das Zeitalter, in dem Sie leben. Ich werde auf die Straße gehen und dort irgendeinen Menschen anhalten. Man zwingt mich, zum Verbrecher zu werden.«145
Dieser Verschränkung von Drohung und Missachtung ist Benjamenta offensichtlich nicht gewachsen. Jakob gelingt es, »mit wunderbarer Geschmeidigkeit« das Kontor zu verlassen: »Im Korridor blieb ich stehen und lauschte am Schlüsselloch. Es blieb alles ganz mäuschenstill drinnen im Bureau.«146 Von diesem Moment an sind Androhung und Anwendung von Gewalt nahezu ohne jede Wirkung auf den Tagebuch schreibenden Zögling. Beides jedoch begleitet die Entwicklung der Beziehung zwischen Schüler und Lehrer bis hin zu den letzten Eintragungen. Dabei steigert sich die Heftigkeit der gewaltsamen Äußerungen in dem Masse, wie die Beziehung an Ernst gewinnt. Schon kurze Zeit, nachdem Benjamenta leicht zitternd in mehrfachen Anläufen seine »nicht mehr zu beherrschende Vorliebe«147 eingestanden hat und Jakob zum ersten Mal von einem »Verhältnis«148 spricht, das es jetzt gebe, kommt es zu einer weiteren Begegnung. Wo sie stattfindet, ob wieder im Kontor oder in anderen Räumen des Instituts bleibt ebenso un143 | JvG, S. 61f. 144 | JvG, S. 62. 145 | JvG, S. 62. 146 | JvG, S. 62. 147 | JvG, S. 94. 148 | JvG, S. 95.
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klar, wie der Grund ihres Zustandekommens. Jakob scheint diesmal nicht auf Benjamenta zugegangen zu sein, wie aus den unmittelbar davorliegenden Tagebuchnotizen hervorgeht: In ihnen umkreist Jakob das heikle Thema des Verbotenen und gesteht sich ein, dass, wenn er nicht lieben solle, er zehnfach liebe, dass für ihn »alles Verbotene […] auf hundertfache Art und Weise« lebe, dass also nur lebendiger lebe, »was tot sein sollte.«149 Das sind nach Lage der Liebesdinge ungewöhnlich kühne, aber keine frei schwebenden Reflexionen. Sie betreffen unmittelbar die Situation nach dem Geständnis des Herrn Benjamenta, und Jakob ist sich dessen bewusst: Vielleicht schwebt jetzt zwischen Herrn Benjamenta und mir etwas wie eine beiden Teilen sichtbare, verbotene Frucht. Doch wir beide drücken uns nicht deutlich aus. Wir scheuen vor der offenen Sprache zurück, und das ist gewiss nur zu billigen. […] ich muss darin Talent besitzen, jemanden von der Unklugheit gewisser Annäherungen stumm zu überzeugen, wenigstens halte ich es für schwierig, sich in mein Vertrauen zu stehlen. Und meine Wärme ist mir kostbar, sehr kostbar, und derjenige, der sie besitzen will, muss äußerst vorsichtig vorgehen, und das will nun Herr Vorsteher. Dieser Herr Benjamenta will, wie es scheint, mein Herz besitzen und Freundschaft mit mir schließen. Vorläufig behandle ich ihn aber eisig kalt, und wer weiß: ich will vielleicht gar nichts von ihm wissen.150
Trotz des ›vielleicht‹: Diesmal wird die Initiative kaum von Jakob ausgegangen sein, und so beginnt der Vorsteher denn auch seine bislang längste Rede unvermittelt am Anfang der nachfolgenden Tagebuchnotiz. In ihr gibt es Komplimente (»Du hast Verstand, Jakob. O, man kann sich mit dir so hübsch unterhalten.«), halbe Versprechen (»[…] jetzt wirst du ja wohl bald in eine dir ziemende Stellung kommen? Nicht?«), und überraschende Mitteilungen (»Ich bin ein abgesetzter König.«151). Vor allem aber ist diese Rede dem Wunsch geschuldet, den jungen Mann unmerklich für sich zu gewinnen. Das schmelzende homoerotische Timbre gemahnt bisweilen an seine eigene Parodie: »Es ist prickelnd reizvoll, sich dir gegenüber ein wenig schwach und weicher, als gewöhnlich, zu benehmen. Ja,
149 | JvG, S. 105. 150 | JvG, S. 105f. 151 | JvG, S. 107.
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du forderst geradezu heraus zur Fahrlässigkeit, zur Lockerung, zur Preisgabe der Würde.«152 Diese Sprache der Liebe und des Begehrens eröffnet jedoch keinen Raum widerstandslosen Einverständnisses; ihr gelingt es nicht, auf ihrem eigenen Ton zu bleiben, vielmehr stößt sie das ersehnte Objekt immer wieder von sich, schlägt unvermittelt in die Androhung extremer Gewalt um: Entschuldige, wenn ich etwas zu weich, zu vertraulich rede. Ich muss einfach lachen. Da bitte ich dich, mich zu entschuldigen, während ich dich durchprügeln könnte, wenn ich es für nötig fände. Wie hart mich deine jungen Augen anblicken. Ei, ei, und ich könnte dich an die Wand werfen, dass dir Hören und Sehen für immer vergingen. […] Du lachst mich wohl heimlich aus. Leise gesagt: Hüte dich da. […] Man mutet dir, glaubst du das, Edelsinn zu, und da reizt es einen ganz mächtig, sich vor dir in schönen, wohltuenden Erklärungen und Geständnissen zu verlieren, so zum Beispiel ich, dein Herr, vor dir, meinem jungen armen Wurm, den ich, wenn’s mich gelüstete, zermalmen könnte.153
›Durchprügeln‹, ›an die Wand werfen‹, ›zermalmen‹: Diese sich steigernden Drohungen durchkreuzen die verbale Absicht der von Benjamenta begonnenen Rede, zersetzen ihre Wirkungskraft, unterminieren ihr Ziel. Sie sprechen von etwas, was der Absicht des Sprechers entgegensteht und was ihm – ernst genommen – das junge Objekt des Begehrens entziehen würde. Wovon sie sprechen ist nur zu erschließen, nicht nachzulesen: Es ist das Tabu der hier zur Rede stehenden Beziehung. Was sich seit Tagen zu bilden beginnt, ist eine verbotene Frucht, und die Rede von der Vernichtung wäre die gewaltsame Rettung vor dem Tabubruch, wäre Entzug des Objekts und Selbstbestrafung in einem. Der ›abgesetzte König‹154, als den sich Benjamenta bezeichnet, wäre damit ein weiteres Mal degradiert, diesmal von sich selbst. Wie angegriffen der ›abgesetzte König‹ bereits ist, zeigt der Auftakt seiner Rede, in der Benjamenta dem vor Jugend und »Lebensaussichten« 152 | JvG, S. 107. 153 | JvG, S. 106f. 154 | Die Behauptung, er sei ein ›abgesetzter König‹, wird Benjamenta später relativieren: »›[…] Für heute muss ich dir sagen, dass ich kein wirklicher abgesetzter König bin, ich meinte, ich sagte dir das nur so, des Bildes halber. […]‹« JvG, S. 158.
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strotzenden Jakob seine verwirrte Vergesslichkeit offenbart: »Wart mal, habe ich da etwas sagen wollen und es jetzt vergessen? […] Mein Kopf, Jakob, ist am Sterben.«155 Koketterie ist das nicht, wohl aber ein Ausdruck der Verwirrung, in die Benjamenta sich durch seine Zuneigung zu dem neuen Zögling gestürzt sieht. Der bleibt auf seine halb tändelnde, halb reflektierte Art weiter auf Distanz, gibt sich selbst das Versprechen, fortzufahren, »Form zu bewahren«156, ist aber sensibel genug, sich zu entschließen, sich nicht mehr vor Herrn Benjamenta zu verbeugen, »es würde ihm weh tun.« 157 Ob Benjamenta ihm weh tun könnte – das zu befürchten scheint die Lässigkeit nicht zuzulassen, mit der Jakob sich am Ende des Tagebucheintrages verabschiedet: Ich habe Mut genug, über etwas Seltsames Schweigen zu bewahren, und Verstand genug, mit etwas Zweifelhaftem allein fertig zu werden. Vielleicht ist Herr Benjamenta verrückt. Jedenfalls gleicht er dem Löwen, ich aber der Maus. Nette Zustände sind das, die sich da jetzt im Institut eingeschlichen haben. Nur niemandem etwas sagen. Eine verschwiegene Angelegenheit ist manchmal schon eine gewonnene. Das alles sind Dummheiten. Basta.158
Herr Benjamenta hat diese Lässigkeit nicht. Als Jakob wieder einmal nach einiger Zeit das Kontor betritt und ihn wegen der erwünschten Anstellung neckt und mit Nachfragen reizt, offenbart er sich endgültig und rückhaltlos. Sein Impuls, wütend zu werden, verfliegt sofort; er wird verlegen, fängt »sogar an, sich hinter den großen Ohren zu reiben«, und setzt zu einer langen, sich vom allgemeinen »Dasein des Menschen«159 bis zum Besonderen des ihn bezaubernden Zöglings vorantastenden Rede an; die ist nichts als eine einzige, jeden Umweg in Kauf nehmende, verbale Werbung um Jakob: Sein Weggehen würde ihn schmerzen, »es würde mir eine Wunde, eine ganz unheilbare, beibringen, es würde mich fast töten.«160 Auf dies Geständnis folgt die Bitte, ihn, den Vorsteher, aus155 | JvG, S. 106. 156 | JvG, S. 108. 157 | JvG, S. 107. 158 | JvG, S. 108. 159 | JvG, S. 128. 160 | JvG, S. 129.
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zulachen (»Lach mich ganz unverschämt aus, Jakob.«161). Und dann die in die Form rhetorischer Fragen gekleidete Resignation: Benjamenta sieht sich als einen, der fast abhängig ist und ist über sich selbst »empört und beglückt«162 . Wie im Zeitraffer wechseln die Affekte – von aufflackernder Wut bis zur geständnisbereiten Verlegenheit – und laufen schließlich auf den Satz zu, in dem das Einmalige des Moments festgehalten wird. Der Vorsteher liebt »zum erstenmal einen Menschen.« 163 Wie wenn die Wahrheit unerträglich wäre für den, der sie ausspricht, entlässt Benjamenta Jakob mit einer halben Drohung: »›[…] Doch das fassest du nicht. Geh. Marsch. Mach, dass du hinauskommst. Ungezogener, wisse, dass ich noch strafen kann. Fürchte dich.‹«164 Einmal mehr wandelt sich so der Gestus der Unterwerfung unversehens in den des Strafens. Die Gewalt in der Beziehung zwischen den beiden bleibt latent und dies umso auswegloser, als das Ungehörige und Normwidrige dieser Beziehung beiden zum Bewusstsein kommt. Jakobs Reflexionen hierzu bewegen sich so sprunghaft zwischen widerstreitenden Affekten, dass er von einem sonderbaren »Doppelleben« 165spricht; er lebe »ein geregeltes und ein ungeregeltes, ein kontrolliertes und ein unkontrollierbares, ein einfaches und ein höchst kompliziertes.« 166 Er sieht sich als Eleven und Sklaven, der einem »unbarmherzigen Sturmwind« 167 ausgeliefert sei, und dieser Sturmwind sei Benjamenta mit allem »Brausen und Zürnen und dunkle[n] Sichentladen.«168 Gegen diese Bilder einer drohenden Gewalt mit ihren unüberlesbaren sexuellen Konnotationen ruft Jakob die Erinnerung an jene Erfahrungen auf, in denen sich Herr Benjamenta als der »Erschütterung und Schwäche«169 fähig gezeigt hat, »so fähig, so sehr fähig, dass es beinahe zum Lachen, vielleicht sogar zum Grinsen ist.«170 Für einige Momente erscheint 161 | JvG, S. 129. 162 | JvG, S. 129. 163 | JvG, S. 129. 164 | JvG, S. 129. 165 | JvG, S. 140. 166 | JvG, S. 140. 167 | JvG, S. 140. 168 | JvG, S. 140. 169 | JvG, S. 140. 170 | JvG, S. 140.
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ihm die Figur des Mitschülers Kraus mit ihrer Tugend der affektiven Neutralität als ein Halt, als »ein Felsen«, an dem »das Leben, die stürmische Welle« sich »zerspritzt«.171 Sobald jedoch seine Gedanken von der Unnahbarkeit der Figur des Kraus abschweifen und sich wieder auf das »Hübsche«, das »Anziehende« richten, geraten die »verzehrenden, fressenden, Lebens-Zärtlichkeiten« 172 wieder in den Umkreis seiner Angst. In deren Zentrum steht ein Wort, das uns durch die öffentliche Diskussion unserer Tage als Inbegriff sexueller Verirrung gilt: Missbrauch. Im »Jakob von Gunten« kommt es in dieser Bedeutung nur einmal vor, 173 im Kontext jener Reflexionen, die an die Figur des Kraus anknüpfen und die an ihr das »Hübsche, Anziehende« 174 hervorheben; als etwas Hübsches, Anziehendes konnte sich Jakob im Begehren des Vorstehers wiedererkennen, und nach der Szene zuvor kann er es mehr denn je. Umso größer erscheint ihm die Gefahr, und der Begriff des Missbrauchs steht denn auch unter dem Vorzeichen des Passivs: »Das Hübsche, Anziehende mag man gern, und daher ist auch das Schöne und Hübsche der Gefahr des Gefressenwerdens oder Missbrauchtwerdens in so hohem Masse ausgesetzt.«175 Die mit »ausgesetzt« signalisierte Hilflosigkeit zeigt jedoch nur eine Seite des hier von Jakob mit sich selbst verhandelten Affektkomplexes; die andere ist die Neugier, sich auf das lockende Ungehörige einzulassen, und ein Satz in Jakobs Überlegungen lässt bereits das im Konjunktiv gleichfalls sexuell konnotierte Ergebnis erkennen:
171 | JvG, S. 140. 172 | JvG, S. 141. 173 | Der Gebrauch des Begriffs an anderer Stelle umschreibt einen störenden Überfluss an Wissen, der einen Menschen – hier den Mitschüler Fuchs – allerdings soweit entwerten kann, dass er als Ding erscheint: »Über Fuchs etwas zu wissen, das ist Missbrauch, unfeiner, störender Überfluss. Man kennt solche Schlingel nur, um sie zu verachten; da man aber überhaupt nicht gern irgend etwas verächtlich finden will, vergisst oder übersieht man das Ding. Ein Ding, ja, das ist er.« JvG, S. 43. 174 | JvG, S. 141. 175 | JvG, S. 141.
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Es wird ihn drängen zu Offenheiten, zu Erzählungen. Sehr wahrscheinlich. Und merkwürdig: manchmal ist mir, als wenn ich mich von diesem Mann, diesem Riesen, nie trennen sollte, nie mehr, als ob wir beide in Eines verschmolzen wären.176
Am Ende zieht Jakob sich einmal mehr auf die von ihm bevorzugte Identität des ›Kleinseins‹ und der ›Nichtswürdigkeit‹ zurück, der es nicht darauf anzukommen scheint, etwas Bedeutendem im Leben Platz einzuräumen.177 Die Reflexion und das unspezifische Sehnen sind damit aber keineswegs an ihr Ende gekommen. Sie werden nur in den Zustand einer träumerischen, schläfrigen Passivität versetzt, so als könne sich der Tagebuchschreiber selbst in den Schlaf und zur Ruhe bringen: »Ach, all diese Gedanken, all dieses sonderbare Sehnen, dieses Suchen, dieses HändeAusstrecken nach einer Bedeutung. Mag es träumen, mag es schlafen. Ich lasse es einfach nun kommen. Mag es kommen.«178 Wie aus dem Schlaf aufgeschreckt, so beginnt der nächste Tagebucheintrag: »Ich schreibe in fliegender Hast. Ich bebe am ganzen Körper. Es flackert vor meinen Augen wie auf und ab tanzende Irrlichter.«179 Diese Wahrnehmungen am eigenen Leibe haben ihren Grund im ›Furchtbaren‹, von dem im nächsten Satz die Rede ist, das aber sogleich in Frage gestellt wird: »Etwas Furchtbares ist geschehen, scheint geschehen, kaum bin ich meiner selber und dessen bewusst, was vorfiel.«180 Spuren dieser Unsicherheit finden sich noch am Ende des Eintrages: »Ich stürzte hierher an den Schultisch, und hier bin ich, und ich weiß nicht, ob ich das geträumt, oder ob ich das tatsächlich erlebt habe.«181 Das ›tatsächlich Erlebte‹ ist in jedem Fall ein Gewaltakt seitens des Vorstehers. Dessen Charakter schwankt zwischen versuchtem Totschlag 176 | JvG, S. 141. 177 | Vgl. hierzu Hermann Burger, der in seiner Beobachtung die walserschen Helden insgesamt meint und zugleich deren Autor: »[…] der Autor und seine Helden verfügen nie über eine konturierte Identität, aber sie tun andauernd so, als hätten sie eine solche aufs Spiel zu setzen.« Burger o.J., S. 10. 178 | JvG, S. 141f. 179 | JvG, S. 142. 180 | JvG, S. 142. 181 | JvG, S. 143. Nur an dieser Stelle wird vom erzählenden Ich die Schreibsituation in der Schulstube explizit benannt.
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und Vergewaltigung. Geht man den von Jakob erzählten Tatbestandsmerkmalen für versuchten Totschlag nach, so hat der Vorsteher »einen Anfall gehabt«, ist »in eine unbeschreibliche Wut« geraten, hat Jakob »erwürgen wollen«.182 Der aber ist »mit, ich kann es nicht anders sagen, wunderbarer Behendigkeit seinen zusammenschnürenden Fäusten« entkommen, nachdem er ihn »in den Finger gebissen«183 hat. Eine Vorgeschichte oder einen erzählten Anlass zu diesem Gewaltakt gibt es in expliziter Form nicht. Nimmt man jedoch den Kontext der zuvor von Jakob angestellten Reflexionen hinzu, erhält der Vorgang eine sexuelle Komponente. Das ›Missbrauchtwerden‹, von dem Jakob gesprochen hat, scheint in einem Satz auf, in dem Jakob die maßlose Gewalt und die eigene Ohnmacht in Bildern zu fassen versucht: Gleich einem Rasenden hat er sich auf mich gestürzt. Geworfen hat er sich mit seinem mächtigen Körper auf mich wie ein dunkles Stück verrückt gewordenen Jähzornes; wie eine Meerwelle kam es auf mich zu, um mich zu zerschmettern an den harten Wasserwänden.184
Die Erfahrung der Gewalt zittert in den folgenden Eintragungen nach: »Ja, so kommt er mir vor: noch gar nicht gelebt hat er. Will er sich jetzt etwa an mir ausleben?«185 In einer weiteren Szene will der Vorsteher Jakob küssen; der tritt zurück »wie um einem Hieb auszuweichen«186. Auf die Frage Benjamentas »Willst du ganz, ganz bei mir bleiben?«187 gibt Jakob zunächst eine hinhaltende Antwort, stellt dann aber sein ›Ja‹ in Aussicht. Der zwiespältigen Lockung, mit ihm, Jakob, könne man »›[…] entweder etwas Mutiges oder etwas sehr Delikates‹« wagen, hält Jakob entgegen: »›Herr Vorsteher‹, sagte ich, ›schmeicheln Sie mir nicht, das ist garstig und erregt Verdacht. Und dann halt! […]‹« 188
182 | JvG, S. 142. 183 | JvG, S. 142. 184 | JvG, S. 143. 185 | JvG, S. 147. 186 | JvG, S. 148. 187 | JvG, S. 149. 188 | JvG, S. 150.
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Das Institut, das Benjamentas Namen trägt, geht derweil seinem Ende entgegen. Der Vorsteher selbst hat es so entschieden: »›Sieh da, geahnt hast du es schon, dass das Institut Benjamenta gleichsam heute noch lebt und morgen nicht mehr. Ja, so kann man sagen. Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an.‹«189 Nachdem Kraus gegangen ist, zieht Jakob selbst sein Resümee: »›Heute noch ein Institut Benjamenta und morgen keines mehr‹, sprach ich laut zu mir selber.« 190 Als er dann abermals Benjamentas Kontor betritt, scheint ihm die Welt durch einen Riss geteilt: Ich trat zu Herrn Vorsteher herein. Es war mir, als wenn die Welt einen glühend-zündend-klaffenden Riss von einer räumlichen Möglichkeit bis zur entgegengesetzten andern bekommen hätte. Mit Kraus war die Hälfte des Lebens gegangen. »Von jetzt ab ein anderes Leben!« murmelte ich.191
Dem Umarmungsversuch des Vorstehers allerdings weicht er nicht nur aus; er wehrt ihn aktiv ab: »Er kam mir entgegen und würde mich umarmt haben, aber ich verhinderte das, indem ich ihm einen Schlag auf den ausgestreckten Arm versetzte. ›Kraus ist gegangen‹, sagte ich tiefernst. Wir schwiegen und begnügten uns, uns ziemlich lange anzuschauen.«192
Die Aufhebung der erzieherischen Asymmetrie Überblickt man die Entwicklung dieser Lehrer-Schüler-Beziehung, angefangen von Benjamentas ersten willkürlichen Befehlen und dem Schlag an Jakobs Kopf bis hin zu Jakobs Abwehr der Umarmung durch Benjamenta mit einem Hieb auf dessen Arm, so entsteht das Bild einer krisenhaften, sich von beiden Seiten zuarbeitenden Erfahrungsproduktion, in deren Mittelpunkt die Beziehung selbst steht. In ihr sind passive und aktive Elemente am Werk, genießende und strafende, rücksichtslose und nachsichtige, masochistische und sadistische. Sie verhalten sich in ihren Eigenbewegungen spiegelbildlich zueinander und sind an keinen der beiden Akteure auf Dauer gebunden. Die aus ihrer Wechselwirkung 189 | JvG, S. 149. 190 | JvG, S. 155. 191 | JvG, S. 155. 192 | JvG, S. 155.
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hervorgehende Gesamtbewegung hat kein von vornherein ausgemachtes Ziel; dennoch ist ihr eine gemeinsame Richtung eigen, die bis zum Ende der erzählten Handlung nur annäherungsweise zu bestimmen ist: von den Grenzen her, gegen die sie – ihrer immanenten Tendenz folgend – angeht. Es sind dies vor allem jene Normen und Normensysteme, die über die gesellschaftliche Legitimität libidinöser Beziehungen befinden. Innerhalb ihres Geltungsbereichs ist die ›Liebe‹ zwischen einem Lehrer und einem Schüler mit guten Grund tabuisiert.193 Die in Erziehungsinstitutionen, ja im erzieherischen Verhältnis selbst unvermeidbare Asymmetrie stellt jedes Liebesverhältnis unter den Verdacht des Machtmissbrauchs.194 Die ungleiche, offen zu Tage liegende Verteilung der Macht im fiktiven Institut Benjamenta ist denn auch ›wie von selbst‹ eines der wichtigsten Themen der ersten Hälfte des Romans. Das Problem, das sie darstellt, verschärft sich durch den Umstand, dass es sich hier um eine Dienerschule handelt, in der die Anerkennung der Herrschaftsverhältnisse die Grundlage der angestrebten Qualifikationen ist. Hinzu kommt, dass Jakob bewusst der in seiner Familie tradierten Macht den Rücken gekehrt und die Moral des Kleinseins und des Dienens zu seiner Sache gemacht hat. Diese Entscheidung für die diensteifrige Inferiorität ist gefallen, bevor das Tagebuch-Ich mit seinen Eintragungen beginnt; so befremdlich 193 | Ein spätes Echo vom Bewusstsein dieses Tabus findet sich in einer Äußerung Robert Walsers, von der Carl Seelig in seinem Buch »Wanderungen mit Robert Walser« berichtet: »Ich: ›Mit Begeisterung habe ich kürzlich Ihren ›Jakob von Gunten‹ gelesen. Wo ist er eigentlich entstanden?‹ – ›In Berlin. Zum größeren Teil ist er eine dichterische Phantasie. Etwas verwegen, nicht wahr? Unter meinen umfangreicheren Büchern ist er mir auch das liebste.‹« Seelig [1957] 1984, S. 15. 194 | Ulrich Oevermann schreibt in einem neueren Aufsatz zum Thema »Sexueller Missbrauch in Erziehungsanstalten« zur Vernunft dieses Verdachts folgendes: »Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist für die Betroffenen immer eine schwere bis schwerste Traumatisierung, und da geht es schlicht um deren Vermeidung oder Bearbeitung, um die Achtung der sexuellen Selbstbestimmung autonomer Subjekte; und wo diese Autonomie noch nicht entwickelt sein kann oder beschädigt oder beeinträchtigt ist, geht es um den Schutz vor unangemessenen und überfordernden Fremdbestimmungen bei gleichzeitiger Eröffnung von Wegen der Bildung oder Rückgewinnung dieser Autonomie auf der Basis eben jener zu klärenden ›Normal‹-Sozialisation.« Oevermann 2010, S. 573.
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sie ist und so rätselhaft sie erscheinen mag – sie ist der Beginn jenes Selbsterziehungsexperiments, in dessen Verlauf erst die Dominanz der zentralen Machtfigur des Instituts und dann dieses selbst unterminiert werden. In diesem Prozess zerfällt die machtgestützte Autorität Benjamentas gegen dessen eigenen Widerstand, während die Souveränität des Zöglings wächst.
E xkurs: Ein szenisches Interpretationsangebot Diese Sätze, wie die ihnen vorausgehenden, sind Versuche der Interpretation. In ihnen wird wie selbstverständlich behauptet, dass hinter der mit sich selbst identischen Textgestalt (in der Alltagsrede ›Wortlaut‹ genannt) eine Bedeutung liegt, die erschlossen werden muss, da sie der Text nicht ›ohne weiteres‹ preisgibt. Die in der Geschichte einer jeden Rezeption aufgehobenen Bedeutungszuschreibungen bilden jeweils eine Folge von Deutungsangeboten für den Text, vorausgesetzt, er ist in den Kanon anhaltenden Interesses aufgenommen. Von diesen Angeboten ist leider nicht vorbehaltlos anzunehmen, dass sie sich mit Notwendigkeit nach und nach optimieren, so dass das Neueste als das Abgesichertste und Komplexeste anzusehen wäre. Susan Sontag hat diese Befürchtung bereits 1964 in ihrem Essay »Against Interpretation« zu einem generellen Zweifel am Verfahren modernen Interpretierens ausgebaut. Die einflussreichen Lehren von Freud zum Beispiel – so Sontag – gingen von einer Unterscheidung von manifestem und latentem Inhalt aus. Ganz gleich, ob unter dem Begriff des Latenten »Phänomene des individuellen Lebens« 195 oder gesellschaftliche Strukturen zu verstehen seien – die Aufgabe der Interpretation bestehe immer darin, »sich ›hinter‹ den Text« zu graben, wobei dieser Akt der Ausgrabung das Objekt des Interesses beschädige oder gar zerstöre.196
195 | Sontag [1962] 1968, S. 12. 196 | Sontag [1962] 1968, S. 12. Vergleiche zur Kritik des Interpretationsgeschäftes auch Jochen Hörisch 1997.
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Die Verve, mit der diese Kritik vorgebracht wurde, ist bis heute vernehmbar. In ihrer trivialisierten Form befeuert sie immer noch einen naiven Sensualismus, der auf unmittelbare, theorieenthobene Anschauung setzt. Daran ist der Text Sontags selbst nicht ganz unbeteiligt. Sein emphatisches Bekenntnis zu einer Kunst, die »die Eigenschaft [hat], uns nervös zu machen«197, das Postulat, die »Leuchtkraft des Gegenstandes selbst« 198 zur Anschauung zu bringen und die abschließende lapidare These, »statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst«199 sind für theoriemüde Leser weiterhin ein dankbarer Anlass zum Missverständnis. Dennoch ist in Sontags Forderungen der Rest eines produktiven Zweifels am Geschäft des Interpretierens aufgehoben, der die Anstrengung beflügeln kann, Interpretationsangebote in Erwägung zu ziehen, die der Kritik an der Dichotomie von manifestem und latentem Gehalt standhalten. Die nachfolgenden Anmerkungen zu einer zehnminütigen Sequenz aus dem Film »Jakob von Gunten. Die hohe Schule der Demut« verstehen sich als ein Versuch in dieser Richtung. Ihre Absicht ist es, diesen Teil einer Inszenierung als ein szenisches Interpretationsangebot für Walsers Text aufzufassen. Zu diesem Angebot tragen das Spiel der Akteure, der Raum und seine Ausstattung bis hin zu den Requisiten in einer Weise bei, die nicht darauf abzielt, etwas unterhalb der Textebene Verborgenes aufzuspüren und als eigentliche Botschaft ins Licht zu heben. Es geht vielmehr darum, eine szenisch-räumliche Verdichtung vor Augen zu führen, in der im Sinne der Wunschprojektion Sontags, »die Kunst – und analog dazu unsere eigene Erfahrung – für uns wirklicher« wird »statt weniger wirklich.«200 Die Sequenz stammt aus dem Film, der der Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000 folgt, an der ich als Bühnenund Kostümbildnerin und als Mitautorin der Spielfassung beteiligt war. Sie zeigt in ihrem Zentrum die Szene, die als Pe197 | Sontag [1962] 1968, S. 13. 198 | Sontag [1962] 1968, S. 17. 199 | Sontag [1962] 1968, S. 18. 200 | Sontag [1962] 1968, S. 18.
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ripetie der Handlung im zuvor detailliert beschriebenen Sinn auszumachen ist. In ihr gesteht Herr Benjamenta auf Umwegen und nahezu gegen seinen eigenen Willen und mit Rückfällen in den Gestus des aggressiven Herrschers ein, dass er zum ersten Mal einen Menschen liebt.201 Jakob, dem diese Liebe gilt, kann mit der Mitteilung ebenso wenig umgehen wie der, aus dessen Mund sie kommt. Während die ›Geständnisse‹ des Herrn Benjamenta intimer werden, nimmt die anfängliche Souveränität des Zöglings ab. In diesen zehn Minuten verdichten sich die Handlungstendenzen der Protagonisten auf eine Weise, dass es nur einen Ausweg geben kann oder eine wie auch immer geartete Form von Katastrophe. Die Bearbeitung des Textes – vor allem für diese Sequenz – versucht, diese Peripetie zu verdeutlichen, indem sie Textbestandteile aus verschiedenen Phasen der Entwicklung der Lehrer-Schüler-Beziehung zu einem Dialog zusammenfügt. Die Szene spielt im Schul- und Übungsraum für die angehenden Diener. Vorausgegangen ist eine Sequenz, in der die Lehrerin die Kunst des Servierens vorgeführt bekommt und in der sie als Teil der Übung aus ihrem Rotweinglas trinkt. Der Raum selbst ist also zum einen eine Art Laboratorium, in dem die Fertigkeiten der Zöglinge auf dem Prüfstand sind und zum anderen ein Ort der Affekte, in dem das Verhältnis der Knaben zum Fräulein im Ansatz und meist in ihrer Abwesenheit ausagiert werden kann: Ihr Kommen wird – wie die vorangehende Sequenz zeigt – gespannt erwartet, ihr Gehen führt zum Versuch, ihre Gestalt im verbalen Schwärmen in der Nähe zu halten. Alles das steht im Hintergrund der Szene, die beginnt, wenn Jakob seine Überlegung, ob er sich sehne, von Benjamenta gezüchtigt zu werden, in eine bewusste Provokation überführt.202 Die Sequenz findet sich unter folgendem Link: http://vimeo. com/68847070
201 | Vgl.: JvG, S. 129. 202 | Vgl.: JvG, S. 44.
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Abbildung 11: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000
Das Ziel dieser Provokation ist der Institutsvorsteher, der bei seinem Eintritt die Elemente des demonstrativen Fehlverhaltens präsentiert bekommt: Jakobs Füße auf dem Tisch, der für den Unterricht eine zentrale Rolle spielt; dazu die beiden Übergriffe auf das Übungsmaterial – das gefüllte Rotweinglas in der einen Hand und die andere Hand voll blauer Trauben, Vorprodukt des alten Rauschmittels, das in der Szene noch eine Rolle spielen wird. Von den Dingen im Raum geraten neben den Übungsrequisiten auf dem gedeckten Tisch (Karaffen, Gläser, Tischglocke, brennende Kerzen, Obst in Schalen etc.) nach und nach die an ehemaligen Wohlstand gemahnenden Wand- und Deckenleuchten in den Blick, sowie zwei Kästen an der Wand, in denen sich einige wie museal zu Lehrzwecken aufbewahrte Besteckmuster finden. Die dann einsetzende Dialogszene bewegt sich zwischen erwünschter bzw. verweigerter Nähe und befohlener bzw. riskierter Distanz. In ihr folgt die Zurechtweisung auf die freche Anspruchshaltung; ein halbes Aufbegehren von Jakobs Seite geht seinem Zurückrufen voraus; die Geständnisse des Vorstehers kommen ohne erneute Drohung nicht an ihr Ende, und die anschließende Reaktionsunfähigkeit Jakobs lässt dem allein zu-
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rückbleibenden Benjamenta Zeit und Raum für ein erstes Aufatmen. Abbildung 12: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000
Wenn Jakob die Schulstube verlässt, geschieht das optisch zweifach: Er geht aus dem Bild, sein Schatten bleibt für einen Moment sichtbar, um dann auch zu verschwinden. Umgekehrt geht der Schatten Jakob voran, wenn der sich Benjamenta nähert, um Wein nachzugießen. In dem permanenten Wechsel der Affekte spielen einige Requisiten ihre signifikanten Rollen. So werden die Geständnisse Benjamentas mit dem Abnehmen der Brille, dem Entwaffnen des ansonsten oft strafenden Auges, eingeleitet. Das Öffnen des Fensters, mit dem der Gesang der Grillen von außen hörbar wird, geschieht mit einem an einem Schlüsselbund hängenden Vierkantschlüssel, wie er in den Psychiatrien der Vergangenheit üblich war. Das Glas schließlich, aus dem der Vorsteher trinkt, trägt noch die Lippenstiftspuren seiner Schwester, der von den Zöglingen verehrten Lehrerin, deren letzter, Jakob, das Glas in Händen hält, wenn die Szene beginnt; Benjamenta dreht es so, dass seine Lippen auf dem Abdruck ihrer Lippen zu liegen kommen. Sekunden später, wenn er das Glas geleert hat, kann man
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die rote Farbe an ihnen wahrnehmen, bevor Jakob den Wein nachschenkt, ohne den Benjamenta in seinen Geständnissen nicht so weit gegangen wäre. Die hier explizite homoerotische Färbung der ganzen Sequenz erwies sich im Probenprozess für den Schauspieler des Benjamenta als eine Herausforderung ersten Ranges. Das Ergebnis hat seine Befürchtungen aufgelöst und seine eigenen Erwartungen übertroffen. Zur Intensität der Wirkung sowohl der Theaterfassung203 als auch der Filmversion trug nicht unwesentlich bei, dass in ihr nicht der für jede theatrale Erfindung offene Bühnenraum gewählt worden war, sondern die seit über einem Jahrzehnt stillgelegte Männerabteilung einer Psychiatrie. Diesen Raum zu finden und ihn bis ins Detail und bis in seinen Geruch hinein auszustatten, gehört zu den intensivsten Erfahrungen meiner bisherigen Theaterarbeit. Abbildung 13: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000
203 | Sie wurde insgesamt einige dutzend Male in Deutschland und als Gastspiel in der Schweiz (in der Psychiatrischen Klinik in Herisau, in demjenigen Gebäude, in dem Robert Walser seine letzten Lebensjahrzehnte verbracht hat) gezeigt.
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Es steht mir nicht zu, darüber zu spekulieren oder gar zu befinden, ob in der Abgeschiedenheit dieser Räume, in denen die Anwesenheit der Menschen noch spürbar war, etwas von Walsers Text ›wirklicher‹ geworden ist (im Sinne der Forderung Susan Sontags) und ob die Wahrnehmung seiner Qualität gesteigert werden konnte. Für meine damaligen Möglichkeiten im Umgang mit literarischen Texten gilt das zweifellos. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass das Entwerfen szenischer Konzepte in engem Kontakt mit der Gestaltung von Räumen zumindest ein Analogon zu den Interpretationsleistungen darstellen kann, die das hermeneutische Alltagsgeschäft ausmachen.204
Jenseits der europäischen Kultur? Kehrt man zur Interpretation des Textes zurück, so scheint das folgende vorläufige Resümee möglich: Der Zuwachs an Souveränität, der auf Seiten Jakobs zu beobachten ist, und der ihm korrespondierende Autoritätsverfall Benjamentas führen keineswegs umstandslos zu egalitären Verhältnissen, wohl aber zu der Ahnung, dass die Einrichtung, die dem Dualismus von Dienst und Herrschaft zuarbeitet, nicht zu halten ist. Um die Beziehung zwischen Lehrer und Zögling möglich oder auch nur wahrscheinlicher zu machen, ist die Auflösung der sie umschließenden pädagogischen Institution eine notwendige Voraussetzung. Der Vorsteher Benjamenta fasst sie ohne jede Ankündigung und ohne Bedauern ins Auge. Noch während der Totenwache in den inneren Gemächern beginnt er die existenzielle Mangelsituation zu beschreiben, die er mit seiner Selbst204 | Zieht man neben dem Text – wie hier anhand einer Filmsequenz geschehen – ein weiteres Medium heran, in das der Text gleichsam übersetzt ist, so lassen sich drei Ebenen der interpretierenden Beziehung unterscheiden: • die Beziehung des interpretierenden Textes zum Ausgangstext (hier Walsers Roman); • die Beziehung des interpretierenden Textes zur Interpretationsleistung des Mediums Film; • die interpretierende Beziehung des Films zum Ausgangstext. Der Exkurs geht diesen Differenzierungsmöglichkeiten nicht nach; ihm kommt es darauf an, das von Susan Sontag benannte Problem jeden Interpretierens vor Augen zu stellen.
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definition als »abgesetzter König« 205 gemeint hat: Es sei nur ein Bild gewesen, das die Differenz zweier Lebensphasen illustrieren sollte. In der einen, früheren, erkennt sich Benjamenta in der Fülle vielversprechender Erfahrungsmöglichkeiten wieder, in einer Welt, »wo das Leben vor mir zum Erfassen dalag, wo alle meine Sinne an Zukunft und an Größe glaubten […], wo ich besaß, was ich anschaute, genoss, an was ich nur flüchtig dachte, wo alles bereit war, mich mit Befriedigung zu krönen«.206 Die im Rückblick imaginierte Krone ist leicht als die der Jugendzeit zu identifizieren. Die Erfahrung ihres Verlustes, über dessen Gründe Benjamenta keine Auskunft gibt, wird mit Erbitterung umschrieben; es sei ein Sturz, nach dem man »jammervoll klein« sei, »und immer mehr Kleinheiten werfen sich über einen, gefräßigem, raschem Ungeziefer gleich, das uns frisst, ganz langsam, das uns ganz langsam zu ersticken, zu entmenschen versteht.«207 Es ist der Alltag des Immergleichen, des »Seinesgleichen geschieht«208, der hier benannt wird, ein Zustand, in dem »solche Herrscher […], genötigt sind, Unterricht usw. zu erteilen und Institute zu eröffnen«.209 In der Wahrnehmung dessen, der so spricht, sind die Lebenswirklichkeit und die in ihr angelegten Erfahrungspotentiale ersehnte Gegenwelten zu denen seines pädagogischen Berufs und seiner pädagogischen 205 | JvG, S. 107 und S. 158. 206 | JvG, S. 158. 207 | JvG, S. 159. 208 | So die Überschrift zum zweiten Teil von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Musil [1932] 2002, S. 81. 209 | JvG, S. 159. Was Benjamenta hier als seine Erfahrung benennt, ist ein Topos in den kulturkritischen Schriften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts; so schreibt Walter Benjamin in einem Aufsatz von 1913 mit jugendbewegter Emphase: »Und immer mehr befällt uns das Gefühl: deine Jugend ist eine kurze Nacht nur […]; dann kommt die große ›Erfahrung‹, Jahre der Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben. Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie.« Benjamin 1977, S. 54. Vergleichbares wird in Ebermayers Roman »Kampf um Odilienberg« beschrieben: »Ein paar armselige Jahre für jeden Einzelnen, bestimmt zu Freiheit, Glück, Leichtigkeit, Lachen, – dann kam ohnehin das Leben, Beruf, Bureau, Familie, Not, Alltag, Fron.« Ebermayer 1929, S. 175. Auf den Zusammenhang von kulturkritischer Jugendbewegung und homoerotischer Tendenz wird im letzten Kapitel dieser Arbeit näher eingegangen.
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Institution. Zu jenen gelangt er nur, wenn er diese aufgibt. Nur jenseits der Dienerschule scheint eine Annäherung an das möglich zu sein, was in Jakobs gemurmeltem Satz als Impetus vernehmbar wird: »Von jetzt ab ein anderes Leben!«.210 Das könnte als Motto über den letzten Seiten des Romans stehen. In ihnen wird der Ausblick auf die Zukunft versucht. Sie liegt jenseits der Grenzen nicht nur einer Institution, sondern der Wirklichkeit selbst, ist im Wortsinn sur-real. Jakob sieht sie, »der Wirklichkeit entrückt«211, in einer Folge intensiver Traumbilder, deren alogische Konsequenz ganz dem Wunsch gehorcht und keiner routinierten Alltagsvernunft: Am Anfang steht das Bild eines schönen nackten Mädchens auf einer »wie mit blumenhaft gebildeten und geformten Küssen« bestickten »Bergmatte«212 . Die junge Frau, die der Lehrerin nicht gleicht – das ist Jakob auch im Traum klar – tröstet ihn mit den merkwürdigen Worten: »›Ah bah, lass das Deuten.‹«213 Diese Absage an das Geschäft des Auslegens wird auf der letzten Seite des Romans zweimal variiert. Jakob notiert, er fühle, »dass das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen« und versichert im zweitletzten Satz: »Gott geht mit den Gedankenlosen.«214 Diese Zuversicht findet sich im vorauseilenden Traum Jakobs bestätigt: Nachdem das Bild des schönen Mädchens entschwunden ist, erscheint Benjamenta in der Gestalt eines Ritters in »einer schimmernd schwarzen, edlen, ernsten Rüstung«215; Jakob erlebt sich als dessen Knappe auf einer Reise durch die Wüste, wo sie mit den Bewohnern Handel treiben, »ganz eigentümlich belebt von einer kühlen, ich möchte sagen, großartigen Zufriedenheit.«216 Kurz darauf schießen die Kontinente »blitzartig vorüber« 217, während Jakobs Zeiterfahrung Jahrzehnte umfasst, der Vorsteher das Aussehen eines Arabers annimmt, auf einem Kamel reitet, dann von den Indern zum Fürsten erhoben wird und danach »in Indien Revolution« 218 macht. 210 | JvG, S. 155. 211 | JvG, S. 161. 212 | JvG, S. 161. 213 | JvG, S. 162. 214 | JvG, S. 164. 215 | JvG, S. 162. 216 | JvG, S. 162. 217 | JvG, S. 163. 218 | JvG, S. 163.
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Der panoramatische Blick ins Exotische, auf die »Bewegungen der Länder«, in denen etwas »Unverständlich-Mildes und Zartes«219 ist, hat sich vom gewohnten kulturellen Kontext bereits abgelöst: »Es sah so aus, als wenn wir beide dem, was man europäische Kultur nennt, für immer, oder wenigstens für sehr, sehr lange Zeit entschwunden gewesen seien. ›Aha‹, dachte ich unwillkürlich, und wie mir schien ziemlich dumm: ›Das war es also, das!‹«220 Wie wenn der Konjunktiv dieses Satzes sich zur Behauptung einer Tatsache wandeln müsse, sagt der zum Araber verwandelte Vorsteher: »›Der Kultur entrücken, Jakob. Weißt du, das ist famos‹«.221 Was da in der Vorstellung hinter den beiden liegt, ist zuvor von Jakob in zwei Traumprotokollen beschrieben worden. Beide entwerfen Bilderfolgen offener Gewalt; beide beziehen sich auf Phasen der europäischen Militärgeschichte. Das erste Protokoll folgt einer Einbildung, die – so Jakob – »beinahe an das Absurde« 222 grenze. Er sieht sich als Feldherr im fünfzehnten Jahrhundert während des Gelages im Freien nach einer gewonnenen Schlacht; sein und seiner Soldaten Ruhm »musste sich in den nächsten Tagen durch ganz Europa verbreiten.« 223 Er ist »der Held, der Herr des Tages« und von seiner »Zufriedenheit hing der Frieden von halb Europa ab.«224 Die Kehrseite dieses kontinental dimensionierten Machttraums ist die bedenkenlose Gewalt, mit der er einen ertappten Verräter zunächst dem Henker übergibt, ihn dann aber aus einer Laune heraus, »das Glas an der Lippe«225, begnadigt. Als ihm der »ganz arme[r] Teufel«226 den Schuh küsst, erfasst ihn »Ekel und Grauen«: »Mich berührte die Gewalt, die ich ausübte, die Macht, mit der ich frei spielen konnte, wie der Sturmwind mit Blättern, peinlich«227. Gewalt und Macht gehören nach dem Konzept der Selbsterziehung, dem Jakob sich verschrieben hat, zu einer Vergan-
219 | JvG, S. 163. 220 | JvG, S. 162f. 221 | JvG, S. 163. 222 | JvG, S. 108. 223 | JvG, S. 108. 224 | JvG, S. 109. 225 | JvG, S. 109. 226 | JvG, S. 108. 227 | JvG, S. 109.
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genheit, der er am Ende der erzählten Handlung abschwören will. In der traumhaften Einbildung allerdings holt sie ihn ein. Das gilt auch für einen Tagtraum, in dem Jakob sich als gemeiner Fußsoldat unter Napoleon selbst begegnet. Er sieht sich als Teil der ungeheuren Militärmacht, die in Erwartung der entscheidenden Schlacht durch die winterlichen Weiten Russlands marschiert, »nur noch der kleine Bestandteil an der Maschine einer großen Unternehmung, kein Mensch mehr.«228 Im Medium des Konjunktivischen sieht er sich als Fleisch gewordenes Gegenstück zu allem, was Bildung verspricht und vermag: »Die soldatische Zucht und Geduld würde mich zu einem festen, undurchdringlichen, fast ganz inhaltlosen Körper-Klumpen gemacht haben.« 229 Der Exzess der Gewalt und die Transformation in ein beinahe amorphes Dasein: Von beidem wird das ungleiche Paar von Ritter und Knappe sich verabschieden. Auch wenn der Traum auf der letzten Buchseite zu Ende ist und das erzählende Ich anschließend nur noch das Zustandekommen des Zukunftsbündnisses zwischen Lehrer und Schüler schildert und danach die Vorbereitungen für die Abreise – in der Logik der Gesamthandlung ist die Absage an die herrschende Vernunft der normierten Reaktionen und Urteile unausweichlich; was aus ihr folgt, ist die Reise in eine Welt jenseits des Textes. Führt man sich vor Augen, was hier 1909 – mit dem Vorlauf des vom Autor vier Jahre zuvor unternommenen Selbstversuchs – veröffentlicht wurde, verwundert die eingangs geschilderte, fast flächendeckende Ablehnung seitens der Kritik nicht. Hier wurde mit leichter Hand mehr aufs Spiel gesetzt, als dem damaligen Zeitgeist zumutbar war: die Ideologie einer festgefügten Identität – einschließlich ihrer erotischen Komponenten – und die mit ihr nahezu verwachsene Vorstellung einer Dichotomie von oben und unten, aktiv und passiv. So wird das Surreale, das uns in den Träumen voranfliegt, zu einem Raum, in dem dies merkwürdige Paar einzig Zukunft hat. In der Welt nach 1900 wie in der Welt unserer Tage dürfte ihm kaum zu helfen sein. Der Umstand, dass Lehrer und Schüler in Jakobs Traum die Züge von Don Quijote und Sancho Pansa annehmen, verweist auf das Medium, in dem das Leben Jakobs und Benjamentas ›in Wirklichkeit‹ stattfindet – das der ästhetischen Fiktion.
228 | JvG, S. 137. 229 | JvG, S. 137f.
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Unter deren Vorzeichen findet das ungleiche Paar, was ihm in der gesellschaftlichen Realität versagt ist – einen Erfahrungsraum, der Trost bietet und einen Ausweg ins Offene. Seit der Romantik ist die damit umschriebene Wirkung der Kunst sich treu geblieben; in der Musik230 ist das Bedürfnis nach ihr vielleicht am Dringlichsten vernehmbar gemacht worden, von der von Schubert besungenen ›holden Kunst‹, die in eine ›bessere Welt‹ zu entführen vermag231 bis hin zu Hanns Eisler, der in seiner letzten Komposition den Gesang als Zufluchtsstätte herbeisehnt: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!«232 Schon der junge Robert Walser hat das nicht zur Ruhe kommende Wünschen als eine Bewegung benannt, die zur Musik hin will und die von der Musik ausgeht: »Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas.«233 Vor allem die späte Prosa Robert Walsers kennt vergleichbare Wunschprojektionen; in ihr ist das Handwerk des Schreibens bisweilen mitreflektiert, oft jedoch mit einem resignativen Unterton. In »Meine Bemühungen« umreißt das Erzähler-Ich am Ende die Utopie einer Lebendigkeit, die in der experimentell gehandhabten Sprache verborgen liegt: Wenn ich gelegentlich spontan drauflos schriftstellerte, so sah das vielleicht für Erzernsthafte ein wenig komisch aus; doch ich experimentierte auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, in der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es eine Freude sei zu wecken. 234 230 | Der Musik kommt auch im Leben von Erhard Vischer, dem Odilienbergschüler im Roman »Kampf um Odilienberg« eine besondere Qualität zu: »Aber er vermag auf die Dauer nicht an die Musik zu denken. Nur fühlen kann er sie, als freundlichverwandtes Element, nicht ihrem klugen Hin und Zurück, ihrem Auf und Nieder, ihrer Umkehr, Abwandlung und holden Verschlingung mit dem Verstand folgen.« Ebermayer 1929, S. 131. 231 | Der von Schubert vertonte Text stammt von Franz von Schober; die erste Strophe lautet: »Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,/Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,/Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,/Hast mich in eine bessre Welt entrückt!“ 232 | Bunge 1970, S. 136. In einem langen Interview gibt Eisler hier Auskunft über seine letzte Komposition »Ernste Gesänge«. 233 | SW. Band 1, S. 44. 234 | SW. Band 20, S. 429f.
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Experiment und Erfahrung im Raum der ästhetischen Fiktion/Die Kunst als Schule der Aufmerksamkeit und der unbefangenen Moral bei Dewey
Programmatische Äußerungen waren Robert Walsers Sache nicht; der zuletzt zitierte Satz jedoch lässt sich im Sinne einer impliziten subjektiven Programmatik lesen: Der Modus des Experimentierens und die Hoffnung auf die Erfahrung von Lebendigkeit sind hier aufeinander bezogen. Wenn es denn gelingt, ist die erwünschte Erfahrung das Ergebnis experimenteller Praxis. Diese Möglichkeit stellt auch der Schluss des »Jakob von Gunten« in Aussicht. Nach dem Durchlaufen von Erfahrungen höchst unterschiedlicher Art und Intensität im Umgang mit den Zöglingen, mit Fräulein Benjamenta, vor allem aber mit dem Vorsteher, Herrn Benjamenta, kommt das Selbstexperiment Jakobs an die Schwelle einer neuen Qualität, hinter der sich die Identitäten von Schüler und Lehrer verändern. Die libidinöse Konfrontation der beiden Protagonisten führt zum Auf bruch ins unabsehbare Jenseits aller abendländisch tradierten Vernunft. Walser scheint sich des Normwidrigen dieses Ausgangs bewusst gewesen zu sein, als er seine »Dieneridee« – wie anfangs in dieser Untersuchung erwähnt – als »um einige Grade verrückter« bezeichnete als die »verrückte Ritteridee« des »Don Quichote« 1.
1 | SW. Band 5, S. 227. Auf ähnliche Weise verweist Karl Wagner darauf, dass Walsers moderne Figuration von Unternehmer und Angestelltem – Wagner bezieht sich hier auf »Der Gehülfe« – leicht als eine Variation zu Don Quijote zu begreifen sei. Wagner 2010, S. 289.
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Diese mehrfach auftretende Anspielung2 ist lehrreich, wenn man sich die strukturbildende Konstellation dieses Romans vom Beginn des siebzehnten Jahrhunderts3 vor Augen führt: In ihr ist das Verhältnis von literarisch gestifteter Wirklichkeit als Schein und krudem Sein von vornherein Gegenstand des Textes. Der Ritter von der traurigen Gestalt lebt in der Welt der literarischen Fiktion und holt sich an der Welt ›wie sie ist‹ seine Niederlagen und die zu ihnen gehörende blutige Nase. Dass der Kontext, in dem dies geschieht, seinerseits nichts anderes ist als schönster literarischer Schein, macht aus ihm ein selbstreflexives Medium. Vergleichbares gilt für den 1878 geborenen Schweizer Kollegen des Cervantes mit seiner fixen Idee des Dienerberufs im Leben und in der Literatur. Auch seine Texte, unter ihnen erst recht der »Jakob von Gunten«, sind Beispiele einer Qualität jeder großen Literatur, die sie für andere menschliche Weisen der Aneignung lockend macht. Jedes literarische Werk und erst recht die Gesamtheit aller künstlerischen Werke ermöglichen ein Kontinuum von Reflexion, in dem die Umrisse einer auf Weltaneignung gerichteten Aufmerksamkeit sichtbar werden, die in der Alltagspraxis oft verfehlt wird, weil die Lebensnotwendigkeiten und der mit ihnen verbundene Handlungsdruck keinen Raum dafür lassen. Die künstlerische Praxis dagegen ist auf die zukunftssüchtige, als unabschließbare Bewegung aufzufassende Weltaneignung ebenso angewiesen wie die der Wissenschaft. So unterschiedlich die von außen beobachtbaren Erscheinungsformen und Ergebnisse dieser Praxisformen auch sind – der in ihnen tätige Impetus weist Gemeinsamkeiten auf, vor allem den Sinn für die Notwendigkeit eines engen Wechselverhältnisses von Experiment und Erfahrung. Wie in der Einleitung zu dieser Untersuchung angedeutet, erscheint das aus der Philosophie des Pragmatismus entwickelte erziehungswissenschaftliche Denken John Deweys geeignet, die hier liegenden Potentiale zu erhellen. In seiner umfangreichen Schrift »Demokratie und Erziehung« von 1916 hat Dewey nicht ohne Ironie einem verkürzten sensualistischen Empirismus dessen Defizite vorgehalten. Schon »wenige Minuten unvoreingenommener Beobachtung der Art, wie ein Kind Erkenntnis erwirbt«, genügten »um die Meinung über den Haufen zu werfen, es hand2 | Vgl.: JvG, S. 162 und S. 163. 3 | Cervantes »Don Quijote« gilt überdies als der erste Roman der Literaturgeschichte.
Experiment und Er fahrung im Raum der ästhetischen Fiktion
le sich dabei um ein passives Empfangen von Eindrücken, betreffend isolierte, feste Eigenschaften, wie Farbe, Ton, Härte usw.« 4 Das Kind reagiere vielmehr auf die Reize der es umgebenden Dingwelt mit dem Ziel, »zu sehen, welche Wirkungen eine motorische Reaktion auf einen Sinnesreiz auslöst«. Das Erlernte seien nicht »isolierte Eigenschaften«, sondern das »›Verhalten‹, das von einem Gegenstande erwartet werden muss, und die Veränderungen in Dingen und Menschen, die eine Betätigung voraussichtlich hervorrufen wird.«5 Selbst einfache, benennbare Eigenschaften wie »rote Farbe« seien von anderen nur dadurch zu unterscheiden und als mit sich identisch zu erkennen, wenn die Handlungen, zu denen sie geführt haben und die Folge dieser Handlungen in den Blick genommen werden. Was für die Dinge gilt, gilt auf der Ebene höherer Komplexität auch für den neugierigen Umgang mit Menschen: Welche Dinge weich sind und welche hart, das lernen wir, indem wir handelnd probieren, was man mit ihnen tun und was damit getan werden kann. In ähnlicher Weise lernen die Kinder Menschen kennen, indem sie erleben, welche Reaktionen diese Menschen bei ihnen, den Kindern, hervorrufen, und was dann diese Menschen in Beantwortung ihrer, der Kinder, Betätigungen tun. 6
Nimmt man diese aus einfachen Beobachtungen entwickelte Verallgemeinerung ernst, so wird der Experimentcharakter lernender Aneignung fast wie von selbst erkennbar: Wie im Denkmodell der Kybernetik wird jeder Ausgriff auf die Außenwelt zu einem Eingriff in die Struktur der eigenen Fähigkeiten, die sich – indem sie sich erneut nach außen wenden – in dem Masse optimieren, wie ihr Zielbewusstsein zunimmt. Was sich in diesem Prozess bildet, ist Erfahrung: Und diese Verbindung zwischen dem, was die Dinge uns gegenüber tun (nicht indem sie unserem passiven Geist Eindrücke aufprägen, sondern), indem sie unser Handeln beeinflussen, einzelne unserer Betätigungen fördern, andere behindern oder unterbrechen, und dem, was wir ihnen gegenüber tun können, um neue Veränderungen hervorzubringen – das macht die Erfahrung aus.7 4 5 6 7
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Dewey [1916] 2010, S. 355. Dewey [1916] 2010, S. 355. Dewey [1916] 2010, S. 355. Dewey [1916] 2010, S. 355.
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Blickt man von dieser allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Welt zurück auf die Geschichte des Jakob von Gunten im Institut Benjamenta, so kann diese als ein immer erneut ansetzender Versuch aufgefasst werden, Erfahrungen zu machen. Die zunächst naiven Eingriffsversuche in die Strukturen der neuen Umgebung sehen sich im Sinne des Satzes von Dewey in unterschiedlicher Weise gefördert, beeinflusst, behindert, unterbrochen; sie werden in der Folge in dem Masse optimiert, wie Jakob deutlich wird, »was man mit ihnen tun und was damit getan werden kann.« 8 Diese Erfahrung im Prozess erzeugt jenen Zustand hoher Gespanntheit, den Jakob von Gunten als Gesamtzustand im Institut wahrnimmt: Wir vibrieren. Unbewusst oder bewusst nehmen wir auf vieles ein wenig Bedacht, sind da und dort mit den Geistern, und die Empfindungen schicken wir nach allen möglichen Windrichtungen aus, Erfahrungen und Beobachtungen einsammelnd. Uns tröstet so vieles, weil wir im allgemeinen sehr eifrige, sucherische Leute sind, und weil wir uns selber wenig schätzen. […] Und doch sind wir Schüler durchaus nicht ohne Würde, aber es ist eine sehr, sehr bewegungsfähige, kleine, bieg- und schmiegsame Würde. […]: wir warten! Das ist unser Wert. Ja, wir warten, und wir horchen gleichsam ins Leben hinaus, in diese Ebene hinaus, die man Welt nennt […]. 9
Diese auf mögliche Handlungen vorbereitende Aufmerksamkeit ist eine Tugend, die sich in Deweys Schriften immer wieder findet. Die Nähe seiner Überlegungen zum generalisierten Denkmodell der Naturwissenschaften liegt dabei auf der Hand. Dewey verweist denn auch mit dem ihm eigenen Witz darauf, dass es den Griechen nicht eingeleuchtet hätte, wenn »eine Tätigkeit wie die des Schusters, der Löcher ins Leder schlägt und Wachs, Nadel und Pechdraht verwendet, eine richtige Erkenntnis der Welt geben könnte.«10 Und Dewey fährt fort: Es war ihnen geradezu ein Axiom, dass wahre Erkenntnis nur aus einer über der Erfahrung schwebenden Vernunft abgeleitet werden könne. Die Einführung der experimentellen Methoden jedoch beruhte geradezu auf der Einsicht, dass solche 8 | Dewey [1916] 2010, S. 355. 9 | JvG, S. 92f. 10 | Dewey [1916] 2010, S. 355f.
Experiment und Er fahrung im Raum der ästhetischen Fiktion
Operationen, wenn sie unter planmäßiger Kontrolle ausgeführt werden, zur Entstehung und Erprobung fruchtbarer Gedanken über die Natur führen.11 [Hervorhebungen im Original]
Der Ertrag dieser Überlegungen war für Dewey 1916 Anlass zu einem Optimismus des zielbewussten Experimentierens jenseits von Zufall, Überlieferung oder triebgesteuerten Impulsen – mit dem Ergebnis einer durch Erfahrung immer weiter gesättigten aufgeklärten Vernunft.12 Angesichts der von Menschen zu verantwortenden Katastrophen, vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts, liegt ein solcher Optimismus uns heute eher fern; in der formalen Struktur der von Dewey explizierten Voraussetzungen ist er aber ideologischen Denkfiguren weit überlegen. Überdies findet sich der Erfahrungsbegriff in späteren Schriften Deweys in anderer, konfliktnäherer Gestalt, so in »Kunst als Erfahrung« von 1934. Zum einen wird hier der Prozess der Erfahrung der Welt als eine an der hegelschen Dialektik orientierte, notwendig krisenhafte Folge von primärer Integration, deren Verlust, Aufhebung der Entfremdung und Rückgewinnung der Einheit auf höherem Niveau gefasst.13 Zum anderen wird in dieser Schrift die Erfahrungsproduktion als ein – im Vergleich mit der Tätigkeit des Kindes – ungleich mühseligeres und unwahrschein-
11 | Dewey [1916] 2010, S. 356. 12 | Erkenntnis als Resultat kontrollierter, zielbewusster Operationen mündet bei Dewey in eine andere Erfahrungsqualität: »Erfahrung ist für sie nicht mehr bloß die Summe dessen, was in der Vergangenheit mehr oder weniger zufällig getan worden ist, sondern eine planmäßige Beherrschung all unseres Handelns im Hinblick darauf, dass alles, was geschieht und was wir selbst tun, möglichst fruchtbar gemacht wird, d.h. dass wir dadurch auf Bedeutungen und Beziehungen aufmerksam werden und die Richtigkeit dieser Bedeutungen und Beziehungen erproben. Wenn das Erproben, das Experimentieren nicht mehr durch Triebe oder Überlieferung geblendet, sondern durch ein Ziel geleitet und messend und methodisch durchgeführt wird, dann wird es vernünftig, rationell. Wenn die Wirkungen, die die Dinge auf uns ausüben, nicht mehr von zufälligen Umständen abhängen, sondern in die Folgeerscheinungen vorhergegangener Handlungen und Bemühungen verwandelt werden, so gewinnen sie Bedeutung für die Vernunft, sie werden instruktiv und aufklärend.« Dewey [1916] 2010, S. 356f. 13 | Vgl.: Bohnsack 2005 S. 23f. und Suhr 2005, S. 80f.
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licheres Geschäft beschrieben. Das gilt erst recht, wenn der Gegenstand der Erfahrung ein Kunstwerk ist: Sobald die Struktur des Objekts von der Art ist, dass seine Kraft auf glückliche (wenn auch nicht einfache) Weise mit den Energien, die von der Erfahrung selber herrühren, interagiert; sobald ihre wechselseitigen Affinitäten und Widerstände zusammenwirken und etwas hervorbringen, was sich steigernd und wahrhaftig (jedoch keineswegs zu gleichmäßig) zur Erfüllung der Antriebe und Spannungen hin entwickelt, sprechen wir zu Recht von einem Kunstwerk.14
Diese Passage ist erstaunlich. Sie liest sich wie eine frühe Skizze der Rezeptionsästhetik im Sinne von Iser und Jauß15, also weit avant la lettre. Das Kunstwerk erscheint innerhalb der Rezeptionsästhetik nicht als Komplex von an ihm zu beobachtenden, angebbaren Merkmalen, sondern als eine Qualität von Interaktion, die sich im Akt der Aneignung bildet. Die damit einhergehende Dynamisierung des Werkbegriffs entspricht Deweys Auffassung vom Künstler als einem Experimentator; ohne die Haltung und die aus ihr hervorgehende Praxis des Experimentierens werde der Künstler – so der Akademiker Dewey – zu einem »guten oder zum schlechten Akademiker«: Ein geborener Experimentator zu sein ist jedoch eines der typischsten Merkmale des Künstlers. Ohne diese Eigenschaft wird er zum guten oder zum schlechten Akademiker. Der Künstler ist gezwungen, Experimentator zu sein, denn er muss durch Mittel und Materialien, die der allgemeinen, öffentlichen Welt angehören, eine im hohen Masse individuelle Erfahrung zum Ausdruck bringen. Dieses Problem lässt sich nicht ein für allemal lösen. Es stellt sich in einem jeden neu in Angriff genommenen Werk.16
14 | Dewey [1934] 1995, S. 188. 15 | In Jauß’ Buch »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik« beginnt das Kapitel über die Differenz zwischen ästhetischen und anderen möglichen Funktionen von Wahrnehmungsobjekten mit einem Verweis auf Dewey, dessen »Art as Experience« als »eine Pionierleistung auf dem Feld der ästhetischen Erfahrung« bezeichnet wird. Fluck 2000, S. 162. 16 | Dewey [1934] 1995, S. 167.
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Nimmt man dies ernst, hat es notwendig Folgen für die Thematisierung eines Kunstwerks oder eines literarischen Textes in (erziehungs-) wissenschaftlicher Absicht: Das durch Dewey angeleitete Interesse bevorzugt das Verfahren der Einzelanalyse und hält Distanz zu vorschnellen begrifflichen Verallgemeinerungen. In der Untersuchung des Details versucht es, Aufschluss über das Ganze zu gewinnen, und die Abweichung von Normen steigert seine Neugier. Ist das Geschäft des Experimentierens Gegenstand des Textes selbst, wie es im »Jakob von Gunten« der Fall ist, und führt dies Experimentieren bis an den Rand einer geltenden Norm heran,17 weist gar über ihn hinaus, so potenziert sich die dem Werk zukommende provokative Gestaltqualität als eine, die sich erst in der Rezeption vollendet. In John Dewey hat sie einen Fürsprecher, der sich auch auf das Gebiet der gesellschaftlich akzeptierten Normen wagt, auch hier auf eine höchst unkonventionelle Art. Die letzten Seiten von »Kunst als Erfahrung« sind dem Verhältnis von Kunst und Moral gewidmet. Das Problem dieser Beziehung – so Dewey – werde »zu oft« so behandelt, »als ob es nur auf Seiten der Kunst«18 existiere, die Geltung der gegebenen Morallehren also unbestreitbar sei und es nur darum gehe, in welchem Masse die Kunst dem jeweiligen status quo entspreche. Dieser konventionellen Problemskizze hält John Dewey einen emphatischen Begriff der Imagination entgegen. Ein Diktum Percy Shelleys paraphrasierend, erklärt er: »Imagination ist das wichtigste Instrument des Guten.« 19 Der Begriff des Instruments verweist bereits darauf, dass das Gute hier nicht als abfragbarer und einzufordernder Bestand von Werten gefasst ist, sondern als eine im Entwurf zu realisierende Zukunftsqualität. In diesem Sinne sind die Schriftsteller und Künstler 17 | Die Distanz des »Jakob von Gunten« zur Gesellschaft ist in der frühen Sekundärliteratur nur hin und wieder bemerkt worden, so in George C. Avery’s »Inquiry and Testament« von 1968. Bei Avery wird dem Institut Benjamenta selbst eine implizite Verachtung der gesellschaftlichen Normen und Werte attestiert: »It is impossible to construe the meaning of a life suspended between pride, moral scruples, ambition, and intelligence on the one hand and, on the other, the prohibition of ambition and individuality as instilled by the Institute Benjamenta in its trainees that bespeaks the school’s implicit condemnation of society’s norms and values.« Avery 1968, S. 111. 18 | Dewey [1934] 1995, S. 400. 19 | Dewey [1934] 1995, S. 401.
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für Dewey nicht nur Spezialisten der Unbefangenheit, Produzenten von »Bedeutungen, die verhärtete Gewohnheiten überschreiten«, sondern die »moralischen Propheten der Menschheit«.20 Dass sie als solche nicht nur nicht gehört, sondern sogar gefürchtet werden, da ihre »Neuerungen, die das Wesen von Individualität ausmachen«21 den gesellschaftlichen Frieden gefährden könnten, ist für Dewey ein Beleg für die Unkorrumpierbarkeit der Kunst. Gegenüber den »Ideen von Lob und Tadel« sei die Kunst »gänzlich unschuldig«.22 Das bedeutet für Dewey jedoch nicht, dass die Kunst jenseits der Moral ihren Ort hat. Vielmehr sei das »Zentrum der moralischen Kraft der Kunst« ihre Indifferenz gegenüber positiven oder negativen Sanktionen und das »wegen ihrer Inanspruchnahme imaginativer Erfahrung«.23 Auch diese Formulierung orientiert sich an einer Äußerung Shelleys, die Dewey im Folgesatz zitiert: »Um außergewöhnlich gut zu sein, muss man intensiv und umfassend der Imagination folgen.«24 Dieser Weg ist nur zu beschreiten, wenn am Kunstwerk die »Einheit des Möglichen und Wirklichen« wahrgenommen wird. Wenn solche Wahrnehmung gelingt, wird sie »in der Erneuerung von Impuls und Denken« selbst zukunftsfähig. Ihre Quelle sei die Imagination des Möglichen und darin gleiche sie der Kunst: »Kunst ist eine Art der Voraussage, wie sie nicht in Tabellen und Statistiken anzutreffen ist, und sie gibt Möglichkeiten menschliche Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel und Vorschrift, Ermahnung und Verwaltung anzutreffen sind.«25 20 | Dewey [1934] 1995, S. 401. 21 | Dewey [1934] 1995, S. 401. 22 | Dewey [1934] 1995, S. 402. 23 | Dewey [1934] 1995, S. 402. 24 | Dewey [1934] 1995, S. 402. In vergleichbarer Weise und ebenfalls unter Berufung auf Shelley hatte zehn Jahre zuvor der amerikanische Literaturwissenschaftler Ivor Armstrong Richards die in der Kunst verwirklichte Moral benannt: »Die Grundlage der Moral legen, wie Shelley insistiert, die Poeten, nicht die Prediger. Ein schlechter Geschmack und undifferenzierte Reaktionen sind nicht bloße Mängel einer sonst bewundernswerten Persönlichkeit. Sie sind vielmehr ein Grundübel, das andere Fehler nach sich zieht. Kein Leben kann vortrefflich genannt werden, in dem die elementaren Reaktionsweisen desorganisiert und verworren sind. Richards [1924] 1985, S. 103. 25 | Dewey [1934] 1995, S. 402.
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Walsers Roman »Jakob von Gunten« kann als ein solcher Versuch gelten, im Medium des Imaginativen die »Möglichkeiten menschlicher Beziehungen« zu entdecken und zu verstehen, außerhalb von »Regel und Vorschrift«. Vor dem Hintergrund der derzeit laufenden Diskussionen um den Missbrauch in pädagogischen Institutionen und um die Notwendigkeit entsprechender Tabus soll dieser Versuch vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts abschließend daraufhin befragt werden, zu welchen produktiven Reflexionen er in erziehungswissenschaftlicher Absicht Anlass geben könnte.
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Nah am Tabu/Walter Benjamin, Gustav Wyneken und das Lehrer-Schüler-Verhältnis in »Jakob von Gunten«/Der pädagogische Eros und die Reformpädagogik/Missbrauch und Sprachlosigkeit/ Walsers ›zerschnittenes Ich-Buch‹ und die Diffusion von Identität/Nah am Tabu und darüber hinaus Ich halte gegenüber Büchern sowohl wie Menschen ein lückenloses Verstehen eher für ein wenig uninteressant als ersprießlich. R OBERT WALSER1
Das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Substantiv und Adjektiv in die deutsche Sprache eingewanderte Wort »tabu« stammt aus dem Polynesischen und hat in diesem Sprachraum als »tapu« die Bedeutung von »unberührbar«, »unverletzlich«. In der aktuellen Diskussion um die Geschichte der Missbrauchsfälle in Einrichtungen unter anderem der Reformpädagogik findet sich das in den zwei Silben ausgedrückte Berührungsverbot als Vorwurf, Warnung und Verdikt wieder. Erotische oder gar sexuelle Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler sind damit a priori geächtet. Wie bereits unter Bezug auf einen neueren Aufsatz von Ulrich Oevermann angedeutet 2, haben dies Tabu und die von ihm ableitbaren Normen einen guten Sinn. Oevermann zeigt das an einem drastischen Alltagsbeispiel aus dem Bereich der familiären Sozialisation:
1 | SW. Band 20, S. 428. 2 | Siehe in dieser Untersuchung »Die Aufhebung der erzieherischen Asymmetrie«.
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Wenn die neunjährige Tochter abends zu ihrem Vater ins Bett steigt, um mit ihm zu kuscheln, dann muss sich dieser sicher sein können, nicht mit einer Erektion zu reagieren. Das kann er nur, wenn er auf der Grundlage seiner eigenen gelungenen Sozialisation zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und zwischen der Gattenbeziehung – beides Beziehungen gestiftet durch »Liebe« – nicht nur kognitiv, sondern auch affektuell klar unterscheiden kann. Sobald er sich dessen nicht sicher ist, wird er, um der Norm der Nicht-Übergriffigkeit und der Einhaltung des Inzesttabus zu genügen und damit seinem Gewissen zu folgen, diesen angesonnenen Kontakt mit der Tochter vermeiden und ihr damit ein Stück Zärtlichkeit, das sie sich wünscht und das zu haben für ihre Entwicklung auch wichtig ist, vorenthalten müssen. 3
Was innerhalb der Vater-Mutter-Kind-Triade zu Recht ein Tabu ist, gilt als Verbot auch für die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, hier jedoch unter deutlich komplizierteren Bedingungen. Vor allem im Milieu eines Internatsbetriebs, das heißt in der Distanz zum Ort familiärer Sozialisation, wächst nicht selten das Bedürfnis nach emotionaler Nähe seitens des Kindes und damit möglicherweise auch die Bereitschaft zum Übergriff und die Gefahr der Ausnutzung gegebener Abhängigkeit. Dies wird durch den Umstand begünstigt, dass im Hinblick auf die jeweilige Individualgeschichte der Leiblichkeit der Kinder bzw. Jugendlichen die Differenzierung von »Intimität und Öffentlichkeit, von Innen und Außen«4 noch nicht erreicht ist.5 Im diffusen Licht einer Zwischenwelt gedeihen denn auch neben der Neigung zur unverantwortlichen Tat bestimmte ideologisierte Vorstellungen von einer pädagogisch förderlichen Nähe. Diese Tendenz lässt sich bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Umkreis der frühen reformpädagogischen Institutionen beobachten. Beunruhigend ist, dass sie im Schatten der Sympathie gerade derer anwachsen konnte, denen das damalige Gymnasium nicht selten als ein Ort des Schreckens erschien. Es ist dies die Zeit, in der Robert Walser sein höchst subjektiv motiviertes, pädagogisches Selbstexperiment ins Werk setzt, das vier Jahre später zur Niederschrift des »Jakob von Gun3 | Oevermann 2010, S. 573. 4 | Oevermann 2010, S. 580. 5 | Eine indirekte Anerkennung dieser Tatsache ist in der reformpädagogischen Praxis darin zu sehen, familienanaloge Gesellungsformen in den Internaten zu bevorzugen. Vgl.: Oelkers 2010, S. 15.
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ten« führt. Züge der auf Unterwerfung und Gehorsam abstellenden pädagogischen Praxis des wilhelminischen Zeitalters finden sich im »Jakob von Gunten«, wenn das Tagebuch-Ich beispielsweise die an militärischen Drill erinnernde Einübung des Eintrittszeremoniells in das Kontor des Herrn Benjamenta schildert. Es ist eine eigentümliche Koinzidenz, dass Robert Walser seine Erfahrungen in der von ihm besuchten Dienerschule im selben Jahr (1905) macht, in dem Walter Benjamin das Kaiser-Friedrich-Gymnasium am Berliner Savignyplatz verlässt, um für zwei Jahre in das Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen zu gehen. Der eine begibt sich freiwillig in eine Schule der auf Befehl reagierenden perfekten Dienstfertigkeit; der andere verlässt das Milieu von Gehorsam und atmet auf, als er im Internat zum ersten Mal erlebt, »dass Schüler und Lehrer sich als freie, gleichberechtigte und denselben geistigen Zielen verpflichtete Partner« 6 begegnen können.
6 | Witte 1985, S. 16. Vergleichbares findet sich in Erich Ebermayers »Kampf um Odilienberg«, in dem in Romanform die »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« beschrieben wird. Aus der Sicht des Oberstudienrates (und späteren Leiter des Heimes) Wenzel Silberstedt (Vorbild war der spätere Verleger und Gründer des Suhrkamp Verlags: Peter Suhrkamp) wird das Landerziehungsheim wie folgt beschrieben: »Hier beruhte alles auf Freiheit des Willens, Freiheit des Gehorchens, Freiheit des Befehlens, es war wie das erstaunliche Triebwerk einer edlen und einfachen Maschine, alles griff ineinander, lautlos, glatt, schweigend, die kleinen Räder halfen den großen, kein großes schleifte das kleinere. Der ermüdete Studienrat war geblendet von so viel Licht. Er wusste sofort: Hier war fortan das Zentrum seines Lebens, hier war ihm Heimat, hier Glück, hier Aufgabe, hier Leistung. Die Aufgabe vor allem stand vor ihm, leuchtend, übergroß, gewaltig. Er war von dieser Stunde an entschlossen, sie zu lösen. Er kannte keine Bedenken, keine Angst, keine Hemmungen. Jahrelang zurückgestaute Energien brachen auf. Die Tätigkeit im Staatsdienst, die er zunächst notgedrungen noch fortsetzen musste, war ihm nun Qual ohnegleichen. Alles war jetzt endgültig tot und erledigt für ihn, hier in der muffigen Stadt, in der Menschenfabrik Gymnasium, wo es stank und lärmte, wo Fratzen ihn anstarrten statt Gesichter, wo Destillenschilder trüber Häuserfronten zu den Klassenfenstern hereinsahen, während ihm befohlen war, Homer und Plato vor angehenden Buchhaltern und Automobilagenten zu traktieren […]. Er konnte es nicht mehr ertragen. Er bat um seine sofortige Entlassung aus dem Staats-
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Die Voraussetzungen hierfür waren bereits vier Jahre zuvor geschaffen worden. Das Landerziehungsheim Haubinda wurde 1901 von Hermann Lietz gegründet; seit 1903/1904 arbeiteten hier Gustav Wyneken und Paul Geheeb als Lehrer. Die Namen dieser drei Pädagogen sind mit der Geschichte der deutschen Reformpädagogik eng verbunden. Einige Jahre später werden alle drei ihre Arbeit in eigenen Schulprojekten fortsetzen. In ihnen werden Gewaltakte, sexuelle Übergriffe und Fälle von Missbrauch aktenkundig werden. Sind es bei Lietz vor allem Berichte über exzessive körperliche Züchtigungen, so finden sich in den Geschichten der »Odenwaldschule« und Wynekens »Freier Schulgemeinde Wickersdorf« Zeugnisse, in denen sexueller Missbrauch dokumentiert ist.7 Dass diese Praxis von Gewaltanwendung nicht unmittelbar zum Skandal wurde, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass die genannten Schulprojekte tatsächlich als Orte der Befreiung erlebt wurden. Hinzu kam, dass Geheeb und vor allem Wyneken eine charismatische Wirkung eigen war.8 So wurde Walter Benjamin vom Unterricht Wynedienst unter Verzicht auf alle Ansprüche. Das Ministerium, froh, den Unliebsamen billig loszuwerden, gewährte sie.« Ebermayer 1929, S. 65f. 7 | Vgl.: Oelkers 2010. Hier heißt es: »›Missbrauch‹ kann nicht nur verstanden werden als sexueller Übergriff, vielmehr muss jede Form von Gewaltanwendung gegenüber Kindern und Abhängigen so genannt werden. Gewalt ist Teil eines Herrschaftsregimes, wobei in den Landerziehungsheimen oft indirekte Formen verwendet wurden, die sich hinter der pädagogischen Fassade gut verstecken ließen. Mindestens diese Praxis ist endemisch, war also von Beginn an so.« Oelkers 2010, S. 5. 8 | In Ebermayers Roman wird die Figur Manfred Mahr, die Wyneken zugeschrieben wird, als Pädagoge geschildert, der »Jahrzehnte hindurch seine Menschen hielt, fest, umklammernd, selbst Widerstrebende, dass keiner von ihm los konnte, den er nicht freiwillig aus seinem Banne entließ […].« Ebermayer 1929, S. 253. Von seinem Widersacher Silberstedt (Peter Suhrkamp) wird Manfred Mahr (Gustav Wyneken) wie folgt beschrieben: »Der war besessen, durchglüht, ein ewiger Stromerzeuger, seit vierzig Jahren. Da war alles Kraft und Leben, das »Fluidum« zog automatisch an, was der Geist, der Körper brauchte, er konnte dasitzen und die Hände in den Schoss legen, ihm fielen die Menschen zu, wenn er es wollte, er musste nur immer abwehren und sich verhüllen, damit es nicht zuviel wurden.« Ebermayer 1929, S. 257. An anderer Stelle heißt es, Mahr (Wyneken) sei einer, »der zu zaubern verstand bei der Jugend […].« Ebermayer 1929, S. 259. »Wen der
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kens und seinen Schriften für etwa ein Jahrzehnt entscheidend geprägt; seine ersten literarischen Arbeiten erschienen in der Wynekens Ideen gewidmeten Schülerzeitschrift: »Der Anfang«.9 Benjamin zeigt sich in seinen Beiträgen als ein entschiedener, ja glühender Verfechter der Jugendbewegung.10 Im frühesten für den »Anfang« geschriebenen Text stellte er gleich zu Beginn die Frage: »Gehen wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen?«11 Der damalige Zeitgeist scheint dafür zu sprechen: »Jedenfalls leben wir in einer Zeit, wo man keine Zeitschrift aufschlagen kann, ohne dass einem das Wort ›Schule‹ in die Augen fällt, in einer Zeit, wo
hat, den hat er. Aber wer ihn hat, der hat ihn auch. Ganz. [Hervorhebung im Original] Kapiert – ?« Ebermayer 1929, S. 191. 9 | Betrachtet man die Umstände, unter denen diese Zeitschrift erschien und wer sich für sie interessierte, so wird deutlich, wie weit das Wirkungsfeld der radikaleren Fraktion der Jugendbewegung reichte. Bei Fuld heißt es dazu: »Leider sind die Tagebücher und theoretischen Aufzeichnungen Benjamins, in denen er sich in Haubinda mit den Ideen Wynekens auseinandersetzte, nicht erhalten, so dass man zur Kenntnis seiner Position auf Aufsätze und Berichte aus der ersten Zeit der Zeitschrift jener Jugendbewegung, des »Anfang«, angewiesen ist. Der »Anfang« wurde von Georges Barbizon gegründet, einem Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, der eigentlich Georg Gretor hieß. Die ersten Nummern von 1910/11 waren diffus und in ihren Beiträgen unbedeutend, da sie noch nicht die kritische Schärfe der nachfolgenden Jahre erreichten. Unter dem Pseudonym »Ardor« veröffentlichte Benjamin hier einige Gedichte und einen kleinen Aufsatz über die Schulgemeinde. Erst als Barbizon zusammen mit Siegfried Bernfeld nach einem Jahr der Unterbrechung die Zeitschrift im Mai 1913 neu gründete und auch bis zur letzten Vorkriegsnummer vom Juli 1914 als deren Herausgeber zeichnete, wurde sie wirklich zu dem bestimmenden Organ der »entschiedenen Jugendbewegung«. Da Barbizon noch nicht volljährig war, musste Gustav Wyneken selbst formell als Chefredakteur auftreten. Er hat jedoch auf die redaktionelle Gestaltung des Blattes kaum Einfluss genommen. Den Verlag übernahm Franz Pfemfert, der mit seiner »Aktion« zur links von der Sozialdemokratie stehenden Opposition gehörte. Er hat sich der Sorgen und Anfechtungen, die der »Anfang« von konservativer Seite erleben musste, in der »Aktion« auch immer verteidigend angenommen.« Fuld 1981, S. 40. 10 | Vgl.: Fuld 1981, S. 40. 11 | Benjamin 1977, S. 9. Der Text erschien im März 1911.
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die Worte Koedukation, Landerziehungsheim, Kind und Kunst durch die Luft schwirren.«12 Die wahre Erweckung der Jugend zu der ihr eigenen Bestimmung scheint all dies jedoch nicht zu bewirken. Dazu bedarf es der erotischen Geste, und die gilt einer Jugend, die Benjamin sich als ein Dornröschen ausmalt, in dem das Bewusstsein seiner selbst noch im Schlaf befangen ist. Dass die Qualität dieses zu weckenden Bewusstseins mit den Namen von drei männlichen Geistesgrößen in Verbindung gebracht wird, ist von einer Komik, die dem jungen Benjamin nicht bewusst gewesen sein wird: Die Jugend aber ist das Dornröschen, das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien. Und dass die Jugend erwache, dass sie teilnehme an dem Kampfe, der um sie geführt wird, dazu will ja unsere Zeitschrift nach Kräften beitragen. Sie will der Jugend zeigen, welchen Wert und Ausdruck sie erhalten hat im Jugendleben der Großen: eines Schiller, eines Goethe, eines Nietzsche. Sie will ihr Wege weisen, das Gemeinschaftsgefühl, das Bewusstsein ihrer selbst in sich zu wecken, als derjenigen, die in einigen Lustren die Weltgeschichte weben und gestalten wird.13
Der hier angeschlagene ›hohe Ton‹ ist in Benjamins frühen, jugendbewegten Schriften durchweg zu vernehmen – so auch in einem im Oktober 1913 erschienenen Beitrag mit dem Titel: »Erfahrung«. Der Begriff der Erfahrung wird hier nach zwei Seiten hin ausgelegt, nach einer konventionellen und nach einer jugendlich-emphatischen. Zum einen ist Erfahrung die »Maske des Erwachsenen«14, und sie hat die Aufgabe, etwas zu verbergen: »Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen, das Weib. Es war alles Illusion.«15 Unter Berufung auf ›Erfahrung‹ wolle der erwachsene Pädagoge die Jugend »in die Fron des Lebens« zwingen; damit aber entwerte und zerstöre er die Zeit, die der Jugend zukomme: »Und immer mehr befällt uns das Gefühl: deine Jugend ist eine kurze Nacht nur (erfülle sie mit Rausch!); dann kommt die große ›Erfahrung‹,
12 | Benjamin 1977, S. 9. 13 | Benjamin 1977, S. 9. 14 | Benjamin 1977, S. 54. 15 | Benjamin 1977, S. 54.
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Jahre der Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben. Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie.« 16 Gegen diese bornierte Routineexistenz stellt Walter Benjamin am Ende seines Textes die Erfahrung der Jugend selbst: Nochmals: eine andere Erfahrung kennen wir. Sie kann geistfeindlich sein und viele Blütenträume vernichten. Dennoch ist sie das Schönste, Unberührbarste, Unmittelbarste, denn nie kann sie geistlos sein, wenn wir [Hervorhebung im Original] jung bleiben. Man erlebt immer nur sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der Philister macht seine ›Erfahrung‹, es ist die ewig Eine der Geistlosigkeit.17
Vergleicht man diese Konfrontation zweier Erfahrungsbegriffe mit der, die die Spannung zwischen den beiden Protagonisten in Walsers »Jakob von Gunten« ausmacht, so finden sich deutliche Entsprechungen: Herr Benjamenta verkörpert die zur Kleinheit und Kleinlichkeit verdammte Existenz eines abgesetzten Königs, und er weiß darum. Er sieht sich von »gefräßigem Ungeziefer« seines pädagogischen Alltags befallen. »Unterricht usw. zu erteilen und Institute zu eröffnen«18 ist ihm zum Gräuel geworden; »Hier im Bureau«, teilt er Jakob mit, sei er »schon ganz eingetrocknet, […] geradezu begraben.«19 Aus dieser Abkehr von jedem Lebensmut hat ihn der jugendliche Jakob gerettet – so sein Geständnis am Totenbett der Schwester Lisa. Dieser letzte seiner Zöglinge verkörpert das Prinzip einer Erfahrung, deren Herkunft überirdisch anmutet. Die Beschreibung der Wirkung, die Jakob auf den Institutsvorsteher ausübt, trägt denn auch deutliche Züge einer Adoration, die das Gegenbild dessen preist, was an der eigenen Existenz grau und zukunftslos erscheint: Da tratest du ein, frisch, dumm, unartig, frech und blühend, duftend von unverdorbenen Empfindungen, und ganz natürlich schnauzte ich dich mächtig an, aber ich wusste es, so wie ich dich nur sah, dass du ein Prachtbursche seiest, mir, wie es mir vorkam, vom Himmel heruntergeflogen, von einem alleswissenden Gott 16 | Benjamin 1977, S. 54. 17 | Benjamin 1977, S. 56. 18 | JvG, S. 159. 19 | JvG, S. 156.
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mir gesandt und geschenkt. Ja, dich brauchte ich gerade, und ich lächelte immer heimlich, wenn du von Zeit zu Zeit zu mir eintratest, um mich mit deinen reizenden Frechheiten und Grobheiten, die mir wie gutgelungene Gemälde erschienen, zu belästigen. O nein, zu betören. 20
Dies hingerissene Lob der Jugend trägt die Züge homoerotischen Begehrens offen auf der Stirn. Seine Tonlage findet sich in jenen Schriften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wieder, in denen der ›pädagogische Eros‹ beschworen wird.21 Unter ihnen ragt eine Verteidigungsschrift Gustav Wynekens von 1921 hervor. Anlass für deren Publikation war ein Prozess wegen sexuellen Missbrauchs, der am 30. August 1921 mit einer Verurteilung Wynekens zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten endete.22 Wyneken legte dagegen Berufung ein; die Veröffentlichung seiner Schrift »Eros« fällt also in die letzten Monate des Jahres23; im Folgejahr beträgt die Gesamtauflage bereits 15 000 Exemplare. Dem Heft liegt eine Stellungnahme des Wickersdorfer Lehrerkollegiums bei, in dem gefordert wird, »dass Ungewöhnliches und Besonderes nicht nach Bildern der üblichen Erfahrung verkannt und beurteilt werde«; das Gerichtsurteil wird scharf als »ein Verbrechen nicht nur an seiner Person und seinem Werke, sondern am lebendigen Geiste unseres Volkes und seinen verheißungsvollsten Kräften« gegeißelt: Wynekens Schrift selbst lässt an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Ihr Autor verfügt über eindrucksvolle rhetorische Mittel, die zur griffigen Sentenz ebenso tauglich sind (»Dem Weib gehört das Kind, dem Mann der Knabe.« 24) wie zur polemischen Schärfe, zum Beispiel im Hinblick auf die Heillosigkeit vieler bürgerlicher Ehen: »Perversionen«? Gibt es perverseres, als so viele bürgerliche Ehen; Tages Zank und Kälte, abends Sinnlichkeit, morgens wieder Zank? Beide einander überdrüs20 | JvG, S. 156. 21 | So unter anderem, aber mit besonderer Deutlichkeit, bei Otto Kiefer. Vgl.: Oelkers 2010, S. 2ff. 22 | Die Vorgeschichte des Prozesses, die Auseinandersetzungen in ihm und um ihn und seine Folgen finden sich bei Thijs Maasen detailliert und materialreich geschildert: Maasen [1988] 1995, S. 127ff. 23 | Hierfür spricht auch die abgebildete Beilage: »Wyneken verurteilt!« 24 | Wyneken 1921, S. 51.
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sig und nur durch die Kette des Geldes aneinander gefesselt oder durch gemeinsame Sexualnot auf einander angewiesen, beide jederzeit bereit, wenn es ohne Gefahr geschehen kann, den andern zu betrügen? 25
Abbildung 14: Stellungnahme des Wickersdorfer Lehrerkollegiums zur Verurteilung Wynekens
25 | Wyneken 1921, S. 17.
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Wynekens Annäherung an die zur Rede stehenden Vorwürfe erfolgt äußerst geschickt über gelehrte Hinweise auf die Geschichte der Knabenliebe im alten Griechenland 26 und über eine pointierte Kritik an der grotesken Körperlosigkeit in der herkömmlichen Erziehungspraxis: Wenn man den Jungen die Köpfe abschneiden und diese auf die Pulte stellen und für sich allein unterrichten könnte, hätte man die Körper (die Griechen würden vielleicht sagen: »die Knaben selbst«) gar nicht nötig. Da die Gehirne aber als Anhängsel noch einen Körper haben, werden für diesen ein paar Turnstunden in den Schullehrplan eingeschoben. So ist es typisch für eine fortgeschrittene Zeit, die körperliches und geistiges Dasein »schon« ordentlich trennen kann. Ich weiß wohl, allmählich graut uns selbst vor dieser Trennung, immer stärker wird in uns die Sehnsucht nach jener Einheit, die die Griechen »noch« besaßen. 27
Dass für Wyneken solche Trennungen hinter ihm liegen, sagt seine Schrift in aller Deutlichkeit.28 Im Hinblick auf die Missbrauchsvorwürfe ist sie nahezu Klartext: 26 | Vgl. hierzu auch Maasen [1988] 1995, S. 75ff. 27 | Wyneken 1921, S. 20. 28 | Der Herausgeber der Reihe, in der Thijs Maasens Schrift »Pädagogischer Eros« 1995 erschien, scheint Wynekens Tendenz, sich als Wegbereiter einer an der Tugend der griechischen Knabenliebe orientierten Pädagogik zu begreifen, zu folgen. Anders als Maasen, der sich jeder Bewertung enthält, erscheint die Gestalt Wynekens in Rüdiger Lautmanns Vorwort implizit als die des Verkünders einer »liebenden Erziehung«: »Und doch sind Idee und Institution einer liebenden Erziehung (außerhalb der Familie) so unaufgebbar und realitätshaltig, dass dies immer wieder auf die Tagesordnung der Bildungsdiskussion gesetzt werden muss. Auch finden die Themen von Liebe, Intimität und Sexualität hier einen klassischen Topos. Die Liebe besitzt so viele Möglichkeiten, im Hinblick auf die Geschlechter, die Lebensalter, die sozialen Klassen, den ethischen Hintergrund usw. Jugendliche stehen mit Erziehungspersonen in ähnlich intensivem Austausch wie mit ihren Eltern und den Gleichaltrigen. Keines dieser Verhältnisse kann von Erotik frei bleiben, bei ungeheurer Plastizität der möglichen Zuneigungen.« Lautmann in Maasen [1988] 1995, S. 6f. Was hier noch der sprachlichen Form nach als allgemeine Überlegung erscheint, steht am Ende des Vorworts unter den Vorzeichen des Bedauerns und der Aussicht auf eine an Wyneken orientierte Zukunft: »Wynekens Gedanken und Ziele haben es heute noch schwerer als vor 75 Jahren. Alle
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Dann sei es mit aller Schärfe ausgesprochen: wir meinen keine Gernhaberei und Nettigkeit, Onkelväterlichkeit, Wohlwollen und sogenannte Freundschaft und Kameradschaft mit den jungen Menschen, im Gegenteil, es war nötig, aus diesem pseudoerotischen Getue herauszukommen und deutlich den Eros zu bekennen, als den allein erlösenden und zeugenden; nicht durch Formeln und Programme ihn zu proklamieren, sondern ihm sein Reich zu gründen, durch die Tat in der wirklichen Jugend. 29
Wyneken leugnet mithin (fast) nichts, sondern sieht sich mit seiner »Tat in der wirklichen Jugend« als Seher einer Welt, in der »der Liebesbund der Knaben mit seinem Führer das Schönste ist, was der Jugend beschieden sein kann.«30 libidinösen Momente im Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnis stehen unter Verdacht, ja werden prinzipiell gebrandmarkt.« Lautmann in Maasen [1988] 1995, S. 8. 29 | Wyneken 1921, S. 61. 30 | Wyneken 1921, S. 71. Deutlich zurückhaltender und rhetorisch aufwändiger formuliert Gustav Wyneken dies Ideal in seinem ein Jahr nach »Eros« erschienenen Buch »Wickersdorf«; hier ist zum Teil in Frageform vom »Bild einer neuen Jugend« die Rede, von der »geistige[n] Spannung einer Atmosphäre« und von einem »wirklichen Lebenskonnex«: »Wie viele der Wickersdorfer Lehrer aber teilen wirklich und innerlich das Leben der Jugend, nehmen ihr klösterliches Zusammenleben mit der Jugend, die Kameradschaft und Parität der Jugend mit den Erwachsenen ganz ernst [Hervorhebung im Original]? Wie viele haben sich ganz, auch innerlich, freigemacht von der ›pädagogischen‹ Einstellung, von der Einstellung der alten Schule und der bürgerlichen Altersherrschaft? Oder, um es positiv auszudrücken: Wie viele lieben [Hervorhebung im Original] die Jugend wirklich und sind ergriffen von der Schönheit und Notwendigkeit des Bildes einer neuen Jugend? Ich erkenne gern und freudig an, dass in Wickersdorf immer auch Männer am Werke waren, die mit der Jugend viel anzufangen wussten, die sich kameradschaftlich und opferwillig an der Arbeit, am Spiel und Sport der Jugend beteiligten. Aber Betrieb und selbst Arbeit und Aufopferung sind noch nicht das Letzte und Entscheidende. Immer wieder gilt: ›Eins [Hervorhebung im Original] ist not.‹ […] Wer in Wickersdorf als Gast einkehrt, wird, wenn seine Nerven auf die geistige Spannung einer Atmosphäre reagieren, etwas hievon fühlen. Er wird fühlen, dass diese Wirklichkeit, und sei sie noch so dürftig, im lebendigen Zusammenhang, in einem wirklichen Lebenskonnex mit Ideen steht. Und dies: das Ineinanderfluten des jugendlichen Lebens und der Idee, das macht die Eigenart, die oft bemerkte besondere Stimmung Wickers-
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Dies pädophile bzw. ephebophile Pathos kommt nicht von ungefähr; es wurzelt in Mangelerfahrungen, die Gustav Wyneken 1944 in einem detaillierten Rückblick auf seine Kindheit zu benennen versucht hat. Unter dem Titel »Kritik der Kindheit« 31 listet er auf neunzig Seiten die Defizite auf, die seine familiäre Sozialisation bestimmt haben: eine vom familiären Alltag (mit acht Kindern) hoffnungslos überlastete und verbitterte Mutter, ein gebildeter, aber von einer rigiden protestantischen Moral bestimmter Vater, der sich selten Zeit nahm, und dessen erzieherische Grundsätze religiöser, nicht pädagogischer Natur waren. Die dadurch bedingte ›Verdüsterung des Daseinshorizontes‹ erscheint in Wynekens Rückblick (neben der Körperfeindlichkeit und der Aussparung aller sexuellen Themen) als ein schweres Erbe: Haben wir Kinder es jemals wirklich geglaubt, wenn man uns sagte, dass unsere kleinen Sünden den himmlischen Vater betrübten? Aber der Druck der religiösen Überschattung der Erziehung lag dennoch auf unserm Leben. Es war, trotz aller Liebe, die wir von unserm Vater erfuhren und die wir ihm fast leidenschaftlich entgegenbrachten, doch eine Erziehung durch Furcht und zur Furcht; aber was wir fürchteten, war nicht eine materielle oder gar körperliche Strafe, sondern die Verdüsterung unseres Daseinshorizontes durch die uns aufgezwungene Rolle des Sünders. Gelegentlich einmal eine Tracht Prügel […] wäre wahrscheinlich […] gesünder gewesen, vorausgesetzt, dass man nicht auch diese wieder mit Scham und Schande vergiftet hätte. 32
In den Anfangssätzen seiner »Kritik der Kindheit« geht Wyneken so weit, seine Erziehung erst mit seinem zwanzigsten Lebensjahr beginnen zu lassen, mit dem Eintritt eines Menschen in sein Leben, den er nötig gehabt habe, so nötig, wie dieser Mensch ihn. Dieser Vorgang erscheint in einem nahezu überirdischen Licht; ein Dämon habe diesen Menschen zu ihm gesandt: dorfs aus. Und ob dieser Zusammenhang lebendig [Hervorhebung im Original] ist, darauf kommt alles, alles an in Wickersdorf.« Wyneken 1922, S. 132f. 31 | Dieser Text ist bislang unveröffentlicht. Die Nachweise beziehen sich auf die Seitenzählung des im Archiv der deutschen Jugendbewegung befindlichen Typoskripts. Zu Wynekens Rückblick auf seine eigene Kindheit vgl. auch: Dudek 2009, S. 27ff. 32 | Wyneken 1944, S. 28.
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Meine Erziehung setzte ein im Jahre 1895, also in meinem zwanzigsten Lebensjahre, also zu spät. Damals erbarmte sich meiner mein Dämon und sandte mir den Menschen, den ich nötig hatte wie er mich […]. Der war für mich die Hand des Genius, die das verborgene Bäumchen meiner Seele gerade richtete, soweit das noch möglich war, und ihm sein natürliches Wachstum zurückgab. 33
Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass es diese Rolle eines erzieherischen Erlösers war, die Wyneken selbst in seiner pädagogischen Praxis zu verwirklichen suchte. Gegen Ende seiner Selbsterforschung finden sich einige Zeilen, in denen er den Kern der Rolle des ›großen Erziehers‹ als »Selbstverjüngung« auffasst. Er [der Vater] dachte nur an sich und sah in mir wohl seinen Nachfolger und vielleicht Vorkämpfer und Vollender seiner philosophischen Gedanken oder seines Lebenswerkes, jener ›rationalen Orthodoxie‹. Wie anders hätte es sein können, wieviel fruchtbarer auch für ihn, wenn er – wenn er gewesen wäre, was zu sein er sich wohl mitunter schmeichelte: ein großer Erzieher; er war leider ein schlechter, ein ahnungsloser, blinder. Das Lebensmark aber, das Innere aller wahren Erziehung muss Selbstverjüngung sein. Das ist die Voraussetzung, die allein den Schaden, den als notgedrungene Veralterung der Jugend Erziehung immer mit sich zu bringen verurteilt ist, aufwiegen, paralysieren kann. 34
Nimmt man diese aus der eigenen Biographie kommende Erwartung ernst, so finden die libidinösen und bis zum Missbrauch führenden Elemente seiner pädagogischen Praxis eine mögliche Erklärung. Ihr fügt die Vignette auf dem Deckblatt der Broschüre »Eros« von 1921 das Ihre hinzu: Ein nackter Jüngling, entschlossenen Schrittes und mit erhobener Fackel. Sein Blick gilt nicht dem Betrachter; der Text der Broschüre teilt mit, welcher Führergestalt er sich zuwenden soll.
33 | Wyneken 1944, S. 1. 34 | Wyneken 1944, S. 71.
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Abbildung 15: Titelblatt zu Gustav Wynekens Schrift »Eros«
Als die Schrift Eros gedruckt wird, hat Walter Benjamin längst mit Gustav Wyneken gebrochen. In einem Brief vom 9. März 1915 sagt er sich »gänzlich und ohne Vorbehalt«35 von ihm los. Anlass ist Wynekens Text »Jugend und Krieg«, in dem der Erste Weltkrieg gerechtfertigt und begrüßt wird. Auch wenn Benjamins Entscheidung gegen Wyneken unmissverständlich ist, in seinem Brief finden sich deutliche Spuren des starken Eindrucks, den der Reformpädagoge auf seinen Schüler gemacht hat: Lieber Herr Doktor Wyneken, ich bitte Sie diese folgenden Zeilen mit denen ich mich gänzlich und ohne Vorbehalt von Ihnen lossage als den letzten Beweis der Treue, und nur als den, aufzunehmen. Treue – weil ich kein Wort zu dem sprechen könnte, der jene Zeilen über den Krieg und die Jugend schrieb und weil ich doch
35 | Benjamin 1978, S. 120.
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zu Ihnen sprechen will, dem ich noch nie – ich weiß es – frei sagen konnte, dass er mich als erster in das Leben des Geistes führte. 36
Diese Berufung auf das ›Leben des Geistes‹ ist es zugleich, die die Distanzierung von Wyneken ermöglicht. Walter Benjamin sieht den Verrat Wynekens in seiner Parteinahme für den Krieg und gegen die ›lebende Jugend‹, der Wyneken doch »der strengste Liebende«37 gewesen sei. In einem langen Zitat erinnert er seinen ehemaligen Lehrer an dessen eigene, hochgemute Verteidigung der Koedukation38, um ihm dann »den fürchterlichen scheußlichen Verrat an den Frauen«39 vorzuwerfen, der in der Lobpreisung des Krieges bestehe und in der Opferung der Jugend auf dem Altar des Staates.40 An Klarheit lässt das nichts zu wünschen übrig; Benjamins Sprache bleibt dennoch im Umkreis der konzilianten, noblen Gesten, die leicht libidinöse Elemente noch da einschließen, wo es um den endgültigen Abschied von einem Vorbild geht: »Die Jugend aber ge36 | Benjamin 1978, S. 120. Die fehlerhafte Zeichensetzung findet sich so bei Benjamin. 37 | Benjamin 1978, S. 121. 38 | Zur Koedukation in Wickersdorf vgl. Wyneken 1922, S. 56ff. Wyneken erscheint hier nicht ganz als der entschiedene Verfechter der Koedukation, als den Benjamin ihn in seinem Brief auffasst: »Aber es ist noch fraglich, ob durch die Hinzunahme der Mädchen nicht ein wundervolles Gebilde, der Orden edler Knaben und Jünglinge, zerstört wird.« Wyneken 1922, S. 56. »Starke Bindung an ein Mädchen pflegt einen Knaben den Interessen der Gemeinschaft und mitunter auch überhaupt geistigen Interessen zu entfremden. (Dagegen kann sie ihn zum ›Dichter‹ machen.)« Wyneken 1922, S. 57. 39 | Benjamin 1978, S. 121. 40 | Dass Wyneken solcher Opferung auch dann nicht widersprach, als sich ihre Maßstäbe ins Monströse verwandelt hatten, zeigt sich in aller Deutlichkeit in seiner Schrift »Weltanschauung« von 1940. Wynekens Bekenntnis zum »mythischen Denken«, dem er »zu seinem Recht« verhelfen will, damit es zu einer »inneren Verbindung zwischen Volk und Geist« Wyneken 1940, S. 8. komme, reichte bis zur »Menschenökonomie«: Die »Verwaltung des menschlichen Plasmas« durch den jetzt existierenden »Volksstaat« müsse zur »bewusste[n] rassische[n] Hochzüchtung werden«. Es sei »ein Wagnis, aber es muss eben gewagt werden, und es darf umso eher gewagt werden, als die Selbstregulierung durch naturhafte Auslese aus unserer Zivilisation längst fast ausgeschaltet ist.« Wyneken 1940, S. 138.
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hört nur den Schauenden, die sie lieben und in ihr die Idee über alles. Sie ist ihren irrenden Händen entfallen und wird weiter namenlos leiden. Mit ihr zu leben ist das Vermächtnis, das ich Ihnen entwinde. Walter Benjamin«41 Versucht man, die Stimmen Walter Benjamins, Gustav Wynekens und die von Robert Walser instrumentierten Stimmen des Herrn Benjamenta und des Jakob von Gunten als Elemente eines zeitspezifischen Artikulationsraums aufzufassen, so wird durch sie hindurch und jenseits vielfältiger Echowirkungen eine Art cantus firmus hörbar. In ihm werden zentrale Fragen der damaligen Zeit immer erneut gestellt, die sich auch heute noch nicht erübrigt haben: Wie bildet sich bei zunehmenden Erfahrungsmöglichkeiten42 und wachsendem Erfahrungshunger, bei gleichzeitigem unwiderruflichem Zerfall religiöser und politisch-ideologischer Gewissheiten Identität aus? Welche Bildungskonzeptionen könnten dabei produktiv sein? Die Antworten darauf sind so verschieden, wie die Individualgeschichten derer, die sie explizit oder implizit geben. Für die Genannten heißt das: Walter Benjamin wird die Suchbewegungen seiner Jugendzeit in ein politisches Engagement verwandeln, in dem Marxismus und zionistisch inspirierter Messianismus sich wechselseitig beeinflussen. Wyneken wird nach seiner Verurteilung und nach einem weiteren Missbrauchsvorwurf (1931) nach und nach an den Rand aller pädagogischen und politischen Diskurse geraten. – Die Stimmen des Jakob von Gunten und des Herrn Benjamenta werden in der nach Walsers Tod am 25. Dezember 1956 einsetzenden Rezeption immer vernehmlicher werden, ohne dass sie je in die Nähe jener Eindeutigkeit geraten, die für die beiden anderen Personen der Realgeschichte gilt. Das ist ihre Stärke. Sie besteht in ihrer Wirkung, den Sinn für das Mögliche im Verständnis John Deweys auch jenseits der jeweils geltenden Norm wach zu halten. Die im literarischen Raum gestiftete Beziehung zwischen Jakob und seinem Vorsteher gehört seit dem ersten Erscheinen des Romans zu jenen, die – so Dewey – »nicht in Regel
41 | Benjamin 1978, S. 122. 42 | Verantwortlich hierfür sind primär die sprunghafte Entwicklung der akustischen und visuellen Medien und die erhöhte Mobilität der Menschen vor allem in den Metropolen. Zu letzterem, genauer zur Geschichte der Eisenbahn vgl.: Schievelbusch [1977] 2000.
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und Vorschrift, Ermahnung und Verwaltung anzutreffen sind.«43 Sich an sie immer neu zu erinnern, könnte sinnvoll sein. Für die Zukunft der ›Liebe‹ im Zeitalter ihrer weiter zunehmenden Marktförmigkeit ist diese Erinnerung ein kaum erschöpf barer Grund zur Hoffnung. Dass sie im Fall des »Jakob von Gunten« auf ein gefährliches Terrain führt, sollte kein Anlass sein, sie aufzugeben. Im Gegenteil: Die einfache Wahrheit genügt meist nicht, und »In Gefahr und größter Not« – so heißt ein Film Alexander Kluges – »bringt der Mittelweg den Tod«. Das trifft auch für die Sprache zu, in der die gegenwärtigen Diskurse zum Missbrauch sich bewegen. So recht diese haben, sie sind auf einem sprachlichen Mittelweg von Empörung und Verurteilung und bleiben dem Schrecken äußerlich, den sie bannen helfen wollen.44 Ihre Darstel43 | Dewey [1934] 1995, S. 401. 44 | Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Rede der aus der Odenwaldschule hervorgegangenen Biologin Julia Fischer anlässlich des 100. Geburtstags der Odenwaldschule. Vor allem die das folgende Zitat abschließende Folge von rhetorischen Fragen offenbart ein erhebliches Mass an Unsicherheit, zu der die Nachwirkung der Person Beckers beigetragen zu haben scheint, die in Fischers Rede mehrfach beim Vornamen genannt wird: »Zunächst zur Ära Becker: Es ist meiner Meinung nach immer noch nicht verstanden, wie es zu den systematischen Missbrauchsfällen kommen konnte, insbesondere wie es Gerold Becker möglich war, um seine sexuellen Übergriffe herum ein perfides System von Abhängigkeiten und latenter Bedrohung zu errichten. Gerold galt allgemein als ein Pädagoge von besonderer Strahlkraft, der Menschen für sich einnehmen konnte. Ich erinnere ihn als warmherzig, feinfühlig, und großzügig. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass man ihm nichts vormachen konnte. In den Zeitungsartikeln der vergangenen Monate wird er häufig als charismatisch beschrieben. Viele haben ihn offenbar wie einen Guru verehrt. Eine zentrale Rolle spielt sicherlich, dass Gerold allgegenwärtig war; es gab eigentlich kein Gremium, in dem er nicht vertreten war; er saß sogar im Schülerparlament. Ohne autoritäres Machtgehabe gelang es ihm, eine hohe Kontrolle an der Schule auszuüben. Aber wie konnte es sein, dass die Mitarbeiter, die sich demokratischen Idealen verpflichtet sahen, sich diesem System ergaben? Fühlten sie sich ihm zu großem Dank verpflichtet, weil sie meinten, sie hätten durch ihn eine einmalige Chance erhalten? Wie viele wurden von ihm erpresst oder hielten sich in ihrer Kritik zurück, weil sie selbst libidinöse oder sexuelle Beziehungen zu Schülern hatten? Oder hatten
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lungs- und Artikulationsmöglichkeiten sind den beschworenen Gefahren in der Regel nicht gewachsen. Sie unterbieten zudem ein Problem, das sich seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters von einer unerwarteten Seite her verschärft – von Seiten der Liebe selbst, genauer von Seiten ihrer Begründbarkeit. Unter der Voraussetzung einer radikalen Subjektivierung der Liebesverhältnisse, verbunden mit dem unausgesprochenen Gebot, ihnen ihre Grundlage immer erneut zu sichern, wird die Glaubwürdigkeit der Liebe als Passion zu einem Dauerproblem45 und ihr Vollzug in notwendig asymmetrisch sich längst sektenartige Strukturen etabliert, mit dem Guru Gerold Becker im Zentrum?« Fischer 2010, S. 2. 45 | Schon Schillers Figur der Prinzessin Eboli im »Don Carlos« ahnte etwas davon. Ihr Autor lässt sie (im achten Auftritt des zweiten Aktes) mit großer Emphase gegen die Titelfigur argumentieren und die Singularität und Unkäuflichkeit der Liebe beschwören: »Armselige Vernünftelei! Wie schwach Von diesen starken Geistern! Weibergunst, Der Liebe Glück der Ware gleich zu achten, Worauf geboten werden kann! Sie ist Das Einzige auf diesem Rund der Erde, Was keinen Käufer leidet, als sich selbst, Die Liebe ist der Liebe Preis. Sie ist Der unschätzbare Diamant, den ich Verschenken oder, ewig ungenossen, Verscharren muss […]« Schiller [1787] 1956, S. 73. Mit viel Sinn für Komik hat der britische Psychiater Ronald David Laing nach etlichen Generationen der Ernüchterung die Beteuerungen beschrieben, dass die Liebe dauere und in ihr alles am geliebten Menschen gemeint sei: »Sie liebst du mich? Er ja ich liebe dich Sie mehr als alles? Er ja mehr als alles Sie mehr als alles in der Welt? Er ja mehr als alles in der Welt Sie magst du mich? Er ja ich mag dich Sie bist du gern bei mir?
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organisierten Institutionen fast unausweichlich zu einer ruinösen Praxis. Ein kleines Gedankenexperiment mag das illustrieren: Man lese die nachfolgenden Sätze Niklas Luhmanns vom Ende seines Buches »Liebe als Passion« einmal nicht als eine Variante der systemtheoretischen Behauptung von Selbstreferenz und Autopoiesis, sondern als Selbstinstruktion einer pädophilen bzw. ephebophilen Lehrkraft in einer Situation des drohenden Verlustes des Objekts seiner Begierde: Ebenso wichtig ist die Vorstellung der Selbstreferenz, des Liebens um der Liebe willen, mit der festgehalten ist, dass im Intimbereich Systeme diejenigen Bedingungen, die ihre Konstitution und ihre Fortsetzung ermöglichen, selbst produzieren müssen. Das setzt zugleich die alte Einsicht fort, dass die Liebe sich ihre Gesetze selbst gibt und zwar nicht abstrakt, sondern im konkreten Fall und nur für ihn.
Er Sie Er Sie Er Sie Er Sie Er Sie Er Sie Er Sie […] Sie Er
Sie
ja ich bin gern bei dir schaust du mich gerne an? ja ich schau dich gerne an hältst du mich für dumm? nein ich halte dich nicht für dumm findest du mich hübsch ja ich finde dich hübsch langweile ich dich? nein du langweilst mich nicht gefallen dir meine Augenbrauen? ja deine Augenbrauen gefallen mir sehr? ja sehr welche gefällt dir besser? schwörst du dass du mich nie verlässt? ich schwöre dass ich dich nie verlasse Nie und nimmer bei allem was mir heilig ist Und wenn ich lüge will ich tot umfallen (Pause) liebst du mich auch wirklich?« Laing 1978, S. 133ff.
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Radikaler als je zuvor wird man konzedieren müssen, dass Liebe alle Eigenschaften auflöst, die für sie Grund und Motiv sein könnten. 46
Liest man diese Passage aus der vorgeschlagenen Perspektive, so erscheinen Luhmanns Sätze wie ein Ausdruck der Sorge des Älteren, den Jüngeren nur ja und mit allen Mitteln, die ihm möglich sind, bei der Stange zu halten. Wo die bürgerlichen Subjekte sich nicht auf Augenhöhe liebend begegnen, kann der Boden unter ihren Füssen schneller brüchig werden, als ihnen lieb ist. Manchen der jüngeren Geliebten ist davon ein Leben lang schwindlig geworden – nicht wie im Karussell oder auf der Achterbahn, sondern wie mit einem Loch im Bewusstsein, das nicht zuwachsen will und in das man immer weiter hineinblicken muss. Davon lässt sich nur radikal subjektiv erzählen. In einem im doppelten Sinn des Wortes unerhörten Text hat Bodo Kirchhoff von sich erzählt, von dem, was ihm als Zwölfjährigem angetan wurde und welche Folgen es bis heute für ihn hat. Schon der erste Satz benennt die Erfahrung, um die es ihm geht und die in der aktuellen Diskussion kaum Beachtung findet: die »Misere der Sprachlosigkeit«.47 Es war keine offene oder gar brutale, sondern eine zärtliche Gewalttat, die bis in die Geschmacksnuancen der fremden Zunge hinein in der Erinnerung des jetzt Zweiundsechzigjährigen geblieben ist. Der »Heimleiter und Schulkantor«, ein sympathischer Cabriofahrer mit damals unkonventionell langem Haar nahm – so Bodo Kirchhoff – »meinen Kopf in die Hände und küsste mich, seine Zunge schmeckte nach Rauch und Odol, unvergesslich. Ich war noch nie so geküsst wor46 | Luhmann 1983, S. 222f. 47 | Kirchhoff 2010, S. 150. Wenn man beobachtet, mit welcher Intensität bisweilen im Alltag alte Schulerfahrungen mitgeteilt und diskutiert werden, bekommt man eine Ahnung davon, wie wichtig es ist, der Sprachlosigkeit in Sachen Erziehung entgegenzuarbeiten. Jürgen Oelkers hat in einer Rezension zu Peter Handkes »Kindergeschichte« sogar von einer ›ewigen Erzählung‹ gesprochen, in der sich die Individuen über dieses Thema verständigen: »Über ›Erziehung‹ gibt es in der Tat eine ›ewige Erzählung‹, eine dauernde Verständigung der Handelnden, die ihre Erfahrungen austauschen und gerade damit (auch) das fortsetzen, was als Mythos bezeichnet werden kann. Zumindest lässt sich so der Respekt vor der Erziehung begründen, der als Respekt der Handelnden vor ihren Geheimnissen und dem Geheimnis der Erziehung selbst greifbar ist.« Oelkers 1981, S. 279.
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den und erwiderte den Kuss, um nicht unhöflich zu sein, aber es war auch ein Bedürfnis, frisch geweckt«.48 Geweckt wird »in dieser ersten Nacht von vielen« auch das »lodernde[s] Rätsel zwischen den Beinen«, und nach dem ersten Orgasmus ist er, Bodo Kirchhoff, »ein sprachloses Kind mit Schwanz.« 49 Der Sprache mächtig war, der ihn verführt hatte und weiter verführte und der zunächst sein Religionslehrer blieb: Der Päderast flüstert geilen Unsinn, seine Sprache ist so verklärt wie versaut, ein gebildetes obszönes Delirieren. […]; alles im Leben des Päderasten dreht sich um hilflosen Sex, ohne dass es eine geklärte, mit anderen teilbare Sprache dazu gibt, wie auch. […] Er war der Hirte meiner Lust, es mangelte mir an nichts; das finstere Tal kam, als die Sonne aufging. 50
Ein Skandal wurde nicht daraus, als die Übergriffe bekannt wurden; der Lehrer kam »mit Billigung der evangelischen Landeskirche« davon. Zurück blieb ein Kind, das sich als schmutzig und verdorben wahrnahm – »verdorben, sagte man damals, nicht ahnend, wie treffend dieses Wort ist.«51 Der dies so sagt, ist seit langem Schriftsteller, und die Gründe dafür sieht er rückblickend in den Verhören, denen er im Internat nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle (Kirchhoff war nicht der einzige ›Fall‹) ausgesetzt war.52 Seine Erinnerung gilt der ungleichen Verteilung 48 | Kirchhoff 2010, S. 150. 49 | Kirchhoff 2010, S. 150. 50 | Kirchhoff 2010, S. 150. 51 | Kirchhoff 2010, S. 150. 52 | In seinem Roman »Parlando« von 2001 hat Bodo Kirchhoff den Schrecken und die Unwiderstehlichkeit der Verführung auf eine großartig obsessive und zugleich peinigende Weise beschrieben, seitenlang und ohne Absätze im Schriftbild. Vgl.: Kirchhoff 2001, S. 18. Die Verhöre nach der Aufdeckung des Missbrauchskandals haben den Schrecken der ›Verführungserfahrung‹ nicht gemildert sondern gesteigert; auch sie sind von sexuellen Konnotationen nicht frei. »[…] er kniff mit seinen warmen braunen Fingern in die Wange, und ich sah die vom Rauchen gefärbten Kuppen, die mir wie Adelszeichen erschienen, und sehe sie immer noch vor mir, wie ich den ganzen Kantor vor mir sehe, sehe und doch zweifle, ob es gelingt, mehr als seinen Schatten auf diese Geschichte zu werfen; schon während des Verhörs konnte ich kaum über ihn reden, ich stand
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der sprachlichen Möglichkeiten auch hier: »[…] es gab nur Verhöre durch Leute, die alles ganz genau wissen wollten, um sich darüber, eher aber daran zu erregen. Ich musste über etwas sprechen, zu dem es keine Sprache gab, ich musste mir eine erfinden, auch so wird man Schriftsteller.«53 Dessen Aufgabe sieht Kirchhoff darin, jenseits von Pornographie und jenseits des »unendliche[n] libertäre[n] Geschwätz[es] in Talkshows und im Internet«54 an einer Sprache des Sexuellen zu arbeiten, in der das Subjekt sich selbst wiedererkennt und aus dem Schatten der frühen zärtlichen Gewalttat heraustreten kann: Ich zappelte sozusagen an diesem Stück von mir, das ein Mann in seinen Mund genommen hatte, bis alles zu spät war, und letztlich geht es darum, diesen Spieß umzudrehen: das in den Mund zu nehmen und auszusprechen, was unfassbar war (und was meine Eltern in einer verklebten, seligen Zeit nicht einmal geahnt hatten), was mein verstecktes Ich blieb, so schrecklich wie interessant. 55
vor Müller-Paulus, bis er endlich Setzen sagte, leise, um dann loszulegen, das war sein Trick, die dicken Arme verschränkt, stand er im Freizeithemd vor einem und wurde laut, Kam er nachts ins Zimmer, hat er dich aus dem Bett geholt?, sein Name war plötzlich tabu, jeder vermied ihn, So ungefähr, sagte ich, Wie ungefähr? Schrie Müller-Paulus, und die Hand rutschte aus, ich steckte ihn weg, den Schlag, es ist das Erbarmungslossein sich selbst gegenüber, das Freiheit verschafft, ich war so frei, nicht zu heulen, und er setzte sich vor mich, die Schenkel gespreizt, auf einen Stuhl mit der Lehne nach vorn, Ihr lagt nachts bei ihm, gib es zu!« Kirchhoff 2001, S. 25f. Die Wirkungen der Missbrauchserfahrung wie der Misshandlungen während der Verhöre werden am Schluss des zweiten Kapitels resümiert: »Damals, in den Wochen danach, wurde ich krank, mein Herz spielte verrückt, Ärzte untersuchten mich, ihr Urteil lautete Nervös; doch in puncto Herz, hörte ich sie im Polizeijargon sagen, gebe es keinen Verdacht – abermals keinen –, ein gesunder Muskel. Sie ließen mich Sport treiben, um den Muskel noch weiter zu stärken, und ich trieb Sport, mit Gelpke, Pallas und den anderen. Aber das Herz ist kein Muskel. Das Herz ist ein Sammler.« Kirchhoff 2001, S. 37f. Die natürlich zu beachtende Differenz der Erfahrung des Autors und der des IchErzählers im Roman kann in diesem Falle unberücksichtigt bleiben. 53 | Kirchhoff 2010, S. 150. 54 | Kirchhoff 2010, S. 150. 55 | Kirchhoff 2010, S. 151.
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Wer es so erlebt hat und weiter erlebt 56 und daraus als Schriftsteller eine lebenslange Aufgabe macht, handelt nach einer Maxime, die sich eher beiläufig in einem kurzen Prosatext von Kurt Tucholsky findet, in dem es um die Schwierigkeit geht, die Bewegung der Birkenblätter wirklich zu beschreiben: »Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst – ›besprechen‹ hat eine tiefe Bedeutung.«57 So weit diese Funktionsbestimmung von Sprache zurückweist – bis zur Frühzeit eines magischen Weltverhältnisses – die Artikulationsweise des Schriftstellers etwa seit Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts ist die einer strengen Subjektivität. Das gefährdet ihre Konsistenz ebenso wie ihre Fähigkeit, in Kommunikation zu treten. Das erzählende Ich der Romane und Prosastücke Robert Walsers ist sich dessen bewusst: »Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.«58 In diesem lebenslangen Ich-Buch markiert Walsers Roman von 1909 einen Wendepunkt; seit seinem Erscheinen beginnt die Literaturkritik sich abzuwenden.59 Eine Folge davon ist – neben Walsers Rückkehr in die Schweiz 1913 – der Übergang zur Form der kurzen Prosa. Das Ich, das hier (bis zur Einweisung des Autors in die Psychiatrie) in vielerlei Gestalt sichtbar wird, aber nie ganz und auf Dauer, setzt dabei die Reihe jener Helden fort, die im Zentrum der drei frühen Romane stehen. Es sind – wie alt sie auch sein mögen – Jünglingsgestalten, die die Welt aus einer ironischen Distanz wahrnehmen und sich ihr bestenfalls auf Zeit anvertrauen, die die Berufe wechseln, die Freundschaften und die Unterkünfte. Ihnen kann niemand und nichts etwas wirklich Schlimmes antun; aber zu helfen ist ihnen auch nicht. Sie sind mutwillig, als hielten sie sich an den Satz, der behauptet, dass wer sich nicht in Gefahr begebe, 56 | Kirchhoff merkt hierzu folgendes an: »[…] andererseits hat meine Sexualität bis heute etwas Verwahrlostes, einen Mangel an Verbindlichkeit, dem ich ständig sprachlich zu begegnen versuche.« Kirchhoff 2010, S. 151. 57 | Tucholsky [1929] 1985, S. 189. 58 | SW. Band 20, S. 322. 59 | Ein Beispiel dafür bietet die im Kapitel »Unzarter Griff und gouvernantenhaftes ›Huch‹/erste Blicke auf das Selbstexperiment in ›Jakob von Gunten‹« untersuchte Kritik Widmanns.
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darin umkomme. Und zugleich sind sie untröstlich, als hätten sie schon hinter sich, was das zwanzigste Jahrhundert noch bereithielt. Walter Benjamin hat die von ihnen ausgehende widersprüchliche und verstörende Wirkung in seinem kurzen Essay zu Robert Walser von 1929 auf hellsichtige und poetische Weise umschrieben. Für ihn kommen die Figuren Walsers […] aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Es verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben. Will man das Beglückende und Unheimliche, das an ihnen ist, mit einem Worte nennen, so darf man sagen: sie sind alle geheilt [Hervorhebung im Original]. Den Prozess dieser Heilung erfahren wir freilich nie […].60
Die Figuren Walsers maskieren und verkleiden61 sich immer neu, legen ihren Rätselcharakter nie ab, so nah sie uns gehen mögen. Ihnen fehlt, »was fürs Leben und seine Gemütlichkeit wichtig ist«62, das, was man eine stabile und verlässliche Identität nennt, und ihre eigensinnige Moral beziehen sie eben hieraus.63 60 | Benjamin in Kerr 1978, S. 128. 61 | Dies rätselhafte Maskieren und Verkleiden wird von Burger als »chamäleonhafter Aberwitz« bezeichnet. Burger 1996, S. 118. 62 | SW. Band 12, S. 16. 63 | Mit seinem höchst subjektiven moralischen Eigensinn hat die Figur des Jakob von Gunten, wie andere Figuren Walsers, als ein Sonderfall teil am Typus des Dandys, der – wie Jürgen Oelkers angemerkt hat – »nicht ethisch entworfen, sondern ästhetisch« ist. Oelkers 1991, S. 100. Als so verfasste »Symbolfigur der Moderne« und als »ein antipädagogisches Menetekel« provoziere der Dandy »die klare Moral der Erziehung«. Oelkers 1991, S. 112. Eben deshalb bleibe er für die Pädagogik ein Anlass zur Beunruhigung. Dass diese Beunruhigung produktiv sein kann, wenn man mit Janusz Korczak anerkennt, dass die Wahrheit der Pädagogik nicht erzieherisch, sondern »poetisch zu vollenden« Oelkers 1991, S. 7. sei, ist eine Hoffnung, die im pädagogischen Alltagsgeschäft zu leicht in Vergessenheit gerät.
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Liest man die in der Sekundärliteratur am meisten zitierten Sätze aus »Jakob von Gunten« und fragt sich dabei, welche Identitätsmerkmale hier auf welche Weise zur Sprache kommen, so gerät man von einem Widerspruch in den nächsten, so als sei Eindeutigkeit ein Ziel, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Die so gern herangezogene ›Schlüsselstelle‹, in der die Selbstdefinition des Helden geleistet scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein wahrer Katarakt von Kontradiktionen und Dissonanzen. Es ist dies die Eintragung des Tagebuch-Ichs zwischen dem Bericht vom gewalttätigen Angriff des Institutsvorstehers und der Schilderung der Szene, in der Lisa Benjamenta Jakob ihren Tod ankündigt und von ihrer enttäuschten Liebe spricht: Ich war eigentlich nie Kind, und deshalb, glaube ich zuversichtlich, wird an mir immer etwas Kindheitliches haften bleiben. Ich bin nur so gewachsen, älter geworden, aber das Wesen blieb. Ich finde an dummen Streichen noch ebensoviel Geschmack wie vor Jahren, aber das ist es ja, ich habe eigentlich nie dumme Streiche gemacht. Meinem Bruder habe ich ganz früh einmal ein Loch in den Kopf geschlagen. Das war ein Geschehnis, kein dummer Streich. Gewiss, Dummheiten und Jungenhaftigkeiten gab es die Menge, aber der Gedanke interessierte mich immer mehr als die Sache selber. Ich habe früh begonnen, überall, selbst in den dummen Streichen, Tiefes herauszuempfinden. Ich entwickle mich nicht. Das ist ja nun so eine Behauptung. Vielleicht werde ich nie Äste und Zweige ausbreiten. Eines Tages wird von meinem Wesen und Beginnen irgendein Duft ausgehen, ich werde Blüte sein und ein wenig, wie zu meinem eigenen Vergnügen, duften, und dann werde ich den Kopf, den Kraus einen dummen, hochmütigen Trotzkopf nennt, neigen. Die Arme und Beine werden mir seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles wird brechen und welken, und ich werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot, und dann werde ich vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben. Ich werde alt werden. Doch ich habe kein Bangen vor mir. Ich flöße mir durchaus keine Angst ein. Ich respektiere ja mein Ich gar nicht, ich sehe es bloß, und es lässt mich ganz kalt. O in Wärme kommen! Wie herrlich! Ich werde immer wieder in Wärme kommen können, denn mich wird niemals etwas Persönliches, Selbstisches am Warmwerden, am Entflammen und am Teilnehmen verhindern. Wie glücklich bin ich, dass ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag! Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluss gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich
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selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den untern Regionen atmen.64
Überblickt man diese Passage, so ergibt sich: Der hier eröffnete Raum der erlebten wie vorgestellten Identitätsmöglichkeiten umfasst ein Menschenalter und die Hierarchie der sozialen Positionen. Beide Dimensionen kommen sowohl im Modus der Erinnerung zur Sprache als auch in dem des prognostischen Ausgriffs in die Zukunft. Versucht man diesen Identitätsraum mit Hilfe einer Zeitachse und einer Achse für soziale Schichtung zu veranschaulichen, so bietet sich folgendes Modell an, in das sich Textanteile als Stichworte eintragen lassen:
Die Zeitachse reicht von »Kind« (der Text beginnt mit retrospektiven Reflexionen zur Kindheit) über das Alter (»alles wird brechen und welken«) bis zum Tod (»und ich werde tot sein«). Der indirekt benannte Lebenshöhepunkt (nicht Mittelpunkt) ist erreicht, wenn eines Tages »von meinem Wesen und Beginnen irgend ein Duft« ausgeht. Orientiert man sich an dem von Robert Walser erreichten Lebensalter von 78 Jahren, das der durchschnittlichen Lebenserwartung in der Schweiz zur damaligen Zeit entsprach, so liegt der Zeitpunkt, von dem an »irgend ein Duft ausgehen« 64 | JvG, S. 144f.
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wird und er »ein wenig, wie zu meinem eigenen Vergnügen, duften« wird, bei einem Lebensalter von achtzehn bis zwanzig Jahren. Das ist zugleich der Zeitpunkt der ersten Veröffentlichungen Walsers, in deren Folge er dann 1905 nach Berlin ging. Was dann folgt, ist in der zitierten Passage das Neigen des Kopfes, das Erschlaffen von Armen und Beinen und ein langsames Dahinleben und -sterben, »vielleicht sechzig Jahre« lang.65 Der Raum möglicher sozialer Positionen wird in den letzten vier Sätzen der Passage benannt: Er liegt zwischen dem »nichts Achtens- und Sehenswertes«, dem »klein sein und bleiben«, den »untern Regionen« und jener Sphäre, »wo Macht und Einfluss gebieten«. Der zweitletzte Satz zeigt eine Bewegung durch diesen Raum hindurch, ihr erster Teil ist ein passiv erlebter Aufstieg (»Und höbe und trüge mich eine Hand […]«), ihr zweiter ein Sprung »ins niedrige, nichtssagende Dunkel«. Abstrahiert man von dem komplexen Bild eines fast naturwüchsigen Fluges nach oben zu den gesellschaftlichen Höhenzügen und des entschlossenen Sprungs in die Tiefe und liest den Satz von seinem Ende her, so lässt sich feststellen: Hier wird das Angebot einer möglichen Identität ausgeschlagen, wird eine Identität verweigert. Der Modus dieser Verweigerung bestimmt die ganze 333 Wörter umfassende Passage; das illustrieren bereits die auffindbaren sprachlichen Gegensatzpaare. Schon der erste Satz beginnt mit einer Feststellung: Das Ich sei »eigentlich nie 66 Kind« gewesen; es glaube aber daran, dass an ihm »immer etwas Kindheitliches« haften bleiben werde. Der dritte Satz setzt an mit dem Geständnis, das Ich finde »an dummen Streichen noch ebenso viel Gefallen wie vor Jahren«, um dann einzugestehen, es habe eigentlich »nie dumme Streiche« gemacht. Dies jedoch wird drei Sätze weiter negiert, wenn es heißt: »gewiss, Dummheiten und Jungenhaftigkeiten gab es die Menge«. Ein vergleichbares Verhältnis von Behauptung und (halbem) Dementi folgt kurz danach: »Ich entwickle mich nicht. Das ist ja nun so eine Behauptung.« Ob der erste Satz nun gelten soll – sein Autor Jakob teilt es nicht mit. Auf ebenso unsicherem Boden scheint die nächste, schon ins Futur gehende Behauptung zu stehen: »Vielleicht werde ich nie Äste und Zweige ausbreiten«. Schon der Folgesatz beharrt entgegen dem »nie« darauf, eines Tages »wird von 65 | Diese Sätze sind in der Sekundärliteratur nicht selten als eine gespenstische Vorwegnahme des Daseins Walsers in der Psychiatrie aufgefasst worden. 66 | Die kursiven Hervorhebungen finden sich nicht in Walsers Text; sie dienen dem Versuch, die Gegensatzpaare zu markieren.
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meinem Wesen und Beginnen irgend ein Duft ausgehen, ich werde Blüte sein […]«. Auch diese kleine selbstverliebte Seeligkeit hat keinen Bestand: »[…] und dann werde ich den Kopf […] neigen. Die Arme und Beine werden mir seltsam erschlaffen […].« Es ist dies eine vorgestellte Bewegung, die in den Tod mündet, der aber auch sofort sein halbes Dementi erfährt: »[…] und ich werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot […].« Was bleibt, wenn dieser Zustand dauert – und dauern soll er »vielleicht sechzig Jahre« – ist fast eine Einheit von Leben und Sterben, von noch mit etwas identisch sein und definitiv nicht mehr, mit nichts mehr identisch sein: »[…] vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben.« Die andauernde Rücknahme von Bedeutung, die Schwächung der Signifikanz des Gesagten, hat Benjamin in seinem Essay als ein Charakteristikum der Prosa Walsers bezeichnet. In ihr habe jeder Satz »nur die Aufgabe [hat], den vorigen vergessen zu machen.«67 Das ist mehr als ein stilistisches Merkmal, mehr als ein bewusstes Vermeiden von Eindeutigkeit. In dieser gewollten Identitätsverweigerung wird auch auf der Ebene der sprachlichen Mikrostruktur jener Demutsgestus erkennbar, der die Gestalt des Dieners konstituiert – bis hin (wie in den Anleitungen für den Dienerberuf) zum Paradox der Nicht-Wahrnehmbarkeit ihrer Anwesenheit.68 Wo die Negation von Bedeutung den sprachlichen Entwurf möglicher Identität untergräbt, wird diese selbstbewusst aufs Spiel gesetzt. Gegenüber der Forderung nach Selbstdefinition, nach Behauptung von Identität ist es ein Akt der Dekonstruktion, eine fortgesetzte, kunstvoll gestiftete Identitätsdiffusion.69 Fragt man nach den Lebensphasen, in denen einem jeden von uns so etwas gestattet ist, gibt es zwei Antworten: In der Kindheit wird es uns nachgesehen (da können wir es noch nicht) und im Alter (da brauchen wir es nach und nach nicht mehr); das Alter wird denn auch bisweilen eine zweite Kindheit genannt.70 Schaut man aus diesem Blickwinkel auf den 67 | Benjamin in Kerr 1978, S. 127. 68 | Krajewski zitiert dazu als Motto am Ende seines Buches John Milton: »They also serve who only stand and wait.« Krajewski 2010, S. 599. 69 | Siehe hierzu auch Jürgens 2004, S. 69ff. 70 | So zum Beispiel in Shakespeares »Wie es euch gefällt«: »[…] Die ganze Welt ist Bühne,/Und alle Fraun und Männer bloße Spieler./Sie treten auf und gehen wieder ab,/Sein Lebenlang spielt einer manche Rollen/Durch sieben Akte hin. […] Der letzte Akt, mit dem/Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,/Ist zwei-
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ersten Satz der bekannten Passage zurück, so lässt sich der in ihm scheinbar offen zutage liegende Widerspruch lösen: Wer nie Kind war oder sein konnte oder sein durfte, wird es ein Leben lang nötig haben, oder: Er wird ein Leben lang ein wunderbarer oder furchtbarer Kindskopf bleiben, oder: Er wird wie der Missbrauchte – so Bodo Kirchhoff – mit dem Bewusstsein einer frühen Verletzung leben müssen, mit jenem ›ungeheuren Sprachloch‹, das sich nicht schließen will. Was immer für Walser und seine Figur des Jakob von Gunten zutreffen mag, für beide gilt die verstörende und zugleich tröstliche Formel Benjamins, dass sie den Wahnsinn hinter sich haben. Die Lebendigkeit, die in ihnen und ihrer Sprache am Werk ist, ist von der Tugend des Kleinseins nicht zu trennen, die sie verkörpern. Hier spricht eine provokante Souveränität sich aus, die nichts will, als »klein sein und bleiben«, die in sich »nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag«. Für diese paradoxe, zugleich mutwillige und demütige Variante der modernen »Selbstkonstitution des Subjekts« 71 dürfte es in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts nur wenige weitere Beispiele geben. Die von Jürgen Oelkers als irreversibel bezeichnete Freisetzung des Subjekts »in einem problematischen Status«, jene »freie, aber beständig irritierte und irritierende Größe« 72 zeigt sich in den Texten Robert Walsers zudem in einer Gestalt, die jede Erziehungsprogrammatik unterminiert. Oelkers beschreibt deren wie selbstverständlich beanspruchte Tendenz so: Die Ziele der modernen Erziehung sind nicht allein […] notorisch positiv, sie sind auch alle auf unaufhörlichen Fortschritt angelegt. Selbst Zielsetzungen wie »Selbstverwirklichung« nehmen in pädagogischer Umschrift den Charakter von Steigerungspostulaten an. Sie reflektieren auf Zuwachs, nicht auf Verlust, auf progressive Verbesserung, nicht auf Zerfall […].73
Die Helden Walsers, auch Jakob von Gunten, reflektieren durchaus auf Zerfall und Scheitern: »Und wenn ich zerschelle und verderbe, was bricht
te Kindheit, gänzliches Vergessen:/Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles […].« Shakespeare [1623] 1988, S. 197. 71 | Oelkers 1985, S. 17. 72 | Oelkers 1985, S. 16. 73 | Oelkers 1985, S. 18.
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und verdirbt dann? Eine Null.« 74 Dies notiert Jakob von Gunten in der letzten seiner Eintragungen, bevor er dem pädagogischen Institut Benjamenta und mit ihm »dem, was man europäische Kultur nennt« 75 den Rücken kehrt. Dass das Land, in das Jakob und der ehemalige Lehrer gehen, den Namen Utopia tragen könnte, sollte niemanden verwundern oder schrecken. Wer Identität so konsequent und hinreißend bescheiden verweigert, gehört an einen Ort, von dem wir noch nichts oder zu wenig wissen. Zu vermuten ist, dass Dienerschulen hier unbekannt sind, da das Machtgefälle zwischen Herr und Knecht, Hochwohlgeboren und Dienerschaft aufgehoben ist. In Walsers Worten: »Und die Dienenden, die die von Schlägen getroffen werden, wären die Stärkeren […] Und das Herrschen wäre eine Aufgabe, die über die Kraft ginge […]«. 76 Experiment und Erfahrung aber werden auch hier Jakobs Sache bleiben, wo noch ›kein Ort‹ ist, und das erste bleibt die Voraussetzung der zweiten. Ein pädagogischer Nutzeffekt ist einem Text wie »Jakob von Gunten« nicht abzugewinnen, wohl aber ein Hinweis, welche Richtung die erziehungswissenschaftliche Reflexion einzuschlagen erwägen könnte. Vielleicht hängt in Zukunft einiges davon ab, ob es gelingt, in der pädagogischen Theorie Räume für eine Praxis zu entwerfen, in der verantwortbar Erfahrungen gemacht werden können mit dem Ziel, sich nichts zu ersparen und furchtlos zu werden. Diese Quadratur des Kreises gelingt den die Zeit überdauernden Werken der Kunst und Literatur seit je so gut, dass wir uns daran gewöhnt haben. Dabei sollten wir staunen, dass das möglich ist. Fernando Pessoa hat es in seinem »Buch der Unruhe« in einem Satz gesagt; in ihm fallen Schonung und Ermutigung in eins. Er eignet sich für das Motto einer jeden Pädagogik in aufklärerischer Absicht: »Ich glaube, eine Sache in Worte fassen heißt, ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen«.77
74 | JvG, S. 164. 75 | JvG, S. 162. 76 | SW. Band 12, S. 73. Dies Zitat stammt aus Walsers letztem Romanmanuskript, dem »Räuber-Roman« von 1925. 77 | Pessoa [1982] 2003, S. 35.
Literatur
A. Q UELLEN 1. Texte Robert Walsers Die Nachweise zu Robert Walsers »Jakob von Gunten. Ein Tagebuch« (Band 11: »Sämtliche Werke in Einzelausgaben«: s.u.) erfolgen so: JvG, Seitenzahl. Die Zitate aus den »Sämtlichen Werken« werden folgendermaßen nachgewiesen: SW. Bandzahl, Seitenzahl. Walser, Robert: Briefe. (Hg.): Schäfer, Jörg unter Mitarbeit von Robert Mächler. Band XII/2: Robert Walser: Das Gesamtwerk. Herausgegeben von Jochen Greven. Genf 1975 Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Jochen Greven. 20 Bände. Frankfurt a.M. 1985 (s.o.) Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924-25. Entziffert und herausgegeben von Bernhard Echte und Werner Morlang. Band 1. Frankfurt a.M. 1985 Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1926-27. Entziffert und herausgegeben von Bernhard Echte und Werner Morlang. Band 4. Frankfurt a.M. 1990 Walser, Robert: Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte. Herausgegeben von Bernhard Echte. Frankfurt a.M. 2003
2. Texte anderer Autoren Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band I.2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974
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Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band II.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977 Benjamin, Walter: Briefe I. Herausgegeben von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1978 Cervantes, Miguel de: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. Aus dem Spanischen von Ludwig Braunfels. München 2000 [span. Original 1605] Ebermayer, Erich: Kampf um Odilienberg. Berlin/Wien/Leipzig 1929 Hesse, Hermann: Die Romane und die großen Erzählungen. Erster Band: Peter Camenzind. Unterm Rad. Frankfurt a.M. [1906] 1953 Kirchhoff, Bodo: Parlando. Roman. Frankfurt a.M. 2001 Kirchhoff, Bodo: Sprachloses Kind. Was damals im Internat wirklich geschah. In: »Der Spiegel«, 11/2010, S. 150ff. Mann, Heinrich: Abdankung. In: Mann, Heinrich: Novellen. Hamburg [1906] 1963. S. 532-543 Mann, Heinrich: Der Untertan. Roman. Leipzig [1918] 1973 Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg [1906] 542005 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg [1932] 2002 Pessoa, Fernando: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel. Zürich [1982] 2003 Schiller, Friedrich: Schillers Werke in 5 Bänden. 3. Band. Ausgewählt und eingeleitet von Joachim Müller. Weimar [1787] 1956. Shakespeare, William: Sämtliche Werke. Aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel et al. Eltville am Rhein [1623] 1988 Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke. Band 7. Reinbek bei Hamburg [1929] 1985 Ungar, Hermann: Die Klasse. Roman. Mainz [1927] 1973 Wedekind, Frank: Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen. In: Frank Wedekind: Mine-Haha und andere Erzählungen. Hamburg [1903] 1955, S. 5-52 Weiß, Ernst: Boëtius von Orlamünde. Berlin/Weimar [1928] 1969 Wyneken, Gustav: Eros. Lauenburg 21921 Wyneken, Gustav: Wickersdorf. Lauenburg 1922 Wyneken, Gustav: Weltanschauung. München 1940
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Literatur
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Den Angaben zur Herkunft lässt sich im Literaturverzeichnis weiter nachgehen. Abbildung 1: Photo Robert Walser 1905 in der Wohnung seines Bruders Karl in Berlin-Charlottenburg. Aus: Echte 2008, S. 179. Abbildung 2: Photo Robert Walser im Herbst 1905. Aus: Echte 2008, S. 181. Abbildung 3: Titelblatt zu: »Der herrschaftliche Diener. Ein Lehrbuch zum Selbstunterricht.« [Autor: G. Manthei] Abbildung 4: Photo von Dieneranwärtern in G. Mantheis Berliner Dienerschule 1901. Aus: Echte 2008, S. 180. Abbildung 5: Unveröffentlichte Briefe von Robert Walser an Frieda Mermet vom Januar/Februar 1915. Kopie der Originalbriefe Abbildung 6: Titelblatt zu »Der herrschaftliche Diener wie er sein soll. Eine Selbstinstruktion« von J. Orandt von 1885. Abbildung 7: Anleitung zum Serviettenbrechen in S. Freuthals »Die Dienerschule« [1913]. Abbildung 8: Titelblatt zu S. Freuthals »Die Dienerschule« [1913]. Abbildung 9: Photo in: Heinrich Prinz Reuß: »Der korrekte Diener« von 1900. Abbildung 10: Brief J. J. Orandts vom 20. Juli 1885. Im Besitz der Verfasserin.
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Abbildung 11: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000. (Ralf Emmerich) Abbildung 12: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000. (Ralf Emmerich) Abbildung 13: Probenphoto zur Inszenierung des »Jakob von Gunten« von 2000. (Ralf Emmerich) Abbildung 14: Stellungnahme des Wickersdorfer Lehrerkollegiums zur Verurteilung Wynekens. Beilage zu Gustav Wynekens Schrift »Eros« von 1921. Abbildung 15: Titelblatt zu Gustav Wynekens Schrift »Eros« von 1921.
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2
2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment September 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4
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Lettre Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2497-7
Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2374-1
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, 312 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4
Natalia Borisova Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur Februar 2013, 264 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2295-9
Stephanie Fleischmann Literatur des Desasters von Annual Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 Juli 2013, 360 Seiten, kart., 36,90 €, ISBN 978-3-8376-2281-2
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel November 2013, ca. 360 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Annette König Welt schreiben Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz Juli 2013, 200 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2436-6
Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche November 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2491-5
Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik April 2013, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur
März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Juli 2013, 194 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
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