Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation: Eine Rekonstruktion wesentlicher Arenen und Narrative des globalen Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses [1. Aufl.] 9783658299729, 9783658299736

Der Band versammelt zentrale Befunde abgeschlossener Forschungsarbeiten zur Frage der Entwicklung des globalen Nachhalti

244 84 8MB

German Pages VI, 547 [542] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Warum Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation? (Ulrich Roos)....Pages 1-15
Front Matter ....Pages 17-17
Frugalität und Spiritualität für nachhaltige Lebensweise im 21. Jahrhundert (Hannah Witt)....Pages 19-44
Degrowth und der (Eigen-)Wert der Natur (Marius Thomay)....Pages 45-82
Front Matter ....Pages 83-83
Bildung für Wachstum? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und der deutsche Wirtschafts- und (Post)Wachstumsdiskurs (Georgina Phillips)....Pages 85-112
Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit im Diskurs über die Digitalisierung im Bildungssystem (Lea Rahman)....Pages 113-141
Königsweg Vollbeschäftigung? Argumente und Handlungsregeln der deutschen Bundesregierung(en) im Diskurs zur Zukunft der Arbeit und die aktuelle (Post-)Wachstumsdebatte (Daniel Hegemann)....Pages 143-179
Eine Rekonstruktion des Wohlstands- und Wachstumsbegriffs der deutschen Bundesregierung anhand der Jahreswirtschaftsberichte von 2006 und 2016 (Manuel Tobias Eberhardt)....Pages 181-209
Eine andere Art des Wirtschaftens – Wirtschaftswachstum bei Bündnis 90/Die Grünen zwischen 1994 und 2017 (Sabrina Koch)....Pages 211-239
(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung der Berichterstattung der Nachrichtensendung Tagesschau über Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund der (Post-)Wachstumsdebatte (Anna Lohs)....Pages 241-268
Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs (Yannic Hollstein)....Pages 269-298
Zertifizierter Umweltschutz? Zur Rekonstruktion des Nachhaltigkeitsbegriffs von EMAS (Moritz Harzbecher)....Pages 299-328
Neue Wege in der Afrika-EU-Partnerschaft? Eine Untersuchung zu Handlungsregeln mit Bezug zu Wachstum (Mareike Edler)....Pages 329-355
Wachstumsnarrative entwicklungspolitischer Bildungsarbeit im Globalen Norden am Beispiel von „Brot für die Welt“ im zeitlichen Vergleich (Henriette Friederike Seydel)....Pages 357-388
Qualitatives Wachstum in der Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der KfW Entwicklungsbank (Julia Schönborn)....Pages 389-415
Front Matter ....Pages 417-417
Indigene Philosophie und Widerstandstechniken als Labor weltgesellschaftlicher Transformation (Deborah Düring)....Pages 419-450
Yes, we camp for climate action. Die Klimacamps im Rheinland als Orte des Protests und transformative Möglichkeitsräume (Julia Hübinger)....Pages 451-485
Das Grandhotel Cosmopolis als transformativer Möglichkeitsraum. Einblicke in eine aktivistische Stadtforschung (Julia Costa Carneiro)....Pages 487-542
Back Matter ....Pages 543-547
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Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation: Eine Rekonstruktion wesentlicher Arenen und Narrative des globalen Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses [1. Aufl.]
 9783658299729, 9783658299736

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Ulrich Roos Hrsg.

Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation Eine Rekonstruktion wesentlicher Arenen und Narrative des globalen Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses

Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation

Ulrich Roos (Hrsg.)

Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation Eine Rekonstruktion wesentlicher Arenen und Narrative des globalen Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses

Hrsg. Ulrich Roos Universität Augsburg Augsburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-29972-9 ISBN 978-3-658-29973-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Warum Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ulrich Roos I Umweltethische Reflexionen Frugalität und Spiritualität für nachhaltige Lebensweise im 21. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Hannah Witt Degrowth und der (Eigen-)Wert der Natur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Marius Thomay II Analyse diskursiver Positionen Bildung für Wachstum? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und der deutsche Wirtschafts- und (Post)Wachstumsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Georgina Phillips Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit im Diskurs über die Digitalisierung im Bildungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Lea Rahman Königsweg Vollbeschäftigung? Argumente und Handlungsregeln der deutschen Bundesregierung(en) im Diskurs zur Zukunft der Arbeit und die aktuelle (­ Post-)Wachstumsdebatte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Daniel Hegemann Eine Rekonstruktion des Wohlstands- und Wachstumsbegriffs der deutschen Bundesregierung anhand der Jahreswirtschaftsberichte von 2006 und 2016. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Manuel Tobias Eberhardt

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Eine andere Art des Wirtschaftens – Wirtschaftswachstum bei Bündnis 90/Die Grünen zwischen 1994 und 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Sabrina Koch (Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung der Berichterstattung der Nachrichtensendung Tagesschau über Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund der (Post-)Wachstumsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Anna Lohs Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs. . . . . 269 Yannic Hollstein Zertifizierter Umweltschutz? Zur Rekonstruktion des Nachhaltigkeitsbegriffs von EMAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Moritz Harzbecher Neue Wege in der Afrika-EU-Partnerschaft? Eine Untersuchung zu Handlungsregeln mit Bezug zu Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Mareike Edler Wachstumsnarrative entwicklungspolitischer Bildungsarbeit im Globalen Norden am Beispiel von „Brot für die Welt“ im zeitlichen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Henriette Friederike Seydel Qualitatives Wachstum in der Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der KfW Entwicklungsbank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Julia Schönborn III Analyse transformativer Praxis Indigene Philosophie und Widerstandstechniken als Labor weltgesellschaftlicher Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Deborah Düring Yes, we camp for climate action. Die Klimacamps im Rheinland als Orte des Protests und transformative Möglichkeitsräume. . . . . . . . . . . . . . . . 451 Julia Hübinger Das Grandhotel Cosmopolis als transformativer Möglichkeitsraum. Einblicke in eine aktivistische Stadtforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Julia Costa Carneiro Verzeichnis der Autor*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

Warum Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation? Ulrich Roos

„Der Glaube daran, daß Technik (und Wissenschaft, ihre Schwester) die Grenzen jedes bekannten Gesetzes sprengen oder diese gar widerlegen möge, wurde besonders nach dem unglaublichen technologischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte zu einer allgemeinen Obsession“ (Georgescu-Roegen 1987, S. 17). „Das menschliche Potential (etwa in Form von Technologie) ist immer schon Teil dessen gewesen, was wir als ökologische Grenze unseres Wohlstands begriffen haben. Dies nicht zu erkennen, ist einer der großen Schwachpunkte der ökologischen Analyse, welche den Ausgangspunkt der wachstumskritischen Position bildet“ (Jesche 2014, S. 335)

Unterliegt die wirtschaftliche Aktivität der Menschheit ökologischen Grenzen, oder lassen sich Produktivität und ökonomische Wertschöpfung fortlaufend und unendlich steigern? Zu dieser Frage tobt spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein diskursiver Kampf, der für die Zukunft der Menschheit wie der gesamten Biosphäre von entscheidender Bedeutung ist. Denn spätestens mit The Limits to Growth (Meadows et al. 1972) und der in diesem Bericht an den Club of Rome vorgelegten These vom Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Übernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen sowie Überbeanspruchung der Ökosystemdienstleistungen des Planeten, verbunden mit dem computergestützten Szenario eines im Laufe der nächsten fünfzig bis hundert Jahre eintretenden Kollapses der menschlichen Zivilisation, wurde diesbezüglich eine weltweite Debatte ausgelöst. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen voneinander unterscheiden. Angesprochen sind zwei idealtypische Narrative von Nachhaltigkeit, die entlang wesentlicher Aspekte des Diskurses je verschiedene Positionen vertreten und zwar bezüglich

U. Roos (*)  Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_1

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i) des unterstellten Zusammenhangs von menschlichem Wirtschaften, besonders des fortwährenden Wirtschaftswachstums (Quantität und Qualität der Energie- und Ressourcennutzung) und dem Zustand sowie der Resilienz der Ökosphäre (Artenvielfalt, Erderwärmung, chemische und radioaktive Belastung), ii) des Stellenwerts technologischer Innovation (Effizienzsteigerung vs. Rebound-Effekte), iii) der (Nicht-) Berücksichtigung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (sog. ‚Entropiegesetz‘) sowie iv) den Vorstellungen bezüglich der Zusammenhänge von ökologischer und ökonomischer Dimension von Nachhaltigkeit mit deren sozialen und kulturellen Dimensionen. Je nachdem, welche Prämissen bezüglich dieser Fragen vertreten werden, lassen sich die Positionen als ‚starke‘ oder ‚schwache‘ Nachhaltigkeitsmodelle bezeichnen. So mannigfaltig die Bedeutungszuschreibungen des Begriffes ‚Nachhaltigkeit‘ also sein mögen, unabhängig von der Frage, welche Bandbreite von Werten und Zielen damit assoziiert werden und auch die Überfülle damit verbundener Gesellschaftsentwürfe einmal beiseitegelassen, letztlich ist der um den Nachhaltigkeitsbegriff kreisende politische Diskurs erstaunlich übersichtlich strukturiert. Denn trotz aller Unterschiede im Detail lässt sich als relevante diskursive Konfliktlinie identifizieren, ob eine entweder schwache oder starke Konzeption von Nachhaltigkeit der jeweiligen politischen Position zugrunde liegt. Entlang dieser Unterscheidung lassen sich auf Nachhaltigkeit bezogene Sprechakte und Parteinahmen in ein letztlich binär codiertes System einteilen, zu dem es logisch und praktisch keine dritte, dazwischen vermittelnde Alternative gibt, zumindest dann, wenn neben den vier genannten Unterscheidungsmerkmalen als Letztunterscheidungskriterien außerdem die folgenden Fragen dienen, nämlich ob i) das Vorsorgeprinzip (precautionary principle) Berücksichtigung findet, das auch immer wieder in zwischenstaatlichen Freihandelsverträgen zur Disposition steht, und ob ii) eine strenge Prämisse der Substituierbarkeit von Natur- und Sachkapital formuliert wird, oder nicht.1

1Während

Ansätze schwacher Nachhaltigkeit nämlich von der tendenziell unbegrenzten (und letztlich unschädlichen) Substituierbarkeit von sogenanntem Naturkapital durch Sachkapital ausgehen (Ott und Döring 2011, S. 117 ff.), basieren Positionen starker Nachhaltigkeit auf der Annahme, diese Substituierbarkeit unterläge verschiedenen Einschränkungen bzw. ‚Grenzen‘ und es müsse stattdessen von einer Komplementarität der Kapitalien ausgegangen werden (ebd., S. 146; Daly 1997). Dieser Position liegt die Annahme zugrunde, zur Herstellung zahlreicher Güter würde dauerhaft auch Naturkapital benötigt, das durch Sachkapital nicht in allen Fällen und fortlaufend gleichermaßen zu ersetzen sei, weshalb ein zukunftsfähiges Wirtschaftssystem nicht auf der zunehmenden Erschöpfung und Vernichtung von Natur basieren könne. Zugleich sieht das als Rechtsprinzip formulierte precautionary principle grundsätzlich eine Umkehrung der Begründungslast vor, so dass jene, „die für Naturverbrauch eintreten, begründet darlegen müssen, dass dieser Verbrauch keine gravierenden Folgen mit sich bringt“ (Ott und Döring 2011, S. 156).

Warum Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation?

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Der Blick von der Gegenwart des Jahres 2020 zurück auf den Verlauf der politischen Debatte der letzten fünfzig Jahre lässt den Schluss zu, dass mit der Veröffentlichung des 1987 von der World Commission on Environment and Development (WCED) vorgelegten, sogenannten Brundtland – Reports (United Nations 1987) die Prämissen und damit verbundenen Praktiken der schwachen Nachhaltigkeitsposition eine hegemoniale Stellung im weltpolitischen Diskurs einnehmen konnten. Starke Nachhaltigkeitspositionen wurden hingegen seitdem politisch marginalisiert. Denn in der Folge des Brundtland-Reports wurde das von Meadows et al. und vielen anderen Diskursteilnehmer*innen vertretene Narrativ von der Unverträglichkeit exponentiellen Wirtschaftswachstums und ökologischer Nachhaltigkeit von der Prämisse abgelöst, Wirtschaftswachstum sei ganz im Gegenteil Bedingung auch für ökologische Nachhaltigkeit, denn das eigentliche Problem bestünde im fehlenden Wohlstand bzw. der Armut der Menschheit (Muraca und Döring 2018, S. 339). Das Narrativ vom Wirtschaftswachstum als Optima Ratio gesellschaftlichen Wohlstands macht seitdem den Kern sowohl sämtlicher sogenannter staatlicher Entwicklungspolitik als auch der Nachhaltigkeitsprogramme und Ziele der Vereinten Nationen aus (vgl. etwa Ziel 8 der Sustainable Development Goals der UN). Als Reaktion auf die immer offensichtlicher zutage tretende ungleiche Verteilung der exponentiell gesteigerten ökonomischen Werte (verstanden als Güter und Dienstleistungen) innerhalb wie zwischen den Gesellschaften (Piketty 2014; WID 2018) werden inzwischen zwar Konzepte wie inclusive growth seitens zentraler Institutionen, wie z. B. des Internationalen Währungsfonds, immer prominenter beworben (Anand et al. 2013). Doch die zentrale Prämisse schwacher Nachhaltigkeit, die Steigerung des Wirtschaftswachstums sei notwendige Bedingung, um auch die nicht-ökonomischen Nachhaltigkeitsziele zu gewährleisten, und die Umsetzung dieses Programms stoße auf keine ökologischen Grenzen, bleibt in einer hegemonialen Position. Zugleich trifft jedoch auch zu, dass der marginalisierte Antagonist, das verdrängte Gegenüber, das diskursive Andere – in Form einer starken Nachhaltigkeitsposition – sich zu keinem Zeitpunkt im Raum des politischen Denkund Sagbaren vollends aufgelöst hat. Starke Nachhaltigkeit blieb zwar angesichts der stabilen diskursiven Hegemonie schwacher Nachhaltigkeit politisch irrelevant, ja für lange Zeit (für zwei Jahrzehnte nach Erscheinen des WCED-Reports 1987 bis zur Weltwirtschaftskrise 2007/2008) jenseits akademischer und gesellschaftlicher Nischen nahezu unsichtbar. Jedoch abseits der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit, ohne Chance zwar die politische Hegemonie des schwachen Nachhaltigkeitsverständnisses ernsthaft herauszufordern, zumal in einer Phase der Überwindung der Blockkonfrontation und der Hoffnung auf einen global einsetzenden Prozess sogenannter nachholender Entwicklung, die auf einem ‚robusten‘ Wirtschaftswachstum aufbauen sollte, entwickelte sich das Programm der starken Nachhaltigkeit in diesen Nischen dennoch kontinuierlich fort. So führten Autor*innen wie Vandana Shiva (1988; Mies und Shiva 1993); der späte Nicholas Georgescu-Roegen (1971, [1991] 2019) oder Herman E. Daly (1997) die Argumentationslinie eines Programms starker Nachhaltigkeit auf

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neue Höhen.2 Und es ist die Position einer starken Nachhaltigkeitskonzeption, die in Folge von Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 sowie der jahrelangen EuroWährungs- und EU-Staatsschuldenkrise seither im Ringen um die diskursive Hegemonie an Kraft gewinnt. Diese Wahrnehmung stützt sich zunächst auf die damals sprunghaft zunehmende Zahl wissenschaftlicher Beiträge, die im Diskurs eine Position starker Nachhaltigkeit ausdrücklich vertreten (vgl. etwa Brand 2009; Jackson 2009; Latouche 2009; Muraca 2010; Welzer 2012), aber auch darauf, wie schnell diese aktualisierten Narrative einer starken Nachhaltigkeit, oft verbunden mit Begriffen wie Degrowth, Décroissance oder Postwachstum, weitere Stimmen mobilisieren und sich dabei argumentativ weiterentwickeln konnten. Dass das diskursive Gegenüber, die Verfechter der hegemonialen Position, zugleich zu Verteidigungsreden anheben, mag ein weiteres Indiz für die Erschütterung der jahrzehntelangen Hegemonie sein (vgl. etwa Jesche 2014). Ferner tragen die sich überschlagenden ökologischen Hiobsbotschaften und teils eindringlichen Warnungen der Weltwissenschaft zu Entwicklung und Folgen von Klimawandel, Bodendegradation und Belastung der Ozeane und Kryosphäre (IPCC 2018, 2019a, b), zum Voranschreiten und der Beschleunigung des Artensterbens (IPBES 2019), zur chemischen Belastung der Ökosphäre (UNEP 2019) oder die oben bereits zitierten Studien zum Problem der voranschreitenden sozialen Ungleichheit das ihre dazu bei, dass der Einfluss starker Nachhaltigkeit im Diskurs weiter zunimmt. Nicht bloß die Weltwissenschaft (symbolisiert etwa durch das Intergovernmental Panel on Climate Change), sondern auch zivilgesellschaftliche Bewegungen (etwa Fridays for Future oder Extinction Rebellion) fordern eine kulturelle, soziale, politische, ökonomische und ökologische Transformation der menschlichen Gesellschaften ein (Schmelzer und Vetter 2019, S. 206 ff.; Kallis et al. 2018, S. 419). Degrowth-Theorien, bei aller Mannigfaltigkeit der vorliegenden Strömungen (Schmelzer und Vetter 2019, S. 148–157), lassen sich daher als Herausforderer der Hegemonie einer Politik schwacher Nachhaltigkeit, als einflussreiche Verfechter eines aktualisierten Programms starker Nachhaltigkeit verstehen. Vor diesem Hintergrund fragen die in diesem Band zum Thema „Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation“ versammelten Beiträge nach dem Stand des diskursiven Ringens um die politische Hegemonie. Dass ein solcher Kampf um die Köpfe und Institutionen der Menschen, um deren Werte, Ziele sowie die wahrgenommenen Bedürfnisse und über die legitimen und notwendigen Mittel, diese umzusetzen, über das, was Harald Welzer (2012) die „mentale Infrastruktur“ unserer Gesellschaften nennt, in vollem Gange ist, dürfte angesichts der Schärfe der medialen und politischen Schlacht, etwa mit Blick auf die Einordnung der Dringlichkeit des Klimawandels und was daraus folgt, offensichtlich sein. Aus sozialtheoretischer Sicht lässt sich dies zudem recht gut

2Barbara

Muraca und Ralf Döring (2018, S. 347) begreifen zum Beispiel Georgescu-Roegens Vorarbeiten als bedeutsame Inspiration für jene politische und kulturelle Bewegung, die sich seitdem unter den Begriffen Décroissance, Degrowth oder Postwachstum entwickelt (kritischer hierzu jedoch Missemer 2017).

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an der Tatsache erkennen, dass gegenwärtig weitgehende Einigkeit darüber zu herrschen scheint, dass die Bedeutung kaum eines anderen Begriffs uneindeutiger, dessen gegenwärtige Auslegung für die Zukunft der Menschheit zugleich bedeutsamer, jedenfalls aber umkämpfter sei, als die des Wortzeichens ‚Nachhaltigkeit‘ und der damit verbundenen Praktiken. Dies jedoch lässt eine weitere These plausibel erscheinen, nämlich dass die jahrzehntelange Hegemonie des schwachen Nachhaltigkeitsverständnisses nicht mehr unumstritten ist, woraus das Erkenntnisinteresse der hier versammelten Studien fließt, den gegenwärtigen Einfluss der Programme schwacher und starker Nachhaltigkeit in politischen Diskursen, Prozessen und Institutionen zu analysieren. Fließen Degrowth-Argumente inzwischen bereits in die mentalen Infrastrukturen zentraler politischer Institutionen ein und gewinnen grundsätzlich an Gewicht? Wird die bisherige Hegemonie schwacher Nachhaltigkeit auf Ebene der Handlungslogiken und Bedeutungen bereits tiefgreifend herausgefordert? Welche Überzeugungen bestimmen die handlungsleitenden Narrative bedeutsamer politischer Institutionen und Akteure? Und was lässt sich aus der Beobachtung transformativer Praktiken und Kämpfe lernen? Mit solchen und verwandten Fragen beschäftigen sich die in diesem Band versammelten Beiträge. Sie alle basieren auf umfassenden Forschungsarbeiten, die in MA-Forschungsseminaren, BA-Lehrforschungsprojekten oder BA- oder M ­ A-Abschlussarbeiten im Rahmen verschiedener Studiengänge entstanden sind. Was sie neben dem Interesse an Nachhaltigkeit, Postwachstum und Transformation miteinander verbindet, ist die konsequente Analyse politischer Diskurse, Praktiken und Institutionen. Die hier vorgelegten Befunde sind alle das Resultat intensiver empirischer Forschung. Statt unter Rückgriff auf eine Methode intuitiver Zeitzeugenschaft Eigenschaften der Gegenwart bloß zu unterstellen, basieren die präsentierten Thesen auf analytischer Rekonstruktionsarbeit, um den Stand des Diskurses unter Verweis auf Belege offen zu legen.3 Daneben zeichnen sie sich durch die Reflexion ihrer erkenntnistheoretischen Prämissen, das Kenntlichmachen der ontologischen Positionen und den gewissenhaften Rekurs auf den vorliegenden Forschungsstand aus. Alle Studien können je für sich stehen, bedürfen keines ‚Davor‘ oder ‚Danach‘, was in Zeiten der elektronischen Auffindbarkeit einzelner Sammelbandbeiträge nicht unwichtig ist. Sie bilden aber auch mehr als ein bloß irgendwie zufälliges Gesamt, das jenen, die an den übergreifenden Themenstellungen interessiert sind, dicht belegte empirische Befunde liefert, die in diesem Forschungsfeld noch immer vergleichsweise selten anzutreffen sind. Dabei ist der Band in drei Teile gegliedert, deren Beiträge durch einen ähnlichen Fokus des Erkenntnisinteresses verbunden sind. So reflektieren die Beiträge von Teil I grundlegende umweltethische Fragen und Probleme (Kap. 2 und 3), die in Teil II ­versammelten Beiträge hingegen eint die Analyse der Positionierungen einflussreicher

3Um

die intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu stärken, wurden die Kodierbäume und Materialien der hier versammelten Studien, soweit dies ohne Verletzung der Persönlichkeitsrechte oder die Gefährdung von Interviewten und im Rahmen der DSGVO möglich gewesen ist, in einem separaten Band (Roos 2020) veröffentlicht.

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Institutionen und Akteure im größeren Nachhaltigkeitsdiskurs (Kap. 4 bis 14) und die in Teil III vorgelegten Studien richten den Blick insbesondere auf Möglichkeiten und Schwierigkeiten transformativer Praktiken (Kap. 15 bis 17). Themen und Thesen der Beiträge So wird der Band durch einen Beitrag von Hannah Witt eröffnet, die danach fragt, welche alternativen Vorstellungen von Mensch-Weltbeziehung kosmologische Weltanschauung und Frugalität dem Geist der Moderne entgegensetzen könnten. Sie spürt zunächst der Frage nach den Zusammenhängen von Wirtschaftswachstum, Konsum und ökologischer Krise nach, um auf dieser Grundlage eine Frugalitätsethik als Antwort auf die Vielfachkrise unserer Zeit zu entfalten. Im Zuge dessen werden unter Rückgriff auf Hartmut Rosas Resonanztheorie Überlegungen der kritischen Theorie und der Philosophie des Taoismus miteinander verbunden sowie ökologische und soziale Probleme konsequent zusammengedacht. Dies mündet in der Begründung einer Frugalitätsethik und deren materiellen sowie immateriellen Werten bzw. ‚Gütern‘. Und auch für Marius Thomay stellt sich die Reflexion des Nachhaltigkeitsdiskurses und jede Positionierung darin zunächst als ethisches Problem dar. Präziser: als das Problem, den inhaltsleeren Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘ ethisch zu fundieren. Er analysiert zwei einflussreiche Positionen im größeren Degrowth-Diskurs auf deren ethische Fundierung hin und führt zu diesem Zweck unterschiedliche umweltethische Axiologien und Metaethiken ein. Die Studie analysiert sodann die umweltethischen Positionen des I. L. A.-Kollektivs sowie Barbara Muracas, die im einen Fall als biozentrisch gelesen und im anderen als deep anthropocentrism dechiffriert werden. Der Beitrag formuliert schließlich ein Plädoyer für eine holistische Degrowth-Umweltethik und beleuchtet deren Potenzial für den Wandel der ‚mentalen Infrastrukturen‘ moderner Gesellschaften. Der Beitrag von Georgina Phillips analysiert die seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung eingeschriebenen Vorstellungen von Wirtschaftswachstum und eröffnet damit Teil II des Bandes. Die Studie fragt danach, ob das BMBF in seiner bildungs- und forschungspolitischen Agenda auch Alternativen zu einem auf Wachstum basierenden Wirtschaftssystem aufzeigt, oder nicht, und welche Sinnzuschreibungen mit dem seitens des Ministeriums prominent positionierten Konzept der Green Economy verbunden sind. Sie gelangt zu dem Schluss, dass das BMBF unter dem Begriff ‚nachhaltiges Wirtschaften‘ zwar Ressourcen- und Umweltschutz thematisiert, dabei jedoch betont, dass der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit gewahrt bleiben müsse. Diese Ziele sollen durch technische und soziale Innovationen erreicht werden. Das BMBF interpretiert ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung‘ zuvorderst als Bildung für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, die durch Innovationen Wirtschaftswachstum fördern soll. So wird deutlich, dass die gegenwärtigen Programme und Vorstellungen des BMBF wenig Raum zur Förderung wachstumskritischer Ansätze eröffnen. Zwischen diesem Beitrag und der Studie von Lea Rahman lassen sich zahlreiche Bezüge herstellen, da letztere danach fragt, welche Werte mit der Digitalisierung des Bildungssystems der Bundesrepublik Deutschland seitens

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zentraler Bildungsinstitutionen verbunden werden und welcher Stellenwert hierbei dem Konzept des Wirtschaftswachstums zukommt. Welches Bildungs- und Gesellschaftsverständnis liegt den Digitalisierungsbemühungen zugrunde? Welche Eigenschaften und Wirkungsweisen werden Wirtschaftswachstum zugeschrieben und welche Ziele werden durch die Digitalreform mit Blick auf Wirtschaftswachstum verfolgt? Der Beitrag gelangt zu dem Ergebnis, dass die Reformbemühungen maßgeblich von den Werten Konkurrenzdenken, Verwertungsabsicht und Arbeitsmarktorientierung bestimmt werden, Bildung durch messbares ‚Output‘ definiert und dem gesamtgesellschaftlichen Wachstumszwang untergeordnet wird. Wirtschaftswachstum gilt als nicht hinterfragbares Gesellschaftsziel und dies soll seitens der nachfolgenden Generationen durch Bildungsprozesse reproduziert werden. Ökologische Nachhaltigkeit stellt im betrachteten Diskurs hingegen kein vorrangiges Gesellschafts- und Bildungsziel dar. Insbesondere im Vergleich zu Wirtschaftswachstum ist das Thema Nachhaltigkeit nur wenig präsent. Wenn Nachhaltigkeit als gesellschaftliche Zielsetzung formuliert wird, dann nie als eigenständige Zielsetzung, sondern stets in Kombination mit wirtschaftlichem Wachstum im Sinne eines ‚nachhaltigen Wachstums‘. Die von Daniel Hegemann vorgelegte Studie wendet sich dem Feld Arbeit und Armut zu und fragt nach dem Gesamt jener Handlungsregeln und Leitideen, die den Bemühungen der deutschen Bundesregierung zugrunde liegen, soziale und ökonomische Ungleichheit sowie Armut zu verringern. Dabei zeigt der Vergleich der in den Jahren 2001 und 2017 veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichte, dass dort Vollbeschäftigung noch immer als ‚Königsweg zur Wohlstandssicherung‘ gilt. Grundsätzlich werde eine positive Wechselwirkung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung unterstellt. Postwachstumstheorien, die Kopplung von ökologischer Krise und Steigerung der ökonomischen Aktivität würden hingegen gar nicht erst ins Blickfeld geraten. Das in den analysierten Armuts- und Reichtumsberichten gesponnene Narrativ sei im Wesentlichen von den Annahmen und Werten der neoklassischen Wirtschaftstheorie geprägt. Ebenfalls die Position der deutschen Bundesregierung nimmt die Studie von Manuel Eberhardt in den Blick. Wie hat sich das Wohlstandsverständnis der Bundesregierung zwischen 2006 und 2016 verändert und welcher Stellenwert wird Wirtschaftswachstum diesbezüglich zugeschrieben? Gemäß der vorgelegten Befunde galt der Bundesregierung im Jahr 2006 die Steigerung des Wirtschaftswachstums bemessen am BIP als notwendige Bedingung für Wohlstandsmehrung. Risiken und Nachteile einer solchen Strategie gerieten 2006 nicht in den Blick. Im Jahr 2016 hingegen werden die Schwächen des BIP als alleiniger Wohlstandsindikator thematisiert und über weitere Faktoren zur Wohlstandsmessung wird nachgedacht. Wohlstand wird nicht mehr ausschließlich materiell interpretiert, sondern nunmehr auch durch soziale und ökologische Faktoren bestimmt. Trotzdem bleibt das Primat ökonomischen Wachstums unberührt. Es erfolgt jedoch eine semantische Korrektur hin zum Konzept eines ‚verantwortungsvoll(er)en Wachstums‘ entlang der Hoffnung, Wirtschaftswachstum und ökologische Fragen miteinander versöhnen zu können. Sabrina Koch nimmt sich der Analyse der Position von B90/Die Grünen zum Verhältnis von Ökologie und Wirtschaftswachstum an. Welche Veränderungen lassen

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sich diesbezüglich seit Mitte der 1990er Jahre feststellen und finden Positionen der Postwachstumsbewegung Eingang in die grundlegende Position der Partei? Während Mitte der 1990er Jahre noch ein ‚ökologisch-solidarischer Gesellschaftsvertrag‘ gefordert wurde, zielt die Partei 2017 auf das wesentlich weniger umfassende Ziel einer ‚sozial-ökologischen Modernisierung‘ der Wirtschaft. Wirtschaftswachstum gilt der ­ Partei zu keinem Zeitpunkt per se als problematisch. Die Befunde zeigen eine Unterscheidung in bloß quantitatives Wirtschaftswachstum, das negativ bewertet wird, und nachhaltiges bzw. grünes Wirtschaftswachstum, das grundsätzlich möglich und auch mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt wünschenswert sei. Im Jahr 2017 wird die Gegenwart weitaus positiver gezeichnet als noch Mitte der 1990er Jahre. Hervorgehoben werden nunmehr die grundsätzliche Gestaltbarkeit und das in der Zwischenzeit Erreichte. Anna Lohs richtet den Fokus auf eine wesentliche Stimme des medialen Diskurses im deutschen Sprachraum: die 20-Uhr-Tagesschau. Sie fragt danach, wie die Tagesschau Mitte der 1990er Jahre und in der jüngeren Gegenwart über Wirtschaftswachstum spricht und ob sich angesichts der zunehmenden Prominenz wachstumskritischer Diskurse entsprechende Veränderungen der Sinnzuschreibung beobachten lassen. Als Fälle dienen die jeweiligen Tagesschaumeldungen zur Veröffentlichung des jährlichen Gutachtens des Sachverständigenrats für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie die Berichterstattungen zur jährlich stattfindenden UNKlimakonferenz. Die Befunde der Studie legen nahe, dass in der Berichterstattung der Tagesschau Sinn und Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt werden. Im zweiten Untersuchungszeitraum wird zwar die Idee eines inklusiveren Wirtschaftswachstums stärker berücksichtigt, die Zusammenhänge von ökologischer Krise und Wirtschaftswachstum bleiben jedoch nahezu unthematisiert. Hinweise auf einen zunehmenden Einfluss von Postwachstumstheorien auf die Berichterstattung sind im Material nicht erkennbar. Die von Yannic Hollstein vorgelegte Analyse dechiffriert die hegemonialen Strategien der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs. Im Fokus steht dabei das Projekt der Bertelsmann Stiftung ‚Inclusive Growth‘ und die ‚Agenda Inklusives Wachstum für Deutschland – Fünf Handlungsfelder für eine neue Wachstumsstrategie‘. Die Studie gelangt zu dem Schluss, dass die Signifikanten ‚Zusammenhalt der Gesellschaft‘ und ‚Wohlstand von morgen‘ den Kern des hegemonialen Projektes bilden und neben ‚Chancengleichheit‘, ‚Leistungsgerechtigkeit‘ und ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ den diskursiven Knotenpunkt ‚inklusives Wachstum‘ inhaltlich bestimmen. Dabei fällt unter anderem auf, dass ökologische Probleme beinahe nicht thematisiert werden und wenn dies geschieht, stets mit ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit verbunden werden. So bildet ökologische Nachhaltigkeit einen unartikulierten Antagonismus zum hegemonialen Projekt, dessen Inklusion dasselbe in seiner Existenz bedrohen würde. Die Studie von Moritz Harzbecher nimmt das Umweltmanagementund Öko-Audit-System (EMAS) der Europäischen Gemeinschaften, das auch Element der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist, in den Blick und fragt danach, welcher Nachhaltigkeitsbegriff durch EMAS in die unternehmerische Praxis der daran teilnehmenden Betriebe integriert wird. Die Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass das

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­ achhaltigkeitsverständnis von EMAS mit Blick auf die unterstellten ökologischen N Probleme wachstumsgetriebenen Wirtschaftens kein nennenswertes transformatives Potenzial aufweist und stattdessen zuvorderst systemstabilisierend wirkt. Insofern die Unternehmen je selbst die Kriterien und Werte definieren, entlang deren Effizienzsteigerung sie mit einem Zertifikat belohnt werden, ist es nicht verwunderlich, dass eine Entkopplung ökonomischen Wachstums von ökologischen Schäden so gar nicht erst als Ziel in den Blick gerät. Prämiert wird ein Spiel selbstbezüglicher Effizienzsteigerung anstelle einer tatsächlichen ökologischen Transformation der unternehmerischen Praxis. Der Beitrag von Mareike Edler befasst sich mit den ökonomischen und politischen NordSüd-Beziehungen am Beispiel der seit 2007 bestehenden Afrika-EU-Partnerschaft. Wie wird im Rahmen der bestehenden Abkommen und Kooperationspraxis über Wirtschaftswachstum gedacht? Welchen Stellenwert nimmt Wirtschaftswachstum ein? Welches Gesamtbild entsteht, wenn das diesbezügliche Geflecht von Zielen, Überzeugungen und Handlungsregeln in den Blick genommen wird? Die Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass dem Privatsektor seitens AU und EU künftig größere Mitgestaltungsmöglichkeiten bei zentralen politischen Zielsetzungen, wie z. B. der Armutsreduzierung, eingeräumt werden soll. Die fortwährende Steigerung wirtschaftlichen Wachstums gilt den beiden Staatenverbünden als notwendige Bedingung einer jeden diesbezüglich erfolgversprechenden Strategie. Zwar wird Wirtschaftswachstum diskursiv mit Konzepten wie green growth und nachhaltiger Entwicklung verbunden, doch das Primat des Wachstumsziels wird hierdurch nie infrage gestellt. Die mit den hieraus fließenden ökonomischen Praktiken verbundenen ethischen, ökologischen und sozialen Probleme werden kaum thematisiert und mit keinen verbindlichen Regeln bearbeitet. Einem ähnlichen Forschungsinteresse geht der Beitrag von Henriette Seydel nach, wenn dort danach gefragt wird, welche Bedeutung Wirtschaftswachstum für gelingende Entwicklungszusammenarbeit seitens der Nichtregierungsorganisation ‚Brot für die Welt‘ zugeschrieben wird und welche Bewegung sich diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten feststellen lässt. Die Studie geht dieser Frage nach, indem sie Materialien zur Bildungsarbeit der NGO untersucht, die in den Jahren 1994–1996 sowie 2014–2017 zum Einsatz gelangen. Die Befunde zeigen, dass ‚Brot für die Welt‘ sich sukzessive vom eurozentrischen Entwicklungsdenken und der Dominanz des Wachstumsparadigmas löst und inzwischen explizit Bezüge zu postwachstumstheoretischen Arbeiten herstellt. Jüngst gewinnt zudem die Bereitschaft zur Reflexion neokolonialer Konzepte in der eigenen Arbeit an Einfluss, so dass die Nichtregierungsorganisation vor einem immer deutlicher werdenden Legitimationsproblem steht, das die bisherige ‚Entwicklungsarbeit‘ zusehends infrage stellt. Auch der Beitrag von Julia Schönborn zielt auf das Feld der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit und nimmt den Begriff des qualitativen Wachstums, präziser: das Konzept des pro poor growth in den Blick und fragt nach dessen Bedeutung für die Arbeit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Sie gelangt zu dem Schluss, dass pro poor growth – genauso wie die Konzepte qualitatives oder nachhaltiges Wachstum – ein Konstrukt sei, das zuvorderst die immerwährende Steigerung des Wirtschaftswachstums als zentrales Handlungsziel auch in der

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­ntwicklungszusammenarbeit rechtfertigen soll. Insofern Einkommenswachstum als E Maß aller Dinge gilt, werde das vom globalen Norden gesetzte Verständnis eines guten Lebens als Zuwachs monetärer Einkünfte universalisiert und in der Entwicklungszusammenarbeit oktroyiert. Hiervon abweichende Maßstäbe, die soziale und ökologische Werte zentraler setzen, bleiben dort unberücksichtigt. Der den Teil III des Bandes zur Analyse transformativer Praxis eröffnende Beitrag von Deborah Düring analysiert den Widerstand der indigenen Gemeinschaft der Teriben gegen das Staudammprojekt ‚Proyecto Hidroeléctrico el Diquís‘ (PHED) in Costa Rica. Die Studie analysiert die Besonderheiten dieses Widerstands und die Rolle der indigenen Philosophie darin. Neben der enormen Bedeutung der in der Verfassung des Staats Costa Rica garantierten Rechte der Indigenen, des Rekurs auf juristische Expertise, des Interesses der Weltöffentlichkeit an diesem Fall und der auch daraus sich ergebenden Unterstützung seitens der Vereinten Nationen stellt sich letztlich die indigene Philosophie selbst als die zentrale Quelle eines transformativen Potenzials dar. Deren entschlossene Ablehnung eines bloß technischen Verständnisses der Mensch-Natur-Beziehung, das die Mit- und Umwelt immer und radikal ‚in Wert setzen‘ will, erweist sich als Grundlage einer wirklich nachhaltigen Veränderung staatlicher Handlungsmaximen. Die von Julia Hübinger vorgelegte Studie basiert auf teilnehmender Beobachtung der Praktiken und Diskurse des Klimacamps im Rheinland 2017. Das Konzept einer sozial-ökologischen Transformation ist für die Praktiken der dort engagierten sozialen Bewegungen zentral. Oft genug bleibt jedoch unklar, was genau unter sozial-ökologischer Transformation zu verstehen ist, weshalb die Studie danach fragt, welche Vorstellungen mit diesem Konzept verbunden und welche Faktoren seitens der Aktivist*innen als förderlich wahrgenommen werden. Die Studie zeigt, dass Offenheit, Deliberation und Vernetzung wichtige Bausteine der transformativen Praxis darstellen. Daneben kommt den Themen praktisches und gemeinsames Lernen und (Selbst-)Bildung große Bedeutung zu, da diese als Grundlage des gemeinsamen Handelns begriffen werden. Das Problem der Skalierung – der Übertragung der in der Nische elaborierten Praktiken auf die größere Gesellschaft – wird durch die Konzepte der community of practice, der präfigurativen Politik und des politischen Refrains zwar nicht abschließend gelöst, jedoch eine Vorstellung seiner potenziellen Auflösung skizziert. Von Bedeutung ist ferner die Reflexion der Frage, wie langfristiges Engagement in der Bewegung durch Praktiken der Selbstfürsorge wahrscheinlicher wird. Julia Costa Carneiro verbindet in ihrer Studie zum Augsburger ‚Grandhotel Cosmopolis‘ die Wissensfelder aktivistischer Stadtgestaltung, transformativer Forschung und Postwachstum miteinander. Sie fragt nach den Bedingungen von Eröffnung und Einhegung eines transformativen Möglichkeitsraums innerhalb urbaner Raum(re)produktionsprozesse. Welche Mechanismen wirken auf transformative Möglichkeitsräume ein? Wodurch wird transformatives Potenzial eröffnet, wodurch eingehegt? Die Studie arbeitet die Bedeutung kreativer Selbstermächtigung, von Solidarität und gemeinsamer Arbeit für die Eröffnung und den Erhalt transformativer Möglichkeitsräume heraus. Daneben kommt der Fähigkeit zur Selbstinstituierung, der Schöpfung neuer Regeln

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und dem Protest gegen jegliche Alternativlosigkeit Bedeutung zu. Solcherart entsteht ein urbaner Raum der Bildung zur Autonomie und Demokratie, der jedoch nicht ohne Friktionen bleibt. Als zentraler Konfliktgegenstand entpuppt sich die Bedeutung und das Maß von Kontrolle und Verregelung für den Erhalt des Projekts. Selbstzufriedenheit, Komplexitätsreduktion und Zukunftsoptimismus Was lässt sich aus den in Teil II vorgelegten Analysen schließen, wenn deren Befunde miteinander verglichen werden? Auffällig ist sicherlich, wie unangefochten Wirtschaftswachstum in zehn von elf untersuchten Narrativen als zentrale Zielbestimmung fungiert. Der Glaube an die wohlstandsteigernde und gesellschaftsstabilisierende Wirkung ökonomischen Wachstums ist offensichtlich ungebrochen. Ob als green growth, pro poor growth, inclusive growth, qualitatives oder nachhaltiges Wachstum – Wirtschaftswachstum ist als notwendige Bedingung eines positiven Verlaufs der Menschheitsgeschichte gesetzt. Die Ergänzungen ‚green‘, ‚pro poor‘, ‚inklusiv‘, ‚qualitativ‘ oder ‚nachhaltig‘ zeigen jedoch zugleich an, dass eine bloße Steigerung des BIP nicht genügt, um die Vorstellungen eines ‚guten Lebens‘ zu realisieren. Allerdings bildet ökonomisches Wachstum in allen Fällen die Basis und den entscheidenden Mechanismus, der als notwendig gilt, um die anderen Ziele überhaupt ernsthaft anstreben zu können. Die Befunde legen also eine deutliche Hierarchisierung der Ziele und Werte nahe: Das Primat kommt Wirtschaftswachstum zu, gefolgt, mit einigem Abstand, vom Ziel gesellschaftlicher Stabilität, Inklusion und Armutsbekämpfung und – durchaus überraschend – erst ganz zuletzt gerät ökologische Nachhaltigkeit, wenn überhaupt, in den Blick. Diese Hierarchie wird noch dadurch zementiert, dass der Einsatz für inklusiveres Wachstum nicht von Gerechtigkeitserwägungen motiviert ist, sondern dadurch begründet wird, zu große Ungleichheit gefährde Wirtschaftswachstum. Aufmerksamkeit verdient der – aus der Gesamtschau der elf Studien abgeleitete – Befund einer weitgehenden Marginalisierung der ökologischen Dimension von Nachhaltigkeit. Denn an kaum einer Stelle des Materials wird die Idee der ökonomisch-ökologischen Doppelkrise (Dörre 2013) auch nur thematisiert, damit gemeint ist der spätestens seit Meadows et al. weltweit diskutierte Zusammenhang eines auf der In-Wert-Setzung von nichterneuerbaren Ressourcen bzw. ‚Naturkapital‘ basierenden ökonomischen Expansionsmodells und der Verschlechterung des Zustands der Ökosystemdienstleistungen. Zwar kritisieren z. B. B90/Die Grünen das reine quantitative Wachstum und die Bundesregierung mag Wohlstand nicht mehr länger bloß an der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts messen, doch von den bislang erschreckend kleinen Erfolgen hinsichtlich einer absoluten Entkopplung des BIP von der Belastung der Senken und dem Raubbau am Ökosystem wird nicht gesprochen. Die Beschreibungen des Ist-Zustands bleiben rätselhaft vage, fluide, bestensfalls implizit. Stattdessen eint die analysierten Positionen ein nahezu irrationaler Zukunftsoptimismus, der sich zuvorderst aus der Hoffnung speist, eine technologische Innovations- und Effizienzrevolution würde das Problem schon noch rechtzeitig erfolgreich bearbeiten. Von den schwindenden zeitlichen Ressourcen der Menschheit, dieses Ziel – einem Wunder gleich – trotz Rebound-Effekten (Santarius 2013), trotz steigender

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Weltbevölkerungszahlen und trotz der nach wie vor rasanten, sogenannten nachholenden ökonomischen Entwicklung der Schwellenländer und trotz der in diesem Zusammenhang fehlenden globalen Institutionen einer gerechten Ressourcenverteilung zu erreichen, ist im Material ebenfalls nicht die Rede. Eine schwache Nachhaltigkeitspolitik, die im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht zur Lösung dieser Probleme, sondern zur Stabilisierung der den Problemen zugrunde liegenden Mindsets beigetraten hat, bleibt in den Narrativen der Afrika-EU-Partnerschaft, den wesentlichen Konzepten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, den Blaupausen der Bundesregierung zur Zukunft der Arbeit und des Wohlstands, in der Berichterstattung der Tagesschau, in der Position von B90/Die Grünen, den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung, dem Entwicklungsbegriff der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Logik des ­EMAS-Zertifikats immer noch hegemonial. Einzig Brot für die Welt stellt das Narrativ nunmehr ernsthaft infrage und wendet sich den Degrowth-Ansätzen einer starken Nachhaltigkeitspolitik zu. Dieses Beispiel zeigt jedoch, dass es politischen Akteuren prinzipiell möglich ist, trotz allem Eingebunden-Sein in das Gesamtsystem, dessen Konsequenzen zu reflektieren und die eigene Position und Praxis in Richtung starker Nachhaltigkeit zu transformieren. Ungeachtet dieser einen Ausnahme lässt sich jedoch die These formulieren, dass die große Zahl der analysierten Akteure und Institutionen sowohl die Dringlichkeit der ökologischen Krise als auch deren Kopplung mit Wirtschaftswachstum in ihren Kommunikationen ausblenden. Die hier versammelten Beiträge gelangen in der Gesamtschau also ebenfalls zur These einer „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2020). Dass sich die mentalen Infrastrukturen des hegemonialen Programms der Nicht-Nachhaltigkeit so lange behaupten und immer wieder reproduzieren können, mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Weltwissenschaft und die von IPCC, IPBES und UNEP vorgelegten Reports (s. o.) zwar den beängstigenden Zustand der Biosphäre ungeschönt beschreiben, sich aber zu sehr dem politischen Oktroi unterwerfen, keine präskriptiven Aussagen zu formulieren und die wirtschaftliche Aktivität der Menschheit als die offensichtliche Ursache der ökologischen Krise zu selten explizit adressieren. ‚Gemeinsames Handeln und Vernetzung als Ermächtigung‘ vs. ‚die Macht des Bestehenden‘ Auch aus dem Vergleich der in Teil III vorgelegten Studien zu transformativen Praktiken lassen sich einige vorläufige Erkenntnisse und Thesen formulieren. Vielleicht in mancherlei Hinsicht den Vorstellungen einer vita activa im Sinne Hannah Arendts (2015) nicht unähnlich, verweisen die Studien allesamt auf die positive Erfahrung und die daraus fließende freiheitstiftende Kraft des gemeinsamen Handelns von Aktivist*innen, die sich einer gemeinsamen Sache verschrieben haben. Gleichgültig, ob diese gemeinsame Sache nun der Widerstand gegen regierungsamtliche Oppression ist, der Versuch, eine sozial-ökologische Transformation wenigstens für kurze Zeit und auf begrenztem Raum im Reallabor zu erproben, oder die Idee, eine soziale Plastik als gemeinsames Kunstwerk inmitten eines ansonsten bedrohlich eisernen Käfigs des

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Gehorsams zu entwerfen, gemeinsam ist die unmittelbare Erfahrung des Möglichen. Gemeint ist damit das Erleben politischer Gestaltbarkeit, einer Plastizität, die durch das gemeinsame Bewegen und Handeln entsteht. Greifbar wird durch die Lektüre der Studien auch das dialektische Moment der Brechung, der Aufhebung der beschriebenen, erfüllenden Momente politischer Freiheit durch das Sich-Einschleichen von Vorstellungen einer kalten Notwendigkeit von Formgebung, die sich unter Verweis auf den sonst eintretenden Zerfall des gemeinsam Erreichten legitimieren. Eine Enttäuschung über jede Form solcher normativen Ordnungsvorstellungen und damit verbundenen Herrschafts- und Kontrollbemühungen wird spürbar, die dem gemeinsamen Raum das Spielerische nehmen und Kunst in Verwaltung transformieren. Eine Erfahrung, die transformative Praxis vielleicht nicht umgehen kann, wenn sie auf Dauer gestellte, neue institutionelle Praktiken anstrebt und auf die sie sich vorbereiten sollte, um hierdurch ihrerseits in Akten selbstreflexiver Kontemplation über den Grad der Verregelung und die Form der An-Ordnung entlang demokratischen Verfahren zu entscheiden. Dies könnte dann auch Teil jener Selbstfürsorge werden, die in den Beiträgen erwähnt wird und die bedeutsam ist, um eine Erschöpfung der transformativen Potentiale zu verhindern. Eine Gefahr, die angesichts der Hartnäckigkeit sozialer Institutionen, zumal jener, von denen besonders selbstbezügliche Strukturen und Subjekte profitieren, von Bedeutung ist. Deutlich bleibt auch der Eindruck zurück, dass Vernetzung, die offene, freiwillige Verbindung zwischen zuvor isolierten Subjekten und der Austausch von Transformationswissen bedeutsam sind, um dem Prinzip des ‚Teile und herrsche!‘, der Zersplitterung moderner Gesellschaften etwas entgegensetzen zu können. Anstelle romantisierender Vergemeinschaftung steht dabei der zielgerichtete Austausch von Machtressourcen im Vordergrund, denn Wissen ist geteilte Macht und mit jeder Erweiterung des Netzwerks wird dies potenziert. Institutionen gemeinsamen Lernens und kollektiver Bildung zu schaffen und diese als Kreativlabore sozialer Imagination einzurichten, zugleich aber auf Dauer zu stellen, um die notwendigen Alternativen des Denkens aus dem Halbdunkel der Intuition in die Öffentlichkeit der Deliberation und die Klarheit des Argumentationsgangs zu überführen, stellt eine weitere Gemeinsamkeit der untersuchten Transformationspraktiken dar. Nicht alles muss dabei ex nihilo geschaffen werden, weil zum Beispiel die Vielfalt der indigenen Philosophien Ideen bereit hält, deren Wiederbelebung unter modernen Bedingungen wohl nicht als Flucht in die Vergangenheit gedacht werden sollte, sondern als Re-Konstruktion nützlichen Baumaterials einer besseren Zukunft. Wie die bei alledem gemachten Erfahrungen gelebter Demokratie und Momente von Autonomie so erweitert werden können, dass sie jenseits einer kleinen Bildungselite auch für die größere Gesellschaft erfahrbar werden, wie also das Skalierungsproblem angesichts der Vehemenz der Macht des Bestehenden gelöst werden kann, bleibt in den Studien schemenhaft und vielleicht dreht sich das Karussell der (Post-)Moderne bereits so schnell und ist die Menschheit dabei derart fest an ihre Sitze gefesselt, dass es bereits jetzt unmöglich ist, einen Weg zu finden, dies qua Deliberation, Muße und geordnet zu erreichen. Es ist ja völlig richtig, dass als der realistischste Ausgang des eingeschlagenen Wegs der hypnotisierten, konsumsüchtigen Menschheit derzeit wohl

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Kollaps und Vergehen gelten müssen. Doch es bleiben zumindest zwei Möglichkeiten: Einerseits kann auf eine Effizienzrevolution (nahezu) vollkommener Produktkreisläufe gehofft werden, die so radikal ist, dass trotz aller Rebound-Effekte der Entropiegrad nicht fortlaufend gesteigert wird, und die sich in den nächsten zehn Jahren realisiert und es der Menschheit so ermöglicht, die hegemoniale GROWTH-Programmierung fortzusetzen. Andererseits kann die Arbeit an der Realisierung ökonomischer, politischer und kultureller Institutionen eines Programms starker Nachhaltigkeit fortgeführt werden, um den von Meadows et al. vor fünfzig Jahren für die kommenden Jahrzehnte vorhergesagten Kollaps zu verhindern, der angesichts des heutigen Stands der Weltwissenschaft für den Fall einer ausbleibenden sozial-ökologischen Transformation menschlicher Gesellschaften bedauerlich wahrscheinlich ist (IPCC 2018; IBPES 2019; UNEP 2019). Wenigstens aber könnte ein Programm starker Nachhaltigkeit die Verlaufskurve und die Radikalität der Krise und der damit einhergehenden – schon heute unvermeidbaren – drastischen Verluste an Artenvielfalt und Ökosystemdienstleistungen mildern und dies mit überzeugenden Vorschlägen zur zukünftigen Bedeutung von Freiheit, Gerechtigkeit, Vielfalt und Demokratie verbinden.

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I Umweltethische Reflexionen

Frugalität und Spiritualität für nachhaltige Lebensweise im 21. Jahrhundert Hannah Witt

Zusammenfassung

Das Wachstums- und Konsumparadigma der Wirtschaft ist ein starker Faktor für Klimawandel und Umweltschäden. Darüber hinaus fördert es jedoch auch ­sozio-psychologische Auswirkungen wie Depressionen, Burnout oder Entfremdung. Es wird argumentiert, dass Entfremdung ihrerseits dazu beiträgt, dass ökologische Konsequenzen leichtfertig ausgeblendet werden und das Individuum entgegen seinen ethischen Werten handelt. In diesem Beitrag werden Frugalität als Tugend der Genügsamkeit im Konsum materieller und immaterieller Güter sowie kosmologische Weltsicht, nach der der Menschen in die Natur anstatt über sie herrschend gedacht wird, als Alternativen zum durch Konsum definierten Leben dargelegt. Durch sie kann eine Weltbeziehung hergestellt werden, die ganzheitlich nachhaltigen Lebensstil ­ermöglicht. Schlüsselwörter

Ko n s u m   ·   Ko n s u m k r i t i k   ·   N a c h h a l t i g ke i t   ·   F r u ga l i t ä t   ·   Ko s m o l o g i s c h e Weltsicht · Taoismus · Kritische Theorie · Entfremdung · Resonanz · Hartmut Rosa

H. Witt (*)  Augsburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_2

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1 Einleitung In The Story of Stuff erklärt Annie Leonard, dass in Nordamerika nur ein Prozent des industriellen Materialdurchflusses in Haushalten lande und sechs Monate nach dem Kauf noch verwendet werde. Der Rest gehe entweder bereits bei der Produktion verloren oder werde innerhalb eines halben Jahres weggeworfen (Hawken 1999; S. 81. Zit. nach: Annie Leonard o. J., S. 9). Trotz der scheinbar geringen Zahl an Gegenständen, die dann noch übrigbleiben, befinden sich laut Mary MacVean durchschnittlich 300 000 Dinge in US-amerikanischen Haushalten (2014). Es steht außer Frage, dass der hohe Material- und Energieumsatz von Industrie und Großtechnologie insbesondere industrialisierter Länder1 die Hauptursache ökologischer Probleme ist (Jäger 2007, S. 25; IPCC 2014, S. 2). Bedingt werden diese vor allem durch (übermäßigen) Konsum, der, wie bereits vielfach belegt (Jäger 2007; IPCC 2014; Meadows et al. 1972, 2005), ökologisch nicht tragbar ist. Das Wirtschaftssystem befindet sich in einem Dilemma – es erfordert Wachstum, das Folgen zeitigt, die es bedrohen. Die Folgen können zwar durch eine nachhaltigere Wirtschaftsweise eingedämmt werden, doch schränkt diese das Wachstum ein, wenn sie konsequent umgesetzt wird. Nachhaltiger Konsum und Technologien sollen die Umweltprobleme beheben, die durch das Wachstum gefördert werden, jedoch ergeben sich dabei Grenzen, da sie ebenfalls Ressourcen benötigen. Neben der Zerstörung der Umwelt verursacht die Konsumkultur der Moderne mit ihrer Beschleunigungsdynamik auch auf gesellschaftlicher Ebene weitreichende Problematiken wie Entfremdung, Abhängigkeiten und Leistungsdruck. Damit Nachhaltigkeit entsteht, muss daher eine Veränderung in vielen Bereichen erfolgen. Im vorliegenden Beitrag wird die These diskutiert, dass es für einen ökologisch verträglichen Lebensstil vor allem eines Wandels in der Einstellung – sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft – zum Konsum und zur Erde bedarf und dass hierbei der Tugend der Frugalität2 oder Genügsamkeit eine wichtige Rolle zukommen könnte. Durch Betrachtungen kosmologischer Weltsicht und tugendethischer Ansätze wird nach Alternativen zu der sich immer weiter ausbreitenden Säkularisierung und Beschleunigung der konsumorientierten Gesellschaft gefragt.

1Als

Industrieländer oder -staaten können die Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betrachtet werden. Begriffe wie westliche Welt oder globaler Norden werden damit synonym verwendet und dienen der Vermeidung von Wiederholungen. Der Autorin ist bewusst, dass dies eine grobe Verallgemeinerung ist und die Klassifizierung u. a. aufgrund von Auslagerungen der Industrie in sogenannte Entwicklungs- und Schwellenländer schwer ist. Mit Entwicklungsländern sind in diesem Beitrag Länder des globalen Südens gemeint. Er soll in keiner Weise ein Entwicklungsparadigma ansetzen oder suggerieren, dass es einen korrekten Weg der Entwicklung gibt, den alle beschreiten sollten. 2Bedeutung: Einfachheit, Bescheidenheit. Vgl. Duden Online: Frugalität.

Frugalität und Spiritualität für …

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Das Ziel ist es, in diesem Beitrag die Grundlagen einer Frugalitätsethik mit spirituellen Aspekten zu entwerfen. Der Fokus der Ethik soll eine nachhaltige Lebensweise sein. Die Leitfrage lautet: Welche Weltbeziehung können kosmologische Weltanschauung und Frugalität dem durch die Moderne angestoßenen Weltkurs3 entgegensetzen? Die Moderne mit Industrialisierung und technologischem Fortschritt hat den Menschen in eine Lage gebracht, in der er Beschränkungen durch die Natur nicht mehr akzeptiert, sondern sich in der Kontrolle über sie wähnt und einen Lebenskreislauf geschaffen hat, der von der Natur entkoppelt wirkt. Dabei hat dieser z. T. externalisierte Nebenwirkungen und Langzeitfolgen, die um der Stabilität des Wirtschaftssystems willen außer Acht gelassen oder relativiert werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Schäden ein Ausmaß angenommen haben, bei dem ökologische Systeme in großer Zahl kollabieren und die Lebensbedingungen für viele Menschen erschwert werden4. Eine veränderte Weltbeziehung erscheint notwendig, damit das eigene Handeln mit dessen (kognitiv) entkoppelten Wirkungen in Verbindung gebracht wird. Der besondere Ansatz dieses Beitrags ist, dass in ihm kritische Theorie mit kosmologischer Weltanschauung durch die Theorie der Resonanz verbunden und ökologische und soziale Probleme zusammengedacht werden. Resonanz wird von Hartmut Rosa als qualitative Weltbeziehung und als Gegenteil von Beschleunigung und Entfremdung definiert. Damit stellt sie eine wichtige zusätzliche Komponente zur kosmologischen Weltsicht dar, die die Frugalitätsethik inspiriert. Es wird postuliert, dass die veränderte Weltbeziehung angesichts Säkularisierungstendenzen der Gesellschaft nicht durch institutionalisierte Religion hervorgerufen werden kann. Der Taoismus, der hier beispielhaft für kosmologische Weltanschauung stehen soll, bietet eine gute Alternative, da er sich an der Schnittstelle zwischen Religion und Philosophie befindet und zudem Wissenschaft integriert, also kein rein metaphysisches Konzept ist. Er stellt eine Möglichkeit dar, den Menschen in die Welt und mehr noch in die Natur zu denken, anstatt ihn als von ihr unabhängig und gewissermaßen über ihr stehend zu betrachten. Dieser Ansatz wird in der Frugalitätsethik aufgenommen, deren Kern die Genügsamkeit im Ressourcenverbrauch ist und die daher hinsichtlich drängender Umweltfragen besonders hohe Relevanz hat. Da ein Großteil der ökologischen und – wie sich zeigen wird – einiger sozialer Herausforderungen mit Konsum zusammenhängen, scheint es eine konsequente Lösung zu sein, diesen auf ein Maß zu reduzieren, das dem Planeten und seinen Organismen

3Mit

Weltkurs ist die Gesamtentwicklung der globalen Gemeinschaft gemeint. diese Forschungsarbeit im Oktober 2017 beendet wurde, haben sich verstärkt Tendenzen in diese Richtung gezeigt, die insbesondere durch Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurden.

4Seitdem

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keinen Schaden zufügt und Ressourcen nicht schneller ausbeutet, als diese regenerieren können. Im ersten Teil des Beitrags wird die Relevanz der Frugalitätsethik hervorgehoben. Dafür werden die Ursprünge des Klimawandels in Zusammenhang mit Konsum erläutert, um die Dringlichkeit nachhaltigen Handelns herauszustellen. Ferner wird aufgezeigt, wie durch die an Wachstum orientierte Wirtschaft für fortwährend steigenden Konsum gesorgt wird und welche Auswirkungen dies auf die Beziehungen des Menschen im sozialen und ökologischen Kontext hat. Das Wachstumsparadigma wird im darauffolgenden Abschnitt auf die Kinetik der Moderne zurückgeführt und deren Fortschritts- und Leistungsideologie werden hinterfragt. Zentral wird hier die durch diese Kinetik entstandene Entfremdung von Mensch und Arbeit sein, wobei postuliert wird, dass die Entkoppelung von Konsumierenden5 und Produktion eine Entkoppelung des Menschen von der Umwelt bedingt. Dieser Umstand wird als eine von mehreren Hürden bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit gesehen. Als Gegenentwurf zur modernen Weltsicht wird Spiritualität bzw. kosmologische Religion dargestellt, durch die ein gänzlich anderes Weltverhältnis angestrebt wird. Dabei bleibt dieses große Themenfeld, um seinen Umfang zu begrenzen, auf den Taoismus beschränkt, in dem sich insbesondere mit dem Prinzip des Wu Wei, des Nichthandelns, einer kontemplativen Lebensführung zugewendet wird. Jenes ist vor allem darauf ausgerichtet, dass sich der Mensch in die Natur einfügt, anstatt sie zu instrumentalisieren. Es gibt darüber hinaus erste Leitgedanken für die Praxis einer Ethik – einem Weniger-ist-Mehr der Handlung. Im Rahmen der hier entworfenen Frugalitätsethik wird behauptet, dass eine Haltung, die auf Genügsamkeit bedacht ist, eine Notwendigkeit darstellt, um zu einem nachhaltige(re)n Lebensstil zu gelangen. Die Relevanz der Frugalitätsethik wird angesichts aktueller ökologischer und sozialer Herausforderungen noch einmal deutlich gemacht. Diese Darstellung wird ergänzt durch die Begründung, weshalb Frugalitätsethik ein Gut ist, d. h., weshalb sie erstrebt werden sollte. Einen mehr normativen Charakter erhält sie durch die Bestimmung, auf welche materiellen sowie immateriellen Güter die Frugalität sich beziehen soll. Auf dieser Basis soll auch der bereits bestehende Minimalismus-Trend erörtert und seine Übereinstimmung mit einer Genügsamkeitsethik sowie mögliche Fehlleitungen seiner Ziele erörtert werden. In der erneuten Thematisierung der zentralen Kritikpunkte des Beitrags werden dann Frugalität und Taoismus inhaltlich zusammengeführt. Es folgt eine Schlussbemerkung, die die Beantwortung der Forschungsfrage beinhaltet.

5In

diesem Beitrag wird neutrales Gendering angestrebt. Wo dies nicht möglich ist, wird ein generisches Femininum verwendet, da die Autorin der Ansicht ist, dass dies für stärkere Irritation sorgt und Denkmuster aufbricht.

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2 Ökologische Folgen des Wachstumsparadigmas Unter Expertinnen weltweit herrscht hohe Übereinstimmung, dass sich das globale Klima derzeit nicht nur in erhöhtem Maße verändert, sondern dass dies weitestgehend durch den Menschen verursacht ist (Cook et al. 2013, S. 2). Die Folgen sind zahlreich und umfassen neben dem Schwinden von Gletschern, das zum Anstieg der Meeresspiegel führt, sowohl Dürren als auch Überflutungen, Artensterben und viele weitere. Ursache des anthropogenen, d. h. menschengemachten Klimawandels ist der Ausstoß von Treibhausgasen. Signifikant ist dabei die Entwicklung des Verhältnisses von Bevölkerungswachstum und dem durch Wirtschaftswachstum verursachten C ­ O2-Ausstoß im Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2010: Während ersteres verglichen mit den vorhergehenden drei Jahrzehnten etwa konstant geblieben ist, stieg letzterer stark an (IPCC 2014, S. 44 ff.). Damit wird deutlich, dass der steigende menschliche Konsum hohen Anteil am Klimawandel hat. Genauer gefasst sind es insbesondere die Produktionsleistungen der Industrie und die Ausmaße der Mobilität, die dafür verantwortlich sind. Jegliche Herstellung von Gütern, jede Dienstleistung und Informationsverbreitung benötigt Energie. Natürlich kann eingewendet werden, dass der Mensch konsumieren muss – touché. Doch in welchem Maß? Die ökologischen Entwicklungen zeigen, dass Nachhaltigkeit geboten ist. Diese ist nach dem sogenannten Brundtland-Bericht (Our Common Future) der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (United Nations Organization, UNO) 1987 definiert als Verbrauch von Ressourcen durch heutige Generationen in einem Maß, in dem sie ihren Bedürfnissen nachkommen, ohne die Möglichkeit zur Befriedigung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen einzuschränken (United Nations 1987, S. 16). In diesem Sinne wird sie hier verwendet; jedoch soll dabei auch berücksichtigt werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nur die aktuellen Ressourcen erhalten werden sollten, sondern, dass es erforderlich ist, dass diese sich vom Raubbau regenerieren. Konsumreduktion widerspricht jedoch der an Wachstum orientierten Wirtschaft und so werden als Abhilfe für die Auswirkungen des Klimawandels zumeist Technologien herangezogen. Doch auch wenn diese auf den ersten Blick nachhaltig oder effizienter erscheinen, führen sie oft zu Schwierigkeiten durch Stoffe, die bei ihrer Herstellung nötig sind (z. B. Lithium für Batterien von Elektrofahrzeugen), durch ihre Entsorgung (z. B. bei Energiesparlampen) oder auch durch externalisierte Umweltschäden (Paech 2012, S. 82 ff.). Es scheint, als wette der Mensch gegen sich selbst, wenn er sich, ohne seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern, auf die Suche nach der rettenden Umwelttechnik macht. Die Hoffnung ist auch insofern gefährlich, als die (Langzeit–)Reaktionen der Natur schwer zu ermessen sind, weil es sich um nie dagewesene Bedingungen handelt, es zu unvorhergesehenen Rückkopplungen kommen kann, Reaktionen möglicherweise verzögert auftreten und unklar ist, wann der Punkt erreicht ist, ab dem es keine Umkehr zurück zu einem stabilen Ökosystem gibt und damit möglicherweise auch der Lebensraum des Menschen zerstört ist (ebda., S. 76 ff.).

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Andererseits ermöglicht Technologie heute eine Lebensweise, die von Komfort und Luxus geprägt ist. Wenn der Konsum jedoch die Ursache von Klimawandel und Umweltzerstörung ist, impliziert das, ihn zu senken. Ist es wirklich notwendig, hier Abstriche zugunsten der Umwelt zu machen?

3 Konsumkritik Die aktuelle Ausformung der Weltwirtschaft geht mit Konsum Hand in Hand. Sie sorgt nicht nur für diesen, sondern heizt ihn an und muss ihn stetig steigern, um sich selbst zu erhalten. Dabei ist das Wirtschaftssystem laut Erich Fromm nicht mehr auf das Wohl des Menschen, sondern nur auf die Entwicklung des Systems ausgerichtet, dessen Wachstum als stets für den Menschen nützlich ausgegeben werde (Erich Fromm 1979, S. 20). Die Kritik an der Wirtschaft, die hier im Rahmen der Konsumkritik geübt wird, gilt vor allem dem Wirtschaftswachstum, das aktuell das primäre Ziel jeder Wirtschaftspolitik ist6. Sie schließt nicht kapitalistische Wirtschaftsformen, die ein Wachstumsparadigma verfolgen, daher nicht aus und gilt umgekehrt nicht für mögliche kapitalistische Wirtschaftsformen, die nicht auf Wachstum beruhen. Der Wohlstand in Industriestaaten ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie in ihrem Wachstumsstreben die Ressourcen der Entwicklungsländer plündern. Hinzukommt die Inwertsetzung von Allgemeingütern7 und Natur, die zur Warenherstellung nötig sind. Nach Altvater werde die Welt so zur Ware (Altvater 2005, S. 71), wobei nur durch das Ausklammern der Natur die reine, ökonomische Rationalität einsetzen könne (ebda., S. 86). Die Natur als Entität darf also keinen Eigenwert haben, wenn sie für die Produktion in Wert gesetzt wird. Sie wird zur reinen Rohstoffquelle, die es gilt, so effizient und günstig wie möglich auszuschöpfen. Doch stellt sich die Frage, wofür das Wachstum immer weiter steigen soll, wenn ein gewisses Wohlstandsniveau einmal erreicht ist. Hierfür wird geläufig die Stabilisierung der Wirtschaft angegeben. Wachstum weist auf florierende Wirtschaft hin und soll durch einen offenen Weltmarkt helfen, langfristig auch in Entwicklungsländern für Wohlstand zu sorgen. In den Teilen der Welt, wo jedoch die Grundbedürfnisse bereits ohne Schwierigkeit befriedigt werden können, wird das Wachstumsparadigma immer mehr zum Konsumparadigma. Es wird nicht mehr aus Notwendigkeit konsumiert. Aber es stellt sich nicht nur die Frage wofür, sondern auch wie das Wachstum immer weiter gesteigert werden kann, wenn die Bedürfnisse eigentlich befriedigt sind. Die Dynamik des endlosen Wachstums wird im Folgenden erläutert. 6In

Deutschland bspw. ist stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum seit 1967 gesetzlich verankert. (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 08. Juni 1967 (BGBl. I S. 582), das zuletzt durch Artikel 267 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist; Böhme 2016, S. 56 ff.). 7Auch Commons genannt; gemeint sind gewöhnlich Wasser, Boden und Luft.

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Am Wirtschaftswachstum bzw. am Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) wird Wohlstand heute primär gemessen. Dabei steht dies bereits seit Jahrzehnten in der Kritik, weil dabei bloß materieller Wohlstand berücksichtigt wird, nicht aber dessen Verteilung, Wertschöpfung durch den informellen Sektor, der Bereich von Pflege und Hausarbeit oder ehrenamtliches Engagement sowie externe (Umwelt-)Faktoren, die sich negativ auf die Wohlfahrt auswirken (Diefenbacher und Zieschank 2009, S. 19 f.). Zudem verschiebe sich das Wachstumsniveau des BIP laut Elmar Altvater seit den Siebzigerjahren beständig nach unten, da es exponentiell steigen müsste, um real zu wachsen (Altvater 2005, S. 118.). Wenn Wohlstand über diesen Parameter gemessen wird, ist also schon deshalb übermäßiges Wirtschaftswachstum gefordert. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen allein reicht jedoch nicht mehr aus, um für solches Wachstum zu sorgen, denn dies ist heute in Industriestaaten (!) ohne Weiteres möglich8 und würde das Wachstum der Wirtschaft bald an ein Ende führen. Um langfristig Wirtschaftswachstum zu erzeugen, sei daher nach Böhme die Veränderung der Bedürfnisstruktur notwendig (Böhme 2016, S. 10 f.). Diese werde durch die gezielte Vermarktung der Produkte erzeugt. Firmen würden die Konsumierenden laut Schmitt zu überzeugen suchen, ihre Waren zu kaufen, indem sie ihnen weismachten, dass diese das Leben verbesserten (Schmitt 2003, S. 100). Die Dynamik der Wirtschaft, die den Konsumbedarf dauerhaft anheizt und theoretisch ins Unendliche treibt, ist das, was Horkheimer und Adorno Mitte des 20. Jahrhunderts als Kulturindustrie bezeichnen und aus der sich, Böhme gefolgt, dann der ästhetische Kapitalismus entwickelte. Der Kern der Kulturindustrie ist die Unterhaltungssparte, von der Deirdre Barrett sagt, dass sie schon immer einen supernormalen Reiz9 für die sozialen Instinkte des Menschen, andere kennenzulernen und aufregende Erlebnisse zu haben, dargestellt hätte. Zum Teil könne der Lern- und Erfahrungswert z. B. von Filmen zwar als nützlicher als der alltägliche Umgang mit anderen Menschen eingestuft werden, doch zumeist erzeuge die mediale Unterhaltung Abhängigkeit (Barrett 2010, S. 138 f.). Diese wiederum impliziert fortlaufenden Konsum. Nach Horkheimer und Adorno entsteht dieser durch einen „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“ (Horkheimer 1987, S. 145). Das Wort Manipulation weist schon auf das hin, was Böhme im Kontext des ästhetischen Kapitalismus als Begehrnisse bezeichnet. Er verwendet den Terminus in Abgrenzung zu Bedürfnissen, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei um Bedürfnisse handelt, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen und von der Industrie geschaffen sind:

8Dass

es möglich ist, heißt jedoch nicht, dass alle Menschen tatsächlich in den Genuss der Bedürfnisbefriedigung kommen. 9Supernormale Reize oder supernormal stimuli würden laut Barrett von künstlichen Objekten ausgehen, die die Sinne mehr ansprächen als die natürlichen Ursachen, auf die der Instinkt evolutionsbiologisch zurückgeht (Barrett 2010, S. 3).

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H. Witt „Es ist also nicht mehr so, dass die Wirtschaft ein Instrument zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse darstellt. Eher verhält es sich umgekehrt: Der Mensch transformiert sein System der Bedürfnisse, um den Anforderungen kapitalistischer Entwicklung, d. h. eines immer weiter fortschreitenden Wachstums zu entsprechen.“ (2016, S. 10 f.).

Wie sehr das Leben vom Konsum durchdrungen ist, zeigt Hartmanns Bemerkung, dass Lebensstilforschung, die zugleich Konsumforschung sei, die Milieuforschung ersetzt habe (2009, S. 52). Deshalb wird auf dem Markt auch für die etwas ansprechendes gefunden, die sich bspw. der Nachhaltigkeit zuwenden: Ihnen werden z. B. faire Bezahlung der Arbeitenden, nachhaltiger Anbau der Rohstoffe oder umweltfreundliche Produktionsweise versprochen. Unter dem Steigerungsparadigma der Wirtschaft sind diese Versprechen jedoch kaum zielführend und verkommen damit zu einer ästhetischen Kategorie, die, so Hartmann, den Konsum mit gutem Gewissen erlaube, wo dies nicht angebracht ist (ebda., S. 19). Ästhetik ist folglich ein wichtiger Faktor, der den Konsumfluss erhält. Warenästhetik schließt Gebrauchs- und Tauschwert laut Böhme zu einem neuen Wertetyp, dem Inszenierungswert, zusammen. Sie hat demnach eine eigene Funktion, die den Gebrauchswert der Inszenierung des Lebens zuordnet (Böhme 2016, S. 99 f.).10 Daraus folgt, was Richard Schmitt die Markt– oder Warengesellschaft (market- or commodity society) nennt, die Probleme durch den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen zu lösen versucht und in der der Druck, zu konsumieren und immer das Neuste zu haben, hoch ist (2003, S. 94). Nach Erich Fromm könnten die modernen Konsumierenden sich mit der Formel identifizieren: „Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere.“ (1979, S. 43) Die Inszenierung endet allerdings nicht bei Äußerlichem. Immer mehr Wert wird auf Kompetenzen und Soft Skills gelegt, die jeweils zertifiziert werden können und damit sowohl als Erwerbsgegenstand wie auch als Konkurrenzmittel ökonomischen Wert haben. Dass durch Konsum Druck entsteht, ist dadurch bedingt, dass dieser sowohl Zeit als auch Geld erfordert. Beide Ressourcen müssen auf Arbeit und Freizeit, deren Struktur immer mehr einem Leistungsprinzip unterliegt, aufgeteilt werden. Durch das Leistungsprinzip ist nicht nur Arbeit nötig, um zu konsumieren, sondern Konsum ist auch nötig, um auf dem neusten Stand zu bleiben. Gerade die Geschwindigkeit des Marktes verstärkt das Leistungsprinzip und heizt den Arbeits-Konsum-Kreislauf immer weiter an (Böhme 2016, S. 72 f.). Die ästhetische Ökonomie erzeuge dabei regelrecht eine „Eskalation des Verbrauchs“ (ebda., S. 74). Das Gefühl von Knappheit und Unzufriedenheit, in dem die

10Paradigmatisch hierfür ist Werbung. Insbesondere neue Arten von Werbung, die über SozialMedia-Plattformen wie Instagram und YouTube Verbreitung gefunden haben, leben davon, dass Individuen das eigene Leben inszenieren, um Follower zu sammeln und Produkte an diese zu vermarkten. Diese sog. Influencer fungieren nicht nur als Werbegesichter einzelner Marken, sie multiplizieren ihren Lebensstil, der von Konsum geprägt ist. Dass ihre Reichweite auch für gute Zwecke verwendet wird und werden kann, sei dahingestellt.

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Verbrauchenden trotz Überfluss durch ständige Neuerungen und Überangebot gehalten werden, habe Auswirkungen auf ihren Berufsehrgeiz und ihr Arbeitsverhalten, indem es sie anstachelte, immer mehr Geld zu verdienen und immer bessere Positionen zu erreichen (ebda., S. 73 ff.). In der Arbeitswelt reichen die Folgen daraus häufig von Konkurrenzkampf zwischen Angestellten, Unsicherheit durch den schnelllebigen Arbeitsmarkt bis hin zu Depressionen und Burnout. Stabilität und Sicherheit widersprächen nach Sennett der Kinetik des Fortschritts (2006, S. 41.). Peter Sloterdijk geht so weit, letztere als Ethik der Moderne zu bezeichnen (1996, S. 33). Überspitzt ausgedrückt, ist dabei jede sich selbst am nächsten und nur auf ihr eigenes Fortkommen bedacht. Das heißt nicht, dass Altruismus und Solidarität in der Gesellschaft gänzlich fehlen würden, doch spiegelt sich darin eine aktuelle Realität wider. Das Wachstumsparadigma legitimiert die Spirale aus Konsum und Arbeit jedoch, denn ohne Wachstum gäbe es weder Konsum noch Arbeit – so seine Logik. Dem ist entgegenzuhalten, dass es Ideen für alternative Wirtschaftsformen wie die Postwachstumsökonomie (Niko Paech) oder die Steady-State-Ökonomie (John Stuart Mill, Herman Daly) gibt, die nicht auf Wachstum beruhen. Doch selbst, wenn es diese nicht gäbe, sollte es angesichts der z. T. fatalen Folgen des Konsums fraglich erscheinen, ob Konsum und materieller Überfluss diesen vorzuziehen sind oder welche Alternativen es geben könnte. Hüther spricht der Effizienz11 von innovativen Technologien die Macht zu, den Konflikt zwischen Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum durch ihre Entkoppelung beizulegen (Hüther 2012). Relative Entkoppelung, d. h. die Senkung des ökologischen Schadens pro Einheit des BIP, die das grüne Wachstum proklamiert, sei zwar möglich, so der Postwachstumsökonom Niko Paech, doch ginge sie mit ReboundEffekten einher, die die Effizienz zunichtemache: Für die Nutzung nachhaltiger Technologien sei nicht nur die Herstellung selbiger notwendig, sondern z. T. ganz neue Infrastrukturen, die mit alten Methoden nicht kompatibel seien und zunächst ein Mehr an Stoffströmen erforderten (Paech 2012, S. 74 ff.). Zudem könne die Ressourceneffizienz, wenn durch sie Kosten gespart würden, dazu führen, dass der Konsum durch erhöhte Liquidität der Konsumierenden steige und dadurch letztendlich wiederum mehr Ressourcen verbraucht würden (ebda., S. 85 ff.). Damit sei nicht infrage gestellt, dass es wichtig ist, die Entwicklung effizienter Technologien fortzuführen, doch muss die Reflexion erfolgen, dass durch diese die Erhöhung der Produktion oder des Konsums nicht unbedingt gemindert wird. Bisher hat diese Politik jedenfalls nicht dazu geführt, die Erhöhung des Rohstoffaufkommens insgesamt zu verhindern.

11Effizienz beschreibt im Rahmen der Nachhaltigkeit Reduktion des Inputs, der aufgewendet werden muss, um ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten (Paech 2012, S. 72 f.).

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Der Dynamik der Moderne liegt das Wachstumsparadigma zugrunde, das damit auch den Ausgangspunkt für die Fortschrittsmentalität der Leistungsgesellschaft bildet. Die Bewegung bzw. das Wachstum fordern nicht nur die Fortsetzung ihrer selbst, sondern im Sinne des Fortschritts eine Steigerung. Das grundlegende Problem ist dabei die „eskalatorische Tendenz“ (Rosa 2016, S. 519), die sich durch die Stabilisierung in der Bewegung ergibt. Die Beschleunigungs- und Steigerungsdynamik stellt im Kontext des Konsums nicht nur wirtschaftlich, sondern auch hinsichtlich Gesellschaft und Umwelt ein Problem dar. Badke und Walker bemerken, dass die Entkoppelung von den Produktionsprozessen ein Hauptproblem des Konsums in der globalisierten Wirtschaft darstellt. „We are disconnected from the resources and natural systems that provide us with the materials we use and dispose of. In other words, we are disconnected from the consequences of the way we live. This disconnection makes the problems in the world simply a set of abstract concepts that are ‚out there‘ and ‚somewhere else‘ – we understand them intellectually not intuitively, factually but not viscerally; and this is why we can so easily set them aside.“ (o. J., S. 7).

Würde die Abstraktion der Produktion wegfallen und wir sähen bei jedem Produkt jeden Schritt der Wertschöpfungskette, was würden wir noch kaufen? Zwangsumsiedlung Indigener, lebensgefährliche Arbeitsverhältnisse, Kinderarbeit, Umweltzerstörung, Tierleid, Plastik im Meer, Brandrodung u. v. m. – das alles sehen die Konsumierenden nicht und wenn sie es sehen, dann meist als wahre Horrorbilder in Videos, die es mittlerweile zur Genüge gibt, nicht beim Kauf. Die räumliche Trennung bedingt die Entfremdung von der (sozialen und ökologischen) Umwelt und hat damit vor allem das ethische Handeln betreffend Bedeutung. Die räumliche Entfernung von Ursache und Auswirkung verstärkt die Leichtigkeit, mit der Risiken abgetan, Verantwortung abgegeben und Handlungen gerechtfertigt werden. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die räumliche Entkoppelung von industrieller Produktion und Konsum den Kreislauf menschlichen Lebens mit der Natur durchbricht und dadurch zur Entfremdung von dieser führt.12 Hartmut Rosa setzt der Entfremdung den Begriff der Resonanz entgegen. Damit ist eine bedeutungsvolle, antwortende Weltbeziehung gemeint, die von intrinsischem Interesse an Menschen, Dingen, Orten und Tätigkeiten geprägt ist (Rosa 2016, S. 24). Sie gibt Feedback, was zu viel oder zu wenig ist, und zeigt damit auch Suchterkrankungen und Depressionen auf, die ein gestörtes Weltverhältnis kennzeichnen (ebda., S. 106). Frugalität und Spiritualität, die im Folgenden erörtert werden, können helfen, Resonanz hervorzubringen.

12Die

hier entfaltete kritische Theorie mag in Teilen zu verallgemeinernd oder pauschal vorgetragen wirken. Doch wie bereits konstatiert, sollen dadurch lediglich Strukturen und Tendenzen dargestellt werden, die zu aktuell brennenden ökologischen und sozialen Problematiken beitragen.

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4 Spiritualität Wie einleitend erwähnt, wird in diesem Artikel beispielhaft für kosmologische Weltanschauungen der Taoismus behandelt. Im Folgenden wird begründet, welchen Wert kosmologische Religion bzw. Spiritualität generell und der Taoismus im Besonderen für nachhaltige Lebensweise haben. Der Mensch brauche nach Erich Fromm ein System der Hingabe und Orientierung, um seine Energien zu lenken (Fromm 1979, S. 169) Auch der Kapitalismus wird immer wieder mit einer (säkularen) Religion verglichen (Altvater 2005, S. 28; Böhme 2016, S. 114). Angesichts mannigfaltiger ökologischer Herausforderungen scheint es jedoch geboten zu sein, die Erde selbst zum Gegenstand spiritueller Praxis zu machen, so wie es in kosmologischen Religionen der Fall ist. Spiritualität als Hinwendung zum Geistigen scheint aufgrund ihrer impliziten Kontemplation des Metaphysischen bei fortgeschrittener Säkularisierung der Welt mit fehlender Resonanz des rein materiellen, austauschbaren Besitzes, hohe Relevanz zu haben. Jaeger stellt angesichts heutiger Herausforderungen eine anfängliche intellektuelle und ethische Überforderung der Menschheit fest, die durch eine Spiritualität ausgeglichen werden könne, die einen „bewussten, ehrlichen und achtsamen Umgang mit unserer Umwelt und uns selbst“ (Jaeger 2017, S. 41) erlaube. Wichtiger als ein institutionalisierter Glaube scheinen für eine nachhaltige Lebensweise ein verändertes Bild des Menschen in der Welt und tief in der Umwelt verwurzelte Werte zu sein. Es ist wünschenswerter, dass eine Veränderung von unten (bottom-up) entsteht, als dass diese von einer Autorität, sei es Religion oder Politik, der Gesellschaft von oben (top-down) oktroyiert wird, da letzteres zur Einschränkung der Freiheit führen kann. Als nicht theistische Religion scheint der Taoismus für eine der Nachhaltigkeit dienlichen Weltanschauung besser geeignet, als ein Glaube, an dessen Glaubwürdigkeit aufgrund seines historischen Ballasts Zweifel gehegt werden könnten. Hinzu kommt, wie Needham aufzeigt, dass im Taoismus – im Gegensatz zum patriarchalisch geprägten Westen und dem eher maskulinen Wissensansatz des Konfuzianismus – spezifisch das weibliche, aufnehmende Element hinsichtlich einer passiven und nachgiebigen Beobachtung der Natur eine wichtige Rolle spielt (1956, S. 33, 57 ff.). Auch gebe es laut Jean C. Cooper im Taoismus keine Lehre von der Sünde, die dagegen im Christentum fundamental ist. Sünde werde im Chinesischen schlicht als Unwissenheit, Dummheit oder Geistesgestörtheit betrachtet, da kein Mensch bei Verstand sich selbst Schaden würde, so wie es die Sündenden tun. Statt aus einem Reue- und Vergeltungsprinzip solle die ethische Praxis aus spirituellen Werten entstehen (Cooper 1993, S. 25). Die moralische Hierarchie entfällt demnach. An Stelle von Horrorszenarien, in die das Individuum durch seine Lebensweise hineingeraten und daher an ihnen mitschuldig ist, gegen die es aber trotzdem machtlos erscheint, tritt aus diesem Blickwinkel die Chance hervor, die das Individuum immer hat, den Schaden,

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den es durch seine Lebensweise mitverursacht hat, durch kluges Handeln wieder zu begrenzen.13 Dieser praktische Ansatz der Spiritualität ist für die vorliegende Ethik essenziell. Diese darf, gerade weil sie einen Kontrapunkt zum mechanistischen Weltbild setzen soll, nicht abgehoben und realitätsfremd sein. Es wird daher Jaeger gefolgt, der einen von Religion und Transzendenz entkoppelten Spiritualitätsbegriff etabliert, der nicht vom Glauben an etwas außerhalb der sinnlich erfahrbaren Realität abhängt, sondern sich durch ein Streben nach Erkenntnisgewinn über das Sein definiert. Es handele sich um eine Lebenseinstellung (bzw. einen Bewusstseinszustand), die das Denken und Handeln beeinflusst (Jaeger 2017, S. 22 ff.). Wie sich dies ausdrücken kann, wird in einer Anekdote deutlich, die der Umweltphilosoph David Abram in seinem Werk Im Bann der sinnlichen Natur erzählt: Abram lebte in Bali und beobachtete, wie seine Wirtin jeden Morgen kleine Reisschälchen vor die Hütten des Anwesens stellte. Als er sie nach dem Zweck fragte, erklärte sie ihm, dass es eine Opfergabe für die Hausgötter sei. Abram beobachtete weiter, dass der Reis nach einiger Zeit tatsächlich verschwunden war. Bei genauerem Hinsehen wurde er gewahr, dass der Reis von Ameisen weggetragen wurde. Zunächst belächelte er die Wirtin, doch dann wurde ihm klar, dass die Ameisen selbst die Hausgeister sein mussten und die Opfergaben einen Schutz vor Ameisen in den Hütten darstellten (Abram 1997, S. 11 ff.). Die Praxis der Balinesin verankert Spiritualität in der Materialität und zeigt damit, dass spirituelle Praxis vor allem eine Sache der Weltsicht und des Bewusstseins sein kann. Mit letzterem ist hier Wissen über die und Achtung vor der umgebenden Welt gemeint. Anstatt Pestizide zu verwenden, die nicht nur die Ameisen vernichten würden, sondern auch eine Gefahr für andere Tiere (Menschen inbegriffen) darstellen, zeigt die Opfergabe Verständnis für die Zusammenhänge der Natur, Respekt vor anderen Lebewesen und Sorge für diese. Anstatt ihre Handlungen jedoch rational zu begründen, erhebt sie diese auf eine spirituelle Ebene, die die inhärente Mystik der Natur ehrt. Bei Referenzen zum Taoismus geht es in diesem Sinne um Werte und (kosmologische) Weltanschauung. Unter dieser ist eine ganzheitliche Perspektive auf die Erde als Organismus zu verstehen, in den der Mensch mit einbezogen ist und in Wechselwirkung zu allem Lebendigen wie Unbelebten steht, anstatt dass er von seiner Umwelt entkoppelt und über sie herrschend betrachtet wird. Anstelle des Taoismus hätte auch eine andere kosmologische Religion (z. B. der Buddhismus oder eine der auf den indischen Veden beruhende Religion) die Grundlage für eine Ethik bilden können. Der Grund für die Spezifizierung ist generell die Eingrenzung an Quellen. Speziell erscheint der Taoismus für den vorliegenden Zweck

13Zu

hoffen ist, dass die Thematisierung von Spiritualität und kosmologischer Weltsicht bei gleichzeitigem Ausklammern institutionalisierter Religion keine Verwirrung stiftet, sondern letzteres gut begründet wurde. Der Beitrag versteht sich nicht als religionswissenschaftlich, da die Autorin keinen solchen Hintergrund hat. Spiritualität dient hier einer veränderten Bezugnahme zur Welt.

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besonders ergiebig für eine Ethik, die Nachhaltigkeit zum Ziel hat, da er den Menschen gleichsam in die Welt stellt und ein friedvolles, non-invasives Verhältnis zu dieser angestrebt. Die Wurzeln des Taoismus liegen nach Joseph Needham in der Zeit der streitenden Reiche (China, 4.-3. Jh. v.u.Z.) (1956, S. 35) und ist primär durch vier Werke konstituiert, von denen das Tao-Tê-King14 von Lao-tse15 und das Dschuang Dsi16 vom gleichnamigen Philosophen die bekanntesten und wichtigsten sind. Im Zentrum der taoistischen Lehre steht das Tao oder Dao, das schlussendlich nicht mit Worten zu beschreiben ist, worin es dem vedantischen Prinzip des Brahmans und dem buddhistischen Nirvana gleicht. Oftmals wird es jedoch als Weg übersetzt, verständlicher ist seine Beschreibung als Ordnung der Natur. Darin deutet sich bereits das Motiv des kosmischen Ausgleichs an, das im Taoismus zentral ist und durch das Prinzip des Yin Yang verkörpert wird. Der Himmel als das Schöpferische ist dabei dem Yang (I Ging 1973, S. 25) zuzuordnen, die Erde als das Empfangende dem Yin (ebda., S. 30). Der Mensch steht als Mittler zwischen ihnen, was bereits die Tragweite seiner Handlungen als für die Umwelt verantwortliches Wesen zeigt (Geldsetzer und Hong 1998, S. 21). Die Yin–Yang–Symbolik durchdringt die Natur oder vielmehr das gesamte Universum mit all seinen Seinsformen vollständig. Sind die Kräfte im Gleichgewicht, so existieren Harmonie und Ordnung (Cooper 1993, S. 35). Diese wird durch das Wu Wei erreicht. Oberflächlich betrachtet wird dessen Übersetzung als Nichthandeln oft als Nichtstun oder Faulheit missverstanden. Eine treffendere Übersetzung des Begriffs ist nach Geldsetzer und Hong „Handeln des Nichts“ (1998, S. 80). Es ist damit gemeint, die Dinge nicht zu erzwingen, sondern das zu nutzen, was vorhanden ist, und sich in die Natur einzufügen (Watts 1976, S. 116). Zentral für die vorliegende Ausführung ist, dass die Fähigkeit der Praxis des Wu Wei bedeutet, die Natur zu beobachten und von ihr zu lernen – nicht auf Grundlage metaphysischer Vorstellungen, sondern durch wissenschaftliche Beobachtungen (Needham 1956, S. 71). Gerade durch die Betonung des bewussten, bedachten und kontemplativen Handelns hat der Taoismus eine Qualität, die in Kontrast zum auf Beschleunigung und Konsum gerichteten Weltkurs der Moderne steht und die er diesem entgegensetzen kann. Der Religionsphilosoph Alan Watts ist darum der Ansicht, dass die sog. westliche Welt den Taoismus nicht nur brauche, sondern dass jene durch diesen auch gewandelt werden könne (1976, S. 12). Er bemerkt zudem, dass die taoistische Literatur einen starken Bezug zu Natur und Elementen habe (ebda., S. 172), weshalb sie geeignet sei, eine Ethik mit starkem Umweltbezug zu inspirieren. Der richtige, d. h. nachhaltige Umgang mit der Natur ist nach dem Taoismus essenziell für das eigene (spirituelle) Leben und Überleben. Der Mensch kann zwar in die Ordnung der Natur eingreifen, aber er ist auch selbst ein Teil von ihr. So heißt es im

14Auch:

Dao De Djing, Daodedjing, Taoteking… Lao Tzu, Laozi… 16Auch: Dschuang Dse, Zhouang Zhou, Zhuangzi, Chuang-tzu… 15Auch:

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Dschuang Dsi, einem der zentralen Werke des Taoismus, dass es leicht sei, die eigenen Spuren zu verwischen, aber schwer, beim Wandeln nicht die Erde zu berühren (1969, IV/1, S. 62). Das Ziel wirklich nachhaltiger Lebensweise kann dem folgend als solches bestimmt werden, die Natur von vornherein zu erhalten, anstatt die Spuren des Raubbaus durch Wiederaufforstung oder Technologien zu verwischen.

5 Frugalität Frugalität kann grundlegend als eine Lebenshaltung verstanden werden, bei der danach gestrebt wird, nur mit dem Nötigsten bzw. mit nach Möglichkeit Wenig auszukommen. Damit stellt sie eine konsequentere Alternative dar als nachhaltiger Konsum, da Konsumverzicht ökologisch nachhaltiger ist als nachhaltiger Konsum. Die Postwachstumsökonomie beschreibt Niko Paech in diesem Sinne als Unterfangen eines „kreativen Unterlassens“ (2012, S. 144) und bemerkt: „Wir sind so fixiert auf Problemlösungen, die darin bestehen, zusätzliche Dinge in die Welt zu bringen, dass wir ein simples Faktum übersehen: Reduktion und selbstbegrenzende Handlungsmuster haben den Charme, weder Kapital noch Neuerfindungen, noch politische Weichenstellungen zu benötigen. […] Pures Weglassen ist überall, unilateral und kurzfristig umsetzbar.“ (2012, S. 145)

In diesem Sinne ist Frugalität in ihrem Kern eine Tugend des rechten Maßes. So heißt es in einem Fremdwörterbuch von 1816: „Bei der Frugalität sorgt man nur für die Genüge und verhütet sowohl Mangel als Ueberfluß.“ (Vollbeding 1816, S. 233). Durch ihre Bedeutungsverwandtschaft mit Sparsamkeit, mit der ein ökonomischer Umgang mit dem bereits Vorhandenen gemeint ist, lässt sich eine enge Beziehung zum Begriff der Nachhaltigkeit feststellen. Dieser Umstand ist der Grund dafür, dass hier anstelle der im Kontext der Nachhaltigkeit etablierten Suffizienz die Frugalität als Grundlage der Ethik gewählt wurde. Beide Begriffe überschneiden sich in großen Teilen, sodass es schwerfällt, klar zwischen ihnen zu differenzieren. Doch Suffizienz gehört neben Effizienz und Konsistenz zur Strategie nachhaltigen Konsums. Sie geht mit Effizienz und Konsistenz einher, wobei letztere zuweilen als wichtiger angesehen werden, während die Notwendigkeit der Suffizienz oftmals infrage gestellt wird. Dies sollte ein Grund sein, den Begriff zu stärken. So steht im Vordergrund die Entscheidung für Frugalität, nicht aber gegen Suffizienz. Frugalität hat einen reicheren historischen, philosophischen und religiös-spirituellen Hintergrund als Suffizienz. Deshalb scheint sie sich zum einen besser in die kosmologische Weltanschauung einzupassen und zum anderen eine bessere Grundlage für eine Ethik zu bieten, die nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt des Konsums behandelt, sondern eine Lebensweise insgesamt anzuleiten zum Ziel hat. Zudem bildet sie dadurch, dass sie eine Tugend ist, einen Gegenpol zu rein rationaler, utilitaristischer Handlungsanweisung.

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Es ist klar, dass verminderter Konsum geringere Produktion erfordert und folglich das Wirtschaftswachstum und damit auch der Ausstoß von CO2 zurückgehen (zumindest aber konstant bleiben) und die Umweltzerstörung abnimmt. Gleichzeitig ist eindeutig, dass weniger Konsum ohne eine Umstrukturierung der Wirtschaft nicht möglich ist, da die aktuelle Form, wie weiter vorne angedeutet, vom Wachstum abhängig ist. Wie eine solche Umstrukturierung aussehen kann, ist nicht Thema dieses Beitrags, wird aber in verschiedenen Theorien wie der Postwachstumsökonomie oder der ­Steady-State-Ökonomie ausformuliert. Diese zeigen, dass die Frugalität bzw. Suffizienz und auch die Subsistenz17 bedeutende Elemente einer veränderten Wirtschaft sind. Die Subsistenz oder Autarkie ist dabei ebenfalls ein Teil der Frugalität, der den Reichtum zwar nicht vergrößert, aber erhält (Westacott 2016, S. 18 ff.). Die wirtschaftliche Sparsamkeit, der Bollnow etwas genuin Menschliches zuspricht, verbleibt in der Frugalität nicht auf der Ebene rein rationaler Kalkulation. Sparsamkeit sei nicht Selbstzweck, sondern stehe im Dienst einer sinnvollen Lebenserfüllung (Bollnow 1958, S. 42 f.). So mag auch Frugalität als Tugend neben den offensichtlichen ökologischen Faktoren wie CO2–Reduktion und Ressourcenerhalt weitere, weniger offenbare Auswirkungen mit sich bringen. Westacott weist darauf hin, dass sie schon immer mit Nähe zur Natur in Verbindung gebracht worden sei (2016, S. 23). Damit ist im Sinne des Taoismus keine sentimentale Bewegung zurück zur Natur gemeint: „Man kann nicht zu dem zurückkehren, was man bereits ist“ (Cooper 1993, S. 85). Es ist keinesfalls erforderlich, dass jede Person ihr eigenes Gemüse auf dem Balkon anbaut oder in ein Häuschen auf dem Land zieht, um die Wertschätzung und Nähe zur Natur herzustellen. Vielmehr geht es darum, die Natur als Resonanzraum wahrzunehmen, als antwortende Entität, die den Menschen beeinflusst und die er beeinflusst. Die frugale Lebensweise kann dabei helfen, eine resonante Weltbeziehung zu fördern, da das Individuum hier dazu angeregt wird, Dinge selbst zu machen, zu reparieren, sich durch die Kraft des eigenen Körpers fortzubewegen etc. Es gibt jedoch durchaus Kehrseiten der Frugalität. So ist beispielsweise der Trend des Minimalismus, der als frugal bezeichnet werden kann, da hier ein Leben frei von unnützen materiellen Dingen angestrebt wird, kritisch zu bewerten, wenn er zu einer reduzierten ästhetischen Kategorie verkommt. Wenn eine solche, entstellte Ästhetik wichtiger ist als die Nachhaltigkeit, kann es zwar sein, dass der Besitz im Moment gering ist, aber trotzdem viel konsumiert wird, indem z. B. immer wieder neue Kleidung gekauft und ‚alte‘ weggeworfen wird. Generell birgt Frugalität ohne Knappheit die Gefahr elitären Selektizismus. Damit ist gemeint, dass nur qualitativ Hochwertiges ausgewählt und alles andere außer Acht gelassen wird. Das wäre sicherlich nachhaltiger als übermäßiger Konsum, aber es würden die ausgeschlossen, die sich weder Hochwertiges leisten können noch in der Position sind, Dinge wegzugeben, weil sie nicht einfach etwas

17Subsistenz kann als Eigenständigkeit oder wirtschaftliche Unabhängigkeit z. B. durch Selbstversorgung (auch regional) verstanden werden.

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neu kaufen können. Aus dem Blickwinkel der Ästhetik scheint Minimalismus vor allem ein elitärer Lebensstil zu sein, der nicht tatsächlich dem Konsum entgegensteht, da er ebenfalls der Inszenierung und Selbstoptimierung frönt, also gerade den Kategorien, denen sich der ästhetische Kapitalismus bedient. Ein Lebensstil, der Nachhaltigkeit implementieren soll, den sich jedoch nur wenige leisten können, ist nicht nachhaltig. Minimalismus muss allerdings weder rein ästhetisch noch entfremdend sein. Er kann schlicht einen Verzicht auf Besitz und Konsum bedeuten, bei dem Nachhaltigkeit und mögliche psychische Vorteile im Zentrum stehen. Die Irrwege aber zeigen, dass Verzicht auf Güter allein für nachhaltigen Lebensstil nicht ausreicht. Da es nicht um Konsum geht, sondern um keinen bzw. weniger Konsum, muss aufgezeigt werden, wie Frugalität die Dynamik des Konsums verändern kann. Dafür sind weitere Formen der Frugalität zu bedenken, die neben der ökologischen besonders gesellschaftliche und politische Relevanz haben. Dazu zählt zum einen die von Hans Jonas genannte Bändigung des „Vollbringungstriebes“18 (1997, S. 177), die entscheidend ist, um der Dynamik der ­Fortschritts- bzw. Leistungsgesellschaft und der damit einhergehenden Geschwindigkeit und Konkurrenz entgegenzutreten. Zum anderen ist der Verzicht auf Macht gemeint (ebda.), d. h. der Abstand davon, die Kontrolle über Lebewesen bzw. die Natur zu vergrößern. Beide können mit der „Heuristik der Furcht“ (ebda., S. 174 f.), der Achtung vor den aufgrund begrenzten Wissens unbekannten Folgen technischer Errungenschaften, begründet werden. Es gibt weitere immaterielle Güter, bei denen für nachhaltigen Lebensstil Frugalität zu üben ist, zu diesen gehören z. B. Ruhm und die zuvor erläuterte Selbstinszenierung. Da hier nicht alle Formen aufgeführt werden können, soll eine Struktur aufgezeigt werden, die sowohl materiellen als auch immateriellen Gütern unterliegt: die Struktur des Habens. Erich Fromm stellt diese in Opposition zum Sein und meint damit zwei verschiedene Arten der Orientierung gegenüber der Welt und dem Selbst: „In der Existenzweise des Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will.“ (Fromm 1979, S. 39 f.).

Der Modus des Habens ist instrumentell. Jedes Ding und jedes Erlebnis dient hier dazu, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Badke und Walker beschreiben, dass selbst die Natur zu einem Objekt werde, das bestimmte, nützliche Dinge biete, wie eine schöne Aussicht oder eine Skipiste (o. J., S. 3). Auch der Inszenierungswert fällt in die Kategorie des Habens, denn er verspricht, dass eine bestimmte Seinsweise gekauft und besessen werden kann. An der ubiquitären Präsenz der Selbstinszenierung zeigt sich, wie tief die Struktur des Habens in der Gesellschaft verankert ist.

18Damit

ist gemeint, Abstand von menschlichen Höchstleistungen zu nehmen.

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Nach Fromms Einschätzung befände sich jedoch eine Zahl von Menschen auf dem Kurs vom Haben zum Sein, die so groß sei, dass sie die Habenorientierung die Mehrheit transzendieren könne (1979, S. 97)19. Die Existenzweise des Seins beschreibt er als zwei Dimensionen umschließend: Zum einen sei sie Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt (also resonant), zum anderen die wahre Natur und Wirklichkeit einer Person (also authentisch) (ebda., S. 40). Nach Badke und Walker stehe der Modus des Seins mit einem bedeutsamen, zufriedenen Leben in größerer Übereinstimmung und damit gerade der Unzufriedenheit entgegen, die das Konsumparadigma schüre (o. J., S. 3). Als Beispiel für Seinsbeziehungen geben die Autoren indigene Völker an, die tief mit ihrer Umwelt verbunden seien und in deren Weltsicht alle Dinge intrinsische Bedeutung hätten. Den Taoismus zählen sie zu einer Lehre, nach der der Begriff des Seins impliziere, dass der Mensch Teil eines größeren Ganzen sei (ebda., S. 6 f.). Der Blick geht weg vom Selbst, das haben muss, um zu sein, hin zum Sein um es herum, das es neben und mit ihm sein lässt. Insofern bildet kosmologische Weltsicht eine Grundlage für frugale Lebensweise.

6 Frugalitätsethik und Spiritualität für nachhaltige Lebensweise Das Ziel der folgenden Darstellung ist es, zu zeigen, wie die aufgezeigten Problematiken, die durch das Wachstumsparadigma der Wirtschaft auf ökologischer und sozialer Ebene entstehen, durch Frugalität behoben oder zumindest gelindert werden können. Zunächst mag es ein wenig ungemütlich sein, frugal zu leben, doch wäre es weitaus ungemütlicher, die Folgen eines weitreichenden Klimawandels zu durchleben. Zudem kann die Frugalität einige Negativa wie Überforderung (z. B. durch Reizüberflutung oder kinetischen Stress), Ablenkung (z. B. durch Medien) und Resonanzarmut (durch Hervortreten subtiler Empfindungen) nehmen. Der intentionale Verzicht auf eine mehr oder minder große Quantität von Materiellem kann dieses transzendieren, indem er das Verhältnis zum eigenen Besitz und zur Welt im Großen in Frage stellt. Es liegt nahe, dass die Beschränkung auf Weniges die Wertschätzung desselben steigert. Auch wird Überforderung durch eine Flut an Dingen vermieden und anstelle des Besitzes und seiner Anhäufung können Lebensqualitäten treten, die abseits der rein säkularen Welt

19Zwar

handelt es sich dabei um eine subjektive Beobachtung Fromms, doch gründet er diese auf bereits reale Entwicklungen gesellschaftlicher Veränderung. Als wichtigen Faktor gibt er beispielsweise den langsamen Zusammenbruch des Patriarchats an.

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liegen, die das Sein in immer größerem Maße zu bestimmen scheint. Zentral ist hier der von Hartmut Rosa formulierte Unterschied zwischen der „Fülle aus Leere“, die in östlichen Religionen prominent ist, und der häufig durch Depression empfundenen „Leere inmitten der Fülle“ (Rosa 2016, S. 203). Das gilt nicht nur für materielle, sondern auch immaterielle Güter. So kann Frugalität mehr Zufriedenheit herstellen, da sie Verlässlichkeit auf Dinge und soziale Beziehungen begünstigt. Die Wegwerfkultur weicht langlebigen Produkten. Die Entwurzelung durch globale Mobilität wird ersetzt durch Vertrautheit und Beständigkeit von Orten und Menschen. An die Stelle von Gütern, Dienstleistungen und ständiger Geschäftigkeit tritt Zeit, die für gegenseitige Hilfe oder einfaches Zusammensein zur Verfügung steht. Wenn die Jagd nach den Dingen und der Drang nach ökonomischem Wachstum aufhören, entsteht auch Entschleunigung ganz von allein. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine Bewegung herrscht. Im Gegenteil: Die expansive Bewegung der Moderne kann geradezu als starr bezeichnet werden. Anstelle eines fließenden, durch Wu Wei gekennzeichneten Handelns befindet sich die Bewegung in einer streng mechanischen, linearen Form. Ihr Schicksal ähnelt jenem eines gejagten Hasen, der keine Haken schlagen kann: aussichtslos (Cooper 1993, S. 81 f.). Frugalitätsethik ermöglicht durch ihren entschleunigenden, Resonanz begünstigenden Charakter nicht bloß, die Richtung zu wechseln, sondern auch, Ruhepausen einzulegen. Dschuang Dsi konstatiert, dass er das Nichthandeln, das aller Welt missfalle, für wahres Glück halte (Dschuang Dsi 1969, XVIII, 2/ S. 195). Henry David Thoreau hätte dem sicherlich zugestimmt. Kritik an der Gesellschaft und ihrem Wettlauf um ein Einkommen, das viel einfacher gewonnen werden könnte, sind seine leitenden Motive, ein Leben in Einsamkeit, vor allem aber rein durch seiner Hände Arbeit zu bestreiten (Thoreau 1960, S. 7 ff.). Obwohl Thoreau offenbar nicht mit der Lehre des Taoismus vertraut war (wohl aber mit dem Konfuzianismus und indischen Lehren) (Ch’en 1972), stehen sein Leben und seine Einstellung, wie er sie in Walden beschreibt, mit dieser in großer Kongruenz. „Cultivate poverty like a garden herb, like sage. Do not trouble yourself much to get new things, whether clothes or friends. Turn the old; return to them. Things do not change; we change. Sell your clothes and keep your thoughts. […] Do not seek so anxiously to be developed, to subject yourself to many influences to be played on; it is all dissipation. Humility like darkness reveals the heavenly lights. […] We are often reminded that if there were bestowed on us the wealth of Crœsus, our aims must still be the same, and our means essentially the same.“ (Thoreau 1960, S. 218).

Darin schwingt ein Sinn für die ewige und zugleich sich stets im Wandel befindliche Natur der Dinge mit und das Bewusstsein, dass Reichtum ein oberflächliches Gut ist, dem es nicht lohnt, nachzujagen. Zudem zeigt Dschuang Dsi die Relativität des Wertes: Je nachdem, welcher Maßstab angesetzt werde, erscheinen Dinge wertvoll oder wertlos (Dschuang Dsi 1969, XVII, 4., S. 183). Thoreau zeigt, dass das, was wirklich zählt, verfügbar ist, ob jemand in einem Palast oder in einer Hütte lebt. Ein ruhiger Geist wäre hier wie dort zufrieden und könne fröhliche Gedanken haben, wo immer er

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sei20 (Thoreau 1960, S. 218). Sowohl Frugalität als auch Spiritualität können aber der Kultivierung eines solch ruhigen Geistes dienen. Dieser ist gleichermaßen ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Frugalität und Spiritualität zu implementieren. Nach Fromm müsse veränderter Konsum dadurch entstehen, dass die Menschen anders handeln wollten und das sei nur durch einen langen Erziehungsprozess zu erreichen, bei dem die Politik eine zentrale Rolle zu spielen hätte (Fromm 1979, S. 215). Gefordert ist demnach zunächst Bildungspolitik, durch die Wissen um ökologische Zusammenhänge, die Auswirkungen menschlichen Handelns und nachhaltige Lebensweise vermittelt werden. Jedoch darf diese nicht rein theoretisch bleiben, denn Tugend bildet sich durch Handlung (Bollnow 1958, S. 23 f.). So braucht es die Möglichkeit, die Werte zu leben und Vorbilder zur Orientierung. Erziehung hat hier also erheblichen Einfluss und spirituelle Ansätze können sie unterstützen. Ethisches Handeln sei beispielsweise im Taoismus laut Cooper die Bedingung für ein gutes Leben, denn Missachtung dessen würde zur Störung des eigenen Charakters und der Mitwelt führen (Cooper 1993, S. 26 f.). Die Frage ist, ob der Mensch die Furcht vor der außergewöhnlichen (Umwelt-)Gefahr benötigt, um gegen seinen Instinkt, Güter zu akkumulieren, zu handeln; oder ob er den Impuls auch durch Vernunft umgehen kann. Deirdre Barretts Konklusion ist, dass der Mensch die supernormalen Reize in seiner Umwelt eliminieren und ein Bewusstsein für die bekommen müsse, die er nicht entfernen könne, um ihnen zu widerstehen. Der Mensch sei in der Lage, reflexartige Instinkte auszuschalten und diese Fähigkeit solle er nutzen. (Barrett 2010, S. 176 f.) Hilfreich sei es, Gewohnheiten zu ändern. Während bekannte Handlungen durch die besonders stabilen Stammganglien automatisch abliefen, werde bei unbekannten Handlungen der präfrontale Kortex aktiv, durch den bewusste Entscheidungen getroffen werden könnten (ebda., S. 92 f.), Dabei könnte ein erster Schritt beispielsweise sein, die Mechanismen des Marktes zu durchschauen und anhand dessen Kaufentscheidungen zu treffen. Als Schlüssel für die meisten modernen Krisen rät Barrett jedoch, zu hinterfragen, was wir als gegeben nehmen bzw. das Gewöhnliche fremd erscheinen zu lassen („making the ordinary seem strange“ (ebda., S. 177)). In Industriestaaten leben die meisten Menschen beispielsweise mit einem Schrank, in dem

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ist einerseits auf (übermäßigen) Konsum und andererseits Zeiten des Friedens bezogen. Traumatische Ereignisse, psychische oder physische Einschränkungen sowie prekäre Verhältnisse, unter denen kaum ein Existenzminimum gewährleistet ist, sind nicht gemeint. Damit sei auch darauf hingewiesen, dass der Taoismus, zumal seine Schriften ursprünglich der Beratung bzw. Anleitung der herrschenden Elite dienten, durchaus Züge enthält, die zur Unterdrückung und Ausbeutung missbraucht werden können. Bei der Frage nach Einheit und Harmonie der Lehre ist nicht zu vergessen, dass die Einheit stets die Zweiheit einschließt, dass die Kehrseite des Friedens Zwietracht und Gewalt sind. Um letztere zu umgehen, werden Herrschenden durch das Tao-Tê-King kluge Mittel an die Hand gegeben, doch damit diese zum Einsatz gelangen, müssen Tugend und Bescheidenheit bereits im Menschen angelegt sein. Nur so ist die richtige Intention der Herrschaft gesichert.

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permanent 5 bis 8 °C herrschen und einem Gerät, das sie innerhalb kürzester Zeit über eine Distanz von mehreren Kilometern transportiert– sofern nicht gerade alle anderen Menschen mit ähnlichen Geräten ein geographisch ähnlich gelegenes Ziel haben. Einst war es nicht nur selbstverständlich, sondern vielerorts die einzige Möglichkeit, aus einem Fluss zu trinken. Heute ist es mancherorts nicht einmal mehr selbstverständlich, darin schwimmen zu können. „Man has invented, not only houses, but clothes and cooked food; and possibly from the accidental discovery of the warmth of fire, and the consequent use of it, at first a luxury, arose the present necessity to sit by it.“ (Thoreau 1960, S. 13).

Einerseits sind Zentralheizung und Klimaanlage bequeme, angenehme Geräte, andererseits bringen sie den Menschen seiner Umgebung, dem Lauf der Jahreszeiten und dem Wetter nicht näher, sondern lassen ihn im extremsten Fall fast in einer Parallelwelt leben, einem künstlich geschaffenen Klima. Überlegungen dieser Art sollen nicht bedeuten, dass eine romantisierte Rückwendung zur guten alten Zeit oder der Versuch, so natürlich (was immer das heißen mag) wie möglich zu leben, angebracht wären. Sie sollen vor allem den Luxus-Lebensstil von Industriestaaten hinterfragen. Ebenso wie der Mensch sich an Überfluss gewöhnt hat, kann er sich auch an frugalere Lebensweise gewöhnen, ohne sich eingeschränkt zu fühlen oder Mangel zu leiden.

7 Schlussbemerkung Der Beitrag zeigt, dass eine hohe Relevanz und Notwendigkeit der Veränderung ökonomischen Handelns sowohl aus ökologischen wie auch sozialen Gründen bestehen. Diese speisen sich aus komplexen und mannigfaltigen Herausforderungen, die es so nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab: 1. Dem Klimawandel, der zu einem großen Teil durch die Verbrennung fossiler Energieträger beschleunigt und verstärkt wird und das geologische Zeitalter des Anthropozän mitkonstituiert. 2. Dem innerwirtschaftlichen Konflikt, gleichzeitig Wachstum hervorzubringen und nachhaltig zu agieren, bei dem (erzeugte) Bedürfnisse nach Komfort, Sicherheit und Selbstdarstellung mit Rebound-Effekten und anderen unvorhersehbaren Auswirkungen zusammenprallen. 3. Der von Fortschrittsdenken bestimmten Dynamik der Moderne, aus der eine immer schneller werdende Lebensweise resultiert, die von Konkurrenzdenken, Egoismus und Entfremdung geprägt ist und die mit großer Wahrscheinlichkeit die zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen mitverursacht. Das Bild, das in diesem Beitrag vom Menschen gezeichnet wird, stellt diesen geradezu als Invasor und Übeltäter dar, der dabei ist, die Welt zu zerstören. Die Sachlage ist

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nicht ganz so einfach, denn schließlich haben eben die Dinge, die die Zerstörung der Umwelt verursachen, insbesondere Konsum und Technik, in Industriestaaten auch zu einem Wohlstandsniveau geführt, das nicht nur von unglaublichem materiellen Überfluss geprägt ist, sondern auch von umfassender medizinischer Versorgung, globaler Vernetzung u. a. m. Nicht zuletzt wird die Technik auch mit der Hoffnung aufgeladen, den Schaden wieder zu reparieren, den sie verursacht hat. Der Mensch hat insofern bisher gut für das Überleben seiner Art gesorgt. Konsumunterlassung erscheint angesichts dessen wie ein Rückschritt, der die eigene Spezies in Gefahr bringen könnte. Um sein Überleben hat der Mensch lange genug gekämpft – warum sollte er also zu diesem Kampf zurückkehren? Es wurde argumentiert, dass der exzessive Konsum, der insbesondere in Industriestaaten herrscht, für die Erde bereits heute nicht tragbar ist und, vor allem global ausgeweitet langfristig nicht umsetzbar wäre. Frugalität dagegen wäre auch für Entwicklungsländer möglich, und eine genügsame Lebensweise, durch die die Grundbedürfnisse gedeckt und Nachhaltigkeit fördernde Werte implementiert werden, eher erstrebenswert, als im Hamsterrad des Konsums mitzulaufen und die Umweltzerstörung voranzutreiben.21 Die Beschleunigung, unter die die Erde durch das Wachstumsparadigma der Wirtschaft gezwängt wird, widerspricht der Nachhaltigkeit, weil unter ihr die natürlichen Rhythmen der Natur ignoriert werden. Abgesehen von den ökologischen Katastrophen, die dabei entstehen, führt sie auch zu gesellschaftlichen Problematiken, die die Menschlichkeit durch ihren bürokratisch rationalen Charakter in Gefahr bringen und zur Intensivierung der ökologischen Katastrophen beitragen. Das Konsumparadigma induziert eine Leistungs- und Konkurrenzstruktur, die sich auf fast alle Lebensbereiche auswirkt, birgt die Gefahr verminderter Resonanz und führt damit häufig zu Entfremdung, Depressionen oder Burnout. Erscheint die Welt tot und nicht responsiv, impliziert das, dass sie keine eigene Stimme hat. Die Notwendigkeit, sich um sie zu sorgen, entschwindet dann. Damit umfassende Nachhaltigkeit entsteht, sind eine veränderte Beziehung zum Konsum und zur Erde sowie eine Wertebildung erforderlich, die diese Beziehung widerspiegeln. Die Frugalität stellt eine Möglichkeit dar, den Kreislauf aus Konsum und Arbeit zu durchbrechen und den Fokus vom Haben zum Sein zu lenken. Anstelle der Selbstdefinition über äußere Errungenschaften können dann Verbindungen zur Umwelt, d. h. Menschen wie Natur, die tugendethische und spirituelle Praxis sowie eigene Fähigkeiten konstituierend werden. Im Gegensatz zu nachhaltigem Konsum ist Tugend, in diesem Fall Frugalität, ein Teil des menschlichen Charakters, nicht nur ein Teil seines Handlungsspektrums, das nach Belieben beachtet oder unbeachtet bleiben kann.

21Es

versteht sich von selbst, dass damit nicht impliziert wird, dass Entwicklungsländern empfohlen werden sollte, frugal zu leben, damit die Industrienationen ihren Konsumstandard erhalten können.

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Die Relevanz des Beitrags zeigt sich darin, dass ökologische Problematiken darin nicht isoliert betrachtet, sondern zusammen mit gesellschaftlichen Problematiken gedacht und über die Theorie der Resonanz ein gemeinsames Moment erkannt wird, das eine Lösung für beide Herausforderungen bietet. Die Konzeption der Resonanz als das Gegenteil von Entfremdung stellt also ein Schlüsselmoment des Beitrags dar, das die kritische Theorie mit kosmologischer Weltsicht und Frugalität verbindet und so durch veränderte Weltbeziehung zu nachhaltiger Lebensweise führen will. Zunächst wurde dafür die kosmologische Weltsicht am Beispiel des chinesischen Taoismus dargestellt. Es wird vorgeschlagen, dass eine nicht institutionalisierte Form der Spiritualität gerade bei der Wertebildung und Beziehungsbildung zur Natur dienlich sein kann. Unter rein rationalen Gesichtspunkten ist Spiritualität für ein verändertes Bild des Menschen in der Welt bzw. eine veränderte Beziehung zur Natur nicht notwendig. Doch es scheint, als bestünde bei einem rationalen, säkularen Weltbild eher die Gefahr, dass dieses instrumentell bleibt. Die Spiritualität hingegen offeriert eine Möglichkeit, die inhärente Mystik der Natur anzuerkennen und mit Ethik zu verbinden. In einer möglicherweise niemals gänzlich erklärbaren und daher immer mystisch bleibenden Umwelt mag absolute Säkularisierung dieser nicht nur unmöglich, sondern geradezu hinderlich für das Leben darin sein, weil dadurch ein wichtiger Aspekt missachtet wird, der zur Bewunderung und Wertschätzung der Natur – oder mit Albert Schweitzer: zur Ehrfurcht vor dem Leben – beitragen kann (o. J., S. 377). Anstatt die Wirtschaft als säkulare Religion zu verehren, mag es daher geboten sein, neue spirituelle Wege zu gehen. Hierfür wurden zentrale Prinzipien des Taoismus hervorgehoben, die besonders dienlich erscheinen, einen Bezug zur Erde herzustellen, der nachhaltiges Leben fördert. Dazu gehören das Tao, der unnennbare Ursprung allen Daseins; das Yin Yang, das die Einheit des Tao in schöpferische und aufnehmende Qualität teilt, die fortan zum Ausgleich gebracht werden muss; und das Wu Wei, das als Praxis des Nichthandelns neben dem Tao selbst das zentrale Paradoxon des Taoismus darstellt. Das Wu Wei wurde als besonders hilfreich für Nachhaltigkeit befunden, da es darauf ausgerichtet ist, dass der Mensch sich in die Natur einfügt und an ihre Rhythmen anpasst. Das Yin Yang wurde zusätzlich als Anhalt bei der Herstellung eines Ausgleichs zwischen Mensch und Natur bestimmt. Die Frugalitätsethik steht mit diesem Streben in Einklang. Durch ihre Grundstruktur der Genügsamkeit hat sie die Konsumkritik als Ausgangspunkt und es wurde festgestellt, dass sie dem Prinzip der Nachhaltigkeit bereits vom Begriff her nahe ist. Ihr Bezugsrahmen wurde dabei nicht nur auf materielle, sondern auch immaterielle Güter wie Ruhm, Macht und Leistung festgelegt. Da jedoch argumentiert wurde, dass Verzicht auf Güter allein nicht für nachhaltigen Lebensstil ausreiche, wurde ihr die kosmologische Weltsicht an die Seite gestellt, die ethisches Handeln für ein gutes Leben voraussetzt und den Menschen als Teil der natürlichen Ordnung sieht, der ihr Gleichgewicht aufrechterhalten soll. Neben der veränderten Sicht auf den Menschen in der Welt wurde Wert auf die Weltbeziehung gelegt, der – zum einen durch die spirituelle Praxis und zum anderen durch

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weniger materiellen Besitz – das Potential zugeschrieben wurde, erhöhte Resonanz zu erzeugen. Zu guter Letzt wurde die Bedeutung von Frugalität und kosmologischer Weltsicht aus den vorangegangenen Ergebnissen synthetisiert und erörtert, wie es zur Umsetzung dieser kommen könnte. Hierfür wurden sowohl Wertebildung und Tugendpraxis als auch das Durchschauen evolutionsbiologischer Mechanismen für wichtig erachtet. Die dargestellte Frugalitätsethik zeichnet aus, dass sie eine zu kultivierende Charaktereigenschaft ist, die folglich in Freiheit zu ergreifen ist und das gesamte Leben des Menschen umfasst. Die Weltbeziehung, die Frugalität und kosmologische Weltsicht dem durch die Moderne angestoßenen Weltkurs entgegensetzen können, ist geprägt von Resonanz. Sie fordert Entschleunigung und erleichtert nachhaltige Handlungsweise. Damit ist Frugalitätsethik, anders als der individualistische, egoistische Ansatz des strategischen Konsums, auf das Wohl der globalen Gemeinschaft ausgerichtet.

7.1 Kritische Betrachtung und Einordnung in den Forschungskontext Der Beitrag umfasst ein breites Spektrum an Themen, was dazu geführt hat, dass viele vergleichsweise kursorisch betrachtet werden konnten und wichtige Punkte unbeachtet bleiben mussten. Vor allem dort, wo die Themen eine lange historische Relevanz haben, wie etwa der Taoismus, die an Wachstum orientierte Wirtschaft und die Frugalität, war es nicht möglich, alle Aspekte abzudecken. Kaum Erwähnung fanden bereits bestehende Bewegungen hin zu einer alternativen Wirtschaftsweise. Es erscheint plausibel, dass diese mit Frugalitätsethik bzw. veränderter Einstellung zum Konsum einhergehen, wie es z. B. durch die Suffizienz in der Postwachstumsökonomie angestrebt wird. Es könnte angemerkt werden, dass die Frugalitätsethik, wie der strategische Konsum, zu individualistisch sei und beispielsweise das Hinterfragen der Produktherkunft ebenfalls verkürzte Kapitalismuskritik sei. Werte und Genügsamkeit scheinen jedoch bessere Multiplikatoren und Grundlagen zu sein als Handlungsanweisungen, die sich im nächsten Moment als nicht nachhaltig herausstellen, zu Rebound-Effekten führen und nach Belieben angewandt werden. Dabei wäre es nicht ausgeschlossen, dass Genügsamkeit und strategischer Konsum Hand in Hand gehen könnten. Ihre Grundlagen scheinen jedoch unterschiedliche zu sein. Das Hinterfragen kann beispielsweise zu verändertem Kaufverhalten aber auch zu politischem Aktivismus führen und die Frugalitätsethik ist zudem gerade nicht egoistisch wie der an Genuss orientierte Konsum. Es mag trotz allem sein, dass eine Frugalitätsethik in der verkürzten Kapitalismuskritik verhaftet bleiben muss, solange die Wirtschaft das Wachstumsparadigma nicht aufgibt. Sie ist dem nachhaltigen Konsum dann insofern vorzuziehen, als sie das Wachstumsparadigma nicht unterstützt. Bleibt es jedoch bei wenigen Individuen, die ihre Werte vertreten, so kann sie die Wirtschaft ebenso wenig wie der nachhaltige Konsum verändern.

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7.2 Ausblick In weiterführender Forschung könnten bereits bestehende oder in der Theorie befindliche Modelle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft analysiert werden, um ihre Affinität zu den hier formulierten Ideen festzustellen und Wege bzw. Vorbilder ihrer Umsetzung zu finden. Besonders reichhaltig dürften hier Gesellschafts- und Kulturformen indigener Völker sein, die bereits mit einem kosmologischen Weltbild vertraut sind, z. T. eine andere Vorstellung von Zeit haben als sie im abendländischen Kontext gelehrt wird und dadurch dem Konzept der linearen Steigerung von Zeit und Wachstum entgehen. Zu denken ist hier z. B. an die nordamerikanischen Hopi oder die australischen Aborigines sowie das südamerikanische Buen Vivir. Da der Begriff der Nachhaltigkeit in den letzten Jahrzehnten beinahe inflationär verwendet wurde und dadurch an Bedeutung verloren hat bzw. z. T. mit negativen Konnotationen behaftet ist, ist es eine Überlegung, einen alternativen oder ergänzenden Begriff einzuführen. Homöostase als ein Zustand des stabilen Gleichgewichts bietet sich hierfür an. Im nachhaltigen Handeln tritt der Mensch stets von außen an die Handlungsräume heran, in denen dieses geboten ist. Durch den Begriff der Homöostase wird er dagegen direkt in das System eingebunden, dessen Gleichgewicht erstrebt wird. Zugleich wird damit darauf hingewiesen, dass Geben ebenso notwendig ist wie Nehmen, um dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, während der Fokus in der Nachhaltigkeit vor allem auf der Frage liegt, wie viel genommen werden darf. Es scheint, dass dieser Begriff auch mit einer kosmologischen Weltanschauung und der Gaia–Theorie in Übereinstimmung zu bringen wäre. In weiterführenden Überlegungen müsste der Frage nach dem Rechtfertigungszwang menschlicher Handlungen nachgegangen bzw. die Entlastung des Individuums eruiert werden und es wäre zu betrachten, wie der Zustand des stabilen Gleichgewichts aussieht bzw. wie er gemessen wird und ob es ihn tatsächlich gibt oder ob er ein Ideal ist, an das sich nur angenähert werden kann.

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Degrowth und der (Eigen-)Wert der Natur Eine kritische Reflexion umweltethischer Positionen in der Degrowth-Bewegung und der Versuch eines Plädoyers für eine holistische Umweltethik Marius Thomay

Zusammenfassung

Degrowth fordert eine sozial-ökologische Transformation hin zum guten Leben für Alle. Während sich die Bewegung mit einem intra- und intergenerationellen Gerechtigkeitsanspruch bei der sozialen Frage klar positioniert, werden die normativen Grundlagen der ökologischen Dimension seltener thematisiert. Möchte Degrowth auch die ökologische Frage ernst nehmen und dem Prinzip der starken Nachhaltigkeit gerecht werden, müssen zugehörige umweltethische Argumente und Konzepte intensiver berücksichtigt, diskutiert und offengelegt werden. Dieser Aufsatz betrachtet Beiträge, die sich konkreter mit möglichen Positionen, Konzeptionen und Narrativen einer Degrowth-Umweltethik befassten. Aufbauend auf einer kritischen Reflexion jener Beiträge und ihrem Potential für einen Wandel unserer mentalen Infrastrukturen, wird die Position einer holistischen Degrowth-Umweltethik vorgeschlagen und beleuchtet. Schlüsselwörter

Degrowth · Postwachstum · Gutes Leben · Sozial-ökologische Transformation ·  Umweltethik · Ethik · Starke Nachhaltigkeit · Eigenwert der Natur

M. Thomay (*)  Augsburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_3

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Danksagung Ganz besonderer Dank gilt Christina Pauls, Julia Roth, Felix Burzler, Ulrich Roos und Christoph Weller für konstruktive sowie wertvolle Impulse, Anmerkungen und Diskussionen.

1 Einleitung Seit nun knapp einem halben Jahrhundert warnen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus aller Welt unermüdlich vor den desaströsen Folgen unserer imperialen Lebensweise (Brand und Wissen 2017) und fordern immer eindringlicher, diese von Grund auf zu überdenken (Meadows et al. 1972; Weizsäcker und Wijkman 2017). Dennoch stellen unzählige humanitäre Missstände, das Artensterben und nicht zuletzt der sich immer drastischer abzeichnende Klimawandel in all seinen Facetten weiterhin vollkommen ‚ungelöste‘ Herausforderungen dar (IPBES 2019; IPCC 2019a, b; UNEP 2019; UNHCR 2018; Vereinte Nationen 2015). Es scheint eindeutig: die gesamte Ökosphäre befindet sich bereits in einer überkomplexen Transformation, für die die Menschen und ganz besonders wir – die Gesellschaften des globalen Nordens – maßgeblich verantwortlich sind. In nur dreihundert Jahren beeinflusste der Mensch durch seine auf Fortschritt und ökonomisches Wachstum getrimmte Produktions- und Lebensweise die kritische Zone (Latour 2018; LIAG 2019) des Planeten derart massiv, dass nicht nur unzählige Ökosysteme und Millionen von Arten, sondern auch seine eigene Spezies zusehends bedroht ist. Der Mensch läutete das geochronologische Erdzeitalter des Anthropozäns (Crutzen 2011) ein, ohne sich dessen Folgen bewusst zu sein. Und während die globalen Machtzentren mit Nachhaltigkeitsstrategien wie der Agenda 2030 (Vereinte Nationen 2015) unbeirrt an der nahezu immergleichen Entwicklungs- und Wachstumsideologie festhalten und auf das nächste Panazee der Wissenschaft und Technik hoffen, führen Rebound-Effekte sowie eine unzureichende Betrachtung der Interdependenzen in ihrer Gesamtheit zu einer Relativierung positiver Tendenzen oder verschärfen aktuelle Problemlagen sogar (Santarius 2012). Der modus operandi – das Streben nach (ökonomischem) Wachstum und Fortschritt – als Garant eines erfüllten und guten Lebens scheint ironischer Weise nicht nur die alleinige Legitimations-, sondern zugleich auch die größte Bedrohungsform unseres Daseins. Infolge dieser reduktionistischen Lebens-, Wirtschafts- und auch Wissenschaftsphilosophie ­(Weizsäcker und Wijkman 2017), die wir im Geiste eines ausbeuterischen und rücksichtslosen Speziesismus (Gorke 2018; Singer 2018) kultivierten, haben wir verlernt, uns als Teil eines komplexen großen Ganzen – der Natur – zu verstehen, dessen untrennbarer Bestandteil wir sind. Wollen wir Antworten auf die jetzt sowie zukünftig bevorstehenden Herausforderungen des Anthropozäns finden, sollten wir den Blick auf die Natur als ein von uns losgelöstes Objekt, als ein für den Menschen geschaffenes Produktionssystem, das es auszubeuten und zu beherrschen gelte, korrigieren und sie (wieder) als ein Erzeugungssystem verstehen lernen, das alle Wesen hervorbringt, für

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alle existiert und erst durch deren gemeinsames Wirken in seiner Daseinsform bestehen kann (Latour 2018). Hierfür scheint es unumgänglich, auch die unserer Lebensweise zugrundeliegende Ethik und Umweltethik radikal infrage zu stellen. „Die Politik benötigt eine ethische Grundlage, aber auch Wissenschaft und Religion. Ohne sie können Wissenschaftler nicht unterscheiden zwischen sinnvollen Technologien oder solchen, die entbehrlich sind. Der Schaden an der Umwelt um uns herum ist die selbstverständliche Folge dieser Verwirrung“ (Dalai Lama 1992/2004, S. 3).

Etwa zeitgleich zur Publikation des ersten Club of Rome Berichts (Meadows et al. 1972) beschäftigte sich auch der französische Sozialphilosoph André Gorz mit möglichen Grenzen des kapitalistischen Wachstums und führte hierzu den Begriff décroissance (franz. für Degrowth bzw. Postwachstum) ein. Parallel zum Bericht des Club of Rome nutzten u. a. Nicholas Georgescu-Roegen, Jacques Grinevald sowie Ivo Rens den Begriff als Kritik an der Wachstums- und Fortschrittslogik, die unser Leben – heute mehr als je zuvor – zu beherrschen scheint. Während die ersten Degrowth-Ideen1 mit dem Ende der Ölkrise und dem Einzug des Neoliberalismus zunächst aus den öffentlichen Debatten weitestgehend verdrängt wurden, verzeichneten derlei Konzepte Anfang der 2000er Jahre u. a. durch Serge Latouche innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses in Frankreich einen erneuten Aufschwung. Spätestens mit der internationalen DegrowthKonferenz im Jahr 2008 in Paris erfuhr die Bewegung auch über französische Landesgrenzen hinaus eine breitere Resonanz. Seither formiert sich ein breitgefächertes, überwiegend den euro-atlantischen Raum umspannendes, aber auch zunehmend global aufgestelltes Netzwerk von Instituten, Forschungsgemeinschaften sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekten, die sich mit der Degrowth-Perspektive identifizieren, ihre eigenen Denkweisen und Philosophien integrieren bzw. Teile für eigene Konzepte und Perspektiven nutzen und zu einer immensen konzeptionellen Vielfalt der gesamten Bewegung beitragen (Bendix 2017a; Brand 2014; Brand und Krams 2018; Burkhart et al. 2017a; Degrowth-Webportal 2019; Dengler und Seebacher 2019; Eversberg und Schmelzer 2016). Zentrales Anliegen der Degrowth-Bewegung ist die Frage,

1Im Folgenden wird, statt des Postwachstumsbegriffs, die englische ‚Übersetzung‘ Degrowth verwendet. Trotz vieler Überschneidungen und keiner klaren Differenzierbarkeit, versammeln sich unter dem Degrowth-Begriff diverse Bewegung und Strömungen, die einen vergleichsweise stärker offensiv-normativen Charakter aufweisen (Bendix 2017a; Brand und Krams 2018; Schmelzer et al. 2018). Eine Einbeziehung sozialer, ethischer wie auch ökologischer Dimensionen, die auf einen globalen und generationenübergreifenden Kontext übertragen werden, stellen einen zentralen Bestandteil der ­ Degrowth-Perspektive dar (Burkhart et al. 2017a, b; Pissarskoi et al. 2018a). Degrowth wird somit als ein Frame verstanden, unter dem sich eine Vielzahl von Perspektiven und Konzepten – auch die der Postwachstumsbewegung – vereinen lassen (Schmelzer et al. 2018).

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M. Thomay „wie die materiellen, sozialen und mentalen Infrastrukturen der gegenwärtig strukturell wachstumsabhängigen Gesellschaften so verändert werden können, dass sie ohne weiter stetig steigenden Material- und Energiedurchsatz nicht nur überlebensfähig, sondern auch in der Lage sind, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen“ (Schmelzer et al. 2018, S. 4).

Die Degrowth-Perspektive baut dabei auf zwei zentralen Annahmen auf. Erstere ist eine ablehnende Haltung gegenüber aktuellen Abwandlungen des Fortschrittsparadigmas, wie denen eines grünen, qualitativen oder nachhaltigen Wachstums. Egal ob quantitativ oder qualitativ, Wachstum ohne Naturzerstörung sei eine Illusion und zumindest in näherer Zukunft nicht realisierbar (Burkhart et al. 2017b; Eversberg und Schmelzer 2016). Die zweite Annahme ist die einer notwendigen sozial-ökologischen Transformation, die auf einer zivilgesellschaftlichen, demokratischen und friedlichen Basis gründen und das Ziel eines guten Lebens für Alle2 unter gleichzeitiger Berücksichtigung der planetaren Grenzen umzusetzen versuchen müsse (Brand und Krams 2018; Burkhart et al. 2017b; Eversberg und Schmelzer 2016; Pissarskoi et al. 2018a). Zur Realisierung eines solch radikalen Wandels genüge es nach mehrheitlicher Ansicht der Vertreter*innen allerdings nicht, lediglich eine Reform der (sozialen) Gesellschaftsstrukturen – der materiellen Infrastrukturen – anzustreben. Eine sozial-ökologische Transformation erfordere zudem einen tiefgreifenden kulturellen Wandel der Denkmuster, Werte und Normen – der mentalen Infrastrukturen – unserer Gesellschaften (Ambach et al. 2019; Burkhart et al. 2017a; Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ 2018; Schmelzer et al. 2018). „So ist das Ziel einer Degrowth-Perspektive nicht primär, die Wirtschaftsleistung, wie sie derzeit ist, einfach zu schrumpfen. Vielmehr geht es darum, Wirtschaft, Gesellschaft, soziale Verhältnisse ganz anders zu gestalten. Vor allem stellt Degrowth aber die Forderung, sich das Recht und die Macht wieder anzueignen, kollektiv, demokratisch und solidarisch über die Art und Weise des Zusammenlebens zu bestimmen, statt Institutionen und soziale Beziehungen dem vorgegebenen und vermeintlich alternativlosen Muster des neoliberalen Mantras zu überlassen“ (Muraca 2017, S. 9 f.).

Während die Degrowth-Bewegung bereits diverse Varianten einer solidarischen Lebensweise und mögliche Wege der sozial-ökologischen Transformation auf vielfältige Weise theoretisch diskutiert sowie im Kleinen praktisch realisiert, wird die Frage der normativen Grundlage einer solchen Lebensweise dagegen weniger explizit

2Die

Diskurse zum Thema des guten Lebens lassen sich nach Pissarskoi et al. (2018a) in den Beyond-GDP-, den Glücks- sowie den Postwachstumsdiskurs unterteilen, welche jeweils auf deren inhaltliche Parallelen zu Prinzipien und Anliegen der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik hin untersucht wurden. Demnach verbinde einzig der Postwachstumsdiskurs die Vorstellung eines guten Lebens mit umfassenden Gerechtigkeitsansprüchen sowie den Anliegen der Nachhaltigkeitspolitik, da sich der Diskurs sowohl am Prinzip der intra- und intergenarationellen Gerechtigkeit als auch am Prinzip der starken Nachhaltigkeit orientiere (Pissarskoi et al. 2018a, b).

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problematisiert und erörtert. Zwar herrscht ein klarer Konsens bezüglich der intra- wie intergenerationellen Gerechtigkeitsvorstellung, wodurch sich Degrowth deutlich von fremdenfeindlichen oder anderweitig antiegalitären Bewegungen abgrenzt. Theorien der moralischen Berücksichtigung nichtmenschlicher Entitäten, also Fragen der Natur- und Umweltethik, wurden mit Ausnahme von Barbara Muraca (2011, 2016) bisher jedoch kaum tiefgreifender behandelt und offengelegt. Die Idee dieses Aufsatzes ist es daher, Degrowth-Beiträge, die Argumente und Theorien der Umweltethik berücksichtigen oder sich mit diesen auseinandersetzen, aufzugreifen und zu diskutieren.3 Um die hiesige Thematik und den Zusammenhang von Umweltethik und Nachhaltigkeitspolitik zu beleuchten, werden zunächst relevante Grundlagen und Begriffe der Umweltethik (Abschn. 2.1) sowie ihre Bedeutung für das Nachhaltigkeitsverständnis (Abschn. 2.2) skizziert. Auf der Grundlage dieses theoretischen Rahmens wird das Augenmerk schließlich auf die Darstellungen der biozentrischen Umweltethikposition des I.L.A. Kollektivs einerseits (Abschn. 3.1) sowie auf den Vorschlag eines deep anthropocentrism von Barbara Muraca andererseits (Abschn. 3.2) gelegt. Aufbauend auf einer Diskussion hieraus gewonnener Einsichten (Abschn. 4.1) sowie einer kursorischen Reflexion des Konfliktbegriffs (Abschn. 4.2), wie er in der Disziplin der Umweltethik sowie in den betrachteten Degrowth-Beiträgen Verwendung findet, mündet der Aufsatz in dem Versuch eines Plädoyers für eine holistische Degrowth-Umweltethik, angelehnt an Martin Gorke (Kap. 5). Nach einer knappen Selbstreflexion sowie Darstellung möglicher Forschungsdesiderate (Kap. 6) schließt der Aufsatz letztlich mit einem kurzen Fazit (Kap. 7).

2 Ethik, Nachhaltigkeit und Politik Das erste großangelegte politische Zusammentreffen – die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) – bei dem Fragen zur Umwelt und Nachhaltigkeit in einem globalen Maßstab betrachtet und debattiert wurden, fand

3Der

Betrachtungsrahmen dieses Aufsatzes bezieht sich lediglich auf einen Teil der europäischen Degrowth-Bewegung. Auch die herangezogenen theoretischen und begrifflichen Grundlagen beziehen sich überwiegend auf Autor*innen des europäischen bzw. ­ euro-atlantischen Raums, was wiederum blinde Flecken hinsichtlich der Berücksichtigung und Einbeziehung von Nachhaltigkeits- und Umweltethikverständnissen sowie theoretischen Grundlagen zur Folge hat, die außerhalb des epistemischen Territoriums der Moderne (Vázquez 2011) existieren. Zwar zeigen sich neben vielen Parallelen zur Philosophie des buen vivir (Acosta 2017) auch Überscheidungen zum Konzept (Eco)Swaraj (Kothari 2017), zum Konzept der buddhist economics (Payutto 2016; Schumacher 1973), Ubuntu sowie zu vielen weiteren Konzepten (Escobar 2015; Kothari et al. 2014), doch bestünde bei besonders im Falle einer potenziellen Orientierung an diesen Konzepten und Perspektiven die Gefahr einer Vereinnahmung oder gar Auslöschung jener Wissensbestände, Denk- und Lebensweisen (Vázquez 2011).

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im Jahr 1992 in Rio de Janeiro statt. Diese Konferenz, bei der sich der Dalai Lama mit dem oben genannten Apell einer neuen Ethik an die Machtzentren dieser Welt wandte, gilt nicht nur als Startpunkt für die Umwelt-, Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte auf ­international-politischer Ebene. In der aus jener Konferenz resultierenden Präambel – der Convention on Biological Diversity (CBD) – wurde überdies explizit der intrinsische Wert der Biodiversität betont (United Nations 1992), wodurch der Vielfalt an nichtmenschlichen Artengemeinschaften bereits zu diesem Zeitpunkt ein vom Menschen unabhängiger, eigener Wert zugesprochen wurde. Und dies ist kein Einzelfall. So überträgt bspw. das deutsche Bundesnaturschutzgesetz von 2009 einen solchen eigenen Wert auf „Natur und Landschaft“ (BNatSchG 2009, S. 4). Auch im deutschen Beitrag zur TEEB-Initiative (The Economics of Ecosystems and Biodiversity), die unter der Schirmherrschaft des Umweltprogramms der Vereinten Nationen durchgeführt wurde, wird der „Eigenwert der Natur“ (Naturkapital Deutschland 2012, S. 55) hervorgehoben. Zieht man allerdings die aktuellen Befunde des IPBES-Reports (2019) sowie andere einleitend skizzierte Problemlagen heran, für die zweifellos die Staaten des Globalen Nordens als Hauptverantwortliche auszumachen sind, scheint die im Bericht genannte Kritik, dass je nach Gesellschaft und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft u. a. auch die Gewichtung und Anerkennung jener Werte starken örtlichen, zeitlichen und kulturellen Schwankungen unterliegen, berechtigt (ebd.). Vergleicht man dies mit der Tatsache, dass jene Werturteile bereits seit 1992 auf internationaler sowie seit 2009 auf bundesnationaler Ebene verankert sind und 2012 im TEEB-Beitrag erneut bekräftigt wurden, scheint die Vermutung gerechtfertigt, dass den Machtzentren und Gesellschaften des globalen Nordens nicht bewusst zu sein scheint, was es bedeutet, der Biodiversität oder Natur einen Eigenwert zuzusprechen und welche Konsequenzen dies für unser Handeln hätte oder haben sollte (Gorke 2018). Warum aber hängen gerade der Begriff des Eigenwerts und das damit einhergehende Naturverständnis so eng mit den Folgeproblemen unserer Lebens- und Handlungsweise zusammen? Was bedeutet es genau, einen Eigenwert zugesprochen zu bekommen und was würde daraus folgen, wenn wir dies auch in Bezug auf die Natur konsequent berücksichtigen? Wie positioniert sich die Degrowth-Bewegung hinsichtlich dieser Thematik und welche Vor- bzw. Nachteile könnte eine solche Wertzuschreibung für eine Bewegung wie Degrowth haben? Um sich den hier aufgeworfenen Fragen anzunähern, werden zunächst thematisch relevante Begriffe, zentrale Differenzen umweltethischer Positionen sowie deren Verbindung und Bedeutung für das Nachhaltigkeitsverständnis skizziert.

2.1 Grundbegriffe und Positionen der Umweltethik Vereinfacht betrachtet besteht der Hauptunterschied verschiedener umweltethischer Positionen in der jeweils zugrundeliegenden Setzung der sog. moralischen Gemeinschaft (MG), die die Gruppe von Entitäten definiert, denen der Status eines Eigenwerts bzw. Zwecks an sich zugesprochen wird, wodurch diese – im Gegensatz zu außerhalb der

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Gemeinschaft stehenden Entitäten – um ihrer selbst willen einer direkten moralischen Berücksichtigung bedürfen. Je nach umweltethischer Position wird diese Inklusionsfrage zum Umfang der MG auf unterschiedlich viele und divergente Entitäten ausgeweitet (Gorke 2018; Muraca 2011; Ott et al. 2016). Die Kriterien, ob eine Entität in die MG inkludiert wird oder nicht, werden durch die Axiologie (Wertlehre) definiert und festgelegt. Die Axiologie bestimmt dabei einerseits die Fähigkeiten oder Eigenschaften einer Entität, die für die Aufnahme in die MG als relevant erachtet werden. Andererseits entscheidet sie über die Art des zugeschriebenen Werts, wobei an dieser Stelle vorerst nur auf die dichotome Einteilung von intrinsischen Werten als Selbstzwecke bzw. Eigenwerte und (extrinsischen) Werten als instrumentelle Mittel zum Zweck (Kant 1797/2008) zurückgegriffen wird. Wertkategorien wie eudaimonistische (Ott et al. 2016) oder relationale (Muraca 2011, 2016) Werte werden an späterer Stelle betrachtet. Nach der Terminologie Dieter Birnbachers (1996), wie sie auch Gorke (2018) heranzieht, kann bezüglich der Inklusionsfrage zwischen zwei axiologischen Grundpositionen unterschieden werden, die sich weiterführend in die jeweils klassischen Positionen der Umweltethik untergliedern lassen. Demnach ist man entweder axiologische*r Subjektivist*in, wenn man den Eigenwert einer Entität aus bestimmten Eigenschaften (z. B. Bewusstsein, Rationalität oder Leidensfähigkeit) ableitet, die eine Subjektivität der Entität voraussetzen. „Leitet man den Eigenwert hingegen von Eigenschaften bzw. Gegebenheiten ab, die von der Fähigkeit der Subjektivität unabhängig sind (z. B. Leben, zielgerichtete Strebungen, Existenz), ist man axiologischer Objektivist“ (ebd., S. 27). Für Erstere gibt es Eigenwerte nur innerhalb der Sphäre bewusster Wesen, wohingegen diese für Zweitere auch außerhalb jener Sphäre existieren. Während sich die Axiologie nach dieser Terminologie nur der Frage widmet, welche Wesen einen Eigenwert besitzen, „ist [hiermit] noch nichts über die metaethische Frage gesagt, welchen Geltungsmodus diese Wertaussagen nach Ansicht ihrer jeweiligen Vertreter haben“ (ebd., S. 27). Daher wird neben jenen zwei axiologischen Positionen zudem zwischen zwei hiervon unabhängig stehenden metaethischen Positionen unterschieden. Geht man davon aus, dass Werte einer Wertung a priori vorausgehen bzw. unabhängig von Subjekten bestehen, also „Ausdruck eines subjektunabhängig bestehenden `Wertverhalts´ [sind], der vom Menschen entdeckt wird, ist man metaethischer Objektivist. Eigenwerte existieren für den metaethischen Objektivisten bereits vor Heraufkunft des Menschen; sie sind so gesehen `absolut´. Für den metaethischen Subjektivisten hingegen sind Werte Produkte wertender Wesen. Eigenwerte kamen erst mit dem Menschen in die Welt; es `gibt´ sie nur als menschliche Zuschreibungen“ (ebd., S. 27).

Wie Birnbacher und Gorke verdeutlichen, können die Positionen der Axiologie und Metaethik separat betrachtet und vertreten werden. Es ist also, gegensätzlich zu Kant, der die Position eines metaethischen Objektivismus und axiologischen Subjektivismus vertrat und annahm, (Eigen-)Werte bestünden unabhängig von Menschen aber nur für den Menschen, ebenso möglich, die eines metaethischen Subjektivismus und axiologischen

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Objektivismus einzunehmen und gleichzeitig zu postulieren, (Eigen-)Werte seien ein Produkt der Menschen, die aber auch allen anderen Entitäten zugesprochen werden können (ebd.).4 Unabhängig von der metaethischen Position – sofern sie keine nihilistische ist – ‚besitzt‘ eine Entität, je nachdem welche axiologische Position vertreten wird, somit entweder einen instrumentellen Wert oder aber eine Entität darf nicht (ausschließlich) als Mittel betrachtet werden, wodurch sie wiederum einen Eigenwert ‚besitzt‘. Ist dies der Fall, besteht gegenüber jener Entität eine direkte moralische Pflicht, ihren Eigenwert anzuerkennen und sie nicht als Mittel für einen anderen oder höheren Zweck zu gebrauchen (ebd.; Kant 1797/2008; Ott et al. 2016). Veranschaulichen lässt sich dies anhand der vier klassischen umweltethischen Positionen. Diese unterscheiden sich anhand der jeweils ausgewählten Fähigkeiten bzw. Eigenschaften, die eine Entität als moralisch direkt berücksichtigenswert einstufen und ihr somit einen Eigenwert zusprechen. Die erste umweltethische Position des Anthropozentrismus spricht ausschließlich menschlichen Entitäten einen Eigenwert zu. Die ausschlaggebende Eigenschaft, die festlegt, ob eine Entität in die MG inkludiert wird, ist also die Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens. Häufig wurde diese Eingrenzung auch durch den hohen Grad an Rationalität, Bewusstheit oder der menschlichen Vernunftbegabung begründet. Heutige Konventionen übertragen den Eigenwert hingegen konsequent auf alle lebenden Menschen, unabhängig von den individuellen mentalen oder physischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Ob eine nichtmenschliche Entität (z. B. ein Tier, eine Pflanze oder ein Stein) innerhalb einer Handlung moralisch berücksichtigt werden sollte, hängt demzufolge ausschließlich davon ab, ob der Selbstzweck anderer Menschen während oder infolge dieser Handlung beeinträchtigt wird. Gegenüber Entitäten außerhalb der MG besteht hingegen keine direkte moralische Verpflichtung, was die MG-Mitglieder wiederum dazu berechtigt, außenstehende Entitäten als instrumentelle Mittel für eigene Zwecke zu nutzen, solange die genannte Einschränkung nicht zutrifft. Exemplarisch hierfür ist Kants Argument gegen das Quälen von Tieren, da dies den Verhältnissen der Menschen untereinander abtrünnig sei (Kant 1797/2008). Ein ähnliches Verständnis zeigt sich auch in der Brundtland-Definition nachhaltiger Entwicklung (WCED 1987), die sich ausschließlich auf menschliche Bedürfnisse bezieht, andere Entitäten jedoch nicht direkt berücksichtigt (Ott 2016a).5

4Die

eigene Position eines axiologischen Objektivismus und metaethischen Subjektivismus scheint problemlos mit der persönlich durch den Sozialkonstruktivismus sowie Pragmatismus geprägten Ontologie und Epistemologie vereinbar. Auch unsere Ethik ist – wie jeder andere subjektive oder kollektive Wissensvorrat – ein soziales Konstrukt, das u. a. zeitlichen und räumlichen Kontexten menschlichen Zusammenlebens unterworfen ist (Franke und Roos 2018; Gorke 2000; Kim 2007). 5„Im Sinne der WCED-Definition ist Nachhaltigkeit […] in erster Linie als Erweiterung einer Gerechtigkeitstheorie zu sehen, die die moralischen Ansprüche aller jetzigen und zukünftigen Menschen auf die Erfüllung der Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins spezifiziert“ (Ott 2016a, S. 190).

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Die zweite umweltethische Position des Patho- bzw. Sentientismus, wie sie bspw. von Konrad Ott, Angelika Krebs oder Peter Singer vertreten wird, bezieht sich auf die Fähigkeit einer Entität, fühlen zu können, positiv im Sinne von Lust und Freude sowie negativ als Schmerz und Leid (Krebs 2016). Demnach wird allen Entitäten, die diese Fähigkeit aufweisen, ebenfalls ein Eigenwert bzw. Selbstzweck zugesprochen und sie werden der moralischen Gemeinschaft zugerechnet. „Der Umgang mit […] [sich außerhalb der Gemeinschaft befindlichen Entitäten] ist für die pathozentrische Umweltethik nur insofern moralisch relevant, als er auf indirektem Wege Schmerz und Leid bei empfindungsfähigen Wesen hervorrufen kann“ (Gorke 2018, S. 22). So argumentiert bspw. Krebs, dass, falls man unter Moral verstünde. „[…], dass sie Respekt vor dem guten Leben aller Mitglieder der Moralgemeinschaft verlangt, d. h. sowohl vor ihren Empfindungen als auch ihren Zwecken, so erscheint die Beschränkung auf Menschen und ihr gutes Leben als Objekt der Moral willkürlich, gattungsegoistisch oder >speziesistisch< […]“ (Krebs 2016, S. 157 f.).6

Vertreter*innen des Biozentrismus lehnen das Kriterium der Leidensfähigkeit meist aufgrund methodologischer und epistemologischer Zweifel ab und begründen ihre Setzung der MG stattdessen mit der Eigenschaft Leben bzw. mittels eines erweiterten Interessensbegriffs – als zielgerichtetes Streben einer Entität. Ähnlich einem teleologischen Verständnis wird dieses Interesse bereits durch den Überlebensdrang einer Entität geäußert und da ein solches Streben grundsätzlich bei jedem Lebewesen – unabhängig von dessen Bewusstheit, Rationalität oder Leidensfähigkeit – erkennbar sei, bezieht sich der Umfang der MG daher konsequent auf alle lebenden Entitäten (Gorke 2018; Engels 2016). Bekannte Vertreter*innen sind bspw. Paul Taylor, Hans Jonas oder Albert Schweitzer (Engels 2016). Die letzte und umfassendste Setzung der MG erfolgt in der Position der holistischen Umweltethik, die „nicht nur alles Lebendige, sondern auch die unbelebte Materie und Systemganzheiten wie Arten, Ökosysteme und den Planeten Erde in den Bereich direkter menschlicher Verantwortung ein[bezieht]“ (Gorke 2018, S. 22). Hier wird eine zusätzliche, in den bisherigen Konzeptionen nicht berücksichtigte Dimension der Inklusionsfrage deutlich: Sollen zu einer MG lediglich einzelne, eine Gemeinschaft bildende Entitäten oder auch Gemeinschaften und Systemganzheiten selbst, also beispielsweise

6Krebs

und andere Pathozentriker*innen ziehen ihre Grenze moralischer Berücksichtigung bei der Fähigkeit des Leidens (zu der teils auch die Eigenschaften Bewusstsein und Handlungsfähigkeit hinzugezogen werden). Entitäten, bei denen keine Leidensfähigkeit (bzw. eine Mischung aus den genannten Eigenschaften) erkenntlich wären, seien, nach deren Perspektive, demnach vielmehr als funktionale Einheiten und technisch-physikalisch beschreibbare R ­ eiz-Reaktionssysteme zu verstehen. Auch hier zeigt sich eine reduktionistische (naturwissenschaftliche) Wissenschaftsphilosophie (unserer Gesellschaften des globalen Nordens), die durch ihre „zergliedernde (analytische) Herangehensweise, […] alle Naturwesen, seien sie unbelebt oder belebt, auf das Objektivierbare, Messbare, Reproduzierbare und Formalisierbare reduziert […]“ (Gorke 2018, S. 92).

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Arten, die Atmosphäre oder ein Ökosystem inkludiert und entsprechend berücksichtigt werden? Die monistische Position der holistischen Umweltethik, die lediglich ganze Systeme berücksichtigt, wird auch als Ökozentrismus bezeichnet, stellt hier allerdings keine relevante Position dar. Eine pluralistische holistische Umweltethik hingegen berücksichtigt als einzige umweltethische Position sowohl Systemganzheiten als auch darin vorkommende einzelne Entitäten (Dierks 2016, Gorke 2018). Bei allen umweltethischen Positionen kann zusätzlich zwischen einer egalitären und einer hierarchischen Position unterschieden werden.7 Eine hierarchische Konzeption begründet sich häufig durch die sog. scala naturae, die eine in jener MG feststehende Ordnung beschreibt und sich auf die unterstellte Organisationshöhe bzw. bestimmte Fähigkeiten einer Entität bezieht, wobei meist zwischen ´höheren` und ´niederen` Lebewesen unterschieden wird. Diese gilt allerdings als veraltet und wird weitestgehend abgelehnt (Gorke 2018). Stattdessen unterscheiden viele Positionen zwischen moralischen Akteur*innen (moral agents) und moralischen Objekten (moral patients) sowie zuweilen auch moralischen Subjekten (vgl. Schmitz 2018). Der Begriff der moralischen Akteurin bzw. des Akteurs – häufig mit dem Begriff der Person gleichgesetzt (Ott 2016b; Schmitz 2018) – bezieht sich dabei u. a. auf „die Fähigkeit […], sich mit Gründen an Werten und Normen orientieren zu können, während der Begriff eines moral patient mit dem Innehaben einer oder mehrerer moralisch relevanter Eigenschaften verknüpft ist“ (Ott 2016b, S. 109). „Ein moralischer Akteur [moral agent] ist jemand, der moralisch handeln kann […], reflektierte Entscheidungen treffen und das eigene Handeln an moralischen Normen ausrichten […] [kann]. […] Als paradigmatische Akteure gelten gesunde, erwachsene Menschen“ (Schmitz 2018, S. 179). Hierdurch begründet sich auch die Verantwortlichkeit von moralischen Akteur*innen, also die Möglichkeit, sie hinsichtlich ihrer Handlungen loben oder tadeln zu können (ebd.). Unter moralischen Objekten (moral patients) werden hingegen all diejenigen Entitäten verstanden, die zwar ebenso Teil der MG, für ihr Handeln aber nicht verantwortbar sind (Ott et al. 2016). „Moralische Objekte sind

7Auch

eine hierarchisch strukturierte, anthropozentrische Ethik ist denkbar. Klassische und historisch bekannte Konzeptionen wären das Bürgerrecht im antiken Griechenland oder Rom sowie Rassismus und Sexismus. In diesem Aufsatz werden jene Positionen strikt abgelehnt und daher nicht weiterführend behandelt. Zwar werden diverse Zielkonflikte, die bereits in einer egalitären anthropozentrischen Position auftreten, anerkannt und keineswegs bezweifelt, doch wird die intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit und der Wert aller menschlichen Entitäten, als selbstverständlich vorausgesetzt. Vielmehr soll bereits hier der potenzielle Einwand, dass dauerhaft bestehende Konflikte innerhalb einer Ethik zur Folge hätten, dass jene Ethik nicht anwendbar und daher aufzugeben sei, ausgeräumt werden. Auch innerhalb einer, hier ohnehin als selbstverständlich angenommenen, egalitären anthropozentrischen Ethik ist es m. E., trotz bestehender (unlösbarer) Zielkonflikte, durchaus gerechtfertigt und sinnvoll, das entsprechende Ethikkonzept beizubehalten und nicht zu verwerfen.

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Wesen [bzw. Entitäten], die von den moralischen Akteuren richtig und falsch behandelt werden können, die also moralisch zählen. Dafür müssen sie, so die Idee, nicht selbst moralisch handlungsfähig sein“ (Schmitz 2018, S. 179), sie tragen keine (moralische) Verantwortung wie ein*e Akteur*in, besitzen jedoch den gleichen Wert. Um für den Eigenwert bzw. entsprechende Rechte von moral patients einzutreten, übernehmen moralische Akteur*innen wiederum die Funktion bzw. Rolle als advokatorische Fürsprecher*innen (ebd.; Ott 2016b). Der Begriff des moralischen Subjekts umfasst wiederum Entitäten, die keiner der beiden Kategorien zuordbar sind, da sie nur manchmal und/oder eingeschränkt moralische Gründe für ihr Handeln erkennen lassen (Schmitz 2018). Zuweilen (vgl. Gorke 2018) und auch im Folgenden, wird der Begriff des moralischen Subjekts mit dem der Akteurin bzw. des Akteurs weitgehend gleichgesetzt.

2.2 Umweltethik als normative Quelle der Nachhaltigkeitspolitik Inwieweit diese Positionen mit dem Thema der Nachhaltigkeit zusammenhängen und warum deren konzeptuelle Berücksichtigung für Bewegungen wie Degrowth m. E. unverzichtbar ist, wird am Unterschied eines starken und schwachen Nachhaltigkeitsverständnisses deutlich. Diese Differenz äußert sich vornehmlich durch die jeweilige Einstellung bezüglich der Idee einer möglichen Substituierbarkeit (sowie der hier nicht betrachteten Diskontierbarkeit und Kompensierbarkeit) von Naturkapitalien – wie bspw. beim Verhältnis von Natur- und Sachkapitalien. Diese – aus der Ökonomik stammende – Logik beschreibt die Idee der wechselseitigen Ersetz- und Austauschbarkeit sog. nutzenstiftender Bestände, die zumeist in Sach-, Finanz-, Human-, Sozial-, Wissens- sowie in kultivierte und nicht-kultivierte Naturkapitalien unterteilt werden (Döring und Ott 2001; Ott 2016a).8 Innerhalb eines schwachen Verständnisses wird davon ausgegangen, dass lediglich die Summe aller gegebenen Kapitalien auf einem komparativen Level konstant gehalten werden muss, wobei sie untereinander beliebig substituierbar sind. Das Prinzip der Substituierbarkeit spricht hierdurch jeglicher Form der nicht-menschlichen Natur die grundsätzliche Möglichkeit eines Eigenwerts ab, wodurch ihr ein instrumenteller und stets ersetz- bzw. kompensierbarer Wert zukommt. Ein schwaches Nachhaltigkeitsverständnis entspricht in dessen Kern somit einer anthropozentrischen Ethik (Döring und Ott 2001). Wie die Rio-Präambel, das BNatSchG oder der TEEB-Beitrag zeigen, gilt eine rein anthropozentrisch begründete Idee der schwachen Nachhaltigkeit allerdings

8Dass

sich ökonomische Prinzipien und Denkweisen in der Nachhaltigkeitsdebatte und zu Teilen auch in der Umweltethik wiederfinden lassen, wird äußerst kritisch betrachtet, kann jedoch nicht thematisiert werden. Doch scheint der Kapitalbegriff bei einer normativ geprägten Debatte, wie es hier der Fall ist, m. E. inadäquat.

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nicht nur unter Umweltethiker*innen oder Naturschützer*innen, sondern zunehmend auch auf gesellschaftspolitischer Ebene als unzureichend und wird daher vermehrt infrage gestellt oder abgelehnt (Gorke 2000; Ott 2016a; Ziegler und Ott 2011). Ein starkes Nachhaltigkeitsverständnis lehnt die Idee der Substituierbarkeit von Naturkapitalien untereinander sowie mit anderen Kapitalformen ab, beschreibt deren Verhältnis als komplementär und fordert, Naturkapitalien konstant sowie unabhängig unter- und voneinander zu erhalten (Ott 2016a). Wie Ott betont, „können [wir aber] nur dann über die Grenzen der Substituierbarkeit von Natur sprechen, wenn wir deren besondere Werthaftigkeit anhand umweltethischer Argumente darlegen können“ (ebd., S. 192). Möchte man die Natur oder einzelne Naturentitäten im Sinne der starken Nachhaltigkeit als nicht substituierbar, sondern als erhaltungs- bzw. schutzbedürftig auszeichnen, `muss´ dies durch die entsprechenden nicht-anthropozentrischen Umweltethiken und den hiermit verbundenen Wertzuschreibungen begründet werden (ebd.).9 Da die normative Frage der zugrunde liegenden Umweltethik somit als Basis des Nachhaltigkeitsverständnisses zu verstehen ist (vgl. Ebenenmodell der Nachhaltigkeit), sollten neben dem intra- und intergenerationellen Gerechtigkeitsanspruch folgerichtig auch alle Positionen und Argumentationen der Umweltethik „als zweite konstitutive ethische Grundlage der Nachhaltigkeitsidee […]“ (ebd., S. 190) anerkannt und genutzt werden (ebd., Ziegler und Ott 2011). Möchte Degrowth als eine Nachhaltigkeitsbewegung, die soziale und ökologische Aspekte vereint zu denken versucht, auch der ökologischen Transformationsdimension und dem Prinzip der starken Nachhaltigkeit gerecht werden (Muraca und Döring 2018; Pissarskoi et al. 2018a, b), sollten auch Konzepte und Argumente nicht-anthropozentrisch konzipierter Umweltethiken intensiver diskutiert, konzeptuell berücksichtigt und offengelegt werden (Ott 2016a; Ziegler und Ott 2011). Dies bedeutet, dass die „Frage nach [dem] moralischem Selbstwert von Naturwesen […] [nicht] hinter die Frage zurück [treten darf], wie egalitär die Verteilung natürlicher Ressourcen in einer menschenrechtlichen Perspektive sein sollte“ (Ott et al. 2016, S. 16). Im Folgenden werden nun verschiedene Degrowth-Beiträge betrachtet, die sich mit Argumenten und Theorien nicht-anthropozentrischer Umweltethiken befassen bzw. diese konzeptuell berücksichtigen. Zunächst werden jene Beiträge, auf der Terminologie nach Birnbacher aufbauend, einer der eingeführten umweltethischen Positionen ‚zugeordnet‘, um auf dieser Basis sodann damit verbundene Konsequenzen und Potenziale diskutieren zu können.

9Aus

dieser (klassischen) Perspektive müssen sowohl der Eigenwert einer Entität als auch die Schutzbedürftigkeit einer Entität jeweils bestmöglich (anhand theoretischer wie empirischer Kriterien) begründet bzw. falsifiziert werden, sodass diejenigen Entitäten, die sich bereits in der Moralgemeinschaft befinden, sie als plausibel und richtig anerkennen. Eine andere Möglichkeit dieser Vorgehensweise wird in Kap. 5 aufgegriffen.

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3 Zwei Vorschläge einer möglichen Degrowth-Umweltethik Im Februar 2019 präsentierte die I.L.A. Schreibwerkstatt (Imperiale Lebensweise und Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert) – ein interdisziplinäres Autor*innenkollektiv von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen – mit ihrem zweiten Buch Das Gute Leben für Alle (Ambach et al. 2019) ein an die südamerikanische buen vivir (Sumak kawsay) Philosophie angelehntes Konzept einer solidarischen, sozial-ökologisch gerechten Lebensweise, das auch umweltethische Dimensionen und Argumente stärker berücksichtigt.10 Neben der Schilderung von Initiativen und Projekten widmet sich das Kollektiv darüber hinaus grundlegenden politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und eben auch (umwelt-)ethischen Fragen, die Voraussetzung für ein gutes Leben für Alle sind. Das auf den Prinzipien der Demokratisierung, ReProduktion, Dependenz, Suffizienz sowie dem Commoning beruhende Konzept des I.L.A. Kollektivs soll ein gutes Leben für Alle ermöglichen und Menschen zugleich dazu befähigen, ihre Verbundenheit untereinander wie auch mit der Natur auf eine neue bzw. andere Art entdecken und verinnerlichen zu können. Die Autor*innen verstehen weder die fünf Prinzipien noch deren normative Grundlage als final oder vollkommen ausgereift, sondern betrachten ihr Konzept als einen Vorschlag, der einen kritischen und aktiven Diskurs anstoßen soll (ebd.). Dieser Aufsatz folgt dieser Intention, wobei der Betrachtungsfokus neben einer terminologischen Einordnung überwiegend auf der narratorischen Übersetzung und konzeptuellen Integration der Umweltethik des I.L.A. Kollektivs liegt. Neben der Veröffentlichung des I.L.A. Kollektivs sollen überdies zwei Aufsätze von Barbara Muraca (2011, 2016) betrachtet und diskutiert werden. Einerseits übernahm Muraca zusammen mit Ulrich Brand, Marcus Wissen und Tilman Santarius die Schirmherrschaft jener Publikation des I.L.A. Kollektivs. Andererseits beschäftigt sich Muraca als Philosophin speziell mit Konzepten und Theorien (sowie axiologischen Prämissen) der Umweltethik. Aufgrund ihrer Sonderstellung und Expertise hinsichtlich der hier behandelten Thematik sollen neben Muracas vorgeschlagener Position speziell die von ihr angestellten Überlegungen zur Axiologie einer möglichen Degrowth-Umweltethik reflektiert und diskutiert werden.

10Die Ausführungen zur Umweltethik des I.L.A. Kollektivs beruhen auf den Befunden einer rekonstruktiv-interpretativen Analyse, die im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts an der Universität Augsburg durchgeführt wurde. Auch die Zuordnung des Kollektivs zur DegrowthBewegung ist Teil eigener Interpretation. Nach eigener Einschätzung kann das Kollektiv und ihr Konzept der solidarischen Lebensweise als einer der vielfältigen Perspektiven verstanden werden, die sich unter dem skizzierten Degrowth-Frame versammeln.

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3.1 Die biozentrische Umweltethik des I.L.A. Kollektivs Die Autor*innen des I.L.A. Kollektivs beschreiben das Wertedenken bzw. die mentalen Infrastrukturen der imperialen Lebensweise als Real-Essentialisierungen bzw. soziale Konstruktionen, die tief in unserem Alltagsbewusstsein verankert seien. „Doch dieses Leben und diese Gesellschaft sind nicht alternativlos: Die Art und Weise, wie wir Menschen miteinander und mit der Natur leben, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern menschengemacht. Wir bauen selbst die Strukturen und Bedingungen für unser Zusammenleben. Es gibt also die Möglichkeit, unser Miteinander auf diesem Planeten neu zu gestalten“ (Ambach et al. 2019, S. 9).

Diese Form der Wirklichkeitsbeschreibung lässt auf ein sozialkonstruktivistisch geprägtes Weltbild der Autor*innen schließen, dass die materiellen und mentalen Infrastrukturen und somit auch unsere Denkweisen, Werte und Ethik als (soziale) menschliche Produkte bzw. Konstrukte betrachtet. Übertragen auf die Terminologie nach Birnbacher kann dies wiederum als die Position eines metaethischen Subjektivismus interpretiert werden. Nach Ansicht des I.L.A. Kollektivs müssen diese, von uns selbst geschaffenen mentalen und materiellen Infrastrukturen der imperialen Lebensweise durch eine sozial-ökologische Transformation überwunden werden, sodass die Möglichkeit, ein gutes Leben führen zu können, sowohl für alle Menschen als auch für die gesamte nichtmenschliche lebendige Natur bestünde. Es wird mehrfach betont, dass nach dem Konzept des guten Lebens für Alle auch die Natur Berücksichtigung und Schutz bedürfe. Hierzu führen die Autor*innen den auf Klaus Michael Meyer-Abich (1990, 2005) zurückgehenden Begriff der Mitwelt als leitendes Hauptnarrativ ihrer Umweltethik ein. Die Autor*innen des I.L.A. Kollektivs konstatieren, dass in „der imperialen Lebensweise […] die Natur äußerlich gedacht [wird], beispielsweise als stummes Rohstofflager oder Mülldeponie, die die Menschen ausbeuten, verschmutzen und manipulieren können. […] [Und man aufhören muss,] Natur und Mensch als gegensätzliches Paar zu sehen – also als zwei getrennte Teile, die sich ohne jede Schnittmenge gegenüberstehen – [und] hin zu einer Vorstellung von [der Natur als] Mitwelt [gelangen]. Wir betrachten die Natur damit nicht länger als verwertbar und beliebig manipulierbar, sondern sprechen ihr Eigenwert und Eigenständigkeit bei gleichzeitiger Verflechtung mit dem Menschen zu“ (Ambach et al. 2019, S. 21 f.).

Obwohl das I.L.A. Kollektiv auf Meyer-Abich verweist, scheinen sie ihrem Konzept allerdings nicht dessen Umweltethik zu unterlegen. Im Gegensatz zu Meyer-Abichs holistischer Auslegung grenzen sie den Begriff der Mitwelt auf „Tiere, Pflanzen und die

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lebendige Natur“ (ebd., S. 104) ein.11 Sie sehen den Menschen als eng mit dieser Mitwelt verflochten und akzentuieren die Notwendigkeit, jener auf Augenhöhe zu begegnen. Da die Autor*innen in diesem Sinne das Recht auf ein gutes Leben konsequent auf alle lebendigen Entitäten (sowie deren Gemeinschaften) als Mitwelt übertragen und diesen einen Eigenwert zusprechen, lässt sich dies als ein axiologischer Objektivismus auslegen. Innerhalb dieser Position des axiologischen Objektivismus wird seitens des I.L.A. Kollektivs die Eigenschaft Leben als das relevante Kriterium für eine Aufnahme in die MG herangezogen. Demzufolge kann die Position des I.L.A. Kollektivs m. E. als eine biozentrische Umweltethik verstanden werden. Durch den Bezug zur (lebendigen) Natur, der ebenfalls ein Eigenwert zugesprochen wird, sind zudem auch Gemeinschaften lebender Entitäten inkludiert, weshalb Parallelen zum Ökozentrismus bzw. Holismus erkennbar sind. Einziger, aber dennoch nicht weniger relevanter Unterscheidungspunkt zur holistischen Position ist, dass nicht-lebendige Entitäten sowie deren Systemgemeinschaften keinen Eigenwert besitzen und aus der MG exkludiert werden. Abgesehen von der sehr weitreichend gefassten biozentrischen Umweltethik und dem starken Hauptnarrativ der Mitwelt, lassen sich allerdings auch einige narratorische Defizite ausmachen. Obwohl grundsätzlich alle lebenden Entitäten in die MG inkludiert werden, ist es den Autor*innen m. E. nicht vollumfänglich gelungen, die Position des Biozentrismus konsequent in adäquate Narrative zu übersetzen. Nach Aussage der Autor*innen wäre ihre Idee eines guten Lebens für Alle „ein Konzept, welches ein solidarisches Zusammenleben aller Menschen in respektvollem Umgang mit der Mitwelt beschreibt“ (ebd., S. 103). Bereits hier wird deutlich, dass der menschlichen Gemeinschaft eine gesonderte Stellung zuzukommen scheint. Die Möglichkeit eines guten Lebens sowie das Recht auf Autonomie und Bedürfniserfüllung werden vornehmlich der menschlichen Gemeinschaft zugesprochen, wohingegen der Mitwelt ‚lediglich‘ mehr Respekt entgegengebracht werden solle. So definieren die Autor*innen Bedürfnisse auch als das, „was materiell oder sozial erfüllt sein muss, damit ein Mensch ein Gutes Leben führen kann. Bedürfnisgerecht bedeutet dabei, dass eine Handlung, Infrastruktur oder Entscheidung Menschen nicht daran hindert bzw. dazu beiträgt ein Gutes Leben zu führen“ (ebd., S. 102). Dies gleicht stark dem Verständnis einer anthropozentrischen Umweltethik der schwachen Nachhaltigkeit. Eine gleichwertige Betrachtung der Mitwelt und anderer Lebewesen auf Augenhöhe bleibt in den Narrativen zumeist aus. Die sozialethische Frage bleibt damit der ökologischen voran- und übergestellt. Nicht unter den Begriff der Mitwelt fallende, unbelebte Entitäten bzw. Systemganzheiten werden in den Narrativen des I.L.A. Kollektivs hingegen als Senken beschrieben und erhalten

11Meyer-Abich verwendete den Begriff der Mitwelt, um die naturgeschichtliche Verwandtschaft des Menschen zur belebten wie unbelebten Natur zu betonen. Natur existiere nicht für, sondern mit dem Menschen. Da der Begriff der Mitwelt bei Meyer-Abich sowohl lebende als auch nichtlebende Entitäten sowie auch deren Gemeinschaften umfasst, handelt es sich um einen holistischen Ethikansatz (Kim 2007; Meyer-Abich 1990, 2005).

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einen rein instrumentellen Wert für Mensch und Mitwelt. Die Verschmutzung und damit verbundene Zerstörung von Systemen wie der Atmosphäre oder Gewässern – in denen wir unseren Müll sprichwörtlich ‚versenken‘ – solle auf ein allgemeinverträgliches Maß zurückgeschraubt werden, um diese nicht zu überlasten, sodass ein gutes Leben für Alle gewährleistet werden könne (ebd.). Zudem wird in den Narrativen des I.L.A. Kollektivs wenig auf die Konsequenzen und Handlungsfolgen einer biozentrischen Umweltethik eingegangen. Um sich dem vermeintlichen Vorwurf einer Ökodiktatur bzw. Verbots- und Verzichtskultur entgegenzustellen, betonen die Autor*innen stets, dass es in ihrem Konzept einer solidarischen Lebensweise „nicht um individuellen Verzicht oder einfache Verbote, sondern um die Umnutzung von Räumen“ (ebd., S. 39) gehe. Wie genau allerdings eine solche Umnutzung mit der Position des Biozentrismus vereinbar wäre und welche Folgen dies für das Handeln und Leben der Menschen hätte, wird hingegen kaum expliziert. Würde der Biozentrismus konsequent angewendet, ergäben sich unzählige Handlungskonflikte, von denen die überwiegende Mehrheit sogar als unlösbar betrachtet werden müsste. Derlei auftretende (unlösbare) Handlungs- und Zielkonflikte zwischen Mensch und Mitwelt werden allerdings nur selten erwähnt und diskutiert. Konkretere Argumente und Vorschläge der biozentrischen Umweltethik bleiben diesbezüglich weitgehend unberücksichtigt – was auch auf den eigentlichen Anspruch der Publikation zurückzuführen sein dürfte. Doch was es letztlich bedeuten würde, wenn wir der Mitwelt einen Eigenwert zusprächen, bleibt weitgehend unklar. Eine Reflexion und Diskussion jener Aspekte soll allerdings erst im Anschluss an die nun folgende Darstellung der umweltethischen Position eines deep anthropozentrism von Barbara Muraca erfolgen, sodass beide Positionen sowie jeweils zugehörige Einsichten gemeinsam betrachtet und diskutiert werden können.

3.2 Die Umweltethik des deep-anthropocentrism von Barbara Muraca Barbara Muraca widmet sich in den hier betrachteten Publikationen (2011, 2016) überwiegend basalen Fragen der Umweltethik sowie zugehörigen axiologischen und metaethischen bzw. ontologischen Prämissen. Neben der Frage, welche Entitäten welchen Wert besitzen sollten, fragt sie auch danach, wie Werte überhaupt entstehen, wobei sie ebenfalls davon ausgeht, dass beide Fragen zwar zusammenhängen, aber doch unabhängig voneinander beantwortet werden könnten (Muraca 2016). „Zu sagen, dass nur Menschen Werte zuschreiben, heißt nicht zwangsläufig, dass nur sie auch Werte besitzen: Sehr wohl können Menschen anderen Wesen Werte >an und in sich< zuschreiben“ (ebd., S. 117). Dies scheint zwar der Terminologie Birnbachers zu gleichen, jedoch unterscheidet Muraca nicht zwischen einer axiologischen und metaethischen Position, sondern fasst beide Fragen unter den Begriff der Axiologie (2016).

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Innerhalb der Axiologie differenziert sie wiederum zwischen Ontologie und Axiologie, was der terminologischen Differenzierung Birnbachers entspräche. Da bei Muraca beide Fragen in den Bereich der Axiologie fallen, scheinen jene Bereiche m. E. wiederum ‚zu eng‘ verbunden. Bei der Frage nach dem Ursprung von Werten – also der Frage der Metaethik – versucht sie mit ihrem Vorschlag zwischen dem sog. Wertobjektivismus und Wertsubjektivismus zu vermitteln. Während nach dieser Terminologie „für WertobjektivistInnen Werte objektiv und damit unabhängig von der Anerkennung seitens wertender Wesen existieren, argumentieren WertsubjektivistInnen, dass Werte im Auge des wertenden Subjekts als Urteil über bestimmte Charakteristika der Wertungsobjekte entstehen“ (ebd., S. 117). Diese Dichotomie entspringe einer ebenfalls binär ausgerichteten atomistischen Ontologie und Logik, die nur unzureichend zwischen den verschieden Relationsformen (bspw. im Falle der Mensch-Natur-Beziehung) differenziere und diese ausschließlich als externale und funktionale Relationen zwischen verschiedenen Entitäten betrachte und beschreibe. Muracas Ansicht nach existieren Entitäten nicht erst und gehen dann Relationen mit einer anderen Entität ein. Vielmehr seien die Relationen selbst bereits „[…] constitutive conditions for the emergence of entities (and subjects)“ (Muraca 2011, S. 383). Angelehnt an die Philosophie der Phänomenologie argumentiert Muraca, dass jede Form der Wahrnehmung einer Entität bzw. eines Subjekts „bereits das Resultat einer intuitiven, nicht artikulierten und spontanen Werteinstellung [ist], die sich in der Form der Aufmerksamkeit und Orientierung zu dem Wahrnehmungsobjekt deuten lässt“ (2016, S. 118). Indem wir als Subjekt unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt unserer Wahrnehmung richteten, sähen wir dieses bereits auf eine zunächst nicht weiter spezifizierte Art als wertvoll an, weshalb „Werte ursprünglicher als bewusste Explikationen von (Wert-)Urteilen und Deutungen im Lichte von Präferenzen [sind]“ (ebd., S. 118). Muraca differenziert hierbei zwischen einer potenziell emotional gefärbten, intuitiv hervorgebrachten Wertung einerseits und einem eher bewussten und rational getroffenen Werturteil andererseits. Werte würden demnach weder ausschließlich a priori noch a posteriori entstehen bzw. bestehen. Da sich Werte (bzw. Wertungen) bereits im Prozess einer vagen und intuitiven Begegnung zwischen Subjekt und Objekt und nicht erst infolge eines bewusst getroffenen Werturteils (des Subjekts über das Objekt) konstituieren, seien „Werte keine Eigenschaften, die entweder im Subjekt oder im Objekt sind, sondern […] in der Relation zwischen beiden [entstehen]“ (ebd., S. 118), aber doch den Menschen für ihre Gerinnung (Koagulierung) in einer intersubjektiven Welt benötigten (Muraca 2011). Es steht außer Frage, dass zumindest „auch empfindungsfähige Tiere […] werten [können]“ (Potthast und Ott 2016, S. 59), was Muraca als eine Art Prototyp eines Werturteils beschreibt. Diese Form der Wertung – die nicht zwangsläufig einem artikulierten Werturteil gleichzusetzen sei – könnte wiederum auch bei diversen anderen (empfindungsfähigen oder teleologisch organisierten) Naturwesen festgestellt werden (Muraca 2016). Muraca betrachtet diese Relationen zwischen Entitäten einerseits als Voraussetzung für das Hervorbringen von Wertungen sowie andererseits zugleich als eine konstitutive Voraussetzung dafür, dass diese Entitäten überhaupt entstehen konnten. Der Mensch hingegen nimmt eine gewisse Sonderstellung ein,

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da er als Voraussetzung für das Koagulieren von Werten (im Sinne eines Werturteils) in einer intersubjektiven Welt betrachtet wird und Muracas Ansicht nach (vermutlich) als die einzige Entität dazu fähig sei, sich selbst reziprok als Wesen mit Eigenwert verstehen zu können (Muraca 2011, 2016). Wenn wir also – berechtigter Weise – andere Lebewesen als wertungs- oder eingeschränkt werturteilsfähig verstünden, wären diese Entitäten dennoch Voraussetzung dafür, dass jene Wertungen (durch deren Relationen mit anderen Entitäten) überhaupt erst hervorgebracht würden, was wiederum – in der Terminologie Birnbachers – einem metaethischen Subjektivismus entspricht. Denn für „den metaethischen Subjektivisten […] sind Werte Produkte wertender Wesen. Eigenwerte kamen erst mit dem Menschen in die Welt; es `gibt´ sie nur als menschliche Zuschreibungen“ (Gorke 2018, S. 27). Muraca erachtet die Fähigkeit, Wertung bzw. Werturteile hervorbringen zu können, nicht als das relevante Kriterium für die Aufnahme in die MG, sondern kritisiert, dass, aufbauend auf jener atomistischen Ontologie und Logik, in der anthropozentrischen Tradition Kants die Fähigkeit (rationale und vernunftgeleitete) Werturteile fällen und verstehen zu können, zumeist als das relevante Kriterium fokussiert wurde, um einer Entität wiederum entweder den einen oder den anderen Wert zukommen zu lassen. „Dieser Fokus hat unglücklicherweise die axiologische Komplexität der Mensch-NaturBeziehung auf eine simplizistische Dichotomie zwischen intrinsischen Werten und instrumentellen Werten reduziert“ (Jax et al. 2013 zit. nach Muraca 2016, S. 119). Die Dichotomie des Wertsubjektivismus und Wertobjektivismus solle daher aufgegeben und durch eine adäquatere Axiologie ersetzt werden (Muraca 2011, 2016).12 Bei der Frage, welche Entität und Gemeinschaft welchen Wert besitzen solle, also der Frage der Axiologie, plädiert sie deshalb dafür, die axiologische Kategorie der instrumentellen Werte durch die der relationalen Werte zu ersetzen (2011, 2016). Neben der Kategorie der Eigenwerte stünde somit die der relationalen Werte, die Muraca wiederum in instrumentelle, fundamentale und eudaimonistische Werte untergliedert. „Während Selbstwerte Wesen kennzeichnen, die sich selbst reziprok als Werte in, an und für sich erkennen, bezieht sich der Begriff >relationale Werte< auf die Relationen, die eben jene Wesen konstituieren bzw. ihr Leben ermöglichen und bereichern“ (Muraca 2016, S. 119).

Instrumentelle Werte beziehen sich demnach auf Entitäten, die als Mittel zum Zweck verstanden werden und dadurch keinen Wert für, an oder in sich, sondern nur einen Wert

12Muracas

Kritik an der simplizistischen und dichotomisierenden Betrachtung der Mensch-NaturBeziehung sowie der klassischen anthropozentrischen Position, die hierauf aufbauend die Axiologie entsprechend binär auszurichten pflegt (Mensch mit Eigenwert vs. Natur ohne Eigenwert), scheint m. E. absolut gerechtfertigt. Die Terminologie Birnbachers ermöglicht es jedoch, beide Aspekte getrennt voneinander zu betrachten. Zugleich kann innerhalb der metaethischen Position (nach Birnbacher) auch Muracas Differenzierung zwischen Wertungen und Werturteilen berücksichtigt werden.

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für etwas besitzen. Eudaimonistische Werte umfassen eine in neueren Konzeptionen relativ häufig anzutreffende axiologische Kategorie. „Es handelt sich um Entitäten, Prozesse und Erfahrungen, die für das >gute Leben< eine maßgebliche Rolle spielen und deshalb ebenfalls in den Bereich indirekter und doch sehr verbindlicher Verpflichtungen gehören“ (ebd., S. 120). Hierzu gehören u. a. spirituelle, ästhetische, deutungsbringende und konstitutive Werte, die für die Beziehung untereinander sowie zur Natur von existenzieller Bedeutung sind und somit basale Bestandteile eines guten Lebens konstituieren. Eine Entität, Gemeinschaft oder ein Prozess mit einem solchen Wert wird als etwas verstanden, das gut für etwas an sich ist. „So bilden eudaimonistische Werte die >Quintessenz< menschlichen Lebens über die Schwelle des nackten Überlebens hinaus“ (ebd., S. 120). Die dritte und letzte Unterkategorie der relationalen Werte kommt wiederum diejenigen Entitäten, Gemeinschaften und Prozesse zu, die Leben überhaupt erst ermöglichen. „Fundamentale Werte beziehen sich auf Relationen, die sowohl fundamental-ontologische als auch materielle bzw. substantielle Bedingungen der Möglichkeit von Leben überhaupt und spezifischer von menschlichen Lebensformen sind“ (ebd., S. 119). Hierunter fallen nichtmenschliche Entitäten, deren Gemeinschaften sowie Prozess- und Systemganzheiten, wie z. B. Sauerstoff, die Atmosphäre, aber auch Sauerstoffproduzenten wie Plankton sowie die hier angedeutete Ökodienstleistung selbst. Ihnen liege ein inhärenter Wert inne, der zwar kein intrinsischer Eigenwert, aber äquivalent zu diesem sei (Muraca 2011). Indem Muraca also eine moralische Berücksichtigung aller (in der Umweltethik geläufiger Weise aufgeführten) Entitäten, deren Gemeinschaften und sogar von Prozessen vorschlägt, ließe sich dies – übertragen auf die Terminologie nach Birnbacher – als ein axiologischer Objektivismus auslegen. Da Muraca aber unterschiedliche Wertsetzungen vornimmt, lässt sich ihr Vorschlag des deep anthropocentrism nicht anhand der bisherigen Positionen abbilden, gleicht allerdings in vielerlei Hinsicht der Position einer holistischen Umweltethik. Eines der Hauptargumente gegen eine holistische Umweltethik liege nach Muraca wiederum in der bereits erwähnten dichotomen Axiologie (und Ontologie) sowie der damit verbundenen Problematik, Eigenwerte auch auf Gemeinschaften und Systemganzheiten zu übertragen. „In fact, being an end-in-oneself cannot apply to a collective, since there is no centre of orientation, in which any sort of aim-setting might take place“ (ebd., S. 380). In einer hierzu angehängten Fußnote verweist sie auf Alan Holland, der argumentiert, dass „once we leave the realm of particular individuals, and raise the question of respect or consideration for larger aggregates such as species, ecosystems or even planets, we enter a realm where ethical thinking becomes uncomfortable, precisely because we begin to lose sight of the claims of individuals“ (Holland 1995, S. 813 zit. nach ebd., S. 393).

Eine dualistische Axiologie, die jene Problematik nur unzureichend erfasse, veranlasse uns daher dazu, analog zu Entitäten auch Systemganzheiten und Gemeinschaften entweder einen Eigenwert zuzusprechen oder sie als rein instrumentelle Mittel zu betrachten. Es bedürfe daher einer Axiologie, „in which relational settings, processes and collectives have moral significance independently from the moral standing

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of the individual organisms embedded in them“ (ebd., S. 380). So verweist Muraca darauf, dass bspw. Berge, Flüsse oder spezielle Orte aller Art eine besondere (z. B. ­religiös-spirituelle) Bedeutung für einige (meist indigene) Gesellschaften haben, die jene Orte häufig als besonders wertvoll, schützenswert oder heilig und somit in jedem Falle als nicht substituierbar betrachten. „The mountain is neither an instrument for the life of the community living nearby nor an entity holding inherent moral value in the Kantian-based sense of the term. Rather, it is a basic condition for the people to define themselves, to develop a concept of a `good life´, to care for future generations, to give sense to their existence“ (ebd., S. 389).

Sie fügt hinzu, dass ihrer Ansicht nach, die Verpflichtung einer moralischen Berücksichtigung von unbelebten Kollektiven und Gemeinschaften nicht mit derjenigen vergleichbar sei, die gegenüber einer Entität bestehe, die einen Eigenwert besitzt (ebd.). Die Differenz zwischen einer holistischen Umweltethik und der Position von Muraca ist also nicht die prinzipielle Idee, dass alle Entitäten und Gemeinschaften moralisch berücksichtigt werden sollten. Entscheidend ist, dass die Werthaftigkeiten und damit auch die Berücksichtigungswürdigkeit von Entitäten und Gemeinschaften nicht durch Eigenschaften bzw. Fähigkeiten kategorisiert würde, sondern dies auf der Grundlage ihrer Bedeutung und Relevanz bestimmt werden solle, die sie für das gute Leben der menschlichen Gemeinschaft einzunehmen scheinen (Gorke 2018). Im nachfolgenden Kapitel (Kap. 4) werden beide Vorschläge einer ­ Degrowth-­ Umweltethik reflektiert. Hierbei soll einerseits die Problematik einer biozentrischen Position des I.L.A. Kollektivs sowie Muracas Vorbehalte, Eigenwerte auch auf unbelebte Entitäten sowie Kollektive und Gemeinschaften zu übertragen, erneut problematisiert werden (Abschn. 4.1). Andererseits soll eine kursorische Reflexion des Konfliktbegriffs erfolgen, wie er in der Umweltethik sowie in den betrachteten Beiträgen implizit an Verwendung findet (Abschn. 4.2).

4 Reflexion bisheriger Einsichten Ausgehend von der eigenen Position eines metaethischen Subjektivismus, macht – hypothetisch betrachtet – ein Nachdenken über die axiologische Position nur insofern Sinn, als dass Entitäten existieren müssten, die werten können. Dabei scheint es zunächst zweitrangig, wie bewusst, rational oder vernunftgeleitet eine Entität bzw. deren Wertung (für uns) erscheinen mag. Nur wenn Entitäten existieren, die in irgendeiner Form Wertungen hervorbringen bzw. verstehen können, wäre es in einem sekundären Schritt möglich oder sinnvoll, über eine Theorie nachzudenken, die Werte kategorisiert und diese je nach Position entsprechend auf unterschiedliche Entitäten bzw. deren Gemeinschaften überträgt. Insoweit scheinen Eigenwertzuschreibungen auf den ersten Blick nur für Entitäten von Bedeutung sein zu können, die hierzu (wenn auch in sehr divergenter Weise) selbst in der Lage sind. Allerdings wäre auch die Annahme, die Fähigkeit zu

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werten, sei die für die MG-Aufnahme relevante Eigenschaft, nicht unproblematisch. Unabhängig davon, welches Kriterium herangezogen wird, sagen wir, „es sei logisch zwingend, bestimmte Naturwesen wegen des Fehlens bestimmter Eigenschaften aus der Moralgemeinschaft auszuschließen, begehen […] [wir] einen naturalistischen Fehlschluss. Begnügen […] [wir uns] jedoch damit, für diesen Ausschluss nur eine gewisse Plausibilität zu reklamieren, müssen […] [wir] mit dem Vorwurf mangelnder intersubjektiver Verbindlichkeit und damit der Beliebigkeit rechnen“ (Gorke 2018, S. 50).

Dies legt nahe, dass auch ein axiologischer Objektivismus und innerhalb dieser Position mindestens eine biozentrische Umweltethik wie die des I.L.A. Kollektivs vertreten werden sollte, da sie alle lebenden Entitäten und somit alle potenziell handlungs-, bewusstseins-, leidens- und wertungsfähigen Entitäten moralisch direkt berücksichtigt. Sollen im Sinne des Naturschutzes oder durch die Anerkennung divergenter Metaethiken und spiritueller, religiöser und anderer Denkweisen (Ontologien und Epistemologien) und damit verbundenen Wertkategorien (Axiologien), aber auch unbelebte Entitäten oder Kollektive und Gemeinschaften wie bspw. eine Tropfsteinhöhle, das Great Barrier Reef, ein Berg, eine Tier- oder Pflanzenart oder die Natur in ihrer Gänze, die nach dem klassischen euro-atlantischen Verständnis keine dieser Fähigkeiten oder Eigenschaften besitzen, moralisch berücksichtigt und geschützt werden, kann die Position des Biozentrismus als individualistische, auf lebende Entitäten ausgerichtete, Ethik hierfür keine Begründung liefern (Gorke 2018; Muraca 2011). Insofern wäre es naheliegend, Muracas Vorschlag eines deep anthropocentrism als Degrowth-Umweltethik heranzuziehen, da sie mit ihrem Konzept auch unbelebte Entitäten sowie Kollektive zu berücksichtigen vorschlägt. Sie definiert ihre Position allerdings klar als eine anthropozentrische und hält es nicht für notwendig oder erforderlich, nichtmenschlichen Entitäten ebenfalls einen Eigenwert zuzusprechen. Muracas Einschätzung nach wären (vermutlich) nur Menschen dazu in der Lage, Werturteile (im Sinne von Eigenwerten) hervorzubringen und sich selbst als Wesen mit entsprechenden Werten und Rechten zu verstehen. Selbst wenn der Mensch nur sich eine solche Sonderstellung als moralisches Subjekt zugesteht, „ist es dagegen falsch daraus abzuleiten, es könnten auch nur Menschen Gegenstände direkter Verantwortung und damit moralische Objekte sein“ (Gorke 2018, S. 29). Wie Gorke und auch Ott betonen, „impliziert ein erkenntnistheoretischer Anthropozentrismus keinen ethischen“ (ebd., S. 29). Unabhängig davon, ob wir an unsere Erkenntnismöglichkeiten gebunden sind und als die einzigen Entitäten zu Werturteilen oder einer solch komplexen Vorstellung wie Eigenwerten fähig sind, impliziert dies keineswegs, dass eine direkte moralische Verantwortung im Sinne von Eigenwerten nur gegenüber Menschen bestehen könne (Gorke 2018; Muraca 2016). Zwar sagt auch Muraca, dass „der epistemische noch keinen moralischen Anthropozentrismus [impliziert]“ (Muraca 2016, S. 117), doch überträgt sie die Idee eines Eigenwertes eben nicht auf Lebewesen, die (ihrer Einschätzung nach) nicht selbst zu dieser

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Einsicht gelangen können.13 „Aus einem methodischen Anthropozentrismus folgt kein inhaltlicher“ (Gorke 2018, S. 29). Würden wir also die Axiologie reformieren, könnte sich zwar die Gewichtung und Hierarchisierung von Werturteilen verändern, doch diejenigen, die Werturteile ausstellen, sind und bleiben letztlich Menschen. Wir entscheiden, ob wir den Wert einer anderen Entität oder Gemeinschaft als instrumentell, fundamental, eudaimonistisch, inhärent oder eben doch – wie unseren eigenen – als intrinsisch betrachten wollen. So verweist Muraca selbst mehrmals darauf, dass „every kind of relational value can be expressed in terms of pure instrumentality as long as we agree to overlook significant aspects“ (Muraca 2011, S. 387).14 Trotz des Vorschlags von Muraca, nicht nur alle Menschen, sondern zugleich auch alle Entitäten und Gemeinschaften moralisch zu berücksichtigen, dürfte dies unsere axiologische Sonderstellung sowie die Bezeichnung als deep anthropozentrism erklären. Würde die Degrowth-Bewegung ihrer Idee von Nachhaltigkeit eine Umweltethik der relationalen Werte des deep anthropozentrism unterlegen, so wäre jedoch die Vermutung gerechtfertigt, dass wenn „[…] es, um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen, zutreffen sollte, dass die Menschen sich selbst und der gesamten Erde die Epoche des Anthropozäns beschert haben, […] [auch] die Umweltethik eine der geistigen Gestalten des Anthropozäns sein und bleiben [wird]“ (Ott et al. 2016, S. 16).

Ziel ist es allerdings nicht, diese Vermutung hinzunehmen oder gar zu bekräftigen, sondern Denkanstöße bereitzustellen, die sie infrage stellen und herauszufordern versuchen. Es soll daher nun Muracas Vorbehalt aufgegriffen werden, Eigenwerte auch auf unbelebte Entitäten, Kollektive und Gemeinschaften zu übertragen.

4.1 Eigenwerte für unbelebte Entitäten, Kollektive und Gemeinschaften Muracas Vorbehalt, unbelebte Entitäten, Kollektive und Systemganzheiten wie bspw. einen (spirituell bedeutsamen) Berg moralisch direkt zu berücksichtigen, begründet sich u. a. darin, dass dieser kein teleologisches Orientierungszentrum besäße, dass mit dem einer lebenden Entität vergleichbar sei. Nach euro-atlantischem Verständnis wird die Behauptung, dass auch unbelebte Entitäten oder Kollektive irgendeine Form von

13Being ends in themselves is not a matter of beeing valued or acknowledged as such, but being capable of valuing one´s own life, distinguishing between better and worse, aiming at a better life“ (Muraca 2011, S. 385). 14Auch der Eigenwert eines Menschen kann problemlos in Zweck-Mittel-Relationen ausgedrückt werden. Ebenso können wir uns auch als Mittel für weitere bzw. höhere Zwecke verstehen, „doch würde kaum jemand die Behauptung akzeptieren, sein Wert erschöpfe sich hierin. Wir betrachten es als Selbstverständlichkeit, dass unser Leben über all [sic!] solche Mittelfunktionen hinaus einen Eigenwert besitzt“ (Gorke 2018, S. 35).

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Interesse, Teleonomie oder Zentrum besäßen oder sogar mit einem lebenden Einzelorganismus vergleichbar wären, zumeist kritisch betrachtet oder abgelehnt, weshalb jene Entitäten und Gemeinschaften nach hiesigem Verständnis auch nicht im Sinne eines Individuums geschädigt bzw. moralisch schlecht behandelt werden können (Gorke 2018; Muraca 2011).15 Es gibt jedoch zahlreiche Beispiele, in denen belebten wie unbelebten Entitäten und Gemeinschaften eine direkte moralische Berücksichtigung und zuweilen sogar auch ein eigenständiger Rechtsstatus (als Person) zugesprochen wird. Die wohl bekannteste Zuschreibung lässt sich seit 2008 in der Verfassung Ecuadors wiederfinden, die der gesamten Natur das Recht auf Eigenständigkeit zuspricht. Ein ähnliches Verständnis kommt bspw. auch in der Metapher der Pachamama (Mutter Erde) oder der sog. Gaia-Hypothese zum Ausdruck, wonach die Erde ein sich selbstregulierendes Lebewesen sei (Latour 2018). Neuseeland betrachtet seit 2017 auf Drängen der Iwi, einem Teil der Maori, den Whanganui Fluss sowie den Te Urewera Nationalpark als eigenständige Entitäten mit dem Status von Rechtssubjekten. „Courts in India have recogniced the Ganga and Yamuna Rivers, the Gangotri and Yamunotri, glaciers from which those rivers arise, and related forest and watercourses as legal entities with rights“ (Cullinan 2019, S. 244). Kolumbien übertrug 2016 ähnliche Rechte auf den Atrato Fluss sowie 2018 auf eine Hochebene von Pisba. Ähnlich verbindliche Zuschreibungen lassen sich in Brasilien und Mexiko finden. In buddhistisch geprägten Ländern besteht zu vielen Bergen und Regionen des Himalayas eine enge spirituelle Verbindung, wonach das Betreten dieser Orte untersagt ist. Aborigines verbinden wiederum eine sehr ähnliche spirituelle Wertvorstellung und Beziehung mit dem Berg Uluru (ebd.; Prinz 2018), dessen Besteigung im Oktober 2019 gesetzlich untersagt wurde. Da wir also einen Fluss, Berg und sogar die Erde sowohl gedanklich als auch empirisch als (ein für uns bedeutsames) Objekt fassen können, „setzen wir dabei voraus, dass dieses Gebilde eine mit sich über eine gewisse Zeit hin identische Einheit darstellt“ (Gorke 2018, S. 106). Auch wenn wir bei derlei Systemen und Entitätsgemeinschaften keine (mit der unseren vergleichbaren) Zielgerichtetheit und kein Zentrum annehmen (bzw. uns dies mittels der hierfür notwendigen Analogiebildungen wesentlich schwerer gelingt) und ihnen folglich nicht wie Lebewesen Schaden oder Leid zugefügt werden kann, so können wir sie doch als Einheiten wahrnehmen und denken, auf sie einwirken, ihren natürlichen Entwicklungsverlauf verändern und sie im schlimmsten Falle zerstören. Viele solcher Gemeinschaften und Systeme betrachten wir bereits als spirituell bedeutsam, heilig oder systemrelevant, um unsere fundamentalen oder eudaimonistischen Bedürfnisse zu befriedigen und schreiben ihnen dadurch eine besondere Bedeutung und Schutzbedürftigkeit zu. Wenn es uns also gelingt, eine

15Dies

scheint eines derjenigen Postulate des epistemischen Territoriums der Moderne zu sein, das bezüglich der hiesigen Thematik andere Philosophien und Weltanschauungen – bspw. durch den Vorwurf einer Mystifizierung oder Vitalisierung von Natur – häufig als vermeintlich verfehlt oder unwissenschaftlich abwertet und ausschließt.

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unbelebte Entität oder ein Kollektiv als Einheit zu betrachten und sie als Objekt von Bedeutung mit moralischer Relevanz zu verstehen, der wir einen speziellen Wert für uns und zukünftige Generationen zusprechen (können), „so ist schwer einzusehen, warum diese Identität und Einheitlichkeit dann nicht ausreichen sollte, um […] [sie] auch als direktes Objekt von Moral, also als Selbstzweck, schützen zu können“ (ebd., S. 138).16 Ob von (meist indigenen) Minderheiten aufrechterhalten oder gesellschaftlich etabliert, ob über (Ethik-)Tribunale (Ávila-Santamaría 2019) eingefordert oder gesetzlich verpflichtend, jene Betrachtungsweisen und Wertzuschreibungen gehen sehr häufig mit einer Post-Extraktivismus-Perspektive einher. Diese beschreibt eine Bewirtschaftungsform der Natur auf einer Art Minimalstandard, wonach aus der Natur nur die für die gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbaren Ressourcen entnommen werden sollten (Brand 2017; Gudynas 2012). „Im Grunde kann man bei […] [dieser] Variante nicht mehr von Extraktivismus als Entwicklungsmodell sprechen, sondern eher von umsichtigen und gesellschaftspolitisch vereinbarten Formen der Rohstoffextraktion und -nutzung. Verbunden mit dieser ­ [post-extraktivistischen] Perspektive sind [häufig zugleich] Ansprüche an eine Dekolonisierung des Wissens und der Wissenssysteme, denn die europäische instrumentelle und imperiale Logik wird kritisiert und abgelehnt“ (Brand 2017, S. 298).

Brand betont zudem, dass der Post-Extraktivismus gegenüber der Degrowth-Perspektive deutlicher die herrschaftlichen, kolonialen und zerstörerischen Mechanismen der imperialen Lebensweise betone und diese Strukturen speziell auf die Natur bezogen hervorhebe. Degrowth sei hingegen mehr auf den Menschen fokussiert und somit anthropozentrischer ausgerichtet als es bei der Post-Extraktivismus-Perspektive der Fall sei (ebd.). „Eine wichtige Anregung für die Degrowth-Debatte kann […] auch die Kritik am westlichen, rationalistischen und dichotomisierenden Naturverständnis und an den entsprechenden Naturverhältnissen liefern. Eine solche Perspektive ist nicht neu für die europäische Diskussion, in der Degrowth-Perspektive ist sie aber bislang kaum verwurzelt. Die Diskussion um die Rechte der Natur kann und sollte im Bereich Degrowth stärker geführt werden“ (ebd., S. 306).

Bei einer Orientierung an jenen Konzepten, die oft außerhalb des epistemischen Territoriums der Moderne (Vázquez 2011) liegen und häufig unter dem ­Post-Development-Frame (Kothari et al. 2019) gebündelt werden, bestünde allerdings

16Wie Dierks anmerkt, handelt es sich hier häufig nur um eine logische und nicht zwingend moralische Dimension. Er fügt aber hinzu, dass das, was bei einem „Sandhaufen und Wackerstein schnell als kontraintuitiv erscheint, […] nicht zwangsläufig für alle nicht-teleonomen Entitäten gelten [muss]. Wenn man sich z.B. ein Ökosystem wie das Great Barrier Reef vor Augen führt, dann könnte die vorherige Kontraintuitivität des moralischen Respekts vor nicht-teleonomen Entitäten wie solch einem Ökosystem schwinden“ (Dierks 2016, S. 182).

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die Gefahr einer Simplifizierung oder Vereinnahmung (Siehe Kap. 6). Obwohl sich Post-Extraktivismus- bzw. Post-Development- und Degrowth-Perspektiven gegenseitig bereichern könnten, soll dies nicht bedeuten, dass eine gemeinsame Grundkonzeption universell auf alle gesellschaftlichen oder geographischen Kontexte übertragen werden sollte (Gudynas 2012). Doch scheint es gerade für Degrowth lohnend, sich intensiver mit jenen Perspektiven zu beschäftigen und bspw. auch eine moralische Berücksichtigung von unbelebten Entitäten sowie Kollektiven in Erwägung zu ziehen.17 Häufig scheint eine ablehnende Haltung gegenüber jenen Perspektiven dadurch begründet, als dass die resultierenden Einschränkungen, die aufgrund ethischer Konflikte auftreten würden, als zu radikal empfunden werden. Auf diesen Aspekt wird im folgenden Abschnitt eingegangen.

4.2 Eine Reflexion des Konfliktbegriffs Wenn einer Entität oder Gemeinschaft ein Eigenwert zugesprochen wird, `muss´ diese moralisch direkt berücksichtigt werden, wobei – sofern möglich – deren Eigenwert zu keiner Zeit infrage gestellt werden darf. Dass dies bereits im Rahmen einer ausschließlich zwischenmenschlichen Ethik unmöglich ist, zeigen diverse Beispiele (unlösbarer) ethischer Konflikte, die zumeist als ethische Dilemmata bezeichnet werden. Innerhalb der euro-atlantischen Ethikvorstellung(en) werden viele solcher Konflikte meist dichotom betrachtet und sofern sie unlösbar erscheinen, wenn überhaupt, mit größtmöglicher Sorgfalt diskutiert. Übertragen auf den Bereich der Umweltethik würden derlei ethische Konflikte, je nach umweltethischer Position, an Zahl und Intensität entsprechend zunehmen. Zugleich wäre vermutlich ein weitaus größerer Teil jener Konflikte nicht lösbar, da wir uns bspw. von lebenden Entitäten ernähren müssen, was bereits im Falle des Patho- oder Biozentrismus zu erheblichen und oftmals sogar unauflösbaren moralischen Zielkonflikten führen würde. Statt des potenziellen Gebots oder einer indirekten Pflicht, andere Lebewesen nicht zu verspeisen, bestünde die direkte Pflicht, dies – insofern überhaupt noch möglich – zu unterlassen und ihren Eigenwert und das Recht auf Eigenständigkeit anzuerkennen (Gorke 2018). Wir wären vor unzählige unlösbare Konflikte gestellt, die es zu bearbeiten gelte. So könnte eingewendet werden, dass, wie am Beispiel der Ernährung angedeutet, ein konsequenter biozentrischer oder gar holistischer Standpunkt

17Wie eine solche – zwar ausbaufähige – Verbindung aussehen könnte, zeigen die Proteste und Narrative von Ende-Gelände. „Die jüngste großangelegte Degrowth-Aktion hat sich insofern ganz direkt von Post-Development inspirieren lassen, als das Ende Gelände-Bündnis (gegen Kohleabbau) den Slogan >>Leave it in the groundgutes Leben g“ (2014, S. 479), in der er den Auslöser für die wachsende Ungleichheit sieht, eine gewisse Prominenz erarbeitet (ebd.). Diese Formel besagt, „dass die Kapitalrendite größer ist als die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate“ (Bank 2015, S. 15; van Treeck 2015). Damit geht nach Auffassung von Piketty einher, dass dies „konstitutiv zu wachsender Vermögensungleichheit bei[trägt]“ (2014, S. 479), die damit „schneller zunehme als die Wirtschaftsleistung“ (Eißel 2018, S. 91). Der häufig angenommene Effekt, dass die Steigerung des Reichtums den Armen langfristig zugutekommen würde, muss nach Ansicht des Ökonomen damit als widerlegt gelten, gerade da die Ungleichheit „kein zufälliges, sondern ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus“ (ebd.) sei. So schreibt Piketty: „Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen“ (2013, S. 13 f.). So „ist die Armut nicht nur angewachsen, sie hat sich darüber hinaus verfestigt. […] Die Abstiegsgesellschaft tritt hier, so könnte man sagen, in inverser Form auf: als Mangel an Aufstieg“ (Nachtwey 2018, S. 135). Denn „[n]icht im bloßen Anwachsen der sozialen Ungleichheit, sondern in den Erschütterungen der Arbeitsverhältnisse liegt die Hauptursache für den Übergang zur Abstiegsgesellschaft“ (ebd., S. 137) (ebd., S. 135 ff.). Es lässt sich also annehmen, dass die inzwischen gesellschaftlich und wissenschaftlich breit geführten Debatten um Ungleichheit und Wirtschaftswachstum die Bundesregierung in ihrem letzten Bericht 2017 dazu veranlasst haben, die positive Wechselwirkung auch hinsichtlich der steigenden Einkommensungleichheit und anhaltenden Vermögensungleichheit und der davon ausgehenden gesellschaftlichen Gefahr stärker zu hinterfragen. Dennoch wird vermutlich nur aufgrund der gegenwärtigen Theorien, die davon ausgehen, dass steigende Ungleichheit zu sinkendem Wirtschaftswachstum führen könnte, bzw. sinkende Ungleichheit zu steigendem Wirtschaftswachstum (Bundesregierung 2017; Hegemann 2020, S. 72) und dementsprechend zum Schutz des deutschen Wirtschaftswachstums, eine Verringerung von Ungleichheit verfolgt. Letztlich erkennen die Verfasser*innen die möglichen negativen Auswirkungen von Ungleichheit auf Wachstum noch immer nicht vollständig an, denn es wurden wie

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bereits beim vierten ARB nach Erarbeitung durch das BMAS im Zuge einer Intervention durch das Bundeskanzleramt zentrale Aussagen nicht in die endgültige Fassung übernommen. Dabei sei unter anderem ein Absatz bezüglich ebenjener möglicherweise negativen Auswirkungen hoher Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum gekürzt worden (Butterwegge 2017; Öchsner 2017). Besonders die Verfasser*innen des ersten ARB – in gemäßigterer Form jedoch ebenfalls die Autor*innen des aktuellen ARB – sind also von einem stark neoklassischen Verständnis der Ökonomie geprägt und damit als Basis ihres Wachstumsstrebens davon überzeugt, dass der Staat in möglichst geringem Maße in die sich ansonsten frei entfaltende Kraft der Wirtschaft eingreifen sollte. Ungleichheit wird in dieser Tradition trotz aktuell anderslautender Theorien als durchaus positive Kraft für Wachstum und wirtschaftliche Prosperität angesehen. Hierbei werden jegliche ökologischen und sozialen Folgen bis auf die Wirkung von Ungleichheit auf die Stabilität der Gesellschaft und Wirtschaft vollständig ausgeblendet. Wirtschaftswachstum wird eine vollumfänglich positive Wirkung zugeschrieben, die im Rahmen der untersuchten ARB ebenfalls im Zeitvergleich an keiner Stelle kritisch hinterfragt wird. Da die Bundesregierungen also nicht davon überzeugt sind, dass eine expansive Fiskalpolitik und damit einhergehende zusätzliche Staatsausgaben im Sinne Keynes zu den von ihm behaupteten Wirkungen, wie einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, führen wird und keine interventionistische Wirtschaftspolitik proklamieren (Bundesregierung 2001; ebd. 2017; Hegemann 2020, S. 53, 59, 62 f., 70 f.), zeigt sich hier ein deutliches Vertrauen in die Selbstregulation der Märkte, das stark in der Tradition der neoklassischen Denkrichtung der Volkswirtschaftslehre steht. Demgegenüber wird einer aktiven Rolle des Staates beispielsweise zur Erreichung von Vollbeschäftigung sowie einer im Sinne des Keynesianismus antizyklischen Konjunkturpolitik kaum Aufmerksamkeit geschenkt (Gabler Wirtschaftslexikon 2019c).

4.3 Königsweg Vollbeschäftigung Vollbeschäftigung und die Schaffung von Arbeitsplätzen werden von den Verfasser*innen zu beiden Untersuchungszeitpunkten als maßgeblich zu verfolgende Ziele für eine stabile Ökonomie, Gesellschaft und Demokratie proklamiert. Sie weisen an wiederholter Stelle auf das Potenzial des Arbeitsmarktes und die Relevanz einer möglichst hohen Erwerbstätigenquote hin (Bundesregierung 2001; ebd. 2017; Hegemann 2020, S. 53, 62 f., 71). Wirtschaftswachstum wird demnach an eine möglichst hohe Beschäftigungsquote, an das Leitmotiv der Vollbeschäftigung, geknüpft. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass ebenjene hohen Beschäftigungszahlen wiederum durch ein hohes Wirtschaftswachstum erreicht werden, also eine Wechselwirkung vorherrscht (ebd. 2017; ebd., S. 62). Vollbeschäftigung wird somit als universales Mittel zur Erreichung von arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Zielen angesehen. Insofern werden alle mit Armut und Ungleichheit einhergehenden Faktoren immer im Kontext

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der Erwerbstätigkeit gesehen. Denn es wird davon ausgegangen, dass sich sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeitsvorstellungen wie auch -verhältnisse aufgrund mit Arbeitslosigkeit einhergehender gesellschaftlicher Ausgrenzung dann verschlechtern, wenn die Arbeitslosenzahlen steigen (ebd. 2001; ebd. 2017; ebd., S. 47, 59 f.). Dies wirkt sich in den Augen der Autor*innen negativ auf die gesellschaftliche Stabilität aus (ebd. 2001; Hegemann 2020, S. 52). Des Weiteren verstehen die Verfasser*innen Erwerbsarbeit im Jahr 2001, aber auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt und somit in Zeiten eines sich wandelnden Arbeitsmarktes und der gestiegenen Bedeutung atypischer Beschäftigung (ebd. 2017; Hegemann 2020, S. 64), noch immer als letzte Bastion für Unabhängigkeit und Selbstbestätigung des Menschen (ebd.; ebd., S. 68). Insofern überrascht es kaum, dass insbesondere die Verfasser*innen des fünften ARB Erwerbsarbeit als überaus effektives Mittel zur Verhinderung von Sozialhilfebezug und (Kinder-)Armut geltend machen (ebd.; ebd., S. 63, 66). Armut entstehe und verstärke sich durch Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen (ebd. 2001; ebd., S. 48), ebenso wie die allgemeine Lebenssituation und auch die allgemeine Gesundheit von Erwerbsarbeit und dem damit verbundenen Einkommen beeinflusst werde (ebd. 2001; ebd. 2017; ebd., S. 53, 68). Es wird deutlich, dass beide Bundesregierungen von einem Konzept überzeugt sind bzw. waren, bei dem die individuelle Lebenszufriedenheit eng an die Höhe des jeweiligen Einkommens geknüpft ist und dass es daher gilt, die Erwerbsarbeitszahlen zu erhöhen, damit sich dadurch auch der gesellschaftliche Status verbessern kann (ebd. 2001; ebd., S. 53). Die Autor*innen erwähnen zwar, dass trotz Beschäftigungs- und Einkommenszuwächsen die Einkommensungleichheit auf ähnlichem Niveau verbleibt (ebd. 2017; ebd., S. 60), aber lassen außer Acht, dass die Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung ebenfalls mit prekären Beschäftigungsformen einhergeht, bei denen bezweifelt werden kann, inwieweit die Höhe eines so generierten Einkommens als ausreichend für die Lebenszufriedenheit empfunden wird, besonders wenn der wohlhabende Teil der Gesellschaft mit verschiedenen Maßnahmen eher entlastet wird (Butterwegge 2017). So kann davon ausgegangen werden, dass auch die Verfasser*innen die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland als das im Ausland bewunderte „German Job Miracle“ (Straubhaar 2012, S. 4) anpreisen und Vollbeschäftigung für „die Institutionalisierung von Übergangsarbeitsmärkten“ (Schmid 2002, S. 14) aufgrund der Annahme proklamieren, dass diese die Möglichkeit bieten würden, „in einer sozial abgesicherten und koordinierten Weise zwischen verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen […] zu wechseln oder verschiedene Arbeitsformen je nach den Bedürfnissen der individuellen Lebenslage zu kombinieren“ (ebd.). Im Gegensatz hierzu wird jedoch oftmals betont, dass sich die nach Einführung der Hartz-Reformen verringernde Arbeitslosigkeit maßgeblich auf prekäre und instabile sowie atypische Beschäftigung zurückführen lasse und nicht mit den Nachkriegsjahren, die auf Vollbeschäftigung mit Normalarbeitsverhältnissen beruhten, vergleichbar seien (Promberger 2012, S. 33 ff.). Während nämlich die Arbeitslosigkeit ab 2005 zwar zurückging, stieg die Zahl der Leih- und Zeitarbeitnehmer*innen an, außerdem wuchs befristete Beschäftigung und Teilzeitbeschäftigung deutlich und über eine Million

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Menschen musste ergänzende Leistungen über Hartz IV beziehen (ebd., S. 36). Insofern wird oftmals davon gesprochen, dass eine Gruppe von Menschen in Normalarbeitsverhältnissen einer „wachsende[n] Gruppe von Arbeitnehmern gegenüber steht, die zu schlechteren Bedingungen arbeiten“ (ebd., S. 37). Daran anschließend schreibt Kocka: „Jeder Dritte arbeitet schon in Teilzeit, befristet, als Leiharbeiter oder in einem Minijob. Die Elastizität der Erwerbsarbeit und die Fluidität der Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Die Flexibilitätszumutungen an die Einzelnen steigen. Der Arbeitsplatz verliert die klaren Abgrenzungen, die er erst im 19. Jahrhundert gewann“ (2015, S. 109).15 Daher, auch allen Debatten um die Industrie 4.0 zum Trotz, befindet sich die Erwerbstätigkeit in Deutschland zwar auf Rekordniveau, „[d]as Arbeitsvolumen (geleistete Arbeitsstunden) hat aber nicht in gleichem Maße zugenommen. Bezogen auf den einzelnen Erwerbstätigen ist es sogar rückläufig. D. h., es hat eine Verschiebung aus der Erwerbslosigkeit in prekäre Beschäftigung stattgefunden. Die Ausweitung unsicherer, niedrig entlohnter Beschäftigung macht die strukturelle Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung teilweise unsichtbar“ (Dörre 2013, S. 6), sodass „eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft entstanden“ (ebd.) sei, bei der selbst der Begriff der sogenannten „atypischen Beschäftigung mittlerweile fehl am Platz [scheint], da die Formen der Beschäftigung, die er erfasst, nicht mehr atypisch sind, sondern – im Gegenteil – typisch werden“ (Nachtwey 2018, S. 140). Des Weiteren gehe die „gesellschaftliche Integrationsfunktion“ (ebd.) von Arbeit nach und nach verloren, „wenn in den unteren Lohngruppen […] [selbst] Vollzeitbeschäftigung nicht mehr vor Armut schützt“ (ebd.). So zeigt sich, dass „[d]ie Zahl der Berufstätigen, die unter die Schwelle der Armutsgefährdung fallen, […] sich zwischen 2004 und 2014 verdoppelt [hat]. Damit ist die Erwerbsarmut in der Bundesrepublik stärker gestiegen als in jedem anderen EULand“ (ZDF 2019). Die Annäherung an das Ziel der Vollbeschäftigung und Erwerbsarbeit generell schützen demnach nicht vor Armut, sondern eine Erhöhung dieser Zahlen wirkt vielmehr beschönigend im Vergleich zu den offiziellen Statistiken, wird allerdings zu beiden Untersuchungszeitpunkten als willkommener Ausdruck einer prosperierenden Arbeitsmarktsituation und eines hohen Wohlstandsniveaus der Gesellschaft geltend gemacht (Bundesregierung 2001; ebd. 2017; Hegemann 2020, S. 47, 53, 63). So zeigt sich denn auch, dass seit der Finanzmarktkrise das BIP in Deutschland immer weiter wächst, während jedoch die Armutsquote ebenfalls steigt, was eine Entkoppelung der wirtschaftlichen Entwicklung von der Armutsentwicklung deutlich macht (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband 2019, S. 11): „Zuwächse

15So zeigt sich, dass heutzutage immer mehr Beschäftigte über Stress klagen und gerade Leiharbeitnehmer*innen häufiger unter psychischen Problemen leiden (DGB 2019b; Groll 2019; FAZ 2020). Zudem hat sich die Zahl und der Anteil von Mehrfachbeschäftigten in Deutschland seit 2003 „auf ungefähr 3,5 Millionen“ (Kretschmar 2020) mehr als verdoppelt, „obwohl sich der Arbeitsmarkt in einem kräftigen und nachhaltigen Aufschwung befindet“ (Klinger und Weber 2019).

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im Bruttoinlandprodukt […] finden ganz offensichtlich nicht ihren Weg zu den Armen, sondern stoßen auf Verteilungsstrukturen, die im Ergebnis und im längerfristigen Trend immer mehr Armut erzeugen“ (ebd.). Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für eine Diskussion des Konzepts der Vollbeschäftigung aus einer postwachstumstheoretischen Perspektive. So schreibt Alcott, dass Armut keineswegs automatisch mit dem nicht Vorhandensein einer Erwerbstätigkeit Hand in Hand gehe, weshalb armutsverringernde Maßnahmen ebenfalls eine anderweitige Herangehensweise benötigen würden, als sie von den Bundesregierungen verfolgt wird. Demnach könne aus postwachstumstheoretischer Sicht das Recht auf Arbeit durch eine „Job Guarantee“ (2013, S. 56) für die Erreichung von Vollbeschäftigung umgesetzt werden, allerdings mit einer Reduktion der Wochen- und Tagesarbeitszeit, beziehungsweise mit einer gerechten Verteilung von Arbeitsstunden, deren gesellschaftlicher Nutzen deutlich die monetären Kosten übersteige (Ayoub 2017; Alcott 2013, S. 56 ff.). Denn „[d]urch eine Verkürzung der Erwerbsarbeit ließen sich Selbst- und Fremdversorgung so kombinieren, dass die Abhängigkeit von einem monetären Einkommen sinkt“ (Paech 2018, S. 120). In eine ähnliche Richtung deutet ebenfalls Urban in seinem Fazit: „Nicht Niedriglöhne, ausufernde Arbeitszeiten, verschleißende Arbeitsbelastungen und Druck auf Arbeitslose, sondern ein starkes Flächentarifvertragssystem, faire Löhne und sichere Beschäftigung, Investitionen in Bildung und Qualifizierung sowie humane Arbeitsbedingungen weisen die richtige Richtung für eine an Guter Arbeit orientierte, wohlfahrtsstaatliche Vollbeschäftigungspolitik“ (2012, S. 12). Insofern kann aus dieser Perspektive die in den ARB nachgewiesene Konzentration der Bundesregierungen auf Vollbeschäftigung zur Verringerung von Armut durchaus positive Wirkung zeigen, allerdings lässt sich die bisherige Umsetzung in dieser Form keineswegs als zielführend betrachten, weshalb dahingehend deutliche Veränderungen benötigt werden, ohne jedoch Vollbeschäftigung generell ablehnen zu müssen.

4.4 Illusion der Freiheit Letztendlich zeigt sich in den analysierten Sprechakten ein Verständnis der Gesellschaft und ihrer Individuen, das maßgeblich von Effizienz- und Produktivitätsmaßstäben beeinflusst ist. Wirtschaftswachstum lässt sich im Verständnis der SKH besonders durch eine Stärkung des individuellen „Humanvermögens“ steigern, weil dieses die Wettbewerbsfähigkeit fördere und damit ein Mehr an Investitionen und Beschäftigten sowie eine Verringerung des Armutsrisikos und der Arbeitslosigkeit ermögliche (Bundesregierung 2001; Hegemann 2020, S. 56). Außerdem begreifen die Bundesregierungen die Stärkung von Bildung und Wissen als Quelle für Wohlstand und damit als umfassende Handlungsregel zur Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung und für die aktuellen Veränderungen und Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. In diesem Sinne ist die

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Bundesregierung im Jahr 2001 davon überzeugt, dass arbeitslos gemeldet ist, wer geringe Bildung und einen niedrigen Berufsabschluss aufweist (ebd.; ebd., S. 53), weshalb im aktuellen ARB das sogenannte lebenslange Lernen als besonders notwendig erachtet wird (ebd. 2017; ebd., S. 64 f.). Damit reagieren die Verfasser*innen auf Zeiten sich wandelnder Arbeitsmärkte und neuer Beschäftigungsformen, in denen sie davon ausgehen, dass zwar lineare Karrieremodelle, jedoch Normalarbeitsverhältnisse noch nicht gänzlich der Vergangenheit angehören. Allerdings werden auch keinerlei Maßnahmen zur Stabilisierung der Anzahl von Normalarbeitsverhältnissen vorgeschlagen (ebd.; ebd., S. 65). Gleichzeitig wird dem Wirtschaftswachstum unterstellt, es sei in der Lage, „gute“ und faire Arbeitsplätze zu schaffen (ebd.; ebd., S. 58, 72), wobei der sich verändernde Arbeitsmarkt dafür noch flexibler, also mithilfe von Teil-, Leih- und Zeitbeschäftigung und das Erwerbsarbeitsleben generell länger gestaltet werden soll, was vermutlich auch aufgrund des demografischen Wandels und der alternden Gesellschaft als Ziel verfolgt wird (ebd. 2001; ebd. 2017; ebd., S. 52, 68).16 Demgegenüber wird (Langzeit-)Arbeitslosigkeit als bloßer Störfaktor angesehen, den es nach Ansicht der Bundesregierung im Jahr 2001 besonders für die Stärkung des Wirtschaftswachstums (ebd.; ebd., S. 54) und für die Bundesregierung im Jahr 2017 besonders zur Steigerung des Wohlbefindens, ausgewogener Gerechtigkeitsvorstellungen und Stabilität der Gesellschaft zu verringern gilt (ebd.; ebd., S. 65). Die Bundesregierungen sind insofern beide von einem Menschenbild geprägt, bei dem der Mensch als Produktivkraft und Kapital generierendes sowie von Lohnarbeit abhängiges Wesen zur Wohlstandsmehrung und Wirtschaftswachstumssteigerung nutzbar gemacht werden muss (ebd. 2001; ebd. 2017; ebd., S. 56, 70). Außerdem verdeutlicht die Koppelung der Lebenszufriedenheit an das Einkommen einen vollständig auf monetäre Ziele ausgerichteten Lebensentwurf. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht an diesem System teilhaben (können oder wollen), sollen möglichst zeitnah dazu befähigt werden, da sie ansonsten als „inaktive“ oder „passive“ Teile der Gesellschaft (zu) wenig zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, was in diesem Verständnis wiederum die Gerechtigkeitsvorstellungen untergräbt (ebd. 2017; ebd., S. 62). So wird die Verbesserung von Chancengleichheit für den Sozialstaat zwar als wichtig angesehen, aber ebenfalls als zusätzliche Investition in das „Produktivkapital einer Gesellschaft“ (Bundesregierung 2017, S. XL) verstanden (ebd.; Hegemann 2020, S. 70).

16Dennoch spielt Migration in den Überlegungen der SKH noch immer keine Rolle zur Abfederung der Alterung der Bevölkerung, obwohl Zuwanderung für die Wirtschaft und die Sozialsysteme in Zukunft immer wichtiger werden wird. „Ihre Zahl wird in Zukunft steigen und letztlich dürften alle EU-Staaten notwendigerweise Zuwanderungsländer werden“ (Klingholz et al. 2019, S. 6). So werden sich aufgrund des Alterungsprozesses bis 2030 allein in Deutschland voraussichtlich fünf Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter befinden (ebd.).

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Dementsprechend bleiben Modelle radikalerer Umverteilung des geschaffenen Mehrwerts, die eine Reduktion der gesellschaftlich zu leistenden Netto-Arbeitsstunden ermöglichen würden, weil die durch Technologie, Innovation und Effizienz entstehenden Potenziale und Gewinne an die Gesamtbevölkerung weitergeleitet werden könnten, von der SKH gänzlich unbehandelt. Aber auch Konzepten des „guten Lebens“ oder alternativen Arbeitsmarktmodellen wird keinerlei Stellenwert eingeräumt, vielmehr scheint ein solches gutes Leben ausschließlich an die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und somit an ein von Produktivität und Konsum gekennzeichnetes Leben gekoppelt zu sein, das wiederum vom Gedanken des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung geprägt ist. Insofern haben sich nach Welzer „mit der Errichtung der materiellen und institutionellen Infrastrukturen der Moderne […] zugleich die mentalen Infrastrukturen ihrer Bewohner verändert […] – und zwar so, dass ihnen die Zwänge zur permanenten Fortentwicklung und Selbstoptimierung längst und unbemerkt zum Selbstzwang geworden sind“ (2017, S. 35). Diese Ausführungen zeigen, dass wenn von den Grenzen des Wachstums gesprochen wird, gleichfalls die „Verankerung des Wachstumskonzepts in den basalen Vorstellungen über uns selbst“ (ebd.) in den Blick genommen werden muss. Das in den ARB offen zutage tretende Wachstumsstreben der Bundesregierungen wird demnach in völliger Selbstverständlichkeit auf die einzelnen Bürger*innen übertragen. Denn aus Sicht der SKH wird davon ausgegangen, dass Menschen immer nur daran interessiert sind, ihren jeweiligen sozialen Status zu verbessern, sodass kaum Erörterungen eines möglicherweise tiefer liegenden Sinns und Zwecks von Arbeit als Ausdruck von Selbstbestätigung und anderen immateriellen Aspekten vonstattengehen. Des Weiteren zeigt sich, dass eine von materiellen Gütern aufgebaute Fremdversorgung immer auch mit der Angst vor dem Verlust dieser komfortablen Situation einhergeht, bei der Armut als Mangel an Mitteln zur Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand verstanden wird. Insofern steht Fremdversorgung für eine Kultur der Angst vor dem Weniger, die das Wachstum dementsprechend als schützenswert erachtet und somit jegliche alternativen Ideen für die Wirtschaft, die das geldbasierte Wohlstandsmodell infrage stellen könnten, ablehnt (Bundesregierung 2017; Hegemann 2020, S. 71, 73; Paech 2018, S. 66). Während sich die von Paech sogenannte Illusion der Freiheit immer weiter ausprägt und damit auf die wachstumsorientierte Ordnung unterstützend einwirkt, zeigt die Bundesregierung im ersten ARB, aber besonders im aktuellen Bericht, dass sie in Reaktion auf die von Teilen der Bevölkerung geäußerte Angst vor dem Verlust des jeweiligen Status – möglicherweise ebenfalls aus wahltaktischen Gründen – versucht, deren Bedürfnisse zu schützen (ebd. 2017; Hegemann 2020, S. 58). Damit ergibt sich letztlich allerdings ein Kreislauf des Wachstumsstrebens, der kaum noch Möglichkeiten zur Unterbrechung aufweist, da sich beide Faktoren gegenseitig beeinflussen. So führt das System der Fremdversorgung zu einer von Geld abhängigen Gesellschaft. Diese Geldabhängigkeit wird wiederum von den jeweiligen Selbstverwirklichungsansprüchen in einer Gesellschaft beeinflusst (ebd., S. 63 ff.).

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4.5 Zusammenfassung In den analysierten Sprechakten wird deutlich, dass die Bundesregierungen die Faktoren für wachsende Ungleichheit und gegenwärtige Trends nur teilweise anerkennen, ohne jedoch eine politische Reaktion darauf zu zeigen. Eine Steigerung des Wirtschaftswachstums mithilfe hoher Beschäftigungsquoten, niedriger Arbeitslosigkeit und geringer Zahl an Sozialhilfebezieher*innen durch ein „aktivierendes“ Konzept des „Fördern und Fordern“ verbleibt somit auch im Zeitvergleich als langfristig zu verfolgendes Ziel. Neben Ungleichheit konkurriert auch die Verringerung von Armut mit der Steigerung von Wohlstand um Deutungshoheit, wobei eine Orientierung an der Neoklassik entgegen dem Keynesianismus als volkswirtschaftliche Denkrichtung vorgezogen wird. Denn während Armutsbekämpfung zumindest zur Steigerung des Produktivkapitals anvisiert wird, wird Ungleichheit noch immer eher als notwendiger Bestandteil für wirtschaftliche Prosperität angesehen, als dass eine gegenteilige Wirkung unterstellt wird, obwohl „Ungleichheit […] im Zusammenhang mit einer möglichen Legitimationskrise des Systems“ (Eißel 2018, S. 85) steht. Das Menschenbild der untersuchten SKH zeigt sich dahingehend vollständig durch ökonomische Prämissen zur Unterstützung des Wachstums als kapitalgenerierendes und lohnabhängiges Wesen beeinflusst. Die Stabilität der demokratischen und wirtschaftlichen Ordnung sowie daran anschließende Gerechtigkeitsvorstellungen scheinen sich ebenfalls maßgeblich daran zu orientieren. Daher bleiben von Wirtschaftswissenschaftler*innen aufgezeigte alternative Handlungsoptionen zur Zukunft der Arbeit ebenso unberücksichtigt wie angrenzende Ideen von Postwachstumstheoretiker*innen. Selbst die Idee der „guten Arbeit“ steht unter dem Vorzeichen der Gewinnung eines möglichst hohen Produktivkapitals, das zum Wirtschaftswachstum beiträgt und welches in diesem Verständnis angeblich zusätzliche Arbeitsplätze schafft. Insgesamt wird daher mehr als deutlich, dass die rot-grüne Bundesregierung zu Beginn der 2000er Jahre in Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit deren Verringerung ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Die schwarz-rote Bundesregierung im Jahr 2017 ist jedoch keinen Schritt von dieser Position abgewichen, sondern zeigt im Gegenteil ein Verständnis von Wirtschaft, das vom deutschen „Jobwunder“, also von Vollbeschäftigung als Mittel zur Bekämpfung praktisch aller gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Missstände, ausgeht (Straubhaar 2012, S. 4). So wird auch heute noch angenommen, dass „Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik […] eine zeitgemäße Antwort auf die neuen und vielfältigen Arbeitsformen“ (Schmid 2002, S. 14) seien und „Männern wie Frauen Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt [gewährleisten] und […] somit zur umfassenden Chancengleichheit der Geschlechter bei[tragen]“ (ebd.) würden. Letztlich lassen sich somit auch im Zeitvergleich keine echten Visionen in den ARB erkennen, sondern Vollbeschäftigung und Arbeit generell werden gleichbleibend deutlich als Mittel zur Armutsbekämpfung, Wirtschaftswachstum zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen sowie Ungleichheit als teilweise notwendiger Bestandteil der „Märkte“ beschrieben.

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Arbeit wird zwar im aktuellen ARB stärker als noch 2001 ein tiefer liegender Sinn unabhängig von monetären Ansprüchen zugeschrieben – so wird die Qualität von Arbeit deutlicher als Sinnstiftung im Leben der Menschen, als Faktor für gute Gesundheit und soziale Anerkennung angesehen – aber letztlich dennoch hauptsächlich im Kontext von Lohnarbeit, die Umsatz und Gewinne produziert, verortet. Insofern bleibt bei Betrachtung dieses Wirtschafts- und Politikverständnisses und dem Bedeutungsrückgang des Normalarbeitsverhältnisses nur die Hoffnung bestehen, dass eine so konstruierte Vollbeschäftigung nicht gesellschaftlich akzeptiert wird, „sondern als Anlass zu ­arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftspolitischen Anstrengungen verstanden werden wird, die ein neu konturiertes Normalarbeitsverhältnis mit Flexibilität, Produktivität, guter Arbeit und flexibel-lebenslauforientierter sozialer Sicherheit zum Ziel haben“ (Promberger 2012, S. 38). Hinzu kommen müsste eine Reduktion von Fremdversorgung und Lohnarbeit sowie die Stärkung der gesellschaftlichen Akzeptanz anderer Arbeitsformen, wie Sorge- und Pflegearbeit, Ehrenamt, private Initiativen, zivilgesellschaftliches Engagement und bürgerliche Selbstverwaltung, die als langfristig gedachte ethische Antworten auf die Frage nach der Zukunft von Arbeit gelten können (Paech 2018, S. 143 ff.).

5 Fazit und Ausblick Im Laufe der Forschung kristallisierte sich immer weiter heraus, dass die Handlungsregeln der Bundesregierungen im Diskurs zur Zukunft der Arbeit im Zeitverlauf stark einseitig ausgeprägt sind. Diese Beobachtung hat durchaus die Erwartung des Autors konterkariert, da vermutet wurde, dass der gegenwärtige Forschungsstand aufgrund der unterstellten Bezugnahme der Bundesregierung auf innovative Konzepte von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen mehr als nur registriert, sondern dass durchaus auch konkrete Handlungsanweisungen daraus hervorgehen würden. Insgesamt zeigt die vorliegende Arbeit nach eingehender Beschäftigung mit den zwei zugrunde liegenden Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierungen jedoch, dass diese auch im Zeitverlauf von einem „aktivierenden“ Sozialstaat als Garanten für eine Verringerung von Armut und Arbeitslosigkeit ausgehen. Dahingehend werden ein Ausbau der lohnabhängigen Berufsausbildung für alle sowie die Etablierung eines Zustands der Vollbeschäftigung als „Königsweg“ angesehen, sodass Umverteilungsmaßnahmen oder durch die Postwachstumsbewegung erörterte alternative Handlungsoptionen zugunsten von armen Teilen der Bevölkerung keinen Platz in der Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik finden. Die Rekonstruktion der Bedeutung von Armut zeigt, dass deren Verringerung aufgrund des sozialstaatlichen Gebots der Sicherung angestrebt und einer fortbestehenden Armut ein die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt destabilisierendes Moment zugeschrieben wird. Im Fokus der untersuchten Berichte stehen demnach Armut und deren Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft, während die Konzentration von Reichtum und damit einhergehende Effekte stark unterrepräsentiert

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vorkommen. Ähnlich verhält es sich mit sozialer und ökonomischer Ungleichheit, deren Gefahrenpotenzial bei einem deutlichen Anstieg, im Gegensatz zum ersten Bericht 2001, inzwischen durchaus anerkannt wird. Jedoch wird Ungleichheit aufgrund der unterstellten ökonomischen Anreizwirkung in gemäßigter Form einerseits noch immer eine grundsätzlich positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum unterstellt, andererseits soll diese aufgrund der gegenwärtig häufig unterstellten negativen Wechselwirkung mit steigendem Wirtschaftswachstum zukünftig verringert werden. Insofern werden ein sich verlangsamendes Wachstum, Nullwachstum oder gar ein Minuswachstum genauso wenig thematisiert wie nicht ökonomisch zentrierte Maßnahmen zur Wohlstandssicherung oder etwa ökologische Folgen. Im Gegenteil, es wird zumeist der Fokus auf die jeweiligen Lebensphasen der Betroffenen gelegt, weshalb sozioökonomische und strukturelle Aspekte aus dem Blick geraten. Insofern stellt es eine deutliche Verfehlung der Bundesregierungen dar, dass sich Armut und Ungleichheit in Deutschland weiterhin auf vergleichsweise hohem Niveau befinden und der gesellschaftliche wie auch individuelle Sinn von Arbeit immer weiter verloren geht. Denn die Überzeugung der Entscheidungsträger*innen, dass möglichst Vollbeschäftigung erreicht werden muss, weil Erwerbsarbeit vor Armut schützt, wird durch die fortschreitende Prekarisierung der Arbeit und Ausweitung des Niedriglohnsektors sowie durch die damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken konterkariert (Hardering 2017, S. 5; Butterwegge 2014, S. 188). Es zeigt sich also, „dass das postfordistische Modell an seine Grenzen stößt und das gegenwärtige System der Erwerbsarbeit überdacht werden muss“ (Hardering 2017, S. 5). Nichtsdestotrotz soll im Sinne Rosas darauf hingewiesen werden, dass durchaus die Gefahr wahrgenommen wird, dass die vorliegende Arbeit als eine „auf Ungleichheit monofokussierte Sozialkritik“ (2015, S. 33) selbst zum „Motor der Steigerungsspirale“ (ebd.) werden könne. Aufseiten des Autors besteht jedoch die Hoffnung, dass bereits die Darlegung einer solche Reflexion zeigt, dass dies zu keinem Zeitpunkt das Ziel der Forschung gewesen ist und ebenfalls anderweitige Aspekte Gehör gefunden haben. Wenn also deutliche Kritik an der Arbeitsweise der Bundesregierungen geübt wurde, so muss dennoch eingeräumt werden, dass die Armuts- und Reichtumsberichte immerhin „die Basis für eine bessere Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Bundesregierung bilden [könnten], wenn sie die „Lebenslagen in Deutschland“ nüchtern analysieren, die Ursachen für wachsende Ungleichheit ergründen und richtungweisende, daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen enthalten würden“ (Butterwegge 2016, S. 5). Denn ob gesellschaftliche Elite oder prekarisierte Systemverlierer*innen (Rosa 2015, S. 31), letzten Endes geht es unter Berücksichtigung der Argumente und Handlungsregeln der Bundesregierungen vielmehr um die Diskussion von alternativen Handlungsoptionen. Allerdings verhallen neben den Ansatzpunkten zu einer konkreten Utopie von Postwachstumsströmungen selbst in einer breiteren Öffentlichkeit diskutierte Handlungsoptionen zur Armutsbekämpfung, wie eine Vermögensteuer, Finanztransaktionsteuer, ein bedingungsloses Grundeinkommen und auch Diskussionen um eine CO2-Emissionssteuer oder -bepreisung, die eine gleichzeitig klimaschützende Wirkung besitzen, weitgehend ungehört. Selbst wenn die geäußerten Ideen inzwischen teilweise

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einen stärkeren Einfluss besitzen und so unter anderem (in deutlich abgeschwächter Form) Einzug in das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung und in verschiedene politische und gesellschaftliche Debatten erhalten haben, so scheint die Dringlichkeit dieser Maßnahmen noch immer nicht bei den politischen Entscheidungsträger*innen angekommen zu sein (Tagesschau 2019a; ebd. 2019b). Auch gegenüber der fortbestehenden Macht der neoklassischen Wirtschaftstheoretiker*innen, die in zahlreichen die Ministerien beratenden Expertengremien vertreten sind, verpuffen solche Vorschläge offenbar weitgehend wirkungslos (Herrmann 2017, S. 234). Bei Betrachtung des Gutachtergremiums für den sich in Planung befindlichen sechsten ARB kann allerdings immerhin ein vorsichtig optimistischer Ausblick gewagt werden, denn im Gegensatz zu den bisherigen Veröffentlichungen wurde für den nächsten Bericht eine durchaus heterogene Gruppe von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen berufen. So unter anderem Autor*innen wie Butterwegge, Cremer, Groh-Samberg, Spannagel und Promberger, die ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit zu Wort gekommen sind und die möglicherweise neuartige Impulse setzen können, jedenfalls wenn es nicht wieder, was abzuwarten bleibt, zu zensurartigen Überarbeitungen durch das Bundeskanzleramt kommt (BMAS 2019c). Insofern wäre es für weiterführende und anschließende Arbeiten durchaus von Interesse, weitere Gründe, auch unabhängig vom Einfluss der Wirtschaft, für diese stark einseitige Fokussierung der Bundesregierungen zu erforschen. Zudem ließe eine aus soziologischer Perspektive tiefer gehende Beschäftigung mit Fragen zur Zukunft der Arbeit und den von der Postwachstumsbewegung dahingehend formulierten Ansätzen und deren Wirkung auf die Gesellschaft zusätzliche Schlüsse zu, die im Rahmen dieser Forschung keine weitere Erwähnung haben finden können. Dahingehend könnten weitergehende Forschungsfragen lauten: Inwieweit sind die Handlungsregeln der Bundesregierungen im Diskurs zur Zukunft der Arbeit von einem neoklassischen bzw. (post) keynesianischen Wirtschaftsverständnis geprägt? Inwiefern lassen sich Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Armut und Ungleichheit aufgrund der im Kontext der Armutsbekämpfung kommunizierten Realitätsbeschreibungen der Bundesregierungen konstatieren? Und im Hinblick auf ein in diesem Kontext vernachlässigtes Themenfeld: Welchen Stellenwert nimmt Migration in der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein und in welchem Verhältnis steht diese zu den Themen demografischer Wandel und der zukünftigen Gestaltung progressiver oder regressiver Modelle von Arbeit? Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als eine Art Brückenschlag zwischen der offiziellen Darstellung durch die Bundesregierungen und dem teilweise gegensätzlich ausgerichteten aktuellen Stand der Forschung. Es sollten neue und weiterführende Fragen aufgeworfen werden, weshalb dieser Beitrag daher als kontext- und theorieübergreifender Beitrag zur gegenwärtigen Armuts- und Ungleichheitsdebatte angesehen werden kann.

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Eine Rekonstruktion des Wohlstandsund Wachstumsbegriffs der deutschen Bundesregierung anhand der Jahreswirtschaftsberichte von 2006 und 2016 Manuel Tobias Eberhardt

Zusammenfassung

Das Ziel der vorliegenden Studie war es, den Wandel der Wachstumsausrichtung und des Wohlstandsverständnisses der deutschen Bundesregierung zwischen 2006 und 2016 zu rekonstruieren. Besonders seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 nahm die Kritik am uneingeschränkten Streben nach Wirtschaftswachstum stark zu. Diesbezüglich entstand auch die Forderung, soziale und ökologische Aspekte von Wohlstand stärker in der Ausgestaltung der Politik zu berücksichtigen. Der bisherige Wohlstandsindikator BIP sei diesbezüglich zu eindimensional. Kurz darauf räumte die Bundesregierung öffentlich ein, über einen neuen Wohlstandsindikator, anstelle des BIPs, nachzudenken und präsentierte schließlich ein neues Indikatorensystem. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit lag darauf aufbauend darin, zu untersuchen, inwiefern sich in der Folge dieser Ereignisse der Stellenwert von Wirtschaftswachstum und den verschiedenen Wohlstandsdimensionen in der Ausgestaltung der deutschen Politik gewandelt hat. Hierzu wurden die Jahreswirtschaftsberichte der Bundesregierung von 2006 und 2016 unter Rückgriff auf die Grounded Theory Methodologie untersucht. Die Analyse ergab, dass das Wachstumsverständnis in diesem Zeitraum weitgehend gleichgeblieben ist und elementar zur deutschen Wirtschaftspolitik gehört. Allerdings betonte die Bundesregierung 2016 neben der Höhe des Wachstums auch dessen Qualität stärker berücksichtigen zu wollen. In Bezug auf den Wohlstandsbegriff zeigte die Analyse, dass die Bundesregierung 2016 ein deutlich ausdifferenzierteres und weniger materiell fixiertes Wohlstandsverständnis kommunizierte. Von einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation kann aber trotzdem nicht gesprochen werden. M. T. Eberhardt (*)  Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_7

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Schlüsselwörter

Wohlstand · Wirtschaftswachstum · Lebensqualität · Postwachstum · Transformation ·  Bundesregierung · Nachhaltigkeit · BIP

1 Wohlstandsbegriff und Wachstumsausrichtung der Bundesregierung im Wandel? „[…] Politiker, öffentliche Entscheidungsträger und Wirtschaftswissenschaftler suchen nach Mitteln und Wegen, um die volkswirtschaftliche Leistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, zu steigern. Aber wenn das BIP ein schlechtes Maß des gesellschaftlichen Wohlergehens ist, dann streben wir nach dem falschen Ziel. Was wir tun, entfernt uns möglicherweise von unseren eigentlichen Zielen“ (Stiglitz 2011, S. 354).

Dieses Zitat von Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz fasst die Inspiration für die folgende Arbeit gut zusammen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland dient das BIP als Wohlstandsindikator. Steigendes Wirtschaftswachstum entspricht steigendem Wohlstand, so die einfache Rechnung, die sich auch in der politischen Ausrichtung manifestiert. Doch mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit, dass das BIP, wie auch dem obigen Zitat zu entnehmen ist, keinen guten Wohlstandsindikator darstellt. Diese Kritik am Wohlstandsindikator BIP und die Forderung nach neuen Indikatoren finden inzwischen auch in der deutschen Regierung Beachtung. Dies zeigte sich an der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ und der Regierungsstrategie zur Lebensqualität. Wenn die Bundesregierung also das Maß des gesellschaftlichen Wohlergehens in den letzten Jahren reflektierter betrachtet und dieses rein materielle Wohlstandsverständnis hinterfragt, könnte sich das auch auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung auswirken. Ideen wie Nachhaltigkeit oder eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft könnten gegenüber der Maxime des Wirtschaftswachstums neues politisches Gewicht erlangen und dadurch einen Schub erleben. Inwiefern das in den letzten Jahren in Veröffentlichungen der deutschen Regierung zu beobachten ist, war unter anderem das Erkenntnisinteresse der diesem Beitrag zugrunde liegenden Studie. Dazu ist die Forschungsfrage mit dazugehörigen Unterfragen dem folgenden (Abschn. 1.1) zu entnehmen. Anschließend wird auf die Relevanz des Themas eingegangen (Abschn. 1.2), um danach auf für die Studie relevante Aspekte zu den Themen Wachstum, Wohlstand, Wachstumskritik und Wohlstandsmessung und die jüngsten Veränderungen in der deutschen Politik einzugehen (Abschn. 2). Im dritten Kapitel folgen ontologische und erkenntnistheoretische Grundideen, auf denen die Studie aufbaut (Abschn. 3). Anschließend werden die Ergebnisse der durchgeführten Analyse präsentiert (Abschn. 4) und in einem abschließenden Fazit (Abschn. 5) zusammengefasst.

Eine Rekonstruktion des Wohlstands- und Wachstumsbegriffs …

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1.1 Forschungsfrage Die forschungsleitende Frage der hier präsentierten Studie lautet: Inwiefern haben sich Wachstumsausrichtung und Wohlstandsverständnis der deutschen Bundesregierung zwischen 2006 und 2016 geändert? Diese Frage zielt darauf ab, zu klären, inwiefern die Bundesregierung trotz der anhaltenden Kritik und der ökologischen Grenzen des Wachstums dennoch nach Wirtschaftswachstum strebt. Gibt es Einschränkungen der wachstumsmaximierenden Wirtschaftspolitik? Haben sich zwischen 2006 und 2016 die wirtschaftspolitischen Handlungsregeln und die Beschaffenheit der wirtschaftspolitischen Strategien und Ziele gewandelt? Kommuniziert die Bundesregierung im Anschluss an die selbst initiierte Suche nach einer besseren Art der Wohlstandsmessung und gemäß der Strategie zur Lebenszufriedenheit im Jahreswirtschaftsbericht 2016 ein im Vergleich zu 2006 verändertes Verständnis von Wohlstand? Welche Dimensionen von Wohlstand thematisiert sie besonders, welche stuft sie als wichtig ein? Und zuletzt in Bezug auf diesen Sammelband: Inwiefern finden sich Ansätze von Transformation, Nachhaltigkeit und Postwachstum in den Handlungsregeln der Bundesregierung? Der Anspruch bei der Beantwortung der Forschungsfrage und der angeschlossenen Unterfragen ist es, intersubjektiv nachvollziehbare Interpretationen der Sequenzen der Jahreswirtschaftsberichte zu liefern, die die Bedeutungszuschreibungen und die Rolle von Wachstum und Wohlstand im regierungsamtlichen Diskurs betreffen.

1.2 Relevanz des Themas Wenige Themen prägen Medien, Gesellschaft und Politik in Deutschland zuletzt so sehr wie die Folgen von Klimawandel und Ressourcenknappkeit, sozialer Ungleichheit und die der Wirtschafts- und Finanzkrise. Lange Jahre generierten wir Wachstum auf Kosten der Umwelt, anderer Menschen und diesbezüglich ganz besonders auch auf Kosten zukünftiger Generationen. Somit nahmen wir „Hypotheken auf die Zukunft“ auf, Schulden, die sich bis heute erst nach und nach bemerkbar machen (Stiglitz 2011, S. 355). Schon seit Jahren nehmen kritische Stimmen am derzeitigen Wachstumsdogma und der Annahme zu, Wachstumsstreben könne permanent mehr Wohlstand mit sich bringen und dass die permanente materielle Wohlstandssteigerung das zentrale politische Ziel sein sollte (Roos 2019, S. 49). Die Bundesregierung hat unter dem öffentlichen Druck 2010 erste Schritte eingeleitet, um ein neues Wohlstandsverständnis in Deutschland zu etablieren. Wenn sich die Handlungsregeln in Bezug auf Wohlstand verschieben, könnte sich auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung Deutschlands langfristig in eine stärker sozial-ökologische als wachstumsmaximierende Richtung wandeln. Dieser Wandel hätte weitreichende Folgen und könnte auch andere Staaten zu einem Umdenken inspirieren. Möglich ist aber auch, dass sich nach wie vor nicht viel geändert hat und Wachstumsstreben für die Bundesregierung weiterhin das zentrale, uneingeschränkte Ziel ist.

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2 Forschungsstand 2.1 Wachstum und Wohlstand im historischen Verlauf Mit der industriell-fossilen Revolution ging in der Moderne auch das vermehrte Streben nach Wirtschaftswachstum einher. Es trug laut Paech das Versprechen nach Wohlstand Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in sich (Paech 2015, S. 71, Vgl. Altvater 2013, S. 71). Das bedeutete Gewinn und Fortschritt auf Basis und auf Kosten der Umwelt und verschiedener teils endlicher Ressourcen inklusive der Entstehung schädlicher Abfallprodukte (Altvater 2013, S. 84). Die Problematik dieser Wirtschaftsweise rückte im allgemeinen Fortschrittsstreben aber in den Hintergrund. Selbst in schwierigen Zeiten, wie der großen Depression in den 1930er Jahren, galten Märkte als effizient und selbstregulierend, was laut Stiglitz auch heute noch die herrschende Lehrmeinung ist (Stiglitz 2011, S. 303 f.). Langfristig gesehen verbesserte sich der Lebensstandard aber trotz verschiedener Kriege und Krisen aufgrund des überwiegend kontinuierlichen Wirtschaftswachstums nachhaltig (Pierenkemper 2015, S. 33 f.). „Lange Zeit haben sich die Vorteile, die mit einer Zunahme des BIP verbunden sind, nicht nur als ein theoretisches Konstrukt erwiesen, sondern sie äußerten sich spürbar im tatsächlichen Leben der Bürger“ (Empter 2011, S. 10). Erkennbar ist die Sichtweise auf Wachstum zu dieser Zeit beispielsweise an uneingeschränkt positiven Bergriffen wie dem deutschen Wirtschaftswunder (Altvater 2013, S. 73). Wachstum und Wohlstand stiegen also in der empirischen Realität, jedenfalls in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, im Gleichschritt. „Im Europa der Nachkriegszeit und gerade in der Bundesrepublik traf das politische Versprechen »Wohlstand für alle durch Wachstum« mithin auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung“ (Empter 2011, S. 10). Somit sprach wenig gegen eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe und damit auch gegen die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts als Wohlstandsindikator. Zweck und Mittel verschmolzen. Bei der Erfassung von Wohlstand mit einem eher subjektiven und daher umstrittenen Begriff wie Lebenszufriedenheit, der über wirtschaftliche Dimensionen hinausreicht, existieren wissenschaftliche Studien, die den Zusammenhang von Wirtschaftsleistung und Wohlstand beziehungsweise Lebenszufriedenheit aufklären wollen. In einer der bekanntesten diesbezüglichen Werke der ökonomischen Literatur kam Richard Easterlin in einer Untersuchung von neunzehn Studien zu dem Ergebnis, dass in jeder dieser Studien eine starke Korrelation zwischen Lebenszufriedenheit und Einkommen nachgewiesen wird (1974, S. 99 f.). Auch jüngere Veröffentlichungen wie die des Ökonomen Bruno S. Frey verweisen sowohl auf Ebene einzelner Einkommensklassen als auch auf Länderebene auf eine Korrelation des individuellen Wohlbefindens mit der Höhe des Durchschnittseinkommens. Allerdings ist diese Korrelation nicht linear, sondern die Steigerung der Lebenszufriedenheit weist ab einem bestimmten Wohlstandsniveau Grenzen auf und nimmt ab. Es ist also ein sogenannter abnehmender Grenznutzen erkennbar (Frey 2017, S. 15 f.).

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Erst spät gelangte die an eine extensive Wirtschaftsweise gekoppelten Problematiken angesichts verschiedener Krisen, wie immer verheerender Umweltschäden oder der Ressourcenknappheit, beispielsweise in Form der Ölkrisen in den 1970er Jahren, umfangreicher in das allgemeine Bewusstsein. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der diese Grenzen und Gefahren und die bereits bestehenden teils drastischen Auswirkungen des Wachstumsstrebens für Ressourcen und Lebensraum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte (Meadows et al 1972). Anfang der 70er Jahre entstand Niko Paech zufolge aber auch die Idee des qualitativen Wachstums. Dieses Konzept beschrieb den Gedanken, mithilfe technischer Innovationen eine Wirtschaftsweise anzustreben, die die fortlaufende ökonomische Expansion und den kritischen Verbrauch von Natur und Ressourcen voneinander entkoppeln kann (Paech 2015, S. 71). Ein bis heute gefestigter Glaube sei „[a]llein Wachstum und technischer Fortschritt könnten […] dem Ressourcenmangel umweltschonend beikommen und gleichzeitig individuelle Selbstverwirklichung garantieren“ (Ebd., S. 71). Dem widerspricht die wachstumskritische Wissenschaft, die schließlich in die Postwachstumstheorie mündete. Diese Theorie steht dem Wachstumsstreben in antagonistischer Position entgegen und stellt die Frage, ob angesichts der sozialen Krisen und ökologischen Probleme und Knappheiten weiter an diesem festgehalten werden kann (Jorberg 2010, S. 146; Paech 2015).

2.2 Kritik am Wachstumsstreben und die deutsche Wirtschaftspolitik Fast 50 Jahre nach den wachstumskritischen Veröffentlichungen des „Club of Rome“ sind viele der angesprochenen Probleme immer noch nicht unter Kontrolle und durch die stark steigende Weltbevölkerung teilweise sogar verschärft. In den letzten Jahren wird die Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung, die im Prinzip ein altes Phänomen ist, und die Suche nach neuen Möglichkeiten wieder erkennbar intensiver. Auslöser war die beispielsweise durch die Wirtschafts- und Finanzkrise oder nahezu ergebnislosen Klimagipfel genährte Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem (Brand 2014, S. 29). Zudem stellte sich immer öfter neben den aktuellen Problemen die Frage nach zukünftigen Generationen, auf deren Kosten wir unser Wachstum gerade maximieren. Joseph Stiglitz beschreibt das mit den Worten: das Wirtschaftswachstum habe auf einer Art „Hypothek auf die Zukunft“ basiert, die für unsere Nachkommen und deren Nachkommen dramatische Folgen haben könnte (Stiglitz 2011, S. 356). Die bestehenden wachstumskritischen Lösungsansätze sind unterschiedlich, sie reichen von „grünem Wachstum“ mit einem ökologisch nachhaltigen Wirtschaftssystem (Jackson 2013, S. 153–165) bis hin zu fundamentaleren Ansätzen, wie der von Niko Paech formulierten Postwachstumsökonomie, die sich unter anderem an einer Suffizienzstrategie orientiert und Wachstum gänzlich ablehnt (Paech 2015, S. 76 ff.). Die verschiedenen Strömungen von Postwachstum verfolgen vor allem die Maxime

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Ökologie, Abkehr von rein utilitaristischem Gewinnstreben, die Bedeutung von Leben und Wohlbefinden, Bioökonomie und Verteilungsgerechtigkeit (Demaria et al. 2013, S. 196 ff.). Besonders globalisierungskritische, kirchliche, umwelt- und entwicklungspolitische und alternativökonomische Kreise sind tragende Akteure (Brand 2014, S. 30). Auch Stiglitz plädierte 2010 dafür, die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die die Schwächen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausrichtung offenbare, zu nutzen, um danach zu fragen, in welcher Wirtschafts- und Gesellschaftsform wir in Zukunft leben wollen (2011, S. 345). Die Postwachstumstheoretikerinnen Irmi Seidl und Angelika Zahrnt suchen mit ihren Kollegen und Kolleginnen nach alternativen Konzepten für die Zukunft. Ziel ist es, Gesellschaft und Wirtschaft weitreichend umzugestalten, wozu sie Optionen suchen, „[…] die die bisher wachstumsabhängigen Bereiche, Strukturen und Institutionen […] so gestalten können, dass sie ihre Funktion weiterhin erfüllen, aber nicht mehr existenziell auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind“ (Seidl und Zahrnt 2010a, S. 9). Die wirtschaftspolitische Ausrichtung sieht sich zunehmend einer starken Unsicherheit gegenüber, da die globale Situation im Hinblick auf ökologische und soziale Fragen problematisch ist und eine Neuorientierung nahelegt und zum anderen die Frage danach eröffnet, welchen Stellenwert materielles Wohlstandsstreben in Zukunft einnehmen sollte (Schmidt und aus dem Moore 2012, S. 13). Die Realität in Deutschland ist aktuell noch eine andere. Die politische Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise war nicht das Hinterfragen von Wachstum, sondern das umso stärkere Streben nach einem neuen Wirtschaftswachstumsschub (Hirata 2012, S. 3). Ein Zitat von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 17. CDU Parteitag in Leipzig verdeutlicht die vorherrschende Regierungsposition zur Rolle des Wachstums: „Wachstum ist nicht alles, das ist wahr. Aber ohne Wachstum ist alles nichts. Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze; ohne Wachstum keine Sanierung der sozialen Sicherungssysteme, ohne Wachstum sinkender Wohlstand; ohne Wachstum werden mehr und mehr Menschen auf der Strecke bleiben“ (Merkel 2003). Ein solches Zitat impliziert, dass Wachstum für den Erhalt des Wohlstands unabdingbar sei. Leitbild der deutschen Wirtschaftspolitik ist die Soziale Marktwirtschaft, die die Idee verfolgt, „die Freiheit der Wirtschaft und einen funktionierenden Wettbewerb zu schützen und gleichzeitig Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land zu fördern“ (bmwi, o. J., o.S.). Gesetzliche Grundlage ist das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 mit den verbindlichen Vorschriften Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigungsstand, niedrige Inflation und außenwirtschaftliches Gleichgewicht, dem sogenannten magischen Viereck. Dieses althergebrachte Verständnis wirtschaftlicher Zielbestimmungen berücksichtigt jedoch den Ursprung vieler aktueller Probleme nicht. Ein aktualisiertes magisches Viereck könnte neben materiellem Wohlstand und ökonomischer Nachhaltigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Nachhaltigkeit und die Zukunftsfähigkeit der Staatstätigkeit und Staatsfinanzen verbindlich vorschreiben (Dullien und van Treeck 2012, S. 15). Eine derartige Anpassung hat aber noch nicht stattgefunden (BMJV o. J., o. S.). Zwar existiert laut Heinrich Tiemann und Gerd Wagner seit 2002 eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die das Leitprinzip der Nachhaltigkeit formuliert und mit ähnlichen Nachhaltigkeitsstrategien der EU verknüpft ist.

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Folgen dieser Strategie sind beispielsweise die Einsetzung des „Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung“ oder des „Rat für nachhaltige Entwicklung“ (Tiemann und Wagner 2012, S. 3). Gleichzeitig hätten aber der EU-Fiskalpakt und die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz laut Sebastian Dullien und Till van Treeck zu einer „Verengung auf immer weniger wirtschaftspolitische Ziele“ beigetragen, wodurch beispielsweise nachhaltiges Wirtschaften oder Investitionen in Bildung und Infrastruktur verhindert werden können, wenn sie dem Ziel der Begrenzung der staatlichen Neuverschuldung entgegenstünden (Dullien und van Treeck 2012, S. 5). Eine deutliche Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit hat sich in Deutschland auch in den letzten Jahren nicht ergeben. Im Gegenteil, Deutschland bremste sogar EU-Pläne für mehr Nachhaltigkeit (Bauchmüller 2019, o. S.). Die Bereitschaft Wirtschaftswachstum hinter Nachhaltigkeitsaspekten anzustellen, ist also auch im Jahr2019 nicht zu erkennen, auch wenn Bundeskanzlerin Merkel auf den öffentlichen Druck hin gesagt haben soll, sie wolle nun in Bezug auf die Klimapolitik „kein Pillepalle mehr“ (Ebd., o. S.). Wohlstand ist eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele, die es zu erreichen gilt (Hirata 2012, S. 15). Deshalb ist eine der zentralsten Fragen beim Streben nach diesem Ziel, wie Wohlstand überhaupt erfassbar ist. Derzeitiger Wohlstandsindikator ist das Bruttoinlandsprodukt. Doch dessen Eignung ist hochumstritten, es herrscht weitgehend Einigkeit, dass es als Wohlstandsindikator unzulänglich ist (Dullien und van Treeck 2012, S. 5). Im nächsten Abschnitt sind die Vorteile und Grenzen des BIP als Wohlstandsindikator gegenübergestellt.

2.3 Das BIP als Wohlstandsindikator – Vorteile und Grenzen der Messung des Wohlstands durch das Bruttoinlandsprodukt Das Bruttoinlandsprodukt beziffert den „[…] Wert aller in [einer] Periode produzierten Güter (Waren und Dienstleistungen) abzüglich jener Güter und Dienstleistungen, die als Vorleistungen bei der Produktion verbraucht werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass in der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung die Leistungserstellung des Staates und auch die für den Außenhandel entstandene Wertschöpfung enthalten sind“ (Engelkamp und Sell 2011, S. 184). Als großer Vorteil der Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts gilt nach Aussage von Rolf Kroker, dem Leiter der Wissenschaftsbereiche Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, unter anderem die klar definierte Messmethodik, innerhalb derer sich die verschiedenen Rechnungen gegenseitig kontrollieren. Diese bringe den Vorteil mit sich, „weitestgehend konsistente Ergebnisse über das Niveau und die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Leistung im Zeitablauf“ ermitteln zu können (Kroker 2011, S. 5). Die einheitliche Erfassung des BIP trage zudem zur besseren internationalen Vergleichbarkeit der Wohlstandsentwicklung bei (Ebd., S. 5). Generell wirke sich steigender Wohlstand laut B ­IP-Befürworter häufig auf Beschäftigungszuwachs, höhere Wettbewerbsfähigkeit, bessere Verteilungsspielräume, Zuwachs sozialer Sicherungssysteme

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und die Zunahme des Konsum- und Lohnniveaus aus (Empter 2011, S. 10; Vgl. Hirata 2012, S. 9, 25). Gleichzeitig sind in der Wirtschaftswissenschaft aber die Schwächen des BIP als Wohlstandsindikator durchaus konsensfähig. Schon seit längerer Zeit existieren Bemühungen um geeignete Alternativen (Dullien und Van Treeck 2012, S. 5). BIP als Wohlstandsindikator impliziert, dass Wirtschaftswachstum und damit gesteigertes BIP notwendig ist, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu wahren. Neben der nutzentheoretischen Tatsache, dass ein zusätzlicher Euro einer/einem Hartz-IV-Empfänger(in) mehr nutzt als einer/einem Milliardär(in) sagt das nationale BIP wenig darüber aus, ob jeder davon gleichermaßen profitiert, obwohl gerade die Verteilungsgerechtigkeit sich positiv auf die Lebensqualität auswirkt (Diefenbacher und Zieschank 2011, S. 23; Seidl und Zahrnt 2010b, S. 31). Selbst bei Betrachtung des BIP pro Kopf stehen nur Durchschnittswerte zur Verfügung, die die Frage nach der de facto Verteilung nicht auflösen können (Spoerer und Streb 2013, S. 135). Eine weitere Schwäche, die unter anderem Kroker anprangert, ist die, dass das BIP auf der Grundlage von Marktpreisen entsteht, die unter Umständen verzerrt sein können und daher die Wertschöpfung falsch widerspiegeln (Kroker 2011, S. 4). Zudem ist die Vergleichbarkeit verschiedener BIP-Werte dadurch eingeschränkt, dass landwirtschaftliche Arbeiten zum Eigenbedarf, Haushaltsarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten nicht in die Berechnung miteinfließen können (Spoerer und Streb 2013, S. 135; Vgl. Diefenbacher und Zieschank 2011, S. 23 f.). Des Weiteren kommt hinzu, dass das BIP weitere wohlstandsrelevante Faktoren wie Gesundheit, Sicherheit oder Bildung innerhalb eines Staates nicht berücksichtigt (Seidl und Zahrnt 2010b, S. 29). Beziehungsweise berücksichtigt es in dieser Hinsicht nur die allgemeinen Ausgaben, nicht aber deren tatsächlichen Effekt. Ein ineffizienteres Gesundheitssystem, das deshalb mehr kostet, bringt mehr BIP, obwohl die diesbezügliche Versorgungssituation der Bevölkerung sich verschlechtert (Stiglitz 2011, S. 356). Ein weiteres Beispiel für negative Ereignisse, die zwar einen BIP-Zuwachs aber keinen Wohlstandszuwachs bedeuten sind Autounfälle. Laut BIP-Rechnung tragen die Kosten, die zu Reparatur oder Austausch des Fahrzeugs anfallen zum Wohlstand bei, was auf das Individuum mit dem Autounfall bezogen aber fragwürdig ist (Kroker 2011, S. 4). Ein weiterer zentraler Kritikpunkt am BIP ist der, dass es ökologische Komponenten, die sich kurz- oder langfristig auf den Wohlstand auswirken, wie Umweltverschmutzung oder ein starker Rückgang an Ressourcen, nicht erfasst (Seidl und Zahrnt 2010b, S. 29). Auch nach Hans Diefenbacher und Roland Zieschank sorgt dieses Streben für weniger nachhaltiges Vorgehen und damit Schäden an der Umwelt, die den Wohlstand beeinträchtigen aber das BIP steigern – vorausgesetzt die Schäden an der Umwelt sind nicht zu gravierend. Auch endliche Ressourcen oder beispielsweise auch Böden, die die Menschheit unwiederbringlich verbraucht, fallen in der BIP-Rechnung nicht negativ ins Gewicht, obwohl der Wohlstand dadurch langfristig deutlich abnimmt (Diefenbacher und Zieschank 2011, S. 23). Kein anderer Wohlstandsindikator steht so sehr für Wachstumsund Gewinnstreben, wie der materielle Wohlstandsbegriff des BIPs (Seidl und Zahrnt 2010b, S. 29). Aufgrund der Tatsache, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine Art Kompass brauchen, der ihnen „eine verlässliche Orientierung geben kann“, ergibt sich

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die Frage nach Alternativen zum BIP, da aufgrund der genannten Begebenheiten „[d] as Bruttoinlandsprodukt alleine […] diesen Kompass nicht darstellen“ kann (Schmidt und aus dem Moore 2012, S. 13). Ferner bedeutet die Verwendung eines schlechten Wohlstandsindikators laut Stiglitz, dass die Route, die dieser Kompass uns vorschlägt, nicht zu unserem eigentlichen Ziel führt, sondern uns möglicherweise ganz im Gegenteil sogar in die falsche Richtung lotst (Stiglitz 2011, S. 354). Im folgenden Abschnitt werden exemplarisch bereits umgesetzte alternative Wohlstandsindikatoren weltweit und die aktuelle Entwicklung rund um diese Debatte in der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt.

2.4 Alternative Wohlstandsindikatoren und die E ­ nqueteKommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ in Deutschland Es existieren viele verschiedene theoretische aber auch bereits praktisch umgesetzte Möglichkeiten für alternative Wohlstandsindikatoren mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Im Jahr 1976 führte der kleine Staat Bhutan den neun Kategorien umfassenden „Gross National Happiness Indicator“ ein, der direkt zu einem der wichtigsten globalen Leitbilder aufstieg (Diefenbacher und Zieschank 2011, S. 44 f.). Die neun Kategorien zur Erfassung des gesellschaftlichen Glücks lauten „Lebensstandard, Gesundheit, psychisches Wohlbefinden, Bildung und Ausbildung, ökologische Vielfalt, Intensität des gemeinschaftlichen Lebens, Zeitnutzung, Kultur sowie gute Regierungsweise“ (ebd., S. 45). Kanada folgte diesem Beispiel 2009 und veröffentlichte einen fast identischen Indikator (ebd., S. 45). Auch auf noch allgemeinerer Ebene ist ein alternativer Wohlstandsindikator im Einsatz. Dabei handelt es sich um den 1990 durch die Vereinten Nationen eingeführten Human Development Index, der insbesondere die BIP bezogene Kritik der Ungleichverteilung aufgriff und ergänzend zum pro Kopf BIP Werte der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt und die Partizipation an Bildung berücksichtigt (Spoerer und Streb 2013, S. 135). Diese umgesetzten Alternativen zum BIP als Indikatoren für Wohlstand könnten Regierungen weltweit als Vorbild dienen. In Mitteleuropa kam die Suche nach einem alternativen Wohlstandsindikator seit Ende der 2000er Jahre zunehmend in den inneren politischen Zirkeln an (Brand 2014, S. 29 ff.). Zur stärkeren politischen Beachtung der Debatte über die Messung von Wohlstand, beziehungsweise „[…] über die Messung von Niveau und Entwicklung der Wohlfahrt eines Landes“ trug besonders der durch den damaligen französischen Staatspräsidenten Sarkozy beauftragte „SSFC-Bericht (Stiglitz, Sen und Fitoussi 2009)“ bei (Kroker 2011, S. 3). Diesem folgte im Dezember 2010 ein durch den deutsch-französischen Ministerrat beauftragtes Gutachten des deutschen und französischen Sachverständigenrates, das sich untere anderem der Frage widmete, „[…] wie aussagekräftig oder überholungsbedürftig die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen im Allgemeinen und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Besonderen sind“ (ebd., S. 3). Obwohl diese Debatte nicht neu ist, ist

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das zunehmende politische Interesse daran, das zu diesem Zeitpunkt auch die Bundesregierung teilte, bemerkenswert. In Deutschland sorgte besonders die daraus resultierende Einsetzung der ­Enquete-Kommission (E.K.) „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ durch den Bundestag für viel Aufmerksamkeit. Eine E.K., die sich laut Bundestag mit umfangreichen und bedeutenden Sachkomplexen auseinandersetzt, kann dann verpflichtend eingesetzt werden, wenn ein Viertel der Bundestagsmitglieder dies fordert (DHB Bundestag 2018, S. 1). Die Ernennung der Mitglieder der E.K., die aus Abgeordneten und Sachverständigen bestehen, erfolgt dabei im Einvernehmen der Fraktionen, in diesem Fall von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die E.K., deren Auftrag es war, bis zum Ende der Wahlperiode Berichte und Empfehlungen für den nächsten Bundestag vorzulegen, schlug in ihrem Bericht ein neues Indikatorensystem vor. Dieses beinhaltete zehn Leitindikatoren und verschiedene sogenannte Warnlampen (E.K. 2013, S. 275), war aber insgesamt zu komplex und unübersichtlich, weshalb keine direkte Übernahme dieses Vorschlags stattfand (Knauß 2013, o. S.; Meinel 2013, o. S.). Zusätzlich dazu schlug die E.K. auch die Herausgabe eines jährlichen Jahreswohlstandsberichtes vor, was die Bundesregierung jedoch nicht annahm und dessen Veröffentlichung die Grünen übernahmen. Dem Bericht der E.K. folgte schließlich im Koalitionsvertrag von 2013 die Ankündigung einer neuen Art der Wohlstandsmessung (CDU/CSU und SPD 2013, S. 7). Diese Ankündigung brachte letztlich eine Regierungsstrategie zur Lebensqualität hervor. Jene neue Strategie macht zwar deutlich, dass das bisherige Verständnis, wenn die Wirtschaft wachse, wachse auch der Wohlstand und den Menschen gehe es gut, vorbei sein soll. Jedoch lautet in dieser Regierungsstrategie unter der Überschrift „Unser Land“ die erstaufgeführte Dimension, noch vor Umweltschutz, Gleichberechtigung und globaler Verantwortung, „Wirtschaft stärken, in die Zukunft investieren“ (siehe Abb. 1). Diese Dimension ergibt sich aus den Indikatoren reales Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Investitionsquote, gesamtstaatliche Schuldenstandsquote, öffentliche und private Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Verhältnis zum BIP und Zeitdauer für eine Unternehmensgründung (Bundesregierung o. J., o. S.). Wirtschaftswachstum nimmt also weiterhin einen elementaren Stellenwert in den Indikatoren ein, zumal Indikatoren wie BIP pro Kopf und Schuldenstandsquote unter Umständen Zielen wie Umweltschutz entgegenstehen. Umfassende umweltpolitische Maßnahmen sind oft teuer und gehen mit Einschränkungen für Wirtschaftswachstum und den materiellen Wohlstand der Bevölkerung einher. Die Ziele der Umweltpolitik stehen denen der Wirtschaftspolitik also entgegen und es entsteht die Problematik, welche Ziele die Bundesregierung in einem Interessenskonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Ökologie priorisiert. Umweltpolitische Maßnahmen, die zusätzlich zur gewinnmaximierenden Wirtschaftsweise ergriffen werden, lindern oft nur die Ausmaße der negativen ökologischen Folgeeffekte, nicht aber deren Ursache. Um die Ursachen ökologischer

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Abb. 1   Dimensionen der Regierungsstrategie zur Lebensqualität (Bundesregierung o. J., o. S.)

Probleme wirkungsvoll adressieren zu können und um dem Nachhaltigkeitsgedanken einen bedeutenderen Status zu verleihen, bedarf es einer Integration der Umweltpolitik in andere Politikfelder, wie beispielsweise der Wirtschaftspolitik. Diese Umweltpolitikintegration als kohärente und effektive Lösung komplexer, ressortübergreifender politischer Probleme ist keine neue Forderung in der umweltpolitischen Debatte (Böcher und Töller 2012, S. 71 f.). Gerade deshalb ist es interessant, die Deutungsmuster, die die Bundesregierung in Bezug auf Wachstum, Wohlstand und den Stellenwert der unterschiedlichen Wohlstandsdimensionen kommuniziert, in ihrer zeitlichen Entwicklung zu untersuchen.

3 Ontologische & epistemologische Prämissen und methodische Vorgehensweise Im folgenden Abschnitt erfolgt eine kurze Erörterung einiger der Studie zugrundeliegenden ontologischen und epistemologischen Grundgedanken. Auf diesen basiert die gesamte Planung und Durchführung der Analyse. Anschließend folgt eine Darstellung der verwendeten Methodik und der Vorgehensweise während der Analyse.

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3.1 Ontologische Grundlagen der Analyse und erkenntnistheoretische Annahmen Laut sozialkonstruktivistischer Wissenstheorie leben wir in einer sozial konstruierten Welt. Konstruiert kann in diesem Zusammenhang einen bewussten und kontrollierten Vorgang beschreiben, das ist jedoch die Ausnahme. Vielmehr entsteht diese sozial konstruierte Wirklichkeit oft ungeplant aus menschlichen Interaktionen heraus (Keller 2012, S. 211). „Gesellschaft ist objektive und subjektive Wirklichkeit zugleich. Sie wird stabilisiert, wahrgenommen und verändert durch soziohistorische Wissensvorräte, die von Menschen gemacht sind, und die von ihnen sozialisatorisch angeeignet werden“ (Ebd., S. 211). Auf dieser Idee aufbauend kann sich auch das Verständnis und der Stellenwert von Wohlstand, als kollektives Wissen, also als Typisierung, „[…] was in einer Gesellschaft typischerweise als relevant, wichtig und wirklich (oder unwirklich) gilt“, etablieren und wandeln (Keller 2012, S. 186). Die derzeitige Gesellschaftsordnung basiert auf einem bestimmten Verständnis, was Wohlstand ist und wie dieser zu erreichen ist. An diesen in einem fortlaufenden historischen Prozess entstandenen Sinnordnungen orientiert sich das Handeln (Keller 2012, S. 205). Aus pragmatistischem Verständnis bilden sich nach Charles Sanders Peirce durch Praxis und Erfahrung bestimmte Handlungsregeln heraus (Roos und Rungius 2016, S. 42). Unter Rückgriff auf dieses Konzept richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf die Handlungsregeln der deutschen Bundesregierung bezüglich der Behandlung der Themen Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Dabei gilt hier das demokratische Wahlsystem der Bundesrepublik als wichtiges Element der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesregierung. Ihre Legitimation, so die hier vertretene Annahme, speist sich aus öffentlichen Wahlen, zudem kann erfolgreiche Problemlösung die gesellschaftliche Anerkennung verstärken bzw. deren Ausbleiben das Gegenteil bewirken (Rudzio 2015, S. 9). Seit der Moderne hatte sich in Deutschland nach und nach durch soziohistorische Wissensvorräte das kollektive Wissen verankert, dass es als politisches Ziel gilt, den (materiellen) Wohlstand zu erhöhen. Wohlstand manifestierte sich nach dem vorherrschenden Verständnis durch ein hohes BIP beziehungsweise auf Mikroebene ein hohes Einkommen und es galt als zentrale Handlungsregel Wohlstand durch Wirtschaftswachstum zu maximieren. Dieses durch zwischenmenschliche Interaktionen generierte Wissen, das beispielsweise in Form von Handlungsmustern, Klassifikationen oder Normen auftritt, verfestigte sich in Kultur, Sprache und Gesellschaft durch Sozialisation und Institutionalisierung (Keller 2012, S. 210 f., 216 f.). Daraus folgte, dass die Steigerung des Wirtschaftswachstums sich in Deutschland gesellschaftlich und politisch etablierte und bis heute eine wirtschaftspolitische Handlungsregel darstellt, worauf sich letztlich Begriffe wie „Wachstumsparadigma“ beziehungsweise „Wachstumsdogma“ beziehen (Knauß 2016, S. 125 ff.; Vgl. Roos 2019). Diese Handlungsregeln konstituieren laut Ulrich Roos und Charlotte Rungius „Setzungen, Strategien und finale Gründe“ der deutschen Politik, also grundlegende ontologische Annahmen, sich wiederholende zielverfolgende Handlungsmuster und zentrale Ziele (Roos und Rungius 2016, S. 42). Handlungsregeln sind aber nicht unumstößlich, sie sind „[…] Resultat eines komplexen prozessualen,

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lebendigen Gewebes von Zweifel und Glaube, von Krise und Routine, von Wandel und Kontinuität“ (Ebd., S. 42). Wie im Forschungsstand beschrieben, gab es in den letzten fünfzig Jahren verschiedene Zeitpunkte mit starker Kritik an der vorherrschenden Handlungsregel „Wohlstand durch Wirtschaftswachstum“. Beachtenswert ist besonders die Entwicklung seit 2010, seitdem ist folgende Haltung weit verbreitet: Die alte Handlungsregel „Wohlstand (allein) durch Wirtschaftswachstum“ und der damit zusammenhängende rein materielle Wohlstandsindikator Bruttoinlandsprodukt sind nicht mehr zeitgemäß, die gesellschaftliche Wirklichkeit hat sich verändert. Das Besondere hieran ist, dass auch die deutsche Öffentlichkeit und vor allem die deutsche Regierung diese Kritik inzwischen (Knauß 2016, S. 75 ff.) zu großen Teilen ernst zu nehmen scheinen und bereit sind grundlegende Konzepte zu überprüfen beziehungsweise zu hinterfragen. Dafür sprechen die eingesetzte Enquete-Kommission und die Regierungsstrategie zur Lebensqualität, die Möglichkeiten einer neuen Form der Wohlstandsmessung untersuchen. Im Zuge dessen könnte sich eine neue Handlungsregel etablieren und sich damit die wirtschaftspolitische Ausrichtung des deutschen Staates von rein materiellem Wohlstandsdenken und damit langfristig von der Priorisierung von Wirtschaftswachstum gegenüber anderen Zielen abwenden. Daraus resultierte schlussendlich das dieser Arbeit zugrunde liegende Erkenntnisinteresse, inwiefern sich die diesbezüglichen Handlungsregeln der Bundesregierung und ihr Verständnis von Wachstum und Wohlstand tatsächlich geändert haben. Ob sich in der deutschen Politik eine Erzählung „[…] ökonomischer, ökologischer und politischer Gerechtigkeit gemeinsam mit tief greifender ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit“ abzeichnet, oder eine, die die „[…] herrschende Kopplung von Wirtschaftswachstum und Wohlstand nicht ernsthaft in Frage stellt“ (Roos 2019, S. 51). Der nun folgende Abschnitt erläutert knapp das Verständnis von Wissen und Wahrheit, das dieser Arbeit zugrunde liegt, und den erkenntnistheoretischen Anspruch. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist es wichtig zu erwähnen, dass diese Arbeit keine endgültigen Wahrheiten vorlegt. Wie immer in den Sozialwissenshaften ist das geschaffene Wissen nie als vollkommen wahr anzusehen, da eine Falsifikation nie ausgeschlossen ist. Der Anspruch dieser Arbeit ist es daher, gerechtfertigte und nachvollziehbare Überzeugungen über die Handlungsregeln der Bundesregierung zu formulieren, mögliche damit zusammenhängende Schlüsse zu ziehen und damit Wissen über den Untersuchungsgegenstand zu generieren. Dazu übernimmt diese Forschung die auf Oevermann aufbauende Annahme von Roos und Rungius, „[…] dass die Handlungsregeln […] durch die Analyse protokollierter Spuren von (Sprech)-Handlungen interpretiert und sinnhaft aufgeschlossen werden können“ (2016, S. 43).

3.2 Methodik, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise Im Rahmen dieser Forschung wurde induktiv vorgegangen, die Schlussfolgerungen in Form allgemeiner Hypothesen bezüglich der Handlungsregeln der Bundesregierung erfolgten also auf Grundlage von einzelnen Beobachtungen (Lamnek 2005, S. 128).

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Statt, wie ursprünglich geplant, den durch die Enquete-Kommission vorgeschlagenen Jahreswohlstandsbericht der Bundesregierung zu untersuchen, umfasst die Analyse letztendlich zwei Jahreswirtschaftsberichte, um dem in der Forschungsfrage formulierten Erkenntnisinteresse bezüglich einer potentiell veränderten oder nicht veränderten Haltung der Bundesregierung zu den angesprochenen Themen zu untersuchen. Grund hierfür war, dass die Bundesregierung den Jahreswohlstandsbericht mit Verweis auf den ausreichenden Jahreswirtschaftsbericht nicht veröffentlichte. So sollten im Jahreswirtschaftsbericht auch ausreichend Aussagen zur Frage nach Wohlstand aufzufinden sein. Offizieller Herausgeber der Jahreswirtschaftsberichte ist die Bundesregierung, der offizielle Verfasser ist größtenteils das Ministerium für Wirtschaft und Technologie in Kooperation mit den anderen Ministerien. Letztlich fiel die Wahl der Untersuchungsmaterialien auf den zum Zeitpunkt der Forschung letzten veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht aus dem Jahre 2016 und zusätzlich auf den Bericht des Jahres 2006. Die Auswahl des 2006er Wirtschaftsberichts liegt darin begründet, dass dort wie im Jahr 2016 eine große Koalition die Regierung bildete und somit eine bessere Vergleichbarkeit besteht. Zudem lag der Bericht von 2006 noch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und der danach laut gewordenen Kritik am Wachstumsparadigma. Währenddessen sollte der Einfluss anderer externer Effekte durch den überschaubaren Zeitraum von zehn Jahren nicht zu groß ausfallen. Die eigentliche Analyse folgte der Forschungslogik qualitativer Methoden, die besonders auf das intensive Nachdenken, Ordnen und Strukturieren über/der sprachlich oder schriftlich geäußerten Forschungsinhalte ausgerichtet und dem Forschungsgegenstand gegenüber offen sind (Mayring 2002, S. 40 ff.). Die methodologische Vorgehensweise basiert auf der 1967 von Glaser und Strauss begründeten Grounded Theory. Die am Ende entstandenen Annahmen ergeben sich aus einer induktiven Verallgemeinerung und zunehmender Generalisierung, der in den forschungsrelevanten Passagen der Jahreswirtschaftsberichte niedergeschriebenen Sichtweisen, wodurch eine unvoreingenommene Herangehensweise gewährleistet sein sollte (Lamnek 2005, S. 106, 113). Die Kodierung der Daten folgte drei verschiedenen, gleichzeitig stattfindenden Kodiervorgängen und ergab letztendlich Codes für Kategorien, die durch systematisches Ordnen und Strukturieren Zusammenhänge verdeutlichen und einen dichten, strukturierten Hypothesenbestand entstehen ließen (Franke und Roos 2010, S. 298 f.). Zum Ende des Forschungsprozesses richtete sich die Analyse auf eine identifizierte Schlüsselkategorie, die eine Verbindung der anderen Kategorien darstellt und dabei hilft, die Zusammenhänge zwischen den weiteren Kategorien zu erkennen und die im Idealfall zentrale für die Beantwortung der Forschungsfrage relevante Informationen wiedergibt (ebd., S. 299).

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4 Präsentation der Befunde Im Folgenden erfolgt die Darstellung der Analyseergebnisse, die aus der im Jahr 2017 durchgeführten Studie resultierten. Die aus der Analyse hervorgegangenen Kategorien sind dabei jeweils kursiv hervorgehoben. Zur besseren Nachvollziehbarkeit ist ihre Entstehung im Begleitband dokumentiert (Roos 2020, S. 125–167).

4.1 Wachstums- und Wohlstandsverständnis der Bundesregierung von 2006 Im Jahr 2006 kommunizierte die Bundesregierung besonders die Strategien Förderung des Mittelstandes und der technologischen Ausrichtung, um mehr Wachstum zu generieren. Dazu plante und implementierte sie neben Sanierungsvorhaben entsprechende Reformen und Gesetze und versuchte Anreize für Wagniskapitalinvestitionen zu schaffen, um mittelständischen Unternehmen im technologischen Sektor die Innovation neuer Produkte und Dienstleistungen zu erleichtern (siehe Abb. 2, K201). Der Export auf diesem Wege neu geschaffener Innovationen und anderer finanzstarker Produkte und Technologien sollte durch verschiedene Optimierungen der Verknüpfung Deutschlands mit dem Welthandel merklich ansteigen. Damit sollte das Wachstum durch die zunehmende Offenheit gegenüber internationalen Märkten beispielsweise auch durch bestimmte Handelsabkommen einen Schub erleben. Diese kommunizierten Maßnahmen stellen eine gezielte und aktive Anregung des Wachstums dar. Gleichzeitig stand aber auch eine Haushaltskonsolidierung im Fokus. Das Wachstumsverständnis fußte – damals wie heute – auf der sozialen Marktwirtschaft als Leitbild und es war deutlich sichtbar, dass die Bundesregierung in die Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wachstum regulierend und fördernd eingreift. Der Wachstumsprozess war somit innen- und außenpolitisch aktiv angestrebt und die Bundesregierung überließ diesen sich nicht im Stile eines Nachtwächterstaates selbst. All diese Ausrichtungen unterstrichen zudem die kommunizierte Wichtigkeit von Wachstum für die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Ein Großteil der Maßnahmen und Reformbemühungen zielte primär auf ein stärkeres Wachstum ab, diesbezüglich zeigte die Bundesregierung 2006 trotz Konsolidierungspolitik die Bereitschaft auch riskante Investitionen zur Wachstumsförderung einzugehen. In diesem Jahr wertete die Bundesregierung wirtschaftliches Wachstum als stark positiven und unverzichtbaren Teil der Wirtschaftspolitik (K205). Die Perspektive auf Wachstum bezog sich dabei nicht nur auf einen sehr schnellen kurzfristigen Erfolg, sondern auch auf die langfristigen Auswirkungen. Hier implizierten die analysierten Textstellen also eine gewisse Weitsicht der bundesdeutschen Wachstumsbestrebungen. Ein zentraler Begriff war hierbei zukunftsfähiges Wachstum. Auf dieses war die wirtschaftspolitische Strategie der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Aussagen ausgerichtet.

Abb. 2   Schaubild der Ergebnisse zum Jahreswirtschaftsbericht 2006 im Zusammenhang. (Eigene Darstellung)

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Abbildung zwei greift die im letzten Abschnitt beschriebenen und einige weitere Kategorien auf. Diese Darstellung ist der Versuch, die komplexen Vorgänge und Verknüpfungen zu veranschaulichen und bildet nur Teile der Handlungsregeln der Bundesregierung ab. Dafür ermöglicht sie eine bessere Übersicht über Bezüge zwischen den verschiedenen Kategorien. In die Darstellung flossen nicht alle Kategorien mit ein, um die Übersichtlichkeit zu gewährleisten. Das von der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 2006 kommunizierte Wachstumsverständnis betonte zudem verschiedene Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit das wirtschaftliche Wachstum einen Schub erleben kann (Abb. 2: K210). Dazu gehören unter anderem Innovationen und Investitionen, ein gesunder Staatshaushalt, ausreichend Fachkräfte, ein hoher Bildungsgrad sowie soziale Sicherheit, Chancengleichheit und der Schutz natürlicher Lebensgrundlagen. Die letztgenannten Faktoren hoher Bildungsgrad, soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Schutz natürlicher Lebensgrundlagen beziehen sich auf den Bereich, der nach der für diese Forschung verwendeten Definition als Wohlstand verstanden wird (BMF 2013). Die verwendete Definition umfasst die Dimensionen materieller und ökologischer Wohlstand sowie Soziales und Teilhabe. Die Dimension materieller Wohlstand bezieht sich auf die Versorgung von Personen, privaten Haushalten oder der gesamten Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen, die Dimension Soziales und Teilhabe wird als „persönliches Wohlbefinden im Sinne von Lebensqualität […] verstanden und durch soziale Indikatoren abgebildet“ und die ökologische Dimension stützt sich auf Ökologie, Nachhaltigkeit und Vergleichbares (BMF 2013, o. S.). Wohlstand war nach dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung von 2006 eine von mehreren Voraussetzungen für Wachstum. Gleichzeitig kommunizierte die Bundesregierung aber zum Beispiel auch, dass Wachstum eine wichtige Voraussetzung für eine stabile sozialstaatliche Wohlfahrt, mehr Beschäftigung und ähnlicher Aspekte ist, die sich nach der Definition ebenfalls Wohlstand zuordnen lassen (Abb. 2: K202). Gesellschaftlicher Wohlstand war nach diesem Verständnis also angewiesen auf Wachstum, aber gleichzeitig könnte es laut Bundesregierung ohne Wohlstand auch kein Wachstum geben. Dieses Verhältnis funktionierte also aus Sicht der Bundesregierung gewissermaßen wie eine Art Kreislauf. Während Wohlstand laut Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung für Wachstum war, war Wachstum wiederum ein Katalysator für Wohlstand, der seinerseits wieder die Grundlage für neues Wachstum darstellte. Die Bundesregierung verzichtete im Jahreswirtschaftsbericht von 2006 weitgehend auf die Verwendung des Begriffes „Wohlstand“. An den fünf Stellen, in denen der Begriff fiel, war er entweder als rein materieller Wohlstand gerahmt oder direkt mit wirtschaftlichem Wachstum verknüpft, wobei die wirtschaftliche Dimension stets als erstgenannte Komponente auftrat. Neben diesen expliziten Nennungen des Wohlstandsbegriffes flossen in die Analyse kommunizierte Maßnahmen und Aussagen der Bundesregierung mit ein, die einer Wohlstandsdefinition zugeordnet werden konnten. Unter Verwendung dieser Definition konnten verschiedene Aussagen und Maßnahmen der Bundesregierung dem Ziel der Verbesserung des Wohlstandes in Deutschland zugeordnet werden. Vermeintlich zeigt dies, dass die Bundesregierung zwar nicht explizit Wohlstand

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als Ziel ausgab, aber dennoch Maßnahmen unternahm, die zum ökologischen, sozialen und materiellen Wohlstand beitragen sollten. Dennoch stand bei den kommunizierten Aussagen stets materieller Wohlstand im Vordergrund (K207), beziehungsweise setzte sie sich für Wohlstand ein, um den Grundstein für zukünftiges Wirtschaftswachstum zu legen und nicht des Wohlstands wegen (K209). So hieß es in einer der Sequenzen zum Beispiel „effizient funktionierende Energiemärkte sind für den Standort Deutschland ein entscheidender Wachstums- und Wettbewerbsfaktor“ (BMWI 2006, S. 12). Diese Sequenz würde eher eine primär wirtschaftliche Motivation implizieren. Später transportierte die Bundesregierung dann die Aussage, die energiepolitischen Ziele Wirtschaftlichkeit/Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit seien gleichrangig (Ebd., S. 31). An dieser Stelle lag die Betonung auf der Gleichrangigkeit der Motivationen wirtschaftliche und ökologische Ziele zu erreichen. Da die Sequenzen, die wirtschaftliches Wachstum gegenüber ökologischen Zielen stärker betonten, deutlich überwogen, trägt die aus diesen Sequenzen gebildete Kategorie K118 die Hypothese, dass das ökonomische Ziel eines fortlaufenden Wachstums tendenziell über den ökologischen Zielen verortet wird. Des Weiteren wirkt sich eine höhere Energieeffizienz zwar sehr wahrscheinlich positiv auf den Ausstoß schädlicher Stoffe aus, dennoch setzt sie immer noch auf den Ausstoß dieser schädlichen Stoffe und versucht nur, diesen zu verringern. Zudem könnte ein Rebound-Effekt auftreten, da aufgrund der Energieeffizienz die Gesamtproduktion ausgebaut werden könnte und so letztendlich keine ökologische Verbesserung auftreten würde. Energieeffizienz hat also nicht automatisch positive Auswirkungen auf die ökologischen Ziele. Der Bundesregierung ging 2006 davon aus, dass es möglich sei, eine tragfähige Balance aus ökonomischer Effizienz, sozialem Ausgleich und Umwelt- und Ressourcenschutz zu erreichen. Die bisherige Wirtschaftsweise galt also weiterhin als vernünftig und optimal. Zusätzlich dazu war im Jahreswirtschaftsbericht von 2006 auffällig, dass ein wirkliches Nachdenken über den Wohlstandsbegriff beziehungsweise vergleichbare Begriffe und wie diese treffender durch Indikatoren erfassbar wären, nicht stattfand. Im Hinblick auf die zuvor in diesem Kapitel geschilderten Entwicklungen lag dies sehr wahrscheinlich vor allem darin begründet, dass Wachstum und Wohlstand im Europa der Nachkriegszeit lange Zeit parallel zunahmen und somit lange Zeit als Synonyme gebraucht werden konnten, da „Wohlstand für alle durch Wachstum“ eine empirisch zutreffende Formel zu sein schien (Empter 2011, S. 10). Die Verwendung von Wachstum und Wohlstand als einheitliche Größen ist, wie im Forschungsstand ausgeführt, mittlerweile stark umstritten, da wirtschaftliches Wachstum (gemessen in BIP) nicht automatisch mit mehr Wohlstand einhergehen muss, sondern sich sogar negative Effekte ergeben können. Bei der Analyse des Jahreswirtschaftsberichtes von 2006 verdichtet sich die Annahme, dass die Bundesregierung 2006 die Begriffe Wachstum und Wohlstand als unmittelbar verbunden ansah. Die durch die Bundesregierung kommunizierte geplante Vorgehensweise für mehr Wohlstand entsprach aufgrund der Messung von Wohlstand durch das BIP weitgehend

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der geplanten Strategie für mehr wirtschaftliches Wachstum und umgekehrt. Zu dieser Annahme passt die Art und Weise, wie die Bundesregierung von der Überlegenheit einer wachstumsorientierten Wirtschaftsweise ausging und dies auch kommunizierte. Denn diese war kaum auf Belege gestützt, sondern beinhaltete stellenweise eine beinahe transzendentale Überzeugung von der Vorteilhaftigkeit von Wachstum für die verschiedenen Wohlstandsdimensionen. Eine weiterführende Untersuchung der Frage nach dem kommunizierten Stellenwert von Wachstum und Wohlstand in der deutschen Wirtschaftspolitik, ist in Abschn. 4.3. nachlesbar. Zunächst jedoch erfolgt ein Überblick über die Befunde aus der Analyse des Jahreswirtschaftsberichtes von 2016.

4.2 Wachstums- und Wohlstandsverständnis der Bundesregierung von 2016 Im Jahr 2016 zielte die im Jahreswirtschaftsbericht formulierte Wachstumspolitik der Bundesregierung primär auf die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, die Digitalisierung, Gesetze und Reformen, Wagniskapitalfinanzierung und eine Marktöffnung zum internationalen Handel in bilateraler und multilateraler Form (Abb. 3: K207). Die Bundesregierung regte 2016 einen Wachstumsschub gezielt aktiv an und setzte sich innen- und außenpolitisch für mehr Handel und Wachstumszunahme ein. Bei der außenpolitischen Förderung von Wachstum kommunizierte die Bundesregierung neben der stärkeren multilateralen Öffnung gegenüber dem Welthandel auch die wichtige Bedeutung bilateraler Freihandelsabkommen. Die Leitlinie der sozialen Marktwirtschaft führte weiterhin dazu, dass die Bundesregierung die Vorteile von freiem Handel anvisierte, aber gleichzeitig davon ausging, immer dann regulierend in den Markt eingreifen zu müssen, wenn es darum geht, die Nachteile, die eine freie Marktwirtschaft mit sich bringen kann, abzuwenden. Die Bundesregierung beschrieb Wachstumsstreben auch 2016 als sehr positiv, es habe sich während der Krisen bewährt und sei weiterhin der zentrale Bestandteil der Wirtschaftspolitik. Zusätzlich dazu war laut Aussagen im Jahreswirtschaftsbericht der Wachstumsbegriff weiterhin deutlich auf Zukunftsfähigkeit und Dauerhaftigkeit der positiven Folgen des Wachstums ausgelegt. Auch zu den Kategorien aus dem Jahr 2016 erfolgt eine vereinfachte Darstellung der komplexen Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Kategorien (Abb. 3). Die Voraussetzungen, die die Bundesregierung im Jahr 2016 in ihrer Wichtigkeit für das aktuelle Wachstum hervorhob (K201) waren privater Konsum beziehungsweise Binnennachfrage, Investitionen und Innovationen, qualitativ hochwertige Bildung sowie das Vorhandensein von Fachkräften. Die Aspekte hochwertige Bildung aber auch privater Konsum waren mit dem zuvor definierten Wohlstandsbegriff verbunden. Hochwertige Bildung zählt zum sozialen Wohlstand, während für einen starken privaten Konsum ein ausgeprägter materieller Wohlstand vorausgesetzt ist. Auf diese Weise galt ein gewisser

Abb. 3   Schaubild der Ergebnisse zum Jahreswirtschaftsbericht 2016 im Zusammenhang. (Eigene Darstellung)

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Wohlstand auch 2016 als wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum. Da die Bundesregierung aber auch die zentrale Wichtigkeit von Wachstum für die gute Beschäftigungslage und Schutz vor Krisen betonte und allgemein aussagte, Wachstum sei eine wesentliche Grundlage für Wohlstand (K202), bedingten sich Wohlstand und Wachstum folglich gegenseitig. Unter Verwendung der zuvor beschriebenen Wohlstandsdefinition ließ sich feststellen, dass im Jahreswirtschaftsbericht von 2016 zu allen drei Wohlstandsdimensionen verschiedene Maßnahmen beschrieben werden, die darauf hindeuten, dass die Verbesserung des Wohlstands eine der zentralen, wenn nicht die zentrale Handlungsregeln der deutschen Wirtschaftspolitik darstellt. Ferner bezieht sich die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 2016 an mehreren Stellen direkt auf Wohlstand und auch auf verwandte Begriffe wie Lebensqualität oder Wohlfahrt. Eine der auffälligsten Kategorien bezüglich des Verständnisses von Wohlstand beziehungsweise Lebensqualität, die nach der verwendeten Definition ebenfalls unter den Wohlstandsbegriff fällt, war folgende: Die Bundesregierung hat die Schwäche des BIP als Wohlstandsindikator erkannt und sucht nach alternativen Indikatoren (K133). Sie berücksichtigt also, dass ein starkes Wachstum mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt nicht automatisch hohen Wohlstand bedingt. Deshalb beinhaltete die geplante Vorgehensweise zukünftig neben der Höhe den Blick besonders auf die Qualität von Wachstum zu richten (K211). Dabei lag es im Interesse der Strategie zu beachten, ob und wie stark Wachstum zu mehr Lebensqualität beiträgt, also inwiefern sich Wachstum fördernd auf beispielsweise die Qualität der Arbeitsplätze, das Ausmaß der Luftverschmutzung, die Verteilungsgerechtigkeit und weitere Aspekte auswirkt (BMWI 2016, S. 61). Im folgenden Teilabschnitt erfolgt ein Vergleich der für die Forschungsfrage relevanten Ergebnisse beider Jahreswirtschaftsberichte in Bezug auf die kommunizierte Sichtweisen auf Wachstum und Wohlstand, Strategien und Ziele sowie mögliche äußere Einflussfaktoren.

4.3 Gegenüberstellung der Wachstumsausrichtung aus den Jahreswirtschaftsberichten von 2006 und 2016 Dieser Vergleich soll die in Abschn. 1.1 formulierten Forschungsfragen beantworten und zeigen, inwiefern sich das Verständnis der Bundesregierung von Wachstum in diesen zehn Jahren verändert hat. In beiden Jahreswirtschaftsberichten war eine klare Fokussierung auf und Abhängigkeit der Wirtschaftspolitik von Wachstum zu erkennen. Bei der Analyse beider Jahreswirtschaftsberichte festigte sich der Eindruck, dass Wachstum ein unverzichtbarer und elementarer Bestandteil der deutschen Wirtschaftspolitik ist und bleibt. Die Prämisse der Unverzichtbarkeit von Wachstum und die positive Sichtweise darauf vonseiten der Bundesregierung stellte in beiden Untersuchungszeiträumen die Schlüsselkategorie dar. Im Jahr 2006 wird das Wachstums-

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streben noch etwas radikaler formuliert als 2016. So formulierte die Bundesregierung 2006, es bedürfe einer stetigen Suche nach der tragfähigen Balance aus ökonomischer Effizienz, sozialem Ausgleich und Umwelt- und Ressourcenschutz (Sq. 18). Der Halbsatz stetige Suche nach tragfähiger Balance erscheint in diesem Kontext wie der Versuch, die Grenzen des Wachstums maximal auszureizen. Im Sinne einer Handlungsregel totalen Wachstums mit der Einschränkung soziale und ökologische Themen insofern mit zu berücksichtigen, dass die soziale und ökologische Basis nicht kollabiert und damit der Systemerhalt bedroht wäre. 2016 rückte dagegen auch die Qualität des quantitativen Wachstums und deren Steigerung in den Fokus, um die Lebensqualität hoch zu halten beziehungsweise zu verbessern. Allerdings schmälert die vollständige Formulierung „Neben der Höhe des Wachstums steht auch die Qualität des Wirtschaftswachstums im Fokus wirtschafts- und finanzpolitischer Erwägungen“ die Wichtigkeit von Qualität des Wirtschaftswachstums gegenüber der Quantität desselben (S. 13). Auffällig war zudem eine häufig kommunizierte Sichtweise der Unverzichtbarkeit von Wachstum und der positiven Auswirkung desselben auf die verschiedensten gesellschaftlich relevanten Bereiche. Die Risiken und negativen Auswirkungen, die dabei einhergehen beziehungsweise verursacht werden könnten, finden sich in den Jahreswirtschaftsberichten nicht wieder. 2016 kommuniziert die Bundesregierung öffentlich die Wirtschaftsweise habe sich trotz Krise bewährt. Dies widerspricht beispielsweise den Aussagen von Stiglitz, der kommunizierte, die Krisen hätten die Schwächen des Wirtschaftssystems schonungslos offenbart (2011, S. 345 ff.). Die kommunizierte Wachstumspolitik zielte in den Jahren 2006 und 2016 auf ähnliche Aspekte ab. In beiden Jahren war die Handlungsregel wirtschaftliches Wachstum zu maximieren also nach Aussage der Bundesregierung von eminenter Wichtigkeit. Deshalb ähneln sich auch die zu beiden Zeitpunkten formulierten Voraussetzungen für Wachstum. Dazu gehören ein gewisser materieller Wohlstand der Gesellschaft, um weiteres Wachstum durch höheren Konsum zu ermöglichen, ausreichende hochwertige Bildung sowie genügend vorhandene Fachkräfte und Innovationen. Diesbezügliche Strategien sind in beiden Fällen die Erschließung neuer Märkte und die Ausweitung des Handels sowie Gesetze und Reformen, die Investitionen, Wagniskapitalfinanzierung und Wirtschaftswachstum erleichtern. Zudem zielte die Bundesregierung auf die Förderung des Mittelstandes (2006) beziehungsweise kleiner und mittelständischer Unternehmen (2016) und den Ausbau wirtschaftlicher Schlüsselzweige (2006 Technologie, 2016 Digitalisierung) ab. Dadurch sollte in beiden Fällen zukunftsfähiges und langfristiges Wachstum gewährleistet werden. Diesbezüglich bestanden also vergleichsweise geringe Unterschiede. Manches hat sich jedoch in den zehn Jahren zwischen 2006 und 2016 trotz weitgehend gleichbleibender Rahmenbedingungen wie beispielsweise der sozialen Marktwirtschaft auch gewandelt. Im Jahr 2016 lautete die Maxime nicht mehr Wirtschaftswachstum um (beinahe) jeden Preis, sondern die Qualität des Wachstums und damit Wohlstand und Lebensqualität erlebten einen wesentlich höheren Stellenwert bei der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik.

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4.4 Gegenüberstellung der Wohlstandsbegriffe aus den Jahreswirtschaftsberichten von 2006 und 2016 Im Jahreswirtschaftsbericht von 2006 gilt materieller Wohlstand gemessen in BIP aus Sicht der Bundesregierung als elementar und ökologischer sowie sozialer Wohlstand wird nur sekundär berücksichtigt. Zumindest kommunizierte die Bundesregierung weitaus öfter Maßnahmen mit der Motivation, einen wirtschaftlichen Wachstumsschub auszulösen, als mit dem Motiv, den Wohlstand in allen drei Dimensionen zu mehren. Der Begriff Wohlstand oder Aussagen, die mit Wohlstand verknüpfbar sind, waren dabei deutlich seltener im Material präsent als ähnliche Aussagen zu Wachstum, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit. Und auch Maßnahmen, die sich eigentlich positiv auf den Wohlstand auswirken, ergaben sich 2006 aus dem klar kommunizierten Motiv, dass diese wiederum einen weiteren Wachstumsschub zu stützen versprachen. Die einzigen Maßnahmen zur Steigerung des Wohlstandes beinhalteten wie selbstverständlich die Maximierung von Wachstum. Vom wirtschaftlichen Wachstum entkoppelte Strategien zur Wohlstandsmehrung fanden keine Erwähnung. Des Weiteren kommunizierte die Bundesregierung keinerlei Risiken und Nachteile des Wachstums für Wohlstand und Lebensqualität, was fraglich erscheinen lässt, ob diesbezügliche Überlegungen in der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik Beachtung finden. Während die Bundesregierung also im Jahreswirtschaftsbericht von 2006 selten auf den Wohlstandsbegriff oder vergleichbare Konzepte Bezug nahm, kommunizierte sie 2016 offen die Schwächen des BIP als Wohlstandsindikator und dachte öffentlich darüber nach, auf welche Art Lebensqualität und Wohlstand in sinnvoller Weise erfassbar sind. Damit zusammenhängend wirkten die Äußerungen der Bundesregierung aus dem Jahreswirtschaftsbericht von 2016 nicht mehr so einseitig auf die materielle Wohlstandsdimension fixiert wie noch 2006. Die Frage nach Wohlstand und Lebensqualität schien 2016 in der Politik der Bundesregierung als ernstzunehmendes Thema mit dringendem Handlungsbedarf angekommen zu sein. Zwar gab es 2006 auch schon Maßnahmen, die sich positiv auf die Wohlstandsdimensionen auswirken sollten, aber das Nachdenken über andere Dimensionen als materiellen Wohlstand und die Art und Weise wie diese bestmöglich zu fördern wären, spiegelte sich noch nicht in den Äußerungen der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht wider. Stattdessen wirkte es 2006 oft so, als wären viele Effekte, die sich positiv auf den Wohlstand und die Lebensqualität auswirken, nicht zwingend aus diesen Motiven heraus entstanden, sondern eher als Nebenfolgen des zentralen Bemühens, das im Fokus stehende wirtschaftliche Wachstum in BIP zu stabilisieren beziehungsweise zu steigern. Einschränkend ist hier für das Jahr 2016 aber hinzuzufügen, dass, trotz der stärkeren Fokussierung auf Wohlstand und Lebensqualität, bei einem Interessenskonflikt zwischen kurzfristigem materiellem Wohlstand und langfristigem ökologischem Wohlstand, der materielle Wohlstand gewichtiger wirkte. Die Bundesregierung versah den Willen nach Umwelt- und Sozialverträglichkeit mit der einschränkenden Handlungsregel, diese dürften der Wettbewerbsfähigkeit nicht im Wege stehen. Sie versucht gewissermaßen die negativen ökologischen und sozialen Folgen der

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gewinnmaximierenden Wirtschaftsweise zu lindern, nicht aber die zugrunde liegende Wirtschaftsweise zu wandeln. Maßnahmen, die die Wohlstandsdimensionen Soziales und Umwelt betreffen, dürften keine zu großen Einschnitte für die Wirtschaft bedeuten. Die Bereitschaft, die Wirksamkeit von umwelt- und sozialpolitischen Maßnahmen durch eine Integration dieser Belange in die wirtschaftspolitische Ausrichtung zu erhöhen, war damit in diesem Jahreswirtschaftsbericht – wenn überhaupt – lediglich in rudimentärer Form zu erkennen. Die soziale und ökologische Wohlstandsdimensionen nahmen auch 2016 im Vergleich zur materiellen Wohlstandsdimension nach wie vor einen Minderheitenstatus ein. Die im Forschungsstand dargelegten Krisen und Missstände beziehungsweise bestehende Herausforderungen, wie der Klimawandel, erforderten über wirtschaftliches Wachstum hinausreichende Maßnahmen zum Erhalt von Wohlstand. Das war nicht nur in Wissenschaft und Gesellschaft immer mehr konsensfähig, sondern schlug sich auch im politischen Handeln der Bundesregierung nieder. Weil das Erkenntnisinteresse auch zu gewissen Teilen auf die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ und die Regierungsstrategie zur Lebensqualität und deren Auswirkungen abzielt, bleibt festzuhalten, dass diese einen erkennbaren Einfluss auf die im Jahreswirtschaftsbericht abgedruckten Aussagen der Bundesregierung hatten. Dieser E.K. und vorausgegangenen Bewegungen folgte ein bisher nicht da gewesenes Nachdenken über die Unterscheidung der Begriffe Wachstum und Wohlstand und eine differenziertere Betrachtung der Wohlstandsdimensionen. Besonders die im Jahreswirtschaftsbericht von 2016 beschriebene Umwandlung von Wohlstandsbegriffen beziehungsweise die Etablierung des Indikators für Lebensqualität geschahen unter offen kommunizierter Bezugnahme auf die ­Enquete-Kommission und andere vergleichbare Kommissionen und Einzelakteure (siehe Sq. 40–45 des Jahreswirtschaftsberichtes von 2016).

5 Fazit Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Wachstumsausrichtung der Bundesregierung festhalten, dass diese sich zwischen den Jahren 2006 und 2016 trotz der im Forschungsstand beschriebenen Entwicklungen wenig verändert hat. Der Stellenwert von Wachstum war in diesen beiden Jahren in der deutschen Politik sehr hoch, die Bundesregierung verlieh ihm sogar den Status der Unverzichtbarkeit. In beiden Jahren kommunizierte sie zudem das Streben nach zukunftsfähigem beziehungsweise nachhaltigem Wachstum. Dabei blieb aber besonders 2006 unklar, wie genau dies auf lange Sicht gewährleistet werden soll. Dennoch hat zwischen 2006 und 2016 eine nennenswerte Änderung stattgefunden. Im Jahr 2006 baute die Bundesregierung noch auf eine stärker quantitative Wachstumsausrichtung. Möglichst viel Wachstum war unter allen Umständen das Ziel, da dieses auch automatisch den Wohlstand anheben würde. 2016 hingegen kommunizierte die Bundesregierung, neben der Quantität des Wirtschaftswachstums

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auch dessen Qualität in der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik berücksichtigen zu wollen. Geändert hat sich zudem auch das Wohlstandsverständnis. Besonders auffällig war, dass die überwiegende Fixierung auf materiellen Wohlstand zugunsten von anderen Wohlstandsdimensionen nachließ. Zuvor hatte die Bundesregierung die Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums als Grundlage allen Wohlstands gesehen, während sich der Wohlstand in einer Art Kreislauf wiederum positiv auf neues Wachstum auswirken sollte. Grund für das geänderte Verständnis im Jahr 2016 waren wahrscheinlich die im Forschungsstand beschriebenen theoretischen Überlegungen und besonders die mediale sowie gesellschaftliche Resonanz. Die Bundesregierung kommunizierte 2016 offen die Schwäche des BIP als Wohlstandsindikator und begann Wohlstand und Lebenszufriedenheit neu zu definieren. Somit stieg auch die Bereitschaft Wohlstand materieller, sozialer oder ökologischer Art, der nicht durch das BIP abgebildet wird, in der Ausgestaltung der Politik stärker zu berücksichtigen. Ein elementarer Teil dieses neuen, in der Regierungsstrategie zur Lebensqualität ausgearbeiteten Indikators ist aber (wie in Abb. 1 in Abschn. 2.4 zu sehen) weiterhin Wirtschaftswachstum. Eine zentrale Handlungsregel war dabei, dass Maßnahmen, die die soziale und die ökologische Wohlstandsdimension adressieren, die Wettbewerbsfähigkeit und damit die materielle Wohlstandsdimension nicht beschneiden dürfen. Das sowie der Grundtenor der Jahreswirtschaftsberichte legen in der Gesamtschau nahe, dass wirtschaftliche Interessen sozialen und ökologischen Interessen weiterhin übergeordnet sind. Der Wachstumstrend der Bundesregierung geht also nach eigener Aussage gewissermaßen in Richtung eines „verantwortungsvoll(er)en Wachstums“. Doch nach wie vor hält sie an der engen Kopplung von Wachstum und Wohlstand fest. Es bleibt abzuwarten, ob das bereits reicht, um die im Forschungsstand beschriebenen Herausforderungen, wie den Klimawandel und Ressourcenknappheiten und auch zukünftig auftretende Krisen in der Wirtschafts- und Finanzwelt, bewältigen zu können. Die Bundesregierung und die meisten Ökonomen würden dem wahrscheinlich entgegnen, Wachstum sei notwendig, um den Krisen begegnen zu können. Wirtschaftswachstum schaffe Innovationen, die helfen können, die derzeitigen Probleme in den Griff zu bekommen. Allerdings war und ist das eine riskante Wette. Postwachstumstheoretiker/ innen würden die konträre Position einnehmen und entgegnen, dass es dringend einer Abkehr vom Wachstumsstreben und einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Wohlstand bedarf. Ansonsten sei keine Lösung für die Krisen und Herausforderungen der Zukunft möglich. Hier stehen sich zwei Grundsätze gegenüber, die eigentlich ähnliche Ziele verfolgen: beide Seiten wollen Wohlstand. Doch die Rezepte, um diesen zu erreichen, unterscheiden sich stark. Die Bundesregierung baut fundamental auf Wirtschaftswachstum. Zwar kommuniziert sie, zukunftsfähiges und nachhaltiges Wachstum generieren zu wollen, diese Handlungsregel hält aber ganz grundsätzlich auf der Zielbestimmung des Erhalts einer wachstumsfreundlichen Ausgangslage und verschiedener darüber hinaus reichender wachstumsfördernder Strategien fest. Die Gegenseite, deren Anhänger in letzter Zeit im öffentlichen Diskurs an Einfluss gewinnen, betonen, dass ein Streben nach Wohlstand im Sinne von Lebenszufriedenheit, kein Streben nach

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wirtschaftlichem Wachstum bedeuten muss und sollte und dass das Wachstumsstreben Wohlstand und Lebenszufriedenheit sogar entgegenwirken kann. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz ist auch die Gewichtung der Wohlstandsdimensionen, die sich immens unterscheiden. Ein erster Schritt in eine diesbezügliche Neuausrichtung der Bundesregierung ist mit der Abschaffung des Bruttoinlandsproduktes als Wohlstandsindikator zwar getan. Es ist aber dennoch nicht unwahrscheinlich, dass der gesellschaftliche Druck auf die Politik in dieser Hinsicht in den nächsten Jahren weiter steigt. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die 2018 entstandene Fridays for Future Bewegung. Dort protestieren Schüler*innen für eine Einschränkung der Wachstumsmaximierung, die aus ihrer Sicht die Kosten des heutigen Wohlstands auf spätere Generationen abwälzt und dabei sogar die zukünftige Lebensgrundlage der Menschheit gefährdet. So könnte jedenfalls der dieser Bewegung zugrunde liegende gesellschaftliche Konflikt aus postwachstumstheoretischer Sicht betrachtet werden. Da die Bundesregierung ihre Legitimation elementar aus den Wählerstimmen zieht, könnte dies in Zukunft eine weitere sozial-ökologische Transformation bedingen. Diese Entwicklung gilt es aus Sicht der Sozialwissenschaften auf jeden Fall im Blick zu behalten.

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Eine andere Art des Wirtschaftens – Wirtschaftswachstum bei Bündnis 90/ Die Grünen zwischen 1994 und 2017 Sabrina Koch

Zusammenfassung

Quantitatives Wirtschaftswachstum geht mit erheblichen ökologischen Schäden einher. Aus diesem Grund wird inzwischen vermehrt eine Abkehr vom Diktum des Wirtschaftswachstums gefordert. Bündnis 90/Die Grünen (In der folgenden Arbeit wird bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen, von den Grünen gesprochen. Diese Bezeichnung hat sich medial durchgesetzt) stehen in diesem Zuge seit ihrer Gründung Wirtschaftswachstum kritisch gegenüber und fordern eine sozial-ökologische Transformation. Bei dieser Transformation steht der Bereich der Ökologie im Vordergrund. Jedoch zeigt sich, dass die Grünen statt einer vollkommenen Abwendung vom Wirtschaftswachstum zumindest derzeit auf Grünes Wachstum setzen und somit an eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und wirtschaftlichem Wachstum glauben. Allerdings setzen die Grünen, wie bei Vertreter*innen des Grünen Wachstums verbreitet, nicht nur auf technologischen Fortschritt, sondern sehen einen Wandel in der Gesellschaft als einen maßgeblichen Faktor für die Veränderung der Wirtschaft. Schlüsselwörter

Bündnis 90/Die Grünen · Wirtschaftswachstum · Postwachstum · Grünes Wachstum ·  Nachhaltigkeit · Sozial-ökologische Transformation · Menschenbild · Säulen der Nachhaltigkeit

S. Koch (*)  Augsburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_8

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1 Einleitung Während große Teile der Wirtschaft und Politik weiterhin an einer quantitativen Wachstumslogik festhalten, wächst gleichzeitig die Kritik an dieser Fokussierung. So ist Wirtschaftswachstum eng an den Verbrauch natürlicher Ressourcen gekoppelt und zugeschriebene positive Effekte, wie Arbeitsplätze, Wohlstand oder Sicherheit, bleiben inzwischen aus (Paech 2016, S. 79 f.). Zudem hat die Fokussierung auf Wirtschaftswachstum drastische Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, wie Artensterben, Klimaerwärmung, Armut oder Ungleichheit (Hinterberger et al. 2009). In diesem Zusammenhang wurden unterschiedliche alternative Wachstumsmodelle entworfen, welche auf wissenschaftlicher und politischer Ebene immer mehr Zuspruch gewinnen. Parteien und vor allem die Regierung haben hierbei die Möglichkeit, den Wachstumsdiskurs zu beeinflussen und gesellschaftliche Veränderungen voranzubringen. Auch wenn die Fokussierung auf Wirtschaftswachstum globale Auswirkungen hat, sind nationale Entscheidungen ein erster Schritt in eine nachhaltigere Gesellschaft. So haben sich inzwischen fast alle deutschen Parteien Elemente einer Strategie zur ökologischen Modernisierung der Wirtschaft zu Eigen gemacht, jedoch verbinden vor allem die Grünen seit ihrer Gründung Wirtschaftswachstum mit Naturverbrauch und stehen diesem kritisch gegenüber. Inzwischen wurden einige ihrer Ziele im ökologischen Bereich umgesetzt, sei es durch ihren Einfluss oder den Zeitgeist. So bezeichnet Probst (2013, S. 526) „Ökologie als neues in die Politik der Bundesrepublik eingeführtes Paradigma.“ Dies zeigt sich gerade auch am Ergebnis der Europawahl 2019 oder in den vielfältigen Diskussionen über Klimawandel. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die Einstellung der Grünen zu Wirtschaftswachstum seit Mitte der 90er Jahre verändert hat, welche Eigenschaften den verschiedenen Formen von Wachstum zugeschrieben werden und welches Menschenbild dieser Positionierung zugrunde liegt. Zudem wurde untersucht, inwieweit sich bei den Grünen Verbindungen zum deutschen, suffizienzorientierten Postwachstumsdiskurs im Sinne von Niko Paech finden lassen. Für die Analyse wurden die Jahre 1994 und 2017 ausgewählt, da in beiden Jahren Bundestagswahlen stattfanden, wodurch der Konsens der Partei zu Wirtschaftswachstum in den Bundestagswahlprogrammen analysiert werden konnte. Während 2017 vor allem auf Grundlage der Aktualität gewählt wurde, war 1994 die erste Bundestagswahl nach dem Weltklimagipfel in Rio de Janeiro, welcher die Bedeutsamkeit von Umweltschutz hervorhob und Nachhaltigkeit zum globalen Leitbild des 21. Jahrhunderts erklärte. Bevor die Forschungsergebnisse dargestellt werden, soll im Folgenden ein Überblick über den Forschungsstand zu den Grünen und Wirtschaftswachstum gegeben und verschiedene Modelle des Wirtschaftswachstums miteinander verglichen werden.

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2 Bündnis 90/Die Grünen Den Grünen wurde seit ihrer Gründung 1980 viel akademische Aufmerksamkeit zuteil. Dies liegt unter anderem daran, dass sie sich lange Zeit als einzige neue Partei nach 1945 im Parteiensystem etablieren konnten und das stabile Drei-Parteien-System sprengten (Anan 2017, S. 37). Bisherige wissenschaftliche Arbeiten zu der Partei bezogen sich etwa auf Parteiprogramme (Anan 2017; Van Hüllen 1990) oder auf die Geschichte der Grünen (Klein und Falter 2003; Hallersleben 1984; Probst 2013). Bezüglich der Grünen und ihrer Einstellung zu Wirtschaftswachstum gibt es hingegen wenige wissenschaftliche Beiträge. Lediglich die Zeitschrift „Standpunkte“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung befasste sich 2011 in zwei Beiträgen kritisch mit dem Wirtschaftskonzept der Grünen. Dort wurde festgestellt, dass die Grünen zwar seit ihrer Gründung Wachstumskritik äußern, die Zielformulierungen für eine Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch jedoch zu vage sind (Jäger 2011, S. 4). Auch hänge der Erfolg des ökologischen Umbaus von der Ergreifung konkreter Maßnahmen ab (Strohschneider 2011, S. 2). Andere Arbeiten zu diesem Thema unterstützen die These, dass die Grünen inzwischen eine liberale Partei seien, welche ökologische Ziele innerhalb einer marktwirtschaftlichen Ordnung erreichen wollen (Anan 2017, S. 45 ff.; Probst 2013, S. 527). An einen (wirtschaftlichen) Systemwechsel, wie ihn manche Vertreter*innen des Postwachstums für unabdingbar halten, wäre somit nicht zu denken.

3 Wirtschaftswachstum In Deutschland gibt es seit 1967 das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG). Nach diesem sollen finanzpolitische Maßnahmen so getroffen werden, „daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“ (StabG 2015). Wirtschaftswachstum ist hierdurch in Deutschland gesetzlich verankert. Auch lassen sich in dem Gesetz einige klassische positive Annahmen von Wirtschaftswachstum finden, wie etwa die bereits erwähnte Schaffung von Arbeitsplätzen, die Verringerung der Armut oder die Steigerung des Wohlstands.

3.1 Nachhaltiges Wachstum Während unter quantitativem Wirtschaftswachstum größtenteils die Zunahme der monetär erfassten Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft verstanden wird, erweitert qualitatives Wachstum diese Sphäre durch einen Fokus auf die Verbesserung der Lebensqualität, die Schonung der Umwelt und eine bessere Einkommensverteilung (Hinterberger et al. 2009, S. 34 f.). Qualitatives Wachstum steht hierbei für eine nachhaltige

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Wirtschaftsweise innerhalb der Grenzen des Planeten. In diesem Zusammenhang geben die Grünen seit 2016 einen ergänzenden Bericht zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, den Jahreswohlstandsbericht, heraus. Dieser stellt neben ökonomischen Faktoren auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen dar. Ursprünglich kommt der Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft, in welcher er den Erhalt von Waldflächen und Holzvorräten und eine Bewirtschaftung des Waldes bezeichnete, durch welche eine gleichbleibende Menge und Güte an Holzerträgen gesichert werden sollte. Anschließend wurde die Nachhaltigkeit auf andere Bereiche übertragen (Diefenbacher 2016, S. 59). Bezogen auf den Bereich der Wirtschaft wurde der Begriff der nachhaltigen Entwicklung 1987 durch die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED) geprägt. Dort heißt es, „Humanity has the ability to make development sustainable to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ Hierbei wird auf die Verantwortung der Menschheit für zukünftige Generationen und somit auf die Zukunftsgewandtheit der Nachhaltigkeit verwiesen. Auf Grundlage dieses Berichts der „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“ wurde die Weltklimakonferenz in Rio de Janeiro im Jahr 19921 vorbereitet. Diese kann als Meilenstein im Bereich Umweltschutz und Nachhaltigkeit gesehen werden. So erkennen die meisten internationalen Organisationen und Nationalstaaten seit dieser Weltklimakonferenz das Leitbild der Nachhaltigkeit an (Rogall 2015, S. 139 f.). Das Verständnis von Nachhaltigkeit hat sich jedoch seit der Konferenz teilweise verändert. So wurde in der Abschlusserklärung festgelegt, dass die Staaten das Recht haben, „ihre eigenen Ressourcen entsprechend ihrer eigenen Umwelt- und Entwicklungspolitik auszubeuten“ wenn dies anderen „Staaten oder Gebiete jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse keinen Schaden zufüg[t] (United Nations 1992).“ Jedoch wurde inzwischen verstanden, dass Umweltschäden nicht national begrenzbar sind und somit die gesamte Menschheit betreffen. Im heutigen Nachhaltigkeitsdiskurs spielen die drei Säulen der Nachhaltigkeit eine bedeutende Rolle. Hiernach kann Nachhaltigkeit nur erreicht werden, wenn neben ökonomische, auch ökologische und soziale Faktoren gleichrangig miteinbezogen werden. Um die Ausbalancierung aller drei Säulen zu erreichen, gibt es drei Strategien: Suffizienz, Effizienz und Konsistenz. Während sich Effizienz auf eine ergiebigere Nutzung von Ressourcen und Energie (Ressourcenproduktivität) bezieht, ist die Konsistenz auf naturver­ trägliche Technologien bzw. auf die Vermeidung von Abfällen durch wiederverwertbare

1Rio

war jedoch nicht die erste internationale Umweltkonferenz. Diese wurde 1972 in Stockholm abgehalten. In der Stockholm Deklaration bekennen sich die Teilnehmerstaaten erstmals zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit beim Umweltschutz. Auch wurde auf Grundlage der Konferenz das United Nations Environment Programme (UNEP) gegründet. Größere Bedeutung erlangte jedoch die Konferenz in Rio.

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Ressourcen und die Suffizienz auf die Reduzierung des Ressourcenverbrauchs durch eine Verringerung der Nachfrage ausgerichtet. Inzwischen wird der Begriff „Nachhaltigkeit“ inflationär verwendet (Diefenbacher 2016, S. 58; Rogall 2015, S. 142). Nach Rogall (2015, S. 143 f.) lassen sich jedoch verschiedene Zieldimensionen unterscheiden. Diese reichen von einer sehr schwachen Nachhaltigkeit, welche den Fokus vor allem auf die Wirtschaft legt und keine grundlegenden Veränderungen im wirtschaftlichen Handeln vorsieht, über eine starke Nachhaltigkeit, bei welcher die Zieldimensionen grundsätzlich gleichberechtigt sind, wobei in essentiellen Bereichen (z. B. Klima, Wasser) die ökologische Dimension die höchste Priorität hat, bis zu einer strikten Nachhaltigkeit, in welcher die ökologische Zieldimension stets den höchsten Stellenwert hat. Bei der letztgenannten Position wird davon ausgegangen, dass die Tragfähigkeitsgrenzen der Natur schon heute deutlich überschritten sind und daher ein radikales Umsteuern, einhergehend mit der Forderung der vollständigen Änderung der Lebensstile, notwendig ist. In Deutschland gibt es in diesem Zusammenhang zwar Bemühungen für mehr Nachhaltigkeit, der Fokus liegt jedoch weiterhin auf der Ökonomie. So werden zwar ökologische Faktoren bei der Vergabe von Aufträgen miteinbezogen, jedoch ist deren Gewichtung im Vergleich zu den ökonomischen Faktoren gering.

3.2 Grünes Wachstum Dass unter Nachhaltigkeit nicht unbedingt die Abwendung von Wirtschaftswachstum verstanden wird, zeigt sich in Wachstumsmodellen wie dem des sogenannten Grünen Wachstum. Dieses beruht auf der Idee einer nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen. Hiernach kann ein unter Umweltgesichtspunkten stattfindender Umbau der Wirtschaft hin zur mehr Energie- und Ressourceneffizienz und ein besseres Management von Naturkapital ein starker Treiber für Wachstum sein und neue Geschäftsfelder eröffnen (Lexikon der Nachhaltigkeit 2015). Wachstumskritik bedeutet somit nicht unbedingt Wachstumsverzicht – zudem nach Jäger (2011, S. 3) qualitatives Wachstum meist von der Wachstumskritik abgelöst ist. So werden beim Grünen Wachstum der Arbeits- und Verwertungsprozess als zwei parallel verlaufende, entkoppelte Prozesse angesehen. Hierbei kann durch effizientere Technologie mit dem gleichen Energie- und Stoffeinsatz mehr produziert werden, wodurch die Wertproduktion fortgesetzt werden kann, während der Stoff- und Energieumsatz sinkt (Altvater 2013, S. 74; Huber 1982, S. 106). Nach Huber (1982, S. 106) beruhen in diesem Zusammenhang sowohl der Kapitalismus als auch das ökologische Wirtschaften auf der Prämisse, aus möglichst wenig viel zu gewinnen. So wird davon ausgegangen, dass durch die eingesparten Energie- und Materialkosten Mittel für die Konsumausgaben von Haushalten freigesetzt, die Abhängigkeit von Importen verringert, ökologisches Kapital geschützt und CO2-Emissionen gesenkt werden (Jackson 2009, S. 119). Nicht Konsumverzicht und Suffizienz sollen somit den ökologischen Fußabdruck reduzieren

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und das Klima schützen, sondern innovative Produkte, Verfahren und Prozesse (Braßler 2016, S. 295). So wird folglich vor allem auf Effizienz und Konsistenz gesetzt. Hierbei ist die Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum nicht unüblich. So stellt ein Indikator für Nachhaltigkeit in der Nachhaltigkeitsstrategie von 2018 Wirtschaftswachstum dar (Bundesregierung 2018, S. 8). Eine große Rolle für das Grüne Wachstum spielen in diesem Zusammenhang erneuerbare Energien. So ist für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2017, S. 6) „die Energiewende […] Deutschlands Weg in eine sichere, umweltverträgliche und wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft.“ In diesem Zusammenhang gibt es seit 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Dieses soll erneuerbare Energien durch eine garantierte Abnahme und feste Vergütungen unterstützen und den Markteintritt erleichtern. Im Bereich der Mobilität soll vor allem das Biokraftstoffquotengesetz, die Elektromobilitätsstrategie sowie eine Kaufprämie für Elektroautos grünes Wachstum garantieren. In Bezug auf Wohnen und Ernährung hängt der Einsatz von Grünen Technologien jedoch weitestgehend von Individualentscheidungen ab. Auch wenn dem Label „grün“ positive Effekte für die Umwelt zugeschrieben werden, sind viele „grüne“ Szenarien in mindestens einem Bereich nicht nachhaltig (SD 21 Projekt, S, 7). Dies bezieht sich vor allem auf eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch bzw. Umweltbelastung und Wirtschaftswachstum. Grundsätzlich kann hierbei zwischen einer absoluten und einer relativen Entkopplung unterschieden werden. Eine relative Entkopplung besteht, wenn der Naturverbrauch zwar generell wächst, dies jedoch langsamer als das BIP. Dieser Zustand kann in Deutschland etwa in den Bereichen der CO2-Emission oder des Energieverbrauchs beobachtet werden. Eine absolute Entkopplung besteht im Vergleich hierzu, wenn das BIP wächst, während der Energie und Ressourcenverbrauch in absoluten Zahlen abnimmt (Santarius 2013). Um in einer wachstumsorientierten Gesellschaft Nachhaltigkeit zu erreichen, benötigt es eine absolute Entkopplung, welche bislang nicht gelungen ist. So zeigen alle bisherigen Konzepte mit Fokus auf Technologiefortschritte sogenannte Rebound-Effekte auf. Energie oder Ressourcen, die durch umweltfreundliche Produkte oder Dienstleistungen gespart werden, werden hierbei für zusätzlichen Konsum genutzt (Paech 2016, S. 75). Effizienzsteigerungen führen hierdurch oft nicht zu den erwarteten Ressourceneinsparungen (Braßler 2016, S. 305; Meyer 2010, S. 169). So ist laut Umweltbundesamt (2017) der Endenergieverbrauch in Deutschland seit den 1990er Jahren nicht wesentlich zurückgegangen und dies trotz effizienterer Energienutzung und -einsparung. Paech (2016, S. 75 ff.) gibt hinzukommend zu bedenken, dass Innovationen, wie die Energiewende, den materiellen Raubbau sogar intensivieren, indem verschont gebliebene Naturgüter und Landschaftsbestandteile einer „grünen“ industriellen Verwertung zugeführt werden. Da eine absolute Entkopplung und die Vermeidung von Rebound-Effekten bisher nicht erreicht wurden, vertreten einige Wissenschaftler*innen das Konzept des Postwachstums.

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3.3 Postwachstum Der Postwachstumsdiskurs existiert in Deutschland erst seit einigen Jahren. Jedoch haben die Fragen, welche der Diskurs aufwirft in Deutschland lange Tradition in der wissenschaftlichen Diskussion, den politischen Steuerungsebenen und im Engagement zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen (Muraca 2014, S. 34). Hierbei gibt es eine Vielzahl an Postwachstumsansätzen, wie kapitalismuskritische, konservative oder feministische Strömungen (Eversberg 2018, S. 58). Dieser Beitrag bezieht sich jedoch auf die bekannteste davon, die suffizienzorientierte Strömung, welche im deutschsprachigen Raum vor allem von Niko Paech vertreten wird. Dieser geht davon aus, dass prinzipiell jedes Quantum an materiellen Freiheiten, vor allem, wenn diese aus industrieller Fremdversorgung stammen, unweigerlich mit ökologischen Schäden einhergeht (Paech 2017). Im Gegensatz zum Grünen Wachstum wird somit nicht davon ausgegangen, dass ökonomische Überschüsse durch Wissen, gesteigerter Effizienz oder ähnlichen Faktoren erschaffen und verteilt werden können (Paech 2017). Der größte Unterschied zwischen Grünem Wachstum und Postwachstum ist somit die Einstellung zu Wirtschaftswachstum. Wird dieses beim Grünen Wachstum weiterhin als Zielbestimmung beibehalten, wendet sich das Postwachstum von dieser Logik ab. Für ein gelingendes Postwachstum benötigt es eine Entflechtung komplexer Produktionsketten und eine veränderte Wertschöpfungsstruktur durch z. B. Eigenproduktion, Nutzungsintensivierung, Sharing-Services und Reparabilität (Paech 2016, S. 85 f.). Während hierdurch die Arbeitsintensität des Einzelnen steigt, sinkt die Kapitalintensität, wodurch die in den Gütern gebundene Nutzenpotentiale maximiert und die Arbeitszeit reduziert werden kann. So folgt der Industriephase eine Subsistenzphase. Hierdurch entsteht nach Paech (ebd., S. 86 ff.) ein „kaskadenartiges Wertschöpfungsgefüge.“ Neben Effizienzund Konsistenzstrategie setzt das Postwachstum somit vermehrt auf Suffizienzstrategien und einen hierin enthaltenen gesellschaftlichen Wertewandel. Somit wird, im Gegensatz zum Grünen Wachstum, auch das Individuum vermehrt in die Umsetzung miteinbezogen, indem es sich auf eine Auswahl an Konsumaktivitäten beschränkt und seine globale Mobilität einschränkt (Paech 2017). Damit dies gelingt, benötigt es eine hohe Bereitschaft der Bevölkerung, ihre Konsumgewohnheiten zu ändern sowie einen generellen Strukturwandel seitens der Volkswirtschaften. Dies scheint jedoch in einer Gesellschaft mit geplanter Obsoleszenz und dem stetigen Wunsch nach Erneuerung bei jeder kleinen Innovation schwer umsetzbar zu sein. So ist nach Schmelzer und Passadakis (2011, S. 52) das Streben nach Mehr ein dominierendes Motiv in unserer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang benötigt es für Postwachstum einen radikalen Wandel der Lebensweise. Bis dieser jedoch in der breiten Gesellschaft angekommen ist, wird es noch Jahrzehnte dauern. Zwar gibt es bereits jetzt Gruppen und Bereiche, in denen Suffizienzstrategien genutzt werden, sei es Car-Sharing, Couchsurfing, Reparaturwerkstätten oder ähnliches, jedoch bilden diese Formen eher die Ausnahme als die Regel. Zudem gibt es andere Bereiche, in denen ein Konsumverzicht oder zumindest

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Einsparungen in weiter Ferne sind. Ein Beispiel hierfür ist die Elektronikbranche, vor allem in Bezug auf Hightech wie Smartphones. Diese sind inzwischen oft so konzipiert, dass bei neueren Modellen nicht einmal der Akku selbstständig ausgetauscht werden kann. Diese komplexe Technik erschwert es, Dinge selbst zu reparieren. Vor allem, da handwerkliche Kompetenz in der jetzigen Gesellschaft nicht vorausgesetzt werden kann. Auf das Problem der Umsetzbarkeit weist jedoch Paech (2016, S. 92) selbst hin, so „dürfte deren Umsetzung vorerst an politischen Mehrheiten scheitern“.

4 Zusammenfassung „Eine nachhaltige Entwicklung verlangt entweder ein Ende des Wachstums oder eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch.“ (Meyer 2010, S. 168). Während das Konzept des Postwachstums nachhaltige Entwicklung durch ein Ende des Wachstums erreichen möchte, setzt das Grüne Wachstum vor allem auf Entkopplung durch technologische Fortschritte. Grundsätzlich lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Konzepten finden. So ist das Ziel beider Konzepte die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen. Zu Erreichung dieses Ziels werden allerdings unterschiedliche Strategien genutzt. Während das Grüne Wachstum hauptsächlich auf Effizienz und Konsistenz durch innovative Produkte und Verfahren setzt, sehen Postwachstumsvertreter*innen wie Niko Paech die Lösung vor allem in Suffizienz und somit in der Verlängerung der Nutzungszeit. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Vertreter*innen des Grünen Wachstum Suffizienz vollkommen außer Acht lassen. So wird auch hier auf deren unbedingte Notwendigkeit verwiesen. Während das Postwachstum durch die Forderung eines radikalen Wandels der Wirtschaft eine strikte Nachhaltigkeit vertritt, lässt sich beim Grünen Wachstum eine Position der starken Nachhaltigkeit finden (Abschn. 3.1). So wird die Notwendigkeit einer Veränderung der Wirtschaft zwar als erforderlich angesehen, jedoch ist die Veränderung weniger radikal als beim Postwachstum. Wird beim Grünen Wachstum eine Modernisierung innerhalb des kapitalistischen Systems angestrebt, kommt das Postwachstum einem Systemwechsel gleich, denn um die Forderungen Paechs umzusetzen, bedarf es ein radikales Umdenken der Menschen bezüglich ihrer Konsumgewohnheiten. Ob eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum schlussendlich gelingen kann und Nachhaltigkeit auch mit Wachstum erreicht werden kann, bleibt fraglich und in der wissenschaftlichen Community umstritten. Jedoch ist die Entkopplung „bis heute auch noch nicht ernsthaft und prioritär versucht worden“ (Meyer 2010, S. 169). So gibt es zwar zahlreiche internationale Abkommen, allerdings hat der Kampf für Nachhaltigkeit weltweit immer noch keine Priorität. Dies zeigt sich auch darin, dass die Klimaziele bis 2020 bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD 2018 als erstes aufgegeben wurden und dies in Deutschland, einem Land, das sich gerne mit seiner Nachhaltigkeit brüstet.

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5 Methodologische und methodische Fundierung der Arbeit Fundament der vorliegenden Arbeit ist die Handlungstheorie des sogenannten amerikanischen Pragmatismus. In Anlehnung an Franke und Roos wird in Bezug auf die Grünen von einer „Struktur kollektiven Handelns“ (SKH)2 gesprochen. Die SKH beschreibt hierbei „soziale Institutionen, die das kollektive Handeln mehrerer Personen mit dem Ziel der Regulierung der Folgen der Auswirkungen kollektiven Handelns ermöglichen sollen“ (Roos 2013, S. 314).

5.1 Ontologische Prämissen Im Pragmatismus wird angenommen, dass die soziale Welt der Menschen aus intersubjektiv geteilten Begriffen, Regeln und Ideen besteht, welche als Folge gemeinsamen Handelns entstehen (Jasper 2013, S. 35). Menschliches Handeln ist somit immer in konkreten Situationen verankert und Erkenntnis, Denken und Handeln wechselseitig aufeinander bezogen (Hellmann 2010, S. 150 ff.). In diesem Zusammenhang ist der von Peirce beschriebene Weg vom „Zweifel“ zur „Überzeugung“ für die Forscherin grundlegend (Peirce 1959, S. 47). Der Zweifel an etwas, in diesem Fall den Versprechungen des quantitativen Wachstums, führt zur Motivation, sich mit diesem Gegenstand auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung wiederum kann zur Herausbildung einer neuen Überzeugung führen, dass beispielsweise Wirtschaftswachstum nicht nur Vorteile, sondern auch dramatische Konsequenzen hat. Dies wiederum markiert den Ausgangspunkt jeglichen Handelns, z. B. da quantitatives Wirtschaftswachstum negative Konsequenzen hat, wird ein neues Konzept benötigt, welches andere Faktoren, wie die Zufriedenheit der Menschen oder den Klimaschutz, miteinbezieht. Die Herausbildung einer Überzeugung führt hierbei zu der Erschaffung einer Handlungsregel (Hellmann 2010, S. 151). Beispielsweise, dass ökologische Faktoren in ökonomische Entscheidungen miteinbezogen werden müssen. Überzeugungen leiten somit Handeln an. Zusammengefasst bedeutet diese Kopplung aus Überzeugung und Handeln: „belief is a rule for action.“ (Peirce 1985, S. 54). Ein Ziel der Arbeit ist es daher, zu ergründen, welche intersubjektiv geteilten Überzeugungen die Grünen veranlassen, Wirtschaftswachstum aus einer bestimmten Perspektive zu betrachten und einen bestimmen Sinn zuzuschreiben.

2Diese

Idee einer Struktur kollektiven Handelns geht ursprünglich auf Dewey zurück, welcher diesen am Beispiel einer Aktiengesellschaft in seinem Buch „The Public and its Problems“ einführt. „[A] corporation as such is an integrated collective mode of action having powers, rights, duties and immunities different from those of its individual members in their other connections“ (Dewey 1991, S. 190). Auf den „collective mode of action“ bezieht sich Roos, wenn er von einer SKH spricht.

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Besonders grundlegende Überzeugungen werden als finale Gründe bezeichnet. Diese stellen die idealtypischen Vorstellungen einer SKH in Bezug auf das Endstadium eines Prozesses dar. Sie sind jene Handlungsregeln, welche die Ziele der SKH bestimmen (Hellmann 2010, S. 151). Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie rekonstruiert die finalen Gründe der Partei Bündnis 90/Die Grünen bezüglich des Stellenwerts, dem Wirtschaftswachstum in diesen Begründungsketten zugesprochen wird (Abschn. 4). Handeln kann jedoch nur entlang einer bestimmten Menge an Möglichkeiten realisiert werden (Strübing 2004, S. 38). So sind die Konzepte bezüglich Wirtschaftswachstums und die Eigenschaften, die diesem zugeschrieben werden, nicht endlos, wodurch Überzeugungen niemals einer einzigen SKH immanent sind, sondern sich gleiche Überzeugungen bei mehreren SKHs finden lassen. Zudem können Überzeugungen verändert werden, denn Handlungen führen irgendwann zu Zweifeln, welche wiederrum Ausgangspunkt neuer Überzeugungen werden (Peirce 1985, S. 55). So wird die Überzeugung, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt, von immer mehr Menschen geteilt, sodass weltweite Handlungsregeln gegen den Klimawandel entstanden sind. Auf dieser Grundlage wird davon ausgegangen, dass die Grünen ihre Einstellung zu Wirtschaftswachstum im Handeln reflektieren, entwickeln, modifizieren und reproduzieren (Strübing 2004, S. 43). Veränderungen der Handlungsregeln sind somit möglich, weshalb das Analysieren zweier zeitlich unterschiedlicher Punkte sinnvoll ist.

5.2 Epistemologische Prämissen Die Forscherin geht davon aus, dass die soziale Welt durch Zeichen konstruiert wird (Jasper 2013, S. 36). Der Erwerb von Wissen ist somit sprachabhängig und von Beginn an interpersonell (Davidson 2006, S. 48). Dies bedeutet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer interpretations- und sprachabhängig sind, wodurch die universelle Richtigkeit von Positionen nicht von einem externen Messpunkt aus begutachtet werden kann (Jasper 2013, S. 36). So sind für William James (1994, S. 141) Dinge nur innerhalb der intersubjektiv geteilten Erfahrung wahr. Ziel dieser Arbeit ist es daher nicht, endgültige Aussagen über die Wahrheit der untersuchten Sachverhalte aufzustellen, da die Ergebnisse von der Interpretation und den Erfahrungen der Forscherin abhängen. Wahrheit und Wissen sind somit nie historisch fixiert, sondern gelten nur so lange, bis sich eine bessere Erklärung für Dinge durchgesetzt hat. „Es gibt keine Überzeugungen, von denen man wissen kann, daß sie gegen jeden möglichen Zweifel gefeit wären.“ (Rorty 2000, S. 9). Durch den Zweifel an etwas wird somit neues Wissen und Wahrheit generiert. Dies lässt sich mit dem bei Peirces grundlegenden sozialen Mechanismus des fortlaufenden Wandels von Zweifel zu Überzeugung zu Zweifel verbinden.

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5.3 Methodisches Vorgehen In der Arbeit lag der Fokus auf der Bundesebene der Grünen, da diese die größte Relevanz im Bereich Wirtschaftswachstum hat und die Politik auf Landes- und Kommunalebene beeinflusst. Im Mittelpunkt der Analyse standen daher die Bundestagswahlprogramme der Grünen von (1994) und (2017). Nach Hüllen (1990, S. 19) erfüllen die Parteiprogramme der Grünen, mehr als bei anderen Parteien, eine nach innen gerichtete Zielbestimmungsfunktion. Zudem stellen Wahlprogramme den zuvor abgestimmten Konsens der Partei zu Wirtschaftswachstum dar, enthalten konkrete Forderungen für eine Legislaturperiode und zeigen die Zukunftsvisionen der Partei in allen gesellschaftlich als relevant betrachteten Bereichen auf (Anan 2017, S. 30). Zugleich spiegeln Wahlprogramme vor allem die Idealvorstellungen der SKH. Wahlprogramme müssen nicht zwingend am Kriterium der Realisierbarkeit orientiert sein, sondern sind strategisch verfasste Dokumente, durch welche „vorteilhafte Botschaften an die umworbenen Gruppen“ (ebd.) gesendet werden sollen. Wahlprogramme zeigen somit vor allem die finalen Gründe und Setzungen der SKH auf. Konkrete Handlungsstrategien der politischen Praxis lassen sich hingegen allein auf dieser Basis nur ungenügend beleuchten (ebd.). Daher wurden zusätzlich zwei Experteninterviews mit Parteimitgliedern geführt. Als Expert*in galt, wer Mitglied der Grünen ist oder war und zudem über besondere Expertise zum Thema des Wirtschaftswachstums verfügt. In diesem Zusammenhang wurde ein Interview mit Herrn Ulrich Martin Drescher, einem langjährigen Mitglied der Grünen, Bundestagskandidat und Gründer von „Unternehmens Grün“ (einem Lobbyverband für ökologisches Wirtschaften) geführt. Das zweite Interview fand mit dem ehemaligen (2013–2017) wirtschaftspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Dieter Janecek, statt. Während Herr Drescher als Mitglied der Partei mit Expertise in wirtschaftspolitischen Themen und als Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft interviewt wurde, sprach Herr Janecek stellvertretend für die ganze SKH.

5.4 Auswertung Das ausgewählte Material wurde mit Hilfe der Grounded Theory ausgewertet. Hierbei steht im Kern der Analyse „das Identifizieren, Entwickeln und In-Beziehung-Setzen von Konzepten“ (Strauss und Corbin 1996, S, 149). Sie bietet sich unter anderem durch ihre hohe Flexibilität an. Zudem hebt sie „die zeitliche Parallelität und die wechselseitige funktionale

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Abhängigkeit der Prozesse von Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung.“ (ebd.) hervor3. Die Grounded Theory schlägt ein mehrstufiges Modell der Auswertung (Kodieren) empirischer Daten vor. Je weiter das Kodieren fortgeschritten ist, umso deutlicher werden die Kategorien, bis zuletzt Schlüsselkategorien gebildet werden können (Strauss 1998, S. 91). Hauptmerkmal des Kodierprozesses bildet die Methode des ständigen Vergleichens von Daten. Hierbei wird das vorhandene Material auf relevante Daten durchsucht und dessen Eigenschaften abstrahiert, ausdifferenziert und beschrieben. Das ständige Vergleichen von Ereignissen führt nach Glaser und Strauss (ebd., S. 54) sehr bald zur Generierung von Kategorien verstanden als hypothetische Eigenschaften des Gegenstands. Hierbei ist das sogenannte Kodierparadigma wesentlich. Nach diesem soll bei der Auswertung stets nach Kontextbedingungen des beobachteten Phänomens, der Interaktion zwischen den Akteuren, den Strategien und Taktiken, wie auch nach den Konsequenzen, gefragt werden (ebd., S. 57). Über das Ende der Analyse bestimmt das Konzept der theoretischen Sättigung. Diese tritt ein, wenn eine weitere Auswertung keine neuen Eigenschaften der Kategorien zu Tage fördert (Strauss 1998, S. 55). Eine gewisse theoretische Sättigung konnte auch in der vorliegenden Studie erreicht werden, jedoch nicht in Bezug auf den gesamten Themenkomplex Wirtschaftswachstum. So konnten etwa parteiinterne Unterschiede bezüglich der Parteiflügel oder die Argumentationen, Strategien und Handlungen der Grünen außerhalb des Wahlprogramms nicht analysiert werden. Jedoch kristallisierten sich thematische Schwerpunktsetzungen und Argumentationsmuster der SKH in Bezug auf Wirtschaftswachstum heraus.

6 Eine andere Art des Wirtschaftens In einer „anderen Art des Wirtschaftens“ kann der höchst priorisierte finale Grund bzw. eine Schlüsselkategorie der SKH gesehen werden, da sich alle weiteren Kategorien auf diese geforderte Veränderung beziehen lassen. Das grundlegende Ziel des Wandels der Art des Wirtschaftens veränderte sich im betrachteten Zeitraum nicht, auch wenn sich Veränderungen in der Konkretisierung dieser Zielbestimmung im Zeitverlauf

3Glaser

und Strauss präferieren jeweils einen unterschiedlichen Umgang mit Vorwissen. Während nach Glaser Vorwissen möglichst nicht in die Analyse miteinbezogen werden sollte, sieht Strauss dieses als entscheidende Variable für die Qualität einer Arbeit. In der vorliegenden Studie wurde die Vorgehensweise nach Strauss gewählt, da davon ausgegangen wird, dass eine künstliche Naivität nur in einem gewissen Maße hergestellt werden kann und das vorhandene Vorwissen die Qualität der Arbeit fördert. Dies deckt sich auch mit der pragmatistischen Tradition. So merkt Peirce an: „We cannot begin with complete doubt, we must begin with all the prejudices which we actually have (Peirce 1997, S. 4).

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f­eststellen lassen. So fordert die SKH 2017 eine „sozial-ökologische Modernisierung“4 der Wirtschaft, während 1994 von einem „ökologischen-solidarischen Gesellschaftsvertrag“ gesprochen wird. Ein Gesellschaftsvertrag impliziert im Vergleich zu einer Modernisierung, dass die ganze Gesellschaft involviert ist und betont hierbei die individuelle Verantwortung. Auch ist ein Vertrag ein bindendes Dokument, welches Rechte und Pflichten beinhaltet. Das Konzept der Modernisierung beruht hingegen auf einer freiwilligen, nicht verpflichtenden Fortentwicklung der Gesellschaft. Diese Verschiebung von Pflicht zu Freiwilligkeit zeigt sich auch darin, dass die SKH 1994 von einer „Verantwortung“ für die Zukunft spricht, während 2017 hauptsächlich von einer „Gestaltung“ der Zukunft gesprochen wird. Gestaltung bedeutet jedoch nicht unbedingt einen Wandel zu etwas Besserem, in diesem Fall einer ökologischen Gesellschaft. Dies wird von der SKH jedoch nicht näher erörtert, stattdessen gilt dort „neu“ als gleichbedeutend mit „gut.“ Dies lässt sich auch im Streben nach technologischer Innovation finden. So würden innovative Produkte dabei helfen „unsere Lebensqualität zu verbessern und den Ressourcenverbrauch zu senken“ (Grüne 2017, S. 40).

6.1 Ökologie im Mittelpunkt Die Fokussierung auf Ökologie stellt einen weiteren finalen Grund dar. Insgesamt bezieht sich die SKH implizit bei ihren Handlungsregeln auf die drei Säulen der Nachhaltigkeit und stellt zwischen diesen und Wirtschaftswachstum einen Zusammenhang her. Den Säulen werden hierbei wechselseitige Wirkungen zugeschrieben, wobei sie nicht ausbalanciert seien und ein Machtvakuum zugunsten der Ökonomie angenommen wird. Die Fokussierung auf Profit und die Gegenwartsbezogenheit der Wirtschaft führt laut der SKH zu einer Krise aller drei Säulen. Die Grünen sprechen hierbei von einer doppelten Strukturkrise. Auf ökologischer Seite durch falsche Produkte und Verfahren und auf sozialer Seite durch Verteilungsungerechtigkeit bezogen auf Arbeit und Einkommen (Grüne 1994, S. 9). Die Grünen wollen hierbei die Fokussierung auf ökonomische Aspekte abmildern und die drei Säulen ausgleichen, wobei in essenziellen Bereichen eine Priorisierung der Ökologie angestrebt wird, denn die Ökologie ist für die SKH eine wesentliche Voraussetzung für späteren wirtschaftlichen Erfolg. Kommt es

4Der

Begriff der „sozial-ökologische Modernisierung“ ist jedoch nicht Grünen-spezifisches Immanentes. So wurde das Konzept der „ökologischen Modernisierung“ unter anderem von Joseph Huber in den 1980er Jahren entwickelt. Wesentliche Intention war es eine Schnittmenge zwischen Ökonomie und Ökologie zu finden. Im ökonomischen System sollten Lösungen für ökologische Probleme gefunden werden. Der Fokus lag auf technologischer Innovation (Huber 1982, 2011). Hierbei wird angenommen, dass die ökologische Frage nur systemimmanent und schrittweise lösbar ist. Katastrophen kann primär durch technischen Fortschritt und begleitet durch Reformen auf politischer, sozialer und ökonomischer Ebene entgegengewirkt werden (Adler und Schachtschneider 2010, S. 117).

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zu keiner ökologischen Umgestaltung, bleibt der Erfolg aus und der Wirtschaftsstandort Deutschland ist gefährdet. Einer ökologischen Transformation werden hierbei zugleich positive Effekte auf den sozialen Bereich zugeschrieben. „Wer die Umwelt schützt, kämpft für eine lebenswerte und gerechte Welt für alle.“ (Grüne 2017, S. 17). Ökologie wird somit zum Kernelement für eine gute Zukunft und ihre Priorisierung in essenziellen Bereichen zur Handlungsregel erhoben. Dies entspricht nach Rogall einer starken Nachhaltigkeit (Abschn. 3.1). Zwar werden die planetaren Grenzen als erreicht und in manchen Bereichen auch als überschritten angesehen sowie die Ökologie als wichtigstes Element in essenziellen Bereichen bewertet, jedoch wird im Vergleich zur von vielen Postwachstumstheoretiker*innen vertretenen strikten Nachhaltigkeit keine radikale Umsteuerung gefordert. Stattdessen erscheint die schrittweise Transformation entlang des Konzepts einer starken Nachhaltigkeit aus dieser Perspektive sinnvoll. Insgesamt lassen sich vielfältige, von den Grünen unterstellte Verknüpfungen der drei Nachhaltigkeitsebenen erkennen. Fokussiere sich beispielsweise die Ökonomie auf Profit und investiert nicht in die Zukunft, habe dies negative Auswirkungen auf die beiden anderen Ebenen und schlussendlich auch auf die Ökonomie selbst, da diese durch fehlende Investitionen nicht mehr zukunftsfähig sei. Wird hingegen auf ökologische Produkte gesetzt, wird die Gesellschaft gerechter, die Umwelt geschützt und die Unternehmen können nachhaltigen Profit erwirtschaften. Der sozial-ökologische Umbau ist somit für die gesamte Gesellschaft profitabel. Es zeigt sich, dass für die Grünen zwischen allen Bereichen Abhängigkeiten bestehen. Diese werden jedoch vor allem bezüglich der sozialen Säule deutlich. So werden in keinem der betrachteten Dokumente soziale Veränderungen als Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Transformation gesehen. Gerechtigkeit und Chancengleichheit können somit für die Grünen nicht von sich heraus entstehen, sondern benötigen bestimmte ökologische und ökonomische Rahmenbedingungen. Gleichzeitig weisen die Grünen darauf hin, dass eine Erneuerung ohne die Gesellschaft nicht möglich ist. Um etwas zu verändern, brauche es einen Wandel der Denkweise (Von Weizsäcker 2017, S. 35). Dies zeigt sich auch bei den Strategien für eine nachhaltige Entwicklung, auf welche im Folgenden eingegangen wird.

6.1.1 Suffizienz, Konsistenz, Effizienz Wie auch beim Grünen Wachstum stehen zunächst Konsistenz und Effizienz im Mittelpunkt der Veränderung der Art des Wirtschaftens, wobei nur die Forderung nach Effizienz explizit benannt wird. Jedoch wird mehrmals darauf hingewiesen, dass es für eine Modernisierung und einer absoluten Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum auch eine Veränderung der Konsumgewohnheiten (Suffizienz) benötigt. Die Grünen fordern in diesem Zusammenhang eine Kultur des bewussten Gebrauchs, denn die Art zu Leben und zu konsumieren betrifft jede Person in ihren individuellen Konsumgewohnheiten und ihrem Lebensstil. Um nachhaltige Entscheidungen anzustoßen, wollen die Grünen Anreize auf verschiedenen Ebenen schaffen.

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So setzt die SKH nicht nur auf elektrische Mobilität, sondern auch auf den Ausbau des ÖPNV, Tauschringe etc. (Grüne 1994, S. 32; 2017, S. 44). Während jedoch 1994 die Einstellung der Bürger*innen zu dem beschriebenen nicht-nachhaltigen Konsumstil nicht erwähnt wird, argumentieren die Grünen 2017, dass viele Verbraucher*innen die Wegwerfgesellschaft hinter sich lassen wollen (Grüne 2017, S. 159). Dies basiert auf individuellen Entscheidungen, jedoch sind diese umrahmt von technischen Innovationen und regionalem Angebot. In diesem Zusammenhang werden im Bereich der Effizienz vor allem Unternehmen in die Verantwortung gezogen. So soll „die Produktverantwortung der Hersteller […] nicht durch Besitzerwechsel auf dem Ladentisch enden“ (Grüne 1994, S. 33), wodurch Unternehmen die Lebensdauer und Reparabilität von Produkten wieder erhöhen sollen. Hierbei können in Bezug auf Effizienz und Konsistenz klare Maßnahmen verabschiedet werden, während Suffizienzstrategien stark von individuellen Entscheidungen abhängen. Zusammenfassend lässt sich erkennen, die Grünen wenden sich nicht gegen Konsum, dieser soll nur nachhaltig gestaltet werden und somit innerhalb der planetaren Grenzen stattfinden. Diese Umgestaltung kann als Suffizienz-Strategie interpretiert werden, soll doch die Haltbarkeit von Produkten erhöht werden, wodurch es zu einer Verringerung der Nachfrage kommt. Dem würde jedoch Paech (2010, S, 33) widersprechen, denn für ihn ist „Suffizienz […] keineswegs, […] eine nahe Verwandte des nachhaltigen Konsums, sondern deren Widerpart. Sie verkörpert den Nicht-Konsum.“ Folgt man Paech, wenden die Grünen zwar auch suffizienzfördernde-Mittel an, jedoch werden diese mit einer anderen Zielsetzung verfolgt. So soll die Nachfrage nicht unbedingt verringert, sondern nur nachhaltig gestaltet werden. „Ein ausschließlicher Akzent auf die nachhaltige Gestaltung von Konsumobjekten oder -formen kuriert [jedoch für Paech] nur an den Symptomen und rechtfertigt ein Gesamtsystem, das per se nicht zukunftsfähig ist“ (ebd., S. 39).

6.1.2 Rebound-Effekte Da in beiden Wahlprogrammen nicht auf Rebound-Effekte eingegangen wird bzw. diese nur indirekt durch die Forderung einer anderen Art des Konsumierens berührt werden, wurde dieser Aspekt in den Interviews beleuchtet. Laut Herrn Drescher stellt eine kontinuierlich zunehmende, am Ressourcenverbrauch gekoppelte Steuer eine Möglichkeit dar, um Rebound-Effekte zu vermeiden. Hierbei bezieht er sich explizit auf Weizsäcker, welcher davon ausgeht, dass neben möglichen Effizienzgewinnen in verschiedenen Branchen, dem Rebound-Effekt durch eine ­ Langfrist-Ökosteuer entgegengewirkt werden kann. So sehen nach Weizsäcker (2017, S. 199) Firmen Nachhaltigkeit zwar als wichtig an, solange die Ressourcenkosten jedoch niedrig sind, komme es zu keiner Veränderung. Gemäß seinem Vorschlag sollen „die Preise von Energie und anderen Rohstoffen langsam, aber stetig angehoben werden“ (ebd. 2010, S. 312). Der Umfang der Erhöhung richtet sich nach dem Anstieg der Ressourcenproduktivität, was eine soziale Verwerfung verhindern soll, da die Preise für die Bevölkerung auf diese Weise gleichbleiben. Seitens der Firmen würde

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ein Wettbewerb der größten Effizienz entstehen und auch gesamtgesellschaftlich hat die Besteuerung Vorteile, da die Einnahmen für Steuersenkungen in anderen Bereichen eingesetzt werden können. Zudem könnten arme Haushalte vor großen Ausgaben aufgrund der Steuer bewahrt werden, indem eine gewisse monatliche Menge der jeweiligen Ressource abgabenfrei wäre (ebd, S. 312 ff.). Gegenwärtig und ohne eine solche Abgabe bezeichnet Herr Drescher den Ressourcenverbrauch nach wie vor als erheblich, trotz aller grünen Technologien. Herr Janecek sieht jedoch in eben diesen grünen Technologien die realistischste Möglichkeit, nachhaltiger zu wirtschaften. So nehmen die Grünen in dieser Hinsicht eine pragmatische Haltung ein. Innovationen, gerade in Bezug auf erneuerbare Energien, sind derzeit die beste Lösung, wenn auch keine endgültige, daher wird auf diese – in Kombination mi einer wirksamen Öko-Steuer – gesetzt, bis eine bessere Lösung gefunden wird. Die SKH setzt somit auf eine schrittweise Entkopplung durch Effizienz- und Konsistenzsteigerung.

6.2 Typen und Eigenschaften von Wirtschaftswachstum Wirtschaftswachstum wird in den Wahlprogrammen kaum explizit benannt bzw. lediglich mit der sozial-ökologischen Modernisierung in Zusammenhang gebracht. Die Grünen unterscheiden zwei Formen des Wirtschaftswachstums. Zum einen das konventionelle, quantitative Wachstum und zum anderen die Wirtschaftsweise nach der sozial-ökologischen Modernisierung, welche qualitative und hierbei explizit nachhaltige Wachstumsideen widerspiegelt. Bei den zugeschriebenen Eigenschaften ließen sich zu den beiden untersuchten Zeitpunkten keine großen Unterschiede feststellen.

6.2.1 Wirtschaftswachstum führt zu sozialer Ungerechtigkeit Die derzeitige Art des Wirtschaftens und damit quantitatives Wirtschaftswachstum führt für die Grünen zu einer ungerechten Gesellschaft. Ein finaler Grund, den die Grünen daher mit der Modernisierung der Art des Wirtschaftens verbinden, ist soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit bezieht sich hierbei auf alle drei Nachhaltigkeitsebenen. So lässt sich laut SKH auch eine große Verbindung von Gerechtigkeit und Ökologie finden, denn wer die „Umwelt schützt, kämpft für eine lebenswerte und gerechte Welt für alle“ (Grüne 2017, S. 17). Auch hier zeigt sich, die in Abschn. 6.1 dargestellte Abhängigkeit der sozialen Sphäre von ökologischen und ökonomischen Maßnahmen. Für die Grünen sind vor allem benachteiligte Gruppierungen von der Umwelt­ veränderung und daher von Ungerechtigkeit betroffen, denn „gerade diejenigen, die wenig haben, leben in Vierteln mit hoher Luftverschmutzung oder großer ­Lärmbelästigung“ (ebd,. S. 15). Zu diesen Gruppierungen gehören Frauen, Kinder und von Armut betroffene Personen unerheblich ob national oder international. Die Grünen wollen daher benachteiligte bzw. wenig einflussreiche Gruppierungen unterstützen. In Deutschland beziehen sie dies z. B. auf eine Vergünstigung des ÖPNV, der Schaffung besserer Auf­ stiegschancen sowie einer Mietpreisbremse. International sollen die strukturellen Gründe

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für Ungleichheit vor allem durch fairen Handel und faire Entwicklungschancen im Agrarbereich angegangen werden. Zudem spielt für die SKH die Regulierung des internationalen Finanzmarktes eine große Rolle, denn durch die Globalisierung hätten einige Konzerne einen zu großen Einfluss auf politische Entscheidungen gewonnen, wodurch wenige Menschen zu viel Macht haben (ebd., S. 190). Diese Macht werde hierbei nicht genutzt, um Veränderungen voranzubringen, sondern um die Ungleichheit immer weiter zu verstärken. Benachteiligte Gruppierungen sind somit von den Entscheidungen einiger Weniger abhängig, wodurch es eine Interessenslobby für sie benötigt. Die Grünen bezeichneten 1994 die Wirtschaft Deutschlands als demokratiefreien Raum (ebd., 1994, S. 12). Dies verbinden sie vor allem mit fehlenden Mitentscheidungsmöglichkeiten der Bürger*innen. Um dies zu verändern und dem Fortschreiten von Ungerechtigkeit entgegenzutreten, stellt die Forderung nach Partizipation über den Untersuchungszeitraum hinweg eine wichtige Handlungsregel für die SKH dar. So wird ein weltweiter Ausbau der Demokratie durch Partizipationsmöglichkeiten und dem Schaffen von Gerechtigkeit angestrebt. Dies bezieht sich 2017 vor allem auf die Gestaltung von Umwelt- und Naturschutz zusammen mit den Bürger*innen vor Ort (ebd., 2017, S. 48 f.). Herr Janecek verknüpft hierbei Bürger*innenpartizipation direkt mit Dezentralisierung, etwa bei der Energiewende, der Zurückgewinnung des öffentlichen Raumes oder der Lokalisierung der Wirtschaft. So findet sich auch hier das Motiv des gemeinsamen Zukunft Gestaltens.

6.2.2 Wirtschaftswachstum ist zukunftsblind und zerstört den Planeten Die SKH betrachtet die derzeitige Art des Wirtschaftens und hierdurch auch das Wirtschaftswachstum als gegenwartsbezogen. So ist „unser wirtschaftlicher Erfolg […] ein Erfolg auf Pump“ (ebd., 1994, S. 8). Die SKH schreibt in diesem Zusammenhang: „uns geht es darum zu verhindern, dass blinder Wachstumsglaube und ungebremstes Profitstreben unseren einzigartigen Planeten zerstören“ (ebd., 2017, S. 14). Das blinde Wachstum verbindet die SKH mit dem gesellschaftlichen Zwang des „Immer mehr und immer schneller“ (ebd., S. 44). Zwang erwähnt Herr Janecek in Form eines Wachstumszwangs, welcher für ihn in direkter Verbindung zum kapitalistischen System steht. Da jedoch kein Systemwechsel angestrebt wird, bleibt der Wachstumszwang bestehen. So soll Wirtschaftswachstum so kanalisiert werden, dass die Veränderungen noch erträglich sind. Auch hier zeigt sich, dass gemäß der Grünen neben den Unternehmen auch die Bürger*innen für eine Veränderung unabdingbar sind. Um die Zukunft lebenswert zu machen und die Lebensqualität zu steigern, muss der SKH folgend das Wirtschaften so verändert werden, dass die Grenzen des Planeten respektiert werden. Insgesamt soll „langfristige Nachhaltigkeit mehr zählen als kurzfristige Rendite“ (Grüne 2017, S. 44). Diese Forderung bleibt bei beiden Wahlprogrammen gleich. Die SKH verknüpft mit dem klassischen Wachstumsparadigma Ressourcenverbrauch, welcher vom Wachstum  entkoppelt werden muss. Diese Entkopplung soll vor allem durch die bereits ausgeführten Konzepte der anderen Art des Wirtschaftens und des nachhaltigen Konsums erreicht werden.

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Wirtschaftswachstum wird jedoch von den Grünen nicht nur negativ konnotiert. So schreiben sie: „Wir wollen […] eine Wirtschaft, die mit der Umwelt statt gegen sie arbeitet, die nachhaltigen Wohlstand für alle ermöglicht“ (Grüne 2017, S. 14). Wenn folglich ökologische Grenzen eingehalten werden, kann Wachstum eine positive Rolle einnehmen.

6.2.3 Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist in beiden Wahlprogrammen das meist genannte Argument für die Modernisierung und eine der hervorstechendsten Handlungsregeln der SKH für Wirtschaftswachstum. So werden 1994 die Folgen der Wirtschaftskrise, durch die Wiedervereinigung und den Zusammenbruch traditioneller Industriezweige, hauptsächlich auf Arbeitslosigkeit reduziert. Wächst die Wirtschaft, werden folglich Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen. In diesem Sinne weist die SKH darauf hin: „wer an überalterten Produkten festhält, gefährdet Arbeitsplätze“ (ebd. S. 34). Neue und zukunftssichere Arbeitsplätze werden hierbei durch Grünes Wachstum und Innovationen geschaffen5. Dies entspricht der von Weizsäcker formulierten Annahme, dass ressourceneffiziente Wirtschaft Arbeitsplätze schafft, vorausgesetzt die Preise von Ressourcen werden erhöht (von Weizsäcker 2017, S. 267). Die Fokussierung auf Arbeit scheint zudem nicht abwegig, ist diese doch ein identitätsstiftendes Merkmal unserer heutigen Gesellschaft. Für die SKH hat daher Arbeitslosigkeit weitreichende Folgen. So führt diese zu Armut und Ausgrenzung, raubt Zukunftschancen und die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben (Grüne 2017, S. 171). Im Gegensatz hierzu verbinden die Grünen die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Modernisierung stark mit sozialer Gerechtigkeit, Lohngerechtigkeit und Partizipationsmöglichkeiten (ebd,.). 6.2.4 Wirtschaftswachstum bringt Wohlstand und steigert die Lebensqualität Wirtschaftswachstum wird vor allem 2017 eng mit Wohlstand und Lebensqualität verbunden. So könne die Lebensqualität durch innovative Produkte und Dienstleistungen erhöht werden (ebd. S. 40). Die SKH geht gleichzeitig davon aus, dass die Wohlstandsvermehrung bei quantitativem Wachstum vor allem bereits Wohlhabende trifft. Hierbei besteht die Gefahr, dass „der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, wenn das Wohlstandsgefälle in der Bevölkerung zu hoch ist“ (ebd. S. 190). Nachhaltiges Wirtschaftswachstum bringt somit gesellschaftliche Stabilität, stärkt den Zusammenhalt und schafft soziale Gerechtigkeit.

5In

diesem Zusammenhang weist die Internationale Agentur für erneuerbare Energien darauf hin, dass Arbeitsplätze im erneuerbaren Energien-Sektor jährlich um 5 % wachsen und zu einer ausgeglichenen Geschlechterparität tendieren (Internationale Renewable Energy Agency 2016).

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Deutschland soll durch die sozial-ökologische Modernisierung keinen Wohlstand verlieren, dieser soll nur nachhaltig und besser verteilt werden. In diesem Zusammenhang sprechen die Grünen von keiner Wohlstandserweiterung, sondern von einer Wohlstandssicherung, welche sich sowohl auf Deutschland als auch auf die internationale Ebene bezieht. Dies kann damit verbunden werden, dass die Grünen Wirtschaftswachstum in seiner jetzigen Form mit Ressourcenverbrauch verbinden und annehmen, dass in gewissen Bereichen die planetaren Grenzen bereits erreicht sind. Materielle Wohlstanderweiterung hat somit etwas mit Ressourcenverbrauch zu tun, welchen die Grünen verhindern wollen. Zudem wird angenommen, dass reiche Unternehmen und Privatpersonen mehr besitzen als sie benötigen. Die Grundmenge an Wohlstand ist somit ausreichend, sie muss nur besser verteilt werden. Bei den Grünen lässt sich zudem eine Unterscheidung zwischen materiellem und nachhaltigem Wohlstand feststellen, wobei letzterer präferiert wird. Was dieser beinhaltet, wird allerdings nicht näher ausgeführt. Es ist jedoch angesichts der rekonstruierten Handlungsregeln naheliegend, dass diese Wohlstandsform durch eine nachhaltige Wirtschaftsweise gewonnen wird und auf die Zukunft ausgerichtet werden soll. So merkt die SKH an, dass die momentane Wirtschaftsweise zwar Wohlstand schafft, jedoch die gemeinsame Lebensgrundlage zerstört (ebd. S. 40). Wenn folglich eine ökologische Wirtschaftsweise besteht, schafft diese Wohlstand und erhält die Lebensgrundlage. Quantitativem Wirtschaftswachstum wird zugestanden, in der Vergangenheit eine Wohlstands- und Lebensqualitätsmehrung gezeigt zu haben. Dagegen werden die Auswirkungen des quantitativen Wirtschaftswachstums auf die Zukunft kritisch betrachtet. Dies zeigt sich auch darin, dass andere Länder Wohlstand nicht durch quantitatives Wirtschaftswachstum erreichen sollen. 1994 wird dies am Beispiel Ostdeutschlands deutlich. Die SKH möchte Ostdeutschland bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise unterstützen, versteht die neuen Bundesländer gleichzeitig als Experimentierfeld für eine andere Wirtschaftsweise. So sei die Angleichung der Lebensverhältnisse durch nachholendes Wirtschaftswachstum ökonomisch aussichtslos und ökologisch falsch. Stattdessen müsse Ostdeutschland eine Vorreiterrolle im Hinblick auf ökologisches Wirtschaften einnehmen (Grüne 1994, S. 16). 2017 wird diese Forderung nun auf die Länder des globalen Südens bezogen6.

6Auch

der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen schreibt bezüglich einer weltweiten Transformation zur Nachhaltigkeit: „Die Idee, allen Menschen einen Lebensstil zu ermöglichen, der dem heute in Industrieländern vorherrschenden, durch fossile Energieträger geprägten Lebensstil entspricht, ist nicht realisierbar (WBGU 2011, S. 66). Aus diesem Grund müssten Entwicklungs- und Schwellenländer technologische Entwicklungsstufen überspringen und die Industrieländer ihre bisherigen Entwicklungspfade verlassen und einen nachhaltigen Lebensstil verfolgen (ebd.).

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Durch Wirtschaftswachstum fließen dem Staat finanzielle Mittel zu, welche für soziale Projekte genutzt werden können. Hierdurch können Verteilungsungerechtigkeiten ausgeglichen sowie der soziale Zusammenhalt und die Chancengleichheit gefördert werden (Drescher 2018). Wirtschaftswachstum mache somit ­gesellschaftliche Veränderungen möglich, fehle dieses, stagniere auch die gesellschaftliche ­Weiterentwicklung. Diese Logik findet sich nach Weizsäcker bei Regierungen auch in Bezug zum Klimaschutz. So brauche es Geld für die Durchsetzung von erneuerbaren Energien, welches nur durch Wachstum erreicht werden könne (Von Weizsäcker 2017, S. 120). Insgesamt lassen sich somit auch bei den Grünen viele der klassischen, dem Wirtschaftswachstum zugeschriebenen Überzeugungen finden, jedoch wird eine binärcodierte Unterscheidung durchgeführt. In der Regel werden positive Eigenschaften nachhaltigem Wachstum zugeschrieben, während die negativen Eigenschaften mit quantitativem Wirtschaftswachstum verbunden werden. So ist, wie Jäger feststellte (Abschn. 3.2), auch hier qualitatives Wachstum von jeglicher Kritik abgelöst. Trotz der zugeschriebenen positiven Eigenschaften zeigt sich, vor allem in den Interviews, ein zwiegespaltenes Verhältnis zu Wirtschaftswachstum, besonders hinsichtlich des angesprochenen Wachstumszwangs. So bedingen sich Kapitalismus und Wachstum, wodurch unser jetziges Gesellschaftssystem auf Wachstum angewiesen ist. Jedoch kann der Wachstumszwang nach Janecek (2018) mit einer anderen, auf Werten basierenden Art des Wirtschaftens verringert werden. Dies impliziert jedoch auch, dass der Zwang selbst nie überwunden werden kann, wodurch eine Postwachstumsgesellschaft nach Paech für die Grünen schon allein durch diese Vorstellung unmöglich ist. Hinzu tritt die Überzeugung nachhaltiges Wirtschaftswachstum könne auch eine Chance für die gesellschaftliche Weiterentwicklung sein.

6.3 Maßnahmen Der SKH folgend müssen für den ökologischen Umbau politische Rahmenbedingungen gesetzt werden. Zur Umsetzung werden in den Wahlprogrammen verschiedene Mechanismen vorgeschlagen. Diese lassen sich in drei Bereiche einteilen: 1. Verursachergerechtigkeit und wahre Preise, 2. Steuerliche und rechtliche Regelungen und 3. Subventionen und Reinvestition.

6.3.1 Verursachergerechtigkeit und wahre Preise Zusammengefasst sollen die Preise von Produkten die ökologische Wahrheit sagen und die Verursacher*innen von Umweltzerstörung die Kosten hierfür tragen. So seien umweltzerstörende Produkte und Verfahren nur günstig, „weil noch nicht einmal die bekannten, durch sie verursachten, ökologischen Folgekosten in ihren Preis eingehen“ (Grüne 1994, S. 14). Der Markt hat sich in diesem Zusammenhang von ökologischen und sozialen Grundlagen gelöst, ohne welche die Ökonomie jedoch langfristig gar

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nicht funktionieren kann. So werden die Kosten für die Zerstörung der Natur weltgesellschaftlich externalisiert, wodurch sie keine Rolle für den Preis eines Produktes spielen (Schmelzer und Passadakis Schmelzer und Passadakis 2011, S. 53; Lessenich 2017). Hierin lässt sich die Forderung der SKH nach sozialer Gerechtigkeit finden (Abschn. 6.2.1), denn „wer die Umwelt schädigt, soll zahlen, wer sie bewahren hilft, soll gewinnen“ (Grüne 1994, S. 14). Diese Forderung und Handlungsregel findet sich in allen betrachteten Materialien. Die Verursachergerechtigkeit sowie in ihr angelegt, das Konzept der „wahren“ Preise, können hierbei als finale Gründe angesehen werden.

6.3.2 Steuerliche und rechtliche Regelungen Um Anreize für ein ökologisches Verhalten von Unternehmen und Privatpersonen zu schaffen, plädieren die Grünen in beiden Wahlprogrammen für einige neue steuerliche und rechtliche Regelungen. Diese beziehen sich vor allem auf die Bereiche Energie und Ressourcenschonung bzw. -effizienz. Beispielsweise strebt die SKH eine ökologische Steuerreform an, die nachhaltige Produkte begünstigt und umweltfreundliches Produzieren und Verbrauchen finanziell attraktiv macht. „Ökosteuern und -abgaben sollen, um wirklich Produktions- und Verhaltensänderungen zu bewirken, in ihrer Dynamik berechenbar sein. Die kalkulierbare und stufenweise Einführung und Erhöhung vermeidet außerdem Strukturbrüche in der Wirtschaft.“ (ebd.). Wie im Interview mit Herrn Drescher angeklungen, setzen die Grünen somit bereits 1994 auf von Weizsäckers Idee zur Vermeidung von Rebound-Effekten. Hierfür spricht auch, dass die SKH „Umweltverbrauch und Umweltschädigung zu einem wesentlichen Kostenfaktor in den betriebswirtschaftlichen Kalkulationen werden“ (ebd.) lassen möchten und „mit einer Ressourcenabgabe auf Produkte […] einen Anreiz für Ressourcenschutz und Effizienzmaßnahmen“ (ebd. 2017, S. 22) setzen wollen. Auch hier findet sich die zuvor erwähnte Verursachergerechtigkeit und die Implementierung von wahren Preisen. 6.3.3 Subventionen und Reinvestition Zusammenfassend sollen grüne Produkte und Verfahren subventioniert werden und die Subventionen für nicht-nachhaltige Produkte, Verfahren und Verhalten beendet werden, denn „ökologische Produkte müssen in Zukunft Wettbewerbsvorteile besitzen“ (ebd. 1994, S. 13). Diese Maßnahme lässt sich wiederum mit der Verursachergerechtigkeit verbinden und stellt eine zentrale Handlungsregel dar. Bei näherer Betrachtung kann diese Umstellung der Subventionierung den Wettbewerb von Grund auf umwälzen, sodass jede*r von den wahren Preisen profitiert. So werden Landwirt*innen für ihre Leistungen besser entlohnt und der Kampf um das billigste Produkt wird zum Kampf um das umweltfreundlichste und effizienteste, da hierdurch das nachhaltigste Produkt das günstigste werden könnte. Die Grünen wollen zudem das erwirtschaftete oder eingesparte Geld für andere Bereiche oder Investitionen nutzen. So soll etwa Kapital aus den fossilen Energieträgern abgezogen werden, um nachhaltigen Wohlstand und Jobs zu schaffen (Grüne 2017, S. 44).

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Zusammenfassend lässt sich bei den geforderten Maßnahmen der SKH eine Strategie erkennen, welche Herr Drescher wie folgt zusammenfasst: Marktwirtschaft funktioniert über den Preis, den kann man beeinflussen durch Steuern und Abgaben. Wird der Preis für Produkte, etwa durch Umweltkosten, höher, schwindet der Anreiz, unökologisch zu produzieren und das Produktsortiment wird nachhaltig bzw. durch die erhöhten Kosten schwindet der Anreiz, nicht-ökologisch produzierte Produkte zu kaufen. Es wird somit angenommen, dass der Preis sowohl für die Produzent*innen als auch für die Konsument*innen maßgeblich für die Kaufentscheidung ist.

6.4 Menschenbild Das Menschenbild der SKH gleicht in großen Teilen dem des homo heterogenus. Bei diesem wird davon ausgegangen, dass der Mensch Potenzial hat, sich kooperativ und idealistisch zu verhalten, jedoch auch eigennützig. Wie der Mensch sich verhält, bestimmen vielfältige, teilweise widersprüchliche Faktoren. Im Bereich des Konsums haben beispielsweise ökonomische Faktoren (z. B. Preis, Einkommen), sozial-kulturelle Einflüsse (z. B. Image der Produkte, Werte, Lebensstile), psychologische Faktoren (z. B. Erwartungen, Bequemlichkeit) und idealistische Ziele (z. B. Umweltbewusstsein) Einfluss auf das Verhalten (Rogall 2015, S. 133). Die SKH versucht hierbei vor allem auf die idealistischen Faktoren abzuzielen und die sozial-kulturellen Einflüsse nachhaltig zu gestalten. Auch sollen durch die zuvor beschriebenen Maßnahmen die ökonomischen Faktoren beeinflusst werden. Die SKH geht davon aus, dass sich Personen vor allem nachhaltig verhalten, wenn ihnen Anreize geschaffen werden oder wenn sie das Gefühl haben, in ihrem Leben etwas Sinnvolles zu tun. Die Konsument*innen sollen zu nichts gezwungen werden, jedoch wird davon ausgegangen, dass, wenn die Wahl besteht und die Menschen über die Konsequenzen ihres Handelns aufgeklärt sind, sie die Umwelt schützen oder beispielsweise fair gehandelte Produkte kaufen (Grüne 2017, S. 94 f.). Für die SKH ist jeder für die Gestaltung der Gesellschaft verantwortlich. Verantwortung und soziale Verpflichtung entstehen jedoch vor allem durch Eigentum, wodurch größtenteils die Wohlhabenden Einzelpersonen, Unternehmen und Länder eine Veränderung voranbringen müssen. Macht bringt somit Verantwortung mit sich, denn „wer mehr hat, wird mehr schultern müssen“ (Grüne 1994, S. 10). Wer sich für ökologische Verbesserung oder Gerechtigkeit einsetzt, egal ob privat oder als Unternehmen, wird von den Grünen unterstützt, wer sich hingegen unökologisch trotz Aufklärung verhält, wird durch zusätzliche Steuern oder sonstige Abgaben sanktioniert. Hierbei zeigt sich ein ambivalentes Bild. So seien Wohlhabende bereit, „auf [die] Mehrung materiellen Wohlstands zu verzichten, wenn sie gewiß sein können, daß die Mittel in soziale und ökologische Programme geleitet werden“ (Grüne 1994, S. 6), gleichzeitig wird Wohlhabenden in beiden Programmen vorgeworfen, Steuern zu hinterziehen. Ebenso wird der Mensch als egoistisch betrachtet. Hierbei würde laut den Interviewpartnern stets

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nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nachhaltig leben, sodass es zu keiner Hebelwirkung kommt. Wenn Personen nachhaltig lebten, dann zudem meistens nur in einem Bereich, der sie selbst betrifft oder emotional anspricht (z. B. Lebensmittel). Hierbei finden sich an mehreren Stellen Hinweise auf eine angenommene Bedürfnispyramide. So müssen nach Herr Drescher zunächst die eigenen Grundbedürfnisse befriedigt sein, bevor es zu einer Zuwendung zu anderen Bereichen kommen kann. Auch Herr Janecek verweist darauf, dass ökologische Politik nur gemacht werden kann, wenn die sozialen Rahmenbedingungen erfüllt sind. Hierdurch rückt die Ökologie an zweite Stelle, da die Grundbedürfnisse, welche am ehesten der ökonomischen Säule zugeschrieben werden können, zunächst befriedigt sein müssen. Der Mensch handelt gemäß der SKH erst, wenn er selbst betroffen ist. Hierbei darf er sich jedoch nicht perspektivlos oder in die Ecke gedrängt fühlen, da dies negative Eigenschaften im Menschen weckt. Sei es Kriminalität oder Egoismus durch Arbeitslosigkeit oder Aggression durch Zukunftsangst (Grüne 1994 S. 4 f.). So schreiben die Grünen bezüglich des Verlustes von Arbeitsplätzen in der Automobilbranche: „Wir wollen verhindern, dass Wolfsburg oder Stuttgart das Detroit von morgen werden“ (Grüne 2017, S. 43). Durch den Untergang von General Motors leidet die ehemalige Automobilhochburg Detroit unter einer sehr hohe Kriminalitätsrate, was die Grünen auf den Verlust von Arbeitsplätzen und die damit einhergehende Verarmung zurückführen. Perspektivlosigkeit durch Arbeitslosigkeit führt der SKH folgend somit zu Kriminalität. Die Bevölkerung muss die Konsequenzen ihres Handels bemerken, jedoch muss ein Selbstwirksamkeitsgefühl weiterhin bestehen. Dies findet sich etwa darin, dass die SKH 1994 durch Möglichkeiten der Partizipation einer „ziel- und orientierungslosen Gesellschaft“ (ebd. 1994, S. 12) einen neuen Motivationsschub geben möchte oder 2017 im Aufruf zur gemeinsamen Zukunftsgestaltung. Das Menschenbild der Grünen ist somit ambivalent. Einerseits wird davon ausgegangen, dass der Mensch kooperativ ist und vernünftig handelt, anderseits wird ihm, vor allem, wenn dieser Besitz hat, ein Hang zum Egoismus vorgeworfen.

6.5 Argumentationsstrategien Eine durchgängige Argumentationsstrategie der SKH ist der Vergleich von Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit wird 1994 gar nicht und 2017 nur positiv in Form einer Aufzählung von Fortschritten erwähnt. Die Gegenwart befindet sich hingegen vor allem 1994 in einer manifesten Krise. So sei am Ende des 20. Jahrhunderts die Welt durch ökologische Verwüstung, Hunger und Armut geprägt (ebd., S. 70). Bezogen auf die Gegenwart lässt sich im Zeitverlauf eine Veränderung in der Argumentationsstrategie der SKH feststellen. So wird inzwischen die Gegenwart positiver dargestellt und die Möglichkeit der Gestaltung hervorgehoben. Diese Grundbotschaft der Gestaltbarkeit hat auch 2017 Auswirkungen auf die Darstellung der Zukunft. Wird diese 1994 hauptsächlich drastisch dargestellt, wird 2017 zwar immer noch auf mögliche Probleme in der Zukunft verwiesen, jedoch liegt der Fokus auf der Möglichkeit der Veränderung durch einen Wandel

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der Art des Wirtschaftens. Während die Vorteile 1994 vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen reduziert werden, ist die Beschreibung 2017 weitaus umfassender. Insgesamt wird eine „gute“ Zukunft für alle in der Gesellschaft dargestellt. Eine weitere Argumentationsstrategie, welche in Zusammenhang mit der zeitlichen Beschreibung steht, ist die Kritik an der jetzigen bzw. damaligen Regierung. Diese untergrabe Veränderungen, da sie nicht handelt oder wenn sie handelt, falsch handelt. Die Grünen bezeichnen die Gefahr der Klimakatastrophe als Allgemeinwissen. Allen ist somit bewusst, dass gehandelt werden muss, konsequent seien hierbei jedoch nur die Grünen. Hierbei wird keine andere Deutung zugelassen: „An Tatsachen wie zunehmenden gesundheitlichen Belastungen, dem Verkehrsinfarkt, der sichtbaren Landschaftszerstörung und den Müllbergen kommt nicht mehr vorbei, wer Nase und Augen hat“ (ebd, S. 5). Zwar sei das Thema Nachhaltigkeit inzwischen bei fast allen Parteien auf der Agenda, jedoch laut den Interviewpartnern nicht vorrangig. Wer also eine Veränderung möchte, müsse die Grünen wählen. Diese Argumentationsstrategie ist jedoch nicht verwunderlich, handelt es sich doch um Wahlprogramme, bei denen die Vorteile einer Partei herausgestellt werden sollen. Die Grünen weisen sowohl 1994 als auch 2017 auf die Dringlichkeit des Handelns hin: „Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen der Klimakrise spürt – und die letzte, die etwas dagegen tun kann“ (Grüne 2017, S. 9). Wenn jetzt nicht gehandelt wird, komme es zu einer Klimakatastrophe, die soziale Ungleichheit werde unüberwindbar und wenn es zu keiner Nachhaltigkeit in der Wirtschaft komme, sei der Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet. Wird jedoch gehandelt, kann sich die Zukunft zum Positiven wenden. Insgesamt stellen die Grünen die sozial-ökologische Modernisierung alternativlos dar. Hierbei stellt die SKH die Überlegenheit ihres Konzeptes heraus und argumentiert auf einer moralischen Ebene. So schreiben sie im Wahlprogramm von 2017: „Wer will schon mit seinem Einkauf für Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen, verseuchte Flüsse oder Tierleid verantwortlich sein?“ (ebd, S. 157).

6.6 Wichtige Institutionen und Veränderungen Die SKH ist als politische Partei stark in gesellschaftliche Strukturen und Machtmechanismen verwoben. Diese begrenzen je nach Ebene stark den Einfluss der Grünen. So ist auf Bundesebene die Macht der SKH durch die fehlende Regierungsbeteiligung begrenzt, wobei insgesamt von einer Machterweiterung der Grünen gesprochen werden kann. So gehören die Grünen inzwischen in die etablierte Parteienlandschaft und ihre ökologischen Ideen haben durch den Klimawandel und in diesem Zusammenhang durch internationale Abkommen Einzug in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs gefunden. Internationale Abkommen und Verträge sind für die Grünen sowohl in den Interviews als auch in beiden Wahlprogrammen wichtig. Diese haben bindenden Charakter und spielen daher auch für die Entwicklung Deutschlands im ökologischen Bereich

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eine große Rolle. Zudem wird z. B. den UN-Klimaabkommen ein hohes Wirkungspotenzial zugeschrieben. Durch diese Bedeutungszuschreibung beziehen die Grünen ihre Forderungen in den Wahlprogrammen nicht nur auf Deutschland, sondern auf die internationale Ebene. So können für die SKH die drängendsten Probleme der Menschheit nur global gelöst werden, denn „allein im Rahmen eines ökologisch-solidarischen Umbaus der Weltwirtschaft kann sich eine gerechte Weltwirtschaftsordnung entwickeln“ (Grüne 1994, S. 15). Insgesamt wird 2017 vor allem Deutschland und danach Europa eine Vorreiterrolle zugeschrieben. So fängt „globale Verantwortung […] bei uns zu Hause an“ (ebd. 2017, S. 10). Deutschland wird durch seine Stellung in der Welt Gestaltungsmacht zugeschrieben, wodurch es ein positives Beispiel für andere Länder darstellen kann. Auch die besondere Rolle Deutschlands in Europa wird hervorgehoben. So soll Deutschland dazu beitragen, dass die Europäische Union eine tragende Position in der Regulierung des Weltmarktes einnimmt und zeigen, wie fairer Handel möglich ist (ebd., S. 91). Europa soll hierbei helfen, Konflikte in anderen Ländern zu lösen sowie Korruption und Fluchtursachen zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang lassen sich hegemoniale Züge erkennen, da außereuropäischen Ländern, vor allem im globalen Süden, die Kompetenz zur eigenen Problemlösung abgesprochen wird. Hinweise darauf finden sich 1994 (noch) nicht, dort wird zwar auch auf eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung hingewiesen, jedoch wird das Schaffen von Gerechtigkeit zu einer weltweiten Aufgabe deklariert und somit werden alle Staaten zumindest auf theoretischer Ebene gleichermaßen miteinbezogen. Diese Verantwortungsverschiebung hin zur Europäischen Union kann auch in Zusammenhang mit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 gesetzt werden, aus dem die USA inzwischen wieder ausgetreten sind. So müssen maßgeblich die Mitglieder der EU die finanzielle Lücke schließen, welche sich durch den Rückzug der USA geöffnet hat. Jedoch werden hierbei inzwischen wichtige Klimaakteure wie China vergessen, wodurch die Verantwortung vor allem beim „Westen“ gesehen wird.

7 Fazit Wirtschaftswachstum wird durch die Forderung nach einer sozial-ökologischen Modernisierung hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in vielfältige Zusammenhänge gebracht, wie etwa Gerechtigkeit, Partizipation, Frieden oder Umweltschutz. Hierbei wird eine Umstellung der Wirtschaft als alternativlos dargestellt, wobei der Wandel durch Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Systems umgesetzt werden soll. Wirtschaftswachstum werden je nach zugrunde gelegter Art des Wachstums positive (nachhaltiges Wachstum) oder negative (quantitatives Wachstum) Eigenschaften zugeschrieben. So wird quantitatives Wachstum mit Ressourcenverbrauch, Profitgier, der Zerstörung des Planeten und der Verstärkung von sozialer Ungerechtigkeit verbunden, während nachhaltiges Wachstum Gerechtigkeit, Arbeitsplätze und Wohlstand fördert sowie gesellschaftliche Veränderung voranbringt. Wirtschaftswachstum wird jedoch

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mehr als Mittel zum Zweck angesehen und ist für die Grünen weder eine Handlungsregel noch ein finaler Grund. Hingegen scheint es als Anreiz für Unternehmen betrachtet zu werden, sich auf eine Umstellung der Art des Wirtschaftens einzulassen, da sie auch mit dieser keine negativen Konsequenzen zu erwarten haben. Die SKH verfolgt in vielen Bereichen Postwachstumsideen. Da die Grünen allerdings von einem Wachstumszwang in der Gesellschaft ausgehen und Wachstum auch positive Eigenschaften zuschreiben, unterscheidet sich die Zielsetzung der SKH grundlegend vom Postwachstum nach Paech7. Die SKH kann hingegen als Vertreterin eines nachhaltigen bzw. grünen Wachstumskonzepts angesehen werden. So sehen die Grünen, wie auch beim Grünen Wachstum üblich, technologischen Fortschritt und somit vor allem Konsistenz- und Effizienzstrategien als wesentlichen Faktor für die Transformation der Gesellschaft. Anders als beim Grünen Wachstum schreiben die Grünen jedoch auch der Gesellschaft einen maßgeblichen Faktor für den Wandel des Wirtschaftens zu, wobei auch hier die seitens der Unternehmen geschaffene technologische Innovationen als Voraussetzung für einen nachhaltigen Konsum der Gesellschaft gesehen werden können. So funktioniert Marktwirtschaft für die Grünen über den Preis. Dieser soll sich bei nicht nachhaltigen Produkten durch Umweltabgaben erhöhen und bei nachhaltigen Produkten durch Subventionen sinken. Hierdurch kann das Konsumverhalten der Bevölkerung durch eine Anpassung der Preise beeinflusst werden. Weiterhin geht die SKH davon aus, dass durch eine Aufklärung bezüglich der Herstellungsprozesse und deren Konsequenzen auf Mensch und Umwelt neben der ökonomischen auch auf einer moralischen Ebene angesetzt werden kann und dass hierdurch die Bevölkerung ihre Lebensweise verändert. Da der Mensch der SKH als pragmatisch gilt, muss jedoch ein entsprechendes Angebot, sei es durch Nahrungsmittelkennzeichnung oder den Ausbau des ÖPNV, geschaffen werden. Wenn das Angebot geschaffen ist, die Anreize stimmen und der Mensch das Gefühl hat, etwas Sinnvolles zu tun, dann verhält er sich auch nachhaltig, wenn auch nur in Einzelbereichen. So strebt die SKH zwar eine Entkopplung an, jedoch schrittweise, sodass jede*r in der Gesellschaft daran teilnimmt. Ob mit dieser Strategie eine absolute Entkopplung gelingt, bleibt jedoch fraglich. Gleichzeitig wird es, solange Nachhaltigkeit einen geringen Stellenwert hat und stetiger Konsum an nicht essenziellen Produkten unhinterfragt bleibt, zu keiner Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch kommen. Die Mechanismen der Gesellschaft werden in beiden betrachteten Wahlprogrammen stark vereinfacht. Ein Durchbrechen dieser Idealisierung war jedoch in beiden Interviews möglich. Hierbei wurde deutlich, dass die SKH das eigene Konzept durchaus kritisch beleuchtet. Hierbei nehmen die interviewten Vertreter*innen der SKH eine pragmatische

7Dies

schließt nicht aus, dass die Grünen den Ideen anderer Postwachstumsvertreter*innen näherstehen. So gibt es im Postwachstumsspektrum auch Personen, die davon ausgehen, dass es nach der gesellschaftlichen Transformation unerheblich ist, ob die Wirtschaft weiterwächst oder nicht (Schmelzer 2015, S. 116 f.).

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Haltung ein. So werden grüne Technologien nicht als alleinige Lösung gesehen, sie sind jedoch ein Baustein auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaftsordnung. Bis es zu einem Umdenken in weiten Teilen der Bevölkerung kommt, wenn dies überhaupt geschieht, wird zunächst an den beeinflussbaren Variable der gesetzlichen und steuerlichen Regelungen angesetzt.

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(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung der Berichterstattung der Nachrichtensendung Tagesschau über Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund der (Post-) ­­ Wachstumsdebatte Anna Lohs Zusammenfassung

Während die internationale Staatengemeinschaft ein ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Wirtschaftswachstum anstrebt, um den multiplen Krisenerscheinungen unserer Zeit zu begegnen, werden seit einigen Jahren vermehrt Stimmen laut, die nur eine Abkehr vom Wachstumsdogma als zielführend erachten. Vor dem Hintergrund ebendieser Wachstumsdebatten nimmt die folgende Arbeit die medialen Darstellungsweisen von Wirtschaftswachstum in den Blick. Verschiedene Beiträge der Nachrichtensendung Tagesschau wurden unter Rückgriff auf das rekonstruktionslogische Verfahren der Grounded Theory untersucht, um herauszufinden, ob und falls ja, inwiefern sich die Berichterstattung über Wirtschaftswachstum im Laufe der letzten 25 Jahre verändert hat. Hierbei zeigte sich, dass die Tagesschau damals wie heute weitestgehend unkritisch über Wachstum berichtet und dieses nach wie vor als anzustrebendes politisches Handlungsziel darstellt. Schlüsselwörter

Wirtschaftswachstum · Tagesschau · Wachstumskritik · Postwachstum · Degrowth ·  Nachhaltigkeit · Nachhaltige Entwicklung · Wirtschaftsberichterstattung

A. Lohs (*)  Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_9

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1 Einleitung Im Jahr 1972 wurde der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ dem Club of Rome vorgelegt (Meadows et al. 1972). Dieser führte der Weltöffentlichkeit eindrücklich die Begrenztheit natürlicher Ressourcen und gleichzeitig die dramatischen Folgen des anhaltenden Wachstumsstrebens vor Augen (ebd.). Entsprechend dieser bedrohlichen Zukunftsprognosen hielten im Laufe der folgenden Jahre Themen wie Umweltschutz, Energiesparen und Nachhaltigkeit Einzug in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs (Bundeszentrale für politische Bildung 2013). Das Bewusstsein darüber, dass unendliches Wirtschaftswachstum in einer Welt endlicher Ressourcen nicht zu verwirklichen ist, drang allmählich in das Bewusstsein der Politiker*innen, sodass insbesondere seit den neunziger Jahren – im Zuge der Debatte um nachhaltige Entwicklung – auf sowohl internationaler als auch nationaler Ebene darüber diskutiert wird, wie Wirtschaftswachstum zukünftig von den mit ihm einhergehenden negativen Umweltfolgen entkoppelt werden kann.1 Ein deutlicher Ausdruck dieser Bemühungen sind die zahlreichen internationalen Klima- und Umweltkonferenzen, auf denen die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf Grundlage von Abkommen und Bündnissen seit nunmehr fast drei Jahrzehnten darum ringen, sich auf eine gemeinsame Nachhaltigkeitspolitik zu verständigen (Pufé 2017, S. 36 ff.). Dass ebendiese Debatten jedoch keineswegs mit einer Abkehr vom Wachstumsstreben einhergehen, lässt sich etwa an der heute verfolgten Green Economy verdeutlichen, die eines der beiden Leitthemen der bekannten UN-Welt-Konferenz Rio   +  20 im Jahr 2012 darstellte (Gerold et al. 2015, S. 16). Zwar wird hier ein grüner, nachhaltiger Umbau der Wirtschaft angestrebt, dieser wird jedoch nicht zuletzt als Chance zur Generierung weiteren Wachstums begriffen (Kothari et al. 2014, S. 363). Seit nunmehr zwei Jahrzehnten werden insbesondere vonseiten der Wissenschaft immer wieder Stimmen laut, die die im internationalen Diskurs ausgearbeiteten Maßnahmenkataloge zur Verwirklichung eines nachhaltigen Wachstums als unzulänglich erachten, um den ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisenerscheinungen der heutigen Zeit zu begegnen (ebd., S. 365 f.). Unter dem Sammelbegriff der Degrowth-Bewegung kommen eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen und ­ Positionen aus ganz Europa zusammen, die der Wunsch nach einem Bruch mit dem vorherrschenden Wachstumsparadigma sowie mit der zunehmenden Ökonomisierung gesellschaftlicher Lebensbereiche eint (Schmelzer 2017, S. 8). Auch in Deutschland sind solche wachstumskritischen Stimmen vor allem seit der Weltwirtschaftskrise 2007 von verschiedenen gesellschaftspolitischen Stoßrichtungen zu vernehmen (ebd.). Jedoch: So sinnhaft und vielversprechend viele dieser sogenannten Postwachstumsansätze auch sein mögen, im internationalen und nationalen politischen Nachhaltigkeitsdiskurs spielen die

1Für

einen umfassenden Überblick über den internationalen und nationalen politischen Diskurs der nachhaltigen Entwicklung empfehle ich das Buch Nachhaltigkeit von Iris Pufé (2017).

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dort formulierten Wachstumskritiken sowie die konzipierten Utopien alternativer Gesellschaftsformen de facto keine Rolle; die Unabdingbarkeit eines permanenten wirtschaftlichen Wachstums wird von den führenden politischen Entscheidungsträger*innen in der Regel nicht infrage gestellt (Trattnigg 2009, S. 17). Ebendiese politische, wissenschaftliche sowie zivilgesellschaftliche Debatte um das Wie und Ob zukünftigen Wirtschaftswachstums – in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff (Post-)Wachstumsdebatte zusammengefasst – bildet den thematischen Rahmen dieser Forschungsarbeit. Innerhalb dieses Rahmens richte ich meinen Blick auf die medialen Darstellungsweisen der Debatte, denn als wichtigste Informationsquelle der Menschen konstruieren die Medien soziale Realität, stellen Deutungsangebote der Welt bereit (Karidi 2018, S. 17) und prägen somit maßgeblich nicht nur, über welche Themen die Menschen nachdenken, sondern auch, wie die Menschen über Themen nachdenken. Folglich gehe ich davon aus, dass die Massenmedien einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie das Thema Wirtschaftswachstum sowie die soeben dargelegte Debatte um selbiges in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und welche Einstellungen diesbezüglich vertreten werden. Als entsprechend relevant erachte ich die Frage danach, wie Wirtschaftswachstum in den Medien dargestellt wird und ob die soeben angerissene (Post-)Wachstumsdebatte sowie die mit ihr einhergehenden kritischen Perspektiven auf das Wachstumsparadigma die mediale Berichterstattung über Wirtschaftswachstum inzwischen erreicht haben. In der vorliegenden Arbeit untersuche ich deshalb die in Deutschland meistgesehene Nachrichtensendung Tagesschau (Weis 2019) in Hinblick auf die folgende Fragestellung: Wie haben sich die Handlungsregeln, die die Berichterstattung der Nachrichtensendung Tagesschau über Wirtschaftswachstum anleiten, vor dem Hintergrund der (­ Post-) Wachstumsdebatte innerhalb der letzten zweieinhalb Jahrzehnte verändert?

Da es mir im Zuge meiner Untersuchungen insbesondere darum geht, Veränderungen der Berichterstattung auszumachen und diese mit den Entwicklungen und Positionen der (Post-)Wachstumsdebatte abzugleichen, nehme ich einen zeitlichen Vergleich einzelner Tagesschaubeiträge aus den Zeiträumen 1994 bis 1996 sowie 2015 bis 2017 vor. Dabei wähle ich solche Beiträge aus, die in beiden Untersuchungszeiträumen wiederkehrend stattfindende Ereignisse thematisieren und somit eine besonders gute Vergleichbarkeit der Berichterstattung ermöglichen. Namentlich handelt es sich hierbei um Tagesschaumeldungen über i) die Veröffentlichung des jährlichen Gutachtens des Sachverständigenrats für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und über ii) die seit 1995 jährlich stattfindende UN-Klimakonferenz. Um zunächst ein grundlegendes Verständnis für das hier untersuchte Forschungsfeld zu vermitteln, werde ich im folgenden Kapitel besagte (Post-)Wachstumsdebatte sowie den Forschungsgegenstand Tagesschau näher beschreiben. Darüber hinaus stelle ich einige relevante Studien zur deutschen Wirtschafts- und Klimaberichterstattung vor (Abschn. 2). Im Anschluss daran lege ich die methodologischen Prämissen

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dieses Forschungsvorhabens dar und beschreibe meine methodische Vorgehensweise (Abschn. 3). Die im Rahmen der Datenanalyse zutage geförderten Befunde werden sodann im vierten Kapitel präsentiert, bevor abschließend eine Zusammenfassung und Reflexion der zentralen Forschungsergebnisse erfolgt (Abschn. 5).

2 Kontextwissen und Forschungsstand 2.1 Wachstum ja, nein, vielleicht? Einblicke in die (Post-) ­­ Wachstumsdebatte Schon lange hat sich in den westlichen Industriestaaten die Überzeugung festgesetzt, Wirtschaftswachstum stelle eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt dar. Als erfolgreiche Antwort auf die soziale Krise des 19. Jahrhunderts, die Beschäftigungskrise der zwanziger Jahre sowie als Fundament des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit (Blazejczak 1998, S. III) wurde ökonomisches Wachstum im Laufe der Jahrzehnte zum vielseitigen Problemlöser für gesellschaftliche Krisen. Der feste Glaube an die Allzweckwaffe Wachstum führte sodann in den fünfziger Jahren dazu, dass viele gesellschaftspolitische sowie ökonomische Bereiche und Institutionen – wie beispielsweise das Gesundheitswesen, der Arbeitsmarkt oder die Alterssicherung – so umgestaltet wurden, dass diese heute nur unter der Bedingung anhaltenden Wachstums überhaupt funktionsfähig sind (Seidl und Zahrnt 2012, S. 111 f.). Folglich ist es nicht nur der positive Ruf des Wirtschaftswachstums, sondern weiterhin „die existenzielle Wachstumsabhängigkeit zentraler Subsysteme westlicher Gesellschaften“ (ebd., S. 113), die erklärt, warum wirtschaftliche sowie politische Entscheidungsträger*innen trotz zahlreicher Warnsignale noch immer am Wachstumsparadigma festhalten. Heute sind es allen voran ökologische Krisen, die Anlass für eine kritische Reflexion des Wachstumsparadigmas geben. So muss Wirtschaftswachstum, angesichts seiner nach wie vor unvermeidlichen Kopplung an den Verbrauch natürlicher Ressourcen, als einer der wichtigsten Treiber globaler Umweltveränderungen angesehen werden (Hinterberger 2009, S. 32). Der durch die Verbrennung fossiler Energieträger verursachte Klimawandel ist der dabei wohl deutlichste Ausdruck ökologischer Veränderungsprozesse. Folgeerscheinungen wie Wüstenbildung, veränderte Niederschlagsmengen, das Abschmelzen von Gletschern sowie das Auswandern und Absterben von Arten sind das Resultat einer vom Menschen verursachten, rapiden globalen Erderwärmung (ebd., S. 39). Hierbei zeigt sich deutlich, dass eine Abkehr vom vorherrschenden wachstumsfixierten Wirtschaftssystem nicht nur wünschenswert, sondern besonders in ökologischer Hinsicht dringend notwendig ist, wenn wir heutigen und zukünftigen Generationen den Zugang zu den natürlichen Lebensgrundlagen nicht verwehren möchten. Ungeachtet dessen wird, wie bereits ausgeführt, in der Regel die Unerlässlichkeit wirtschaftlichen Wachstums von den entscheidenden Akteur*innen in Politik und Wirtschaft nicht

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

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angezweifelt. Lediglich bezüglich der Frage wie das angestrebte Wachstum in Zukunft gestaltet werden kann, herrscht insbesondere seit den neunziger Jahren eine rege Debatte. Unter dem Leitmotiv der nachhaltigen Entwicklung wurden verschiedene internationale (Pufé 2017, S. 42 ff.) und nationale Konzepte (ebd., S. 148 ff.) sowie politische Aktionspläne ausgearbeitet, die auf ein nachhaltiges, grünes Wachstum abzielen. Bei der Realisierung der gesteckten Ziele wird, damals wie auch heute, schwerpunktmäßig auf die sogenannte Effizienzstrategie gesetzt (Vereinte Nationen 1992, S. 20 f.; Vereinte Nationen 2015, S. 20 f.). Die hierbei angestrebte Steigerung der Ressourcenproduktivität, Energie- und Rohstoffeffizienz ist nicht nur in ökologischer Hinsicht belastungsmindernd, sondern gleichzeitig auch wirtschaftlich kostensparend und findet deshalb bei Akteur*innen aus Wirtschaft und Politik großen Anklang (Behrendt et al. 2016, S. 1). Ebendiese Lösungsstrategie geht jedoch mit einer nicht zu vernachlässigenden Kehrseite einher. Der sogenannte Rebound-Effekt beschreibt das Phänomen, dass durch Effizienzsteigerungen erzielte Ressourceneinsparungen letztlich durch einen erhöhten Konsum von Gütern bzw. Dienstleistungen wieder relativiert werden (Schmidt 2008, S. 37). Insbesondere seit den achtziger Jahren ist der Rebound-Effekt Gegenstand vieler Forschungsarbeiten, wobei die in den Studien errechneten Einschätzungen über das quantitative Ausmaß des Effekts durchaus heterogen ausfallen (Santarius 2014, S. 109). Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Tilman Santarius geht allerdings davon aus, dass sich der Rebound-Effekt in einer Größenordnung bewegt, die „eine hinreichende absolute Reduktion des Energieverbrauchs moderner Gesellschaften“ (ebd., S. 116) nur auf Basis der Effizienzstrategie unwahrscheinlich erscheinen lassen (ebd.). Eine andere potenzielle Leitstrategie zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung findet in der internationalen Debatte kaum Berücksichtigung (Behrendt et al. 2016, S. 23). Im Rahmen der sogenannten Suffizienzstrategie wird die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums infrage gestellt und eine Reduktion des umweltbelastenden Konsums eingefordert (Pufé 2017, S. 124). Ebendiese Strategie basiert auf der Idee eines kulturellen Wandels, in dessen Zuge aktuelle Konsummuster grundlegend verändert, Genügsamkeit und Verzicht geübt und somit letztlich der globale Energie- und Ressourcenverbrauch verringert werden (Behrendt et al. 2016, S. 12). Zwar sind Stimmen dieserart nicht Teil der internationalen Debatten um nachhaltiges Wirtschaftswachstum, sie sind jedoch vermehrt vonseiten wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Kreise zu vernehmen. Bereits seit einigen Jahrzehnten entstehen in vielen Teilen der Welt wachstumskritische Strömungen, die eine deutlich weitreichendere Transformation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems anstreben, als es im Kontext der nachhaltigen Entwicklung der Fall ist (Kothari et al. 2014, S. 365 f.). Ausgehend von Frankreich verbreitet sich im europäischen Raum seit Beginn des Jahrtausends die sogenannte Décroissance-Bewegung – international als Degrowth-Bewegung bekannt (Schmelzer 2017, S. 8). Die Vielzahl unterschiedlicher Strömungen und Forderungen, die unter dem D ­ egrowth-Begriff zusammenkommen, eint der Wunsch nach einer Abkehr vom Wachstumsparadigma sowie von der Ökonomisierung gesellschaftlicher Lebensbereiche. Auch in Deutschland entwickeln sich unter dem Stichwort Postwachstum seit einigen

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Jahren verschiedene Positionen und Strömungen, die Maßnahmen jenseits eines grünen Wirtschaftswachstums als notwendig erachten. Im Rahmen alternativer Lebensentwürfe werden konkrete Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Ökonomie angedacht, die sich sowohl an den menschlichen Bedürfnissen eines guten Lebens als auch an den Prinzipien ökologischer Nachhaltigkeit orientieren (ebd.). Auch wenn es also keineswegs an Alternativkonzepten für eine umweltverträgliche Zukunft jenseits des Wachstumsdogmas mangelt, spielt die grundlegende Idee einer Abkehr vom Wirtschaftswachstum im internationalen Nachhaltigkeitsdiskurs de facto keine Rolle. Ökonomisches Wachstum scheint auch in Zukunft das zentrale Handlungsziel in Wirtschaft und Politik zu bleiben und dies, obwohl die verfolgten Lösungsstrategien zur Umsetzung eines nachhaltigen Wachstums auch aufgrund des beschriebenen Rebound-Effekts bislang kaum Wirkung zeigen.

2.2 Die öffentlich-rechtliche Nachrichtensendung Tagesschau 2.2.1 Relevanz des Forschungsgegenstandes Tagesschau In der vorliegenden Arbeit möchte ich der Frage nachgehen, ob und inwiefern sich Veränderungen in der Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum ausmachen lassen und ob ebendiese Veränderungen von der soeben beschriebenen ­(Post-) Wachstumsdebatte ausgehende Einflüsse erkennen lassen. Die Entscheidung, aus der Gesamtheit deutscher Medienangebote die Tagesschau zum Gegenstand meiner Untersuchungen zu machen, begründe ich insbesondere mit der erheblichen Zuschauer*innenreichweite des Nachrichtenformats. So schalteten im Jahr 2018 durchschnittlich 9,62 Mio. Menschen in Deutschland um 20 Uhr die Tagesschau der ARD ein, was einem Marktanteil von 34,5 % entspricht (Weis 2019). Somit ist die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau die mit Abstand meistgesehene Nachrichtensendung in ganz Deutschland (ebd.). Darüber hinaus handelt es sich bei der Tagesschau um die älteste Nachrichtensendung des deutschsprachigen Fernsehens. Seit mehr als 65 Jahren versorgt sie ihre zahlreichen Zuschauer*innen mit „seriöse[n] Informationen des Tages, sachlich aufbereitet und nüchtern präsentiert“ (Schäfer 2007, S. 11), wodurch sie im Laufe der Jahre gleichsam zum „Flaggschiff“ (Matzen 2009, S. 11) der ARD sowie zu einer Institution der deutschen Fernsehlandschaft herangewachsen ist. Ihre konstant hohen Einschaltquoten sind dabei zweifelsohne auch auf das positive Image der Nachrichtensendung zurückzuführen. So steht die Tagesschau laut einer repräsentativen ARD Trend-Studie aus dem Jahr 2016 für eine zuverlässige, verständliche, vollständige, kritische sowie objektive Berichterstattung, die von sachkundigen Reporter*innen und Korrespondent*innen recherchiert sowie von kompetenten Sprecher*innen präsentiert wird (Gscheidle und Geese 2017, S. 320 f.). Seit 20 Jahren wird die Tagesschau in dieser Studienreihe fortwährend als bestes Nachrichtenformat im deutschsprachigen Fernsehen bewertet (ebd., S. 318 f.).

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Angesichts dieser Reichweite und Popularität erachte ich die Tagesschau als das wohl einflussreichste Nachrichtenformat des deutschen Fernsehens. Folglich gehe ich davon aus, dass die Darstellungsweisen, anhand derer die Tagesschau das Thema Wirtschaftswachstum vermittelt, ein wesentlicher Bestandteil von jenem Bild sind, das ihre Zuschauer*innen von Wirtschaftswachstum haben. Oder prägnanter formuliert: Was Deutschland über Wirtschaftswachstum weiß und was es von ihm hält, ist auch von den Darstellungsweisen der Tagesschau geprägt.

2.2.2 Rechtliche und redaktionelle Rahmenbedingungen der Tagesschau Als Nachrichtensendung der ARD und somit als ein Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) ist die Tagesschau an den besonderen, verfassungsrechtlich festgeschriebenen Auftrag des ÖRR gebunden (ARD 2015). Insbesondere die hier enthaltene Verpflichtung zur Ausgewogenheit ist für das öffentlich-rechtliche Nachrichtenangebot von Bedeutung (ebd.). So heißt es im sogenannten Rundfunkstaatsvertrag: „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen“ (Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien 2019, S. 22). Diese im Programmauftrag geforderte Unabhängigkeit des ÖRR von staatlichen oder wirtschaftlichen Interessen soll durch das öffentliche Finanzierungsmodell – namentlich dem sogenannten Rundfunkbeitrag2 – gewährleistet werden. Ob die Tagesschau diesem Objektivitäts- und Ausgewogenheitsgebot in ihrer Berichterstattung über Wirtschaftswachstum angemessen nachkommt, möchte ich im Rahmen dieses Forschungsvorhabens untersuchen. Produziert wird die Tagesschau von der ARD-aktuell Redaktion, in deren Hallen sämtliche Nachrichtensendungen der ARD entstehen (Tagesschau 2019a). Hier arbeiten täglich rund um die Uhr etwa 300 Mitarbeiter*innen, darunter circa 150 Redakteur*innen, an der Produktion der ARD-Nachrichten; hinzukommen diejenigen Mitarbeiter*innen, die in den Korrespondent*innenbüros im In- und Ausland beschäftigt sind (ebd.). Organisatorisch ist die Redaktion in zwei große Zuständigkeitsbereiche untergliedert: Während das sogenannte Planungsteam Programmideen entwickelt und Beiträge organisiert, ist das Sendeteam für die Herstellung der jeweiligen Sendungsbeiträge zuständig (Mollitor 2009, S. 89). An der Spitze der beiden Teams stehen jeweils mehrere Chef*innen vom Dienst (CvD) (ebd., S. 90); die Leitung der gesamten Redaktion kommt wiederum dem*der ersten sowie zweiten Chefredakteur*in zu (Tagesschau 2019b). Durch diese generell hierarchische Organisationsstruktur der Redaktion 2Hierbei handelt es sich um eine monatliche Abgabe von 17,50 EUR, die unabhängig von der Anzahl der Empfangsgeräte pro Haushalt eingezogen wird. Ebendieses sogenannte Solidarmodell bewirkt, dass alle Bürger*innen, Unternehmen und Institutionen gemeinsam das Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks finanzieren und somit – zumindest in der Theorie – dessen Unabhängigkeit gewährleisten (ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice 2019).

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wird letztlich jeder produzierte Beitrag vor seiner Ausstrahlung von mindestens einem*einer CvD überprüft (Mollitor 2009, S. 90). So soll sichergestellt werden, dass möglichst wenige inhaltliche Fehler unterlaufen und die hohe Glaubwürdigkeit der Sendung gewahrt wird (ebd., S. 91). Die in der vorliegenden Arbeit analysierten Tagesschaubeiträge entstammen allesamt der sogenannten Hauptausgabe der Tagesschau, also jener Sendung, die täglich um 20 Uhr im Ersten sowie einer Reihe weiterer öffentlich-rechtlicher Sender ausgestrahlt wird (Tagesschau 2019a). In der Hauptausgabe werden im Schnitt fünfzehn Meldungen über das internationale und nationale Tagesgeschehen verarbeitet. Während das als am relevantesten erachtete Thema als sogenannter Aufmacher an den Beginn der Sendung gestellt wird, werden die anschließenden Meldungen thematisch in die Bereiche Inland, Ausland, Wirtschaft und Sport eingeordnet. Für die Präsentation der einzelnen Meldungen nutzt die Tagesschau verschiedene Beitragsformate: Einige Nachrichten werden lediglich von dem*der Sprecher*in verlesen und mit hintergründigem Bildmaterial versehen; andere Meldungen sind durch ausführlichere Berichterstattungen des*der Korrespondent*in gekennzeichnet und mit aktuellem Bewegtbildmaterial untermalt. Die Entscheidung drüber, wo ein Beitrag platziert und wie dieser aufbereitet wird, ist das Resultat eines gemeinsamen Aushandlungsprozesses innerhalb verschiedener Konferenzrunden. Hier wird versucht, einen Konsens über die inhaltliche Planung der Sendung zu erzielen, wobei im Zweifelsfall der*die Chefredakteur*in das letzte Wort hat (Tagesschau 2019a). Jenseits der soeben beschriebenen statischen inhaltlichen und gestalterischen Rahmenbedingungen der Tagesschau – die gewissermaßen das Grundgerüst einer jeden Sendung bilden und ihr so ein einheitliches Erscheinungsbild verleihen – ist täglich eine Vielzahl redaktioneller Entscheidungen zu treffen, für die es keineswegs verbindlichen Regelungen gibt. Welche Themen in die Sendung aufgenommen, wo diese platziert und wie diese präsentiert werden – all das sind Fragen, die es von den Redakteur*innen, Korrespondent*innen, Chef*innen vom Dienst sowie den beiden Chefredakteur*innen der ARD-aktuell Redaktion täglich neu auszuhandeln gilt. Dabei bleibt aufgrund der sehr knappen, nüchternen und faktenbasierten Nachrichtenpräsentation der Tagesschau (Tagesschau 2019a) zwar nur ein begrenzter inhaltlicher und gestalterischer Spielraum, trotzdem sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, wie in einem Tagesschaubeitrag gewisse redaktionelle Grundhaltungen erkennbar werden: Welche Personen(-gruppen) kommen wann und in welchem Umfang zu Wort? Legt die Wortwahl eine eher positive oder negative Bewertung der Thematik nahe? Welche inhaltlichen Verknüpfungen werden hergestellt? Insbesondere von dem in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Zeitvergleich inhaltlich ähnlicher Meldungen erhoffe ich mir, dass Unterschiede in den Darstellungsweisen erkennbar werden, die letztlich Rückschlüsse auf dahinterstehende Überzeugungen und Haltungen der ARD-aktuell Redaktion bezüglich Wirtschaftswachstum erlauben.

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

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2.3 Empirische Befunde über die Wirtschafts- und Klimaberichterstattung in Deutschland In der vorliegenden Arbeit analysiere ich zum einen solche Tagesschaubeiträge, die explizit Wirtschaftswachstum thematisieren, um so herauszufinden, auf welche Art und Weise – mit welchen Bewertungen, Haltungen, thematischen Verknüpfungen etc. – in der Tagesschau über Wirtschaftswachstum berichtet wird. Zum anderen analysiere ich Tagesschaumeldungen, die inhaltlich dem Themenfeld Umwelt- und Klimaschutz zuzuordnen sind, um auf diesem Weg zu untersuchen, ob und in welcher Form Wachstum und Klimawandel in der Berichterstattung der Tagesschau miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Ebendiese Materialauswahl berücksichtigend werden folgend zunächst Studien vorgestellt, die die Inhalte der Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland erforscht haben. Im Anschluss daran werde ich einen kurzen Einblick in zwei Forschungsarbeiten geben, die die Berichterstattung über den Klimawandel in deutschen Medien zum Gegenstand haben.

2.3.1 Inhalte und Defizite der Wirtschaftsberichterstattung Sowohl in älteren als auch aktuelleren Forschungsarbeiten über die Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland werden wiederholt Defizite aufgedeckt. Gegenstände der Kritik sind beispielsweise ein zu geringer Umfang von Wirtschaftsnachrichten im Allgemeinen sowie deren häufige Einbettung in nicht-wirtschaftliche Kontexte ­(Müller-Klier 2010, S. 71). Des Weiteren wird eine meist sehr komplizierte Fachsprache sowie eine mangelhafte Darstellung von Hintergründen und Zusammenhängen bemängelt (ebd.; Sondergeld 1983, S. 409 f. nach Müller-Klier 2010, S. 64 f.; Kalt 1990, S. 43; Quiring 2004, S. 72). Der Kommunikationswissenschaftler Oliver Quiring identifiziert in seiner Studie eine Vernachlässigung von Verbraucher*inneninteressen (2004, S. 80); zudem stellen Quiring sowie die Forscher Lutz M. Hagen und Wolfgang Donsbach in ihren Studien eine Überbetonung negativer Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung fest (Quiring 2004, S. 86; Hagen 2005, S. 127 ff.; Donsbach 1999, S. 72). Weiterhin aufschlussreich – und womöglich eine Ursache für die beschriebenen Unzulänglichkeiten der Wirtschaftsberichterstattung – sind die von Claudia Mast (2012) identifizierten, durchaus ambivalenten Anforderungen an Wirtschafsjournalist*innen. Im Rahmen repräsentativer Befragungen von Journalist*innen und Bürger*innen in den Jahren 2010 und 2011(ebd., S. 343 ff.) zeigt sich deutlich, dass das journalistische Rollenverständnis in vielen Fällen nicht mit den Bedürfnissen und Vorstellungen des Publikums übereinstimmt. So antworten fast 90 % der Bürger*innen bezüglich ihrer Erwartungen an den Wirtschaftsjournalismus, dass dieser Kritik an den Missständen in der Wirtschaft üben sollte; 86 % erwarten wiederum, dass der Wirtschaftsjournalismus moralische Grenzen gegenüber der Wirtschaft aufzeigt (ebd., S. 146). Hier wird also der Wunsch nach einem kritischen Wirtschaftsjournalismus deutlich, der „auf der Seite der Gesellschaft steht und deren Perspektive vertritt“ (ebd., S. 149). Die befragten Wirtschaftsjournalist*innen hingegen kommen zu anderen Urteilen. Hier sehen nur

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knapp 55 % der Befragten die Kritik an Missständen in der Wirtschaft als ihre Aufgabe an (ebd., S. 146); eine Orientierung an der Wirtschaft spielt für sie eine deutlich größere Rolle als für die befragten Bürger*innen (ebd., S. 150). Weiterhin ergeben die Befragungen, dass sich die Bürger*innen mehr Informationen über die Auswirkungen von Unternehmenstätigkeiten auf die Umwelt wünschen, über zwei Drittel der Befragten wollen über diese Zusammenhänge mehr erfahren (ebd., S. 173). Eine ausführlichere Berichterstattung über die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Wirtschaft sowie über den Einfluss von Unternehmen auf Politik und Gesellschaft wünschen sich 60 bzw. 58 % des Publikums (ebd., S. 174). Angesichts dieser empirischen Befunde liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Wirtschaftsjournalismus mit seiner besonderen Vermittlerrolle – die ihm offenkundig nicht nur die verständliche Aufbereitung komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge, sondern auch deren kritische Einbettung in den gesellschaftspolitischen Kontext abverlangt – häufig an seine Grenzen zu geraten scheint und nicht die Leistungen erbringt, die sowohl Wissenschaftler*innen als auch Rezipient*innen von ihm erwarten. Bezieht man ebendiese Befunde auf die hier verfolgte Forschungsagenda, so gilt es im Rahmen der Datenanalyse einerseits zu untersuchen, ob die in der Vergangenheit aufgedeckten Defizite der Wirtschaftsberichterstattung auch in der Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum wiederzufinden sind. Andererseits möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern die Tagesschau in ihrer Berichterstattung über Wirtschaftswachstum die vom Publikum gewünschte kritische Haltung gegenüber der Wirtschaft einnimmt, Wirtschaftswachstum also auch aus einer gesellschaftspolitischen und ökologischen Perspektive betrachtet.

2.3.2 Mediale Darstellungsweisen der Thematik Klimawandel Aufschlussreiche Einblicke in die mediale Aufbereitung der Thematik Klimawandel offenbart eine im Jahr 2008 veröffentlichte Studie von Peters und Heinrichs. Die Forscher analysieren zwischen 2001 und 2003 rund 1200 Beiträge nationaler sowie regionaler deutscher Medien (Print, Fernsehen und Radio) mittels quantitativer Inhaltsanalysen, um herauszufinden, ob und in welcher Form der Klimawandel als Risiko konstruiert wird (Peters und Heinrichs 2008, S. 14 ff.). Dabei stellen sie unter anderem fest: „The majority of stories in the media have an alarming tone and warn against risks“ (ebd., S. 22). Weiterhin untersuchen Peters und Heinrichs den Faktor „risk responsibilities“ (ebd., S. 26), also welche Akteur*innen in den analysierten Medienbeiträgen für die Verursachung und das Risiko-Management des Klimawandels verantwortlich gemacht werden (ebd., S. 27). Als besonders interessant erachten die Forscher hierbei die Erkenntnis, dass die Dimension Verantwortlichkeit im medialen Diskurs über den Klimawandel kaum repräsentiert wird. Die wenigen Aussagen, die diese Dimension thematisieren, benennen meist die Industrienationen sowie deren Bevölkerung als Hauptverursacher, während die Zuständigkeit für Risiko-Management vor allem den Industrienationen sowie den Politiker*innen und Behörden zugeschrieben wird

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

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(ebd.).3 Dem Wirtschaftssektor scheint somit in diesem Zusammenhang keine explizite Beachtung zuzukommen, weshalb es zunächst einmal unwahrscheinlich erscheint, dass die Tagesschau in ihrer Berichterstattung das Wachstumsstreben als zentrale Ursache für den Klimawandel benennt. Ebendieser Vermutung gilt es im Rahmen der Datenanalyse nachzugehen. Weiterhin aufschlussreich ist die Studie des Kommunikationswissenschaftlers Marcus Maurer, der mittels qualitativer Inhaltsanalysen die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Bild Zeitung und des Spiegels im Zeitraum von 1979 bis 2007 zu verschiedenen Klimakonferenzen untersucht (2011, S. 65). Unter den zahlreichen aufschlussreichen Befunden, die er in diesem Zuge zutage fördern kann, erachte ich insbesondere seine Erkenntnisse über die Darstellungsweisen des Klimawandels als ertragreich für die hier angelegte Forschungsagenda. Maurer findet heraus, dass der Klimawandel im Verlauf des gesamten Untersuchungszeitraums ausnahmslos als „negativ (97 %), bedrohlich (93 %), menschenverursacht (93 %) und außergewöhnlich (87 %)“ (ebd., S. 67) charakterisiert wird. Ob in der Berichterstattung der Tagesschau ebenfalls eine solche Charakterisierung des Klimawandels auszumachen ist bzw. welche anderen Attribute dem Klimawandel hier zugeschrieben werden, möchte ich im Rahmen meiner Datenanalyse herausfinden.

3 Methodologie 3.1 Ontologische und epistemologische Prämissen Das vorliegende Kapitel dient der Erörterung der wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Arbeit. Dabei bilden die in der Denkschule des amerikanischen Pragmatismus vertretenen Auffassungen von (kollektivem) Handeln, Erkenntnis und Wahrheit den theoretischen Rahmen, in den ich die hier betrachtete Forschungsagenda einbette. Entsprechend dieser pragmatistischen Fundierung ziehe ich zur Konzeptualisierung der hier erörterten Fragestellung zwei im Pragmatismus zentrale, ontologische Figuren heran: Handlungsregeln und Strukturen kollektiven Handelns. Beide Figuren sollen folgend näher beschrieben werden. Der vorliegenden Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass die Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum damals wie heute von verschiedenen Handlungsregeln angeleitet war bzw. ist.

3In

einer weiteren Studie von Peters und Heinrichs aus dem Jahr 2005 werden die Ergebnisse dieser Erhebung ausführlicher dargelegt. Hieraus geht hervor, dass die Industrie/Wirtschaft in nur etwa 3 % der Beiträge, die die Dimension „risk responsibility“ thematisieren, als Verursacher bzw. Verantwortliche für Risiko-Management benannt werden (Peters und Heinrichs 2005, S. 62). Diese wissenschaftlichen Befunde legen die Vermutung nahe, dass auch das Wirtschaftswachstum in den Medien nur selten als Ursache für den Klimawandel dargestellt wird.

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Darunter verstehe ich, in Anlehnung an die Pragmatisten Charles S. Peirce und Herbert Mead, im Rahmen sozialer Interaktionsprozesse entstandene Überzeugungen, nach denen Menschen ihr Handeln gegenüber den Objekten ihrer Umwelt ausrichten. Als ebensolche sozialen Produkte unterliegen Handlungsregeln einem steten Wandel, können sich also zu jedem Zeitpunkt als unzulänglich erweisen, modifiziert oder gar verworfen werden, während gleichzeitig neue handlungsanleitende Regeln entstehen (Roos 2013, S. 314). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit möchte ich herausfinden, auf Basis welcher Handlungsregeln die ARD-aktuell Redaktion die Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum in den beiden Untersuchungszeiträumen konzipiert, ob ein Wandel der Handlungsregeln auszumachen ist und ob die identifizierten H ­ andlungsregeln entsprechend der Entwicklung der in Abschn. 2.1 beschriebenen (­Post-)Wachstumsdebatte nahelegen, dass die Redaktion im Laufe der Jahre eine kritischere Haltung gegenüber Wirtschaftswachstum eingenommen hat. Den Untersuchungsgegenstand Tagesschau begreife ich, in Anlehnung an Ulrich Franke und Ulrich Roos (2010), als Struktur kollektiven Handels (SKH). Jenes Verständnis impliziert die Wahrnehmung der Tagesschau als eine Entität, deren Aufbau, Organisation und Handlungspotenzial im Zuge kollektiver Aushandlungsprozesse menschlicher Akteur*innen (re-)produziert und im Laufe der Zeit potentiell verändert werden kann. Weiterhin möchte ich an dieser Stelle transparent machen, wie ich die im Rahmen dieser Forschungsarbeit zutage geförderten Befunde bewerte, also welchen Wahrheitsgehalt und welche Aussagekraft ich ihnen zuschreibe. So bin ich der Auffassung – und hierbei lehne ich mich ebenfalls an Vorarbeiten des Pragmatismus an –, dass es keine endgültige Realität gibt, die es mittels wissenschaftlicher Erkundungen aufzudecken gilt. Vielmehr verstehe ich Realität als etwas, dass „von Handelnden in ihrem Handeln kontinuierlich hervorgebracht“ (Strübing 2008, S. 291) wird. Entsprechend eines solch fluiden Realitätsverständnisses kann meiner Auffassung nach auch Wahrheit – die gemeinhin als mit der Realität übereinstimmende Aussage verstanden wird (Nagl 1998, S. 65) – keinen allgemeingültigen, universellen Anspruch erheben, sondern muss vielmehr denselben prozesshaften Charakter annehmen wie jene Wirklichkeit, auf welche sie sich bezieht. Entsprechend dieses Wahrheitsverständnisses vertrete ich die Ansicht, dass die Sozialwissenschaften zwar Theorien hervorbringen können, die von großen Teilen der wissenschaftlichen Community anerkannt werden und somit für einen bestimmten Zeitpunkt als bestätigt gelten können. Unter der Bedingung jedoch, dass sich die soziale Welt in einem kontinuierlichen Wandel befindet, können auch jene Eigenschaften, die den wahren Gehalt einer sozialwissenschaftlichen Theorie ausmachen, stets erneuten Veränderungen unterliegen. Somit kann der Anspruch einer sozialwissenschaftlichen Theorie im Allgemeinen – und weiterhin der Anspruch der vorliegenden Forschungsarbeit – lediglich darin bestehen, eine fluide Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einer bestimmten Perspektive zu deuten. Dem ewig provisorischen Charakter jeder wissenschaftlichen Erkenntnis lässt sich dabei nur durch eine kontinuierliche Überprüfung und Weiterentwicklung gerecht werden.

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

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3.2 Methodische Vorgehensweise Wie bereits ausgeführt analysiere ich zur Beantwortung der hier untersuchten Forschungsfrage einzelne Tagesschaubeiträge aus den beiden Untersuchungszeiträumen 1994 bis 1996 und 2015 bis 2017. Somit habe ich einerseits einen Zeitraum ausgewählt, in dem die beschriebene (Post-)Wachstumsdebatte sozusagen noch in ihren Kinderschuhen steckte und Wachstumskritik nur peripher zu vernehmen war. Andererseits stellt der zweite, aktuellere Untersuchungszeitraum einen vorläufigen Höhepunkt der Debatte dar, an dem die Themen Nachhaltigkeit und umweltverträglichere Wirtschaftsweisen in aller Munde sind und wachstumskritische Stimmen zumindest den wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Diskurs immer stärker prägen. Ob und inwieweit sich ebendiese Intensivierung der Debatte auf die Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum ausgewirkt hat, gilt es im Rahmen der Datenanalyse herauszufinden. Konkret handelt es sich bei dem untersuchten Datenmaterial um Beiträge aus zwei Themenfeldern, namentlich i) die Veröffentlichung des Gutachtens des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und ii) die UN-Klimakonferenz. Über ebendiese beiden Themen berichtet die Tagesschau sowohl im ersten als auch im zweiten Untersuchungszeitraum jährlich mindestens einmal, weshalb ich mir von der Analyse dieser Beiträge eine hohe Vergleichbarkeit verspreche, in deren Zuge mögliche Veränderungen der Berichterstattung besonders deutlich zutage treten. Weiterhin entstammen sämtliche hier untersuchten Beiträge der 20-Uhr-Hauptausgabe der Tagesschau, die sowohl für den ersten als auch den zweiten Untersuchungszeitraum im Internet frei zugänglich ist. Das in der vorliegenden Arbeit angewendete Analyseverfahren ist stark an die Grounded Theory nach Anselm Strauss und Juliet Corbin angelehnt4. Hierbei handelt es sich um ein theoriegenerierendes Verfahren, das es seinen Anwender*innen erlaubt, durch eine systematische Analyse des empirischen Datenmaterials theoretische Konzepte über das untersuchte Phänomen zu entwickeln und somit sukzessive eine Theorie zu generieren, die in enger Auseinandersetzung mit dem Material, also gewissermaßen aus dem Material heraus, entsteht (Strübing 2008, S. 280). Insbesondere zwei Verfahrensschritte der Grounded Theory sind für die hier angelegte Forschungspraxis relevant: Das Kodieren und das Verfassen theoretischer Memos. Wie ebendiese beiden methodischen Handgriffe konkret zur Anwendung kommen, wird folgend näher erläutert. Der von Strauss ursprünglich als dreischrittig konzipierte Kodierprozess (Strauss 1991, S. 57 ff.) wird in der vorliegenden Arbeit auf zwei Schritte reduziert. In einem ersten offenen Kodierdurchlauf versehe ich die relevanten Sequenzen des Datenmaterials mit sogenannten Sequenz-Memos, in denen ich meine gedanklichen Interpretationsprozesse, Assoziationen und Ideen bezüglich der Sequenzen festhalte. Weiterhin

4Für

eine umfassende Einführung in den Forschungsstil der Grounded Theory siehe „Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung“ (Strauss und Corbin 2010).

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formuliere ich in diesem Zuge erste Hypothesen über mögliche Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, auf deren Basis ich von Beginn an Kategorien fomuliere. Im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses werden sodann Zusammenhänge zwischen den bereits formulierten Kategorien erkennbar, sodass schließlich übergeordnete Kategorien entstehen, die auf elaborierteren Hypothesen beruhen, als es bei den Kategorien des offenen Kodiervorgangs der Fall ist. Die Hypothesen und Gedankengänge, die zur Formulierung ebendieser Kategorien höheren Abstraktionsgrades führen, werden in Form von sogenannten Kategorie-Memos festgehalten. Auf diese Weise entsteht sukzessive ein Interpretationskorpus aus immer gehaltvolleren Hypothesen und Kategorien, in dem die relevanten Phänomene des Materials beschrieben und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Strauss und Corbin erachten den Forschungsprozess dann als beendet, wenn eine theoretische Sättigung einsetzt, wenn also die Analyse zusätzlichen Materials keine neuen Eigenschaften einer Kategorie mehr zutage fördert (Strübing 2014, S. 32). Aufgrund begrenzter zeitlicher Kapazitäten musste ich meinen Forschungsprozess beenden, bevor sich das Gefühl einer solchen theoretischen Sättigung einstellen konnte. Jedoch bin ich der Meinung, dass auch die Analyse dieser sehr begrenzten Materialauswahl wertvolle Erkenntnisse bezüglich der vorliegend untersuchten Forschungsfrage hervorbringen konnte. Insbesondere deshalb, weil ich mich mit meinem Vorhaben, die Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum zu untersuchen, in weitestgehend unerforschte Gefilde begeben habe, sodass meine Ergebnisse in jedem Fall erste Anhaltspunkte und Orientierungen für weitere Forschungsvorhaben dieser Richtung liefern.

4 Darlegung der Befunde Bei der nun erfolgenden Darlegung der Befunde werde ich mich auf die Erörterung jener Kategorien fokussieren, die meiner Auffassung nach das größte Erklärungspotenzial für das hier verfolgte Forschungsinteresse bereithalten. Weiterhin werde ich bei der Niederschrift der Ergebnisse immer wieder ausgewählte Originalsequenzen zitieren, anhand derer sich in besonderer Weise repräsentativ die Befunde meiner Arbeit belegen lassen. Sowohl die Transkripte der analysierten Tagesschaubeiträge als auch den vollständigen Analysekorpus findet der*die Leser*in im Dokument „Materialsammlung und Anhang zum Sammelband Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation“ (Roos 2020).

4.1 Kritische Haltungen in der Berichterstattung über Wirtschaftswachstum im ersten und zweiten Untersuchungszeitraum Die Analyse der Tagesschaubeiträge über das Gutachten der Wirtschaftsweisen ergibt, dass sich die Berichterstattung über diese Thematik im Laufe der letzten zweieinhalb

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

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Jahrzehnte durchaus verändert hat. Während im ersten Untersuchungszeitraum die von den Weisen vorgeschlagenen Maßnahmen zur Wachstumsförderung weitestgehend unkommentiert wiedergegeben werden, lässt die ARD-aktuell Redaktion im zweiten Zeitraum immer wieder Stimmen zu Wort kommen, die die häufig sozialpolitisch diskussionswürdigen Maßnahmen der Weisen kommentieren und auch zurückweisen. Inwiefern kritische Haltungen in den beiden Untersuchungszeiträumen konkret zu erkennen sind, soll folgend näher ausgeführt werden.

4.1.1 Unkritische Berichterstattung über Wirtschaftswachstum im ersten Untersuchungszeitraum Die unkritische Berichterstattung der Tagesschau im ersten Zeitraum wird insbesondere dann erkennbar, wenn Vorschläge der Weisen zur Wachstumsförderung, die aus einer sozialen Perspektive zu kritisieren wären, gänzlich unkommentiert bleiben (Lohs 2020, S. 204, WW90_K110) oder aber nur sehr oberflächlich und inhaltslos kommentiert werden (ebd., S. 204 f., WW90_K112). So fordern die Wirtschaftsweisen im Beitrag des Jahres 1994 beispielsweise, dass Tarifabschlüsse zur Sicherung des Standorts Deutschland in Zukunft niedrig gehalten werden müssten (ebd., S. 190, Seq. 10) – eine Forderung, die Arbeitnehmer*innen und Gewerkschafter*innen mit großer Wahrscheinlichkeit beanstanden würden. Im Tagesschaubeitrag bleibt dieser Vorschlag der Wirtschaftsweisen jedoch unkommentiert. Eine ansatzweise kritische oder zumindest einordnende Berichterstattung liefert die Redaktion im ersten Zeitraum nur an den Stellen, an denen der Korrespondent über die Bewertungen der von den Weisen vorgeschlagenen Maßnahmen aus Sicht des Finanzministers berichtet (ebd., S. 203, WW90_K108). Mit Formulierungen wie „Das ist nicht gerade Musik in den Ohren des Bundesfinanzministers“ (ebd., S. 187, Seq. 6) macht der Korrespondent deutlich, dass die Vorschläge der Weisen nicht mit den Plänen des Finanzministers im Einklang stehen. Wiederholt kommt auch die Bundesregierung zur Sprache, deren Wirtschaftsund Finanzpolitik von den Wirtschaftsweisen bewertet und kritisiert wird (ebd., S. 203, WW90_K109A). Statt jedoch beispielsweise einen*eine Regierungsvertreter*in zu Wort kommen zu lassen, der*die den Kurs der Regierung gegenüber dieser Kritik verteidigt, bleiben auch diese Stellungnahmen der Weisen gänzlich unkommentiert (ebd., S. 204, WW90_K109A1). Letztlich treten also sowohl der Finanzminister als auch die Bundesregierung in der Tagesschauberichterstattung als stimmlose Adressat*innen auf, deren Politik von den Wirtschaftsweisen zwar wiederholt bewertet und kritisiert wird, deren eigenen Positionen jedoch nicht näher ausgeführt werden (ebd., S. 207, WW90_ K203). Ebendieser Befund einer oberflächlichen, einseitigen Berichterstattung deckt sich wiederum mit zwei der in Abschn. 2.3.2 wiedergegebenen Studienergebnisse. So konnten sowohl Sondergeld (1983 nach Müller-Klier 2010, S. 65) als auch Kalt (1990, S. 43) in ihren Untersuchungen der Wirtschaftsberichterstattung eine mangelhafte Darstellung von Hintergründen und Zusammenhängen feststellen.

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4.1.2 Kritische Einordnung aus einer sozialpolitischen Perspektive sowie Vermittlung von relevantem Kontextwissen im zweiten Untersuchungszeitraum Die Berichterstattung über das Gutachten der Wirtschaftsweisen fällt im zweiten Untersuchungszeitraum deutlich kritischer aus. Hier kommen verschiedene Stimmen – namentlich die Regierungspartei SPD, Gewerkschafter*innen, die Kanzlerin und auch ein Mitglied der Wirtschaftsweisen – zu Wort, die die von den Weisen vorgeschlagenen Maßnahmen zur Wachstumsförderung wiederholt einordnen, relativieren und auch zurückweisen (Lohs 2020, S. 230, WW20_K202A). So heißt es beispielsweise im Beitrag aus dem Jahr 2016 vonseiten des Korrespondenten: „Gewerkschafter reagierten gereizt auf die Wirtschaftsweisen. Forderungen wie Rente mit 71 lösen die Probleme auf Kosten der Arbeitnehmer, kritisierte der Deutsche Gewerkschaftsbund“ (ebd., S. 221, Seq. 44). Dieser insgesamt deutlich kritischere Ton des zweiten Zeitraums wird dabei insbesondere von den direkten und indirekten Sprechakten der Bundeskanzlerin geprägt, die in sämtlichen Beiträgen eine prominente Stellung einnimmt (ebd., S. 226, WW20_K105). Wiederholt werden den vorgeschlagenen Maßnahmen der Wirtschaftsweisen kritische Äußerungen der Kanzlerin gegenübergestellt. Exemplarisch kann hier die folgende Aussage wiedergegeben werden, in der Merkel die Vernachlässigung der sozialen Perspektive beanstandet: „Wenn ich mir auch die Diskussionen aus den letzten Monaten auch im Rahmen des Wahlkampfs ansehe, dann sind natürlich auch viele Dinge zur Sprache gekommen, wo Menschen auch aus ihrer sozialen Perspektive heraus Erwartungen an den Staat haben“ (ebd., S. 224, Seq. 51). Indem die ­ARD-aktuell Redaktion also im zweiten Zeitraum wiederholt eine kritische Einordnung der Forderungen der Wirtschaftsweisen vornimmt, wird für den*die Zuschauer*in ersichtlich, dass die von den Weisen geforderten Maßnahmen lediglich als Vorschläge zu verstehen sind, die in Konkurrenz zu anderen politischen Zielsetzungen der Bundesregierung stehen und folglich von der Regierung nicht notwendigerweise umgesetzt oder auch nur befürwortet werden müssen. Somit relativiert die Redaktion letztlich die Relevanz und Wirkmächtigkeit der Weisen und deren Gutachtens. Passend zu dieser generell kritischeren Berichterstattung informiert die Redaktion ihre Zuschauer*innen im zweiten Untersuchungszeitraum ausführlicher über relevante Hintergrund- und Kontextinformationen (ebd., S. 231 f., WW20_K203). Beispielsweise expliziert der Sprecher in einer der untersuchten Beiträge nochmals den Auftrag und die Rolle der Wirtschaftsweisen und macht dem*der Zuschauer*in somit die Funktion der Weisen im gesamtpolitischen Kontext sowie den speziellen inhaltlichen Fokus dieses Gremiums verständlich (ebd., S. 216, Seq. 38). Ebensolche Hintergrundinformationen steigern die Qualität der Berichterstattung, da sie den Rezipient*innen ermöglichen, die im Beitrag wiedergegebenen Informationen besser einzuordnen und zu bewerten. Gleichzeitig sehe ich hierin ein weiteres Indiz dafür, dass die Redaktion im zweiten Untersuchungszeitraum darum bemüht ist, die Relevanz der Wirtschaftsweisen zu relativieren und deutlich zu machen, dass es sich hierbei lediglich um ein beratendes Gremium handelt, dessen tatsächliche politische Wirkmächtigkeit jedoch letztlich sehr begrenzt ist.

(Post-)Wachstum in der Tagesschau? Eine Untersuchung …

257

4.1.3 Zusammenfassung der Befunde zur Berichterstattung zum Gutachten der Wirtschaftsweisen Es ist ein eindeutiger Wandel in der Berichterstattung über das Gutachten der Wirtschaftsweisen auszumachen, der darauf hinweist, dass die untersuchte SKH Tagesschau heute stärker darauf bedacht ist, das Gutachten sowie die von den Weisen geforderten Maßnahmen zur Wachstumsförderung kritisch einzuordnen. Die Stimmen, die in diesem Zuge zu Wort kommen, stellen insbesondere die potenzielle Konflikthaftigkeit wirtschaftlicher und sozialer Interessen heraus, sodass für den*die Rezipient*in deutlich wird, dass Wachstum nur eines der politischen Handlungsziele der Regierung ist, welches es jedoch auch mit sozialpolitischen Zielsetzungen zu vereinbaren gilt. Diese Befunde lassen sich wiederum auf den von Claudia Mast (2012) beschriebenen Konflikt des Wirtschaftsjournalismus beziehen, sowohl wirtschaftliche als auch gesellschaftliche Funktionen erfüllen zu müssen (vgl. Abschn. 2.3.1). Während in der Berichterstattung über das Gutachten der Wirtschaftsweisen im ersten Zeitraum ein vorrangig wirtschaftlicher Blickwinkel eingenommen wird, die soziale Perspektive jedoch unbeachtet bleibt, gelingt es der Redaktion im zweiten Untersuchungszeitraum deutlich besser, den Drahtseilakt zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Funktionen zu leisten. Indem die von den Weisen vorgeschlagenen Maßnahmen – die von einem rein wirtschafts- und wachstumslogischen Standpunkt aus womöglich sinnvoll wären – mit Sichtweisen der politischen und sozialen Alltagswelt in Verbindung gebracht werden, liefert die ARD-aktuell Redaktion im zweiten Untersuchungszeitraum jenen kritischen Wirtschaftsjournalismus, den sich die Rezipient*innen laut der Studie von Mast wünschen. Die Tatsache, dass im zweiten Zeitraum wirtschaftliche und soziale Interessenkonflikte aufzeigt werden, spricht weiterhin für die These, dass die aufgezeigte ­(Post-) Wachstumsdebatte die journalistischen Entscheidungsprozesse der ARD-aktuell Redaktion geprägt hat. So wurde in Abschn. 2.1 herausgearbeitet, dass sich die Vereinten Nationen dem Leitbild eines nachhaltigen und somit auch sozialen Wachstums verschrieben haben (Vereinte Nationen 2015, S. 4). Möglicherweise waren es ebendiese auf internationaler Ebene geführten Debatten um ein sozialeres Wachstum, die die Redaktion dazu bewegt haben, die sozialpolitische Dimension in ihrer Berichterstattung über Wirtschaftswachstum stärker zu berücksichtigen. Zwar kann ich letztlich nur Mutmaßungen darüber anstellen, ob und inwieweit sich diese Veränderungen der Berichterstattung über Wirtschaftswachstum auf die (Post-)Wachstumsdebatte zurückführen lassen. Ich verstehe jedoch die deutlich kritischere Berichterstattung des zweiten Zeitraums in jedem Fall als einen Hinweis darauf, dass die ARD-aktuell Redaktion die langjährige absolute Vorrangstellung des Wirtschaftswachstums in der Hierarchie politischer Handlungsziele im Laufe der Jahre hinterfragt hat, sodass sie heute stärker darauf bedacht ist, auch sozialpolitische Standpunkte in ihrer Berichterstattung über Wirtschaftswachstum aufzugreifen.

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4.2 Inhaltliche Verknüpfungen der Themen Wirtschaftswachstum und Umwelt-/Klimaschutz in der Berichterstattung der Tagesschau Betrachtet man die Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum aus einer klima- und umweltpolitischen Perspektive, so weisen die Befunde in eine andere Richtung. Dass das anhaltende Streben nach Wirtschaftswachstum als ein zentraler Treiber für heutige Umwelt- und Klimaveränderungen anzusehen ist, wird in den Beiträgen über die Wirtschaftsweisen überhaupt nicht, in den Beiträgen über die Klimakonferenzen lediglich im ersten Zeitraum thematisiert. Inwiefern die Themen Umwelt bzw. Klima und Wirtschaftswachstum in der Tagesschauberichterstattung über das Gutachten der Wirtschaftsweisen sowie über die UN-Klimakonferenzen miteinander in Verbindung gebracht werden, erörtere ich im Folgenden.

4.2.1 Keine inhaltlichen Verknüpfungen von Wachstum und Umwelt/ Klima in der Berichterstattung über Wirtschaftswachstum Während die SKH Tagesschau im zweiten Untersuchungszeitraum aus einer sozialpolitischen Perspektive durchaus kritisch über das Gutachten der Wirtschaftsweisen berichtet, ist eine kritische Haltung aus einer umweltpolitischen Perspektive zu keinem Zeitpunkt, also weder im ersten (Lohs 2020, S. 206, WW90_K201B) noch im zweiten Untersuchungszeitraum (ebd., S. 231, WW20_K202B), auszumachen. Obwohl im internationalen Diskurs nun seit mehreren Jahrzehnten die Debatte um ein umweltund klimafreundliches Wachstum in vollem Gange ist, werden in den Tagesschaubeiträgen über die Gutachtenveröffentlichung keinerlei Verknüpfungen zu den Themen Umwelt und Klima vorgenommen. Dabei hätte die Redaktion auch hier die Möglichkeit, Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die die problematischen Zusammenhänge zwischen Wachstum und Umwelt bzw. Klima thematisieren; ebenso wie im zweiten Zeitraum die sozialpolitische Perspektive durch Aussagen von Gewerkschafter*innen und der SPD wiedergegeben wurde, hätte auch die umweltpolitische Perspektive beispielswiese durch Einschätzungen von Umweltverbänden oder Vertreter*innen einer De-Growth Position repräsentiert werden können. Kritische Stimmen letzterer Art kommen in den Beiträgen über das Gutachten der Wirtschaftsweisen jedoch nicht vor, sodass für den*die Zuschauer*in die Konflikthaftigkeit zwischen dem Wachstumsstreben und einem effektiven Umwelt-/Klimaschutz zumindest in diesen Beiträgen nicht ersichtlich wird. Dieser Befund lässt sich erneut mit der in Abschn. 2.3.1 vorgestellten Studie von Claudia Mast in Verbindung bringen. Die Kommunikationswissenschaftlerin fand heraus, dass sich die Bürger*innen vom Wirtschaftsjournalismus mehr Informationen über die „Auswirkungen von Unternehmenstätigkeiten auf die Umwelt“ (Mast 2012, S. 173) wünschen. Angesichts der hier zutage geförderten Ergebnisse thematisiert die ARD-aktuell Redaktion ebendiesen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Umweltzerstörung nicht, kommt also diesem Wunsch der Zuschauer*innen in ihrer Berichterstattung über Wirtschaftswachstum nicht nach.

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4.2.2 Anhaltend ausführliche und kritische Berichterstattung über die internationale Klimapolitik Bevor ich im nachfolgenden Kapitel genauer darauf eingehe, inwieweit in der Berichterstattung der Tagesschau über die UN-Klimakonferenzen die kritische Rolle des vorherrschenden Wachstumsparadigmas thematisiert wird, dienen die nachfolgenden Ausführungen zunächst einmal einer genaueren Beschreibung allgemeiner Eigenschaften der Berichterstattung über die Klimakonferenzen sowie den Klimawandel. So kann ich in beiden Untersuchungszeiträumen eine durchaus kritische Berichterstattung über die UN-Klimakonferenzen ausmachen, in deren Zuge die Unzulänglichkeiten der internationalen Klimapolitik klar benannt werden (Lohs 2020, S. 248 f., UKK90_K201; ebd., S. 268, KK20_K204). Wiederholt werden die von der internationalen Staatengemeinschaft erzielten und geplanten Klimaschutzmaßnahmen anhand direkter und indirekter Sprechakte von dem*der Korrespondent*in (ebd., S. 246 f., UKK90_K104; ebd., S. 263 f., KK20_K105), Vertreter*innen von Umwelt- und Klimaschutzorganisationen (ebd., S. 247, UKK90_K106A; ebd., S. 263, KK20_K104) oder Wissenschaftler*innen (ebd., S. 246, UKK90_K103; ebd., S. 265, KK20_K108) kritisch eingeordnet. Folglich scheint die ARD-aktuell Redaktion ihre Aufgabe nicht nur darin zu sehen, wertneutral die Ereignisse und erarbeiteten Vereinbarungen der Konferenzen wiederzugeben, sondern sie liefert zudem eine kritische Einordnung des Geschehens, in deren Zuge sie die internationale Klimapolitik wiederholt als unzulänglich beschreibt. Weiterhin wird der Klimawandel in der Berichterstattung beider Untersuchungszeiträume als bedrohliche Entwicklung dargestellt, der es mit großer Dringlichkeit entgegenzusteuern gilt (ebd., S. 249 f., UKK90_K203; ebd., S. 266 f., KK20_K202). Dies wird beispielsweise in der folgenden Sequenz deutlich, in der der Korrespondent erklärt: „Doch es muss gehandelt werden, das machten Wissenschaftler dem Kongress heute klar. Die Erwärmung der Erde, verursacht durch den Menschen, habe bereits begonnen. Katastrophale Folgen seien in den nächsten Jahrzehnten zu befürchten, immer schwerere Stürme, Überflutungen, aber auch die Ausbreitung der Wüsten.“ (ebd., S. 241, Seq. 64)

Die hier zum Ausdruck kommenden Charaktersierungen des Klimawandels entsprechen den in Abschn. 2.3.2 wiedergegebenen Befunden der Studie von Maurer, laut denen der Klimawandel in den Medien als negativ, bedrohlich, menschenverursacht und außergewöhnlich dargestellt wird (2011, S. 67). Auch der von Peters und Heinrichs identifizierte alarmierende Ton der Medien in Bezug auf den Klimawandel (2008, S. 22) findet sich in der Tagesschauberichterstattung wieder. Mit Formulierungen wie beispielsweise „Nicht weniger als das Weltklima steht auf dem Spiel“ (ebd., S. 257, Seq. 85) wird den Zuschauer*innen der Ernst der Lage deutlich gemacht. Darüber hinaus stelle ich fest, dass in der Tagesschauberichterstattung über die UN-Klimakonferenzen in beiden Untersuchungszeiträumen relevante Kontext­ informationen über den Klimawandel wiedergegeben werden – beispielsweise die Auswirkungen des Klimawandels auf die Umwelt, die Verbrennung fossiler Rohstoffe als zentrale Ursache des Klimawandels oder die CO2-Konzentration in der Atmosphäre

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(ebd., S. 250, UKK90_K204; ebd., S. 267 f., KK20_K203). Hieraus folgere ich, dass die ­ARD-aktuell Redaktion ihren Auftrag weiterhin darin sieht, ihren Zuschauer*innen relevantes Kontextwissen über die komplexen Zusammenhänge des Klimawandels zu vermitteln und ihnen somit gleichzeitig eine bessere Einordnung der Informationen über die Klimakonferenzen zu ermöglichen.

4.2.3 Wachstumskritische Haltungen in der Berichterstattung über die UN-Klimakonferenzen lediglich im ersten Untersuchungszeitraum Hinsichtlich der Frage, inwiefern die SKH Tagesschau in ihrer Berichterstattung über die UN-Klimakonferenzen konkret auf Wirtschaftswachstum als quasi systemimmanenten Treiber für Umwelt- und Klimaveränderungen eingeht, gelange ich zu den folgenden Erkenntnissen. Im ersten Untersuchungszeitraum wird explizit das Wirtschaftswachstum als ein dem Klimaschutz gegenläufiges Interesse benannt (Lohs 2020, S. 247 f., UKK_K107); der Korrespondent hält fest: „Von Klimaschutz sprechen hier alle, aber viele Interessen stehen dagegen. Die Industrieländer wollen ihr Wirtschaftswachstum erhalten, die ­Öl-Länder wollen Öl verkaufen und die Entwicklungsländer wollen am Wohlstand teilhaben“ (ebd., S. 240, Seq. 63). Statt also lediglich die Verbrennung fossiler Rohstoffe und die damit einhergehenden hohen CO2-Emissionen als Ursache für den Klimawandel zu benennen, macht die Redaktion hier explizit auf das Wachstumsstreben der Industrienationen aufmerksam und benennt somit implizit eine zentrale Ursache dafür, warum die bisherigen Maßnahmen des internationalen Klimaschutzes unzulänglich bleiben. Diesen Sprechakt bewerte ich als die wachstumskritischste Aussage aller untersuchten Beiträge, da hier deutlich wird, dass sich die Redaktion über den grundlegenden Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Klimaschutz im Klaren ist und auch nicht davor zurückschreckt, ebendiesen Zusammenhang in ihrer Berichterstattung klar zu benennen. Weiterhin wird anhand dieser sowie der folgend zitierten Aussage erkennbar, dass den Industriestaaten eine besondere Schuld für den Klimawandel und somit auch eine besondere Verantwortung in Sachen Klimaschutz zugeschrieben wird (ebd., S. 248, UKK90_K108): „Verringert werden muss vor allem das CO2-Gas aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Benzin, denn in der Atmosphäre blockiert CO2 die Wärmeabstrahlung der Erde. Gefordert sind hier zunächst die Industrieländer.“ (ebd., S. 241, Seq. 64)

Dieser Befund deckt sich ebenfalls mit den Ergebnissen der in Abschn. 2.3.2 vorgestellten Studie von Peters und Heinrichs, die herausfanden, dass die Industrienationen in den Medien als Hauptverursacherinnen des Klimawandels sowie als Hauptverantwortliche für das Risiko-Management dargestellt werden (2008, S. 27). Im zweiten Untersuchungszeitraum bleibt eine solche systemkritische Einordnung der Klimakonferenzen aus. Zwar werden auch hier die Emissionen und der Ressourcenverbrauch problematisiert, jedoch wird das Wachstumsstreben der Industriestaaten als

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quasi tiefer liegende Ursache für den Klimawandel in der Berichterstattung über die UN-Klimakonferenzen nicht aufgeführt (ebd., S. 266 f., KK20_K202). Vielmehr legt die folgend zitierte Sequenz die Interpretation nahe, dass sich die kritische Haltung der Redaktion im zweiten Zeitraum von der Makro- auf die Mikroebene zu verlagern scheint. Eine Stimme im Off macht hier während der Einblendung einer Grafik die folgende Aussage: „Und jeder Einzelne trägt seinen Teil dazu bei. Rund ein Viertel der Emissionen verursachen Verkehr und private Haushalte. Im Schnitt setzt jeder Mensch in Deutschland jährlich 9,2 Tonnen CO2 frei. Zum Vergleich: In den USA beträgt der CO2-Ausstoß pro Kopf und Jahr 16 Tonnen, im Schwellenland Indien sind es 1,9 Tonnen. Maßgeblich für die persönliche CO2-Bilanz ist der Lebensstil: Flugzeug oder Bahn, eigenes Auto oder Fahrrad, Rindersteak oder Grünkernbratling. Die Liste der Einsparmöglichkeiten ist lang.“ (ebd., S. 255, Seq. 82)

Obwohl ich es insbesondere aufgrund der hohen Reichweite der Tagesschau als durchaus sinnvoll erachte, dass individuelle Handlungsoptionen für einen klimafreundlicheren Lebensstil thematisiert werden, ist diese Aussage in meinen Augen aus zwei Gründen kritisch zu betrachten. Zum einen erscheint die Art und Weise, wie hier über Möglichkeiten einer nachhaltigeren Lebensweise informiert wird, unpassend. Durch simplifizierende Gegenüberstellungen wie „Flugzeug oder Bahn, eigenes Auto oder Fahrrad, Rindersteak oder Grünkernbratling“ (ebd.) erinnert ein klimabewusster Lebensstil hier vor allem an Verzicht oder gar exzentrisches Hippietum. Angemessener als eine solche plakative Entweder-Oder-Logik wäre es meines Erachtens, wenn stattdessen wertneutral individuelle Handlungsoptionen für eine klimafreundlichere Lebensweise aufgezeigt würden. Insbesondere die Gegenüberstellung „Rindersteak oder Grünkernbratling“ (ebd.) sticht hervor, da die Redaktion hier Klischees bedient und somit von dem in der Regel nüchternen Tagesschau-Sprachstil abweicht. Angesichts der Relevanz und Ernsthaftigkeit der Thematik Klimaschutz halte ich diese lockere, satirische Sprache an dieser Stelle für unangebracht. Zum anderen wirkt es inhaltlich verzerrend, dass hier ausschließlich der private CO2-Verbrauch näher beleuchtet wird – der ja nach eigener Aussage nur ein Viertel der Emissionen verursacht –, ohne dass die Herkunft der verbleibenden drei Viertel und somit des Hauptanteils der Emissionen ebenfalls benannt werden. Durch diese Fokussierung auf den privaten Verbrauch findet eine Überbetonung der Verantwortung des Individuums für den Klimawandel und somit zugleich eine Vernachlässigung der Verantwortung anderer zentraler Emissionsquellen, wie beispielsweise der Energiewirtschaft oder Industrie, statt. Weiterhin stelle ich fest, dass in der Berichterstattung der Tagesschau über die UN-Klimakonferenzen im zweiten Zeitraum insbesondere die Versäumnisse der deutschen Klimapolitik thematisiert werden (ebd., S. 265 f., KK20_K111), während im ersten Zeitraum lediglich die internationale Klimapolitik in der Kritik steht. In Form von Aussagen von Klimaschützer*innen werden dabei sowohl das Ausbleiben der Nennung eines verbindlichen Datums für den deutschen Kohleausstieg (ebd., S. 252, Seq. 78) als auch das Fehlen eines deutschen Klimaschutzplans (ebd., S. 258, Seq. 87) beanstandet.

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Kritik an der deutschen Klimapolitik wird zudem durch Aussagen der Umweltministerin geäußert (ebd., S. 265, KK20_K109). Auch in diesem Befund offenbart sich meines Erachtens, dass die Redaktion im zweiten Untersuchungszeitraum ihren Blick von den globalen Zusammenhängen des Klimawandels abwendet und stattdessen niedrigere Handlungsebenen – in diesem Fall die nationale Ebene – fokussiert. Für den zweiten Untersuchungszeitraum lässt sich somit festhalten, dass der prinzipiell kritische Ton gegenüber den Klimakonferenzen zwar erhalten bleibt, eine inhaltliche Verknüpfung zum Wachstumsparadigma hier jedoch nicht vorgenommen wird. Statt wie im ersten Zeitraum eine globale Perspektive auf den Klimawandel einzunehmen und in diesem Zuge das Wachstumsparadigma der Industriestaaten als quasi systemimmanenten Klimaschädling zu entlarven, stehen im zweiten Untersuchungszeitraum vor allem Versäumnisse der deutschen Klimapolitik sowie individuelle Handlungsoptionen für einen nachhaltigeren Lebensstil im Vordergrund der Berichterstattung. Betrachtet man diese Befunde vor dem Hintergrund der dargelegte ­(Post-)Wachstumsdebatte, so lässt sich in der Berichterstattung der Tagesschau quasi eine Entwicklung ausmachen, die der Richtung der Debatte gegenläufig ist. Obwohl die prekären Umweltund Klimafolgen unserer wachstumsgetriebenen Wirtschaftsweisen heute stärker zu spüren sind denn je und obwohl in Deutschland mit der Postwachstumsbewegung nun seit mehreren Jahren auch wachstumskritische Stimmen den Diskurs prägen, lassen sich in der Tagesschauberichterstattung über die UN-Klimakonferenzen im zweiten Zeitraum kritische Haltungen gegenüber dem Wachstumsparadigma und dem globalen Wirtschaftssystem nicht erkennen.

4.3 Die SKH Tagesschau stellt das Wachstumsparadigma weder damals noch heute grundlegend infrage Letztlich weisen einige der herausgearbeiteten Kategorien darauf hin, dass die ­ARD-aktuell Redaktion das Wachstumsparadigma zu keinem der beiden untersuchten Zeiträume grundsätzlich infrage stellt. Anhand welcher Indikatoren ich zu diesem Schluss gelange, erläutere ich im Folgenden. In der Berichterstattung der Tagesschau über das Gutachten der Wirtschaftsweisen werden in beiden Untersuchungszeiträumen Bewertungen von Wirtschaftswachstum erkennbar. Diese äußern sich insbesondere in den emotionalen Formulierungen, mit denen sowohl der Anstieg als auch das Absinken des BIP beschrieben werden (Lohs 2020, S. 206 f., WW90_K202; ebd., S. 226, WW20_K103; ebd., S. 229, WW20_K111). Exemplarisch kann hier die folgende Aussage des Korrespondenten angeführt werden: „Das Gutachten nimmt Kanzleramtsminister Friedrich Bohl entgegen in Vertretung Helmut Kohls. Der sorgt sich gerade in China um das deutsche Wirtschaftswachstum. Das halten die fünf Weisen für gefährdet, weil es nicht auf Dauer angelegt ist und keine Arbeitsplätze schafft“ (ebd., S. 194, Seq. 15). Die hier erwähnten Emotionen Sorge und Gefahr legen dem*der Zuschauer*in die Interpretation nahe, dass Wirtschaftswachstum

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als eine positive, erstrebenswerte Entwicklung zu verstehen ist, während das Ausbleiben von Wachstum als negative oder gar bedrohliche Entwicklung angesehen werden muss. Statt ebensolche wertenden Formulierungen vorzunehmen, könnte der*die Redakteur*in alternativ auf eine Wortwahl zurückgreifen, die wertneutral die Entwicklung des BIP wiedergibt. Formulierungen dieser Art hingegen legen meiner Ansicht nach die Interpretation nahe, dass die Redaktion das Wachstumsparadigma in der Vergangenheit nie grundlegend infrage gestellt hat, dass sie also damals wie heute die Überzeugung vertritt, es handle sich bei Wirtschaftswachstum um eine anzustrebende Entwicklung. Hätte eine kritische Reflexion des Wachstumsparadigmas stattgefunden, käme dies wohl in Form von neutraleren Beschreibungen der wirtschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck. Des Weiteren nutzt die Redaktion im zweiten Untersuchungszeitraum wiederholt den Begriff des Wohlstands und setzt diesen mit Wachstum, also einem Anstieg des BIP, gleich (ebd., S. 226, WW20_K102). So hält beispielsweise der Korrespondent im Beitrag über die Wirtschaftsweisen des Jahres 2016 fest: „Auch in Schlüsselbereichen wie schnellen Datenleitungen und Technologien müsse jetzt mehr passieren, um Wachstum und Wohlstand zu sichern“ (ebd., S. 219, Seq. 41). Hier wird erkennbar, dass die Tagesschau ein rein ökonomisches Verständnis von Wohlstand vertritt und somit implizit die soziale und ökologische Dimension aus ihrem Wohlstandsbegriff ausklammert. Diese Gleichsetzung von Wachstum und Wohlstand wird nicht nur in Kreisen der Postwachstumsbewegung, sondern unter anderem auch vonseiten der Bundesregierung kritisch betrachtet. Letztere setzte im Jahr 2013 sogar eine Enquete-Kommission ein, die sich der Aufgabe widmete, ein neues Indikatorensystem für die Messung von Wohlstand zu entwickeln (Bundesministerium für Finanzen 2013). Dies zeigt, dass die Debatten um die Unzulänglichkeiten des BIP als Wohlstandsindikator längst nicht mehr nur Teil gesellschaftlicher Randdiskurse sind, weshalb es meiner Ansicht nach umso kritischer zu bewerten ist, dass die ARD-aktuell Redaktion in ihrer Berichterstattung unkommentiert eine Gleichsetzung von Wachstum und Wohlstand vornimmt. Weiterhin möchte ich in diesem Kontext die Formulierungen thematisieren, anhand derer die Redaktion in ihrem Beitrag über die Wirtschaftsweisen im Jahr 2015 die Auswirkungen der Fluchtbewegung auf die deutsche Wirtschaft beschreibt (ebd., S. 226, WW20_K101). Konkret beziehe ich mich hierbei auf zwei Textstellen, in denen der Korrespondent die folgenden Aussagen macht: „Nach Ansicht der Sachverständigen kann Deutschland die bisher absehbaren Ausgaben zur Aufnahme der Flüchtlinge schultern. Die Schutzsuchenden stellten keine Bedrohung für den Wohlstand des Landes dar“ (ebd., S. 209, Seq. 25) und „Die Kosten seien verkraftbar und die Zuwanderer könnten der Wirtschaft nützen, wenn man den Zugang zu Jobs erleichtert, sagen die sogenannten Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten“ (ebd., S. 210, Seq. 27). Ich bin der Meinung, dass in beiden Fällen eine unsensible Sprache verwendet wird, in deren Zuge die Geflüchteten auf ihren potenziellen Nutzen für die Wirtschaft reduziert werden. Zwar macht der Korrespondent deutlich, dass er im Namen der Wirtschaftsweisen spricht, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, dass es sich hierbei um die Wortwahl der Weisen und nicht des*der Tagesschauredakteur*in handeln könnte. Ich bin jedoch der Ansicht, dass auch dieser

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Umstand die verwendeten Formulierungen nicht rechtfertigen würde, da nichtsdestotrotz die Option bestünde, die Aussagen der Weisen durch neutralere Formulierungen zu ersetzen. Da dies jedoch nicht geschehen ist, gelange ich zu der Interpretation, dass die ARD-aktuell Redaktion hier ein rein ökonomisches Menschenbild einnimmt und in ihrer Sprache somit jene alles durchdringende Wachstumslogik reproduziert, die von Postwachstumsvertreter*innen und Wachstumskritiker*innen problematisiert wird (vgl. Abschn. 2.1). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele der in der Tagesschauberichterstattung verwendeten Ausdrucksweisen eine unkritische und auch positive Haltung gegenüber Wirtschaftswachstum nahelegen. Zwar benennt der Korrespondent, wie in Abschn. 4.2.3 beschrieben, im ersten Untersuchungszeitraum konkret das Wirtschaftswachstum als ein dem Klimaschutz entgegenstehendes Interesse, jedoch kann nach meiner Auffassung hieraus nicht geschlossen werden, dass die Redaktion das Wachstumsparadigma tatsächlich infrage stellt oder gar die Abkehr vom Wachstum als realistische Lösung für den benannten Interessenskonflikt erachtet. Eine solche Schlussfolgerung ist insbesondere deshalb nicht naheliegend, da sich ansonsten aus keiner der untersuchten Sequenzen folgern ließe, dass die Redaktion dem vorherrschenden Wachstumsstreben kritisch gegenübersteht.

5 Fazit und Reflexion Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die zentralen Handlungsregeln zu rekonstruieren, die die Berichterstattung der SKH Tagesschau über Wirtschaftswachstum anleiten. Den inhaltlichen Rahmen dieses Forschungsvorhabens bildete die (­Post-)Wachstumsdebatte, also die nationalen sowie internationalen Aushandlungsprozesse bezüglich der Frage, welche Bedeutungen dem Begriff des Wirtschaftswachstums zuzuschreiben sind. Während auf internationaler Ebene seit den frühen neunziger Jahren die Umsetzung eines nachhaltigen, vom Naturverbrauch entkoppelten Wachstums angestrebt wird, sind im Rahmen der europäischen Degrowth- bzw. deutschen Postwachstumsbewegung seit der Jahrtausendwende vermehrt Stimmen zu vernehmen, die das Wirtschaftswachstum als zentralen Treiber für heutige Umwelt- und Klimaveränderungen ansehen und deshalb eine Abkehr der Industrienationen vom Wachstumsparadigma einfordern. Um herauszufinden, inwiefern ebendiese Debatten jene Handlungsregeln geprägt haben, die der Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum zugrunde liegen, habe ich Tagesschaubeiträge aus den Zeiträumen 1994 bis 1996 und 2015 bis 2017 miteinander verglichen, mit dem Ziel mögliche Veränderungen in der Berichterstattung nachzeichnen und sodann mit den Positionen der (Post-)Wachstumsdebatte abgleichen zu können. Die hierbei zutage geförderten Befunde offenbaren, dass die untersuchte SKH Tagesschau das vorherrschende Streben nach Wirtschaftswachstum zu keinem Zeitpunkt grundlegend infrage gestellt zu haben scheint. Zwar wurde im zweiten Untersuchungszeitraum erkennbar, dass die zuständige ARD-aktuell Redaktion darum bemüht ist, die

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Notwendigkeit eines sozialeren Wirtschaftswachstums stärker zu betonen, jedoch konnte ich wachstumskritische Haltungen aus einer ökologischen Perspektive insbesondere in der Wirtschaftsberichterstattung nicht ausmachen. Insgesamt wurde in nur einer der untersuchten Sequenzen deutlich, dass sich die Redaktion der grundlegenden Konflikthaftigkeit zwischen Wirtschaftswachstum und Umwelt- bzw. Klimaschutz bewusst ist. Da jedoch ansonsten keine direkte Kritik am Wachstumsstreben festzustellen war, gehe ich davon aus, dass die Erkenntnis ebendieser Konflikthaftigkeit nicht mit einer kritischen Reflexion des Wachstumsparadigmas einherging. Entsprechend dieser Befunde konnte ich in der Tagesschauberichterstattung keine Merkmale ausmachen, die explizit der in Abschn. 2.1 beschriebenen Postwachstumsbewegung zuzuordnen wären. Zwar ließe sich durchaus argumentieren, dass es sich bei der Tagesschau aufgrund ihres sehr begrenzten zeitlichen Umfangs nicht um das geeignete Format handelt, um die hier beschriebenen Debatten um Wirtschaftswachstum ausführlich darzulegen. Nichtsdestotrotz vertrete ich die Auffassung, dass die Aufgabe des Sendeformats in jedem Fall darin bestünde, eine neutrale Berichterstattung über Wirtschaftswachstum zu liefern, in der zum einen keine Haltungen erkennbar werden, die dem*der Rezipient*in eine positive Bewertung des Wachstums nahelegen und zum anderen keine rein ökonomische Perspektive eingenommen wird, in deren Zuge die soziale und ökologische Dimension des Wirtschaftswachstums vernachlässigt wird. Einer solchen neutralen Berichterstattung – die zudem ebenfalls in besagtem verfassungsrechtlich festgeschriebenem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlangt wird (vgl. Abschn. 2.2.2) – kommt die SKH Tagesschau angesichts der hier zutage geförderten Befunde bedauerlicherweise nicht angemessen nach. Letztendlich kann festgehalten werden, dass das hier unternommene Forschungsvorhaben durchaus interessante Befunde hervorgebracht hat. So konnten Eigenschaften der Berichterstattung der Tagesschau über Wirtschaftswachstum beschrieben und erste Thesen über dahinterstehende Haltungen und Überzeugungen der SKH Tagesschau angestellt werden. Gleichzeitig basieren die Befunde dieser Arbeit auf einer sehr begrenzten Materialauswahl, deren Ausweitung es bedarf, um gesichertere und womöglich auch weitreichendere Ergebnisse zu erzielen. Da sich die Debatte um effektiveren Klimaschutz in jüngster Zeit mit der „Fridays for future“-Bewegung nochmals stark zugespitzt hat, erachte ich weitere Forschungsarbeiten, die insbesondere auch die jüngeren Entwicklungen in den Blick nehmen, für spannend und vielversprechend.

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Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs Yannic Hollstein

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag untersucht die Position der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs. Der Forschende stützt sich dabei auf die Traditionslinien des Marxismus, des Poststrukturalismus, sowie der Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Diese theoretischen Vorüberlegungen werden mithilfe der Heuristik Martin Nonhoffs, der Grounded Theory Methodology und der Lexikometrie methodisch angewandt. Auf diesem Weg rekonstruiert der Forschende das hegemoniale Projekt, das um den Knotenpunkt des Inklusiven Wachstums aufgebaut wird und in dem die ökologische Nachhaltigkeit ausgeschlossen wird. Resümierend kritisiert er den affirmativen Charakter der Hegemonieanalyse. Schlüsselwörter

Bertelsmann Stiftung · Hegemonieanalyse · Nachhaltigkeit · Postwachstum · Wachstumsdiskurs · Stiftungen · Soziale Marktwirtschaft · Neoliberalismus · Kapitalismus

Y. Hollstein (*)  Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_10

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1 Einleitung „Schmeicheln wir uns indeß nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen. […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie Jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können“ (Engels 1985, S. 550 f.).

Eine wissenschaftliche Arbeit pflegt man gewöhnlich mit einem Satz zu beginnen, der das Interesse der Lesenden wecken soll. Bei einer Forschung1, die die verheerende Zerstörung unserer Erde als einen ihrer Bezugspunkte wählt, scheint solch ein Wecken von Interesse, ein Appell an die Relevanz fast überflüssig. Schließlich sind wir heute tagtäglich von Appellen umgeben – das Thema des Klimawandels ist ultrakompatibel und ungebunden. Damit einher geht der Effekt, dass wir einerseits in einem permanenten Ausnahmezustand leben, in dem das Ende unseres Planeten laut verkündet wird, während aber gleichzeitig ein fast apathischer Zustand der Bewegungslosigkeit uns übermannt hat. Fast schon müßig erscheint es da, ein weiteres Mal über diese Probleme zu sprechen, anstatt die Praxis voranzutreiben. Lenins Worte zum Nachwort der ersten Auflage von Staat und Revolution drängen sich auf: „[E]s ist angenehmer und nützlicher, die ‚Erfahrungen der Revolution‘ durchzumachen, als über sie zu schreiben.“ (Lenin 1972, S. 584). Dennoch sind Theorie und Praxis fest verbunden, Praxis ohne Theorie bleibt orientierungslos und die Theorie erlangt ihren Wert nur darüber, dass sie das Handeln in der Praxis ermöglicht. Der folgende Bericht möchte einen solchen Beitrag leisten. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit steht die Frage, welche Position die unternehmensnahe Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs einnimmt. Mithilfe der von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelten Hegemonieanalyse soll herausgearbeitet werden, welche Lesart der heutigen Probleme von ihr vorgestellt wird. Über die Analyse der Position dieser Stiftung als zentraler Akteur in der deutschen Gesellschaft und Politik kann ein besseres Verständnis der deutschen Diskussion darüber, was Wachstum bedeutet, erreicht werden. Leitend für die Forschung ist die Forschungsfrage, welche hegemoniale Strategien die Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs verfolgt. Dabei wird die Stiftung als kollektiver Akteur in einem Diskurs verstanden, die in ihren Veröffentlichungen Ziele mithilfe von hegemonialen Strategien verfolgt. Durch die rechtlich festgeschriebene Gemeinnützigkeit sollte großes Interesse an der Arbeit der Stiftung bestehen und auch kritisch hinterfragt werden, ob diese tatsächlich zum Gemeinwohl beiträgt. Zugleich

1Besonders

hervorzuheben ist die Hilfe von Stefan Bechner, der unter anderem für den Forschungsstand im Verlaufe eines gemeinsamen Forschungsweges essentielle Arbeit geleistet hat.

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steckt in Stiftungen das Potenzial, Alternativen aufzuzeigen und gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Laut Hugbert Flitner können Stiftungen „ihre ergänzende Hilfe einsetzen, Risiken übernehmen und innovative Alternativen entwickeln, zu denen eine Gesellschaft sonst nur schwer Zugang fände, die ihre Entscheidungen in der Form der quantitativen Mehrheitsdemokratie zu fällen pflegt […]“ (Flitner 1972, S. 46). Die Bertelsmann Stiftung gehört zu den bekanntesten Stiftungen in Deutschland und hat einen großen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie wurde 1977 von Reinhard Mohn gegründet, einem Unternehmer, der den ­Bertelsmann-Konzern zu einem der führenden Konzerne deutschlandweit machte. Heute sitzen mit Liz Mohn (unter den 100 reichsten Deutschen) und Dr. Brigitte Mohn neben Aart De Geus und Dr. Jörg Dräger noch zwei Vertreter der Mohn-Familie im Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Unter dem Dach der Bertelsmann Stiftung arbeiten 380 Mitarbeiter*innen, bei einem Gesamtaufwand von 90 Mio. EUR im Jahr. In ihrem Jahresbericht heißt es, die Bertelsmann Stiftung „verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke. Sie ist eine operative Stiftung, die alle Projekte eigenständig konzipiert, initiiert und bis zur Umsetzung begleitet“ (vgl. Bertelsmann Stiftung 2017b, S. 2). Gerade an der Selbstbeschreibung, dass man ausschließlich gemeinnützige Zwecke verfolgt, stoßen sich viele Menschen (bspw. Hirsch et al. 2016). In ihrem Projekt „Inclusive Growth“ geht es darum, die Idee vom inklusiven Wachstum für Deutschland vorzustellen, „für die Teilhabe aller Menschen und mehr Investitionen in unsere Zukunft“ (Bertelsmann Stiftung o. J.). In der Projektbeschreibung steht weiter: „Das Ziel wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit muss in Einklang gebracht werden mit der Leistungsfähigkeit und langfristigen Tragfähigkeit unserer sozialen, fiskalischen und auch ökologischen Systeme“ (ebd.). Diesem Projekt wird hier das meiste Interesse gelten, da die Vermutung naheliegt, dass die Bertelsmann Stiftung mit den Veröffentlichungen unter dem Dach dieses Projekts versucht, den Wachstumsdiskurs mit zu steuern. Die Veröffentlichung „Agenda Inklusives Wachstum für Deutschland – Fünf Handlungsfelder für eine neue Wachstumsstrategie“ bildet dabei den Kern, indem sie die Positionen aus dem gesamten Projekt bündelt. Aus diesem Grund stellt sie den wesentlichen Untersuchungsgegenstand dar.

2 Forschungsstand Zunächst soll ein Überblick zum Forschungsstand der relevanten Themen gegeben werden. Dies sind zum einen Stiftungen in Deutschland und deren Einfluss auf hegemoniale Verhältnisse in der Gesellschaft und zum anderen die Postwachstumsgesellschaft. Hierbei wird zunächst kurz das wirtschaftliche Denken der heutigen Zeit, insbesondere der hohe Stellenwert des Wachstums, dargelegt und auf die damit verbundenen Schwierigkeiten im Zuge der Klimaproblematik hingewiesen. Abschließend wird die als Reaktion darauf zu begreifende Idee der Postwachstumsgesellschaft ­veranschaulicht.

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2.1 Postwachstum als Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftsparadigma In der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre steht das Güterversorgungsproblem im Mittelpunkt aller Betrachtungen (vgl. Bossert 2018, S. 17). Der Mensch wirtschaftet, da er bestimmte materielle Bedürfnisse hat, die er durch den Gebrauch von Gütern befriedigen kann. Dabei geht der Mensch als vernunftbegabtes Wesen nach dem ökonomischen Prinzip vor, das heißt es wird versucht, „mit gegebenen Möglichkeiten ein Höchstmaß an Bedarfsbefriedigung (Nutzenmaximierung) oder einen gegebenen Bedarf mit einem Mindestmaß an Möglichkeiten (Kostenminimierung) zu erreichen“ (ebd.). Um das Problem, dass Güter immer knapp sind, zu lösen, wurde das Wirtschaften rationalisiert. Dies umfasst die Spezialisierung (Arbeitsteilung zur Effizienzsteigerung), die Ökonomisierung (volle Ausschöpfung der Produktionsmöglichkeiten) und die Investierung (gezielter Kapitaleinsatz) (vgl. a. a. O., S. 19 f.). Für die Volkswirtschaften von heute gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als wichtiger Indikator für die wirtschaftliche Verfassung. Das BIP wird wie folgt definiert: „Summe der Endprodukte (Sachgüter und Dienstleistungen), die im Inland von Inländern und Ausländern während einer Periode (z. B. Kalenderjahr) produziert worden sind“ (a. a. O., S. 51).

Durch den Vergleich des BIPs einer Volkswirtschaft mit dem der vorherigen Jahre lässt sich ermitteln, ob die Wirtschaft wächst, stagniert oder schrumpft. Wirtschaftswachstum gilt heute als Normalfall, während bei Stagnation von Nullwachstum und bei einer Schrumpfung von Minuswachstum die Rede ist (vgl. Bauer 2009, S. 120). Diese Begriffsauswahl gibt einen Hinweis darauf, welch hoher Stellenwert dem Wachstum im gegenwärtigen wirtschaftlichen Denken beigemessen wird. Neben Wirtschaftswachstum wird in vielen Staaten auch die Wohlfahrt als wichtige gesellschaftliche Zielbestimmung angesehen. In der Nachkriegszeit bedeutete eine florierende Wirtschaft auch, dass sich die Lebensqualität eines Großteils der Bevölkerung stark verbesserte. Durch das wirtschaftliche Wachstum entstand somit Wohlfahrt, dies führte dazu, dass breite Teile der Bevölkerung ein Interesse an weiterem wirtschaftlichem Wachstum hatten (Lessenich 2015, S. 14 f.). Durch diesen positiven Effekt kam es im Laufe der Zeit dazu, dass die Höhe des BIP immer mehr zum Indikator für das Wohlergehen der Bevölkerung gemacht wurde. In diesem Zusammenhang spricht der Ökonom Serge Latouche von einer dreifachen Reduktion: „Erstens: Das irdische Glück wird mit dem materiellen Wohlergehen identifiziert […]. Dieses materielle Wohlergehen wird zweitens, im Anschluss daran, mit dem statistischen Wohlstand verbunden […]. Zudem erfolgt drittens die Veranschlagung der Summe der Güter und Dienstleistungen brutto […]“ (Latouche 2015, S. 39).

Tim Jackson argumentiert, dass uns das Streben nach Anerkennung durch materielle Güter „im stahlharten Gehäuse des Konsumismus“ (Jackson 2015, S. 181) gefangen

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hält. Niko Paech stellt fest, dass dies aber an seine Grenzen stößt und „ein höheres ­Pro-Kopf-Einkommen ab einem bestimmten Niveau nicht zusätzliches Glück stiftet“ (Paech 2015, S. 74). Zudem wird durch Konsum kein dauerhaftes Glück erreicht, sodass immer mehr konsumiert werden muss (vgl. a. a. O., S. 75). Durch die dem kapitalistischen Wirtschaften inhärente Steigerungslogik kommt es damit zu einer immer weiter, bis ins Endlose zunehmenden Entropie. Doch hierbei stößt die Steigerungslogik auf ein Problem: Die Endlichkeit unseres Planeten. Wir haben nur eine begrenzte Anzahl an Ressourcen zur Verfügung und auch die Ökosysteme können nur bis zu einem bestimmten Maß belastet werden (vgl. Altvater 2015, S. 79). Letztendlich stellte sich heraus, dass das kapitalistische System anpassungsfähig ist und immer weitere Möglichkeiten findet, um zu expandieren und weiteres Wachstum zu generieren. Doch wenn das Naturkapital dahinschwindet und Klimaveränderungen die Lebens- und Produktionsgrundlagen der Menschheit bedrohen, gelangt das System an seine natürlichen Grenzen und die fortwährende Ausdehnung wird tatsächlich unmöglich.2 Schon heute ist die Weltwirtschaft global so weit ausgedehnt, dass die räumlichen Grenzen erreicht sind und in Bezug auf Ressourcen werden die Menschen auch irgendwann an einen Punkt gelangen, an dem die Höchstfördermenge erreicht ist (vgl. Mahnkopf 2015, S. 62). Um das Ökosystem bei stetigem Wachstum nicht weiter zu belasten, wird angestrebt, das Wachstum von den ökologischen Folgen zu entkoppeln. Beispiele wie der Rebound-Effekt, der zeigt, dass es bei einer Effizienzsteigerung trotzdem zu einem größeren materiellen Through- und Output und damit zu ökologischen Folgen kommt, weisen stark daraufhin, dass dies nicht möglich ist (vgl. Paech 2015, S. 72 f.). Unter dem Begriff des Postwachstums sammeln sich Ansätze, die die Überzeugung gemein haben, dass einzig eine Umstrukturierung des Wirtschaftssystems nicht ausreichend wäre um aktuellen Problemen zu begegnen, sondern eine „grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft“ (Schmelzer 2015, S. 117) vonnöten ist. Diese neue Gesellschaft soll sich an „Bedürfnissen, dem Guten Leben und ökologischer Nachhaltigkeit orientieren“ (ebd.). Die Idee des Guten Lebens hat ihren Ursprung in verschiedenen Teilen der Welt, unter anderem in indigenen Philosophien (Süd-)Amerikas (vgl. Acosta 2015, S. 15). Im Zentrum des Konzepts steht das „menschliche Individuum, integriert in seine Gemeinschaft, das harmonische Beziehungen mit der Natur pflegt und dabei, individuell genauso wie in der Gemeinschaft, nach dem Aufbau eines nachhaltigen, würdigen Lebens für alle strebt“ (a. a. O., S. 16).

2Die

Forschung stützt sich in großen Teilen auch auf die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise durch Karl Marx und Friedrich Engels (Marx 2018). Relevant sind unter anderem ihre Einsicht, dass das Kapital eine industrielle Reservearmee produziert, die die Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen vergrößert und damit den Lohnpreis niedrig hält. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die Kapitalisten im Konkurrenzkampf ständig gezwungen sind die Produktivkräfte zu revolutionieren, um ihre Ware wohlfeiler zu verkaufen als andere und dass durch diesen Zwang Kapital akkumuliert und immer mehr zentralisiert wird, da Menschen mit mehr Kapital einen entscheidenden Vorteil in diesem Konkurrenzkampf besitzen.

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Ein Ansatz zur Lösung aktueller Probleme liegt im Perspektivwechsel weg von Fragen des Lebensstils hin zur Reflexion der Lebensweise. Während Konzepte des Lebensstils eher auf die individualistische Lebensführung und Werthaltungen abzielen, implizieren Konzepte der Lebensweise (insbesondere in marxistischer Tradition) eine tiefer gehende, strukturelle Beeinflussung des Lebens in einer Gesellschaft durch deren Produktionsweise (vgl. Barth 2017, S. 171). Antonio Gramsci stellte bei der Betrachtung von Lebens- und Produktionsweise seiner Zeit fest, dass die „neuen Arbeitsmethoden untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammenhängen, zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden“ (Gramsci 1991ff., S. 2086). Aufbauend darauf gehen Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem Ansatz der „imperialen Lebensweise“ davon aus, „dass sich eine widersprüchliche Gesellschaftsformation wie die kapitalistische nur reproduzieren kann, wenn sie in den Alltagspraxen und im Alltagsverstand verankert ist und dadurch gleichsam »natürlich« wird“ (Brand und Wissen 2017, S. 45). Klaus Dörre sieht einen Ausweg in der „Herausbildung von Gegenöffentlichkeiten […], die Möglichkeiten gesellschaftlicher Transformation exemplarisch ausleuchten“ (Dörre 2017, S. 56 f.) In diesem Zusammenhang fordert Dörre auch, dass die Kritik am Wachstum mit der Kritik an den Klassenverhältnissen verknüpft werden muss (vgl. a. a. O., S. 36 f.). Dementsprechend finden sich in der Postwachstumsbewegung bereits vereinzelt Stimmen, die eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften als einer Gegenöffentlichkeit fordern (vgl. a. a. O., S. 37). Für Sozialwissenschaftler*innen finden sich Möglichkeiten in der Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftler*innen. Diese liefern Einschätzungen über die Auswirkungen, die unsere Lebens- und Wirtschaftsweise auf die Umwelt haben. Jene evaluieren, welche Maßnahmen daraus letztlich folgen müssen und welches Gesellschaftssystem das klimaschonendste ist (vgl. a. a. O., S. 43 f.).

2.2 Stiftungen Wie bereits erwähnt bergen auch Stiftungen das Potenzial Gesellschaften kritisch zu reflektieren. Klaus Wiegand definiert Stiftungen wie folgt: „Eine Stiftung ist eine juristische Person, die im Gegensatz zu anderen juristischen Personen keine Gesellschafter oder Mitglieder hat. Sie ist auf Dauer angelegt und stellt eine Zusammenfassung von Vermögen dar, das einem bestimmten Stiftungszweck gewidmet wird. Dieses Vermögen muss in seiner Substanz grundsätzlich erhalten bleiben“ (Wigand 2009, S. 32).

Aus dieser rechtswissenschaftlichen Definition lassen sich drei Besonderheiten der Stiftungen herauslesen: Anders als etwa Vereine haben diese keine Mitglieder*innen, werden auf Dauer für einen von den Stiftenden gewählten Zweck errichtet und verfügen über ein Grundvermögen, das erhalten bleiben muss. Der Soziologe Mohammed Rassem (1979) verweist zusätzlich auf die Wohltätigkeit, die hinter dem Prinzip des Stiftens steht und darauf, dass der oder die Stifter*in die Verfügungsgewalt über das Vermögen abgibt und es anschließend nach für jede Stiftung spezifischen Regeln verwaltet wird.

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Stiftungen können danach unterschieden werden, wie das von ihnen angestrebte Ziel erreicht werden soll. Hier gibt es zum einen die Möglichkeit, fördernd zu arbeiten, also durch meist materielle Förderung Dritter den Stiftungszweck zu erfüllen. Zum anderen kann operativ vorgegangen werden, wobei die Stiftung selbst an der Verwirklichung ihres Zwecks arbeitet (vgl. Zimmer 2005, S. 13 f.). Das Stiftungswesen wird dem sogenannten Dritten Sektor zugerechnet und ist damit „zwischen Staat und Markt“ (Anheier 1998, S. 351) angesiedelt. Aus dieser Position außerhalb staatlicher oder wirtschaftlicher Verwaltung ergibt sich das Potenzial, als führende Organisationen einer dritten Kraft, gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Die Möglichkeit, diese besondere Rolle einzunehmen, ergibt sich daraus, dass Stifter*innen neben ihren finanziellen Mitteln auch ein Verständnis für aktuelle Problemstellungen mitbringen und innovativ sind (vgl. Vollmer 1998, S. 62). Auch die bereits angesprochene Ansiedlung außerhalb von Staat und Markt ermöglicht es den Stiftungen, freier und unkonventioneller zu denken und zu handeln. Hierbei muss allerdings erwähnt werden, dass die Stiftungen sich häufig nicht als alternative Kraft sehen, sondern stattdessen mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten (vgl. ebd.). Nachdem nun aufgezeigt wurde, welche potenzielle Macht bei Stiftungen liegt, kommt die Frage auf, warum die Stiftungen als Kritikgegenstand im öffentlichen Diskurs kaum Erwähnung finden. Auf politischer Ebene kann argumentiert werden, dass aus einer Betonung der Leistungen gemeinnütziger Organisationen kein Mehrwert für die Parteien entsteht (vgl. Salamon und Anheier 1998, S. 13 f.). Weder hilft das bereits Bestehende dabei, die Ausweitung des Sozialstaats zu legitimieren, noch lässt sich auf der anderen Seite mit der Gemeinnützigkeit für die Stärkung privater Initiativen werben. Ein weiterer Grund für die öffentliche Nichtbeachtung des Stiftungswesens liegt in dessen Intransparenz begründet. Aus dieser Intransparenz resultiert, dass die Bevölkerung sich im Unklaren darüber ist, wozu die Stiftungen eigentlich dienen. Häufig werden diese lediglich als „Spielwiesen reicher Leute oder eine Art Beschäftigungstherapie für gelangweilte Erben“ (Strachwitz 2010, S. 187) angesehen. Nicht nur in der Zivilbevölkerung, sondern auch in den Wissenschaften scheinen die Stiftungen nicht für sonderlich interessant erachtet zu werden. Nur wenige Forschungsarbeiten behandeln Stiftungen. Und wenn doch stammen diese meist unmittelbar von den Stiftungen selbst oder sind von ihnen in Auftrag gegeben. Kritische Betrachtungsweisen der Stiftungstätigkeiten sind sehr rar (vgl. a. a. O., S. 181 f.). Die vorliegende Arbeit soll zu einem differenzierten Blick beitragen.

2.3 Bertelsmann-Stiftung Über die Positionierung der Bertelsmann Stiftung im Wachstumsdiskurs existieren bisher keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Trotzdem ist die Bertelsmann Stiftung häufiger in den kritischen Blick der Öffentlichkeit geraten. Eine Studie aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Unternehmensnahe Stiftungen im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl

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und Partikularinteressen“, bei der unter anderem die Bertelsmann Stiftung untersucht wurde, kommt etwa zu dem Ergebnis, „dass der Einfluss unternehmensnaher Stiftungen bisher unterschätzt wird“ (Hirsch et al. 2016, S. 85). Dieses Ergebnis ist besonders interessant, da die Forschenden es vor dem Hintergrund eines schon existierenden Misstrauens gegenüber unternehmensnahen Stiftungen präsentieren. Drei Punkte heben die Forscher*innen hervor: den elitären Charakter der führenden Kräfte, die Überschneidungen von Stiftungs- und Unternehmenstätigkeiten und die hohe Intransparenz (vgl. a. a. O., S. 85 f.). Zur Bertelsmann Stiftung wird festgestellt: „Die Stiftung nutzt den gemeinnützigen Satzungszweck ‚Förderung der Wissenschaft‘ dazu, um Studien und Policy Papers zu gesellschaftspolitischen Themen zu erarbeiten und diese öffentlichkeitswirksam, z. B. über Podien, Fachkongresse oder Kampagnen, in die Diskussion einzubringen. Auch hat die Stiftung ein breites und hochkarätiges politisches Netzwerk aufgebaut, in dem zahlreiche Spitzenpolitiker/innen – bis zu Bundeskanzler/in oder Bundespräsidenten – zu finden sind“ (a. a. O., S. 8).

In der „Broschüre gegen Ökonomisierung und Bertelsmann“ (BertelsmannKritik 2009) weisen die Autor*innen auf die Hegemonie des wirtschaftlichen Denkens in den Schriften der Stiftung hin, die wiederholt fordert, die Marktlogik auch im öffentlichen Bereich zu etablieren. Auch Schöller stellt ein Wirken in Richtung Neoliberalismus fest (Schöller 2001, S. 139 f.). Zudem wird auf das immer gleiche Vorgehen bei der Einflussnahme verwiesen, bei dem die Forschung durch den „Aufbau von Netzwerken und der engen Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen“ (BertelsmannKritik 2009) ergänzt wird. Besonders interessant im Kontext der Hegemonieanalyse ist die Feststellung Schöllers, dass die Bertelsmann Stiftung einen „nach allen gesellschaftlichen Seiten hin offenen Charakter [hat]. Indem sie versucht, verschiedene soziale Gruppen in ihre Reformstrategien einzubinden, verfolgt sie eine spezifische, neokorporatistische Strategie“ (Schöller 2001, S. 139). Und weiter heißt es: „das neue Konzept [zielt] auf ein weite Teile des gesellschaftlichen Spektrums integrierendes hegemoniales Projekt“ (ebd.). Im Gegensatz zu ihrer Vergangenheit, in der sie häufig in Konfrontation mit anderen gesellschaftlichen Gruppen gegangen ist, versucht sie also mehr Richtungen zu integrieren. In ihren Schriften, insbesondere zum Inklusiven Wachstum, bezieht die Bertelsmann Stiftung sich stark auf die Soziale Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft hat ihre geistigen Wurzeln zum einen im klassischen Liberalismus, insbesondere bei Adam Smith, zum anderen im Ordoliberalismus (vgl. Randak 2016, S. 24 f.). Im Gegensatz zum Ordoliberalismus, der Marktwirtschaft und Gerechtigkeit in einer umfassenden Strukturpolitik zu verbinden versucht, trennt die Soziale Marktwirtschaft aber zum einen diese beiden Elemente (vgl. Blum 1969, S. 96) und legt zum anderen den Fokus stärker auf sozialpolitische Zielsetzungen (Pilz 1973, S. 39). Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft wurde von Prof. Dr. Alfred Müller-Armack in verschiedenen Veröffentlichungen geprägt und vom damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ab dem Jahr 1948 in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht. Sie setzt sich zusammen aus dem marktwirtschaftlichen Prinzip und verschiedenen sozialstaatlichen Sicherungssystemen:

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„Das marktwirtschaftliche Prinzip legte den Grundstein für eine freie, marktbestimmte Wirtschaft; damit verknüpft wurden sozialstaatliche Sicherungsmechanismen mit verschiedenen Komponenten des sozialen Ausgleichs und partizipativer Regelungen zwischen Wirtschaft und Arbeitsgebern. Der Staat betreibt im Rahmen dessen auf der einen Seite Konjunktur- und Strukturpolitik, auf der anderen Seite Umverteilungs- und Sozialpolitik“ (Randack 2016, S. 7).

Der Ordnungsgedanke der Sozialen Marktwirtschaft lässt sich dabei zusammenfassen mit dem Diktum So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig. Durch die Integration des sozialen Elements ging es in der Marktwirtschaft nicht mehr allein um die Freisetzung wirtschaftlicher Kräfte, sondern darum, dass die dadurch gewonnene Energie dafür genutzt wird, auf sozialen Ausgleich hinzuwirken; dadurch sollten auch durch den Markt freigesetzte Ungleichheiten abgefedert werden (vgl. Fack 1979, S. 46 f.). Das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft setzt sich aus zwei Elementen zusammen. Zum einen, so die Vertreter, ist die Soziale Marktwirtschaft an sich bereits sozial, da sie durch ihre wirtschaftliche Leistung einen Wohlstand für alle generiert (vgl. Randak 2016, S. 31). Zum anderen stellt der Staat sicher, dass eine soziale Abfederung existiert, indem er einerseits „die aus seinen vielfältigen Aufgaben entstehenden ‚öffentlichen Lasten‘ mit Hilfe eines zweckentsprechend konstruierten Steuersystems nach der Leistungsfähigkeit der Bürger verteilt“ (Fack 1979, S. 48) und andererseits ein System von sozialen Sicherungen und Hilfen bietet (vgl. a. a. O., S. 48 f.). Diese sozialpolitischen Ziele bedürfen allerdings zur Verwirklichung eine Grundlegung durch ein möglichst starkes Wachstum (vgl. Pilz 1973, S. 41). Der wirtschaftliche Fortschritt und die grundsätzliche Verteilung der Einkommen werden über den Leistungswettbewerb des Marktes geregelt (vgl. Fack 1979, S. 47). Für die beiden Väter der Sozialen Marktwirtschaft steht der marktwirtschaftliche Aspekt allerdings im Vordergrund, dabei stellen sie sich einen „beweglichen und sich dynamisch entwickelnden [Markt]“ (Erhard und Müller-Armack 1972, S. 25) vor. Der marktwirtschaftliche Charakter bleibt der Sozialen Marktwirtschaft insofern erhalten, als in ihr die Grundlage zur Bewältigung der staatlichen und privaten Herausforderungen in der „durch freie Betätigung aller Gruppen gesicherte[s] Privateigentum, eine gesicherte Rechtsordnung und stetes Wirtschaftswachstum“ (a. a. O., S. 27 f.) liegt. Eine wesentliche Aufgabe des Staates ist es dabei, einen echten Wettbewerb herzustellen (a. a. O., S. 26), indem der Wettbewerb durch eine aktive Wettbewerbspolitik geordnet, durch staatliche Interventionen wie Preisregulierungen ergänzt, durch eine gleichmäßige Wachstums- und Stabilitätspolitik stabilisiert und durch eine Einkommenspolitik korrigiert wird (vgl. Pilz 1973, S. 40). Entscheidend bei dieser Unterstützungsfunktion ist aber immer „die Aufrechterhaltung der Grundsatzentscheidung für den Markt“ (Randak 2016, S. 41). Vor allem leitend ist jedoch ein anderes Prinzip, von dem Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack niemals müde werden es zu betonen:

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„Voraussetzung für einen jeglichen Eingriff des Staates ist aber seine Verträglichkeit mit der Marktwirtschaft und der ihr entsprechenden Einkommensbildung, d. h. der soziale Zweck muß durch marktkonforme Maßnahmen, also ohne Störung der marktgerechten Preisbildung, erreicht werden. In dieser Forderung nach ‚Marktkonformität‘ liegt der entscheidende Gegensatz zwischen Sozialer Marktwirtschaft und Lenkungswirtschaft“ (Erhard und Müller-Armack 1972, S. 43).

Zum Zwecke der weiteren Forschungsarbeit ergibt es Sinn, mit einem Zitat von Randak zu schließen: „Die Globalisierung der Märkte, das Zurückgehen nationaler Entscheidungsmonopole, die fortschreitende Technisierung/Digitalisierung, demographische Entwicklungen machen es unter anderem notwendig, die Soziale Marktwirtschaft neuen wirtschaftlichen, aber auch sozialen Strukturen anzupassen“ (Randak 2016, S. 8). So wird sich in der Forschung noch zeigen, dass diese Anpassung der Sozialen Marktwirtschaft an veränderte Herausforderungen einen zentralen Bestandteil des hegemonialen Projekts der Bertelsmann Stiftung darstellt.

3 Methodologie David Marsh und Paul Furlong (2002) betonen in ihrem Text „A Skin, not a Sweater: Ontology and Epistemology in Political Science“, dass die ontologischen und epistemologischen Vorannahmen der Forschenden offengelegt werden sollten, da sie einen wesentlichen Einfluss auf die Forschung ausüben. Dies soll im Folgenden versucht werden. Ontologisch ordne ich mich in der Polarität Idealismus – Materialismus der materialistischen Seite zu. Ich gehe also davon aus, dass eine physisch-stoffliche Realität außerhalb von uns existiert und dass diese gegenüber dem anderen Pol das Primat besitzt. Aufbauend auf dieser stofflichen Realität bilden die Menschen über Diskurse das Soziale: „Die Grundprämisse des diskursiven Materialismus bestand darin, auch die Sprache als eine Produktionsweise zu betrachten und die Marxsche Logik des Warenfetischismus auf sie anzuwenden“ (Zizek 2016, S. 19). Epistemologisch übersetzt bedeutet dies eine realistische Position mit interpretativen Elementen. Genau wie der Realismus gehe ich, wie bereits erwähnt, von einer Welt aus, die unabhängig von unserem Wissen existiert. Eine weitere Übereinstimmung ist die Tatsache, dass einige soziale Phänomene nicht direkt erkannt werden können, sie müssen verstanden werden. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass die menschliche Wahrnehmung von der Welt objektiv und unverfälscht ist, viel mehr würde ich hier der interpretativen Position zustimmen, dass unser Wissen über die Welt sozial und diskursiv konstruiert ist. Das bedeutet, dass der oder die Forschende in den Sozialwissenschaften nicht zu einer wahren und endgültigen Erkenntnis kommen kann. Stattdessen sind die Grenzen der Wahrnehmung und Forschung immer schon bestimmt und festgelegt. Der hohe Anteil von interpretativen und rekonstruktiven Verfahren in den Sozialwissenschaften lässt auch großen Platz für das Bewusstsein, Denken, die Weltsicht und die Interpretationen des

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Individuums. Was in den Sozialwissenschaften erreicht werden kann, ist eine historisch und kulturell variable Wahrheit, die durch eine Gemeinschaft von Forschenden aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden kann. Eine weitere Implikation ist, dass die Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität bei dieser hermeneutischen Vorgehensweise nicht umsetzbar sind. Die Forschung bleibt letztendlich subjektiv und an den sozialen Ort der Forschenden gebunden. Die Theorien und Erkenntnisse, die gewonnen werden, können nur Interpretationen auf Grundlage der Daten darstellen. Im Rückgriff auf Charles Sanders Peirce wird die Güte von Forschung in diesem Beitrag anhand des Kriteriums der Plausibilität festgestellt, die durch die Gemeinschaft der Forscher*innen geprüft wird (vgl. Roos 2008, S. 99). Die Forschungsarbeit stützt sich auf zwei philosophische Traditionslinien. Zum einen den Poststrukturalismus, im Speziellen Paul-Michel Foucault, Jacques Derrida und teilweise Jacques-Marie Émile Lacan. Zum anderen auf den von Antonio Gramsci ausgearbeiteten Hegemonie-Begriff. Diese Traditionslinien werden von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gebündelt. Im Anschluss an Martin Nonhoff kann ein Diskurs als eine komplexe Praxis verstanden werden, „im Rahmen derer sozialer Sinn generiert wird, indem verschiedenste Elemente zueinander in Beziehung gesetzt und damit als differente Elemente verstanden werden“ (Nonhoff 2006, S. 23). Dieser Diskursbegriff ist bereits bei Foucault eng mit dem Machtbegriff verbunden. Der Machtbegriff in der Hegemonieanalyse ist der der Hegemonie, also der Vorherrschaft. Nonhoff sieht eine Hegemonie gegeben, wenn eine „Forderung als gemeinsamer Wille politisch-gesellschaftlicher Kräfte tatsächlich über längere Zeit Verbreitung findet“ (a. a. O., S. 148). Hegemonie darf dabei allerdings nicht als festgesetzter Zustand verstanden werden, sondern ganz in der Logik postmoderner Denker*innen als ständig fortgesetzte und dynamische Praxis. Eine Hegemonie muss kontinuierlich reproduziert werden, da sie dazu tendiert zu zerbrechen, oder sie wird durch eine andere Hegemonie ersetzt. Wenn man Hegemonie als ein diskursives Phänomen begreift, bedeutet das zum einen, dass es im Diskurs um die Vorherrschaft einer bestimmten diskursiven Lesart geht, zum anderen, dass die Hegemonie selbst wieder einen, in der diskursiven Praxis eingerahmten, Prozess darstellt. Die Hegemonieanalyse wurde von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau in „Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus“ (2015) vorgezeichnet. Sie fordern, auf „die Konzeption der ‚Gesellschaft‘ als fundierte Totalität ihrer Teilprozesse zu verzichten. Wir müssen […] die Offenheit des Sozialen als konstitutiven Grund beziehungsweise als ‚negative Essenz‘ des Existierenden ansehen“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 128). Den Akteuren kommt in dieser Gesellschaft keine feste Identität mehr zu, Identitäten und Relationen bilden sich in Diskursen ständig neu aus. Die grundlegenden Begriffe klären Laclau und Mouffe wie folgt: „Im Kontext dieser Diskussion bezeichnen wir als Artikulation jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird. Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs. Die differentiellen Positionen, insofern

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sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen wir Momente. Demgegenüber bezeichnen wir jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist, als Element“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 139).

Allerdings trifft die artikulatorische Praxis immer schon auf ein bestehendes diskursives Feld, bei dem sie nur modifizierend eingreifen kann: „Die Artikulation [ist] ohne diese immer-schon-daseiende, immer-unvollkommene und immer-weiter-perpetuierte Struktur undenkbar“ (Nonhoff 2006, S. 36 f.). Auf der Basis dieser Struktur wird kontinuierlich eine neuartige Struktur gebildet. Bei Laclau und Mouffe heißt es dazu: „[W]eder absolute Fixiertheit noch absolute Nicht-Fixiertheit [ist] möglich“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 146). Das impliziert eine Dialektik aus einerseits relativer Stabilität, andererseits ständigem Wandel und der Unmöglichkeit, sich zu fixieren. Ähnlich wie bei Luhmanns Möglichem, das das Feld der Sinngenerierung umgibt, greifen Laclau und Mouffe auf den althusserschen Begriff der Überdeterminierung zurück, um den Bedeutungsüberschuss zu symbolisieren, der den Elementen konstant widerfährt. Aus diesem Bedeutungsüberschuss ergibt sich die Unmöglichkeit der endgültigen Fixierung, die einzige Möglichkeit einer temporären Fixierung geschieht über einen fixen Knotenpunkt, nodal point3. Die Funktion des Knotenpunktes, der den Diskurs stabilisieren und das imaginäre Allgemeine substituieren soll, wird von einem sogenannten geleerten Signifikanten übernommen. Dieser geleerte Signifikant ist ein flottierender Signifikant, in dem Sinne, dass er seinen Gehalt durch das Gleiten durch eine Reihe von Signifikanten erhält. Er soll die Funktion übernehmen als partikulares Element den ganzen Diskurs zu repräsentieren – eine Klebemetapher, bei der durch den geleerten Signifikanten der ganze Diskurs zusammengehalten wird, bietet sich an. Im hegemonialen Machtkampf geht es schließlich darum, zu etablieren, auf welche anderen geleerten Signifikanten der Knotenpunkt verweist. Um den Knotenpunkt bilden sich Signifikantennetze, beziehungsweise Signifikantenketten. Durch diese Signifikantenketten werden Äquivalenzen und Differenzen gebildet, so bildet sich eine Signifikantenkette um den Repräsentanten des Allgemeinen und dieser steht (in Differenz) eine andere Signifikantenkette gegenüber, die den Mangel repräsentiert. Durch die Äquivalenzierung und Differenzierung scheinen die Signifikanten Identität und Bedeutung zu gewinnen, letztendlich ist diese Schließung der eigenen Identität aber brüchig und unvollständig, da sie ihre Identität immer nur über andere bekommen. Der und die Autor*in meinen, „dass eine Totalität niemals in der Form einer einfach gegebenen und abgegrenzten Positivität existiert“

3Ähnlich

wie in Lacans Psychoanalyse, ist die Gesellschaft durch ein Bedürfnis nach Ganzheit gekennzeichnet, sie strebt also auf einen idealen Zustand ihrer selbst hin. Dieses Bedürfnis ist aber, da es im Bereich des Imaginären ist, diffus und prinzipiell unerreichbar. Um dieses, durch das imaginäre Allgemeine aufgerissene, unerfüllte Bedürfnis zu befriedigen, treten auf der Ebene des Symbolischen verschiedene partikulare Forderungen in Form von hegemonialen Projekten auf, die es zu repräsentieren versuchen. Allerdings kann es, nach Laclau und Mouffe, keiner Forderung gelingen, das Bedürfnis endgültig zu beseitigen, da es immer nur als Supplementierung wirkt.

Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann …

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(Laclau und Mouffe 2015, S. 145). Durch die Offenheit und Relationalität in der Praxis der Artikulation wird es unmöglich, den Diskurs zu nähen. Grundlegende Kategorien bei Laclau und Mouffe sind der Antagonismus, die Äquivalenz, die Differenz und Hegemonie. Antagonismus bedeutet, dass sich im diskursiven Raum Akteure gegenüberstehen, es entsteht also eine Zweiteilung, eine Polarisierung. Durch diesen Antagonismus werden die Identitäten beider konstruiert, das impliziert aber zugleich eine Unmöglichkeit der Schließung, da beide sich über den anderen konstituieren. Die Logik der Äquivalenz vereinfacht den diskursiven Raum, indem ein Zusammenhang zwischen differenziellen Positionen behauptet wird, wohingegen die Logik der Differenz den Raum erweitert, indem ein Unterschied zwischen Positionen behauptet wird. Von Martin Nonhoff übernehme ich außerdem den Begriff der Kontrarität, bei der zwei Elemente sich in Bezug auf ein drittes im Weg stehen (vgl. Nonhoff 2006, S. 211 f.). Die vorliegende Studie stützt sich zudem auf weitere von Nonhoff elaborierte Begriffe, die bei der methodischen Umsetzung und Operationalisierung der Hegemonieanalyse hilfreich sind. Wichtige Beiträge von Nonhoff sind beispielsweise: hegemoniale Formation-Formierung, als gleichzeitig stabiles und dynamisches Arrangement von Artikulationen, in dessen Zentrum eine umfassende Forderung steht, und hegemoniales Projekt als umfassende Forderung mit einem Repräsentanten des Allgemeinen. Eine besondere Bedeutung kommt im Prozess der Forschung auch Nonhoffs neun Strategemen zu, die einen ersten Einblick in die Formierung einer hegemonialen Formation-Formierung ermöglichen. Die Strategeme teilen sich in drei Kernstrategeme (Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen; Antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums; Repräsentation), ein Grundlagenstrategem (Grundlagenstrategem der superdifferenziellen Grenzziehung), drei ergänzende hegemoniale Strategeme (emergente Interpretationsoffenheit des symbolischen Äquivalenz des Allgemeinen; Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen für politisch-gesellschaftliche Kräfte; gezieltes und vereinzeltes Durchbrechen der antagonistischen Grenze) und sekundäre hegemoniale Strategeme (Strategem des eigentlich Verfechters und Strategem der eigentlichen Bedeutung). Weiter stütze ich mich auch auf die von Judith Renner (2014) vorgeschlagenen semantischen Beziehungen. Mithilfe verschiedener positiver (Synonymie, Beziehung zwischen Teil und Ganzem, Absichtsbeziehung und Rollenbeziehung) und negativer semantischer Beziehungen (Antonymie, Beziehung des Kontrasts oder des Verhinderns) ist es damit möglich die Strategeme auf Textebene rauszuarbeiten. Die Hegemonieanalyse wird verbunden mit der Methode der Grounded Theory Methodology (GTM), die Barney Glaser und Anselm Strauss zum ersten Mal in ihrem Buch „The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research“ vorgestellt haben. Wobei ich mich stärker auf die pragmatistisch geprägte Variante von Corbin und Strauss beziehe. In Anlehnung an Strübing (2008) können als zentrale Merkmale der Grounded Theory die Methode des ständigen Vergleichens, das Kodieren, das Dimensionalisieren, das Kodierparadigma, Schreiben von Memos sowie die Konzepte vom theoretical sampling und theoretischer Sättigung gelten.

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Meine Forschung stützt sich insbesondere auf die Reflexive Grounded Theory (R/ GTM), die im Zuge der konstruktivistischen Wende nach Charmaz entstanden ist und vor allem von Franz Breuer entfaltet wird. Anschließend an die von Charmaz vorgeschlagene reflexive Haltung geht es in der R/GTM um die dynamische Interaktion zwischen den Forschenden und ihrem Gegenstand, die die Erkenntnis hervorbringt (vgl. Breuer et al. 2018, S. 38). Weiter orientiere ich mich in meiner Forschungsarbeit an der methodischen Ausgestaltung von Ulrich Roos (2013), da ich glaube, durch die besondere Rolle der Memos eine größere Freiheit in Bezug auf meine Formaltheorie zu gewinnen. Ergänzt wird die GTM durch die Lexikometrie: „Lexikometrische Verfahren untersuchen, wie Bedeutungen durch Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen hergestellt werden“ (Glasze 2008, S. 195 f.). Interessant sind dabei die quantitativen Beziehungen: „Ziel lexikometrischer Verfahren in der Diskursforschung ist es […] großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution zu erfassen“ (Dzudzek et al. 2009, S. 233). In der Lexikometrie lassen sich vier Hauptmethoden unterschieden: Frequenz-, Konkordanzanalysen, Analysen von Charakteristika eines Teilkorpus und Analysen von Kookkurrenzen (vgl. a. a. O., S. 240). Durch die Verbindung der GTM als qualitativen Ansatz und der Lexikometrie als quantitativen Ansatz soll versucht werden, den üblichen Schwächen der beiden Richtungen entgegenzuwirken. Allerdings stellt sich bei der Kopplung notwendig die Frage nach Vereinbarkeit der beiden Methoden. So ist es für die Lexikometrie notwendig, dass mit einem festen und geschlossenen Textkorpus gearbeitet wird, zudem widerspricht das Verfahren der Lexikometrie in gewisser Weise dem Forschungsverständnis in der GTM. Die Lexikometrie soll daher vor allem als eine Unterstützung im Forschungsprozess dienen, die erkenntnisbringend sein soll, ohne dabei die Offenheit der GTM einzuschränken. Zu diesem Zweck wird die lexikometrische Analyse lediglich dafür genutzt, eine objektive, quantifizierbare Grundlage für die Argumentation zu schaffen. Das Hauptinteresse liegt allerdings auf der Diskursanalyse mithilfe der GTM.

4 Ethik Bei einer Forschung sind, ob beabsichtigt oder nicht, immer die eigenen normativen Vorentscheidungen und ethischen Einstellungen untrennbar mit dem Prozess verbunden. Zudem bekommt Forschung in diesem Bereich, in dem es letztendlich um die Zukunft der Gesellschaft und Menschen sowie die Frage, wie wir leben möchten, geht, ihren Wert erst vor dem Hintergrund einer (vorläufigen) Antwort auf diese Fragen oder zumindest ein Schema zur Beurteilung der Antworten anderer. Erst im Vergleich einer leitenden ethischen Position kann entschieden werden, ob die Bertelsmann Stiftung diesen Kriterien genügt. Kritik ist niemals positionslos, sondern geschieht von einem festen Grund aus. Diesen festen Grund bietet bei meiner Kritik der herrschenden Ethik der Marxismus, der wiederum auf der Weltanschauung des dialektischen Materialismus‘ aufbaut. Für die folgenden Überlegungen muss es genügen, darauf hinzuweisen, dass

Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann …

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wesentliche Grundannahmen die Historizität (expliziert im historischen Materialismus), die Gebundenheit des Bewusstseins an das Sein und der antagonistische Charakter der ökonomischen Klassen sind. Marx schreibt dazu in der 6. Feuerbachthese: „[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx 1946, S. 63). Mit gesellschaftlichen Verhältnissen meint Marx hier vor allem die materiellen, gesellschaftlichen Verhältnisse. Um das Verhältnis von Basis und Überbau zu verdeutlichen, erscheint es sinnvoll, Marx und Engels im Original zu zitieren: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins, ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Abfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu den weitesten Formationen hinaus. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein des Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess“ (Marx und Engels 1953, S. 22).

Was bedeutet das für Moral und Ethik? Anders als die klassische Vorstellung sind ethische Beurteilungen demnach keine rein ideellen Produkte, die durch tiefe Kontemplation erreicht werden – sie können es gar nicht sein. Wie Engels kritisiert, wird auf diesem Weg ein letzter Schritt ausgelassen, indem die materiellen Ursachen unbeachtet bleiben, die diese ideellen Triebkräfte erst hervorgebracht haben (Engels 1946, S. 48). Moralauffassungen sind damit immer epochengebunden, „[w]as in der einen historischen Epoche moralisch gutgeheißen wird, wird in einer anderen Epoche als unmoralisch verdammt“ (Schischkin 1965, S. 43). Weiter kann es auch keine gesamtgesellschaftliche Moral geben, da sie zusätzlich immer klassengebunden ist: „Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral“ (Engels 1988, S. 295). Dennoch sind ideelle Kräfte nicht völlig zu missachten, sie bekommen ihre Bedeutung aus ihrer Verwurzelung in der Realität und sind dementsprechend danach zu beurteilen, wie gut sie diese widerspiegeln (vgl. Schischkin 1965, S. 41). Ich gehe davon aus, dass das kapitalistische System der Vergesellschaftung von Arbeit und den Anforderungen durch Probleme wie den Klimawandel nicht entspricht. Aus diesem Grund ist eine ethische Positionierung eine Positionierung gegen den Kapitalismus. Diese Positionierung geschieht im Bewusstsein, dass keine Moral absolut sein kann, sondern, dass es darauf ankommt, das Überleben des Großteils der Menschheit auf der Erde und das weitere Bestehen der Erde und der verschiedenen Lebensformen selbst kategorisch vor die Interessen einer kleinen Minderheit zu stellen. Handeln sollte demnach immer danach beurteilt werden, ob es darauf abzielt ein gutes Leben für die Menschheit und andere Lebewesen zu garantieren und nicht der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dient (so ambivalent die jeweilige Umsetzung sein mag).

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Als Ausgangspunkt für die konkrete Beurteilung des Handelns von (kollektiven) Akteuren, soll ein Zitat aus einem Brief von Friedrich Engels an Karl Marx im Jahr 1865 dienen: „Wir sind nie davon ausgegangen, die Leute zu beurteilen nach dem, was sie sich vorstellten, sondern nach dem, was sie waren“ (Engels 1965, S. 45). In meiner ethischen Positionierung kann ich mich also nicht (allein) auf deontologische Ansätze berufen: „Das Entscheidende bei der Beurteilung, ihr Ausgangspunkt wird und muß immer das Ergebnis der Handlung selbst sein. Man wird einen Menschen nicht danach beurteilen, was er sich einbildet zu sein, sondern was er wirklich tut und wie sich sein Tun und Lassen praktisch auswirkt“ (Boeck 1959, S. 38). Diese Beurteilung des Ergebnisses muss wiederum ergänzt werden durch die Betrachtung der praktischen Zielsetzung und der eigentlichen sittlichen Motivierung der (kollektiven) Akteure, die wiederum beeinflusst sind durch die jeweiligen materiellen und geistigen Bedürfnisse (vgl. a. a. O., S. 39).

5 Analyse Im Folgenden soll die hegemoniale Formation-Formierung der Bertelsmann Stiftung anhand des im Forschungsprozess entworfenen Kategoriensystems rekonstruiert werden. Bevor das tatsächliche hegemoniale Projekt in den Blick genommen werden kann, fällt bei der Betrachtung der hegemonialen Formation-Formierung zunächst auf, dass die eigentlichen Äquivalenzketten und Forderungen von etwas eingerahmt werden, das die Notwendigkeit des hegemonialen Projektes erst begründet. Zentral ist dabei der Verweis der Bertelsmann Stiftung auf die veränderten Anforderungen. Zu diesen veränderten Anforderungen gehören die Globalisierung, die Digitalisierung und der demographische Wandel. Beispielhaft lässt sich dies an der Sequenz 2 aus dem Text „Agenda Inklusives Wachstum für Deutschland“ deutlich machen. Dort schreiben die Autor*innen: „Dennoch stehen Wirtschaft und Gesellschaft vor großen Aufgaben: Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel verändern die Anforderungen an unsere Wirtschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft“ (Bertelsmann Stiftung 2017a, S. 4).

Diese drei Signifikanten bewirken in der hegemonialen Formation-Formierung der Bertelsmann Stiftung den Diskurs zu konstituieren. Durch sie wird die Begründung hergestellt, warum das hegemoniale Projekt überhaupt wichtig und dringlich ist. Dabei nehmen sie etwas ein, was ich eine pseudo-neutrale Position nennen möchte. ­Pseudo-neutral sind sie insofern, als sie weder als etwas Wünschenswertes, auf das hingearbeitet werden soll, noch als Antagonismen, die vermieden oder bekämpft werden sollen, dargestellt werden. Stattdessen wird über sie eben erst die Notwendigkeit abgeleitet, entscheiden zu müssen, was die Antagonismen und was die Äquivalenzen des Repräsentanten sind. Pseudo-neutral sind sie, weil schon das Setzen dieses diskurskonstituierenden Kontextes in die hegemoniale Formation-Formierung eingebunden und

Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann …

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instrumentalisiert wird. Bereits in ihrer Erwähnung liegen die weiteren Forderungen der Bertelsmann Stiftung begründet.4 In der hegemonialen Formation-Formierung der Bertelsmann Stiftung lassen sich fünf symbolische Allgemeine ausmachen. Zum einen wäre das der Zusammenhalt der Gesellschaft, was sich bereits an der schon genannten Sequenz erkennen lässt. Interessant ist, dass dieses symbolische Allgemeine immer schon mit dem zweiten symbolischen Allgemeinen, dem Wohlstand (von morgen), verknüpft wird. Diese Verbindung wird zum Beispiel an folgender Stelle deutlich: „Zunehmende Disparitäten zwischen Menschen und Regionen machen es zudem nötig, neu darüber nachzudenken, was die Bedingungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wohlstand sind“ (a. a. O., S. 11, eigene Hervorhebung Y.H.).

Die Verknüpfung dieser zwei symbolischen Allgemeinen deutet bereits das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung an, indem die Signifikanten Inklusion (repräsentiert den Zusammenhalt der Gesellschaft) und Wachstum (repräsentiert den Wohlstand von morgen) durch die Logik der Äquivalenz verknüpft werden. Die anderen drei symbolischen Allgemeinen geben allerdings einen Hinweis darauf, auf welchem Teil des Inklusiven Wachstums der Fokus liegen wird: Chancengleichheit (Seq. 3, Seq. 9, Seq. 10, Seq. 24, Seq. 50), Leistungsgerechtigkeit (Seq. 9, Seq. 10, Seq. 11, Seq. 12, Seq. 13) und Wettbewerbsfähigkeit (Seq. 17 & Seq. 47). Durch diese symbolischen Allgemeinen zeigt sich bereits, was mit inklusivem Wachstum gemeint ist. Indem der geleerte Signifikant des Inklusiven Wachstums mit den geleerten Signifikanten Zusammenhalt der Gesellschaft, Wohlstand (von morgen), Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit verknüpft wird, wird auch seine Bedeutung näher spezifiziert. Das deutet darauf hin, dass auch die symbolischen Allgemeinen zunächst diskursiv hergestellt werden müssen. Dass Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit die dominanten Vorstellungen von Gerechtigkeit darstellen, ergibt sich nicht von alleine, sondern ist selbst Ergebnis eines Aushandlungsprozesses. Indem die Bertelsmann Stiftung diese symbolischen Allgemeinen aber fast unbegründet integriert, deutet sich eine Entpolitisierung an, auf die noch näher eingegangen wird. Bei der Analyse des Textkorpus hat sich außerdem gezeigt, dass die symbolischen Allgemeinen selbst durch Antagonismen hergestellt werden müssen – ein Effekt, wenn sie selbst als diskursive Elemente angesehen werden. Während Nonhoff beispielsweise die symbolischen Allgemeinen beinahe als gegeben präsentiert, müssen sie, genau wie jedes andere Element, durch die Logik der Differenz, der Kontrarität und die der Äquivalenz etabliert werden. Diesen symbolischen Allgemeinen steht etwas gegen-

4Damit

wird ein Aspekt angesprochen, der beispielsweise bei Nonhoff noch nicht im Blick ist. Zwar existiert in Nonhoffs Begriffsinstrumentarium die sogenannte ‚Superdifferenz‘, die einen Diskurs vom anderen trennt (Nonhoff 2006, S. 87), allerdings nimmt diese nicht die Grundlegung des Diskurses in den Blick.

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Abb. 1   Symbolische Allgemeine und Antagonismen zweiter Ordnung im Diskurs, © Yannic Hollstein

über, das ich als antagonistische Zustände zweiter Ordnung bezeichnen möchte, ein Teil des Strategems der antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Raumes. Diese antagonistischen Zustände zweiter Ordnung bilden übergeordnete Gefahren, die im Gegensatz zu antagonistischen Zuständen erster Ordnung keine festen und greifbaren Anliegen sind. Erst über die Etablierung dieser antagonistischen Zustände zweiter Ordnung ist es möglich, die symbolischen Allgemeinen zu etablieren. Die antagonistischen Zustände zweiter Ordnung und die symbolischen Allgemeinen sind somit als Polaritäten eines Kontinuums zu verstehen, die sich gegenüberstehen und gegenseitig konstruieren. Als Negativ der symbolischen Allgemeinen lassen sich folgende Signifikanten aus dem Textkorpus herausarbeiten: Ineffizienz, Bürokratie, Abhängigkeit von anderen Ländern, geringes/kein Wachstum, soziale Ungleichheit und Chancenungleichheit. Abb. 1 illustriert diese Grundlegung des Diskurses. Bei den Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung fällt auf, dass implizit und explizit immer wieder Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft genommen wird. Besonders deutlich wird dieser Bezug zum Beispiel an den Titeln von zwei der betrachteten Veröffentlichungen: „Wie inklusiv ist die Soziale Marktwirtschaft?“ und „Die Soziale Marktwirtschaft zukunftsfähig machen“. Die Soziale Marktwirtschaft nimmt zunächst die Position eines positiven Bezugspunktes ein, der in seinen Grundzügen der richtige Weg war und an dem festgehalten werden soll. Dies geschieht vor allem über den Verweis auf die Robustheit der deutschen Volkswirtschaft. Dieser Bezug zur Sozialen Marktwirtschaft wirkt aber zusammen mit den genannten veränderten Anforderungen dahin, dass eine veränderte, auf die neuen Herausforderungen

Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann …

287

angepasste, Variante der Sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt werden soll: das Inklusive Wachstum. Auf diesem Weg schaffen die Autor*innen zweierlei: zum einen schließen sie an das erfolgreiche Projekt der Sozialen Marktwirtschaft an („Dem darf sich keine Partei verschließen, die die Soziale Marktwirtschaft fortschreiben will“ (Bertelsmann Stiftung 2017a, S. 19)) und artikulieren somit die bereits in die etablierte Hegemonie integrierten Subjektpositionen in das eigene hegemoniale Projekt. Zum anderen legitimieren sie das eigene Projekt weiter. Dadurch nimmt der Knotenpunkt „Inklusives Wachstum“ eine merkwürdige Zwitterposition ein, indem er einerseits als Knotenpunkt im Kampf um die Hegemonie erster Ebene (als Repräsentant des symbolischen Allgemeinen) fungiert, aber andererseits auch im Kampf um die Hegemonie zweiter Ebene (um die genauere Bedeutung des Knotenpunkts „Soziale Marktwirtschaft“) eine Funktion einnimmt. Eine lexikometrische Analyse ergab, dass „Soziale Marktwirtschaft“ sich in drei der vier Texte finden ließ. Allerdings möchte ich an späterer Stelle argumentieren, dass die Bertelsmann Stiftung das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nicht einfach aufnimmt, sondern neoliberalisiert. Den Kern meiner Analyse bildete die Frage welche Nonhoffschen Strategeme sich wie in der hegemonialen Formation-Formierung der Bertelsmann Stiftung äußern. Bei der Analyse konnten anhand des Textkorpus’ fünf der neun Strategeme von Nonhoff rekonstruiert werden. 1. Repräsentation: Nach Nonhoff wird ein geleerter Signifikant als Repräsentant des Allgemeinen ins Zentrum des hegemonialen Projektes gestellt. Wie mittlerweile bereits deutlich geworden sein sollte, gehe ich davon aus, dass das Inklusive Wachstum diesen Knotenpunkt darstellt. Im Policy Brief zur Nachhaltigkeit kommt er zwar überhaupt nicht vor, was aber daran liegen dürfte, dass die Veröffentlichung von 2012 ist und damit vor der ersten Erwähnung des Inklusiven Wachstums liegt. Im Text zur Agenda Inklusives Wachstum findet der Knotenpunkt sich aus offensichtlichen Gründen am häufigsten, nämlich 24 Mal. In den beiden Texten zur Sozialen Markwirtschaft findet der Knotenpunkt sich seltener und vor allem im hinteren Drittel der Texte, was erneut die These erhärtet, dass das Inklusive Wachstum im Anschluss an die Soziale Marktwirtschaft deren Unzulänglichkeiten beheben soll. 2. Äquivalenzierung verschiedener, am Allgemeinen orientierter Forderungen: Weiter geht Nonhoff davon aus, dass um den Knotenpunkt durch Äquivalenzierung verschiedene Forderungen hegemonial verbunden sind. Auch zu diesem Strategem konnten im Textkorpus Hinweise gefunden werden. Dadurch werden die verschiedenen Forderungen, die zuvor noch lose und zusammenhangslos waren, verbunden und als notwendig zur Erreichung des symbolischen Allgemeinen dargestellt. 3. Strategem des eigentlichen Verfechters und Strategem der eigentlichen Bedeutung: Diese beiden sekundären hegemonialen Strategeme sind in diesem hegemonialen Projekt weniger wichtig, da es vor allem um die Hegemonie erster Ebene geht, also um die Etablierung des Inklusiven Wachstums als Knotenpunkt (der an den

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der Sozialen Marktwirtschaft anschließt). Dennoch muss die Bertelsmann Stiftung Akteure in ihr Projekt integrieren, um so die Durchsetzungsfähigkeit zu erhöhen. Dabei legt die Bertelsmann Stiftung ihren Fokus auf supranationale Organisationen, was zum einen durch den globalisierten Charakter der heutigen Wirtschaft begründet werden kann und zum anderen einen internationalen Konsens suggeriert. Sie nennt in ihrem Text zur Agenda Inklusives Wachstum verschiedene (kollektive) Akteure, die den Knotenpunkt des Inklusiven Wachstums bereits benutzen: die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Internationalen Währungsfonds, das Weltwirtschaftsforum, die Europäische Investitionsbank, die Europäische Union, Sigmar Gabriel und Brigitte Zypries mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Da diese verschiedenen (kollektiven) Akteure alle den Signifikanten Inklusives Wachstum benutzen, muss die Bertelsmann Stiftung zudem implizit in ihrem Text eine spezifische Bedeutung festlegen, die sich möglicherweise von derjenigen der anderen Diskursteilnehmer unterscheidet. 4. Antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raumes: Die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raumes wurde bei den symbolischen Allgemeinen und antagonistischen Zuständen zweiter Ordnung bereits angeschnitten. Die antagonistischen Zustände erster Ordnung bilden nun direkte, greifbare Gefahren und Zustände, die Teil der hegemonialen Formation-Formierung sind und das Projekt über die Kontrarität mitbilden. Darauf ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, welche Eigenschaften dem Wirtschaftswachstum zugeschrieben werden.5 5. Äquivalenzkette P: Die Äquivalenzkette P setzt sich aus den bisher behandelten Strategemen zusammen und bildet das Positiv6 des hegemonialen Projekts. Zu diesem Zweck werden um den

5Nicht

beachtet wurde das Grundlagenstrategem der superdifferenziellen Grenzziehung. Für die Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen für p­olitisch-gesellschaftliche Kräfte wurden zu wenig Indizien gefunden, um es zu integrieren. Dieses Strategem deutet sich aber beispielsweise an, wenn die Bertelsmann Stiftung betont, dass keine politische Partei sich dem Inklusiven Wachstum verschließen darf oder dass das Inklusive Wachstum ein parteiübergreifendes Anliegen sein muss. Die emergente Interpretationsoffenheit des symbolischen Äquivalents des Allgemeinen könnte prinzipiell nur beobachtet werden, wenn verschiedene Diskursteilnehmer und deren Verwendung in den Blick genommen werden würden. Ähnlich ist es mit dem gezielten und vereinzelten Durchbrechen der antagonistischen Grenze, das über den gesamten Diskurs und eine Zeitspanne beobachtet werden müsste. In ihrer hegemonialen Formation-Formierung lässt die Bertelsmann Stiftung allerdings an wenigen Stellen (beispielsweise für die sozialstaatlichen Mechanismen) die Möglichkeit offen. 6Dabei darf positiv aber nicht als vorhandene Identität interpretiert werden, sondern als instabiles, artikuliertes Ziel. Aus der Logik des Poststrukturalismus wäre eine vorhandene Identität nicht möglich, man muss die Äquivalenzkette P also eher als das Gute und Wünschenswerte eines Projekts ansehen.

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leeren Signifikanten als Knotenpunkt (Repräsentation), der auf die symbolischen Allgemeinen verweist, verschiedene Forderungen angeordnet (Äquivalenzierung verschiedener, am Allgemeinen orientierter Forderungen). Zudem wird der leere Signifikant, der als flottierender Signifikant nur über die Verknüpfung mit anderen Signifikanten in einem Signifikantennetz zu Bedeutung kommen kann, mit einer eigentlichen Bedeutung und den eigentlichen Verfechtern verbunden. In meinem speziellen Fall ist die Festlegung der eigentlichen Bedeutung eng mit den Fragen verknüpft, wie Wirtschaftswachstum charakterisiert wird sowie welche Ziele mit welchen Methoden erreicht werden sollen (s. Unterpunkte 1, 2 und 4). Um die bereits genannten Punkte noch einmal zu wiederholen und in dieser Äquivalenzkette P zu verbinden: das Inklusive Wachstum nimmt die Rolle des Repräsentanten ein, wobei durch die Verbindung mit den symbolischen Allgemeinen und dem Fokus der Forderungen und Ziele das Wachstum vor der Inklusion steht. Diese Äquivalenzkette P bildet wiederum das Zentrum des hegemonialen Projekts der Bertelsmann Stiftung und integriert dabei bereits bestehende Diskurse (wie den Migrant*innendiskurs, den feministischen Diskurs etc.) 6. Äquivalenzkette Q: Die Äquivalenzkette Q bildet das Negativ des hegemonialen Projekts und konstituiert in seiner Position des zu Vermeidenden und zu Beseitigenden die Äquivalenzkette P in der Relation. Die Äquivalenzkette Q setzt sich zusammen aus der antagonistischen Zweiteilung des Raumes erster Ordnung (s. Punkt 4) sowie den antagonistischen Akteuren. In den betrachteten Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung konnten als einzige ansatzweise antagonistische Akteure die Wachstumskritiker herausgearbeitet werden. Dass die Bertelsmann Stiftung weitgehend auf die Festlegung von antagonistischen Akteuren in ihrem hegemonialen Projekt verzichtet, deutet erneut auf den hegemonialen Charakter ihrer diskursiven Formation-Formierung hin. Auffällig bei den betrachteten Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung ist, dass das Thema der ökologischen Probleme kaum zur Sprache kommt. Um das Verständnis der Bertelsmann Stiftung von Nachhaltigkeit rekonstruieren zu können, musste noch ein vierter Text zur Nachhaltigkeit aus dem Jahr 2012 in das empirische Material integriert werden. Und auch in diesem Text scheint die ökologische Nachhaltigkeit keine bedeutsame Position einzunehmen. Viel mehr betont die Bertelsmann Stiftung, dass die ökologische Nachhaltigkeit immer mit der ökonomischen und politisch-sozialen Nachhaltigkeit verbunden werden müsse. Auf diesem Weg entschärft sie die mögliche Gefahr von Radikalität, die aus der stärkeren Fokussierung auf ökologischer Nachhaltigkeit für das eigene hegemoniale Projekt resultiert. Im umfassenden Nachhaltigkeitsbegriff der Bertelsmann Stiftung befindet die ökologische Nachhaltigkeit sich in einem interdependenten Dreiergespann, in dem jede Forderung unter Verweis auf die anderen beiden Aspekte abgeschwächt werden kann.

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Statt die ökologischen Probleme in ihren Texten zum Inklusiven Wachstum zu behandeln, legt die Bertelsmann Stiftung ihren Fokus auf Probleme, die innerhalb eines wachstumsfixierten Systems als lösbar erscheinen. Die ökologischen Probleme nehmen in gewisser Weise die Position eines unartikulierten Antagonismus ein, der das hegemoniale Projekt des Inklusiven Wachstums von außerhalb zu bedrohen scheint. Während die artikulierten Antagonismen konstitutiv für die Äquivalenzkette P sind und in ihrer Abgrenzung das Positiv des Projekts bilden (also notwendig und instrumentell sind), bildet der unartikulierte Antagonismus der ökologischen Nachhaltigkeit die Gefahr der Zerstörung des hegemonialen Projekts und bleibt zu dessen Sicherung vorerst unerwähnt. Ein weiteres Phänomen des hegemonialen Projekts der Bertelsmann Stiftung, das charakteristisch für hegemoniale Formation-Formierungen ist, ist die Entpolitisierung ihrer Forderungen. Auf diesem Weg möchte sie eine ähnlich unangefochtene Position etablieren, wie sie die Soziale Marktwirtschaft lange Zeit in unserer Gesellschaft innehatte und auch heute noch weitgehend besitzt. Mit dieser Strategie wird eine Schließung des diskursiven Raumes und eine Einengung des Feldes des Politischen vorgenommen, wobei bestimmte Themen aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen werden. Diese Strategie hat natürlich auch eine gesellschaftsstabilisierende Funktion. Allgemein lässt sich aufgrund des empirischen Materials sagen, dass ein hegemoniales Projekt sich dann fest etabliert hat, wenn die Herausforderung oder Abschaffung der enthaltenen Forderungen praktisch außerhalb des Möglich-Sagbaren im politischen Diskurs liegen. Zu diesem Zweck benutzt die Bertelsmann Stiftung zwei Taktiken. Zuerst stellt sie den bestehenden Diskurs nur selektiv dar. Besonders deutlich wird das an folgender Stelle: „Hier liegt das Problem des deutschen Systems: Es wird regelmäßig dafür kritisiert, dass es wachstums- und anreizfeindlich ist“ (Bertelsmann Stiftung 2017a, S. 24).

An dieser Stelle wird suggeriert, diese Kritik am deutschen System wäre Konsens. Dabei wird zum einen ausgelassen, wer genau diese Kritik vornimmt und zum anderen wird verschwiegen, dass am deutschen System genauso kritisiert wird, es sei zu wachstumsund anreizfixiert. Alles bisherige, das gesamte bestehende diskursive Feld, scheint damit auf ihr hegemoniales Projekt hinauszulaufen und dessen Durchsetzung erscheint als zwingende Notwendigkeit. Die zweite Taktik ist die Betonung eines politiklosen Charakters ihrer Forderungen. Dabei nimmt sie eine Verbindung aller relevanten politischen Akteurspositionen in der Parteienlandschaft („Dem darf sich keine Partei verschließen, die die Soziale Marktwirtschaft fortschreiben will“ (Bertelsmann Stiftung 2017a, S. 19)), der Sozialpartner („Auch die Sozialpartner, die im Standort Deutschland mehr sehen als einen reinen Produktionsfaktor, müssen sich dem Ziel eines Inklusiven Wachstums verpflichtet sehen“ (a. a. O., S. 19)) und auf internationaler Ebene vor. Die (durchgesetzte) Entpolitisierung kann als letzte Stufe einer hegemonialen Verbindung von Subjektpositionen gesehen werden, da das hegemoniale Projekt an diesem Punkt so umfassend geworden ist, dass keine relevanten Akteure mehr dem Projekt als Negativ in der Äquivalenzkette Q gegenüberstehen, sondern allesamt integriert wurden.

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Nonhoff bezeichnet die Soziale Marktwirtschaft als „spannungsreiches Doppelgestirn“ (Nonhoff 2006, S. 81). Es scheint, als würde die Bertelsmann Stiftung selbst in der Konstruktion ihres Knotenpunkts die Hegemonie der Sozialen Marktwirtschaft kopieren. Das Soziale wird betont durch die Inklusion, die Marktwirtschaft über das Wachstum. Allerdings möchte ich argumentieren, dass im Inklusiven Wachstum der Fokus auf dem Teil des Wachstums liegt („Wachstum muss wieder Priorität haben […]“ (a. a. O., S. 11)). Mithilfe des Zusatzes der Inklusion soll dabei in gewisser Weise die negative Konnotation, die mehr und mehr mit dem Wachstumsbegriff verbunden wird, entschärft werden. Zu diesem Zweck wird das Wachstum in den Vordergrund gestellt, aber gleichzeitig hinzugefügt, dass alle profitieren sollten. Ähnlich der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie (Rawls 1979) vertritt die Bertelsmann Stiftung die Einstellung, dass Ungleichheit gerechtfertigt ist, solange alle davon profitieren. Wichtig ist dabei aber gerade, dass die Bertelsmann Stiftung sich eigentlich nicht vom jetzigen Konsens der Sozialen Marktwirtschaft wegbewegt. Wer eine großangelegte Reform der sozialstaatlichen Sicherungssysteme erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen soll die Inklusion durch eine weitere Öffnung des Marktes für alle erreicht werden. Teilhabe am wirtschaftlichen System ist eine wesentliche Methode der Inklusion. Auf diesem Weg treibt sie eine Neoliberalisierung der Sozialen Marktwirtschaft voran, indem der Fokus der Inklusion auf die Input-Seite der Wirtschaft verlagert wird, soziale Sicherungssysteme bleiben praktisch unerwähnt. Der Staat, der vorher noch die Aufgabe des Auffangens von Ungleichheiten hatte, wird nun (genau wie Wissenschaft und das Bildungssystem7) in der Aufgabe gesehen, der Wirtschaft zuzuspielen und das störungslose Weiterlaufen sicherzustellen. Im Anwachsen von Ungleichheiten sieht die Bertelsmann Stiftung eine Gefahr für das diskursive Projekt der Sozialen Marktwirtschaft und will diese organische Krise nutzen. Anstatt allerdings auf die tatsächliche Abschaffung von Ungleichheiten zu zielen, verfolgt sie ein Credo des Noch-Nicht-Genug: „Die Tatsache, dass vorhandene Mittel heute nicht abfließen, darf nicht zu dem Fehlschluss führen, auf Zukunftsinvestitionen zu verzichten. Stattdessen müssen entsprechende Kapazitäten (wieder) aufgebaut und Verwaltungsstrukturen noch effizienter gemacht werden“ (a. a. O., S. 5).

In diesem Kontext fällt aus marxistischer Perspektive auf, dass sich durch die gesamte hegemoniale Formation-Formierung eine Ignoranz gegenüber wesentlichen Tendenzen des kapitalistischen Systems zieht. Im gesamten Text zum Inklusiven Wachstum findet sich eine Individualisierung struktureller Probleme. Die immer drastischer werdenden Ungleichheiten im globalen Kapitalismus werden aus dem kapitalistischen System ausgelagert und die Lösung in gewisser Weise den Individuen überlassen. Anstatt ­

7Zur

Realisierung der Instrumentalisierung der Bildung für die Wirtschaft siehe beispielsweise den Beitrag über das zugrundeliegende Wachstumsparadigma der Digitalisierungsreform des deutschen Bildungssystems von Lea Rahman in diesem Sammelband.

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Ungleichheiten an der Wurzel zu bekämpfen, gehe es darum, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Dadurch vertritt die Stiftung das Bild der klassischen Ökonomie von der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die allen zu Reichtum verhelfen kann und ignoriert dabei die Tendenz zur Akkumulation, die Monopolisierung und den Konkurrenzkampf bei dem diejenigen Menschen mit dem meisten verfügbaren Kapital einen entscheidenden Vorteil besitzen und Kleinunternehmer nach und nach abgehängt werden. Für die Bertelsmann Stiftung ist eine Wirtschaft allerdings bereits als inklusiv legitimiert, wenn allen Individuen die Chance offengehalten wird, zu partizipieren. Das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung um das Inklusive Wachstum lädt also z. B. aus marxistischer oder gerechtigkeitstheoretischer Perspektive zum Widerspruch ein, wenn man den Knotenpunkt des Inklusiven Wachstum als Euphemismus versteht. Anstatt, dass sich das hegemoniale Projekt der Bertelsmann Stiftung, das sich um den Knotenpunkt des Inklusiven Wachstum herum anordnet, auf die Verringerung von Ungleichheit und Zunahme von Inklusivität zielt, richtet es sich auf ein Drittes. Dafür spricht zunächst, dass die Bertelsmann Stiftung in Bezug auf den inklusiven Teil des Knotenpunkts sehr diffus bleibt. Viel mehr zielen die gesamten Forderungen auf eine Förderung der Wirtschaft. Auch die beobachtete Neoliberalisierung der Sozialen Marktwirtschaft ist ein Indikator dafür, dass die Bertelsmann Stiftung letztlich auf die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Wettbewerb zielt. Besonders interessant ist dabei der beobachtete unartikulierte Antagonismus der ökologischen Nachhaltigkeit. Wenn man, wie Hegemonietheoretiker*innen es tun, die Funktion eines leeren Signifikanten in der Konstituierung der Grenzen eines diskursiven Feldes sieht, könnte man die ökologische Nachhaltigkeit als leeren Signifikanten betrachten. Aber anders als der leere Signifikant, der eine zentrale Position im hegemonialen Projekt einnimmt, zeichnet die ökologische Nachhaltigkeit sich gerade durch ihre Abwesenheit aus. Und die ökologische Nachhaltigkeit muss unbedingt aus dem gesamten hegemonialen Projekt des Inklusiven Wachstums herausgehalten werden, da sie eine grundlegende Gefahr für dieses darstellt. Somit erscheint der Knotenpunkt des Inklusiven Wachstums eher als Euphemismus, der einen tieferen Gegensatz überspielen soll: den zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit.

6 Fazit Das Wachstumsparadigma bleibt weltgesellschaftlich weitgehend unhinterfragt – es weist eine starke diskursive Stabilität auf. Meine im vorliegenden Forschungsbericht protokollierte Arbeit setzt sich mit dieser diskursiven Stabilisierung auseinander. Im Speziellen betrachte ich Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung, um die Position dieses wichtigen Akteurs zu beleuchten. Die forschungsleitende Frage lautet, welche hegemonialen Strategien die Bertelsmann Stiftung verfolgt. Die Bertelsmann Stiftung wird ausgewählt, da sie eine bedeutsame Position in den Bildungsprozessen der öffentlichen Meinung einnimmt und in den letzten Jahren verstärkt auf eine Strategie

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setzt, mit der sie verschiedene soziale Gruppen zu verbinden versucht. Durch ihre Wirtschaftsnähe kann ex ante eine positive Einstellung dem Wirtschaftswachstum gegenüber vermutet werden. Die Forschung stützt sich vor allem auf den historischen Materialismus in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels sowie den Poststrukturalismus, den Hegemonie-Begriff nach Antonio Gramsci und die postmarxistische Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Zudem relevant sind die Vorarbeiten von Martin Nonhoff und Judith Renner. Um mich dem Text zu nähern, habe ich die Methodologie der Diskurs- beziehungsweise Hegemonieanalyse mit den Methoden der Grounded Theory Methodologie und der Lexikometrie verbunden. Den ethischen Hintergrund bildet ein, auf Basis einer marxistischen Kritik entwickeltes, Bewusstsein über die Klassengebundenheit jeder ethischen Positionierung. In meiner Forschung finde ich zunächst heraus, dass das eigentliche hegemoniale Projekt von einem pseudo-neutralen Rahmen umspannt ist. Dieser pseudo-neutrale Rahmen wird durch den Verweis auf die veränderten Anforderungen infolge von Globalisierung, Digitalisierung und demographischem Wandel hergestellt und begründet die Notwendigkeit des hegemonialen Projekts „Inklusives Wachstum“. Im Anschluss an Lacans Register des Imaginären, lassen sich anschließend fünf symbolische Allgemeine herausarbeiten: den Zusammenhalt der Gesellschaft, den Wohlstand (von morgen), die Chancengleichheit, die Leistungsgerechtigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit. Diesen imaginären Allgemeinen stehen wiederum Antagonismen zweiter Ordnung gegenüber, die in ihrer Negativität konstitutiv wirken. Als Antagonismen zweiter Ordnung arbeite ich die Ineffizienz, Bürokratie, Abhängigkeit von anderen Ländern, geringes/kein Wachstum, soziale Ungleichheit und Chancenungleichheit heraus. Bei der Forschung fällt auf, dass die Bertelsmann Stiftung einen starken Bezug zur Sozialen Marktwirtschaft herstellt. Diese Soziale Marktwirtschaft bildet zunächst den positiven Bezugspunkt, allerdings wird in Verbindung mit dem pseudo-neutralen Rahmen die Veränderungsbedürftigkeit der Sozialen Marktwirtschaft begründet. Durch diese Verbindung schafft die Bertelsmann Stiftung die Legitimation des eigenen Projekts, bei gleichzeitiger Integration der Subjektpositionen der Sozialen Marktwirtschaft. Bei der Analyse mithilfe der Nonhoffschen Strategeme arbeite ich heraus, dass die Bertelsmann Stiftung den geleerten Signifikanten des Inklusiven Wachstums als Knotenpunkt etabliert. Um diesen herum werden in sechs Bereichen verschiedene Forderungen angeordnet. Diesen Forderungen stehen durch die Logik der Differenz artikulierte Antagonismen erster Ordnung gegenüber. Daraus setzt sich die Äquivalenzkette P zusammen, mit dem Knotenpunkt des Inklusiven Wachstum, den verschiedenen Forderungen, Akteuren wie der OECD und der Verbindung zu bereits bestehenden Diskursen. Dieser steht die Äquivalenzkette Q mit den Antagonismen erster Ordnung und antagonistischen Akteuren gegenüber. Dass kaum antagonistische Akteure artikuliert werden, spricht für eine neokorporatistische Strategie der Bertelsmann Stiftung. Zudem fällt auf, dass die Bertelsmann Stiftung das Thema der ökologischen Nachhaltigkeit im Projekt des Inklusiven Wachstums weitestgehend vermeidet. Ich vermute, dass auf diesem Weg die Radikalität der sich aus dem Konzept der ökologischen

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­achhaltigkeit ergebenden Forderungen abgeschwächt werden soll. Stattdessen N konzentriert die Bertelsmann Stiftung sich auf solche Probleme, die aus einer ökonomischen Wachstumsperspektive handhabbar erscheinen. Meiner Meinung nach nimmt die ökologische Nachhaltigkeit damit die Position eines unartikulierten antagonistischen Elements ein, der das hegemoniale Projekt von außen bedroht und letztendlich das Potenzial aufweist, das hegemoniale Projekt im Ganzen hinfällig zu machen. Eine weitere Strategie, die die Bertelsmann Stiftung nutzt, ist die Entpolitisierung ihres hegemonialen Projekts. Diese Entpolitisierung erreicht sie zum einen, indem ein Konsens suggeriert wird, der nicht existiert, und zum anderen durch eine einseitige Wiedergabe des Diskurses. Außerdem versucht sie das Feld des Politischen zu verengen, indem sie das Inklusive Wachstum als unhintergehbaren Bezugspunkt jeder deutschen Politik etablieren möchte und somit die Kritik oder Hinterfragung des Projekts als nicht mehr Möglich-Sagbares aus dem diskursiven Feld auszuschließen versucht. In ihrer Konzeption des Inklusiven Wachstums lehnt sie sich bereits durch das Zusammenspiel der beiden Begriffe an die Soziale Marktwirtschaft an. Allerdings argumentiere ich, dass der Zusatz der Inklusion lediglich die negative Konnotation des Wachstums abschwächen soll, wobei trotzdem das Wachstum im Mittelpunkt steht. Inklusion wird letztendlich nur über die weitere Integration in den Arbeitsmarkt erreicht, sozialstaatliche Systeme bleiben weitestgehend unerwähnt. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass die Bertelsmann Stiftung zwar an die Soziale Marktwirtschaft anschließt, diese allerdings weiter neoliberalisiert. Auffällig ist dabei, dass wesentliche negative Tendenzen des kapitalistischen Wirtschaftssystems ignoriert werden. So werden strukturelle Probleme individualisiert und eine vermeintliche Chancengleichheit als hinreichende Bedingung für die Inklusion dargestellt. In der Gesamtschau gelangt die vorliegende Studie daher zu dem Ergebnis, dass das hegemoniale Projekt des „Inklusiven Wachstums“ einen Euphemismus darstellt. Anstelle von Inklusion werden unter dem Knotenpunkt verschiedene Forderungen subsumiert, die letztlich auf die Sicherung internationaler Wettbewerbsfähigkeit zielen, wobei die ökologische Nachhaltigkeit als der unartikulierte Antagonismus dieses Projekt bedroht. Das deutet auch auf eine affirmative Position der Hegemonieanalyse hin, denn wenn man nur die artikulierten Relationen in den Blick nimmt, verliert man die Möglichkeit zur Kritik. Stattdessen muss sie durch eine Interpretation auf tieferer Ebene ergänzt werden. Betrachtet man die hegemoniale Formation-Formierung der Bertelsmann Stiftung im Ganzen, so muss festgestellt werden, dass das von Hugbert Flitner genannte Potenzial von Stiftungen Alternativen zu entwickeln und voranzubringen, nicht genutzt wird. Das Projekt der Bertelsmann Stiftung ist darauf ausgelegt, das Paradigma des Wachstums aufrechtzuerhalten, anstatt neue Wege des Wirtschaftens und der Gesellschaftsorganisation zu finden. Dementsprechend muss auch ihr Handeln aus ethischer Perspektive kritisch hinterfragt werden. Die Frage nach den Folgen der Handlung wurde bereits angeschnitten, nicht die Inklusion im Sinne von mehr Gerechtigkeit folgt aus den Forderungen der Bertelsmann Stiftung, sondern die Sicherung internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Auf diesem Weg trägt die Stiftung zur Steigerungslogik des ­

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Kapitalismus bei. Von diesem Projekt profitiert dementsprechend vor allem die herrschende Klasse und ihre Mitglieder, eine gute klassische und digitale Infrastruktur wird aufgebaut, Innovationen gefördert und Menschen nach der Logik der Meritokratie in den Arbeitsmarkt integriert. Darunter leiden schließlich die unteren Schichten, da die behauptete Chancengleichheit und Inklusion auf eine weitere Ausbeutung ihrer Arbeitskraft hinausläuft; Menschen aus der Dritten Welt8, deren Länder im internationalen Wettbewerb über strukturelle Mechanismen und Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds oder die Weltbank zu Spielplätzen der Industriestaaten gemacht werden und Menschen aus den kommenden Generationen, die unter anderem an den Folgen des Klimawandels leiden werden. Schließlich lässt sich auch nicht behaupten, dass es keine alternativen Handlungen gäbe, die ein größeres Glück für mehr Menschen befördern könnte. In den Postwachstums-Bewegungen finden sich bereits viele Überlegungen wie unser zukünftiges Zusammenleben gestaltet werden kann. Wenn diese Überlegungen mit dem wissenschaftlichen Sozialismus in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels verbunden werden, haben sie das Potenzial eine Lebensform hervorzubringen, die sowohl ökologisch als auch sozial gerecht und nachhaltig ist. Bei dieser Umgestaltung ist allerdings starker Widerstand von den Verfechtern des status quo zu erwarten. Jahrzehntelange Arbeit in politischer Organisation und Bewusstseinsbildung liegen vor uns – Zeit, die uns wahrscheinlich nicht mehr bleibt.

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8Mit

dem Begriff der Dritten Welt folge ich der von den Bandung-Staaten beschlossenen Selbstbezeichnung.

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Zertifizierter Umweltschutz? Zur Rekonstruktion des Nachhaltigkeitsbegriffs von EMAS Moritz Harzbecher

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird der Nachhaltigkeitsbegriff des Umweltmanagement- und ­Öko-Audit-Systems EMAS rekonstruiert. In der Studie werden zunächst historisch spezifische Nachhaltigkeitsverständnisse reflektiert sowie der Forschungsstand zu EMAS im Kontext von Nachhaltigkeit aufgearbeitet. Im Anschluss an eine ontologische, epistemologische und eine ethische Reflexion wird dann die Auswahl der Methode (Grounded Theory) begründet, mit der die für das Forschungsvorhaben ausgewählten Textdokumente analysiert wurden. Daraufhin werden im Befundekapitel die Ergebnisse der Analyse zu der Hauptthese hin verdichtet, dass es sich bei EMAS um ein rein marktlogisches Instrument handelt, das keinen Nachhaltigkeitsbegriff in die Praxis teilnehmender Unternehmen implementiert. Schlüsselwörter

EMAS · Europäische Union · Umweltmanagement · Postwachstum · Nachhaltigkeit ·  Nachhaltigkeitsbegriffe · Knappheitsparadigma · Sustainable Development ·  Rekonstruktion · Ökonomisch-ökologische Krise

M. Harzbecher (*)  Aschaffenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_11

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1 Einleitung „Unter den Motiven der Kulturkritik ist von Alters her eines zentral das der Lüge: daß Kultur eine menschenwürdige Gesellschaft vortäuscht, die nicht existiert; daß sie die materiellen Bedingungen verdeckt, auf denen alles Menschliche sich erhebt, und daß sie mit Trost und Beschwichtigung dazu dient, die schlechte ökonomische Bestimmtheit des Daseins am Leben zu erhalten“ (Adorno 1969, S. 47 f.)

Theodor W. Adorno beschreibt in diesem Aphorismus der Minima Moralia eine häufige Form der Kulturkritik: Der Kultur werde vorgeworfen, die schlechten Voraussetzungen gesellschaftlicher Praktiken, besonders die ökonomischen, zu verdecken. Angesichts der aktuellen „ökonomisch-ökologische[n] Doppelkrise“ (Dörre 2013, S. 150) scheint die Ökonomie als alleiniges Objekt kritischer Gesellschaftsanalyse unzureichend. Nicht nur die schlechten ökonomischen Verhältnisse werden kulturell verschleiert. Auch die ökologische Ausbeutung ist ein nicht sichtbares, kollektiv verdrängtes Element kultureller Praktiken (Lessenich 2016, S. 17). Ist eine schlechte ökologische Bedingung Gegenstand des öffentlichen Diskurses, wird diese eher kulturell integriert, statt behoben. So konnte beispielsweise der inflationäre Vielfliegertrend oder, mit Niko Paech (2013), das „entgrenzte Easyjet-Weltbürgertum“ (ebd., S. 52), als Bestandteil der Kultur durch die Möglichkeit den eigenen CO2-Ausstoß zu kompensieren aufrechterhalten werden. Selbst das Umweltbundesamt erkennt einen solchen Ausgleich als „einfache und kurzfristig wirksame Möglichkeit [an], „tonnenweise“ Treibhausgasemissionen zu vermindern und dadurch eigene Emissionen auszugleichen“ (BMU 2019). Ungeachtet der tatsächlichen (Un-)Wirksamkeit eines ökonomischen Emissionsausgleichs fällt auf, dass die kulturelle Praktik des Vielfliegens mit ihrer schlechten Bedingung unberührt fortbesteht1. Die schlechte Bedingung wird durch Verschleierung zu einer, zwar immer noch schlechten, aber „kulturell ausgeglichenen“ und dadurch legitim verdrängbaren Bedingung. Dieses Narrativ kulturell verschleierter Verhältnisse wird für die vorliegende Arbeit dergestalt übernommen, dass von einer genuinen Selbsterhaltungstendenz des kulturellen Systems ausgegangen und hieraus ein grundlegender Überprüfungsbedarf gesellschaftlicher Praktiken abgeleitet wird. Besonders interessant erscheinen dabei Bewältigungsstrategien für die verbundenen Krisen von Ökonomie und Ökologie. Die aktuelle ökonomisch-ökologische Doppelkrise ist von einer „historische[n] Einmaligkeit“ (Dörre 2019, S. 21), denn sie markiert das Ende einer Zeit, in der die problemlose Verfolgung von Wirtschaftswachstum möglich war. Das Wachstumsstreben stößt zunehmend an die Grenzen seiner zwei Grundvoraussetzungen: dem (einfachen) Zugang zu und dem folgenlosen Verbrauch von (immer mehr) natürlichen Ressourcen (ökologische Grenze) sowie der Verfügbarkeit von immer billigerer bzw. effizienterer Arbeitskraft (ökonomische Grenze) (ebd., S. 21 f.). Die miteinander verschränkten Krisen von Ökonomie und Ökologie bündeln

1So

stieg die Zahl der deutschen Flugpassagiere 2019 um 6 % gegenüber 2018 (Tagesspiegel 2019).

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301

sich dabei in einer Politik, die den Ergebnissen zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten zum Trotz eine Programmatik des Wachstums aufrechterhält (Roos 2019, S. 51 f.). Das hier untersuchte Gemeinschaftssystem für das freiwillige Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (Eco Management and Audit Scheme, EMAS) (folgend EMAS) markiert eine Schnittstelle der drei kriselnden Bereiche Politik, Ökonomie und Ökologie. Es handelt sich um ein Instrument der Europäischen Union, das Unternehmen dabei unterstützen soll, ihre Umweltleistungen freiwillig zu verbessern. Das Instrument ist als einzig praxisorientierter von den vier Indikatoren für „nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster“ (SDG12) fester Bestandteil der aktuellen Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie2 (Bundesregierung 2018, S. 56). Bei EMAS handelt es sich damit um eine konkrete politische Antwort auf die facettenreiche ö­ konomisch-ökologische Krise. Die vorliegende Untersuchung stellt folgende Frage im Zentrum: Welcher Nachhaltigkeitsbegriff wird durch das Umweltmanagementsystem EMAS in die unternehmerische Praxis teilnehmender Betriebe integriert?

Der Nachhaltigkeitsbegriff erscheint aus zwei Gründen als lohnender Zielpunkt der Forschung: Erstens wird EMAS als Teil der „Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie“ unmittelbar mit dem Signifikanten „Nachhaltigkeit“ verbunden, der zweitens das Wesen eines konstitutiv uneindeutigen und darum im höchsten Maß klärungsbedürftigen Begriffs hat (Gottschlich 2017, S. 22). Im Folgenden wird der Begriff darum zunächst in seiner unterschiedlichen historischen Verwendung reflektiert (Abschn.  2.1). Anschließend wird das Instrument EMAS genauer vorgestellt (Abschn. 2.2.1) und der Forschungsstand zu EMAS bzw. Umweltmanagementsystemen im Kontext von Nachhaltigkeit aufgearbeitet (Abschn. 2.2.2). Daran schließt eine ontologische Reflexion an, die das Zielobjekt der Forschungsfrage und der Forschung näher bestimmt (Abschn. 3.1). Es folgen eine theoretische Verortung der Forschungsperspektive (Abschn. 3.2), eine wachstumskritische ethische Positionierung (Abschn. 3.3) sowie eine Beschreibung der Methode Grounded Theory, mit der die gewählten Analysetexte untersucht werden (Abschn. 3.4). Im Befundeteil (Abschn. 4) wird unter Rückbindung an den Forschungsstand dann zunächst die gewonnene Hauptthese vorgestellt, dass es sich bei EMAS um ein rein marktlogisches Instrument handelt (Abschn. 4.1) und, daran anschließend, die Forschungsfrage damit beantwortet, dass EMAS keinen Nachhaltigkeitsbegriff in die unternehmerische Praxis teilnehmender Betriebe implementiert, der den Namen verdient (Abschn. 4.2). In einem Fazit werden die Ergebnisse abschließend zusammengefasst, kritisch gewürdigt und weiterführende Fragen aufgeworfen (Abschn. 5).

2Die

Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist das nationale Umsetzungsprogramm der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) bzw. der 2015 von der UN verabschiedeten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

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2 Forschungsstand 2.1 Historische Nachhaltigkeitsbegriffe Die Entwicklung des Nachhaltigkeitsbegriffs lässt sich in zwei idealtypische Traditionen (Ott 2016, S. 65) unterteilen: Die erste Tradition ist wesentlich durch das sich im 18. Jhd. ausbildende Knappheitsparadigma (Felcht 2018, S. 77) bestimmt, das Nachhaltigkeit implizit und explizit mit Wachstumskritik sowie einem Fokus auf ökologische Problemstellungen verbindet. Sie wird dann in der Mitte des 20. Jhd. von einer zweiten, genuin politischen Tradition verdrängt. Der Nachhaltigkeitsbegriff wird nun zum Zielpunkt einer wachsenden Zahl von Problemstellungen, die jedoch von unterschiedlichen Spielarten der konstanten Universallösung Wirtschaftswachstum konterkariert werden. Durch eine sich selbst verstärkende Problem-Lösungs-Indifferenz bekommt der Nachhaltigkeitsbegriff die ihm häufig vorgeworfene Uneindeutigkeit: Die Selbstverstärkung resultiert aus der gesellschaftlichen Weigerung, ökologische, ökonomische und soziale Krisen konsequent kritisch an der grundlegenden (Fortschritts-)Programmatik abzuarbeiten – die Problemursache wird als Lösungsstrategie aufrechterhalten. Beide Traditionen werden im Folgenden knapp erläutert und einander gegenübergestellt: Die Wurzeln des Knappheitsparadigmas liegen im 18. Jhd. und können mit dem von Michel Foucault (1974) identifizierten Übergang von der „klassischen episteme“3 zur „modernen episteme“ beschrieben werden, der bezogen auf das Selbstverhältnis des Menschen einen fundamentalen Bruch bedeutet. Während in der „klassischen episteme“ die Natur und die menschliche Natur als voneinander unabhängige und ursprüngliche Entitäten existierten, verschiebt sich diese Beziehung in der „modernen episteme“. Der Mensch wird zum Subjekt und lernt, die Natur zu beherrschen und sich ihre Gesetze zu Nutze zu machen (Foucault 1974, S. 375). In diesem „Wissenssystem“ ist der Mensch völlig neu zur Natur positioniert und wird dadurch zum Gegenüber seiner Grenzen, den biologischen, den ökonomischen etc. Im Kontext seiner Grenzen wird der Mensch souverän – er ist ihnen nicht mehr ausgeliefert, sondern wird zu ihrem Gestalter, zu einem sich an diesen abarbeitenden und sie überwindenden Subjekt. Der epistemische Bruch korreliert mit einer fundamentalen Erfahrung von Knappheit, die einer, im Verhältnis zu den verfügbaren Ressourcen, zu großen Bevölkerung geschuldet ist. Die Erfindung der Arbeit, das Streben nach Wachstum (wie auch die Wachstumskritik), reihen sich in die historische Gleichzeitigkeit ein. Zwischen diesen Tendenzen besteht eine ursprüngliche Verbindung:

3Als

episteme bezeichnet Foucault ein epochenspezifisches Wissenssystem, dass „die Bedingungen definiert, unter denen jegliches Wissen möglich ist“ (Foucault 1974, S. 213).

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„Die Arbeit, das heißt die ökonomische Aktivität, ist tatsächlich in der Geschichte der Welt nicht vor dem Tag erschienen, an dem die Menschen zu zahlreich waren, als daß sie sich von den spontanen Früchten der Erde hätten ernähren können. (…) Je mehr die Bevölkerung sich vermehrte, um so mehr mußten neue Streifen der Erde abgeholzt, gerodet und kultiviert werden“ (Foucault 1974, S. 314).

Infolge des neuen Mensch-Umwelt-Verhältnisses tritt der Ressourcenbegriff bereits im Kontext ökonomischer und politischer Probleme auf: Es geht um ein fokussiertes Gleichgewicht zwischen dem Wachstum der Bevölkerung und dem der ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen (Foucault 2019, S. 31). In dieses Paradigma lassen sich die Theoretiker der ersten ökologiezentrierten Nachhaltigkeitstradition einordnen: Der als „Erfinder der Nachhaltigkeit“ geltende Hannß Carl von Carlowitz setzt sich in seiner Abhandlung Sylvicultura Oeconomica mit der bedrohlich werdenden Knappheit der Ressource Holz auseinander. Die damalige Krise war die Folge eines steigenden industriellen Bedarfs an Holz, das vor allem für den Bergbau gebraucht wurde (Grober 2010, S.  111  ff.). Carlowitz erkannte die Notwendigkeit einer „Conservation“ (Bewahrung) und eines „Anbau[s]“, der eine „nachhaltende Nutzung“ des Holzes ermöglicht (Carlowitz 2009, S. 69)4. Für ihn galt das Primat eines Gleichgewichts zwischen Holzan- und -abbau, dem das industrielle Begehren notwendigerweise unterstellt werden muss. In seinem Essay on the Principles of Population von 1789 vertritt Thomas Malthus die These, in der Natur entstehe zwangsläufig ein Ungleichgewicht zwischen arithmetisch (im Verhältnis schwächer) wachsenden Nahrungsmittelbeständen und einer, aufgrund des starken menschlichen Sexualtriebs, geometrisch (im Verhältnis stärker) wachsenden Bevölkerung (Malthus 1798/1998, S. 4). Das Gleichgewicht zwischen den beiden Variablen werde früher oder später durch die natürlichen Ausgleichsmechanismen, „positive checks“5 (ebd., S. 31), wiederhergestellt. Ein Beispiel für die Funktion und Hartnäckigkeit dieser „Gleichgewichtsdeterminante“ ist der von Malthus beschriebene Hunger in den unteren Schichten, der nicht durch eine Umverteilung des Reichtums kompensiert werden könne. Eine solche Maßnahme wäre laut Malthus höchstens kurzfristig erfolgreich, denn durch die Bekämpfung des Hungers werde die Bevölkerungsgröße, durch vermiedene Tode, aufrechterhalten, die Nahrungsmittelknappheit durch die stärker wachsende Bevölkerung zusätzlich verschärft und Hungertote eine langfristig unvermeidbare Folge. Aus diesem Grund solle das Wachstum nicht künstlich aufrechterhalten werden (ebd., S. 23 ff.). Der amerikanische Diplomat George Perkins Marsh bemerkte bei seinen Reisen durch die „alte Welt“ (v. a. den Nahen Osten und Europa) massive Eingriffe des Menschen in die Natur, die sich auch im damals jungen Amerika abzuzeichnen begannen. Seine Beobachtungen veranlassten ihn zu einer Kritik

4Die

Seitenzahlen beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis als Quelle angegebene ReprintAusgabe der Originalen Erstausgabe von 1713. 5Mit „positive checks“ sind zum Beispiel Hungersnöte gemeint, die das labile Ungleichgewicht zwischen Nahrungsmitteln und Bevölkerung wieder nivellieren.

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an der menschlichen, vor allem der kolonialistischen Gier, die zu einer folgenreichen Übernutzung natürlicher Ressourcen, zu einer Zerstörung der Natur und damit des natürlichen Gleichgewichts geführt habe und weiterhin führen werde. 1864 publizierte er seine empirisch gestützte Fundamentalkritik Man and Nature, in der er schon damals klimatische Veränderungen, sogar das Aussterben der Spezies homo sapiens für den Fall prognostizierte, dass die Natur wie gehabt verbraucht würde (Wulf 2016, S. 357 ff.; Ott und Döring 2004, S. 26 f.). Marsh propagierte dementgegen ein Leben vom natürlichen Überschuss, den Zinsen der Natur, nicht vom Naturkapital (Ott und Döring 2004, S. 27). Am Beispiel dieser Theoretiker kristallisieren sich zwei Kernpunkte im Nachhaltigkeitsverständnis des Knappheitsparadigmas heraus: Zum einen der monodimensionale Fokus auf die Ökologie. Zum anderen ein idealisiertes natürliches Gleichgewicht zwischen den ökologisch relevanten Handlungen einer Bevölkerung und der ökologischen Ressourcenbasis. Gemeinsam ist den Analysen ebenfalls eine Kritik am Wachstum des Holzabbaus, der Bevölkerung bzw. dem Versuch ihr Wachstum wider natürlicher Determinanten beizubehalten und am Raubbau an Ressourcen. Da Wachstum in der einen oder anderen Form den ausreichenden Grundbestand der Natur bedroht, ist es in allen Überlegungen der Grund für die Krise. Die Lösung zielt stets darauf, den anthropogenen Wachstumsbestrebungen die Grenze eines natürlichen Wachstums aufzuerlegen. Geradezu kontradiktorisch stehen dem Nachhaltigkeitsbegriff erster Tradition die immense thematische Vielfalt und der Glaube an ein problembeseitigendes Wachstum der zweiten Tradition gegenüber. Mit der Verhandlung des Nachhaltigkeitsbegriffs in der internationalen Politik, deren Beginn mit dem 1987 erschienenen WCED6-Report „Unsere gemeinsame Zukunft“ datiert wird7 (Gottschlich 2017, S. 70), verändert sich die schwerpunktmäßige Ausrichtung des Diskurses zu dem Versuch hin, Nachhaltigkeit, nun Sustainable Development, unter der Grundannahme einer möglichen Systemintegration als ganzheitlichen Lösungsansatz zu konzipieren, was den Begriff zum Sammelbecken unterschiedlichster Diskurse macht. Diese Tendenz zeigt sich im WCED-Bericht bereits an der Kompatibilitätsbehauptung der Diskurse Sustainability und Development (Stickler und Eblinghaus 1996, S. 36). Sustainable Development wird der zentrale Signifikant eines neuen Diskurses, um den herum sich die Anforderungen an das Abstraktum einer Entwicklung, die nachhaltig sein soll, gruppieren – im WCED-Bericht sind dies konkret „Bewahrung der Umwelt, Herstellung sozialer Gerechtigkeit und Gewährleistung politischer Partizipation“ (Michelsen und Adomßent 2014, S. 12 f.), die durch die drei

6World

Commission on Environment and Developmet (WCED) auch unter dem Namen Brundtland Kommission bekannt. 7Der WCED-Bericht ist fraglos unter dem Einfluss mehrerer an sich bedeutsamer Vorgängerberichte entstanden, vor allem zu nennen sind „Das Überleben sichern“ von 1980 und „Die gemeinsame Sicherheit“ von 1982. Allerdings fand die bis heute wirkmächtige internationale Prägung des Nachhaltigkeitsdiskurses erst mit dem Bericht der WCED-Kommission statt, weswegen diese Vorläufer hier keine weitere Rolle mehr spielen sollen (ebd.).

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konstitutiven Bereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales hindurch realisiert werden sollen (Grober 2017, S. 41). Das übergeordnete Ziel im Sustainable Development-Diskurs ist die Verfolgung der sozialen Frage (Ott 2016, S. 65), die auch bei der Legitimation praktischer Maßnahmen einen hohen Stellenwert hat. Auf dem Gipfel von Rio 1992 wird Sustainable Development zum globalen Leitbild des 21. Jhd. erklärt und entlang von fünf Dokumenten weiter ausdifferenziert. Unter anderem werden dort die Industrienationen als Hauptverursacher der Umweltprobleme benannt, woraus ein Recht der „Entwicklungsländer“ auf weitere Entwicklung abgeleitet wird (Grober 2010, S. 265; Kopfmüller und Grunwald 2006, S. 23). Die ­ Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 beinhaltet acht bis 2015 zu erreichende Millenium Development Goals (MDGs), deren Schwerpunkt auf Armutsbekämpfung, Friedenserhaltung und Umweltschutz liegt (Pufé 2014, S. 56 ff.). Trotz der größtenteils gescheiterten Zielvorgaben wird die Erklärung schließlich zur Basis der noch ausdifferenzierteren Agenda 2030, die mit 17 Sustainable Development Goals (mit 169 Unterzielen) den bisherigen Höhepunkt konzeptueller Komplexität zeitigt. Die Irritation, auf ein verfehltes Ziel mit fortlaufender Konzepterweiterung und -korrektur zu reagieren, statt dieses in seinen Prämissen zu kritisieren und zu erneuern, ist programmatisch für diese Nachhaltigkeitstradition und verweist auf den ihr zugrunde liegenden starken politischen Integrationswillen. Denn das Leitbild Sustainable Development hat seit dessen öffentlichkeitswirksamer Etablierung durch die WCED-Kommission zwar eine dimensional gerahmte, inhaltliche Vervielfältigung erfahren, der schwer zu fassende „Containerbegriff“ (Arts 1994, S. 6) hat sich aber in keiner Weise vereindeutigt – vielmehr besteht eine konstitutive Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit (Stickler und Eblinghaus, S. 37). Ein weiteres Merkmal der zweiten Nachhaltigkeitstradition ist die hohe Bedeutung des Wirtschaftswachstums in der Lösungsstrategie. Dieses wird im WCED-Bericht als Verbindungsglied verschiedener Teildiskurse eingeführt: Es soll die globale Bedürfnisbefriedigung garantieren, das Nord-Süd-Gefälle in der Wohlstandsverteilung beseitigen, die Umweltzerstörung aufgrund von Armut beenden, dadurch auch das Wachstum der Weltbevölkerung drosseln und auch umweltschädliche Nebenwirkungen durch Innovationen langfristig von sich entkoppeln (ebd., S. 73 ff.). Auch in der Agenda 2030 findet sich die unteilbare Trias von Armutsbekämpfung (als Hauptziel), Umweltschutz und Ökonomie – die Beendigung von „Armut in allen ihren Formen und überall“ (SDG 1), die Erreichung eines „[d]auerhafte[n], inklusive[n] und nachhaltige[n] Wirtschaftswachstum[s]“ (SDG 8) und die „Bekämpfung des Klimawandels“ (SDG 13) (United Nations 2015, S. 15). Auch hier bleibt der Kritikpunkt einer möglichen ebenbürtigen Verwirklichung der sich widersprechenden SDGs 8 und 13 erhalten (Luks 2018, S. 8). Trotz eines vorhandenen Problembewusstseins im Bericht – es wird „die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung“ angestrebt – bleibt wirtschaftliches Wachstum als Teil der Bekämpfung von Armut bestehen, vor allem „in den am wenigsten entwickelten Ländern“ soll „ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 7 Prozent (…) aufrechterhalten“ werden (United Nations 2015, S. 20 f.). Der Kern des Nachhaltigkeitsbegriffs zweiter Tradition ist das

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Leitbild Sustainable Development, dessen Eigenschaft als integrierender Konsensbegriff schon in der politisch unverbindlichen WCED-Definition angelegt ist (Stickler und Eblinghaus, S. 49). Verglichen mit dem Nachhaltigkeitsbegriff erster Tradition sind zwar auch hier intra- und intergenerationelle Gleichgewichtsbestrebungen zwischen Ressourcen und Bevölkerung erkennbar, allein durch den Fokus auf Armutsbekämpfung ist der Ressourcenbegriff jedoch deutlich weiter zu fassen und schließt neben natürlichen, ökologischen Ressourcen, wie Nahrungsmitteln, z. B. auch den Zugang zu Bildung und Gesundheit mit ein (United Nations 2015, S. 15). Die dem Nachhaltigkeitsbegriff erster Tradition inhärente Wachstumskritik ist auch in der zweiten Tradition des Nachhaltigkeitsbegriffs Bestandteil der Problemanalyse, aber weder im WCED-Bericht noch in den SDGs ein konsequenter Teil der konkreten Handlungsschritte (Stickler und Eblinghaus, S. 61 f.; United Nation 2015, S. 20). Vielmehr wird Wirtschaftswachstum in Verbindung mit Ressourceneffizienz, technologischer Modernisierung und Innovation zum wirkungsvollen Mittel gegen das Knappheitsproblem erklärt (ebd., S. 20 f.). Die Akzeptanz natürlicher Grenzen und der vertretene Anspruch, das problematisierte Wachstum an einem natürlichen Fixpunkt zu stoppen, statt es systemintern zu entschärfen, macht den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Traditionen aus.

2.2 EMAS und Umweltmanagement 2.2.1 EMAS allgemein Beim Eco-Management and Audit-Scheme (EMAS) handelt es sich um ein ­Umweltmanagement- und Öko-Audit-System der Europäischen Union. Das Instrument wurde 1993 entwickelt und ist als direktes Ergebnis der 1992 auf dem Gipfel von Rio beschlossenen praktischen Maßnahmen einzuordnen (BMU 2002, S. IV–V). Die dem Instrument zugrunde liegende Annahme ist, dass unternehmerisches Management den Bereich der Ökologie (bzw. des Sozialen in Sozialmanagementsystemen) in das Feld der Ökonomie integrieren, also im Hinblick auf eine möglichst starke Gewinnbringung verwertbar machen kann. Mit EMAS wird kein universeller Nachhaltigkeitsansatz verfolgt – die einzelnen Säulen der Nachhaltigkeit werden vielmehr mit spezifischen Konzepten zielgerichtet zu adressieren versucht (BMU 2002, S. V–VI, 115). EMAS basiert auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit. Es soll seine Wirkung demnach nicht restriktiv entfalten, sondern als marktorientiertes Instrument, bei dem der gesetzte Anreiz der Nachfrage nach EMAS-Zertifikaten auf dem Markt entspricht (Machmer 1996, S. 14). Im EMAS-Prozess wird in Unternehmen ein Managementsystem etabliert, das in der nachweislichen „Existenz und Wirksamkeit von Unternehmensleitbild, Umweltschutzzielen, Umsetzungsprogrammen, Organisation und Umwelterklärung“ (Schaltegger und Sturm 1995, S. 5) besteht, welche dann in einer internen und einer externen Betriebsprüfung erst kontrolliert (Audit) und schließlich durch eine Zertifizierung bestätigt werden (ebd., S. 3 ff.).

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Zu Anfang nimmt der Betrieb eine zweiteilige Umweltprüfung vor, die aus einer Prüfung direkter und indirekter Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit auf die Umwelt und einer Prüfung der unternehmensspezifischen Umweltvorschriften besteht. Hierauf folgen Zielformulierungen in der Form einer Umweltpolitik und eines Umweltprogramms, die dem UMS zugrunde gelegt werden und deren Umsetzung schrittweise dokumentiert werden muss. Das implementierte System wird dann bei Umweltbetriebsprüfungen wiederkehrend auf seine Funktionsfähigkeit getestet. In einer extern überprüften Umwelterklärung muss daraufhin öffentlich Transparenz hergestellt werden. Es wird weiterhin geprüft, inwieweit selbst gesteckte Ziele von den Unternehmen realisiert wurden. Bei positivem Ausgang dieses Validierungsprozesses wird das Unternehmen schließlich in offiziellen und öffentlichen Datenbanken registriert. EMAS sieht eine intensive Berücksichtigung der Beschäftigten im ganzen Prozess, die individuelle Eignung des etablierten Managementsystems für den Betrieb und die konsequente Integration des Systems mit seinen Werten in die alltäglichen Unternehmensprozesse vor (EMASa). EMAS ist ein Instrument des zweiten, politischen Nachhaltigkeitsbegriffs: Der Umweltgutachterausschuss beschreibt EMAS als „Kerninstrument des nachhaltigen Wirtschaftens“ (UGA 2017, S. 2) sowie als „weltweit anspruchsvollste[s] System für nachhaltiges Umweltmanagement“ (EMASb, Herv. i. O.). In der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, der nationalen Ausarbeitung der von den Vereinten Nationen verabschiedeten Agenda 2030, legt die Bundesregierung bis zum Jahr 2030 unter anderem das Ziel fest, die Standorte der Unternehmen mit implementiertem EMAS-System auf eine Anzahl von mindestens 5000 zu erhöhen. EMAS dient hier gleichermaßen als Ideal und als Indikator für „nachhaltige und Konsum- und Produktionsmuster“ – einem Teilziel des SDG 12 (Bundesregierung 2018, S. 56). Die Relevanz von EMAS im Feld der Nachhaltigkeit besteht in dem Praxisbezug des Instruments. Dies hebt auch der Umweltgutachterausschuss hervor: EMAS sei gerade keine unverbindliche Formulierung eines Leitfadens zur Nachhaltigkeit, wie beispielsweise die ISO 2600 – EMAS zeichne sich dadurch aus, dass es „präzise und qualitativ hochwertige Anforderungen an die Umweltleistung“ (UGA 2011, S. 1 f.) der Unternehmen stellt.

2.2.2 EMAS und Nachhaltigkeit Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die bisher getätigte Forschung im Feld der Nachhaltigkeit zu EMAS bzw. Umweltmanagementsystemen (UMS) gegeben. Nahezu alle hier betrachteten Autoren stimmen in dem Punkt überein, dass UMS wie EMAS bezogen auf Umweltschutz und Nachhaltigkeit (noch) keine passgenauen Instrumente darstellen. Die Analyseergebnisse teilen sich darüber hinaus in zwei Lager auf, von denen das eine grundsätzlich an die Möglichkeit einer wirksamen EMASbzw. ­ UMS-Variante glaubt. In ihrer Kritik benennen diese Autorinnen und Autoren vordergründig systematische Lücken, die ein ideales Funktionieren verhindern. Das zweite Lager argumentiert eher aus einer Außenperspektive, die den Grund für den ausbleibenden Erfolg von EMAS bzw. den UMS in der Schwierigkeit für Unternehmen

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sieht, eine umweltverträgliche Wirtschaftsweise mit der Logik der Gewinnmaximierung zu vereinbaren. Umweltmanagement als verfehlter Ansatz Für Georg Müller-Christ (2001/2010) ist ein wesentliches Problem von UMS deren Rolle als Vermittler zwischen der unternehmerischen Notwendigkeit wachsende Gewinne zu erzielen und den (umweltbezogenen) Ansprüchen anderer Akteure, z. B. der Gesellschaft. Dieser Interessenkonflikt sei all jenen Instrumenten inhärent, was zu fallspezifischen Abwägungen führe (Müller-Christ 2001, S. 532 f.). Unternehmen seien stets der Problematik der „Überkompensation“ unterworfen, also der Unmöglichkeit, ihr grundlegendes Ziel, wirtschaftliches Wachstum zu erzielen, vom Ressourceneinsatz zu entkoppeln (ebd., S. 533 ff.; Müller-Christ 2010, S. 236 f.). Das Motiv der dominanten Unternehmenslogik spiegelt sich auch in der Untersuchung von Günter Kerschbaummayr und Sebastian Alber (1996). Die Autoren untersuchen Qualitäts- und Umweltmanagementsysteme und kommen zu dem Schluss, dass „Umweltmanagement heißt, den Stakeholdern entsprechende Befriedigung zu leisten“ (Kerschbaummayr und Alber 1996, S. 297, Herv. i. O.) – somit verweise auch der Begriff der „Umwelt“ tatsächlich nur auf die „Anspruchsgruppen eines Unternehmens“ (ebd., S. 296). Dem folgend habe die Einrichtung eines UMS primär strategische Gründe. Zu diesem Schluss kommt auch eine im Bundesland Hessen durchgeführte Begleitforschung zu Beginn der Einführung von EMAS. Diese ergab, dass sich die reale Wirkung von EMAS hauptsächlich auf die umweltbezogene Rechtstreue von Unternehmen beschränkt (siehe auch Albrecht 2007, S. 312). Zudem sei EMAS ein gutes Instrument, um unternehmerische Rationalisierungspotenziale im thematischen Spektrum des Instruments auszumachen (Schwaderlapp 1999, S. 160 f.). Umweltmanagementsysteme als Instrument mit Potenzial Dementgegen attestiert Jürgen Freimann (2011) EMAS das Potenzial Wirkungen im Umweltschutz zeitigen zu können. Verhindert werde dies lediglich durch die ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Bedingungen: Um erfolgreich wirken zu können, brauche ein UMS die (marktwirksame) kollektive Anerkennung der Umweltproblematik (Freimann 2011, S. 167 f.). Justus Engelfried (2011) kommt zunächst zu dem Schluss, dass die UMS EMAS und ISO 14001 nicht als nachhaltig zu bewerten seien, spricht sich aber für eine Weiterentwicklung der Konzepte aus, insbesondere dafür, die Bewertung von Produkten miteinzubeziehen (siehe auch Ensthaler et al. 1996, S. 193). Die Bedingung einer nachhaltigen Unternehmensführung sei Ganzheitlichkeit, also die Übertragung der Prinzipien des nachhaltigen Umweltmanagements auf die Dimensionen der Ökonomie und des Sozialen (Engelfried 2011, S. 228 ff.; ähnlich Kerschbaummayr und Alber 1996, S. 297). Ebenso sprechen Jürgen Ensthaler et al. (1996) EMAS nach dem Ausräumen einiger Schwachstellen das Potenzial zu, als glaubwürdiges Instrument ein umweltfreundliches Verhalten auf dem Markt etablieren zu können. Es wäre beispielsweise sinnvoll, wenn ein EMAS-zertifiziertes Unternehmen diese Auszeichnung für all

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seine Standorte geltend machen könnte, auch wenn die Überprüfung nur an einem Standort erfolgt ist. Die Autoren räumen dennoch ein, dass zur Bewältigung der komplexen Umweltproblematik weit mehr Maßnahmen benötigt würden, als ein UMS (Esthaler et al. 1996, S. 193 f.). Christine Geiger (1996) moniert an EMAS die fehlende Konkretisierung anhand von praxisleitenden Schritten. Erfolgversprechend sei das Instrument weiterhin nur dann, wenn die Durchführung von einem unternehmerischen Verantwortungsbewusstsein begleitet wird (Geiger 1996, S. 36 f.). Ähnlich merkt Rolf Schwaderlapp (1999) an, ein wirksames UMS funktioniere nicht bei starren Hierarchien, sondern nur unter Einbezug der Mitarbeiter und vor allem der Bewahrung individuell gestaltbarer Freiräume bei der Durchführung (Schwaderlapp 1999, S. 244). Es lässt sich zusammenfassen, dass in der Forschung zu EMAS bzw. zu UMS überwiegend Lücken zwischen dem Status quo und einem Idealzustand identifiziert werden oder versucht wird, die Unmöglichkeit eines wirksamen UMS zu begründen. Für die hier formulierte Forschungsfrage liefern diese Ergebnisse bereits wertvolle Erkenntnisse über entscheidende Aspekte und mögliche Schwachstellen von EMAS. Die betrachteten Studien lassen sich grob nach zwei Analyseperspektiven ordnen: Einer ganzheitlichen (Welches mögliche oder unmögliche Verhältnis besteht zwischen den Umweltmanagementsystemen und deren Umwelt?) und einer Analyse der unternehmerischen Sicht auf die Systeme (Was motiviert Unternehmen zur Teilnahme?). Gemeinsam ist allen hier miteinbezogenen Betrachtungen die Analysekategorie der Freiheit, die stets in Beziehung zum Bewertungsergebnis steht. Unternehmen sind etwa unfrei sich von ihrem natürlichen Drang zur Gewinnmaximierung zu loszusagen. An anderer Stelle wird der Erfolg der Systeme an die richtige Nutzung des ihren Nutzern gegebenen Freiraums gekoppelt – dieser müsse verantwortungsvoll genutzt werden. Von besonderem Interesse ist in der hier vorgelegten Studie darum die Frage: An welcher Stelle werden aus welchem Grund Freiräume gelassen und welche Möglichkeiten diese zu nutzen werden nahegelegt? Bemerkenswert ist außerdem, dass unabhängig von Für- oder Widerspruch, in den Studien jeweils ein theoretischer, teils nicht artikulierter Nachhaltigkeitsbegriff vorausgesetzt wird, der für EMAS bzw. UMS, je nach Analyseergebnis, in erreichbarer Nähe oder unerreichbarer Ferne liegt. In der folgenden Rekonstruktion soll keine dieser Perspektiven eingenommen werden. Vielmehr soll Nachhaltigkeit als eine Anlage zur Praxis verstanden werden, die notwendigerweise einen eigenständigen praktischen Begriff bildet, der nicht bloß über die Beziehung zu einem theoretischen Ideal, sondern davon unabhängig existiert.

3 Formaltheoretische Fundierung 3.1 Ontologische Reflexion Der methodologische Zugang zur Forschung baut maßgeblich auf der hier angelegten Bedeutung des Wortes „Begriff“, weshalb dieses nun in einer kurzen ontologischen Reflexion näher bestimmt wird. Nach einer groben theoretischen Fundierung werden die

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methodologischen Implikationen des Wortes „Begriff“ auf die beiden kursiv gesetzten Teile der Forschungsfrage rückbezogen: Welcher Nachhaltigkeitsbegriff wird durch das Umweltmanagementsystem EMAS in die unternehmerische Praxis teilnehmender Betriebe integriert?

Zunächst ist mit „Begriff“ ein Wort gemeint, das eine Bedeutung hat. In der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures (1967) ist die Welt ein System von sich unterscheidenden Zeichen, die einerseits „Einheiten“, andererseits aber auch gespalten sind, und zwar in „Signifikant“ (Wort/Bezeichnendes) und „Signifikat“ (Bedeutung/Bezeichnetes) (ebd., S. 145). Der Signifikant und das Signifikat gehören nicht natürlicher Weise zusammen, sobald sie aber miteinander verbunden sind, ist ihre „Verbindung ein positives Faktum“ (ebd., S. 144)8. Ein „Begriff“ meint hier allerdings noch mehr als die eindeutig zuordenbare Bedeutung eines Wortes: „Was ist die Beziehung zwischen Namen und Benanntem?“ fragt Ludwig Wittgenstein (1977) und antwortet: „Schau auf das Sprachspiel (…), dort ist zu sehen, worin diese Beziehung etwa besteht“ (Wittgenstein 1977, S. 37 f.). Mit dem Sprachspiel verweist er auf eine Qualität der Wortbedeutung, die über die binäre Wort-Bedeutung-Struktur hinausgeht. Das Sprachspiel meint „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“ (ebd., S. 19). Dem folgend wird der zu rekonstruierende Begriff von Nachhaltigkeit nicht als lautbildlicher Ausdruck einer bestehenden Tatsache verstanden, sondern als Signifikant, der in (zu rekonstruierende) Bedeutung gebende Sprach- und Handlungsbeziehungen eingelassen ist (Signifikat), die er repräsentiert. Die durch den Signifikanten verkörperte BedeutungsKonstellation ist dabei aber weder über die Zeit hinweg universell noch für die unterschiedlichen Akteure in einer bestimmten Epoche. Methodologisch bedeutet das, den Blick auf Ähnlichkeits- und ­Abgrenzungs-Beziehungen des Nachhaltigkeitsbegriffs zu den diesen umgebenden Zeichen zu richten. Ausgehend von einer perspektivabhängigen und eben nicht universellen ­Zeichen-Ordnung folgt daraus weiterhin, ein möglichst eindeutiges Analyseobjekt abzustecken, die unternehmerische Praxis EMAS-teilnehmender Betriebe, das die vom Nachhaltigkeitsbegriff repräsentierte Bedeutungskonstellation, das Signifikat, fixiert. Die Forschung geht also beispielsweise über eine aufgefundene Definition von „Nachhaltigkeit“ als „umweltfreundliches Wirtschaften“ hinaus und ist erst abgeschlossen, wenn deutlich wird, dass „Umweltfreundlichkeit“ aus der die Forschung interessierenden Perspektive zwar einen Verzicht auf Kohlestrom meint, sich aber nicht auf die geografische Entfernung der Handelspartner bezieht.

8So

wird einerseits in verschiedenen Sprachen mit verschiedenen Wörtern dasselbe bezeichnet, andererseits sind die Paare aus Signifikant und Signifikat innerhalb von Sprachgemeinschaften relativ fest verbunden (ebd., S. 83 f.). Z. B. war B ­ -A-U-M in deutschsprachigen Ländern schon lange Zeit der lautbildliche Ausdruck einer bestimmten Pflanzenart und wird es vermutlich auch in Zukunft sein.

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3.2 Epistemologie Aus Gründen der Würdigung und der Offenlegung der für die Forschungsperspektive maßgeblichen Theorien ist es ein notwendiger Bestandteil sozialwissenschaftlicher Forschung, den Einfluss theoretischer Vorarbeiten auf die Forschungsperspektive zu reflektieren. Die theoretische Annahme, die hier dem allgemeinen Sozialen zugrunde gelegt wird, ist die Theorie des Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead und Herbert Blumer, nach der Subjekte an der Konstitution ihrer Wirklichkeit beteiligt sind (Keller 2012, S. 105). Bedeutung entsteht wechselseitig durch sich wiederholende individuelle Deutungen einer interaktiv vermittelten Wirklichkeit (Interaktionismus). Der Begriff symbolisch verweist auf das für Interaktion notwendige Symbolsystem, zuvorderst Sprache, das Deutungen und individuelle Sinnzuschreibungen durch Interpretationen erst ermöglicht (Denzin 2017, S. 137 ff.). Das, was Menschen letztendlich als Welt, Wissen oder Wahrheit empfinden, ist also interaktiv, sozial vermittelt und nicht a priori vorhanden. In der „Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ beschreiben Peter Berger und Thomas Luckmann (2016) Gesellschaft als einen „dialektischen Prozess“ aus „Externalisierung, Objektivation und Internalisierung“ (ebd., S. 139). Objektivationen sind Begriffe, Praktiken, Symbole etc., die ein bestimmtes Wissen bzw. eine bestimmte Praxis verkörpern und somit bereits vorausgehende (individuell externalisierte) Interaktionen in sich tragen und, bedingt durch die „Weltoffenheit“ der Subjekte, als objektive gesellschaftliche Bestandteile wieder aufgenommen (internalisiert) werden (ebd., S. 139). Eine sozial konstruierte Wirklichkeit, die durch wiederkehrende subjektive Deutungen reproduziert und modifiziert wird, läuft jeder Behauptung gesellschaftlicher Zwangsläufigkeiten entgegen. Eher entspricht der Eindruck unhintergehbarer Wahrheit einer besonders dominanten Objektivation, einer „hegemonialen“ Konstellation des Sozialen, die zwar den Anschein von Alternativlosigkeit vermitteln kann, tatsächlich aber nur die temporär erfolgreiche Verdrängung differenter Positionen darstellt (Mouffe 2018, S. 100 f.). Für die Sozialwissenschaften muss darum der Anspruch bestehen, solche Erscheinungen in ihrer sozialen Bedingtheit zu rekonstruieren. Die Durchführung einer neutralen Forschung wird dabei jedoch durch die soziokulturelle Prägung der rekonstruierenden Subjekte erschwert. Als Lösung dieses Problems schlägt Jean Piaget vor, durch die Offenlegung der eigenen Prägung die Forschung in das Licht entscheidender Einflussfaktoren zu stellen (Piaget 1985, S. 10 f.).

3.3 Ethische Positionierung – zur Notwendigkeit einer Wachstumsalternative Sowohl um Transparenz herzustellen als auch, um eine normative Basis für die kritische Einordnung der Forschungsergebnisse zu schaffen, folgt nun eine ethische Positionierung des Forschers im Nachhaltigkeitsdiskurs. In diesem Unterkapitel

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wird die gesellschaftliche Notwendigkeit formuliert, eine Alternative zum derzeit dominanten Dogma des Wirtschaftswachstums zu finden. Hierfür wird zunächst aus einer gesamtsystematischen Perspektive und daran anschließend aus einer auf das Subjekt gerichteten Perspektive argumentiert. Eine der Leitthesen des Wachstumskritikers Niko Paech (2012) besteht in der Annahme, dass „sich unser Wohlstand einer umfassenden ökologischen Plünderung verdankt“ (Paech 2012, S. 13). Das heutige Wohlstandsniveau sei gerade nicht der über die Zeit immer innovativer und effektiver gewordenen menschlichen Leistungskraft zuzurechnen – vielmehr sei der von der Menschheit erzielte „Fortschritt“ in erster Linie die immer effektivere ökologische Ausbeutung bzw. Umsetzung natürlicher Ressourcen in gesellschaftlichen Wohlstand (ebd., S. 56–57). Der institutionalisierte Ausdruck dieser Strategie der Wohlstandssteigerung ist das Streben nach Wirtschaftswachstum, das aber zunehmend an die ökologischen Grenzen des Planeten stößt. Wie eng das Wirtschaftswachstum und die Produktion ökologischer Schäden zusammenhängen, zeigte die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 eindrücklich: In dieser Zeit sorgte „[n]icht etwa höhere Ressourceneffizienz oder beschleunigtes Umsteigen auf erneuerbare Energien, sondern ökonomisches Minuswachstum (…) für einen Rückgang klimaschädlicher Emissionen“ (Dörre 2013, S. 150). Der zitierte Klaus Dörre verweist hier nicht nur auf den bestehenden Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung, den der Club of Rome bereits 1972 starkmachte, sondern wendet sich implizit auch gegen ein modernes Narrativ, das unter anderem als „grünes Wachstum“ bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um den Irrglauben, es sei durch eine geschickte Transformation der Wirtschaft, z. B. durch ressourcenreduzierte Produktionsmethoden, möglich, gleichzeitig das Wachstum der Wirtschaft voranzutreiben und die Umwelt nachhaltig zu schützen oder zu bewahren. Der tief in den heutigen globalen Klimastrategien verwurzelten Vorstellung, die ökologische Krise könne durch eine solche „relative“ oder gar „absolute Entkopplung“ ökologischer Schäden vom Wirtschaftswachstum gelöst werden, wird beispielsweise von sogenannten Rebound-Effekten verhindert, deren Auftreten in einer wachstumsbasierten Wirtschaft nahezu unumgehbar ist: Ein geringerer Ressourcenverbrauch kann nicht ökologisch relevant werden, da das gesparte Geld vom Unternehmen andernorts wieder eingesetzt wird, um z. B. mehr zu produzieren – erreicht wird also lediglich eine Verschiebung der Klimaschäden (ebd., S. 71 ff.; Paech 2017, S. 41 f.). Die Ursache der ökologischen Krise ist also auf einer gesamtsystemischen Ebene zu verorten und muss dementsprechend auch ganzheitlich bearbeitet werden. Neben dem Streitpunkt, ob eine systemimmanente Lösung ökologischer Probleme möglich ist oder nicht, ist es weiterhin fraglich, ob andauerndes Wirtschaftswachstum der Menschheit überhaupt noch (weiteren) Wohlstand beschert oder, ob es sich der „strukturelle[] Wachstumszwang“ (Dörre 2013, S. 149) nicht eher in einer von diesem Ziel entfremdeten Eigendynamik fortbewegt. Diese Frage würde der Philosoph Byung-Chul Han (2010) wohl zugunsten der letzteren Deutung auflösen.

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Das häufige Auftreten neuronaler Krankheiten sieht er als das Symptom eines spezifischen gesellschaftlichen Leidens der Menschen im 21. Jahrhundert – dieses Zeitalter sei von einem „Übermaß an Positivität“ (Han 2010, S. 7) bestimmt. Das moderne Subjekt gleiche schon lange nicht mehr dem foucaultschen „Gehorsamssubjekt“ in einer „Disziplinargesellschaft“, sondern viel eher einem „Leistungssubjekt“ in einer „Leistungsgesellschaft“ (ebd., S. 19). Es sei nicht mehr „das Verbot“, an dem sich die Handlungen der Subjekte ausrichten und abarbeiten: Das moderne „Leistungssubjekt“ hat die zuvor äußeren „disziplinären Maßnahmen“ verinnerlicht, es arbeitet eigeninitiativ und diszipliniert sich freiwillig, ohne von jemandem gezwungen zu werden (ebd., S. 20 f.). Dadurch verändere sich auch die Art und Weise, in der moderne Subjekte in die Gesellschaft eingebunden sind, genauer, die Kriterien, nach denen sich eine legitime Zugehörigkeit der Subjekte zur Gesellschaft entscheidet. Das früher gesellschaftlich dominante „Verbot“ brachte „Verrückte und Verbrecher“ als gesellschaftlich Ausgestoßene hervor. Der heute kollektiv verinnerlichte Fokus auf Leistung produziere dagegen „Depressive und Versager“ (ebd.). Während die theoretische Position der Wachstumskritik auf die Unmöglichkeit eines ökologisch verträglichen Wachstums hinweist, zeigt Han eindrücklich, welche subjektiven Formen und Auswirkungen der Wachstums- und Produktivitätszwang hervorrufen. Wir befinden uns gesamtgesellschaftlich in einem, erstens, vom ursprünglichen Ziel der Wohlstandsmehrung und Arbeitserleichterung entfremdeten, geradezu ins Gegenteil verkehrten, Prozess, der sich über eine inkorporierte, zum Selbstzweck verkommene Steigerungslogik fortsetzt und zweitens unvermeidbar ökologische Schäden hervorruft. Im Sinne beider gesellschaftlichen Diagnosen halte ich eine dringende Abkehr vom Status quo für unabdinglich und ein Aufrechterhalten der Wachstumslogik nicht nur für fatal, sondern auch für irrational.

3.4 Grounded Theory Als Methode zur Beantwortung der Forschungsfrage bzw. zur Analyse des Datenmaterials soll der qualitative Forschungsansatz der Grounded Theory nach Anselm Strauss (1991) verwendet werden. Der Vorteil dieser Methode liegt in ihrer klaren Grundstruktur von Datenerhebung, Kodieren und Memos schreiben – in der praktischen Anwendung können die drei Teile flexibel kombiniert und auf den Gegenstand angewandt werden. Dabei kann auch Fach- und Kontextwissen9 in die schrittweise Theorieentwicklung einbezogen werden (Strauss 1991, S. 36 f.). Die Grounded Theory eignet sich aufgrund ihrer Offenheit, der „rekonstruktionslogische[n] Orientierung“ (Franke und Roos 2010, S. 285) besonders für das Forschungsvorhaben.

9In

diesem Fall der Überblick über Nachhaltigkeitsbegriffe sowie der Stand der Forschung zu EMAS.

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Der methodisch leitende Kodierprozess setzt sich aus offenem, axialem und selektivem Kodieren zusammen, deren „Ziel (…) ein Zusammenspiel aus Interpretationsvielfalt und kontinuierlicher theoretischer Verdichtung“ (Jasper 2013, S. 45) ist. Beim offenen Kodieren sollen möglichst viele verschiedene, auch abwegige Lesarten der Sequenzen gebildet und daraus Kategorien generiert werden. Im Schritt des axialen Kodierens werden Thesen bezüglich etwaiger Zusammenhänge zwischen den Kategorien gebildet sowie die Kategorien verdichtet, indem deren verschiedene Eigenschaften und deren Zusammenhänge ausgearbeitet werden. Im fortschreitenden Kodierprozess wird deren Plausiblität immer wieder getestet. Abschließend werden im selektiven Kodieren die Kategorien entlang einiger für den Untersuchungsgegenstand besonders zentraler Schlüsselkategorien in eine Ordnung, ein Verhältnis zueinander gebracht – als Form einer ersten Theorie (ebd., S. 45 ff.). Der Theoriebildungsprozess wird zusätzlich durch die ungehemmte Verschriftlichung von Gedanken während des Forschens (Memos) befruchtet (Strübing 2014, S. 33 f.). Theoretisches Sampling heißt das Verfahren zur Materialauswahl – die Suchkriterien bilden in der Analyse unklar gebliebene Sachverhalte bzw. die Konzepte der minimalen oder maximalen Kontrastierung10. In der Grounded Theory wird die Theorie nicht standardisiert gebildet, sondern eine gegenstandsspezifische Herangehensweise befördert, bis zum Punkt der theoretischen Sättigung, bei dem durch das Hinzuziehen neuer Daten keine neuen Kategorien mehr gewonnen werden können (ebd., S. 29 ff.). Für die praktische Anwendung der Methode wurde aufgrund der analyseneutralen Benutzeroberfläche das Programm Microsoft Word verwendet. Aus dem Material ausgewählte Sequenzen wurden in eine Datei eingefügt und mit der Kommentarfunktion verschiedene Deutungen festgehalten (offenes Kodieren) (vgl. Harzbecher 2020, S. 269 ff., 287 ff.) 11. In den Kommentaren häufig auftauchende Motive wurden im Format von Überschriften separat als Kategorien gesammelt, wobei in Klammern die zugehörigen Sequenznummerierungen aufgeführt wurden (axiales Kodieren) (vgl. ebd., S. 279 ff.). Die Kategorien wurden schließlich selektiert, sortiert, gewichtet und zu einer Leitthese (Schlüsselkategorie) verdichtet, aus der dann die zweite Hauptthese und damit die Antwort auf die Forschungsfrage abgeleitet wurde (selektives Kodieren) (vgl. ebd., S. 285 ff.).

10Hier

wurden die EMAS-Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 vom November 2009, mit der zusätzlichen Aktualisierung der ersten drei Verordnungsanhänge von Ende 2017 betrachtet sowie die EMAS Novelle 2019, einer Überarbeitung der EMAS-Verordnung bezüglich der Berichterstattung. Die Wahl fiel auf dieses Datenmaterial, weil es als rechtliche Grundlage die Mindestanforderung für die Unternehmen darstellt. Als Erweiterung zu dieser formalen Textbasis wurde im Forschungsverlauf noch das Dokument des Umweltgutachterausschusses „Gute Gründe für ein Umweltmanagement nach EMAS“ miteinbezogen, um einen Überblick über gängige, gegenüber Unternehmen vorgebrachte Argumente zu bekommen. 11Um bezüglich des methodischen Vorgehens Transparenz herzustellen, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten und zielgerichtete Kritik zu ermöglichen, wurden sowohl die Sequenzen als auch deren interpretative Verarbeitung in einem gesonderten Beitrag veröffentlicht (vgl. Harzbecher 2020).

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4 Befunde Zunächst wird auf der Basis von fünf charakteristischen Motiven die erste Hauptthese ausgeführt, nämlich, dass es sich bei dem UMS EMAS um ein marktlogisches Instrument handelt. Darauf aufbauend wird dann die Forschungsfrage wie folgt beantwortet: EMAS transportiert oder evoziert keinen Nachhaltigkeitsbegriff, sondern stellt ein Instrument zur Erhebung und Implementierung eines je individuellen und flexiblen Nachhaltigkeitsbegriffs dar. Zur Explikation der Thesen werden besonders anschauliche Indikatorsequenzen aus dem Analysedokument zitiert, die jedoch nur einen kleinen Teil der Sequenzen abbilden12.

4.1 EMAS als marktlogisches Instrument Das Hauptergebnis der erfolgten Analyse ist die These, dass es sich beim betrieblichen Umweltmanagement- und Öko-Audit-System EMAS um ein marktlogisch konzipiertes Instrument handelt, diesem also das ökonomische Prinzip von Angebot und Nachfrage13 zugrunde liegt. Die Konsequenz ist eine ergebnisoffene Ausrichtung der enthaltenen Handlungsimplikationen, die aber stets von einer wettbewerbsorientierten, ökonomischen Logik gelenkt wird. In den folgenden Ausführungen der Ergebnisse wird ein Verhalten der Unternehmen nach grundlegenden Wettbewerbs- und Marktinteressen angenommen.

4.1.1 EMAS und Nachhaltigkeit Die Dominanz eines ökonomischen Nachhaltigkeitsverständnisses offenbart sich bereits dadurch, dass EMAS das Konzept des Sustainable Development zentral setzt: So ist es eine Zulassungsvoraussetzung der Umweltgutachter, über „Kenntnisse, einschlägige[] Erfahrungen, und technische Fähigkeiten [im Bereich] (…) der Umweltaspekte und -auswirkungen, einschließlich der Umweltdimension der nachhaltigen Entwicklung“ (EU 2009, S. 12; Seq. 22)

zu verfügen. Wie bereits weiter oben beschrieben, zeichnet sich dieser Begriff vor allem durch die problematische Verbindung des Sustainability- und des ­DevelopmentDiskurses aus. Die dem Sustainable-Development-Begriff definitorisch eingeschriebene

12Vgl.

Harzbecher 2020 für eine vollständige Übersicht über die analysierten Sequenzen und zugehörigen Interpretationen. 13Das Angebot-Nachfrage-Modell hat in der Volkswirtschaftslehre den Stellenwert eines sehr praxis- und realitätsnahen theoretischen Instrumentariums, auf dessen Basis die Struktur des Wettbewerbsmarktes für Unternehmen entscheidungsrelevant erschlossen werden kann (vgl. Krugmann und Wells 2010, S. 70 f.).

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Trias von Ökonomie, Ökologie und Sozialem fällt auch im praxisorientieren Instrument EMAS schwerpunktmäßig zugunsten der ökonomischen Dimension aus: „DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION (…) in Erwägung nachstehender Gründe: (1) Gemäß Artikel 2 des Vertrags hat die Gemeinschaft unter anderem die Aufgabe, in der gesamten Gemeinschaft ein nachhaltiges Wachstum zu fördern. (…)“ (EU 2009, S. 1; Seq. 2)

EMAS wird in dieser Anfangspassage der Rechtsverordnung in den Kontext der Förderung eines nachhaltigen Wachstums gesetzt. Dieses zu fördern sei ein Grund die EMAS-Verordnung zu erlassen, der hier wortwörtlich an erster Stelle steht. Das damit erfolgte Bekenntnis zur zweiten politischen Nachhaltigkeitstradition macht EMAS gleichsam zum Objekt der daran geäußerten Kritik, die sich auch in früheren Untersuchungen von Umweltmanagementsystemen wiederfindet, genauer, des vielfach geäußerten Vorwurfs der Unvereinbarkeit von ökologischer Nachhaltigkeit und wirtschaftlichem Wachstum (vgl. z. B. Müller-Christ 2010, S. 236 f.). Die einleitend formulierte Zielbestimmung von EMAS ist ein Beispiel für die programmatische Dominanz ökonomischer Motive, in der sich die zweite Nachhaltigkeitstradition fortsetzt.

4.1.2 EMAS als indirektes Instrument mit verpflichtenden Freiheiten Im Sinne der ökonomischen Priorität sind bei EMAS auch die Unternehmenspflichten gestaltet. Die Ebene obligatorischer Inhalte besteht primär in den für das jeweilige Unternehmen geltenden Umweltgesetzen. Ein entsprechend gewichtiger Teil von EMAS ist deshalb auch deren Überprüfung gewidmet. Die Gesetztestreue stellt aber weniger eine Teilnahmebedingung dar, als vielmehr das maximale Niveau von den Unternehmen garantiert umgesetzter Ziele. Auch aus unternehmerischer Perspektive bestätigt sich dieser Eindruck. Aus mehreren empirischen Studien geht hervor, dass dieses Instrument von Unternehmen häufig etabliert wird, um die eigene Rechtssicherheit zu gewährleisten (vgl. z. B. Albrecht 2007, S. 312). Die Irritation, die der Widerspruch eines freiwilligen Umweltmanagementsystems mit dem Hauptanspruch der Überprüfung der Gesetzestreue hervorruft, also der Einhaltung des unfreiwillig Auferlegten, wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass EMAS-Unternehmen für diese Überprüfung entschädigt werden: „Die umweltrechtlichen Anforderungen an Unternehmen steigen stetig. Unabhängige Umweltgutachterinnen und Umweltgutachter prüfen intensiv, ob sich ein Betrieb rechtskonform verhält. Für EMAS-Teilnehmende bedeutet dies eine erhöhte Rechtssicherheit und ein geringeres Haftungsrisiko. Bund und Länder honorieren das: Sie räumen registrierten Organisationen Erleichterungen beim Vollzug von Umweltvorschriften ein – einschließlich finanzieller Vorteile. EMAS bestätigt, dass die Umweltvorschriften eingehalten werden.“ (UGA 2018, S. 4; aus Seq. 36)

In dieser Sequenz manifestiert sich die Annahme, dass es sich bei der Überprüfung der gesetzlichen Umweltvorschriften um den expliziten inhaltlichen Kern von EMAS

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handelt, denn belohnt wird nicht ein Mehr oder Besser, sondern der Nachweis gesetzlich auferlegter Pflichterfüllung, die, so die hier angelegte Interpretation der „Erleichterungen beim Vollzug“, zusätzlich noch mit einer Milderungen gesetzlicher Verpflichtungen verbunden ist. Die marktlogische Struktur von EMAS bestätigt sich in der Konzeption dieser Unternehmenspflicht: EMAS denkt die für Unternehmen entscheidungsbedingende ökonomische Kosten-Nutzen-Abwägung im eigenen Aufbau vorweg, indem es den Betrieben aus dem Grund der Teilnahme einen Marktvorteil beschert. Auch offenbart sich hier erneut die Priorität der ökonomischen Dimension gegenüber der ökologischen – es werden eher die Anforderungen an die Unternehmen angepasst, anstatt im Sinne eines möglicherweise unabänderlichen, da ökologisch zwingenden Inhalts die teilnehmenden Betriebe zu größeren Reformen und Anpassungen zu bewegen. Das inhaltlich niedrige Niveau von EMAS offenbart sich spätestens als strukturelles Prinzip, wenn man die übrigen Ansprüche betrachtet, die an EMAS-Teilnehmende gestellt werden. Es handelt sich dabei überwiegend um frei umzusetzende Inhalte, also um Themen, die von den Unternehmen zwar verpflichtend bearbeitet werden müssen, aber inhaltlich zu einem erheblichen Teil gestaltet werden müssen bzw. dürfen, z. B. indem eigene Schwerpunkte gesetzt oder inhaltliche Priorisierungen vorgenommen werden können. Ein Beispiel ist die sogenannte „Umweltbetriebsprüfung“, der sich EMAS-Unternehmen in regelmäßigen Abständen unterziehen müssen. Sie ist ein äußerst relevanter Bestandteil von EMAS, denn sie bewertet das von den Unternehmen implementierte „Umweltmanagementsystem“ und kann es sowohl für zertifizierungswürdig als auch für mangelhaft erklären. „„Umweltbetriebsprüfung“: die systematische, dokumentierte, regelmäßige und objektive Bewertung der Umweltleistung einer Organisation, des Managementsystems und der Verfahren zum Schutz der Umwelt.“ (EU 2009, S. 4; Seq. 18).

Der entstehende Eindruck einer gründlichen Überprüfung der UMS-Ergebnisse in der Umweltbetriebsprüfung wird durch den konkreten Untersuchungsgegenstand wieder relativiert: Nicht die Ergebnisse an sich (des Managementsystems oder der Verfahren zum Schutz der Umwelt) werden bewertet. Bewertet wird vielmehr der Prozess, der ein diesem untergeordnetes Ergebnis hervorbringt. Der Fokus der Umweltbetriebsprüfung, und damit auch der Maßstab für die Güte des jeweiligen UMS, liegt also auf den eingeführten Verfahren und gerade nicht auf der Qualität der Ergebnisse, die an unternehmensunabhängigen, objektiven, extern gesetzten Nachhaltigkeitskriterien gemessen werden. Dies spiegelt sich auch im Signifikanten der „Umweltleistung“, der bei EMAS als „die messbaren Ergebnisse des Managements der Umweltaspekte einer Organisation durch diese Organisation“ (EU 2009, S. 4; aus Seq. 17) definiert wird. Hier werden die Firmenprozesse ebenfalls nicht qua externer Richtlinien und qualitativer Maßstäbe bewertet. Es wird allein darauf Wert gelegt, dass vom Management überhaupt ein Ergebnis, welcher Beschaffenheit auch immer, hervorgebracht wird – es muss lediglich messbar sein. Die Pflichten der Unternehmen weisen deutliche Merkmale der EMAS zugrunde liegenden marktlogischen Struktur auf: Da von den Unternehmen keine Einhaltung konkreter Werte

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abverlangt wird, bleiben sie ebenso flexibel auf dem Wettbewerbsmarkt positioniert wie vor der Implementierung. Es manifestiert sich ein Motiv der Gestaltungsfreiheit, die Unternehmen in vorgegebenen Themenfeldern zugestanden wird: Pflichten werden indirekt und uneindeutig abverlangt, was Unternehmen in die Lage versetzt, diesbezüglich individuell marktbasierte Entscheidungsprinzipien anzulegen: „Direkte Umweltaspekte sind verbunden mit Tätigkeiten, Produkten und Dienstleistungen der Organisation selbst, die deren direkter betrieblicher Kontrolle unterliegen. Alle Organisationen müssen die direkten Aspekte ihrer Betriebsabläufe prüfen. Die direkten Umweltaspekte betreffen u. a. (…) ii) Emissionen in die Atmosphäre iii) Ein- und Ableitungen in Gewässer; (…)“ (EU 2009, S. 22; Seq. 24)

Obwohl EMAS in dieser Passage obligatorische Handlungsfelder definiert, sind diese nicht mit einem Bearbeitungszwang verbunden, sondern mit einer notwendigen Überprüfung. Welche der überprüften Aspekte dann praktische Konsequenzen nach sich ziehen und wie diese Berücksichtigung ausfällt, bleibt offen. Bei näherer Betrachtung offenbaren Pflichten und Freiheiten eine ähnliche Struktur: Im Fall der Pflichten werden die konkreten Vorgaben auf das gesetzliche Minimum reduziert, während die übrigen Pflichten ihren obligatorischen Charakter nur als Schein aufrechterhalten können. So entpuppen sie sich doch eher als Vorschläge, die zum Anlass für eine Umgestaltung genommen werden können, aber nicht müssen und somit als Freiheiten zu bewerten sind.

4.1.3 Externalisierung der Verantwortung Durch charakteristische Freiheiten, sowohl in der konkreten Umsetzung als auch im Aufbau des Umweltmanagementsystems, überträgt EMAS die Verantwortung für den ökologischen Einfluss der Unternehmen auf diese selbst und auf den Markt bzw. dasjenige Umfeld, von dem das Bestehen der Unternehmen abhängig ist. Diese Externalisierung der Verantwortung, also die zugelassene Variabilität in der konkreten Umsetzung, ist keiner Unachtsamkeit geschuldet und offenbart auch keine Lücke, sondern ist gewollter Bestandteil des Instruments: EMAS berücksichtigt in seinem Aufbau eine Reihe von unternehmensunabhängigen Gruppen, die durch die Art, in der sie in Beziehung zu den Teilnehmerbetrieben gesetzt werden, zu Verantwortungsträgern gemacht werden. Aber auch den Unternehmen selbst wird durch die ihnen belassene Gestaltungsfreiheit Verantwortung übertragen. Mit Blick auf die Unternehmen teilt sich die Auslagerung der Verantwortung also in eine äußere und eine innere Dimension, die sich zu einem Abbild des Wettbewerbsmarktes ergänzen – je äquivalent zu Angebot und Nachfrage. Während das Angebot der Form des jeweiligen Leistungspotenzials der Unternehmen entspricht (Innendimension, z. B. das von Mitarbeitern Leistbare), besteht die Nachfrage in dem, was von den für die Unternehmen relevanten Gruppen gefordert bzw. von diesen toleriert wird (Außendimension). Die von den EMAS-Unternehmen letztlich übernommene Verantwortung entspricht der Leistung, die diesen nach dem Aus-

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tarieren beider Dimensionen rational sinnvoll erscheint. Somit übernimmt das Instrument EMAS konzeptionell keine Verantwortung und übt keine Disziplinarmacht aus, sondern überlässt beides dem Kompromiss zwischen der individuellen unternehmerischen Leistungsfähigkeit und -Bereitschaft und den Erwartungen des je relevanten Umfelds, insbesondere der Kunden bzw. Konsumenten. Das Motiv der „externalisierten Verantwortung“ könnte auch damit umschrieben werden, dass EMAS als marktorientiertes Instrument für die teilnehmenden Unternehmen die nötige Freiheit auf dem Markt bestmöglich zu erhalten versucht. Dennoch wurde der normative Begriff „Verantwortung“ gewählt, um zu verdeutlichen, dass die Gestalt, die EMAS in der Praxis annimmt (und die sich als Ergebnis der durch EMAS transportierten Werte auffassen ließe), gerade nicht auf im Instrument angelegte Werte zurückzuführen ist. Das, was am Ende als verantwortungsvolle Praxis der EMAS-Unternehmen erscheint, stellt eher das Ergebnis einer ausgelagerten, in ihrem Ausgang kontingenten Interessenvermittlung dar. Dabei fällt auf, dass die Außendimension im Vergleich zur Innendimension im Instrument sehr viel stärker berücksichtigt wird. Die von EMAS benannten Ersatzgruppen teilen dabei lediglich die direkte oder indirekte ökonomische Verbindung zu den Unternehmen: „Die Organisationen müssen nachweisen können, dass sie mit der Öffentlichkeit und anderen interessierten Kreisen, einschließlich Lokalgemeinschaften und Kunden, über die Umweltauswirkungen ihrer Tätigkeiten, Produkte und Dienstleistungen in offenem Dialog stehen, um die Belange der Öffentlichkeit und anderer interessierter Kreise in Erfahrung zu bringen. (…) Offenheit, Transparenz und regelmäßige Bereitstellung von Umweltinformationen sind Schlüsselfaktoren, durch die sich EMAS von anderen Systemen abhebt. Diese Faktoren helfen der Organisation auch dabei, bei interessierten Kreisen Vertrauen aufzubauen.“ (EU 2009, S. 28 f.; Seq. 30)

EMAS richtet sich nicht auf Unternehmen als geschlossene Systeme, sondern hat die Kommunikation mit der Öffentlichkeit zur Bedingung. Das Instrument zielt somit nicht auf ein isoliertes, zu transformierendes Objekt, sondern behandelt Unternehmen als Teil eines Netzwerks. Dadurch berücksichtigt EMAS zwar einerseits die unternehmerische Realität, entfernt sich aber durch die Vielzahl relevanter Akteure andererseits von der Implementierung starker eigener Inhalte. Bezogen auf ihre „Tätigkeiten, Produkte und Dienstleistungen“ ist das erklärte Ziel, deren „Belange (…) in Erfahrung zu bringen“ und „Vertrauen aufzubauen“ (ebd.). EMAS-Organisationen schaffen den eigenen Wirksamkeitsstandard unter der Berücksichtigung öffentlicher Belange, also variabler und EMAS-unabhängiger Faktoren. Hier bestätigt sich die These von Kerschbaummayr und Alber, der Umweltbegriff bei EMAS bezeichne nur die aus Unternehmenssicht relevante, also in erster Linie ökonomisch bedeutsame Umwelt, weshalb auch Umweltmanagement vor allem auf die Befriedigung der Stakeholder ausgelegt sei (Kerschbaummayr und Alber 1996, S. 297). Der Austausch zwischen Unternehmen und relevanten äußeren Gruppen über die Umweltleistungen der Unternehmen entspricht einem marktlogischen Kompromiss, der hier erneut mehr als Chance, denn als Pflicht gerahmt wird – zwar muss ein Austausch erfolgen, über die daraus folgenden Handlungen können die Unternehmen aber selbst entscheiden.

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Besonders oft betont werden die Glaubwürdigkeit, die EMAS ausstrahlt und das Vertrauen, das dem Instrument entgegengebracht wird und auch zukünftig werden soll. Beide Werte funktionieren dabei als Brücke zwischen den Unternehmen und der Öffentlichkeit: „Vertrauen ist das wichtigste Kapital für Unternehmen und sonstige Organisationen. Dass EMAS-Organisationen sich kontinuierlich für die Verbesserung der Umwelt einsetzen, dokumentieren sie in einer Umwelterklärung, die öffentlich einsehbar ist. Mit dieser Umwelterklärung und der Überprüfung der darin enthaltenen Aussagen und Daten durch unabhängige, staatlich geprüfte Umweltgutachter/innen schafft EMAS größtmögliche Glaubwürdigkeit. Alle anerkannten EMAS-Organisationen können dafür das EMAS-Logo zur Vermarktung ihres Umweltengagements nutzen.“ (UGA 2018, S. 6; aus Seq. 39).

Die ideale Beziehung zwischen dem EMAS-teilnehmenden Unternehmen und deren Anspruchsgruppen besteht in einem transparenten und somit glaubwürdigen Vertrauensverhältnis. Glaubwürdig zu sein führt zu ökonomischem Erfolg, denn es handelt sich dabei um das „wichtigste Kapital“. Dabei fällt neben der Dominanz der ökonomischen Verwertungslogik abermals auf, dass dieses besondere Vertrauensverhältnis jeglicher empirischen Rückbindung entbehrt: Glaubwürdigkeit wird nicht über die Umsetzung von spezifischen Nachhaltigkeitszielen hergestellt, sondern über die bloße (ergebnisunabhängige) Offenlegung der Organisationsprozesse und bedeutet schlicht, dass die von den Organisationen angegebenen Handlungen auch seitens der EMAS-Gutachter*innen als korrekt beschrieben anerkannt werden.

4.1.4 Die ökonomische Grundkonzeption Der Vorrang der ökonomischen Grundprinzipien des Instruments wurde bereits weiter oben gezeigt, lässt sich aber noch auf mehrere unternehmenslogische Einzelmotive hin spezifizieren: Am dominantesten ist das Verbesserungs- oder Optimierungsmotiv, das sich schon im Hauptziel von EMAS, der Verbesserung des individuellen Umweltleistungsniveaus andeutet (EU 2009, S. 2). Äquivalent zu diesem übergeordneten Ziel sind auch die untergeordneten Anforderungen auf Kontinuität, also ein „immer besser“ ausgelegt. EMAS verhandelt ein Ideal, das stets unartikuliert bleibt: es gibt kein Ziel das benannt oder erreicht werden könnte. EMAS weist hier erneut ein strukturelles Bekenntnis, wenn nicht sogar strukturelle Deckungsgleichheit zum politischen Nachhaltigkeitsbegriff der nachhaltigen Entwicklung auf. Auch dort stellt das Streben nach Wachstum, verstanden als stetige ökonomische Verbesserung und Optimierung, das Mittel der Wahl dar, um den, zwar aktuell durch Zwischenziele präzisierten (SDGs), aber dennoch unklaren Finalzustand der Nachhaltigkeit zu verwirklichen. „Der effiziente Einsatz von Rohstoffen und Energieträgern birgt Herausforderungen und Nutzen zu gleich [sic!]. Für viele Unternehmen ist die dauerhafte Senkung der Kosten für Ressourcen ein wichtiger Aspekt, an EMAS teilzunehmen. Ihre Erfahrungen zeigen, dass

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das Umweltmanagement – strategisch umgesetzt – insbesondere bei Abfall, Energie und Wasser die Kosten deutlich mindern und die Ressourceneffizienz verbessern kann.“ (UGA 2018, S. 3; aus Seq. 35)

In dieser Sequenz zeigt sich das Motiv der Kostenminimierung. Auch dies entspricht der Logik durch Senkung des Ressourcenversbrauchs die ökologische Umwelt zu schützen. Sie wird bei EMAS aber stets zum ökonomischen Objekt und nur beschränkt außerhalb von Unternehmensvorteilen, z. B. Kostensenkung, thematisch.

4.1.5 Die konstitutive Leerstelle „Umwelt“ Die von Kerschbaummayr und Alber aufgestellte These, der Begriff der „Umwelt“ bezeichne in Umweltmanagementsystemen lediglich die zu befriedigenden Stakeholder des Teilnehmerbetriebs, wird also auch von der hier vorgelegten Studie gestützt, greift im Fall von EMAS aber nicht weit genug. „Umwelt“ wird nicht nur als ökonomische Umwelt verstanden, sondern ist als flexible und konstitutive Leerstelle konzipiert, deren variable Gestalt das Ergebnis von Aushandlungen zwischen Stakeholder- und Unternehmensinteressen entlang marktlogischer Prinzipien ist. Der Begriff der „Umwelt“ wird an keiner Stelle der EMAS-Verordnung definiert. Vielmehr wird in einer Art Zirkelschluss ein Netz von Forderungen und Ansprüchen um diesen herum gesponnen: „„Umweltleistung“: die messbaren Ergebnisse des Managements der Umweltaspekte einer Organisation durch diese Organisation;(…) „Umweltaspekt“: derjenige Bestandteil der Tätigkeiten, Produkte oder Dienstleistungen einer Organisation, der Auswirkungen auf die Umwelt hat oder haben kann“ (EU 2009, S. 4; Seq. 17)

Diese Sequenz zeigt das Ende einer Definitionskette von Forderungen, die EMAS-teilnehmende Unternehmen in Bezug auf die Umwelt erfüllen müssen. Der ­ eigentliche Kern dieser Ansprüche, nämlich das Signifikat des Signifikanten „Umwelt“, wird nicht weiter erklärt und bleibt dadurch auslegbar. Dennoch wird der Umweltbegriff auch immer wieder an die ökologische Umwelt angenähert: „Kernindikatoren gelten für alle Arten von Organisationen. Sie betreffen die Umweltleistung in folgenden Schlüsselbereichen: i) Energieeffizienz, ii) Materialeffizienz, iii) Wasser, iv) Abfall, v) biologische Vielfalt und vi) Emissionen. (…) Bereich biologische Vielfalt – „Flächenverbrauch“, ausgedrückt in m2 bebauter Fläche“ (EU 2009, S. 37 f.; aus Seq. 31, Seq. 32a)

Die verpflichtenden Kernindikatoren nähern den Umweltbegriff in die Richtung der ökologischen Umwelt an, indem zu ihnen unter anderem Wasser und Emissionen gerechnet werden. Jedoch zeigt sich auch hier die Dominanz der ökonomischen Prägung, werden Kategorien wie Material und Energie doch nach der Effizienz ihres Einsatzes bewertet. Besonders anschaulich wird der ökonomische Ökologiezugang im Bereich

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der biologischen Vielfalt, die als die Größe der bebauten Fläche operationalisiert wird14. Abgesehen vom Kernindikator Wasser wird die ökologische Umwelt hier mit einer rein quantitativen Logik erfasst. Die Qualität der begutachteten Bereiche, beispielsweise, ob ein Unternehmen Kohle- oder Solarenergie verwendet, macht bei einem quantitativ gleichen Energieverbrauch keinen Unterschied – die offenkundig relevante Qualitätsdifferenz wird weder bewertet noch erfasst. Auch hier bleibt der Zielzustand selbst fiktiv, unbestimmt und untergeordnet – verpflichtend ist nur eine quantitative Verbesserung. Die strukturelle Offenheit und Flexibilität von EMAS wird hier offenbar: Das, was Umwelt letztlich im Kontext von EMAS bedeutet, hängt von der individuell unterschiedlichen marktlogischen Aushandlung von Stakeholder- und Unternehmensinteressen ab. Diese findet zwar in einem Rahmen statt, der von EMAS vorstrukturiert ist, die umweltbezogenen Prinzipien, mit denen die Teilnehmerbetriebe umgehen müssen, bilden dabei zwar sowohl ökologische wie ökonomische Indikatoren ab. Doch obwohl die ökologische Dimension begrifflich nicht ausgeschlossen ist, wird sie zum ökonomischen Objekt gemacht und von ihr auf struktureller Ebene dominiert – der konkrete Gehalt des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie bleibt ein nahezu beliebig füllbarer Freiraum.

4.2 Der Nachhaltigkeitsbegriff von EMAS Während im vorangegangenen Teil die marktlogische Struktur von EMAS als Wesensmerkmal des Umweltmanagementsystems herausgearbeitet wurde, werden nun die Konsequenzen dieses Motivs für den Nachhaltigkeitsbegriff von EMAS ausgeführt. Das forschungsleitende Anliegen war es, den Nachhaltigkeitsbegriff von EMAS zu rekonstruieren. Dabei wurde ein sehr umfassendes Begriffsverständnis angelegt, das einen „Begriff“ nicht nur als Bedeutung eines Wortes bzw. als „Signifikant“ und „Signifikat“ begreift, sondern als Netz aufeinander verweisender Signifikanten, in deren Wechselbeziehungen eine Wortbedeutung erst entsteht. Es wurde bereits gezeigt, dass sich EMAS an mehreren Stellen dem seit dem Brundtland-Report dominanten Diskurs der nachhaltigen Entwicklung zuordnen lässt. Dies offenbart sich im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs durch den hohen Stellenwert des Ziels, das Wachstum der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Bei EMAS stellen die Kostenminimierung und Effizienzsteigerung Äquivalente dieser Logik dar. Über diese erwartbare starke Spiegelung von Konzepten der Sustainable Development-Tradition hinaus besteht der zweite Hauptbefund der vorliegenden Analyse in der These, dass EMAS keinen

14Zwar

wurde in der EMAS-Novelle von 2019 diese Irritation behoben, aber nicht, indem die Definition angepasst wurde, sondern durch die schlichte Umbenennung des Kernindikators in „Flächenverbrauch in Bezug auf die biologische Vielfalt“ (UGA 2019, S. 15) und eine leichte inhaltliche Erweiterung der Definition.

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eigenen Nachhaltigkeitsbegriff transportiert, evoziert oder oktroyiert. Stattdessen handelt es sich um einen leeren Signifikanten, der niemals mehr bedeutet, als die bereits vorliegende wirtschaftliche Realität der teilnehmenden Unternehmen. EMAS ist kaum mehr als ein Instrument zur Erhebung des bereits in der ökonomischen „Umwelt“ vorhandenen, und somit verwertbaren, handlungsrelevanten Nachhaltigkeitswissens bzw. der bereits vorhandenen und zu berücksichtigenden Nachhaltigkeitserwartungen der Stakeholder. Konstitutiv für die marktlogische Grundstruktur von EMAS ist das Fehlen eigener konkreter Inhalte und damit verbundener normativer Werte, die mit einer Implementierung des Umweltmanagementsystems zwangsweise vom jeweiligen Unternehmen übernommen würden. Es konnte gezeigt werden, dass EMAS auf vielfältige Weise die normative Bewertung der unternehmerischen Handlungen nicht selbst vornimmt, sondern an Dritte auslagert, wodurch auch die Verantwortung für die Ausgestaltung des praktischen Nachhaltigkeitsverständnisses auf wettbewerbsübliche Prozesse übertragen wird. Über marktlogische Aushandlungsmechanismen wird den Unternehmen die Freiheit gegeben, ökologische Schwerpunkte entlang ökonomischer Vermarktungsprinzipien selbst zu setzten und diese nach eigenem Ermessen zu bearbeiten. Die konstitutive Leerstelle „Umwelt“ repräsentiert den Ort, wo über die (Nicht-)Berücksichtigung wie auch Priorität bestimmter ökologischer Themenbereiche zwischen den Interessen des Unternehmens und denen der Öffentlichkeit sowie potenzieller Kunden verhandelt bzw. vermittelt wird. Hieraus folgt, dass EMAS keinen eigenen Nachhaltigkeitsbegriff etabliert, sondern viel eher ein Werkzeug zur Erhebung und Verwertung des im relevanten Innen wie Außen bereits vorhandenen Nachhaltigkeitsbegriffs und -verständnisses darstellt. Gerade die grundsätzliche Leere des EMAS-Nachhaltigkeitsbegriffs ermöglicht den teilnehmenden Organisationen ein je individuelles Nachhaltigkeitsverständnis mit einem allgemeinen Gütesiegel zu versehen. Denn das EMAS-Zertifikat rahmt die ökonomisch motivierten Handlungen der teilnehmenden Betriebe als Umweltmanagement und stellt das jeweilige unternehmerische Handeln dadurch in den Kontext der Nachhaltigkeit.

5 Fazit Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Nachhaltigkeitsbegriff von EMAS im Kontext wachstumsbedingter ökologischer Probleme ein äußerst geringes bis kein transformatives Potenzial aufweist, sondern systemstabilisierend wirkt. Im vorangegangenen Kapitel wurde anhand verschiedener rekonstruierter Motive die geringe Transformationsleistung aufgezeigt, die EMAS von den Unternehmen abverlangt: Durch niedrigschwellige Pflichten und konstitutive Freiräume kann die konkrete qualitative ökologische Leistung, da sie der quantitativen untergeordnet ist, stark von Unternehmensseite gesteuert werden. EMAS gibt also einerseits jedem Unternehmen die Möglichkeit, eine Verbesserung der im Instrument berücksichtigten und von den Unternehmen individuell gewichteten umweltbezogenen Verbrauchswerte mit einem

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Zertifikat belohnen zu lassen. Andererseits meint diese Verbesserung nichts anderes als die Effizienzsteigerung einiger ökonomischer Parameter, die stets den Vorrang vor einer strengen ökologischen Betrachtung der Produktionsprozesse einnimmt. Unter der Prämisse einer unmöglichen Entkopplung ökonomischen Wachstums von ökologischen Schäden ist dies höchstens als Verschiebung der ökologischen Belastungen zu werten, denn es kann die Wachstumslogik der Unternehmen für jede unternehmerische Praktik aufrechterhalten werden. Da ökologische Erfolge ohne zugleich günstige ökonomische Auswirkungen von EMAS gar nicht erst wahrgenommen und erst recht nicht belohnt werden, verfügt dasjenige Unternehmen über das erfolgreichste Umweltmanagementsystem, das die Effizienz bestimmter, häufig isoliert voneinander betrachteter Prozesse immer weiter steigert und nicht jenes mit den insgesamt ökologieverträglichsten Prozessen. Weder Konsistenz noch Suffizienz, sondern allein Effizienz ist der Parameter dieses Nachhaltigkeitsbegriffs. Solange die Effizienz pro Produktionseinheit zunimmt, ist ein absolutes Wachstum der Materialintensität mit EMAS also durchaus vereinbar. Dieser Zusammenhang wird durch die konstitutive Leere des Umweltbegriffs zusätzlich verstärkt: Da EMAS den Begriff der „Umwelt“ nicht definiert, sondern nur unverbindlich in Richtung der ökologischen Umwelt präzisiert, wird der Signifikant der „Umwelt“ zu einem umkämpften Begriff, der schließlich in Folge einer marktlogischen Aushandlung unternehmensspezifisch besetzt wird. Aushandlung meint nichts anderes, als das Austarieren von Unternehmensinteressen und den Interessen unternehmensrelevanter Dritter, also von Angebot und Nachfrage. So wird das je gegebene Umweltverständnis der einzelnen Unternehmen vom Primat ökonomischer Prinzipien und Methoden bestimmt – „Umwelt“ ist immer ein zunächst leerer Begriff, den die einzelnen Unternehmen für sich unter Berücksichtigung der Interessen des relevanten unternehmerischen Umfelds bestimmen15. Die Relevanz des Unternehmensumfelds führt dazu, dass sich auch das Maß an Verantwortung, die ein EMAS-Unternehmen für die ökologische Umwelt übernimmt, extern konstituiert und darum individuell variiert. Weiterhin baut EMAS vielfach auf einer ökonomischen Grundlogik, die zum Beispiel an integrierten Methoden der Effizienzsteigerung und der Kostenminimierung deutlich wird. EMAS ist, zusammengefasst, ein marktlogisch konzipiertes Instrument, das keine eigenen Wertvorstellungen transportiert – diese sind höchstens das Nebenprodukt der individuellen ökonomischen Bearbeitung

15Dieses ökonomische Erschließen erinnert an Klaus Dörres These „kapitalistischer Landnahme“: Dörre beschreibt die Notwendigkeit kapitalistischer Gesellschaften, fortlaufend zu expandieren (zu wachsen) bzw. bislang nicht kapitalistisch (vollkommen) erschlossene Bereiche – unbesetztem Land gleich – zu okkupieren. Dabei ist es unwesentlich, wie das „unerschlossene Land“ beschaffen ist. Die Hauptsache ist, dass es in den kapitalistischen Verwertungsprozess eingegliedert werden kann (Dörre und Haubner 2012, S. 64 ff.). Ein Umweltmanagement nach EMAS ist demnach lediglich als grobe thematische Lenkung des genuin kapitalistischen Expansionsprozesses zu verstehen. Dies geht mit der Annahme einher, dass es kein Umweltmanagement bei maximal effizienter Produktion geben kann.

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ökologischer Fragestellungen. Demnach wird auch der Nachhaltigkeitsbegriff durch die individuellen, marktbasierten Unternehmensentscheidungen konstituiert, die von EMAS lediglich durch die erzwungene Überprüfung einiger ökologierelevanter Unternehmensbereiche gelenkt wird, aber in ihren Konsequenzen unverbindlich ist. Aus der Perspektive der Wachstumskritik ist die Beschaffenheit von EMAS ein wenig überraschendes Resultat der wachstumsbasierten Gesellschaftssysteme. Unter Rekurs auf Adorno kann EMAS als gesellschaftsstabilisierende Verschleierung der schlechten ökologischen Verhältnisse bewertet werden: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie sieht vor, durch die angestrebte Erhöhung der Anzahl von EMAS-Unternehmen die ­ökonomisch-ökologische Krise zu bekämpfen – die Erhöhung führe zu „nachhaltigen und Konsum- und Produktionsmustern“. Mit EMAS kann Nachhaltigkeit jedoch nie mehr sein, als das handlungsrelevante Wissen, das in Bezug auf Nachhaltigkeit bereits in der ökonomischen Umgebung vorhanden ist. Es fördert weder eine verstärkte Lokalität noch eine auf möglichst große Langlebigkeit ausgelegte Produktion. Durch den leeren Umweltbegriff entsteht zudem ein gänzlich naturentfremdeter Ressourcenbegriff: Angelegt wird keine marktunabhängige, äußerliche Gesamtmenge legitim verbrauchbarer Ressourcen pro Zeiteinheit (wachstumsbegrenzend), sondern die innen aufgewendete, unhinterfragte Menge ökonomisch relevanter Faktoren bildet den Ausgangspunkt für (wachstumsbefördernde) Effizienzleistungen, ohne dabei den gesamten Ressourcenverbrauch und die Auswirkungen auf die Ökosphäre in den Blick zu nehmen. Für ein transformatives Potenzial bräuchte EMAS einen Umweltbegriff, der diese qualitative und gesamtwirtschaftliche Bewertung beinhaltet. Von diesem Begriff aus müssten sich konkrete und primär umweltorientierte Forderungen ableiten – die Nachfrage müsste also dem zertifizierten Angebot folgen und nicht das Zertifikat dem nachgefragten Angebot. So würde eine fortschreitende Verbreitung von EMAS die Wirtschaft einem konkreten Zielzustand echter Nachhaltigkeit annähern. Zu einer wissenschaftlichen Arbeit gehört immer auch das kritische Hinterfragen der eigenen Vorgehensweise und der gezogenen Schlüsse. Dabei ist vor allem zu sagen, dass sich die hier erfolgte Rekonstruktion nicht auf die Analyse konkreter unternehmerischer Praxis stützt, sondern ausschließlich auf EMAS-Konzeptdokumente. Die Thesen wurden also nicht zusätzlich unter Einbezug weiteren Materials hinsichtlich der konkreten unternehmerischen Praxis überprüft. Es bleibt demnach die Frage offen, ob die Implementierung von EMAS – trotz aller inhaltlichen Unbestimmtheit – nicht vielleicht doch mit einem gesteigerten unternehmerischen Verantwortungsbewusstsein korreliert.

Literatur Adorno, T. W. (1969). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Albrecht, T. (2007). Wertorientiertes Umweltmanagement. Der Beitrag des Öko-Controlling. Köln: Eul. Arts, B. (1994). Nachhaltige Entwicklung. Eine begriffliche Abgrenzung. Peripherie (54), 6–24.

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Neue Wege in der Afrika-EUPartnerschaft? Eine Untersuchung zu Handlungsregeln mit Bezug zu Wachstum Mareike Edler

Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich der Afrika-EU-Partnerschaft, die als Kooperationsformat seit 2007 zwischen der Afrikanischen und der Europäischen Union besteht. Er rekonstruiert die grundlegenden Handlungsregeln der Partnerschaft zum Thema Wachstum und argumentiert, dass diese auch den politischen Dimensionen dieser Zusammenarbeit zugrunde liegen. Als zentrale Handlungsregel stellt sich dabei die investitionsbasierte Entwicklung heraus, die den Fokus auf die Verantwortung und Gestaltungsinteressen privatwirtschaftlicher Investoren für die zukünftige Entwicklung der beiden Staatenverbünde, insbesondere bei den Themen Armutsreduktion und Nachhaltigkeit legt. Schlüsselwörter

Afrikanische Union · Europäische Union · Wachstum · Nachhaltigkeit · Postwachstum · Handlungsregel · Investition · Entwicklung

1 Einleitung Frieden, Wohlstand und kontinentale Integration – auf der Basis dieses Slogans lassen sich die Ziele der Afrikanischen Union (AU) und der Europäischen Union (EU) gleichermaßen beschreiben (African Union Commission 2018; European Commission 2018a). Beide streben eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit auf ihrem jeweiligen M. Edler (*)  Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_12

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330

M. Edler

Kontinent an sowie dessen „nachhaltige Entwicklung“ (African Union Commission 2014; European Commission 2010). Gleichzeitig verbindet Afrika und Europa eine historische Beziehung geprägt von Gewalt, Ausbeutung und, seit der Unabhängigkeit der einst kolonialisierten Staaten, von Entwicklungshilfe (Nanjira 2010, S. 250). Heute sind die kontinentalen Staatenverbünde insbesondere auch im Bereich Migration und Außenhandel miteinander verbunden. Parallel zu anderen Kooperationsformaten wie den Europäischen Partnerschaftsabkommen (EPAs) arbeiten sie seit dem Jahr 2007 im Rahmen der Afrika-EU-Partnerschaft1 zusammen. Als zentrale Themen werden dabei die Förderung der Zusammenarbeit allgemein und die Bereiche Klimawandel, Menschenrechte und Frieden ebenso wie wirtschaftliche Kooperation genannt (European Union 2018a). Die beiden Staatenverbünde blicken von unterschiedlichen Ausgangspunkten auf diese Themen. Betrachtet man wirtschaftliches Wachstum gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) so zeigt die Afrikanische Union in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten, während der Anteil der EU am weltweiten Wirtschaftswachstum abnimmt (Eurostat und African Union Commission 2016, S. 14). Die AU steht aber im Spannungsfeld von Bevölkerungswachstum, Ungleichheit, knappen Ressourcen und Klimaveränderungen vor noch größeren Herausforderungen bei der Sicherstellung der Lebensgrundlage für ihre Bevölkerung als die EU (Arndt et al. 2016, S. 37; Heshmati 2018, S. 1). Bei der Frage, wie diese Lebensgrundlagen in Zeiten der globalen Klimaerwärmung gesichert werden können, stellt sich jedoch auch die Frage nach der Rolle der europäischen Staaten und deren Ressourcenverbrauch. Aus diesem Grund ist der Blick darauf interessant, wie sich die beiden Staatenverbünde AU und EU im Rahmen der Partnerschaft gemeinsam zu globalen Diskursen über Nachhaltigkeit, zur Gestaltung des globalen Wirtschaftssystems und der Frage nach dem Verhältnis zwischen globaler Ungleichheit und Umweltbelastungen positionieren. Fraglich ist auch, welches Innovationspotenzial in diesem Kooperationsformat enthalten ist. Dieser Beitrag widmet sich dementsprechend der Frage: Welche grundlegenden Handlungsregeln zum Thema Wachstum leiten die Zusammenarbeit der AU und der EU in der Afrika-EU-Partnerschaft an? Der Hintergrund dafür ist die Annahme, dass Wachstum, im Sinne einer Steigerungslogik, oft in Verbindung mit dem Bruttoinlandsprodukt und der Erwirtschaftung von Gewinnen (Muraca 2010, S. 2 f.), ein fundamentaler Bestandteil der heutigen gesellschaftlichen Prozesse ist und daher die Positionierung einer Organisation zu Wachstum als Diskurs zwar nicht alleinig, aber doch entscheidend für ihre strategische Ausrichtung und zukünftige Entwicklungen ist (vgl. Keller 2011, S. 68;

1Diese

(ins Deutsche übersetzte) offizielle Bezeichnung des Kooperationsformats ergibt sich daraus, dass die Afrikanische Union seit dem Wiedereintritt Marokkos im Januar 2017 alle anerkannten Staaten auf dem Kontinent vereint, während die EU zum Zeitpunkt der Abfassung nur 28 und nicht alle Staaten auf dem europäischen Subkontinent umfasst (European Commission 2018b). Aus demselben Grund wird hier Afrika als Synonym für die Afrikanische Union verwendet. Wenn hier von europäischen Staaten, Unternehmen und Ähnlichem gesprochen wird, sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, solche innerhalb der EU gemeint.

Neue Wege in der Afrika-EU-Partnerschaft? …

331

Roos 2019, S. 49 f.). Die Art und Weise, wie über Wachstum und Wirtschaft gesprochen wird, wird dabei als explizit politisch und als ein diskursives Feld von Macht und Auseinandersetzung gesehen (Barry 2016, S. 305). Die Afrika-EU-Partnerschaft nimmt, in den für die Zusammenarbeit formulierten Prioritäten, verschiedentlich Bezug auf den Einsatz, die Förderung und die Gestaltung von Wachstumsprozessen insbesondere in den AU-Staaten (u. a. EU-Africa Summit 2014a). Deren Sinngehalte werden hier rekonstruiert, expliziert und der Diskussion mit Blick auf verschiedene konkurrierende Betrachtungsweisen aus dem wissenschaftlichen und politischen Diskurs zugänglich gemacht. Zentral ist dabei die Kontroverse, wie der Weg zu einem guten Leben langfristig gestaltet werden kann (Muraca 2014, S. 89) und ob bisherige Herangehensweisen dafür geeignet sind oder nicht. Aus diesem Grund werden im Forschungsstand, nach einer Einführung zu den Beziehungen zwischen den beiden Staatenverbünden, drei politisch-akademische Positionierungen zum Thema Wachstum diskutiert: das neoklassische ökonomische Wachstumsparadigma, Ansätze zu nachhaltigem, inklusivem und grünem Wachstum und Postwachstums- bzw. Degrowth Ansätze. Nach einem Überblick über die die pragmatistisch-rekonstruktive Methodologie erfolgt schließlich die Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung der Handlungsregeln der Afrika-EU-Partnerschaft sowie deren Diskussion im Lichte der Ansätze aus dem Forschungsstand.

2 Forschungsstand 2.1 Afrikanisch-Europäische Beziehungen Zentral für die Afrikanische Union ist die Idee des Pan-Afrikanismus (African Union Commission 2014). Dessen zentrale Werte sind die Einheit der afrikanischen Bevölkerung, inklusive der Diaspora, deren wirtschaftliche Entwicklung, sowie eine würdige Einbindung des Kontinents in globale Beziehungen (Ndlovu-Gatsheni 2014, S. 21). Pan-Afrikanismus versteht sich gezielt als Gegenentwurf zu einem als rassistisch hierarchisiert, patriarchalisch, imperialistisch, kolonialistisch und heteronormativ beschriebenen, eurozentristischen Weltbild des modernen globalen Kapitalismus (ebd.). Die EU wiederum wird landläufig mit den Werten des Liberalismus wie Frieden, Demokratie und der Verbreitung der universellen Menschenrechte in Verbindung gebracht (Jørgensen 2015, S. 501). Zentral ist daneben, im Inneren wie nach außen, das Engagement der EU für den freien Handel (Weidenfeld 2015, S. 207). In der Außenpolitik liegt der Fokus auf der Sicherung des Zugangs zu globalen Handelswegen, Ressourcen und Absatzmärkten (Holman 2015, S. 520). Das Selbstbild der EU als Modell für regionale Integration und einzig geeignete Partnerorganisation zu diesem Thema lässt sich im Lichte der Durchsetzung europäischer Interessen jedoch als „eigennützig“ (Farrell 2015, S. 787) kritisieren.

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Die Beziehungen der beiden kontinentalen Staatenverbünde sind in verschiedenen institutionellen Rahmungen durch eine Reihe entwicklungspolitischer Abkommen geregelt (Farrell 2015, S. 780). Das aktuell geltende Cotonou-Abkommen verzichtet nach einer siebenjährigen Übergangsfrist im Gegensatz zu seinen Vorgängern und in Übereinstimmung mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), auf das Einräumen von Handelspräferenzen für die afrikanischen Staaten2 (Farrell 2015, S. 783; Carbone 2013, S. 10; European Commission 2020). Kritisiert wurde an diesem Abkommen insbesondere die Verknüpfung eines Narrativs von Partnerschaft, Dialog und Ownership mit Zwängen der Handelsliberalisierung und der Konditionalität der Finanzhilfen (Carbone 2013, S. 10). Ein weiteres viel kritisiertes Instrument der Kooperation sind die EPAs, die die regionale wirtschaftliche Integration vorantreiben sollen und Afrika daher in vier wirtschaftliche Regionen einteilen, mit denen gesonderte Abkommen geschlossen werden (Farrell 2015, S. 781). Analysen spezifischer Fälle bescheinigen häufig, dass hiervon im Wesentlichen das EU-Exportwachstum profitiere und weniger die afrikanischen Staaten, da die Interessen ausländischer Investoren in den Vordergrund gestellt werden (Alusa und Omeje 2014, S. 320 f.). Als Grund hierfür wird genannt, dass es sich in aller Regel nicht um in Europa investierende afrikanische Investoren handelt, sondern um in Afrika investierende europäische Wirtschaftsorganisationen. Andererseits zeigt sich in jüngerer Vergangenheit, dass auch europäische Staaten Afrika immer mehr als Ort von Ideen und Unternehmertum wahrnehmen (ebd., S. 322).

2.2 Die Afrika-EU-Partnerschaft Als Hintergründe für die Entstehung der Afrika-EU-Partnerschaft sind die gesteigerte Wahrnehmung der strategischen Bedeutung Afrikas in der internationalen Politik und das stärker geeinte Auftreten der afrikanischen Staaten sowie die neue Dynamik mit der Überführung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) in die Afrikanische Union nach 2002 zu nennen (Mangala 2013a, S. 5 ff.).3 Der Grundstein für die Partnerschaft wurde allerdings bereits im Jahr 2000 beim Gipfeltreffen von 40 Vertreter*innen afrikanischer und EU-Mitgliedstaaten gelegt. Finalisiert wurden die Verhandlungen zum grundlegenden Dokument der Partnerschaft, der Joint Africa-EU Strategy (JAES) im Jahr 2007, der erste Aktionsplan folgte 2010 (Sherriff und Kotsopoulos 2014, S. 308). Der zeitliche Verzug zwischen den ersten Verhandlungen und der JAES erklärt sich aus der Absage des Gipfeltreffens 2003 aufgrund des Streits um die Teilnahme des

2Ebenso

wie für Staaten der Karibik und des Pazifikraumes, die hier allerdings nicht betrachtet werden. Gleiches gilt für die EPAs. 3Für einen Überblick über die Geschichte, die Grundwerte und den heutigen Aufbau der Afrikanischen Union siehe Edozie 2014; Mankliberas und Naldi 2013.

Neue Wege in der Afrika-EU-Partnerschaft? …

333

simbabwischen Präsidenten Robert Mugabe (Carbone 2013a, S. 6). Die EU-Kommission erarbeitete außerdem in dieser Zeit eine eigene Strategie für Afrika ohne afrikanische Partner*innen einzubeziehen (ebd, S. 6 f.). Die Kritik hieran verlieh der Idee einer gemeinsamen Strategie neuen Auftrieb (Sherriff und Kotsopoulos 2014, S. 307 f.). Die Afrika-EU-Partnerschaft besteht insbesondere aus den Gipfeltreffen, die alle drei Jahre stattfinden, um neue Prioritäten und Aktionspläne zu beschließen und aus thematischen Treffen verschiedener Gremien von AU und EU, beziehungsweise Treffen von Minister*innen der Mitgliedsstaaten. Die Kommissionen der beiden kontinentalen Staatenverbünde nehmen die zentrale Rolle bei der Koordination und der Umsetzung der beschlossenen Projekte ein (Mangala 2013b, S. 32 f.). Außerdem finden regelmäßig im Vorfeld der Gipfeltreffen jeweils spezielle Gipfel für Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, der Jugend und des Privatsektors statt, ebenso wie themenspezifische Expert*innenrunden (European Union 2018b). Die Partnerschaft verfügt nicht über eigene Finanzmittel, diese werden in der Regel aus anderen Finanzierungsprogrammen, wie dem EU-Entwicklungsfonds, entnommen (Sherriff und Kotsopoulos 2014, S. 310).

2.3 Diskursive Positionierungen zu Wachstum 2.3.1 Wachstum als positive Kraft für Entwicklung Die Ansicht, dass sich Wachstum positiv auf Entwicklung und die Gesellschaft an sich auswirkt, ist nach wie vor weit verbreitet und wird häufig als Mainstream bezeichnet (Barroso et al. 2016, S. 1400). Wachstum wird dabei als einzig bekannter und gangbarer Weg zur Verbesserung von Lebensstandards angenommen (Andrei et al. 2017, S. 2). Entsprechende, in den Wirtschaftswissenschaften als neoklassisch (Barry 2016, S. 304 ff.; Rogall 2006, S. 58 ff.) bezeichneten, Ansätze gehen von stets rational handelnden, Nutzen maximierenden und mit umfassendem objektiven Wissen ausgestatteten Akteur*innen und Strukturen kollektiven Handelns (siehe Abschn. 3.1) aus, die grundsätzliche Konsumfreiheit auch angesichts knapper Ressourcen genießen (Rogall 2006, S. 58 f.). Die freie Marktwirtschaft soll dabei für allgemeinen Wohlstand sorgen, indem durch Wachstum Überschüsse erwirtschaftet werden, die dann über Trickle-Down-Effekte auch ärmeren Bevölkerungsschichten zugutekommen (Barry 2016, S. 313). Dieser Logik folgt auch der Washington-Konsens,4 insbesondere vertreten durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (Rogall 2006, S. 372). Unterstützt wird dieser Prozess im internationalen Bereich durch ­Freihandel,

4Die

zentralen Prinzipien des Washington Konsens sind insbesondere Deregulierung, marktbasiertes Wirtschaften und eine liberale Handels- und Investitionspolitik. Diesem Ansatz für wirtschaftliche Entwicklung kam, aufgrund der Organisationen, die ihn vertraten, große internationale Bedeutung zu. Durch die Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahrzehnte wurde er jedoch immer wieder in Frage gestellt und kritisiert (Qobo 2013, S. 350).

334

M. Edler

Marktliberalisierung und Investitionen (ebd.). Investitionen als eine grundlegende Bedingung von Wachstum sollen die Produktion und durch das Aufkommen von Steuern die staatlichen Einnahmen erhöhen und somit auch die Finanzierung von Bildung, Gesundheit und andere Bereiche ermöglichen (Woll 2011, S. 374; Qobo 2013, S. 342). Investitionen mehren außerdem das Produktionspotenzial sowie die Nachfrage und tragen so zu Wachstum bei (Leschke 2015, S. 95). In der internationalen Entwicklungspolitik wird dementsprechend angestrebt, den als in ihrer Entwicklung defizitär konstruierten Staaten Kredite oder ausländische Direktinvestitionen zu kommen zu lassen, um sie in ihrer Entwicklung zu fördern und Wachstum zu stimulieren (Woll 2011, S. 376, 619 f.). Vor diesem Hintergrund kann Entwicklungspolitik in ihrer landläufig bekannten Form als Wachstumspolitik verstanden werden (Burchardt et al. 2017, S. 24). Eine häufige Kritik an diesen Ansätzen lautet, dass dadurch insbesondere die investierenden Unternehmen aus den Staaten des Globalen Nordens5 profitieren (ebd., S. 19) und unzureichende politische Strukturen in den Empfängerländern dazu führen, dass die Gelder nicht in die Entwicklung der Staaten, sondern in private Interessen investiert werden (Moyo 2012, S. 107 f.). In verschiedenen empirischen Studien zu wirtschaftlichen Dynamiken in Subsahara-Afrika in den letzten zwanzig Jahren wird darüber hinaus der positive Zusammenhang zwischen ausländischen Direktinvestitionen und Wachstum generell angezweifelt (Heshmati 2018, S. 4). Außerdem wird betont, dass makroökonomische Reformen und die Qualität des Wachstums dafür entscheidend sind, ob sich Investitionen tatsächlich positiv auf die Lebensumstände der Bevölkerung auswirken (ebd., S. 6 f.). Als weitere Faktoren für Wachstum werden unter anderem die verfügbare Infrastruktur und die Qualifikation der verfügbaren Arbeitskräfte genannt (Rogall 2006, S. 195 f.). Darüber hinaus gilt technischer Fortschritt als eine Bedingung für Wachstum, da durch Effizienzsteigerung Überschüsse erzielt und dann reinvestiert werden können (Woll 2011, S. 374). Ein weiterer Faktor, der im Rahmen der modernen Industrie zur Generierung von Wachstum beitragen kann, ist das Vorhandensein natürlicher Ressourcen (Burchardt et al. 2017, S. 26 f.). Unter Investoren gibt es ein hohes Interesse an deren Nutzung (ebd., S. 23) und bei hohen Weltmarktpreisen lassen sich hier hohe Gewinne erzielen. Die Abhängigkeit vom Weltmarkt kann allerdings für Staaten zum Problem werden, wenn die Preise fallen und die nationale Wirtschaft einseitig auf die Extraktion von Ressourcen ausgelegt ist (Taylor 2013, S. 145). Außerdem ist dies überhaupt nur für einen begrenzten Zeitraum möglich (ebd., S. 37) und kann oft nicht

5Der

Begriff soll hier verwendet werden, um „eine mit Vorteilen bedachte, privilegierte Position“ zu bezeichnen, in Abgrenzung zum Globalen Süden. Die Einteilung verweist auf unterschiedliche Erfahrungen mit Kolonialismus und Ausbeutung. Die Begriffe sind zwar an geographische Positionen angelehnt, die aber nicht zwingend sind, da auch Staaten wie Australien zum Globalen Norden gezählt werden und die hier angesprochenen Positionierungen auch innerhalb einer Gesellschaft anzutreffen sein können. Dem Begriffspaar liegt der Versuch zu Grunde, die in Begriffen wie Industriestaat oder Entwicklungsland wertungsgeladene Hierarchisierung zu vermeiden (Glokal 2012).

Neue Wege in der Afrika-EU-Partnerschaft? …

335

in langfristige Wachstums- und Entwicklungsprozesse umgesetzt werden (Strickmann 2010, S. 148). Die hier beschriebenen Ansätze legen in der Regel ein Konzept der schwachen Nachhaltigkeit an (Rogall 2006, S. 97). Hierbei werden natürliche Ressourcen als Naturkapital konzipiert, als rein wirtschaftliche Größe verrechnet und deren ökologische Bedeutung nicht einkalkuliert. Der Erhalt der Kapitalbestände insgesamt reicht aus, um von Nachhaltigkeit sprechen zu können. Naturkapital darf demnach verbraucht werden, wenn gleichzeitig in nutzenstiftende andere Formen, insbesondere in Technologie, investiert wird (Ott 2010, S. 169). Wachstum wird dabei häufig im Sinne des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gemessen und damit gleichgesetzt. Dies ist insofern problematisch, als dass diese Kennzahl weder die verbrauchten Ressourcen und Schäden einbezieht, noch zeigt, ob Wachstum zur Reduktion von Armut beigetragen hat (Taylor 2013, S. 151).6 Da Wachstum als elementar für die Sicherung des Wohlstandes angesehen wird, werden einem Mangel an Wachstum negative Effekte zugeschrieben. Diese umfassen eine negative Reaktion der Bevölkerung, wenn Einkommen nicht mehr steigen, steigende Arbeitslosigkeit, wenn die Effizienz der Produktion steigt, den Ausfall von Zinszahlungen des Staates, die nicht mehr durch Überschüsse bedient werden können und einen erhöhten Anteil an Ausgaben für Renten und das Gesundheitssystem (Rogall 2006, S. 191 f.). Überdies brächte diese Entwicklung das auf einem allgemeinen Wachstumsversprechen basierende Gesellschaftssystem auch sozialpsychologisch in Bedrängnis (vgl. Muraca 2014, S. 8 ff.).

2.3.2 Ansätze zu nachhaltigem Wachstum Innerhalb des Wachstumsparadigmas gibt es auch Ansätze, die betonen, dass es beispielsweise mit Blick auf Armutsreduktion und Umweltschutz der gezielten Steuerung von Wachstumsprozessen bedarf (Taylor 2013, S. 156). Diese Ansätze nehmen häufig Entwicklung und Entwicklungsziele stärker in den Blick als Wachstum an sich (Giannetti et al. 2015, S. 12). Entwicklung, Wachstum und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sollen aus dieser Perspektive betrachtet in Einklang gebracht werden (Nanjira 2010, S. 299). Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und das Potenzial der ökologischen Kreisläufe, Schadstoffe aufzunehmen, endlich sind (Rogall 2006, S. 105) und Wachstum an seine Grenzen stoßen kann (König 2011, S. 53). Ein zentrales Stichwort hierbei ist das der nachhaltigen Entwicklung, beziehungsweise des nachhaltigen Wachstums (Blühdorn 2016, S. 259 f.). Dabei werden unter dem Stichwort der drei Säulen der Nachhaltigkeit oder des D ­ reiecks

6Auch

innerhalb dieser Argumentationen gibt es Forderungen nach Einschränkungen oder der gezielten Steuerung von Wachstum. Um eine bessere Sichtbarkeit dieser Ansätze zu ermöglichen, wird hier jedoch eine Trennung vorgenommen und diese im nächsten Kapitel behandelt. Wie sehr die einzelnen Ansätze sich des neoklassischen Wachstumsmodells bedienen, ist dabei unterschiedlich.

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der ­Nachhaltigkeit ökologische, ökonomische und soziale Aspekte zusammengedacht und davon ausgegangen, dass sie sich gegenseitig beeinflussen (v. Hauff 2012, S. 5 f.; König 2011, S. 51; Vogt 2013, S. 139 f.). Grundlegend, insbesondere für politische Programme, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen, sind der BrundtlandBericht von 1987 (United Nations 1987) und die Beschlüsse der Weltklimakonferenzen. Der Brundtland-Bericht definiert nachhaltige Entwicklung als eine, mit der die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt werden, ohne dass die Fähigkeit künftiger Generationen, dies ebenfalls zu tun, beeinträchtigt wird (ebd.). Dazu soll ein Veränderungsprozess angestoßen werden, der dazu führt, dass auch die Art und Weise der Nutzung natürlicher Ressourcen, die Investitionen und der technologische Fortschritt, sowie institutionelle Ordnungen auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden (ebd.). Die im vorangegangenen Kapitel beschriebene Wachstumslogik wird also nicht grundsätzlich verworfen, sondern neu ausgerichtet. Ob dies einen Vorteil oder einen Nachteil der Idee darstellt, ist umstritten. Einerseits sind solche Ansätze an das aktuelle System anschlussfähig (Blühdorn 2016, S. 271). Andererseits wird kritisiert, dass die verwendeten Definitionen so allgemein sind, dass sie verwässert und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden, ohne dabei den angestrebten Veränderungsprozess anzustoßen (Ott 2010, S. 164). Inwiefern dabei eine Abwendung von Wachstum und technischen Lösungen notwendig ist, um überhaupt von Nachhaltigkeit sprechen zu können, ist umstritten (Vogt 2013, S. 163). Das Konzept der starken Nachhaltigkeit mit ökologischem Fokus würde annehmen, dass Naturkapitalien einen anderen Rang genießen als von Menschen Erschaffenes. Natürliche Ressourcen wären daher besonders schützenswert, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich eine technische Möglichkeit findet, sie zu ersetzen (Ott 2010, S. 170, 177). Daran teils anschließende Green Growth-Ansätze beziehen sich explizit darauf, dass die Forderung nach nachhaltigen Technologien auch eine Chance auf Wachstum bedeuten kann. Dadurch wird eine verstärkte Mobilisierung von Kapital und politischer Unterstützung für besagte Änderungsprozesse angestrebt (Brown et al. 2014, S. 10). Ökonomische Nachhaltigkeit im engeren Sinne zielt hingegen darauf ab, die grundlegenden Ressourcen wirtschaftlicher Aktivität möglichst langfristig zu sichern (v. Hauff 2012, S. 5 f.). Dabei werden sowohl effizientere Ressourcennutzung in bestehenden Verfahren als auch die Ersetzung von Verfahren durch neue technische Lösungen beachtet (Rogall 2006, S. 202). Den Fokus auf die sozialen Aspekte von Wachstumsprozessen legt das Konzept des inklusiven Wachstums (Burchardt 2017, S. 28). Wachstum soll hier so gestaltet werden, dass auch die am meisten von Armut betroffenen Teile der Bevölkerung davon profitieren (ebd.). Dies kann unter anderem durch effizienz- und produktionssteigernde Technologien beispielsweise in der Landwirtschaft geschehen, die Überschüsse und Arbeitsplätze generieren sollen (Arndt et al. 2016, S. 27). Investitionen in Bildung und Verwaltungsstrukturen werden hier in den Blick genommen (Nanjira 2010, S. 356 f.). Andere Ansätze schlagen darüber hinaus selektives Wachstum in ökologisch und sozial verträglichen Rahmungen vor (Rogall 2006, S. 199, vgl. Moyo 2012, S. 196 f.). Auch in der Entwicklungspolitik ist der Begriff der Nachhaltigkeit vielfältig anzutreffen. Zentral

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ist dabei das Thema der Ungleichheit zwischen den Staaten des Globalen Nordens, in denen relativer Wohlstand herrscht und die finanziellen Ressourcen für den Einsatz nachhaltiger Technologien vorhanden sind, und dem Globalen Süden, in dem sich die Folgen von Klimawandel und Ungleichheiten im Wirtschaftssystem umso stärker auf das Leben der Einzelnen auswirken (Bethge et al. 2011, S. 29). Dabei wird hinterfragt, ob ­nicht-nachhaltige Staaten des Globalen Nordens überhaupt in der Position sind, andere Staaten in ihrer nachhaltigen Entwicklung fördern zu wollen (König 2011, S. 63 f.). Neben der grundsätzlichen Kritik am Beibehalten der Wachstumslogik, wird diesen Ansätzen ihr Optimismus mit Bezug auf technologische Lösungen vorgehalten und kritisiert, dass sie den Ressourcenverbrauch, den jede Technologie unumgänglich mit sich bringt, nicht ausreichend berücksichtigen (Burchardt et al. 2017, S. 23). Ebenso wird angeführt, dass Rebound-Effekte, also Konsum- und Investitionssteigerung als Folgen von Effizienzsteigerungen, nicht einbezogen werden (ebd.).

2.3.3 Wachstumskritische Ansätze In Abgrenzung zu den bisher betrachteten Ansätzen sollen nun solche vorgestellt werden, die eine kritische oder ablehnende Haltung gegenüber Wachstum eint. Sie stehen in Bezug zu Debattenbeiträgen unter dem Stichwort Postwachstum oder Degrowth. Es handelt sich dabei nicht um eine einheitliche theoretische Position, sondern um politische Begriffe mit eigenen theoretischen Implikationen (Latouche 2010, S. 519). Ausgangspunkt ist die Problematisierung der derzeitigen wachstumsbasierten Wirtschaftsweise, die unter ökologischen Gesichtspunkten als nicht länger tragbar identifiziert (Kothari et al. 2014, S. 362), sowie als grundlegend schädlich in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen angesehen wird (Rosa 2018, S. 57 f.). Das Primat des Wachstums verschleiere, dass es auf Grundlage der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Lebensgrundlagen erfolgt, wodurch Ungleichheit und Deprivation global zunehmen (Shiva 2014, S. 11). Es wird bezweifelt, dass ab einem gewissen Lebensstandard die Tatsache, dass Menschen ihr Leben als besser, glücklicher und schöner empfinden, an ein Mehr an Wachstum gekoppelt ist (Barroso et al. 2016, S. 1408; Rogall 2006, S. 192 f.). Durch die räumliche Entgrenzung wirtschaftlichen Handelns werden hingegen Verantwortungsdefizite, Externalisierungseffekte und Ausbeutungsstrukturen gefestigt, wobei Wachstum eher als stabilisierend für Armut denn als Garant für ein besseres Leben gesehen wird (Rosa 2018, S. 57; Paech 2018, S. 209; Lessenich 2018, S. 24). Auch Ansätzen zu nachhaltiger Entwicklung und Green Growth wird vonseiten der PostwachstumsArgumentation kritisch begegnet (Unmüßig 2018, S. 80): solche Ansätze verbreiteten die Illusion, dass die Herausforderungen des Klimawandels ohne tief greifende Veränderung in Politik und individuellem Verhalten bewältigt werden könnten (ebd.). Auch wenn nachhaltigere Technologien nicht immer grundsätzlich abgelehnt werden, werden sie dennoch nicht als ausreichende Lösung angesehen. Zum einen, da ihre Entwicklung primär von Wachstumsmöglichkeiten und Gewinninteressen gesteuert wird und weniger von dem Ziel, die umweltverträglichsten Lösungen für die drängendsten Probleme zu finden (Rosa 2018, S. 57 f.). Zum anderen würden dafür Ressourcen verbraucht und im

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Rahmen von Rebound-Effekten die Gewinne im derzeitigen System in Expansionen zu Lasten der ökologischen Systeme investiert (Dörre 2014, S. 562 f.). Die meisten Nachhaltigkeitskonzepte, mit Ausnahme der Idee einer konsequenten, starken Nachhaltigkeit, wirken nicht im hier geforderten Maße beschränkend auf wirtschaftliche Aktivitäten, so ein weiterer Kritikpunkt (Kothari et al. 2014, S. 370 f.). Gemeinsames Ziel der Ansätze ist im breitesten Sinne eine Entkopplung der Verbesserung in den Lebensbedingungen konkreter Personen von den Kennzahlen industrieller Produktion (Latouche 2010, S. 521). Zu diesem Ziele werden innerhalb der Postwachstumsbewegung verschiedene alternative Gesellschaftsmodelle diskutiert. Dabei werden die Grenzen ökologischer Nachhaltigkeit respektiert und meist eine gemeinschaftliche Wirtschaftsweise angesetzt sowie Umverteilungen zur Beseitigung von Ungleichheiten angestrebt (Kothari et al. 2014, S. 370 f.; vgl. Rosa 2018; Dellheim 2018; Habermann 2018). Als zentrale Prinzipien schlägt beispielsweise Niko Paech (2018, S. 216 ff.) den Umbau der Wirtschaft auf den Erhalt vorhandener Güter beispielsweise durch Reparatur, Maßnahmen wie Vermögenssteuer und CO2-Kontingente, Regionalökonomie, Suffizienz und Subsistenz vor. Insbesondere letztere soll in wachstumsbasierten Ansätzen eher überwunden werden und gilt dort als Zeichen mangelnder Entwickeltheit (Arndt et al. 2016, S. 27). Auf globaler Ebene ergibt sich aus der Postwachstumsperspektive die Forderung nach einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden. Die Homogenisierung von Entwicklungspfaden durch die Orientierung am Modell des Globalen Nordens wird kritisiert, da dadurch anderen Regionen die Konsum- und Produktionsmuster aufgedrängt werden, die die derzeitigen ökologischen Probleme verursacht haben (Kothari et al. 2014, S. 366; Burchardt et al. 2017, S. 21). Ein weiteres Problem stellt die Ungleichheit beim Verbrauch der Ressourcen dar (Lessenich 2018, S. 26 f.). Durch den Verbrauch im Globalen Norden werden Ressourcen zerstört, die an anderer Stelle notwendiger für die Sicherung von Lebensgrundlagen wären. Daraus ergibt sich die Forderung, dass die Entwicklung mit einem Umdenken im Globalen Norden beginnen muss (Dörre 2014, S. 562; Latouche 2010, S. 520).

3 Formaltheoretische Rahmung und Methode Die Untersuchung nutzt eine pragmatistisch-rekonstruktive formaltheoretische Rahmung, die im Folgenden expliziert werden soll. Als Methode wurde die Grounded Theory gewählt.

3.1 Ontologische Grundlagen und zentrale Begriffe der Fragestellung Der Fokus dieser Untersuchung liegt auf der Rekonstruktion von in Handlungsregeln inkorporiertem sozialem Sinn und knüpft damit an die Tradition des Pragmatismus an.

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Dieser versteht die soziale Welt als eine Mischung aus physischen und sozialen Tatsachen, die durch intersubjektiven Sinn und Wertbeziehungen konstituiert werden (Friedrichs und Kratochwil 2009, S. 704). Sie ist voll von kontingenten Handlungsordnungen und Regeln (ebd., S. 703). Sinn und Bedeutung werden sprachlich vermittelt, durch Erfahrung gebildet und verfestigen sich in Überzeugungen, Handlungsregeln und Strukturen (Franke und Roos 2013, S. 19). Diese beeinflussen die Interpretation von Erfahrungen und werden dabei gleichzeitig durch Zweifel und neue Erfahrungen aktualisiert (Hellmann 2017, S. 364). Denken und Handeln werden gemeinsam gedacht und spielen bei der intersubjektiven Konstruktion von Sinn zusammen (ebd.; Jasper 2013, S. 33). Überzeugungen, die Handlungen anleiten und in Strukturen verstetigt werden, sollen hier als Handlungsregeln bezeichnet werden (Roos 2010, S. 58). Handlungsregeln werden intersubjektiv konstituiert und vermittelt. Sie erzeugen Effekte in der Interaktion und strukturieren diese, indem sie Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen (Roos 2010, S. 63, 2013, S. 314). Charles Sanders Peirce, einer der zentralen klassischen Pragmatisten, postuliert, dass Zeichen ihre Wirkung bedeuten. Die intersubjektiven Bedeutungen und Handlungsregeln lassen sich also aus den Wirkungen rekonstruieren, die sie im Handeln konkreter Personen entfalten (Roos 2013, S. 316). Der Sinngehalt der Handlungsregeln mit Bezug zu Wachstum und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für politische Handlungen sowie die gemeinsamen Lösungsstrategien der AU und der EU für als geteilt verstandene Herausforderungen stehen im Fokus des Forschungsinteresses. Handlungsregeln strukturieren Handlungen und Prozesse auf so grundlegende Weise, dass sie in allen dokumentierten Handlungen ihres Anwendungsbereichs (Roos 2013, S. 326) ebenso wie in Fremdbeschreibungen (Franke und Roos 2017, S. 632) gefunden werden können. Daher werden politische Dokumente, aber auch andere Berichte über Handlungen in Form journalistischer Berichte in die Untersuchung einbezogen. Die Afrikanische und die Europäische Union sowie die Partnerschaft werden jeweils als Strukturen kollektiven Handelns verstanden (vgl. Franke und Roos 2010, S. 1062). Strukturen kollektiven Handelns sind sozial konstruierte Gebilde aus Zeichen, die einen bestimmten sozialen Sinn verkörpern (ebd., S. 1066). Sie ermöglichen das Handeln von Akteur*innen oder beschränken es, handeln aber nicht selbst (ebd., S. 1064). Sie bestehen aus spezifischen Zusammensetzungen verschiedener Handlungsregeln, die das Verhältnis der Akteur*innen innerhalb der Strukturen, deren Kompetenzen und Aufgaben sowie das Verhältnis zu anderen Strukturen regeln (ebd., S. 1068). Dieses Konzept scheint insbesondere deshalb angemessen, da es sich bei den hier betrachteten um Organisationen handelt, deren grundlegendes Prinzip es ist, Menschen zusammenzubringen, die im Anschluss in ihrem jeweiligen Bereich als Akteur*innen im Sinne ihrer Interpretation der vermittelten Handlungsregeln handeln. Im vorliegenden Beitrag stehen insbesondere solche Handlungsregeln im Fokus, die das konstitutive Problem definieren, das der Einrichtung der Afrika-EU-Partnerschaft zugrunde liegt, sowie Handlungsregeln, die eine Beziehung zum Begriff Wachstum aufweisen. Für den Begriff Wachstum soll hier keine abschließende Definition vorangestellt werden, ist es doch Teil des Forschungsinteresses,

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zu rekonstruieren, mit welchen Bedeutungen er im Rahmen der Afrika-EU-Partnerschaft gefüllt wird. Auf theoretischer Ebene wird Wachstum verstanden als das Thema einer diskursiven Arena, in der dieser Begriff durch Aussage- und Handlungspraxen verhandelt und um seine genaue Bedeutung gestritten wird (Keller 2011, S. 66 ff.).

3.2 Epistemologische Grundlagen Im Einklang mit der pragmatistischen Perspektive soll wissenschaftlich generiertes Wissen hier als konstruiert und durch die theoretischen Annahmen und das Vorwissen bedingt angenommen werden (Jasper 2013, S. 36; vgl. Friedrichs und Kratochwil 2009, S. 716 ff.). Trotz dieser Prägung des Forschungsprozesses durch persönliche Wissensbestände sind die generierten Ergebnisse der Rekonstruktion von Handlungsregeln nicht beliebig und können intersubjektiv nachvollzogen werden (Franke und Roos 2018, S. 14). Grund dafür ist, dass die Personen, die an der Konstruktion der Sinnsysteme beteiligt sind, selbst in diese eingebunden sind und sie daher dechiffrieren können (ebd. 2013, S. 17). Ziel pragmatistischer Forschung ist nicht, eine unumstößliche Wahrheit zu finden, sondern das Generieren gegenstandsbezogener Hypothesen und Erklärungen, um die Reflexion des Gegenstandes zu verfeinern (Hellmann 2017, S. 376 f., 375). Die im Rahmen dieses Beitrages generierten Erkenntnisse über die Afrika-EU-Partnerschaft sollen dabei helfen, die Hintergründe sozialen und politischen Handelns im konkreten Fall besser verstehen und kritisieren zu können (vgl. Dewey 2004, S. 236). Insbesondere da eines der Ziele das Hinterfragen bestehender Wissensbestände ist, muss sich auch der vorliegende Diskursbeitrag an die innerhalb der Disziplin intersubjektiv vorhandenen Wissensbestände angliedern und gleichzeitig für Kritik offenbleiben (Franke und Roos 2013, S. 20). Das im Forschungsstand versammelte Wissen dient dementsprechend als Vergleichsfolie für die aus den Daten rekonstruierten Phänomene und als Ausgangspunkt für die Fragen, die an die Daten gestellt werden (Strauss 1994, S. 36; Strübing 2014, S. 29). Dabei wird die wissenschaftliche Literatur nicht als grundsätzlich andersartig als andere analysierte Texte verstanden, sondern als Diskursbeiträge aus der Wissenschaft. Diese Einstellung soll eine kontinuierliche Offenheit bei der Herangehensweise an das Material ermöglichen und verhindern, dass die Daten schlichtweg unter zuvor rezipierte wissenschaftliche Theorien subsummiert werden und Abweichendes in den Daten übersehen wird (Lempert 2007, S. 254; Roos 2010, S. 85). Im Gegenteil sollen die Handlungsregeln aus den Daten selbst herausgearbeitet und die dabei entstehenden Hypothesen immer wieder überprüft und verworfen werden (Franke und Roos 2018, S. 9; Friedrichs und Kratochwil 2009, S. 716 ff.). Durch diese kontinuierliche Weiterentwicklung und Plausibilitätsprüfung können dabei intern und extern konsistente und in diesem Sinne valide Ergebnisse entstehen (Franke und Roos 2018, S. 18 f.). Die Rekonstruktion der Handlungsregeln erfolgt zudem in Muße, also im Nachhinein ohne den Handlungsdruck der akuten Entstehungssituation der Dokumente und anhand methodischer Regeln (ebd., S. 6). Dadurch wird die tiefergehende Dechiffrierung sozialen Sinns ermöglicht (ebd. 2013, S. 12).

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3.3 Grounded Theory als Methode rekonstruktiver Forschung Der vorliegende Beitrag nutzt die Grounded Theory7 als Verfahren zur Rekonstruktion von Handlungsregeln, da sie die ontologischen Prämissen des Pragmatismus teilt (Franke und Roos 2018, S. 2 ff.). Das grundlegende Prinzip ist dabei, dass sich sowohl die Analyse als auch die Datenauswahl von sukzessiv entstehenden Interpretationen und generierten wie verworfenen Hypothesen leiten lassen (Lueger 2010, S. 220) und immer wieder zwischen verschiedenen Analyseschritten gewechselt wird (Strübing 2014, S. 29). Einen ersten Zugang zu den Daten ermöglicht das Stellen generativer Fragen, die aus der Forschungsfrage abgeleitet und vom vorhandenen Hintergrundwissen geprägt werden (ebd., S. 87; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 212). Die Auswahl von Daten wird im Rahmen des sogenannten theoretical sampling vom aktuellen Standpunkt der entstehenden Theorie aus vorgenommen, wann immer die bisher genutzten Daten keine neuen Erkenntnisse zutage bringen (ebd., S. 32). Es werden gezielt Materialien einbezogen, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie die entstehenden Kategorien herausfordern oder festigen können (Strübing 2014, S. 30 f.). Das Kodierverfahren der Grounded Theory ergänzt induktive und deduktive Prinzipien um das Vorgehen der Abduktion. Letzteres beschreibt, dass Forschung nicht ausschließlich aus der Anwendung und Prüfung von Theorien besteht, sondern durch die gezielte Auseinandersetzung mit dem Unbekannten genuin neue Ideen gewonnen werden können (Peirce 2004, S. 207; Strübing 2014, S. 47). Diese werden dann immer wieder an weiteren Daten überprüft (Dewey 2004, S. 233; Strübing 2014, S. 47). Das Kodieren des Materials wird vom Schreiben von Memos begleitet, in denen theoretische Konzepte entwickelt, hinterfragt und in Beziehung gesetzt werden (Muckel 2011, S. 350; Lempert 2007, S. 245). In der vorliegenden Untersuchung wurden dabei die drei Schritte des offenen und relativ spontanen Kodierens, des axialen Kodierens, bei dem die Beziehungen und Dimensionen der entstehenden Kategorien im Fokus stehen und das selektive Kodieren mit Blick auf den Gesamtzusammenhang des Kategoriensystems genutzt (Jasper 2013, S. 48 ff.; Strauss 1998, S. 63).

3.4 Analysiertes Material Ausgangspunkt der Materialauswahl waren die Gründungsdokumente und der Internetauftritt der Afrika-EU-Partnerschaft, da hier davon auszugehen war, dass grundlegende Handlungsregeln besonders deutlich werden und spätere Dokumente darauf aufbauen.

7Der

Begriff bezeichnet sowohl das hier beschriebene methodische Verfahren, den Forschungsstil, als auch das prinzipiell angestrebte Ziel einer in den empirischen Daten begründeten Theorie (Strübing 2014, S. 10). Im Folgenden wird er ausschließlich zur Bezeichnung des Forschungsstils verwendet (ebd.).

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Darüber hinaus wurden die Erklärungen der Afrika-EU-Gipfel 2007, 2010, 2014 und 2017 sowie die dazugehörigen Strategieplanungen analysiert. Außerdem wurden im Rahmen der theoretical sampling-Strategie Dokumente aus einzelnen Arbeitsbereichen der Partnerschaft, insbesondere Energie und Infrastruktur ausgewählt, da diese sich für die entstehenden Hypothesen in Bezug auf Wachstum, Entwicklung und Nachhaltigkeit als besonders fruchtbar erwiesen. Da im Rahmen einer politischen Institution, deren Arbeitsweise auf die Herstellung von Konsens und Kompromissen angelegt ist, wenig Kritik innerhalb offizieller Dokumente zu erwarten ist, wurden außerdem journalistische Veröffentlichungen einbezogen. Wie bereits erwähnt, liegt dem die Annahme zugrunde, dass sich auch in Fremdbeschreibungen Informationen über Handlungsregeln einer Institution finden lassen (Franke und Roos 2017, S. 632). Auf journalistischer Ebene wurden hierfür afrikanische und europäische Nachrichtenportale durchsucht, wobei die Suche auf afrikanischen Portalen leider keine Ergebnisse lieferte. Im zivilgesellschaftlichen Bereich wurde neben einer breitangelegten Internetrecherche gezielt auf Organisationen zurückgegriffen, die kritisch gegenüber der EU-Afrikapolitik und dem gängigen Verständnis von Wachstum eingestellt sind. Dabei zeigte sich jedoch wiederholt, dass die Afrika-EU-Partnerschaft als politisches Format hierbei wenig bis gar keine Behandlung erfährt, sondern der Fokus der Kritik auf den EPAs liegt.

4 Ergebnisse der Analyse Als grundlegende Handlungsregel der Afrika-EU-Partnerschaft mit Blick auf Wachstum, an der auch die anderen Aspekte der Partnerschaft ausgerichtet sind, stellte sich im Rahmen der Analyse das Prinzip der investitionsbasierten Entwicklung (Abschn. 4.1) heraus. Sie umfasst die Kodes und Kategorien zum Thema Wachstum und prägt die vorgeschlagenen Lösungswege und Strategien der Partnerschaft im Umgang mit den Herausforderungen der Zukunft und der Gestaltung von Veränderungsprozessen (Abschn. 4.2). Außerdem ist die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen den beiden Staatenverbünden konstituiert wird und die Probleme, die der Afrika-EU-Partnerschaft als Struktur kollektiven Handelns zugrunde gelegt werden, auf diese Handlungsregel ausgerichtet (Abschn. 4.3). Die Ergebnisse der Analyse sind in der folgenden Grafik (Abb. 1) abgebildet, wobei die Kategorien eines höheren Abstraktionsniveaus die eines niedrigeren erklärend umfassen.

4.1 Investitionsbasierte Entwicklung Die zentrale Handlungsregel der Afrika-EU-Partnerschaft besteht in der Nutzung von Investitionen staatlicher, aber vor allem privater Unternehmen, in die Wirtschaft der

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Abb. 1   Kategoriensystem. (Eigene Darstellung)

AU, die als treibende Kraft für Entwicklung fungieren sollen (a-0)8. Diese Investitionen sollen allen Beteiligten Vorteile bringen: Staatenverbünden und einzelnen Staaten, da sie wirtschaftliches Wachstum generieren, den beteiligten Unternehmen, da die Investoren Gewinne erhalten und die Kapitalnehmenden ebenfalls Gewinne erwirtschaften und wachsen können. Ebenso profitieren sollen aber auch die Menschen, insbesondere in der AU, da durch Wachstum Arbeitsplätze und Wohlstand geschaffen werde, wie auch die Umwelt, da innovative Technologien Ressourcen schonen sollen. Die damit beschriebene Logik setzt auf das neoklassische ökonomische ­Wachstumsmodell (Barry

8Die

Bezeichnung verweist auf die Position im Kategoriesystem, siehe Abb. 1.

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2016, S. 304 ff.; Rogall 2006, S. 58 ff.), in Kombination mit Ansätzen zu nachhaltigem, inklusivem und grünem Wachstum. Eine Entkopplung von Wachstum und der Verbesserung von Lebensumständen, wie sie von Postwachstumsansätzen gefordert wird, wird dabei nicht einbezogen. Die investitionsbasierte Entwicklung als Handlungsregel gründet also unter anderem auf der Überzeugung, dass Wachstum notwendig ist für die Verbesserung der Lebensumstände für die breite Bevölkerung. Zugleich ist die Entwicklung damit aber auch abhängig von den Interessen der Investoren, insbesondere von deren Gewinnerwartungen und Investitionspräferenzen (Woll 2011, S. 374). Die Rollen der AU und der EU sind hierbei eher von Handlungsskripten des Vermittelns und Verknüpfens geprägt. Die EU stellt Sicherheiten für europäische Unternehmen bereit, die in afrikanische Projekte investieren möchten und der AU kommt hierbei eine Koordinationsfunktion zu. Da Wachstum die Grundlage für die investitionsbasierte Entwicklung darstellt, ist dies auch eines der beiden zentralen Konzepte innerhalb dieser Kategorie (a-1). Wachstum fungiert sowohl als Weg, um Wohlstand und andere Ziele zu erreichen, als auch als Ziel selbst, zu dessen Realisierung eine Reihe insbesondere politischer Maßnahmen angestoßen werden. Es werden keine anderen Optionen hierfür angesprochen, allerdings wird reflektiert, dass dieser Mechanismus voraussetzungsvoll ist und gestaltet werden muss (b-0). Wachstum ist positiv konnotiert und wird als Mittel zur Armutsreduktion angesehen (a-1-1; EU-Africa Summit 2014b). Dies bezieht sich explizit vor allem auf die Afrikanische Union, wobei anzunehmen ist, dass auch für die EU die Kontinuität von Wachstum als Basis für die Sicherung des Lebensstandards gilt (Moses 2015, S. 1001). Der Fokus liegt dabei unter anderem auf der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen. Dies bietet die Möglichkeit, lokale Beschäftigungsmodelle flexibel zu unterstützen, ist aber weiterhin abhängig davon, dass ein externes Interesse daran besteht, in diese zu investieren. Letzteres ist aus Sicht von Postwachstumsansätzen zu problematisieren, da das Handeln damit von der ökonomischen Logik der Steigerung bestimmt wird und nicht von den direkten Bedürfnissen der Menschen und ihrer Umwelt (Rosa 2018, S. 58 f.). Wachstum fungiert im Rahmen der Partnerschaft zudem als ein zentrales gemeinsames Ziel, das die politischen Strukturen kollektiven Handelns beide anstreben (a-1-2; EU-Africa Summit 2014a). An Nachhaltigkeit orientierte andere Ziele, wie beispielsweise Suffizienz, werden nicht in Erwägung gezogen (Dörre 2014, S. 562; Latouche 2010, S. 520; Abschn. 2.3.3). Wachstum als Ziel verbindet sich mit der rhetorischen Neuausrichtung der Partnerschaft weg von der hierarchischen Entwicklungshilfebeziehung hin zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe (vgl. c-2). Zudem ist die Zusammenarbeit mit der AU aus Sicht der EU nun nicht mehr durch abstrakte Ideen wie Humanität zu rechtfertigen, sondern liegt im eigenen strategischen Interesse an Wachstum und Export (Mangala 2013a, S. 4). Dieser Perspektivwechsel erfolgt unter anderem im Lichte der krisenhaften Entwicklungen in der EU, die beim Gipfel 2014 aufgegriffen werden (EU-Africa Summit 2014a). Damit ist jedoch weder gesagt noch sichergestellt, dass nicht weiterhin ein Macht- und Ressourcengefälle herrscht und sich die Maßnahmen weiterhin hauptsächlich zugunsten der EU auswirken (Burchardt et al. 2017, S. 19). Ebenfalls im Jahr 2014

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und insbesondere mit den 2017 verabschiedeten neuen Prioritäten der Partnerschaft wird der Begriff Wachstum in den Dokumenten häufig durch den Begriff der wirtschaftlichen Transformation (a-1-3) ersetzt oder ergänzt. Der Fokus des Transformationsbegriffes liegt stärker auf der Betonung der Dynamik der Wirtschaft in der AU und den Möglichkeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologie für einen demografisch jungen Kontinent. In der Verbindung mit Industrialisierung werden hier Aspekte der Green Growth-Ansätze aufgegriffen, da insbesondere nachhaltige Technologien als Wachstumsmarkt ausgemacht werden (siehe b-4-1). Zentrale Struktur kollektiven Handelns für die Umsetzung der investitionsbasieren Entwicklung ist der Privatsektor (a-2), dem eine Doppelfunktion zukommt. Zum einen soll die Privatwirtschaft Investitionen tätigen und damit als Motor für Wachstum zu besseren Lebensbedingungen beitragen. Der Privatsektor soll als Entwicklungsantrieb auch helfen, die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung und Infrastruktur voranzutreiben, indem er sie finanziert, um sie selbst zu nutzen und sie gleichzeitig der Allgemeinheit zur Verfügung stellt (6th EU-Africa Business Forum 2017). Eine weitere Funktion des Privatsektors bezieht sich auf die strukturelle politische Entwicklung von Staaten. Zugrunde liegt ihr die Annahme, dass Unternehmen, aber auch Staaten und ganze Kontinente, sich als attraktiv erweisen müssen, wenn sie Investitionen anziehen wollen (a-3). Es werden also Bedingungen benannt, die die Staaten zu erfüllen haben, um von dem privatwirtschaftlichen Entwicklungsantrieb profitieren zu können. Diese liegen insbesondere in Reformen in den Bereichen Verwaltungsstrukturen, Rechtssicherheit, Korruptionsbekämpfung, Frieden und Sicherheit, Menschenrechte, aber auch im Agrar- und Energiesektor (a-3-1). Einerseits werden diese Reformen als Bedingungen für die Investitionen gesehen, zum anderen werden die Reformen auch selbst dadurch legitimiert, dass sie zur Steigerung der Attraktivität und Wirtschaftswachstum führen. Somit dient das Streben nach Wachstum hier als diskursive Legitimation für die Forderung nach Reformen (EU-Africa Summit 2014b). Diese Anforderungen erinnern an das, was in anderen Kooperationsformaten der EU mit Afrika als Konditionalität kritisiert wird (Nanjira 2010, S. 380). Die privaten Investoren werden hier, an Stelle der EU als Entwicklungshilfegeberin, in die Position versetzt, Anforderung an die staatlichen Strukturen der Länder zu stellen, in denen sie investieren. Allerdings sind die Reformen wiederum auf die Bedürfnisse der Investoren auszurichten und müssen damit nicht unbedingt den Interessen der Bevölkerung entsprechen. Auch auf der kontinentalen Ebene werden Bedingungen für eine gesteigerte Attraktivität für Investitionen formuliert: Die Integration der afrikanischen Staaten in den Weltmarkt (a-3-2) und das Herstellen von Wettbewerbsfähigkeit (a-3-3).

4.2 Qualitative Anforderungen an den Entwicklungsprozess Auch im Rahmen der investitionsbasierten Entwicklung findet eine Reflexion aktueller globaler Herausforderungen statt. So werden die Inklusivität des Wachstums- und

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­ ntwicklungsprozesses (b-2), Nachhaltigkeit (b-3), und Klimaverträglichkeit (b-4) auch E im Rahmen der Afrika-EU-Partnerschaft thematisiert. Zentraler Mechanismus, um diese Anforderungen umzusetzen, sind verantwortungsvolle Investitionen (b-1). Hier zeigt sich ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber privatwirtschaftlichen Organisationen. Wachstum wird an dieser Stelle nicht als generell problematisch für die Entwicklung des Weltklimas gesehen, sondern ganz im Gegenteil gilt der Klimawandel als Chance für die Entwicklung und die Generierung von Nachfrage für neue innovative Technologien, also als Wachstumstreiber. Inklusivität, Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit sind innerhalb der Handlungsregeln des Programms investitionsbasierter Entwicklung dem grundlegenden Ziel Wachstum nachgeordnet und wachstumsfördernd, nicht beschränkend gedacht (Unmüßig 2018, S. 80). Da die Investoren innerhalb der Handlungsregeln der Afrika-EU-Partnerschaft die Position als die treibende Kraft der Entwicklung einnehmen, erscheint es folgerichtig, dass ihnen auch erhebliche Verantwortung für die Gestaltung der Entwicklungsprozesse zugeschrieben wird (b-1). Sie sollen Nachhaltigkeitsstandards beachten und sozial inklusives Wachstum anstoßen (­ EU-Africa Summit 2014b; Lorenz 2017). Dies kann unter Umständen über Anforderungen der EU-Investitionsförderung kontrolliert oder als Vorgabe formuliert werden, jedoch kommt es hier auf den individuellen Weg der Investition an. Darüber hinaus verlässt sich dieser Mechanismus, der neoklassischen Wachstumslogik folgend (vgl. Rogall 2006, S. 58 f.), auf die Eigeninteressen der Investoren. Beispielsweise verlässt er sich auf deren Interesse an nachhaltigem Wirtschaften, um die Grundlagen der Produktion möglichst lange zu erhalten oder an inklusivem Beschäftigungswachstum und Bildung, um vor Ort gut ausgebildete Arbeitskräfte zu finden. Dabei liegt die Verantwortung allerdings auch in den Händen der Kapitalnehmenden, da sie zumindest teilweise Forderungen an die Investoren stellen und so die Möglichkeit besteht, Entwicklungsziele im lokalen Kontext umzusetzen. An zahlreichen Stellen innerhalb der Dokumente der Afrika-EU-Partnerschaft wird die Handlungsregel betont, dass der angestrebte Wachstums- und Entwicklungsprozess der Bevölkerung insbesondere Frauen, jungen Menschen und der ruralen Bevölkerung zugutekommen soll und daher inklusiv (b-2) zu gestalten sei (vgl. Burchardt 2017, S. 28). Besonders diesen Gruppen soll ermöglicht werden, an ökonomischen Prozessen innerhalb des Wachstumssystems teilzuhaben, indem Arbeitsplätze, Beteiligungsund Bildungsprogramme geschaffen und Selbstständigkeit und Unternehmertum gefördert werden (EU-Africa Summit 2014a). Die Frage, ob und inwiefern dieses Ziel umgesetzt wird, ist im Rahmen der hier unternommenen Analyse nicht zu beantworten, sondern ließe sich nur an konkreten Einzelfällen untersuchen. Zivilgesellschaftliche Organisationen (b-1-1; EUEI-PDF 2014) sollen die Lücke füllen, wenn die Wachstumsinteressen anderer Organisationen nicht im Einklang mit dem Konzept der Inklusivität stehen oder Unternehmen nicht die notwendige Expertise dafür aufweisen. Nachhaltigkeit wird im Rahmen der Afrika-EU-Partnerschaft insbesondere unter den Gesichtspunkten der Stabilität und der Langfristigkeit verhandelt (b-3). Der Aspekt Stabilität bezieht sich auf die Krisenfestigkeit und Resilienz der wirtschaftlichen Systeme. Langfristigkeit meint zum einen die Haltbarkeit physischer Infrastruktur als

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auch die Investition in gesellschaftliche Prozesse wie Bildung, die ebenfalls zu langfristigen Entwicklungsprozessen und besserem Investitionsklima führen sollen (vgl. Africa-EU Summit 2010a). Das Thema der Klimaverträglichkeit wird insbesondere im Bereich der Energieversorgung und der Nutzung verschiedener Technologien aufgegriffen (b-4). Dabei wird die Verantwortung für das Klima und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen betont. Es ist durchaus die Überzeugung zu erkennen, dass die Kombination aus Wachstum, Armutsreduktion und Klimaverträglichkeit voraussetzungsvoll und kein Automatismus ist. Dennoch findet sich insgesamt auch hier eine Ausrichtung auf wirtschaftliches Wachstum und technologische Lösungen. Es finden sich keine konkreten Regelungen, wie diese Kombination sichergestellt werden kann. Der Ansatz entspricht eher dem schwachen Nachhaltigkeitsverständnis von Green ­Growth-Ansätzen, die auf Effizienzsteigerung und Technologie setzen (Ott 2010, S. 169; Vogt 2013, S. 134 f.; Abschn. 2.3.2). Die angesprochenen Lösungen (b-4-1) sind insbesondere der Einsatz und die Erprobung innovativer Technologien und nachhaltiger beziehungsweise erneuerbarer Energiegewinnung, wofür die Staaten der AU verschiedenste geografische Möglichkeiten bieten. Diese werden als ein zentraler Wachstumsfaktor gesehen, um Investitionen auch in diesen Regionen anzuziehen und die Lebensumstände auf lokaler Ebene zu verbessern (EUEI-PDF 2014). Insbesondere europäische Unternehmen sollen ihre technische Expertise einbringen und dafür die Möglichkeit erhalten, neue Konzepte zu erproben. Die Aussicht, günstige und erneuerbare Quellen für Energie zu erschließen, liegt dabei im Interesse auch der EU, die an deren Import interessiert ist. Dieses Abstellen auf technologiebasiertes Wachstum als Ausweg aus dem Konflikt zwischen endlichen Ressourcen und dem bisherigen Wirtschaftssystem kann allerdings dafür kritisiert werden, dass es die Komplexität seiner Umsetzung verschweigt. Denn die Frage, wann und welche Technologien tatsächlich nachhaltig sind, ist nicht immer simpel zu beantworten (Unmüßig 2018, S. 80; Abschn. 2.3.3). Dies entspricht wiederum der Handlungsregel der investitionsbasierten Entwicklung (6th EU-Africa Business Forum 2017). Außerdem wird der Klimawandel auch direkt als Wachstumsfaktor angesprochen (b-4-1-2), denn durch dieses globale Szenario entsteht eine wachsende Nachfrage nach den bereits angesprochenen Technologien. Diesen Bereich sollen afrikanische Staaten als Wachstumschance für sich nutzen. Insgesamt weist der Ansatz, mit seiner Betonung der Möglichkeit und Notwendigkeit technischer Lösungen, erhebliche inhaltliche Parallelen zu Green Growth- beziehungsweise Green ­Economy-Ansätzen auf (Brown et al. 2014, S. 2; Africa-EU Summit 2010b). Diese Ansätze können als primär auf die Wachstumsinteressen des Globalen Nordens ausgerichtet kritisiert werden (Brown et al. 2014, S. 2, 13). Außerdem findet weder eine Analyse der strukturellen Bedingungen statt, die zu Elend und Hunger führen, noch die Anerkennung physischer Grenzen von Wachstum (Kothari et al. 2014, S. 364 f.). Andererseits gilt dieser Ansatz insbesondere in der politischen Praxis als ein Türöffner für das Anstoßen von Veränderungsprozessen, da diese sich so in die bestehende Wirtschaftsordnung integrieren und mit den Eigeninteressen verschiedener Interessensgruppen verknüpfen lassen (Brown et al. 2014, S. 10).

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4.3 Die Beziehung zwischen Afrika und der EU Die Grundlage für das Problemverständnis innerhalb der Struktur kollektiven Handelns und für die Handlungsregel der investitionsbasierten Entwicklung ist die Beziehung der beiden Staatenverbünde zueinander (c-0). Die in den Gipfelerklärungen vorgenommene Konstruktion von Gemeinsamkeiten (c-1) dient als Legitimation und Ausgangspunkt für gemeinsames Handeln. Sie erfolgt insbesondere durch die Betonung der historischen und geografischen Nähe (c-1-1) und der gemeinsamen Werte (c-1-2, European Union 2014). Differenzen werden dabei ausgeblendet. Dadurch mag einerseits die Zusammenarbeit erleichtert werden. Andererseits wird dadurch eine Aufarbeitung der von Kolonialismus, Unterdrückung und Völkermorden geprägten Vergangenheit unwahrscheinlicher. Darüber hinaus werden die Interessen der beiden Staatenverbünde als Grundlage der Beziehung angeführt (c-1-3). Die Betonung gemeinsamer Interessen (c-1-3-1) wird in der wissenschaftlichen Literatur als Neuerung angesehen (Carbone 2013, S. 6). Dabei nehmen die Literatur und die Dokumente der Partnerschaft auf globale Herausforderungen Bezug und auf die Tatsache, dass sich Veränderungen auf einem der beiden Kontinente auch auf den anderen auswirken (European Union 2014). Interessen der beiden Partnerorganisationen, die eher außerhalb der wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegen und von einer Organisation auf besondere Weise vertreten werden, werden in den Dokumenten nur selten erwähnt (c-1-3-2). Am ehesten lässt sich ein besonderer Fokus der EU auf das Thema Migration rekonstruieren (Lorenz 2017). Generell wird betont, dass sich die Interessen der beiden Partnerinnen überschneiden, sodass eine Zusammenarbeit zu ihrer Umsetzung zweckmäßig erscheint (c-1-3-3; Lorenz 2017). Insbesondere das Interesse der AU an Wachstum und Entwicklung im Sinne des vorherrschenden typischen Modells wird in den offiziellen Dokumenten unterstrichen (Africa-EU Summit 2010b; Africa-EU Energy Partnership 2017). Wachstum erscheint in der Darstellung der Afrika-EU-Partnerschaft als der Bereich, in dem sich die Interessen am schlüssigsten gegenseitig verstärken, wenn der Prozess im Sinne der Handlungsregel der investitionsbasierten Entwicklung gestaltet wird (vgl. a-1-2). Davon ausgehend werden immer wieder Entwicklungsanforderungen an die AU-Mitgliedsstaaten gestellt und deren Erreichung bewertet (c-1-4). Im Rahmen der Abschlusserklärung des Gipfels in Brüssel 2014 kommen zum ersten Mal in Reaktion auf die Euro-Währungskrise auch Herausforderungen und Probleme der europäischen Partner zur Sprache (EU-Africa Summit 2014b). Wobei auch hier das Erreichen und Generieren von Wachstum als zentrale Herausforderung und gleichzeitig als Lösung der gemeinsamen sowie jeweils eigenen Probleme dargestellt wird und die zentrale handlungsleitende Überzeugung bleibt. Darüber hinaus wird sowohl in den offiziellen Dokumenten als auch in der Literatur die Konstitution einer neuen Art der Partnerschaft herausgestellt (c-2, European Union 2014). Dabei soll also das Geber-Empfänger-Verhältnis überwunden werden, das in der Literatur kritisiert wird (Burchardt et al. 2017, S. 17). Dementsprechend erscheint es angemessen, dass sich die Afrika-EU-Partnerschaft, die sich als Partnerschaft auf Augen-

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höhe verstanden wissen will (EU-Africa Summit 2007), rhetorisch davon abgrenzt. Dies wird insgesamt als Normalisierung des Verhältnisses positiv bewertet und bietet eher als eine Entwicklungshilfebeziehung für beide Organisationen die Möglichkeit, die eigenen Interessen offenzulegen und in die Verhandlungen einzubringen, anstatt Selbstlosigkeit und Dankbarkeit vorzutragen (Africa-EU Energy Partnership 2017). Dennoch bleiben Elemente dieser Idee erhalten, da Teile der Entwicklungshilfe-Beziehung im Rahmen der Afrika-EU-Partnerschaft und anderer Kooperationsformate weiter bestehen. Ebenso erhalten bleibt die Annahme, dass sich die afrikanischen Staaten nach dem europäischen Modell zu entwickeln hätten (vgl. Kothari et al. 2014, S. 366; Burchardt et al. 2017, S. 21). Ob die Überwindung des Geber-Empfänger-Verhältnisses die Neuausrichtung auf eine Beziehung zwischen Investoren und Kapitalnehmenden (c-2-2) tatsächlich und quasi zwangsläufig, wie in den Partnerschaftsdokumenten betont, auf eine Beziehung auf Augenhöhe hinausläuft, muss infrage gestellt werden. Schließlich bleibt die grundsätzliche Ungleichheit von Machtpositionen entsprechend der ungleichen Verteilung von Kapital, um Investitionen zu tätigen, nach wie vor bestehen. Die europäischen Unternehmen bleiben diejenigen, die investieren und damit Anforderungen an die Entwicklung der AU-Staaten stellen können. Investitionen afrikanischer Unternehmen in Europa werden im Rahmen der analysierten Daten nicht erwähnt.

5 Schlussbetrachtung Als grundlegende Handlungsregel innerhalb der Afrika-EU-Partnerschaft zum Thema Wachstum lässt sich also das Prinzip der investitionsbasierten Entwicklung festhalten. Sie leitet sowohl das Verständnis von den Herausforderungen, die die Partnerschaft bearbeiten soll als auch die dafür vorgeschlagenen Lösungen an. Dieser Handlungsregel folgend wird dem Privatsektor die zentrale Rolle in der Gestaltung und Finanzierung der zukünftigen Veränderungen insbesondere in den AU-Staaten zugeschrieben. Dabei werden Themen wie Armutsreduktion und gegebenenfalls auch das Anstoßen von staatlichen Strukturreformen ebenfalls in den Gestaltungsbereich der privatwirtschaftlichen Akteure gestellt und sind somit von deren Wachstumsinteressen abhängig. Offen bleibt, ob diese Akteure sich der ihnen zugeschriebenen Rolle bewusst sind und in wie weit es ihren Interessen entspricht, ihr Handeln danach auszurichten. Qualitative Facetten der Entwicklung werden der Investitions- und Wachstumslogik untergeordnet und es werden keine festen Schranken im Hinblick auf Nachhaltigkeit, Ökologie oder soziale Aspekte festgelegt. Da hier auf das verantwortungsvolle Handeln der Investoren gesetzt wird, sind zukünftige Entwicklungen von den Interessen derer abhängig, die vom Wachstum und den generierten Gewinnen profitieren, sowohl aufseiten der Investoren als auch aufseiten der Kapitalnehmenden. Die zentrale Handlungsregel der Afrika-EU-Partnerschaft beruht auf einer positiven Bewertung von Wachstum als Mechanismus zur Armutsreduktion und für Entwicklung. Gleichzeitig werden damit kompatible Konzepte von Nachhaltigkeit aufgegriffen. Dies entspricht im Wesentlichen dem, was in den D ­ iskursen

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internationaler Organisationen als gegenwärtig dominantes Narrativ basierend auf einem Konzept schwacher Nachhaltigkeit bezeichnet werden kann. Dieses Narrativ erweist sich als sowohl an den Brundtland-Bericht als auch an die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen anschlussfähig, insofern das Konzept der nachhaltigen Entwicklung dabei zentral ist. Dadurch, dass privatwirtschaftliche Investoren im Fokus der Strategie stehen, wird hier Wachstum noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Gleichzeitig findet eine Verknüpfung des als wirksamste Problemlösung geltenden Wirtschaftswachstums mit den globalen Themen Klimawandel und Armut statt, wenn diese diskursiv als Wachstumsmärkte konstruiert werden. Eine Auseinandersetzung mit Alternativen zur Wachstumslogik findet nicht statt (vgl. Roos 2019, S. 51). Auf Ebene der politischen Beziehungen zwischen AU und EU beziehungsweise Afrika und Europa als konstruierte Einheiten lässt sich festhalten, dass die Ausrichtung der Partnerschaft durch den Fokus auf den beiderseitigen Vorteil durch Wachstum prinzipiell eine gleichrangigere Partnerschaft ermöglichen kann, auch wenn nach wie vor Elemente aus der Entwicklungshilfe eine Rolle spielen. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass diese Handlungsregel dazu geeignet ist, auf einige Forderungen der AU einzugehen, insbesondere bezüglich der Stärkung der Selbstverwaltung, wenn Kooperation im Modus des Verhandelns zwischen investierenden und kapitalnehmenden Unternehmen direkt stattfindet. Die Konditionen dieser Investitionen können so potenziell passgenauer am konkreten Einzelfall ausgehandelt werden. Hierbei wie auch bei den verantwortungsvollen Investitionen und der Neuausrichtung der interkontinentalen Beziehung kommt es in Ermangelung institutioneller Kontrollmechanismen darauf an, wie die jeweiligen Akteur*innen die allgemeinen Handlungsregeln in konkreten Situationen umsetzen und von welchen Überzeugungen sie hierbei geleitet werden. Dies eröffnet zahlreiche Optionen, wie sich die Anwendung der hier beschriebenen Handlungsregeln anhand von konkreten Einzelfällen von Investitionen untersuchen ließen Abschließend lässt sich sagen, dass die Afrika-EU-Partnerschaft zwar mit Blick auf die Beziehung der beiden Staatenverbünde zueinander neue Wege geht, etwa indem sie Wirtschaftstreibende beider Regionen miteinander in Kontakt bringt, dabei jedoch was das handlungsleitende Verständnis von Wachstum angeht, innerhalb der politisch konventionellen Bahnen bleibt.

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Wachstumsnarrative entwicklungspolitischer Bildungsarbeit im Globalen Norden am Beispiel von „Brot für die Welt“ im zeitlichen Vergleich Henriette Friederike Seydel

Zusammenfassung

„Brot für die Welt“ als kirchliche NGO formt und beeinflusst Diskurse um Entwicklung und Wachstum. In ihrer entwicklungspolitischen Bildungsarbeit sollen Akteur*innen des Wandels zu einer gerechten, friedlichen, Einen Welt angesprochen werden: Politik und Zivilgesellschaft müssen Lebensstil und Konsumverhalten nachhaltig ändern. Während in den 1990er Jahren noch einseitige, neokoloniale Perspektiven auf Entwicklung galten und anderes Wachstum, aber keine Abkehr davon gefordert wurde, wandeln sich im zeitlichen Verlauf die Narrative. Ab den 2010er Jahren wird das omnipräsente Heilsversprechen Wirtschaftswachstum ökologisch, sozial und entwicklungspolitisch kritisiert und Entwicklungsbedarf auch im Globalen Norden, ganz im Sinne der SDGs, gesehen. Zudem wendet sich „Brot für die Welt“ Ideen des Postwachstums im Sinne einer allumfassenden ­sozial-ökologischen Transformation zu. Schlüsselwörter

Entwicklungszusammenarbeit · Entwicklungspolitik · Wachstum · Postwachstum ·  Brot für die Welt · Bildungsarbeit · Fairer Handel · NGO · Sustainable Development Goals (SDG)

H. F. Seydel (*)  München, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_13

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Editorische Notiz In dieser Arbeit wird die Schreibweise des nichtbinären G ­ enderSternchens (*) verwendet. Des Weiteren werden Schwarz und Weiß großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass die Begriffe politische und soziale Konstruktionen beschreiben und nicht als phänotypische Eigenschaften begriffen werden. Weitere in rassismus-, gender-, kolonial- oder machtkritischer Hinsicht problematische Begriffe werden kursiv geschrieben, um ihre Komplexität zu verdeutlichen. Rassismuskritische Arbeiten befinden sich insofern in einem Dilemma, denn die differenzierenden Denkweisen, die zu dekonstruieren man wünscht, müssen reproduziert werden. Trotz der Kritik an diesen Begrifflichkeiten muss in einer Analyse mit ihnen gearbeitet werden, da „strukturelle sozioökonomische Ungleichheiten, Abhängigkeiten und Dominanzen nach wie vor Bestand haben“ (Ernst und Losada 2010, S. 15) und diese Begriffe oftmals im Diskurs so verwendet werden – mitsamt ihrer verandernden Implikationen.

1 Einleitung Klimawandel, Wasser- und Ernährungsknappheit, Armut, Ressourcenkonflikte, Kriege, Terrorismus sowie Flucht- und Migrationsbewegungen sind Anzeichen einer globalen Krise ökologischen, politischen, sozial-kulturellen und technologischen Ursprungs (Weizsäcker und Wijkman 2017, S. 21). Angesichts daraus resultierender weltweiter Ungerechtigkeit scheint es notwendig, über die technologischen, nachhaltigen Möglichkeiten hinauszudenken und die problematische Weltlage auch philosophisch-theoretisch zu hinterfragen (ebd., S. 12–17). Dies leisten beispielsweise zahlreiche Postwachstumsakteur*innen, die die globale Idee von (Wirtschafts-)Wachstum als neoliberales Heilsversprechen kritisieren. Waren anfangs meist (nur) umweltaktivistische Stimmen laut, fasst die Kritik nun zudem globalisierungskritische, politische und/oder entwicklungspolitische Perspektiven aus Globalen Norden und Süden, die nicht nur das Wie von Wachstum und Entwicklung verändern wollen, sondern die Triebfeder Wachstum an sich kritisieren und hinterfragen. Eine zentrale Problematik des weltweiten, globalisierten Wirtschaftssystems – und damit kohärent auch eines Wachstumsdiskurses – liegt in den ungleichen Auswirkungen des wirtschaftlichen Handelns des Globalen Nordens auf Länder des Globalen Südens. (Post-)koloniale, machtsensible und rassismuskritische Fragestellungen sind mit der Wachstumsdebatte verbunden (Bendix 2017, S. 292) und stellen gleichzeitig die spezifische Forschungsperspektive dieser Arbeit dar (vgl. Abschn. 2.1). Die Zusammenhänge, Bedingungen sowie Ver- und Beschränkungen der Diskurse um Wachstum(skritik) und Entwicklung(szusammenarbeit) sollen anhand der NGO-Akteurin „Brot für die Welt“ (BfdW) als Struktur kollektiven Handelns (vgl. Abschn. 2.2) der Entwicklungszusammenarbeit als Untersuchungsgegenstand in den Blick genommen werden. „Brot für die Welt“ ist ein evangelisches Hilfswerk, das seit 60 Jahren in mehr als 90 Ländern der Welt – vorwiegend des Globalen Südens – Entwicklungsprojekte und überdies in Deutschland entwicklungspolitische Bildungsprojekte fördert (BfdW 2017b, S. 11).

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Hierfür wird zunächst die Forschungsfrage erörtert (Abschn. 1.1) und die Relevanz der Arbeit dargelegt (Abschn. 1.2). Im Anschluss daran werden formaltheoretische und methodologische (Vor-)Überlegungen (Abschn. 2) angestellt, bevor auf die Kontextualisierung dieser Arbeit in den Stand der Forschung zu Entwicklung (Abschn. 3.1) und Wachstum (Abschn. 3.2) eingegangen wird. Schließlich werden die empirischen Ergebnisse in Hinblick auf die Forschungsfrage präsentiert und erklärt (Abschn. 4). Zunächst geht es um die Organisation „Brot für die Welt“ an sich, ihr christliches Werteverständnis und Menschenbild sowie grundlegende Handlungsregeln (Abschn. 4.1). Anschließend werden Positionierungen zu (Wirtschafts-)Wachstum und Entwicklung eruiert (Abschn. 4.2). Die verschiedenen Schlüsse sind schließlich Ansätze zu einer Beantwortung der Forschungsfrage und zeigen weitere Themenfelder auf (Abschn. 5).

1.1 Fragestellung In dieser Arbeit werden die inländischen, entwicklungspolitischen Bildungsmaterialien von BfdW untersucht, und Rückschlüsse auf ihre Positionierungen zu den Ideen von (Wirtschafts-)Wachstum und Entwicklung gezogen. Gemäß dem Ansatz Charles Sanders Peirces – „belief is a rule for action“ (Peirce 1992, S. 129) – sollen Leitmotive und Handlungsregeln identifiziert werden. BfdW als Struktur kollektiven Handelns befindet sich in einem ständigen Entwicklungsprozess. Sie vertritt einige Prinzipien kontinuierlich und wandelt oder verwirft andere. Diese Entwicklungen müssen, so Ulrich Roos, über eine Dechiffrierung der jeweils zugrundeliegenden Handlungsregeln im Zeitverlauf analysiert werden (2013, S. 315). Die Fragestellung für diese Arbeit lautet demnach: Wie positioniert(e) sich „Brot für die Welt“ als Struktur kollektiven Handelns in seiner inländischen entwicklungspolitischen Bildungsarbeit zu (Wirtschafts-)Wachstum und Entwicklung in den Jahren 1994–1996 sowie 2014–2017? Welche Handlungsregeln bestimm(t)en die Ausrichtungen und haben sich diese Positionierungen verändert? Der Forschungsprozess zielt darauf ab, ökologische, ökonomische, ethische und soziale Aspekte, Argumente und Antworten über Bedingungen, Notwendigkeit und Lösungsvorschläge von Entwicklungszusammenarbeit mit Blick auf Wirtschaftswachstum und Wachstum zu rekonstruieren sowie Veränderungen von Argumentationen und Positionierungen diesbezüglich aufzuzeigen. In der fragmentarischen Beschäftigung mit der inländischen Bildungsarbeit lassen sich anschließend Folgerungen auf das allgemeine Ganze ziehen.

1.2 Relevanz der Arbeit Die organisationsinhärente Spannung zwischen Wachstumskritik und Entwicklungszusammenarbeit, sowie ihre Positionierung als Akteur*in an der Schnittstelle von Politik, Zivilgesellschaft und Einzelpersonen macht die NGO „Brot für die Welt“ zum lohnenden

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Untersuchungsgegenstand. Die Kontinuität der Hilfsorganisation seit 1959 bildet einen Forschungsvorteil, außerdem ist sie eine der größten deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die nicht nur im Globalen Süden tätig ist, sondern für sich in Anspruch nimmt, auch deutsche Diskurse, Wirtschaft und Politik durch Lobby- und Bildungsarbeit mitzubestimmen. Obwohl die inhaltliche Überschneidung von Debatten um Wachstum und Entwicklung sehr hoch ist, konnte die Verfasserin jedoch im Forschungsstand keine konkrete Forschung über deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Verbindung mit Postwachstum ausfindig machen. Diese Arbeit soll demzufolge erste Schlaglichter auf wichtige verbindende und trennende Haltungen und Positionierungen werfen und zeigt womöglich eine Forschungslücke auf.

2 Formaltheoretische und methodologische Vorüberlegungen Um den Forschungsprozess nachvollziehbar zu machen, kann nicht auf theoretische Vorüberlegungen verzichtet werden. Orientierung, Argumentationen, Erklärungslogik und Methodenwahl eines*r jeden Wissenschaftler*in hängen von der epistemologischen und ontologischen Position ab. Außerdem ist vorab zu klären, von welchem Verständnis theoretischer Topoi und welchem Analyserahmen diese Arbeit ausgeht.

2.1 Formaltheoretische Reflexionen über Ontologie und Epistemologie Die Ontologie betreffend sieht sich die Forscherin in einer sozialkonstruktivistischen, hermeneutischen und interpretativen Tradition. Hierfür ist das wissenssoziologische Thomas-Theorem „if [human] define situations as real, they are real in their consequences“ zentral. Die Aufgabe von Wissenssoziologie ist – so Reiner Keller – nicht die bloße Beschreibung verschiedener Wissensvorräte, sondern „die Analyse der kollektiven und institutionellen Prozesse, in denen spezifisches Wissen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird“ (2011b, S. 126). Zudem orientiert sich diese Arbeit innerhalb eines interpretativen Paradigmas an den sozialkonstruktivistischen Theorien von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Sie besagen, dass das Handeln von Menschen durch Überzeugungen angeleitet wird und Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert wird (2012). In Ergänzung zu Berger und Luckmann, die das Alltagswissen im Blick haben, fokussiert Keller gesellschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit auf der Ebene von Akteur*innen, Strukturen, Organisationen und weiteren institutionellen Feldern der Gesellschaft (2010, S. 198, 204 f.), die bei der Produktion von Wissensbeständen unterschiedlich mächtig in ihrem Einfluss auf den Gesamtdiskurs sind (2011b, S. 136, 147). Mit Blick auf die Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstands „Brot für die Welt“ bedeuten diese ontologischen Annahmen, dass die Organisation Mitkonstrukteur*in

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von Diskursen über Entwicklung und Wachstum, und gleichzeitig Handelnde wie Rezipierende ist. Das Handeln des Hilfswerks, bzw. seiner zahlreichen Mitarbeiter*innen und Freiwilligen, wird von spezifischen Überzeugungen zur Beschaffenheit der Welt und ihrem Menschenbild geleitet (vgl. Abschn. 4.1). Kohärent zu den ontologischen Prämissen lassen sich auch die epistemologischen fassen. Eine objektive Entkopplung von Forscher*in, Erkenntnis, Erkenntnisproduktion und -produkt ist nicht möglich, folglich wird hier von einer System- und Subjektgebundenheit von Wissen ausgegangen (Breuer et al. 2011, S. 428). Als Wissen gelten sozial erzeugte und historisch situierte Konfigurationen von Faktizitäts- und Normativitätsbehauptungen, die den Horizont dessen aufzeigen, was als gesellschaftliche Wirklichkeit gilt (Keller 2013, S. 27 f.). Wissen ist nicht auf ein objektives, kognitives Kategoriensystem rückführbar, sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme. Diese werden diskursiv und gesellschaftlich produziert, legitimiert und transformiert, daher können sie konfligieren (Keller 2011b, S. 125, 132). Wissenschaft ist somit ein stetiger akademischer Streitprozess, der nicht Wahrheiten produziert, sondern Aussageereignisse, die diskursiv ausgehandelt werden (Keller 2011a, S. 65). Wahrheiten sind innerhalb dieser Kämpfe um Deutungshoheiten solche Hypothesen, die – zeitlich mehr oder weniger begrenzt – in wissenschaftlichen Kreisen als plausibel gelten, und die es ermöglichen, wahrgenommene Realitäten zu erklären (Roos 2013, S. 318). Die in dieser Arbeit dargelegten Ergebnisse können und wollen folglich keinen unabänderlichen, absoluten Wahrheitsanspruch stellen, sondern sind Teil einer Perspektivengesamtschau.1

2.2 Begrifflicher Analyserahmen Wie bereits erläutert, ist die Rolle von Institutionen bei der synchronen Produktion von Wissensbeständen, die gesellschaftliche Wirklichkeiten konstituieren, zentral. Diese

1Für

die Güte sozialwissenschaftlicher Forschung ist ein reflektierter, selbstkritischer Umgang mit der Forscher*innenposition maßgeblich. Zu erwähnen bleibt u. a. das Weiße Standing der Forscherin, die durch ihre Positionierung im Globalen Norden trotz eines versuchten kritischen Standpunkts stets Machtassymmetrien perpetuieren könnte. Denn auch der akademische Diskurs über Entwicklung und Entwicklungssoziologie gilt als eine „hegemoniale Form der Wissensproduktion (durch den globalen Norden) und damit […] eine Fortschreibung der Herrschaftsausübung“ (Korff und Rothfuß 2015, S. 99). Im Sinne einer kritischen Sozialwissenschaft verfolgt diese Arbeit den Ansatz einer postkoloniale Forschungsperspektive, also eine rassismuskritische, gendersensible und emanzipatorische Dekonstruktionspraxis (Kerner 2013, S. 41; Reuter und Villa 2010, S. 16 f.). Hier ist zusätzlich zu erwähnen, dass – wie der Untersuchungsgegenstand – auch die Forscherin evangelisch und in ihrer Arbeit im entwicklungspolitischen Bildungsbereich tätig ist. All diese Punkte führen zu der Einsicht, dass die Problematik eines verzerrten Blicks unbedingt beachtet werden muss, um zu verhindern, dass nur solche Ergebnisse herausgefunden werden, die den Vorannahmen und Ansichten der Forscherin entsprechen.

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sozialen, institutionellen Akteur*innen, die durch ihre (Sprech-) Handlungen Diskurse formulieren, beeinflussen, konstituieren und widerspiegeln (Keller 2010, S. 210), können auch als Strukturen kollektiven Handelns (SKH) gefasst werden. Roos definiert SKHs als „soziale[] Institutionen, die das kollektive Handeln mehrerer Personen mit dem Ziel der Regulierung der Folgen der Auswirkungen des kollektiven Handelns ermöglichen sollen“ (2013, S. 314). „Brot für die Welt“ kann also als SKH in diesem Sinne identifiziert werden, da die entwicklungspolitische Organisation eine soziale Institution ist, die auf das kollektive Handeln der Gesellschaft und diskursive Diskussionen Einfluss hat. Gleichzeitig versucht BfdW durch ihre Praktiken die Auswirkungen kollektiven Handelns in Bezug auf Entwicklung und Wachstum zu regulieren, zu begrenzen oder zu bestärken. Diese Handlungen werden geleitet von diversen Überzeugungen und Legitimationen: den Handlungsregeln. Handlungsregeln sind Zielvorstellungen, Überzeugungen, Lösungsvorschläge, die durch verschiedene Ideen in einem wechselhaften Verlauf der Geschichte modifiziert und verändert werden, und Akteur*innen wie SKHs in ihrem Handeln beeinflussen und anleiten. Handlungen sind nicht nur handfeste Aktionen, sondern auch Sprechen, da es stets interaktive Reaktionen auslöst und Wirklichkeit konstituiert. Alle Handlungsregeln sind Ergebnis sozialer Lernprozesse, und werden, konfrontiert durch diverse Makroereignisse und diskursive Verhandlungen, reflektiert und angepasst. So gibt es einige bewährte, routinierte und kontinuierliche Handlungsregeln, wohingegen andere umstritten sind und sich wandeln können (Roos 2012, S. 9 f., 2013, S. 314 f.). Das Konzept der Handlungsregeln geht auf Charles Sanders Peirce zurück, der gemäß dem Schlagwort „belief is a rule for action“ auch das Konzept der „finalen Gründe“ entwickelte. Diese sind die idealtypischen Vorstellungen der SKHs mit Blick auf einen erwünschten Ausgang eines Handlungsprozesses. Finale Gründe sind daher die generellen Prinzipien, die, konkretisiert als Handlungsregeln, Ziele und Positionierungen einer SKH zeigen (Roos 2013, S. 313 ff.).

2.3 Methodik der empirischen Forschung Methodisch wird die sinnverstehende Interpretationsarbeit in einem Prozess hermeneutischer Textauslegung durch die Grounded Theory (GT) geleistet. Grundlegendes Erkenntnisinteresse war nicht die Rekonstruktion subjektiver Perspektiven, sondern die Sichtbarmachung der Durchdringung der Ideen von Wirtschaftswachstum und Entwicklung in den Positionierungen und Wirkungen dieser Haltungen von BfdW. Ausgehend von einer Wirkmächtigkeit des Gesprochenen und Geschriebenen, die die Wirklichkeit und Handlungen tangiert, und der Annahme, dass die Verwendung von Begriffen, Bildern, Metaphern und Argumenten stets auf einen Bedeutungshorizont verweist, dessen Wirklichkeit sie mitgestalten, lassen sich Diskursaussagen analysieren (Keller 2011a, S. 97). Diese Texte sind „materielle Manifestationen gesellschaftlicher

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Wissensordnungen und damit […] wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte“ (Keller 2011a, S. 78). Diese Interpretationsarbeit wird in einer ergebnisoffenen, abduktiven Forschungslogik durch ein mehrstufiges, systematisches Auswertungsverfahren geleistet, das sowohl das Kodieren, also die Zuordnung von Kodes zu einzelnen Textelementen, deren Verdichtung in Kategorien, als auch deren immanenten Vergleich beinhaltet (Strübing 2008, S. 18). Die GT versucht, die Konzeptbildung während der Erhebungsphase kenntlich zu machen, demzufolge finden Feldarbeit und Auswertung iterierend statt (Mey und Mruck 2011, S. 23). Diese offene Herangehensweise und die Kombination verschiedener Kodierstrategien führen zu einem tieferen Textverständnis jenseits von Paraphrase und Zusammenfassung, sowie zu einer begrifflichen Verdichtung in interpretierender und analytischer Hinsicht (Keller 2011a, S. 98 f.; Reichertz 2011, S. 285 ff.). Begleitet wurde der gesamte Prozess mit Reflexionen der Prägungen und Vorannahmen der Forscherin, dem Schreiben eines Forschungstagebuchs und Memos, um die Forschungsarbeit reliabel, valide und intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten. Das Analysematerial, beziehungsweise der Datenkorpus, wurde im Sinne des Theoretical Samplings theoriegeleitet zusammengestellt (Keller 2011a, S. 90; Strauss und Corbin 1996, S. 148 ff.). Hinweise zu den Entscheidungskriterien, welche Texte zu analysieren sind, ergaben sich hier aus dem vorherigen Prozess der Einarbeitung in Vorarbeiten Dritter (Mey und Mruck 2011, S. 28–31; Strübing 2008, S. 15). Zunächst wurden Hypothesen über Handlungsregeln von BfdW anhand von Selbstbeschreibungen abduziert. Einen weiteren Ansatzpunkt für die inländische Bildungsarbeit boten die BfdW-Jahresberichte (BfdW 1995, 1996, 1997, 2016, 2017a; Schug und Sack 2008, S. 140–163), die vor allem über Kontinuitäten und Wandel von (Sprech-)Handlungen über (Wirtschafts-)Wachstum und Entwicklung Auskunft geben konnten. Es wurden weiterhin vielfältige Publikationen in den Bereichen „Nachhaltigkeit“, „Sustainable Development Goals“ oder „Zukunftsfähiges Wirtschaften“ in die Analyse mit einbezogen (u. a. BfdW 2014; BfdW und Misereor 2015). Zusätzlich fokussiert sich die inländische entwicklungspolitische Bildungsarbeit von BfdW auch auf die Gemeindearbeit, hier vor allem die Jahresaktionen und dazugehörige Gottesdienstentwürfe (u. a. Holz und Kuntz 1993; Ullmann und Sandner 2017). Diese Texte wurden mit den Fragestellungen der Forscherin, die unter anderem Einstellungen, Positionierungen und Zuschreibungen zu (Wirtschafts-)Wachstum erfragen, bearbeitet. Vor allem typische Argumentations- bzw. Handlungsstrategien der analysierten Struktur kollektiven Handelns waren von Interesse. Zudem wurden die rekonstruierten Handlungsregeln der beiden Untersuchungszeiträume verglichen, um Veränderungen in den Blick nehmen zu können. Die Kodierungen verdichteten sich zu Kernaussagen über Akteur*innen des Wandels, sowie über Handlungsregeln und Lösungsvorschläge, die im vierten Kapitel vorgestellt werden.

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3 Kontextualisierung & Stand der Forschung Zunächst wird der Stand der Forschung bezüglich der Konzepte Entwicklung und Wachstum in ihren Ausbuchstabierungen der Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungspolitik, Postdevelopment, sowie Wirtschaftswachstum, Wachstumskritik und Postwachstum dargestellt. Hierbei sollen vielfältige Schlaglichter auf ebendiese verwobenen Diskurse geworfen werden, ohne dabei den Anspruch zu erheben, eine exhaustive Bandbreite zu erreichen. Außerdem wird der Forschungsgegenstand „Brot für die Welt“ kurz umrissen.

3.1 Entwicklung Vorerst lässt sich Entwicklung allgemein und deskriptiv als sozialer Veränderungsprozess fassen (Ziai 2014b, S. 11). Zielführender ist jedoch eine konkrete, präskriptive Beschreibung von Entwicklung, wie sie zum Beispiel das Wörterbuch der Soziologie postuliert: Entwicklung ist „nachholende Modernisierung und Überwindung traditioneller Relikte gesellschaftlicher Organisation in den Entwicklungsländern“ (Korff und Rothfuß 2015, S. 97). Es gälten westliche Maßstäbe unter der Annahme, dass sich alle Strukturen im Sinne einer linearen Modernisierung universalisieren. „Entwicklung“ ist damit ein vielschichtiger, hochkomplexer Begriff, der soziale, politische, kulturelle und vor allem ökonomische Aspekte umfasst (Ihne und Wilhelm 2006, S. 3).2

3.1.1 Entwicklungszusammenarbeit Dieses Verständnis von Entwicklung bildet meist die Basis von Entwicklungszusammenarbeit bzw. Entwicklungspolitik. Diese soll im Folgenden genauer betrachtet werden, da sie auf die weltweite Ungleichheit zwischen den Ländern des Globalen Südens und Nordens Bezug nimmt beispielsweise hinsichtlich Hunger und Armut, den Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung, Kriege und Konflikte, sowie weltweite Flucht- und Migrations-bewegungen, so das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ 2017b, S. 5).3 Entwicklung(spolitik) vollzieht sich folglich in Dimensionen wie Umwelt, Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Individuen, Technologie (Ihne und Wilhelm 2006, S. 3). Unter Entwicklungszusammenarbeit fallen staatliche und private Maßnahmen zum Ausgleich dieser Ungleichheit. Aufgabe von Entwicklungszusammenarbeit ist die Unterstützung der als Zielgruppen definierten Länder hinsichtlich ihrer Orientierung zu einem 2Zu

den in jüngeren Jahren prominent vorgetragenen Kritiken am Entwicklungsbegriff siehe Abschn. 3.3. 3Diese Ungleichheit ist keine natürliche oder wertende Wirklichkeit, sondern vielmehr eine historisch kontingente Realwerdung der schon früh vom Globalen Norden propagierten Andersartigkeit der verschiedenen Länder und unter anderem Folge komplexer Externalisierungsprozesse.

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westlichen Fortschrittsbegriff, der viel zu wenig infrage gestellt wird, sondern – im Gegenteil – als das Maß der Dinge zählt (Bendix 2015, S. 273; Hayn 2013, S. 106 f.). Mittel dazu sind Beratungshilfe, technische Hilfe, Handelshilfe, Kapitalhilfe, Nahrungsmittelhilfe und humanitäre Hilfe. Die vielfältige Akteursszene kann anhand verschiedener Merkmale differenziert werden. So kann einerseits zwischen Handelnden aus dem Globalen Norden und aus dem Globalen Süden unterschieden werden. Eine weitere Einteilung wird andererseits nötig, wenn nicht mehr nur Staaten EZ leisten, sondern auch nichtstaatliche Akteur*innen an Bedeutung gewinnen „wie transnationale Unternehmen, Medienanstalten, private Sicherheitsagenturen, Lobbygruppen, Nichtregierungsorganisationen oder soziale Bewegungen“ (Ernst und Losada 2010, S. 15). Weiter verfolgen die diversen Akteur*innen verschiedene Ziele. Neben regionenspezifischer Fokussierungen lassen sich zwei Hauptbeweggründe identifizieren: zum einen moralische Motive und ethische Rechtfertigungen wie Vorstellungen zu Menschenrechten und -Würde, welche vorwiegend bei NGOs zu finden ist (Ihne und Wilhelm 2006, S. 8). Zum anderen pragmatische, also politische, ökonomische und ökologische Motive, wie die Verhinderung von Fluchtursachen, der Schutz ökologischer Ressourcen oder das Erschließen neuer Absatzmärkte (Sangmeister und Schönstedt 2010, S. 38–43), wie beispielsweise in der Politik des BMZ, dem mit dem „Marshallplan mit Afrika“ (BMZ 2017a) ein traditionelles, auf Wachstum ausgerichtetes Verständnis und eine Fokussierung wirtschaftlicher und politischer Interessen von Entwicklungszusammenarbeit zugrunde liegt (Herrmann et al. 2017, S. 182).4 Zielgruppe der Entwicklungszusammenarbeit sind sogenannte Entwicklungsländer, die im Kontrast zu Industrienationen, als wirtschaftlich wenig entwickelte, ärmere Länder beschrieben werden. Hierzu zählen vor allem Länder des Globalen Südens, also afrikanische, südostasiatische, ozeanische und mittelamerikanische Länder, sowie Nationen des Nahen Ostens und Osteuropas. Sie werden klassifiziert und binnendifferenziert von der „Organisation for Economic Cooperation and Development“, die Länder weltweit nach Pro-Kopf-Einkommen einteilt in „Least Developed Countries“, „Other Low Income Countries“, „Lower Middle Income Countries“ und „Upper Middle Income Countries and Territories“ (OECD 2019). Die Wirtschaft von diesen Ländern sei von traditionellen Produktionsweisen wie Landwirtschaft geprägt, leide unter Kapitalmangel, hoher Verschuldung, Armut, Hunger und einer mangelhaften Gesundheitsversorgung. Diese normierte Einteilung bestimmt auch, mit welchen Ländern Deutschland entwicklungspolitisch, mit welchen außenpolitisch agiert. Aus der Heterogenität und Komplexität der Zielländer bezüglich ihrer Kultur, Sprache, Geschichte, Religion, Klimazone, Lage, Größe, Ethnien, Wirtschafts- und Politiksystemen folgt jedoch, dass die Homogenisierung unter dem Begriff Entwicklungsland pauschalisiert und

4Für

einen Überblick des Akteur*innennetzwerkes der internationalen Entwicklungszusammenarbeit vgl. Ottacher und Vogel (2015, S. 47–79), Sangmeister und Schönstedt (2010, S. 55–98), Stockmann (2010, S. 426–457).

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subsummiert. Die dichotomen Begrifflichkeiten wie Industriestaat und Entwicklungsland oder Erste Welt und Dritte Welt verdeutlichen diese wertenden Andersartigkeit. Diese binäre, diskursive Herstellung der Einen und der Anderen, die einerseits exkludiert und hierarchisiert, andererseits gesellschaftliche Ordnung etabliert, wird als „Othering“ bzw. „VerAnderung bezeichnet. VerAnderung ist demzufolge als ein Dominanzmuster zu sehen, das hegemoniale Machtdiskurse stabilisiert“ (Rohrdantz 2009, S. 86). Somit legitimiert die Normsetzung der eigenen Gesellschaft des Globalen Nordens (des Westens) anhand derer andere Gesellschaften als defizitär identifiziert werden, und moderner, produktiver und demokratischer werden müssen, nicht nur koloniale und imperiale Handlungen, sondern auch Entwicklugszusammenarbeit (Ziai 2010b, S. 24).

3.1.2 Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Entwicklungszusammenarbeit Während somit mitunter Kolonialismus und Imperialismus als Beginn der Entwicklungszusammenarbeit gelesen werden (Büschel 2010; Hilser 2010; Kulessa 2006, S. 201 f.), ist die Zeitrechnung ab 1949 im akademischen Diskurs populärer. Das ­Point-Four-Program von Truman in diesem Jahr erklärt, dass die entwickelten Industrienationen den unterentwickelten Ländern helfen müssen, sich selbst zu helfen (Büschel 2010, S. o. S.). Die 1960er Jahre stehen unter dem Schlagwort „Trade not Aid“ und der Forderung von wirtschaftlichem Wachstum in Ländern des Globalen Südens sowie nach Modernisierung durch Kapital und Technik mit dem Ziel einer Industrialisierung nach westlichem Vorbild (Büschel 2010, S. o. S.; Ottacher und Vogel 2015, S. 16–21). Die 1970er hingegen waren geprägt von einem Kampf gegen die Armut. Projektruinen und die Erkenntnis, dass westliche Entwicklungsmodelle nicht universell funktionieren, führten stellenweise zu einer Kritik an der bislang propagierten Modernisierungstheorie (Ottacher und Vogel 2015, S. 24). Trotzdem wurden in den 1980er Jahren einige wichtige Grundsatzdokumente wie der „Brandt-Bericht“ und der „Brundtland-Bericht“ veröffentlicht. Damit betritt das Schlagwort der Nachhaltigkeit die breite politische und gesellschaftliche Bühne (Nuscheler 2012, S. 33) und Ideen einer neuen, partnerschaftlichen Wirtschaftsordnung werden skizziert (Büschel 2010, S. o. S.). Diese Dokumente stehen für eine Bedeutungsveränderung der Entwicklungszusammenarbeit weg von einer Hilfeindustrie hin zu einem Partnerschaft stärker betonendem Verständnis (Nuscheler 2012, S. 16; Ziai 2010b, S. 27). Die 1990er stehen zum einen unter Einfluss dieser Berichte, zum anderen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter dem Zeichen einer Neuorientierung der internationalen Ordnung. Auch Fragen zu Menschenrechten wurden verstärkt berücksichtigt (Ottacher und Vogel 2015, S. 32). Diesen Optimismus teilt man in den 2000er Jahren nicht mehr vollumfänglich. Die Quintessenz aus 40 Jahren Entwicklungszusammenarbeit ist nicht vielversprechend, kämpft die Welt doch noch immer mit divergenten Ungerechtigkeiten, Hunger, Armut, Krieg und strukturellen Rassismus. In Reaktion darauf werden durch die UN mit den „Millenium Development

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Goals“ (MDGs) entwicklungspolitische Zielsetzungen formuliert, die den Schutz von Menschenrechten und Good Governance berücksichtigten. Die 2010er Jahre der EZ sind (noch) nicht ausgiebig erforscht und reflektiert. Vielmehr liegt ein Fokus der Debatte auf (Un-)Wirksamkeiten von Entwicklungszusammenarbeit. Außerdem ergänzen seit Jahren Süd-Süd-Allianzen, beispielsweise mit den BRICS+-Staaten, das Akteur*innennetz der EZ. Im Zuge dessen könnte der Westen seine Hegemonialmacht verlieren (Wehr 2014, S. 43 f.). Fest steht, dass die Themen Sicherheit, Globalisierung, Externalisierungsgesellschaft und Klimawandel hoch aktuell sind und bleiben, und eine globale Lösung dieser Probleme unabdingbar scheint (Lessenich 2017; Nuscheler 2012, S. 37 f.).

3.1.3 Die Rolle von (kirchlichen) Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit und eine Kritik derselben Von der OECD als „unverzichtbare Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit“ (in: Nuscheler 2012, S. 385) bezeichnet, wird klar, dass neben marktwirtschaftlich agierenden Akteur*innen und staatlichen Strukturen kollektiven Handelns diverse Nichtregierungsorganisationen entwicklungspolitisch arbeiten (Eberlei 2002, S. 23; Frantz und Martens 2006, S. 83 f.; Nuscheler 2012, S. 380; Stockmann 2010, S. 443). Diese können beispielsweise unterschieden werden in parteinahe Stiftungen, kirchliche Werke und freie Träger*innen (Eberlei 2002, S. 24). Kirchliche Hilfswerke wie „Brot für die Welt“ nehmen eine Sonderstellung unter den vielfältigen NGOs in Deutschland ein, denn sie waren laut eigener Aussage mit die ersten entwicklungspolitischen Bewegungen, die sich die Themen Armutsbekämpfung, Menschenrechte, Umweltfragen, Friedensförderung und Gerechtigkeit auf die Fahne schrieben (Deutsche Kommission Justitia et Pax 1991, S. 20 f.,58 f.; ferner: Hilser 2010, S. 95; Stockmann 2010, S. 443, 452). Das BMZ postuliert, dass Religion als wichtige Wertressource „politische Gestaltungskraft [habe] und […] sowohl Entwicklungsmotor als auch Entwicklungshemmnis sein [könne]“ (BMZ 2016, S. 4). Einerseits könne das Zusammenleben verschiedener Religionen zu einer Stärkung des gegenseitigen Respekts und Toleranz führen (BfdW 2016, S. 26 f.; BMZ 2015, S. 44) und religiöse Akteur*innen können auf nicht zu unterschätzende organisatorische zivilgesellschaftliche Netzwerke zurückgreifen, die schnell, unbürokratisch und flexibel erreicht werden (BMZ 2015, S. 45; Frantz und Martens 2006, S. 17; Pfeifer 1992, S. 213). Andererseits können kirchliche Organisationen gleichzeitig auch wachstumshemmend sein. Sie müssen sich vor allem mit einer fragwürdigen Geschichte der Missionierung in den ehemals kolonisierten Ländern auseinandersetzen, sowie über hierarchische Strukturen oder die Diskriminierung von Minderheiten reflektieren (BfdW 2016, S. 26 f.). Als Schwächen von NGO-Entwicklungszusammenarbeit arbeitet Nuscheler zusätzlich heraus, dass diese stets nur punktuelle Problemfelder behandeln, dass sie sich medienwirksam inszenieren müssen, um Spenden zu generieren, und dass durch ihre Arbeit ein hoher Moralismus transportiert wird (2012, S. 381 f.). Weiterhin können die

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Organisationen für ihre teilweise hohen Verwaltungskosten und den nicht sachgerechten Einsatz von Hilfeleistungen kritisiert werden (Moyo 2012, S. 32). Zudem müssen – vor allem aus einer postwachstumstheoretischen Perspektive – Umweltaspekte betrachtet werden, da beispielsweise CO2-intensive Langstreckenflüge oder Transporte von Hilfsgütern für die entwicklungspolitische Auslandsarbeit, wie sie momentan oftmals ausgeübt wird, unabdingbar sind. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Reproduktion kolonialer Stereotype der armen, hilfebedürftigen Anderen. Zusätzlich gibt es Kritik an der Wirksamkeit, da internationale Hilfe ökonomische Machtinteressen verfolge und korrupte Strukturen verfestige (Easterly 2006, S. 19). Außerdem halte sie davon ab, Eigeninitiative zu zeigen, und degradiere die Menschen im Globalen Süden stattdessen in paternalistischer Manier zu passiven Empfänger*innen (Shikwati in: Pennekamp 2014, S. o. S.; Wiegmann 2007, S. o. S.). Um diese Einseitigkeit aufzulösen, liegt heutzutage eine Hauptaufgabe vieler NGOs in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Lobbyarbeit im Inland (Nuscheler 2012, S. 380).

3.1.4 Zur Struktur Kollektiven Handelns: Brot für die Welt Wie eingangs erwähnt ist BfdW ein Hilfswerk evangelischer Kirchen in Deutschland, das mit Partnerorganisationen weltweit zusammenarbeitet. Die Arbeit von BfdW finanziert sich heutzutage vor allem aus staatlichen Mitteln des BMZ, Spenden und Kollekten, sowie Mitteln des kirchlichen Entwicklungsdienstes (BfdW 2017a, S. 60 ff.). BfdW wurde 1959 als Spendenaktion der evangelischen Landes- und Freikirchen gegründet. Die Arbeit der NGO „Brot für die Welt“ gliedert sich in mehrere Bereiche: klassische Entwicklungszusammenarbeit, also Projektarbeit mit lokalen, oft kirchlichen Partnerorganisationen vor allem in Ländern des Globalen Südens, Personalprogramme und entwicklungspolitische Inlandsarbeit. Eine Zwischenposition zwischen Auslandsund Inlandsarbeit nehmen die Personalprogramme ein, da einheimische Fachkräfte und entwicklungspolitisch interessierte, meist junge Menschen in Projekte in Länder des Globalen Südens geschickt werden, bzw. durch Stipendien Menschen des Globalen Südens für ihr Studium in Deutschland gefördert werden (BfdW 2017a, S. 34 ff.). Nach ihrem Auslandsaufenthalt können und sollen sie jedoch als Multiplikator*innen für Globales Lernen in ihren jeweiligen Ländern fungieren. Entwicklungszusammenarbeit von BfdW gilt nach Eigenaussage nicht mehr nur als „praktische Hilfe, wie de[r] Bau von Brunnen und Schulen“ (BfdW 2017a, S. 46) in den Ländern des Globalen Südens. Vielmehr möchte BfdW den Prozess der Entwicklungsverantwortung des Globalen Nordens, der um die 1990er Jahre rum angestoßen wurde, vorantreiben, da eine ­sozial-ökologische globale Transformation zwingend notwendig sei (vgl. Abschn. 3.1.2; BfdW 2016, S. 45, 76, 2017a, S. 9, 82). Entwicklungspolitische Inlandsarbeit beinhaltet Öffentlichkeits-, Bildungs- und Lobbyarbeit, die informieren, aktivieren und einen Umdenkensprozess fördern soll (BfdW 1995, S. 17).

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3.2 Wachstum Konzepte von Entwicklung, Fortschritt, Modernisierung und Wachstum prägen sowohl politische als auch alltägliche Diskurse hegemonial. Dabei spielen die effizientere Nutzung von natürlichen Ressourcen, die Entfaltung eines Kindes zum Erwachsenen, globales Bevölkerungswachstum ebenso wie der Anstieg der Lebenserwartung eine Rolle.

3.2.1 Omnipräsentes Wirtschaftswachstumsparadigma Im gesellschaftspolitischen Diskurs des globalen Nordens ist Wachstum als Begriff nicht vom Konzept des Wirtschaftswachstums zu trennen, vielmehr erfolgt oft eine Gleichsetzung der Begriffe (Hinterberger et al. 2009, S. 35). Dies beruht auf einer kontinuierlichen Begriffsgeschichte, die zum Beispiel in Zeiten der Industrialisierung auf Errungenschaften der Technik und Wissenschaft, wie neue industrielle Methoden zur Produktivitätssteigerung oder Kommunikations- und Transportinfrastrukturen, fokussierte (Diefenbacher et al. 2016, S. 53; Speich Chassé 2012, S. o. S.). Ab dem 20. Jahrhundert kam die ökonomische Bedeutungsebene der Betriebsoptimierung hinzu. Das sogenannte „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit prägte beispielsweise den deutschen Diskurs maßgeblich: der Wiederaufbau von Infrastruktur und Fabriken nach dem Zweiten Weltkrieg war verbunden mit dem Glauben an die positiven Wirkungen von Wirtschaftswachstum und der Hoffnung auf eine Steigerung der Lebensqualität (Seidl und Zahrnt 2010a, S. 26). Diese Hegemonialwirkung des Wirtschaftswachstumsparadigmas ist seitdem ungebrochen. Tim Jackson spricht dabei – in Anlehnung an Max Weber – vom „stahlharten Gehäuse des Konsumismus“ (2015, S. 181), in dem unsere Gesellschaft heutzutage gefangen ist und die Orientierung verloren hat. Wirtschaftswachstum ist meistens definiert als Zuwachs an Dienstleistungen und Gütern in einer Volkswirtschaft, der durch eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen wird (Seidl und Zahrnt 2010a, S. 24; Victor 2016, S. 188). Einhergehend mit Fortschrittsversprechen lautet das neoliberale Credo, das Wirtschaftswachstum steigere somit den Lebensstandard aller (Diefenbacher et al. 2016, S. 81 ff.; Ernst und Losada 2010, S. 10; König 2011, S. 55; Seidl und Zahrnt 2010a, S. 31). Kritische Positionen zeigen jedoch, dass im Laufe der Zeit der „Hoffnungsträger Wachstum“ (Diefenbacher et al. 2016, S. 81) seine zahlreichen Versprechungen nicht einhalten kann (ebd., S. 45 ff.; Schneidewind und Zahrnt 2013, S. 36 ff.). Zum einen sei eine positive Wirkungszuschreibung von Wirtschaftswachstum auf eine gute Lebensqualität schwer nachweisbar, da ab einem bestimmten Einkommensniveau eine weitere Einkommenssteigung wenig zu einer Glücks- und Lebensstandardsteigung beiträgt (Diefenbacher et al. 2016, S. 84; Seidl und Zahrnt 2010a, S. 31; Victor 2016, S. 191; Zoellick 2017, S. 4). Zum anderen könne eine Fokussierung auf Wirtschaftswachstum andere gesellschaftliche Ziele wie Freizeit missachten (Victor 2016, S. 191), und vorallem zu schwerwiegenden Umweltzerstörungen führen (u. a. Diefenbacher et al. 2016, S. 63–72; Weizsäcker und Wijkman 2017, S. 11 f.). Außerdem zeige sich, dass

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die gewünschte Wirkung von Trickle-Down-Effekten nicht eintritt, sondern Wirtschaftswachstum soziale Ungleichheiten verstärke: die Schere zwischen arm und reich wüchse weiter, Bildungschancen wären ungleich verteilt und durch die ungleiche Globalisierung schaffe Wirtschaftswachstum Vorteile für den globalen Norden, wohingegen negative Auswirkungen – wie beispielsweise Hunger, Krieg, Armut und daraus resultierende Flucht und Migration – vor allem in den Globalen Süden externalisiert würden (Lessenich 2017; Schneidewind und Zahrnt 2013, S. 17 f.; Weizsäcker und Wijkman 2017, S. 21 ff.; Zoellick 2017, S. 4).

3.2.2 Ökologische Wachstumskritik Ein Wandel bisheriger Denk- und Handlungsmuster scheint unumgänglich. Angestoßen wurde die Debatte der ökologischen Wachstumskritik in den 1970er Jahren unter anderem durch den Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome zur Lage der Menschheit, der auf die ökologischen Grenzen des Wachstums hinweist (Meadows et al. 1972) und bei gleichbleibenden Lebensbedingungen ein Kollabieren des globalen Systems vorhersagt (Meadows et al. 2005, S. 174 ff.). Akteur*innen einer ökologischen Wachstumskritik sind, neben zahlreichen NGOs und Bewegungen wie jüngst Fridays for Future auch Wissenschaftler*innen, die im November 2017 eine „Warning to Humanity“ verfassten. Durch ihren Einsatz wird heutzutage die Ansicht, dass sich was ändern muss, um den Fortbestand unseres Planeten zu erhalten, breitengesellschaftlich wenn nicht akzeptiert so wenigstens debattiert. Eine Fokussierung auf ökologische Aspekte der Wachstumsdebatte ohne die sozialen Grenzen von Wirtschaftswachstum zu beachten, rückt jedoch technologische Neuheiten und effizienzsteigernde, ressourcenschonende Erfindungen in den Vordergrund – Stichwort Green Energy/Economy (Schneidewind und Zahrnt 2013, S. 18 ff.; Zoellick 2017, S. 11 f.). Hier wird vergessen, dass durch Reboundeffekte meistens keine langfristige, insgesamte Einsparung an Energie- und Ressourcenvebrauch folgt. Reboundeffekte bezeichnen hierbei solche Auswirkungen, die auftreten, wenn Produkte und Dienstleistungen effizienter und ressourcenschonender gestaltet sind und deswegen die Nachfrage insgesamt steigt – eine Einsparung an Energie und Ressourcenverbrauch findet zwar relativ, aber nicht absolut statt (Diefenbacher et al. 2016, S. 76 f.; Santarius 2015, S. 168 ff.; Seidl und Zahrnt 2010a, S. 30). Außerdem werden „politische und ökonomische Machtverhältnisse, die auf gesellschaftlicher Ungerechtigkeit beruhen, […] nicht infrage gestellt“ (Brand 2015, S. 52). 3.2.3 Die Idee nachhaltigen und qualitativen Wachstums als Lösungsansatz Die zwingende Erweiterung der Wachstumskritik auf andere Faktoren wird nicht nur in der Zivilgesellschaft diskutiert, sondern auch in der Bundesregierung. Beispielsweise wurde 2015 mit der „Zukunftscharta EINEWELT“ die Debatte angestoßen, wie „alle Volkswirtschaften künftig so gestaltet werden können, dass ökonomische, soziale sowie ökologische Ziele gleichermaßen erreicht werden“ (BMZ 2015, S. 27). Die drei genannten Dimensionen Ökonomie, Soziales und Ökologie reflektieren hierbei das

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Modell des integrierenden Nachhaltigkeitsdreiecks (Muraca 2014, S. 108). Die Handlungsfelder der Zukunftscharta – wie beispielsweise die Bewahrung natürlicher Lebensgrundlagen, gute Regierungsführung oder Sicherheit und Frieden – betreffen hierbei nicht nur die zu entwickelnden Länder des Globalen Südens, sondern nehmen vor allem auch Länder des Globalen Nordens in die Verantwortung (BMZ 2015, S. 9). Am Diskussions- und Entstehungsprozess der Zukunftscharta waren auch NGOs wie unter anderem BfdW beteiligt, was auf die politische Inlandsarbeit der Organisation verweist. Ein weiteres wichtiges Dokument, das die politische Landschaft und den zugehörigen Entwicklungs- und nachhaltigen Wachstumsdiskurs Deutschlands maßgeblich geprägt hat, ist die „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie“. Die deutsche Antwort auf Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit fußt auf der „Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung“, die im Folgenden dargestellt wird (vgl. Abschn. 3.2.3). Neben „Nachhaltigkeit“ dient auch das Schlagwort „Qualitatives Wachstum“ als Idee der Vereinbarkeit von quantitativem, finanziellem, materiellem Wachstum, einer gerechteren Verteilung der Resultate dieses Wachstums und ein Zuwachs an Lebensqualität und subjektiven Glücks (Hinterberger et al. 2009, S. 34 f.). Diese Konzepte nachhaltigen und qualitatives Wachstums stellen zwar einerseits eine Kritik des bisherigen Wirtschaftswachstums dar, verbleiben jedoch in ihren Forderungen nach Umweltverträglichkeit und einer Ausweitung auf andere soziale Ziele stets im hegemonialen Wachstumsparadigma verhaftet (Zoellick 2017, S. 5).

3.2.4 Entwicklungspolitische Wachstumskritik: Die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ Die United Nations (UN) zeigen mit den „Sustainable Development Goals“ (SDGs) auf, welchen Herausforderungen sich die Weltgesellschaft stellen muss, um ein gutes Leben für alle zu erreichen (UN 2015). Die SDGs betonen dabei die globale Verantwortlichkeit, die vielleicht erst im Zuge globalisierender Prozesse entstehen konnte. Durch die „Agenda 2030 for Sustainable Development“ werden Themen zu People, Planet, Prosperity, Peace und Partnership behandelt, und eine Transformation der Welt hin zu einer globalen und sozial gerechten Gesellschaft gefordert (UN 2015, S. 2). Im Gegensatz zu den „Millenium Development Goals“ (MDGs) sind die SDGs mit 17 Hauptzielen und 169 Unterzielen differenzierter, thematisch breiter aufgestellt und unter Mitwirkung der Zivilgesellschaft formuliert. Sowohl der Globale Norden als auch der Globale Süden werden in Verantwortung für Veränderungs- und Handlungsbedarf genommen. Die SDGs können jedoch dahingehend kritisiert werden, dass die einzelnen Ziele vage und wenig ambitioniert sind und weiterhin ungebremstes BIP-Wachstum proklamieren. Ideologisch sind sie innerhalb eines neoliberalen, westlichen Weltbilds verankert (Martens 2015, S. 24). Zudem gibt es keine völkerrechtlichen Verbindlichkeiten oder Kontrollinstanzen zum Erreichen der Ziele, sodass jedes Land selbst freiwillig entscheiden darf. Zusätzlich gibt es massive Widersprüche zwischen den sozio-ökonomischen und den ökologischen Nachhaltigkeitszielen, sowie die Ansicht, dass es unmöglich sei, dass alle Menschen den

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Lebensstandard der reichen Länder des Globalen Nordens leben können (Weizsäcker und Wijkman 2017, S. 91).

3.3 Kritik an Entwicklung und Wachstum Zusätzlich zu entwicklungspolitischen, nachhaltigen und ökologischen Perspektiven werden verschiedene Ansätze postuliert, die nicht auf ein „anderes“ Wachstum abzielen, sondern auf eine Veränderung des Ideensystems Wachstum. Die verschiedenen Bewegungen mit ihren vielfältigen Ansatzpunkten und Herangehensweisen lassen sich unter dem „Kampfbegriff“ (Muraca 2015, S. 111) „Postwachstum“ fassen. Akteur*innen aus dem umwelt- und entwicklungspolitischen, globalisierungskritischen, sowie kirchlichen Spektrum sprechen in ihrer Bandbreite für eine große Strahlkraft der Thematik. Es gibt folglich nicht die wachstumskritische Bewegung, sondern heterogene Strömungen mit verschiedenen Schwerpunkten (Brand 2014, S. 30; Muraca 2014, S. 26). Gemeinsame Basis ist ein Infragestellen der Triebfeder Wirtschaftswachstum aufgrund vorherig genannter ökologischer und sozialer Grenzen. Geteilte Grundforderungen sind Umverteilung von Chancen, Raum und Zeit, und ein Ruf nach neuen Formen von Bildung, Arbeit und Öffentlichkeit (Latouche 2015, S. 51; Muraca 2014, S. 78–90; Seidl und Zahrnt 2010b, S. 222 ff.; Zoellick 2017, S. 7–10). Schwierig wird es, die Frage zu beantworten, ob es bei dieser globalen Trasnformationsaufgabe universale Handlungsmöglichkeiten geben kann oder ob Postwachstumsdebatten stets einem westlichen Blickwinkel und der Reproduktion von Machtasymmetrien verhaftet bleiben (Fees et al. 2016, S. o. S.). Eng verknüpft mit der Diskussion von Postwachstum ist auch eine Betrachtung von Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment. Diese Bewegung stellt den Entwicklungsdiskurs und das Ziel der Entwicklung fundamental infrage (u. a. Bendix 2017; Escobar 2015, 2016; Muraca 2014, S. 44–48; Ziai 2010a, b, 2014a). Postdevelopment, so Daniel Bendix, „versteht »Entwicklung« und »Entwicklungspolitik« als unweigerlich mit Ungleichheit, Abhängigkeit und Herrschaft verknüpft und strebt jenseits dessen nach gesellschaftlichem Wandel“ (2017, S. 284). Der Diskurs soll nicht zu einer Verbesserung beitragen, sondern fordert die Abschaffung von Entwicklungszusammenarbeit (Ziai 2010b, S. 24). Ein bekanntes Beispiel sind die vielfältigen südamerikanischen „Buen Vivir“- Bewegungen, die ein sozialistisches, indigenes Gegenkonzept zu neoliberalen Entwicklungs- und Wachstumskonzepten setzen (u. a. Acosta 2011, 2015, 2017; Escobar 2016). Dabei geht es um alternative Ideen des gemeinschaftlichen, guten Wohlergehens und Zusammenlebens – jenseits des „Gespenst[s] der Entwicklung“ (Acosta 2015, S. 193). In seiner substanziellen Verwendung geht es um eine „radikale Kritik an sämtlichen Formen von Entwicklung und ihren konzeptuellen Grundlagen sowie um eine konsequente Verteidigung sowohl postkapitalistischer als auch postsozialistischer Alternativen“ (Gudynas 2016, S. 263). Vor allem gehen „Buen ­Vivir“-Ideen nicht von einer historisch vorbestimmten Linearität von universeller ­Entwicklung aus, sondern

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von ­vielfältigen Abläufen (Gudynas 2016, S. 263). Es gehe nicht um eine gänzliche Ablehnung westlicher Werte oder Denkmodelle, sondern um eine interkulturelle, gleichwertige Pluralität der Modelle guten Miteinanderleben (Acosta 2011, S. 34–35, 2017, S. 70 f.; Gudynas 2016, S. 263 ff.). Die Debatte um ein „Recht auf Entwicklung“ darf hierbei jedoch nicht außer Acht gelassen werden, da viele Stimmen des Globalen Südens neben all der Kritik an Entwicklungszusammenarbeit trotzdem fordern, dass manche Sektoren – wie beispielsweise Gesundheit, Bildung oder Sicherung des Lebensunterhalts – Wachstum brauchen (Escobar 2016, S. 51). So gelten im Kontext Entwicklungszusammenarbeit dem Wirtschaftswachstum – wie bereits gezeigt – viele positive Wirkungszuschreibungen wie Armutsbekämpfung, Emanzipationsprozesse und Aufbau von Infrastruktur, gleichzeitig wird Wachstum kritisiert, da es Abhängigkeiten erzeugt, umweltschädliche Einflüsse hat, einheimische Strategien und Methoden zerstört, sowie soziale Ungleichheit im Land zementiert (Muraca 2014, S. 44 f.; 2015, S. 108; Seidl und Zahrnt 2010a, S. 31, 2011, S. 32). Verschränkungen und Differenzierungen der jeweils kritischen Bewegungen Postwachstum und Postdevelopment sind noch zu untersuchen. Beide können, so Escobar, innerhalb ökologischer und kultureller „Transition Discourses“ verortet werden und sich wechselseitig beeinflussen (2015, S. 451 f.). Die Perspektiven eint eine vehemente Kritik an kapitalistischen, westlichen Wachstumsmodellen des „schneller, weiter, mehr“ (Seidl und Zahrnt 2011, S. 32). Beide sehen Grundsatzprobleme in den sozial stark verankerten Verständnissen von Wirtschaftswachstum, Entwicklung und Fortschritt (Acosta 2017, S.  78). Sie bieten „eine komplementäre Position gegen asymmetrische Globalisierung, ungleiche Machtverhältnisse und Eliten aus Nord und Süd, die ihre eigenen Annahmen anderen aufzwingen“ (Bendix 2017, S. 294).

4 Forschungsergebnisse: „Brot für die Welt“ zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Wachstumskritik Innerhalb dieser verknoteten Diskurse um Wachstum und Entwicklung steht auch die Struktur kollektiven Handelns „Brot für die Welt“. Im ersten Komplex geht es um das Menschenbild und grundlegende Handlungsregeln der Organisation an sich (Abschn. 4.1). Anschließend können in einem zweiten Teil die Positionierungen von BfdW zu Wirtschaftswachstum und Entwicklung präsentiert werden (Abschn. 4.2).

4.1 Grundlegende Handlungsregeln zum Selbst- und Menschenbild sowie zur Entwicklungszusammenarbeit 1994–1996 und 2014–2017 Die Arbeit von „Brot für die Welt“ ist fundiert durch ein christliches Werteverständnis und Menschenbild und versteht sich nach Eigenaussage als „Werkzeug Gottes,

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um Hunger zu stillen, Hoffnungslosigkeit zu besiegen, Selbsthilfe anzustoßen, der Gerechtigkeit Bahn zu brechen“ (Holz und Kuntz 1993, S. 22). Die Organisation beschreibt christliche Nächstenliebe als wichtigen Motor für ihren „Beitrag zur Überwindung von Hunger, Armut und sozialer Not“ (BfdW 1995, S. 8) und legitimiert ihre Arbeit seit Beginn theologisch durch die Schlagworte Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Nähe und Verantwortung u. a. Osner 1968, S. 7). Gerechtigkeit beziehe sich hierbei sowohl auf ethnische, soziale, ökonomische, politische und internationale Aspekte, als auch auf Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit (BfdW und Misereor 2015, S. 20). Nachhaltiger Ressourcen- und Umweltschutz ist für BfdW ein christlicher Auftrag, die „Schöpfung“ zu bewahren (Holz und Kuntz 1993, S. 22). Dieser Auftrag könnte als ein finaler Grund der SKH gelten, der in verschiedene Handlungsregeln übersetzt wird. Diese Herausforderung der Bewahrung der Erde gelingt laut BfdW nur in einem fairen, solidarischen, vielfältigen Zusammenleben zwischen Schwestern und Brüdern und zwischen „Reichen und Armen, […], Männern und Frauen, Kindern und Alten“ (BfdW 1995, S. 6 f.). Es wird trotz vermeintlicher Unterschiede zwischen Menschen stets auf eine Familien- und Gemeinschaftsmetapher rekurriert, die eine partnerschaftliche Idealvorstellung der christlich-ökumenischen Weltgemeinde versinnbildlicht (u. a. BfdW 1995, S. 5, 7, 2016, S. 76). Das Hilfswerk betont jedoch gleichzeitig ungerechte Machtasymmetrien zwischen den Menschen des Globalen Nordens und Südens (BfdW 1995, S. 6 f; Ullmann und Sandner 2017, S. 24). Trotzdem wird von der „Einen Welt“ ausgegangen, die eine „Verantwortungsgemeinschaft“ (Schug und Sack 2008, S. 150) zwischen den sogenannten Industrie- und Entwicklungsländern sei, deren gerechte Gestaltung die Aufgabe aller sei (BfdW 1995, S. 4; Holz und Kuntz 1993, S. 6). Wie der gesamtgesellschaftliche Diskurs löst sich auch BfdW von der Bezeichnung Entwicklungshilfe aufgrund von Assoziationen mit Hilfebedürftigkeit, sowie paternalistischen und hierarchischen Untertönen und dem Absprechen ernstzunehmender Handlungskompetenzen von Ländern des Globalen Südens (vgl. Abschn. 3.1.1). Im Gegensatz zu Entwicklungshilfe soll der Wortbestandteil „Zusammenarbeit“ auf ein partnerschaftliche(re)s Verständnis hinweisen (Ihne und Wilhelm 2006, S. 4). Diese Partnerschaftlichkeit kann jedoch wiederum als euphemistisch kritisiert werden (Ottacher und Vogel 2015, S. 17; Sangmeister und Schönstedt 2010, S. 43). In den 1990er Jahren reproduziert BfdW in Bildungsmaterialien sprachlich noch oft (wertende) Dichotomien von uns und denen (u. a. BfdW 1995, S. 7, Schug und Sack 2008, S. 140–163). Paternalisierende Asymmetrien von zu-Entwickelnden und Entwicklungshelfer*innen sowie die Darstellung des Globalen Südens durch exotisierendes und naturalisierendes Othering zementiert Ungleichheiten statt sie zu reduzieren. Die Abwertung des Globalen Südens als arme, ausgebeutete, passive Opfer, wertet den Globalen Norden als potenzielle Weltveränderer*innen auf. Im Analysematerial der 1990er Jahre werden beispielsweise nur die Weißen Personen namentlich, diejenigen aus dem Globalen Süden lediglich in ihrer Funktion benannt. Im Gegensatz dazu fällt ein beginnender Paradigmenwechsel seit den 2010er Jahren auf. Wardenbach konstatiert, dass sich bei BfdW die Einsicht durchgesetzt hat, „dass die eigentlichen Akteure von

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Entwicklung die Menschen in Entwicklungsländern sind und dass man dies auch in der Öffentlichkeit so darstellen sollte, statt lediglich an Mitleid, Kinderliebe oder andere Emotionen zu appellieren“ (2006, S. 193). Im Zuge der Sustainable Development Goals weist BfdW außerdem auf Entwicklungsdefizite des Globalen Nordens im ökologischen Bereich hin, wohingegen der Globale Süden Defizite in sozio-ökonomischen Dimensionen aufweist. Zusätzlich habe vor allem Deutschland Nachholbedarf in einer Entwicklung zu sozialer Gleichheit entlang der Differenzachsen gender, class und race (Bethge et al. 2011, S. 37; BfdW 2017a, b, S. 44 f.). Die im Entwicklungsdiskurs so selbstverständliche, grundlegende Binarität zwischen entwickelt und entwickelnd wird damit infrage gestellt (Ziai 2010b, S. 28). BfdW bezeichnet Deutschland konsequenterweise als Entwicklungsland und deutet daraufhin, dass es von anderen Ländern lernen könne und selbst Entwicklungsbedarf habe (2017a, b, S. 44 f.). Hierbei wird Entwicklung stärker deskriptiv als sozialer Veränderungsprozess verstanden, als im präskriptiven Wortsinn gebraucht (vgl. Abschn. 3.1). So können diese rhetorischen Kniffe einerseits neue Dimensionen der Selbstreflexion und Kritik an Entwicklungszusammenarbeit eröffnen, andererseits agiert BfdW weiterhin als Hilfswerk in verschiedenen Ländern des Globalen Südens. Die eigenen Handlungsregeln eines christlichen Schöpfungsbewahrungsauftrags und eines globalen Familienbilds bleiben somit weiterhin gültig. So kann einerseits ein Wandel verschiedener Denkmuster vor allem auf bildlicher und sprachlicher Ebene konstatiert werden, gleichzeitig löst sich BfdW nicht vom Entwicklungsbegriff, sondern erweitert diesen.

4.2 Positionierungen zu Wirtschaft, Wachstum und Entwicklung in der entwicklungspolitischen Inlandsbildungsarbeit 1994–1996 und 2014–2017 Als wichtigste Akteur*innen identifiziert die NGO Politik und Zivilgesellschaft aus dem Globalen Süden und Norden, die unter den Schlagwörtern Nachhaltigkeit, Schöpfung, Zukunftsfähigkeit und Fairer Handel Lebensstil und Konsummuster ändern müssen. Zudem wandeln sich – wie der zeitliche Vergleich der 1990er und 2010er Jahre zeigt – die Narrative um Wachstum und Entwicklung: einseitige, neokoloniale Entwicklungshilfe wird zunehmend abgelehnt und das omnipräsente Heilsversprechen Wirtschaftswachstum kritisiert. Vielmehr wendet sich „Brot für die Welt“ Ideen des Postwachstums im Sinne einer allumfassenden sozial-ökologischen Transformation zu, verbleibt jedoch auch stark einem qualitativen Wachstumsverständnis.

4.2.1 Akteur*innen des Wandels – Inverantwortungnahme von Politik und Zivilgesellschaft des Globalen Südens und Nordens Bei der Struktur kollektiven Handelns BfdW ist das „belief“ im Konzept „belief is a rule of action“ wortwörtlich zu verstehen: BfdW legitimiert seit jeher sowohl Entwicklungszusammenarbeit in Ländern des Globalen Südens als auch Bildungsarbeit

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im Globalen Norden mit einem christlichen Glauben von Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung sowie durch ein Verständnis der Menschheit als großer Familie (vgl. Abschn. 4.1). So entsteht eine dringende Verpflichtung des Handelns aus dem Glauben heraus. Als wichtige Akteur*innen einer solchen sozial-ökologischen Transformation zu der Einen Welt, die auf umwelt- und sozialverträgliche, gerechte Modelle für Norden und Süden hinarbeitet und Alternativen gegen Ungerechtigkeit, Gewalt, Ausbeutung und Hunger entwickelt, nimmt BfdW Politiker*innen, die Weichenstellungen vermögen und die Zivilgesellschaft, die diese Veränderungen einfordert, in die Verantwortung. Außerdem sei die breite Partizipation des Globalen Norden – als Change Agents und nicht nur als Geldgeber*innen, die weiterhin zerstören und ausbeuten – aus einer ökumenischen Weltverantwortung heraus für eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit unabdingbar (BfdW 2017a, S. 52). Sowohl Einzelpersonen als auch Kollektive wie Kirchengemeinden oder Schulen stünden in der Verantwortung, sozial- und naturverträglichere Konsum- und Lebensstile auszuüben und zukunftsfähig zu handeln (u. a. BfdW 1997, S. 7, 2014, S. 3 f.). Auf ihrer Internetplattform „Zukunftsfähiges Wirtschaften“ betont BfdW, dass Kirchen Vorbild für ein anderes Wirtschaften sein können und dazu beitragen, Alternativen zu entwickeln (Böer o. J. b). So werden weitere konkrete Handlungsmöglichkeiten wie beispielsweise ethische Geldanlagen, faire Reisen, lokale, saisonale, ökofaire Produktbeschaffung, die Umstellung auf vegetarische Ernährung oder das Verwenden von Recyclingpapier im Kirchenbüro aufgezeigt (BfdW 2014, S. 3 f.; Böer o. J. a, o. J. b; Ullmann und Sandner 2017, S. 7 f., 36). Diese Forderungen erinnern an das 8-R-Programm von Postwachstumstheoretiker Serge Latouche, welches betont, dass es durch konsequente Umsetzung möglich sei, die kulturelle und wirtschaftliche Abhängigkeit des Globalen Südens vom Norden zu beenden (in: Muraca 2015, S. 110). Das 8-R-Programm benennt hierbei folgende Leitprinzipien: neubewerten, neukonzeptualisieren, neustrukturieren, neuverteilen, relokalisieren, reduzieren, wiederverwerten, recyceln (Latouche in Muraca 2014, S. 52). BfdW stellt rückblickend fest, dass die Annahme eines traditionellen Entwicklungsbegriffes, der durch trickle-down-Effekte davon ausgeht, dass die „Flut alle Boote hebt“, fahrlässig war, und fordert deswegen heutzutage ein „Ende des traditionellen Wachstumsparadigmas […], eine aktive Politik der Fairness, des Umverteilens, des sozialen Ausgleichs im globalen Maßstab“ (Ott 2015, S. 7). Mit dieser In-Verantwortungnahme möchte BfdW sowohl individuelle Veränderungen von Gesellschaftsmitgliedern auf der Mikroebene evozieren als auch politische Rahmenbedingungen auf der Makroebene mitgestalten. Bei dieser Gleichzeitigkeit vom Einfluss der Mikro- und Makroebene wird auf die Giddensche Rekursivität von Handeln und Struktur – also die gegenseitige Bedingung von Institutionalisierung und Gesellschaft – Bezug genommen (u. a. Giddens 1986). Eine scharfe konzeptionelle Trennung zwischen Institution und Gesellschaft sei nicht möglich, da auf der einen Seite Individuen stets institutionalisiert und sozialisiert sind, auf der anderen Seite Strukturen kollektiven Handelns letztendlich aus Individuen bestehen (Giddens 1986; Latouche in: Muraca 2014, S. 51).

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4.2.2 „Schöpfung bewahren“ als Schlagwort für einen nachhaltigen Lebensstil In den Jahresberichten 1994–1996 betont BfdW stark, dass Spenden alleine nicht ausreichen, sondern „daß [sic!] bestimmte Erscheinungsformen von Not, Elend und Mangel in den Entwicklungsländern mit dem Konsumverhalten in den Industrieländern in einem Zusammenhang stehen“ (BfdW 1995, S. 11). Eine verantwortliche Lebensgestaltung und der kritische Umgang mit den Verbrauchsgewohnheiten der Menschen des Globalen Nordens seien unabdingbar, um strukturelle Veränderungen im Globalen Süden zu erreichen (BfdW 1995, S. 11, 17, 1996, S. 17). In diesem Zusammenhang könnten sonst psychologische Rebound-Effekte wirksam werden: Nach Konsum von als ethisch unbedenklich geltenden Produkten – wie solche mit bio- oder f­airtrade-Siegel – oder aber auch nach der Spende an Hilfsorganisationen hielten es viele Konsument*innen für gerechtfertigt, an anderer Stelle unethisch zu konsumieren und zu handeln, also beispielsweise öfter das Auto zu benutzen oder ferner zu reisen (Santarius 2015, S. 170 f.). Diesen Auswirkungen des emotionalen Ablasshandels versucht BfdW durch die Betonung der Wichtigkeit des Lebenswandels zu vermeiden, da die Zivilgesellschaft nicht nur zum Spenden für Hilfsprojekte im Globalen Süden aufgerufen, sondern appelliert wird, „die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu ändern und zu verbessern, daß [sic!] sie Armutsbekämpfung und Entwicklung fördern, nicht hemmen“ (Deutsche Kommission Justitia et Pax 1991, S. 61). Folglich sollte bereits in den 1990er Jahren durch die entwicklungsbezogene Inlandsarbeit die Bereitschaft zum wirtschaftlichen Strukturwandel und zur nachhaltigen Änderung des Konsumverhaltens der Menschen des Globalen Nordens gefördert werden. Gleichzeitig verbleibt BfdW einem Entwicklungsparadigma, welches bestimmte Parameter der „richtigen“ Entwicklung vorschreibt: Ernährungssicherheit, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheitsvorsorge, etc. Wie das Material von 1993 zeigt, wurden diese Forderungen theologisch legitimiert und mit dem Appell, die „Schöpfung“ zu bewahren, versehen: „Gott will sein Versprechen halten: Keine neue Sintflut! Keine neue Weltkatastrophe. Aber Gott braucht unsere Mithilfe. Er will, daß wir seine gute Schöpfung vor Schaden bewahren.“ (Holz und Kuntz 1993, S. 22) BfdW rekurriert dabei einerseits auf die Bibelgeschichte der Arche Noah und der Sintflut, und verwendet andererseits mit „Nach uns die Sintflut“ eine geläufige Redewendung, die eine der Zukunft gegenüber gleichgültige Haltung zum Ausdruck bringt. BfdW betonte, dass „ein unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt nicht möglich ist“ (BfdW 1997, S. 6) und überschnitt sich mit dieser Forderung nicht nur mit Postwachstumskonzepten, sondern erwähnte im gleichen Zuge auch Ideen des Postdevelopments, da nämlich davon ausgegangen wurde, dass westliche Entwicklung „kein Modell für die Welt von morgen und für die Länder des Globalen Südens“ (BfdW 1997, S. 6) darstelle, die Konzeption einer linearen, universellen Entwicklung also abgelehnt. So arbeitete BfdW mit der Vision der Einen Welt, die jedoch nicht zwingend eine gleiche Welt nach westlichem Vorbild sein muss. 25 Jahre später bleiben diese Fragen aktuell: Nach dem Motto „Wasser für alle“ macht sich das Hilfswerk in der 59. Aktion für das Menschenrecht Wasser stark

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(Ullmann und Sandner 2017). Legitimiert durch christliche Gerechtigkeitsvorstellungen sollen Konflikte um Wasser vorgebeugt, nachhaltige Möglichkeiten des Wassermanagements in den Ländern des Globalen Südens unterstützt und ökologische Handlungsoptionen für die Menschen des Globalen Nordens aufgezeigt werden So soll nicht nur beim Urlaub in Ländern des Globalen Südens auf Wassersparsamkeit geachtet werden, sondern auch im eigenen Alltag. Darüberhinaus seien jedoch Thematiken um Cash Crops, Baumwollfelder und Futtermittelplantagen umso wichtiger, da hier Wasser aus dem Trinkwasserkreislauf entnommen und dem Anbau von Exportgütern zugeführt wird. Bewusstes Einkaufen – wie regionaler und saisonaler Konsum – und ein nachhaltiger Umgang mit der Ressource Wasser seien wünschenswerte Handlungsschritte der Menschen und Politik des Globalen Nordens. Die Aktionen fordern – wie auch in den untersuchten Materialien der 1990er – einen Wandel der Konsummuster zu einem nachhaltigen, reflektierten, bewussten Lebensstil, der nicht auf die Kosten des Globalen Südens geht. Eine Abkehr von Konsum, Wachstum und Entwicklung ist in den Aktionen weniger erkennbar, vielmehr prägen Ideen Qualitativen Wachstums die Handlungsregeln. Gleichzeitig ließe sich jedoch argumentieren, dass Ernährung und Wasser Grundbedürfnisse darstellen. Somit müssen Debatten um ein „Recht auf Entwicklung“ erneut aufgegriffen werden (vgl. Abschn. 3.3).

4.2.3 Änderung von Konsumgewohnheiten und Fairer Handel als Motor des Wandels BfdW geht nicht nur von einem Menschenbild aus, welches die Möglichkeit der aktiven Veränderung betont, sondern fokussiert vor allem die Rolle der Menschen des Globalen Nordens als Konsument*innen, die mit ihren Kaufentscheidungen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen (u. a. BfdW 1996, S. 9; Holz und Kuntz 1993, S. 12; Schug und Sack 2008, S. 152 ff.). Dies zeigen in den 1990er Jahren vor allem die Blumenund ­Teppich-Kampagnen gegen Kinderarbeit sowie für soziale und ökologische Herstellung, sowie die Bewegung des Fairen Handels, die BfdW maßgeblich prägte und institutionalisierte. 1992 gründete BfdW den Verein TransFair – heute „Fairtrade Deutschland“ – mit, der mit dem Verkauf fairgehandelten Kaffees startete. Die SKH stand hier vermutlich unter dem Einfluss diskursiver Verhandlungen über eine „DritteWelt-Solidarität“ (Speich Chassé 2016, S. o. S.) im Globalen Norden, die sich in den 1970er Jahren zu entwickeln begann. Kritisch kaufen, so konstatierte BfdW, sei eine neue Form „praktischer Entwicklungshilfe“ (BfdW 1995, S. 17), die den Genuss mit sozialer Verantwortung verbinde. Durch den Kauf fairgehandelter Produkte unterstützten die Konsument*innen die Verbesserung der Lebensumstände der Produzent*innen des Globalen Südens, da langfristige Abnahmegarantien, direkte Bezüge und die Bezahlung eines Mindestpreises dafür sorgten, unter Wahrung der Menschenrechte sozialeren und gerechteren Handel zu betreiben. Durch das Engagement für den Fairen Handel bedient BfdW nicht nur moralische Prinzipien der EZ, sondern auch ökonomische Motive. Diese Perspektive verweist darauf, dass Entwicklungszusammenarbeit „nicht mehr sein könne als ein Reparaturbetrieb für die negativen Auswirkungen einer ungerechten

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Weltwirtschaftsordnung“ (Sangmeister und Schönstedt 2010, S. 19). So setzte sich bei BfdW die Einsicht durch, dass EZ nur dann wirksam sein kann, wenn sie zu einer politischen Querschnittsaufgabe und globalen Strukturpolitik ausgeweitet wird, die interund transdisziplinär auch Themen der Außen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufgreift (BfdW 1995, S. 4,17; Nuscheler 2007, S. 7 f.; Stockmann 2010, S. 510). Neben der Mitgliedschaft bei Fairtrade Deutschland und der GEPA ist die NGO Mitbegründer*in des Netzwerks „Forum Fairer Handel“, das die politische Arbeit und Öffentlichkeitsaktivitäten des Fairen Handels in Deutschland koordiniert. Unter anderem herausgegeben von TransFair, Brot für die Welt und dem Forum Fairer Handel zeigte die Wirkungsstudie „Verändert der Faire Handel die Gesellschaft?“, dass in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft ein Trend zu einem veränderten Bewusstsein festgestellt werden konnte: eine immer breitere Palette fair gehandelter Produkte, steigende Absätze und die Etablierung in den Mainstream sprächen hierbei für sich (Bäthge 2016). Der Faire Handel möchte nach wie vor ungerechte Maßstäbe, Praxen und Auswirkungen des konventionellen Handels ändern und dazu beitragen, dass die Länder des Globalen Südens gerecht in den Welthandel integriert werden und somit eine faire Chance und Möglichkeit erhalten, ihre Produkte zu vermarkten. Ob Fairer Handel nun ökonomische Maßnahme (Trade Not Aid) oder auch Entwicklungszusammenarbeit sein kann, wird stets debattiert (Gepa o. J.; Nuscheler 2012, S. 267 f.). Es bleibt festzuhalten, dass der Faire Handel einerseits Pionierarbeit geleistet und für viele Menschen des Globalen Südens ein Bewusstsein für kritischen Konsum geschaffen hat. Demgegenüber steht andererseits, dass selbst kritischer Konsum Konsum bleibt. Kritisiert wird beispielsweise, dass Fair Trade das Machtungleichgewicht Nord-Süd perpetuiert, indem es weiterhin innerhalb eines neokapitalistischen, menschenverachtenden Wirtschaftssystems agiert (Trinkwalder 2016, S. 76 f.). Weiter wird beanstandet, dass Fair Trade nicht mehr eine alternative Gegenbewegung zum konventionellen Handel darstellt, sondern in diesen integriert wurde. So fällt negativ auf, dass bei Etablierung in den konventionellen Handel die entwicklungspolitische Komponente eher entfällt, wohingegen die kommerzielle Ausrichtung steigt (Claus und Hauff 2013, S. 225). Die Wachstumslogik lässt überdies die Konzepte „bio“, „fairtrade“, „vegan“ oder „regional“ zu Prestigemarken für guten Konsum heranreifen. Die Kritik an potenziellen Problemen und der Aufrechterhaltung der Handels- und Wachstumsstrukturen bleibt größtenteils aus. Der Baustein „Fairer Handel“ als eine Handlungsregel von Brot für die Welt verbleibt somit ebenso wie „Schöpfung bewahren“ dem Paradigma „Qualitatives Wachstum“ verhaftet. Dennoch werden immer mehr Aspekte der Postwachstumsdiskurse aufgenommen, wie u. a. der Tagungsband „Gesellschaftliche Transformation durch Fairen Handel?“ (Forum Fairer Handel e. V. 2018) aufzeigt. Darin betont beispielsweise Dr. Vandana Shiva, dass es beim Fairen Handel auch um Wirtschaftspolitik gehen müsse: um eine Änderung der Freihahndelsabkommen, TTIP, Ceta oder anderen ungleichen Handelsabkommen (ebd., S. 21). Außerdem werden Aspekte der Suffizienz sowie CO2-reduzierender Verpackung und umweltfreundlichen Transportmöglichkeiten diskutiert (ebd., S. 33–38).

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4.2.4 Postwachstum und Kritik an EZ BfdW kritisiert in beiden untersuchten Zeiträumen Politik und Wirtschaft, durch deren Agrar-, Wirtschafts- und Handelspolitik sowie Produktionsbedingungen Fluchtursachen und Ungerechtigkeiten selbst geschaffen würden (2017a, b, S. 42–47). Erst im zweiten untersuchten Zeitraum 2014–2017 schließt sich BfdW akademischen Lehrmeinungen zu Postwachstum, z. B. von Muraca (2014, S. 44 f.) oder Seidl und Zahrnt (2010a, S. 31; 2011, S. 32), an. Das Wohlstandsversprechen des Allheilmittels Wirtschaftswachstum wurde nicht eingelöst, sondern weiterhin leben Menschen in menschenunwürdigen Bedingungen und eine von westlichen Vorstellungen von Wirtschaftswachstum unterworfene Ökonomie untergräbt eigene soziale und ökologische Grundlagen (BfdW und Misereor 2015, S. 2–7). Diese Form wirtschaftlichen Wachstums erzeuge Abhängigkeiten, einheimische Strategien und Methoden hingegen werden zerstört sowie soziale Ungleichheit im Land zementiert. Damit positioniert sich BfdW nah an Ansätzen des Postwachstums und auch als Partner*in des Degrowth-Webportals (www.degrowth.info) und der Degrowth-Konferenz 2014 zeigt sich, dass BfdW mit ihrer Wachstumskritik nicht mehr vorranging auf der Ebene des qualitativen, nachhaltigen Wachstums verbleibt, sondern dass es auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Postwachstumsansätzen für sehr wichtig erachtet und diese unterstützt (BfdW und Misereor 2015). Eine wegweisende Publikation war in diesem Zusammenhang außerdem die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“, die – herausgegeben vom BUND Naturschutz, BfdW und dem Evangelischen Entwicklungsdienst – betont, dass ein „Weiter So“ weder in der internationalen Politik noch den Konsum und Lebensstil Einzelner betreffend möglich sei, zahlreiche Kritikpunkte am globalen Zustand aufzeigt und für einen Abschied vom Wachstumsglauben und Neoliberalismus plädiert, da Wirtschaftswachstum zu sozialer Aufspaltung, zu Umweltkatastrophen und nicht – wie oft erwartet – zu individueller Lebenszufriedenheit beiträgt. Stattdessen setzt sich die Studie für mehr Teilhabe, Naturverträglichkeit, andere, fairere Arbeitsmodelle und eine Revision kapitalistischer Wirtschaft ein (Bund et al. 2008). Damit bedient sich BfdW gleicher bzw. ähnlicher Argumentationsmuster wie viele Postwachstumspositionierungen und zeigt somit eine klare Nähe zu den inhaltlichen Ideen dieser Bewegungen. Gleichzeitig sind viele Ideen des Postwachstums (noch) nicht oder nur ansatzweise umgesetzt; vielmehr spielen zunächst praktische Veränderungen hin zu einem qualitativen, kritischen Wachstum eine größere Rolle. Auch mit Postdevelopmentideen setzt sich BfdW konzeptionell auseinander. Im Dossier „Baustellen einer Postwachstumsagenda“ betont Postdevelopmentvorreiter Alberto Acosta, dass Wachstum nicht mit Entwicklung gleichzusetzen ist, und schlägt vor, dass sich Deutschland auch an Konzepten wie Buen Vivir orientieren könnte (in: BfdW und Misereor 2015, S. 18 f.). Darüber hinaus lehnt BfdW Ideen gleicher, universeller oder linearer Entwicklung ab und fördert und fordert – sowohl im globalen Süden als auch im Norden – Lokalisierung durch kleinbäuerliche, nachhaltige,

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dezentrale und regional angepasste anstelle einer globalen, industrialisierten Lebensmittelproduktion (BfdW und Misereor 2015, S. 2; BfdW 2017a, b, S. 16). BfdW fordert weiterhin eine Ausweitung entwicklungspolitischer Thematiken auf einerseits den Globalen Norden und andererseits Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-, Sicherheits- und Umweltpolitik (ebd.).

5 Beantwortung der Forschungsfrage, Zusammenfassung und Ausblick „Brot für die Welt“ positioniert sich in seiner inländischen entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in beiden untersuchten Zeiträumen wachstumskritisch. Es gelingt BfdW, die Unterstützer*innen im Globalen Norden nicht nur zum Spenden zu motivieren, sondern zwischen dem ersten und zweiten Untersuchungszeitraum die Ansicht zu übernehmen, dass auch Deutschland Entwicklungsland sei. Alle Menschen werden somit in die Verantwortung genommen, zu handeln. Getragen bleibt die Arbeit BfdWs kontinuierlich von einem christlichen Werteverständnis und dem Bild von Menschen als weltweite Familie. Auf diesem Glauben basieren auch die finalen Gründe der SKH: idealtypisch möchte BfdW eine gerechte und friedliche Welt ohne Hunger und Armut. Diese soll erreicht werden durch konkrete Handlungsregeln wie die Bewahrung der „Schöpfung“ durch reflektierten Konsum, fairen Handel und umweltbewussten Umgang mit den Ressourcen auf der Welt. Diese Handlungsregeln des wachstumskritischen, achtsamen Umgangs miteinander – vor allem in Bezug auf bestehende Ungleichheiten von Nord und Süd – gelten als kontinuierliche und bewährte Lösungsvorschläge qualitativen Wachstums. Der Fokus lag nicht mehr nur auf der Entwicklung der Länder des Globalen Südens, sondern auch auf der Entwicklung eines besseren Lebensstils des Globalen Nordens: Forderungen nach anderem, nachhaltigerem und fairem Verbrauch waren laut. Makroereignisse der 1990er Jahre wie der Brundtlandbericht oder die UN-Konferenz in Rio de Janeiro und damit verbundene diskursive Verhandlungen über den Komplex Nachhaltigkeit prägten demnach auch die Positionierungen dieser SKH. BfdW zeigte sich in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Lobbyarbeit folglich kritisch gegenüber Wirtschaftswachstum, wie es bis dato gelebt wurde, und forderte nachhaltige, faire und zukunftsfähige Alternativen. Eine Abkehr vom Konzept Entwicklung ist für die 1990er Jahre in der Analyse hier jedoch nicht erkennbar. Da die meisten Kampagnen und Aktionen auf eine Veränderung des Konsumverhaltens abzielten, nicht jedoch auf eine Abkehr des Konsums an sich, verblieben sie während des ersten Untersuchungszeitraum innerhalb einer an Wachstum und Entwicklung verhafteten Logik. 2014–2017 liefert BfdW in seiner entwicklungspolitischen Bildungsarbeit weiterhin verschiedene Perspektiven, die darauf abzielen, die Umwelt zu schützen und gerechte Strukturen weltweit zu etablieren. Auf dem Weg zu einer gerechteren, friedlicheren Gesellschaft sei einerseits der lebensweltliche, praktische Bezug wichtig. BfdW macht

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sich stark für ein Konzept zukunftsfähigen Wirtschaftens, das in seinen Ausbuchstabierungen an das 8-R-Programm Latouches erinnert. Somit bleibt beispielsweise der Faire Handel für BfdW ein paradigmatisches Beispiel für einen konkreten Lösungsansatz, obwohl sich dieser nur für eine Änderung des Wie von Wachstum und Konsum, nicht aber eine vorrangige Abkehr davon, einsetzt. Ebenso fordert BfdW andererseits ein Umdenken in der Gesellschaft, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensstil prägenden Konzepten und – um es in den Worten Latouches zu fassen – eine „radikale Dekolonisierung der Vorstellungswelt“ (2016, S. 95). Auch mit den Beiträgen Seidl und Zahrnts wie beispielsweise in der BfdW-Publikation „Von der Wachstumsgesellschaft und der Frage nach ihrer Überwindung“ (2011) zeigt sich die inhaltliche und konzeptionelle Auseinandersetzung mit Aspekten von Postwachstum. Die Forderung zur inhaltlichen, ideellen Reflexion eurozentrischer, neokolonialer Konzepte stellt somit – vermutlich unter anderem beeinflusst durch postkoloniale diskursive Verhandlungen – ein Ergebnis neuerer Lernprozesse dar. Gerade der zeitliche Vergleich in dieser Arbeit zeigt: BfdW löst sich allmählich von eurozentrischen Entwicklungsversprechen und heilsversprechenden Wachstumsparadigmen. Während BfdW in den 1990er Jahren ihre Bildungsarbeit noch sehr auf die Änderung von Konsummustern fokussiert, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf inhaltliche Auseinandersetzungen mit und Dekonstruktion von den Lebensstil prägenden Ideen und Konzepten. Durch weiterführende reflexive Selbstkritik begäbe sich die Organisation mitunter in die Gefahr, die eigenen Arbeitslegitimierungen zu verlieren und sich als SKH überflüssig zu machen. Eine Gegenüberstellung mit anderen NGOs der EZ wäre sicherlich vor allem hinsichtlich verschiedener Werteverständnisse und Legitimierungen interessant. Des Weiteren ist die Zukunft von EZ zu untersuchen, da sich ihre Legitimierungen und Bedeutungen beständig verändert haben. Wie und ob sich das Verhältnis von Inlands- zu Auslandsprojektarbeit von BfdW weiterhin ändert oder beständig bleibt, muss sich zeigen. Solange neokoloniale Strukturen, ausbeuterische Wirtschaftspraktiken und Klimawandel jedoch globale Ungerechtigkeiten zementieren, wird BfdW seine Arbeit legitimieren können. Trotzdem – beziehungsweise gerade deswegen – betont BfdW die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation, und lässt sich als Akteur*in der Postwachstumsdebatte begreifen. Im Vergleich zu anderen SKHs versucht BfdW einen Spagat zwischen den beiden Anforderungen Wachstumskritik und Entwicklungszusammenarbeit. Zwar formuliert das Hilfswerk keine radikalen Ansätze, doch kann es als wirkmächtige Bindegliedstruktur kollektiven Handelns zwischen Staat, Kirche und Zivilgesellschaft, wie auch zwischen Globalen Norden und Globalen Süden wichtige Denk- und Wandelprozesse anstoßen. Eine Analyse der lebensweltlichen Spuren der Handlungsregeln der SKH, beispielsweise über Interviews mit Ehrenamtlichen oder evangelischen Gemeindemitgliedern oder -Pfarrer*innen wäre wünschenswert. Des Weiteren ist fraglich, welches Spektrum an Menschen der kirchliche Hintergrund der SKH in einer säkularisierten Gesellschaft erreicht. Die Frage nach den Akteur*innen eines solchen sozial-ökologischen Wandels beantwortet BfdW sowohl 1994–1996 als auch heutzutage ähnlich: Es müssen einerseits

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große politische wie wirtschaftliche, lokale wie globale Stellschrauben gedreht werden, andererseits kann Transformation im Kleinen beginnen: durch den Kauf fairer Produkte, verantwortungsbewusstes Reisen, Reparieren statt Wegwerfen oder durch die ideelle Dekonstruktion eurozentrischer Weltbilder. Ob dies mit christlichem Werteverständnis geschieht oder nicht ist zweitrangig. Es gilt: Ein umfassender Wandel bedarf politischer Regelungen, kann aber gleichzeitig nicht allein von oben verordnet werden, sondern muss zugleich von einem individuellen wie kollektiv-gesellschaftlichem Lebens- und Konsumwandel gewissermaßen von unten getragen werden. Eine gerechte, emanzipierte Einbeziehung des Globalen Südens als Change Agents bleibt eine wichtige Aufgabe der nächsten Jahre.

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Qualitatives Wachstum in der Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der KfW Entwicklungsbank Julia Schönborn

Zusammenfassung

Wachstum als Mittel zur Reduktion von Armut in Ländern des Globalen Südens bestimmt seit dem Zweiten Weltkrieg den Diskurs der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Der Anspruch, Wachstum zu steigern, ist in den letzten Jahren zwar durch das Konzept qualitativen Wachstums differenzierter geworden, die Wirkungszuschreibung ist jedoch konstant geblieben. Wirtschaftswachstum wird seit Beginn der Entwicklungspolitik in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Synonym für Entwicklung verstanden (Trefs et al. 2009, S. 1). Die nachfolgende Forschung untersucht das Verständnis von Qualitativem Wachstum der KfW Entwicklungsbank in den Zeiträumen 1994–1996 und 2010–2015. Da sich die KFW Entwicklungsbank, so wie auch andere entwicklungspolitische Institutionen, den prominenten Begriff Pro Poor Growth (PPG) zu Eigen gemacht hat, soll gerade diese Definition in Bezug auf qualitatives Wachstum untersucht werden. Folgende Frage steht im Zentrum der Arbeit: Kann qualitatives Wachstum pro poor sein und unter der Berücksichtigung eines multidimensionalen Verständnisses von Armut umgesetzt werden? Die KfW Entwicklungsbank begründet ihre Relevanz als politische und insbesondere staatliche Förderbank in ihrer mehr als 50 Jahre zurückgehenden Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesregierung. Im Auftrag der Bundesregierung verwaltet und prüft die KfW Entwicklungsbank Fördergelder- und Projekte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (KFW Entwicklungsbank 2016a).

J. Schönborn (*)  Diez, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_14

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Schlüsselwörter

Qualitatives Wachstum · Entwicklungszusammenarbeit · Entwicklungsbanken · KfW Entwicklungsbank · PPG · Degrowth · Multidimensionale Armut · Armutsreduzierung

1 Einleitung Die KfW Entwicklungsbank begründet ihre Relevanz als politische und insbesondere staatliche Förderbank in ihrer mehr als 50 Jahre zurückgehenden Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesregierung. Im Auftrag der Bundesregierung verwaltet und prüft die KfW Entwicklungsbank Fördergelder- und Projekte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (KFW Entwicklungsbank 2016a). Die KfW Bankengruppe gründet sich 1948 wenige Monate vor der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. Als Kreditanstalt für Wiederaufbau verankerte die KfW ihre Hauptfunktion in ihrem Namen (Harries 1998, S. 1). Die KfW Entwicklungsbank ist Teil der KfW Bankengruppe1 und für die Finanzielle Zusammenarbeit (FZ) verantwortlich. Am Finanzvolumen gemessen bildet sie das bedeutendste Instrument der deutschen EZ (BMZ 2019c). 1958 startete die heutige FZ mit einzelnen Projekten im Ausland. Schon damals arbeitete die KfW im Auftrag der Bundesregierung und finanzierte Projekte, die die Bundesregierung als politisch sinnvoll erachtet. 1961 wurde das neu entstandene Geschäftsfeld „Kapitalhilfe Entwicklungsländer“ im KfW Gesetz verankert (KFW Entwicklungsbank 2017a). Die heutigen Projekte im Ausland entstehen durch Zusammenarbeit mit den Partnerländern des Globalen Südens und werden durch Anregung der lokalen Regierung im Austausch mit deutschen Diplomaten entwickelt (Henning 2018, S. 3). Es wird mit überwiegend staatlichen Akteuren in Afrika, Asien, Lateinamerika und Südosteuropa zusammengearbeitet (KFW Entwicklungsbank 2016a, S. 1). Die Reduzierung von Armut und die Steigerung gesamtgesellschaftlichen Wachstums werden als Hauptziele formuliert. Erst der Wirkungszusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum, sozialem Fortschritt und Umweltschutz führe zu Entwicklung (KFW Entwicklungsbank 2017c). Um die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu steigern, soll qualitatives und nachhaltiges Wachstum gefördert werden. Quantitatives Wirtschaftswachstum allein reiche für Wohlstand nicht aus. Dieses könne Wohlstand sogar gefährden (BMZ 2019b). Soziale, ökologische und wirtschaftliche Aspekte seien Teil qualitativen Wachstums, die im besten Falle im ausgeglichenen Verhältnis zueinanderstehen. Um die Wirksamkeit qualitativen

1Die

KfW Bankengruppe hat drei Töchterorganisationen: Die KfW IPEX-Bank GmbH ist für Projekt- und Unternehmensfinanzierungen sowie für Handels- und Exportfinanzierungen im Inund Ausland zuständig. Die DEG (Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH) unterstützt private Unternehmen, die im Globalen Süden aktiv sind. Die KfW Capital fördert Technologieunternehmen in Deutschland in der Startup- und Wachstumsphase (KFW Entwicklungsbank 2017b).

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Wachstums zu überprüfen, nutzt die KFW Methodeninstrumente der Wirtschaftlichkeitsrechnung, Zielgruppen- und Institutionenanalysen sowie Umwelt-, Sozial- und Klimaprüfungen (KFW Entwicklungsbank 2017c). In Anlehnung an die Überlegungen von Amartya Sen soll Wachstum „von unten“ generiert werden um die Menschen in ihren Verwirklichungschancen zu unterstützen (Henning 2018, S. 5). Die Vorhaben zielen darauf ab, den Partnerländern des Globalen Südens eine Integration in die Weltwirtschaft zu ermöglichen. Durch Investitionen in Exportsektoren wird Beschäftigung geschaffen, die zu mehr Einkommen führt und Armut reduziert (BMZ 2019b). „Durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Produktivität fördert die KfW Entwicklungsbank die Integration ihrer Partnerländer in die Weltwirtschaft“ (Henning 2016, S. 1). Innovative Technologien schaffen Beschäftigung und sind notwendig, um Armut und Klimawandel zu überwinden (BMZ 2019b). Wachstum als Mittel zur Reduktion von Armut in Ländern des Globalen Südens bestimmt seit dem Zweiten Weltkrieg den Diskurs der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Der Anspruch, Wachstum zu steigern, ist in den letzten Jahren zwar durch das Konzept qualitativen Wachstums differenzierter geworden, die Wirkungszuschreibung ist jedoch konstant geblieben. Wirtschaftswachstum wird seit Beginn der Entwicklungspolitik in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Synonym für Entwicklung verstanden (Trefs et al. 2009, S. 1). Die nachfolgende Forschung untersucht das Verständnis von Qualitativem Wachstum der KfW Entwicklungsbank in den Zeiträumen 1994–1996 und 2010–2015. Da sich die KFW Entwicklungsbank, so wie auch andere entwicklungspolitische Institutionen, den Begriff Pro Poor Growth (PPG) zu Eigen gemacht hat, soll gerade diese Definition in Bezug auf qualitatives Wachstum untersucht werden. Folgende Frage steht im Zentrum der Forschungsarbeit: Kann qualitatives Wachstum pro poor sein und unter der Berücksichtigung eines multidimensionalen Verständnisses von Armut umgesetzt werden?

2 Stand der Forschung Der nachfolgende Forschungsstand bietet eine kontextuale Hinführung zum Forschungsthema (qualitatives) Wachstum in der EZ und erläutert Studien, die sich mit diesem und verwandten Themen sowie mit der KfW Entwicklungsbank als Gegenstand der Analyse beschäftigt haben.

2.1 Wirtschaftswachstum in der EZ Der Wachstumsfokus in der EZ lässt sich auf die Wirtschaftswissenschaften zurückführen, die mit der Fachausrichtung Entwicklungsökonomie schon früh das Feld der Entwicklungstheorien dominierte. Die Entwicklungsökonomie war eine der ersten Sozialwissenschaften, die Theorien zu Wirtschaftswachstum entwickelten und neben

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Methoden der Messbarkeit und Evaluation auch Handlungsempfehlungen aussprachen. Der Blick auf Wachstum zur Armutsreduktion hat sich insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder verändert. Die zu Beginn vorherrschende Theorie des Trickle-Down-Effects hält sich bis heute zwar teils hartnäckig, wurde jedoch in den 1990er Jahren langsam abgelöst. Während die Komponente der Nachhaltigkeit bereits Ende der 1980er Jahre Einzug in den Wachstumsdiskurs der EZ hielt, wandte sich der Fokus kurzzeitig von der Armutsreduktion ab. Die Förderung der Grundbedürfnisse trat in den Hintergrund und die Privatisierung wurde verstärkt – die EZ geriet vermehrt in die Kritik. In den späten 1990er Jahren gewann das Thema Armut wieder größere Beachtung und wurde mit der Jahrtausendwende durch das Entstehen der Pro-Poor-Growth (PPG) Theorie wieder enger mit Wachstum verknüpft. Mit PPG soll Wachstum qualitativ und nachhaltig gezielt zur Armutsreduzierung eingesetzt werden (Trefs et al. 2009, S. 1–3). Die ersten Studien, die den Begriff PPG geprägt haben, untersuchen Wachstum in einem bestimmten Zeitraum von durchschnittlich zehn Jahren mit Hinblick auf Armutsreduzierung, die anhand des unteren Einkommensdurchschnitts gemessen wurde. Dabei sollte festgestellt werden, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen Effekte auf die Entwicklung geringer Einkommen haben. Kurz nach der Jahrtausendwende findet der Begriff PPG auch außerhalb der Wirtschaftswissenschaft Gehör und rückt in den Diskurs von Geberakteuren wie der UN und OECD (Trefs et al. 2009, S. 3). In den 1990er Jahren kursiert der Begriff broad-based growth vermehrt in der EZ. Diese Bezeichnung ist heute jedoch nicht mehr zu finden und wurde vom PPG Begriff vollständig abgelöst (Kakwani et al. 2004, S. 419). „Overall the relation between growth and poverty is a complex one, and is also determined by the level and changes in inequality. Pro-poor growth is concerned with the interrelation between these three elements: growth, poverty and inequality. While there remains so consensus on how to define or measure pro-poor growth, the issue has attracted a fair amount of attention within academia as well as among development practitioners“ (Kakwani et al. 2004, S. 418).

Für PPG liegen in der EZ zwei unterschiedliche Deutungen vor: Eine relative Definition und eine absolute Definition. Unter der relativen Definition wird ein wirtschaftliches Wachstum verstanden, das den Armen mehr als den Reichen zugutekommt. Das Durchschnittseinkommen armer Menschen muss im Verständnis dieser Definition prozentual mehr ansteigen, als das Durchschnittseinkommen reicher Menschen (BMZ 2006, S. 2). „If the average income of poor people increases by five per cent, whilst the overall rate of economic growth is six per cent, then this growth is not pro-poor since social discrepancies have grown […]“ (BMZ 2006, S. 2).

In dieser Definition wird die Reduzierung von Ungleichheit als natürliches Resultat von Armutsreduktion durch Wachstum verstanden (Kakwani et al. 2004, S. 420). Die absolute Definition hingegen erkennt wirtschaftliches Wachstum als pro- poor an, sobald das Wachstum eine Vielzahl von Menschen über die absolute Armutsgrenze

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hinaus ­verhilft. Das Verhältnis der Durchschnittseinkommen ist in diesem Verständnis irrelevant. So auch das Wachstum von Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft (BMZ 2006, S. 3). Die Weltbank definiert PPG als absolut. Das bedeutet, dass „[..] jeglicher Einkommenszuwachs bei den als arm klassifizierten Bevölkerungsteilen als PPG gelten kann – ungeachtet der Veränderung des Einkommens der übrigen Bevölkerung. Im Mittelpunkt steht hier ausschließlich die absolute Erhöhung des Einkommens der Armen“ (Trefs et al. 2009, S. 3). Nanak Kakwani und Hyun H. Son definieren die Begriffe relativ und absolut nochmal etwas anders und erweitern das Verständnis von PPG auf die Oberkategorien schwach (weak) und stark (strong) (Kakwani et al. 2004, S. 420). Als schwach werden all diejenigen Begriffsdefinitionen kategorisiert, die aus dem Definitionsverständnis von relativ und absolut fallen. Die relative Definition stimmt mit der obigen überein. Eine absolute Definition ist in ihrem Verständnis eher eine Steigerung der relativen Definition. „Conversely, a measure of pro-poor growth is absolute if the poor received the absolute benefits of growth equal to, or more than, the absolute benefits received by the non-poor“ (Kakwani et al. 2004, S. 420). Die absolute Definition wird von Kakwani und Son als „super pro-poor“ bezeichnet (Kakwani et al. 2004, S. 420). Die Definition der Weltbank wird weder als relativ noch als absolut definiert, sondern als schwach kategorisiert, da die Weltbank auch ein proportional geringes Wachstum von Armen als PPG bezeichnet. „[…] We characterise this situation as trickle-down when the poor receive proportionally less benefits from growth than the non-poor“ (Kakwani et al. 2004, S. 420). Ungeachtet der Reduktion von Armut oder Ungleichheit spielt Wachstum weiterhin eine bedeutende Rolle in der EZ. Die Kritik an Wachstum wird indes immer lauter. Neben der Kritik an der wachsenden Ungleichheit werden zunehmend ökologische und gesellschaftliche Bedenken aus Politik und Wirtschaft geäußert. Die EZ sei bis heute immer noch von der Annahme bestimmt, es bestünde ein Wirkungszusammenhang zwischen Konsum und menschlichem Lebensglück (Seidl und Zahrnt 2010, S. 9). „Der Glaube an die Grenzenlosigkeit menschlicher Expansion und Bedürfnisse und das Vertrauen in technische Machbarkeit blockieren die Einsicht, dass die natürlichen Ressourcen endlich und die Ökosysteme verletzlich sind und immer mehr Konsum kaum glücklicher macht“ (Seidl und Zahrnt 2010, S. 9).

Nicht nur im globalisierten Norden wird die Wachstumsorientierung kritisiert, auch in ärmeren Ländern soll ein Umdenken bewirkt werden. „Ölreiche Länder können durch die Ausbeutung ihrer Ressourcen zwar zu Reichtum kommen, aber nicht unbedingt zu Entwicklung“ (Acosta 2015, S. 124). Mit dem Aufkommen der Sustainable Develompent Goals der Vereinten Nationen (SDGs), in denen Nachhaltigkeit erstmals dreidimensional definiert wird, scheint der Wachstumsfokus der EZ sich der langjährigen Kritik zu beugen. SDG 8 Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern trübt diesen Eindruck jedoch erheblich ein. Im ersten Unterziel werden jährlich 7 % BIP Steigerung (pro Kopf) gefordert. Dieses Wachstumsziel steht im Widerspruch zu den ökologischen

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Grenzen. Kritische Stimmen bezeichnen SDG8 als „[..] Festschreibung der Wachstumsideologie, als globales Ziel nachhaltiger Entwicklung“ (Seidl und Zahrnt 2015). Sämtliche Kritiken in Bezug auf den Wachstumsfokus in der EZ und insbesondere seinem Indikator BIP wurden bei der Gestaltung der SDGs ignoriert. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass bestimmte Länder des Globalen Südens eine Steigerung des Wirtschaftswachstums nötig haben, jedoch nicht durch pauschale Wachstumsvorgaben. Ein bekanntes Länderbeispiel, welches verdeutlicht, dass Wachstum pauschal nicht zu einer verbesserten nationalen Lebenssituation führt, ist laut Sen Indien (Seidl und Zahrnt 2015). Die Frage nach dem guten Leben ist für den Diskurs der Postwachstums-Bewegung zentral. Serge Latouche, dessen Theorie und Konzeption ­ nachfolgend detaillierter erläutert wird, lehnt Wachstum in der EZ gänzlich ab und plädiert für ein alternatives System, das Entwicklung unabhängig vom globalisierten Norden ermöglichen soll. In „Why less should be more. Degrowth economics“ von 2004 diskutiert Latouche entlang des Terminus degrowth eine Theorie, die ein praktisches Umdenken in der Wirtschaftswissenschaft ermöglichen soll. „Degrowth is just a term created by radical critics of growth theory to free everybody from the economic correctness that prevents us from proposing alternative projects for postdevelopment politics“ (Latouche 2004, S. 1).

Der aus der Kritik entstandene Begriff umfasst nicht nur ein Umdenken auf ökonomischer Ebene, sondern integriert das Verständnis eines gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Wandels (Seidl und Zahrnt 2010, S. 9). Degrowth ist kein feststehendes Konzept, welches in die Praxis übertragen werden kann, sondern vielmehr ein Schlüsselbegriff (Latouche 2004, S. 1). Der Begriff ermöglicht über bisherige Grenzen hinauszudenken und den Blick auf Wachstum und Entwicklung zu hinterfragen. Hinter dem Schlüsselbegriff steht die Idee, Wachstum zu minimieren, statt zu steigern. Befürworter dieser Idee streben ein Umdenken im bereits vorhandenen Wirtschaftssystem an, ohne jedoch ein vollends ausbuchstabiertes Alternativsystem zu generieren. „Proponents of contraction want to create integrated, self-sufficient and materially responsible societies in both the North and the South“ (Latouche 2004, S. 1–2). Latouche versteht unter degrowth im entwicklungspolitischen Kontext weniger eine Entschleunigung oder gar Reduzierung von Wachstum, als vielmehr eine alternative Entwicklungsstrategie. Degrowth sei auch für den Globalen Süden geeignet, solange dieser sich wirtschaftlich separiert und abkoppelt (Latouche 2004, S. 3). „Insisting on growth in the South, as though it were the only way out of the misery that growth created, can only lead to further westernisation“ (Latouche 2004, S. 3). Um einer Reproduktion nördlicher Wirtschaftssysteme zu entgehen, soll der Globale Süden sich auf seine Geschichte vor dem Kolonialismus zurückbesinnen und seine eigene kulturelle Identität kreieren. EZ sei aus gutem Willen entstanden, führe jedoch zu einem von Wachstum und Entwicklung geprägten Grundverständnis, das nicht zur ursprünglichen Kultur vieler Länder passe. Bis in die 1960er Jahre waren Großteile Afrikas wirtschaftlich unabhängig. Im Zuge

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der Entwicklungszusammenarbeit wurde die Selbstversorgung Afrikas jedoch Stück für Stück zerstört (Latouche 2004, S. 3). „Imperialism, growth economics and globalisation destroyed that self-sufficiency and make African societies more dependent by the day“ (Latouche 2004, S. 3). Latouche hinterfragt neben dem wirtschaftlichen Aspekt auch die sozialen Effekte des BIP-Wachstums, das die EZ anstrebt und beruht sich dabei auf den iranischen Ökonom Majid Rahnema. Dieser bezweifelt die Wirksamkeit von EZ, da sie den Ursprung von Armut reproduziert. Er fordert Alternativen, die spezieller auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten sind und außerhalb des globalen Systems funktionieren (Latouche 2004). Er sieht zwar trotzdem die Notwendigkeit armen Ländern zu helfen, nur auf eine alternative Weise (Latouche 2004, S. 5). Er entwickelte die folgenden acht „Rs“, die für eine erfolgreichen EZ im Sinne von degrowth zu beachten sind (Paolini 2008, S. 223). • reconceptualizing/remodel: strebt eine Neudefinition der Konzepte Wohlstand und Armut sowie Mangel und Überfluss an. • restructuring: Sensibilisierung von Gesellschaft und Wirtschaft mit der Idee des degrowth • restoring: Förderung kleinbäuerlicher Landwirdschaft • redistributing, relocating, reducing: Minimierung menschlichen Eingriffs in die Umwelt • reusing/recycling Die degrowth-Bewegung grenzt sich von der Annahme ab, Technologien könnten die von Wachstum hervorgerufenen Umweltprobleme beheben. In einem Interview sagt Latouche deutlich, dass die Umweltschäden nur behoben werden können, wenn Wachstum dabei reduziert wird (Paolini 2008, S. 225). „Technology cannot reduce the ecological impact of continued economic growth. Unless we give up our addiction to growth, technological innovations will not help in the least“ (Paolini 2008, S. 225).

Als Beispiel nennt Latouche die Produktion von Bio-Öl aus Mais in südlichen Ländern, die von Hungersnöten geprägt sind. Aus der degrowth-Perspektive könnte Mais, der für den Verzehr ungeeignet ist, für die Energiegewinnung einsetzen, anstatt das daraus gewonnene Bio-Öl für die Autoindustrie herzugeben. Die Agrarwirtschaft in Länden des Globalen Südens dürfe nicht für den Weltmarkt optimiert werden. Die lokale Landwirtschaft müsse im Sinne von relocating für den Eigengebrauch gefördert werden (Paolini 2008, S. 225). Latouche lehnt es jedoch ab, die degrowth-Bewegung in eine politische Partei zu übersetzen. Ziel sei es, aktuelle politische Akteure zum Umdenken und Hinterfragen zu bewegen. So soll eine Neo-Faschistische Ideologie verhindert werden (Paolini 2008, S. 227).

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2.2 Armuts- und Wohlfahrtsforschung Einer der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaftler, der der Entwicklungsökonomie zugeschrieben werden kann, ist Sir Paul Collier. Für die Analyse der Konzepte der KfW Entwicklungsbank ist sein 2007 erschienenes Werk „The bottom billion. Why the poorest countries are failing and what can be done about it“ hilfreich. Collier befasst sich ursachenorientiert mit den wirtschaftlich ärmsten Ländern des Südens, die in einer oder mehreren traps gefangen sind. „When I speak of traps, I am speaking figuratively. These traps are probabilistic; unlike black holes, it is not impossible to escape from them, just difficult“ (Collier 2008, S. 79). Hierbei handelt es sich laut Collier nicht um sogenannte Entwicklungsländer2. Die unterste Milliarde3 bezieht sich auf noch ärmere Länder, deren Entwicklung durch vier traps behindert werden, die es in sog. Entwicklungsländern nicht gibt (Vgl. Collier 2008, S. xi). Die vier traps kategorisiert Collier wie folgt: Die Ressourcenfalle, die Konfliktfalle, ungünstige geografische Lage mit schlechten Nachbarländern und schlechte Regierungsführung in einem kleinen Land (Collier 2008, S. 5). Als Ausweg aus den vier traps stellt Collier vier Lösungsinstrumente vor: Entwicklungszusammenarbeit, Militärische Intervention, Gesetze und Chartas sowie eine Handelspolitik für die Aufhebung von Marginalisierung (Collier 2008, S. 99–172). Collier kritisiert die Methode der Armutsmessung anhand von durchschnittlichem Einkommen. Das Durchschnittseinkommen als Orientierungswert von Armut mache in Ländern der untersten Milliarden keinen Sinn, da diese nicht dem typischen Verlauf der nördlichen Welt folgen (Collier 2008, S. 8). „The problem is that this [das Einkommen, Anm.JSch] describes what is going on from the perspective of the typical unit of income, not from the perspective of the typical person. […] we need to work with figures based on […] its population. Does it matter? Well, it does if the poorest countries are diverging from the rest, which is the thesis of this book, because averaging by income dismisses the poorest countries as unimportant“ (Collier 2008, S. 8).

Auch wenn es Länder gibt, die es geschafft haben, die traps zu überwinden, müssen diese sich einer neuen Hürde stellen: Globalisierung. Der globale Wirtschaftsmarkt – ein weiterer Fokus in Colliers Arbeit, hat sich seit den 1980er stark verändert und erschwert den Einstieg durch externe Faktoren (Collier 2008, S. 6). Dabei sei gerade Wachstum

2„‚developing

countries‘ – that is, virtually all countries besides the most developed, which account for only one-sixth of the earth’s people. For all this time we have defined developing countries so as to encompass five billion of the six billion people in the world“ (Collier 2008, S. xi). 3„Seventy-three percent of them have been through civil war, 29 percent of them are in countries dominated by the politics of natural resource revenues, 30 percent are landlocked, resourcescare, and in a bad neighborhood, and 76 percent have been through a prolonged period of bad governance and poor economic policies. […] some countries have been in more than one trap either simultaneously or sequentially“ (Collier 2008, S. 79).

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eines der wichtigsten Ziele, um Armut zu reduzieren. Fehlendes Wachstum ist neben den vier traps das zentrale Problem der untersten Milliarden. Dabei verweist Collier auf eines seiner – wie er selbst sagt – umstrittensten Publikationen in Zusammenarbeit mit der Forschungsabteilung für Entwicklung der Weltbank hin (Collier 2008, S. 11). „Growth is Good for the Poor“ entstand gemeinsam mit David Dollar und Aart Kraay im Jahr 2002 und thematisiert die Bedeutsamkeit des Wachstums in der EZ. Darin wird die These vertreten, dass die Öffnung für den Außenhandel Armen gleichermaßen zugutekommt, wie der Wirtschaft insgesamt. Wirtschaftliches Wachstum sei unabdingbar. Es sei nicht nachweisbar, dass demokratische Institutionen oder öffentliche Ausgaben für Gesundheit und Bildung eine positive Auswirkung auf das Einkommen von Armen haben. Die Auswirkungen des Wachstums auf das Einkommen von Armen sei in armen Ländern nicht anders als in reichen Ländern. Die Einkommen der Armen fallen in Wirtschaftskrisen nicht überproportional (Dollar und Kraay 2002). Eine genaue Begriffsdefinition von Wachstum und Armut thematisiert Collier nicht. Ein weiteres wichtiges Werk Colliers, welches auch in der Umweltethik eingeordnet werden kann, ist das 2011 erschienene Buch „Der hungrige Planet. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern“. Dabei geht es um die Sicherung natürlicher Ressourcen und Wirtschaftswachstum zugunsten Armer (Collier 2011, S. 9–11). Collier thematisiert erneut die Armut der untersten Milliarde und greift die Bedeutsamkeit des Wachstums aus seinen vorherigen Werken auf und richtet dabei den Fokus auf die Nutzung natürlicher Ressourcen durch technologischen Fortschritt. Dabei stellt Collier eine simple Handlungsregel auf, die verhindern soll, dass natürliche Ressourcen als Machtmittel missbraucht und so vergeudet werden: Natur + Technologie + Regeln = Wohlstand. Regeln durch gute Regierungsführung seien unabdingbar, um der Natur ihren Nutzwert durch Technologie zu verleihen. Als Beispiel nennt Collier Coltan, welches durch die Mobilfunktechnologie an Wert gewonnen hat. Doch auch Collier ist sich bewusst, dass Technologie der Natur nicht nur Wert zuschreibt, sondern diesen gleichermaßen vernichten kann (Collier 2011, S. 20–21). In diesem Zuge formuliert Collier eine weitere simple Handlungsregel: Natur + Technologie – Regulierung = Plünderung (Collier 2011, S. 22). Mangelnde Regierungsführung ist gerade in Ländern der untersten Milliarde ein Problem. Regulierungen schützen die Natur nicht nur vor Plünderung, sie verteilen natürliche Ressourcen um. Fehlen diese Regulierungen, werden natürliche Ressourcen zum Fluch (Collier 2011, S. 23). Collier teilt das wirtschaftliche Potenzial der Erde in vier Quadrate, den sogenannten politischen Arenen, ein. Ein Quadrat wird von den sogenannten entwickelten Ländern4 bewirtschaftet. Die unterste Milliarde nimmt ebenfalls ein Quadrat ein, macht jedoch nur 1 % der Weltwirtschaft aus. Das dritte Quadrat schreibt Collier Russland und China sowie ihren Satellitenstaaten zu. Das vierte Quadrat wird von Schwellenländern eingenommen (Collier 2011, S. 22). Die Plünderung der Natur sei nicht nur ein Problem der untersten Milliarde. Auch reiche Länder mit guter

4Laut

OECD gehört diesen 80 % der Weltwirtschaft (Collier 2011, S. 21).

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Regierungsführung tragen zur Plünderung bei, da deren Regulierungen an Grenzen oftmals aufgehoben werden. Naturphänomene, wie beispielsweise der CO2-Gehalt der Atmosphäre oder Fische im Ozean, orientieren sich jedoch nicht an Grenzen und bewegt sich in unregulierten Territorien. Regulierungen durch Demokratie machen laut Collier nur so lange Sinn, wenn sie von den Menschen verstanden werden, die sie ausführen sollen (Collier 2011, S. 23). Gerade die Agrarlobby profitiere von Missverständnissen normaler Bürger und manipuliere Regulierungen zugunsten bestimmter Interessengruppen. Dies wirke sich bis in die EZ aus. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) setzen sich für kleinbäuerliche Förderungen ein, die Konträr zur Industrie agieren und somit zu einer Stagnation des Wachstums beitragen. Die Romantisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft lässt laut Collier jedoch Lebensmittelpreise steigen und Armut weiter wachsen (Collier 2011, S. 24). „Aber die Opfer der wissenschaftsfeindlichen, pro-bäuerlichen Regulierung der Landwirtschaft sind die Armen von heute“ (Collier 2011, S. 24). Collier schließt seine These mit folgender Handlungsregel ab: Natur + Regulierung – Technologie = Hunger (Collier 2011, S. 24). Neben Paul Collier, der auf makroökonomischer Ebene forscht, soll an dieser Stelle auch länderspezifische Forschung Erwähnung finden. In der Reihe „Göttinger Studien“, herausgegeben von Hermann Sautter und Stephan Klasen, werden neueste entwicklungsökonomische Forschungsergebnisse zu den Themen Handel, Armut und Ungleichheit in Entwicklungsländern aus ökonomischer Sicht zusammengetragen. Eines der Werke, welches an dieser Stelle beispielhaft genannt werden soll, ist die Dissertation von Adriana Rocío Cardozo Silva. In „Economic Growth and Poverty Reduction in Colombia“ aus dem Jahr 2009, analysiert Silva Verteilungseffekte des Wirtschaftswachstums auf verschiedene Dimensionen der Armut in Kolumbien. Auf mikroökonomischer Perspektive analysiert Silva wie Wirtschaftswachstum Armut und Ungleichheit auf Haushaltsebene beeinflusst. Aus makroökonomischer Perspektive befasst sich Silva mit den Auswirkungen von Wachstum auf den regionalen Lebensstandard. Dabei gelangt sie zu der Erkenntnis, dass Armutszahlen und Haushaltseinkommen in Kolumbien stark von konjunkturellen Schwankungen im Land und Arbeitsmarktbedingungen abhängig sind. Bedeutend hierbei ist, dass ländliche Gebiete davon weniger betroffen sind als Stadtgebiete. Diese Erkenntnisse führen Silva zu zwei Kernaussagen: 1) Wirtschaftswachstum muss stabil sein, um eine Erhöhung von Armut zu vermeiden. 2) Länder müssen so segregiert wie möglich analysiert werden, da sonst detaillierte Informationen verloren gehen (Silva 2009, S. 3–4). „Desegregation is relevant among country divides, but also over time to capture the effects of economic cycles on households“ (Silva 2009, S. 4). Damit will Silva einen Beitrag zur Diskussion zur Auswirkung von Wirtschaftskrisen auf Armut leisten (Silva 2009, S. 3). „There is still an open debate on how to evaluate the impact of different growth spells on poverty“ (Silva 2009, Preface).

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2.3 Die KfW Entwicklungsbank im Fokus Die KfW Entwicklungsbank wird als Durchführungsinstitution hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkung und Umsetzung immer wieder einmal untersucht. In der Dissertation von Peter L. Gräf aus dem Jahr 1995. In „‚Auslaufmodell‘ Entwicklungsbanken? Eine institutionelle Analyse der finanziellen Zusammenarbeit deutscher Stellen mit Entwicklungsbanken in Ländern der Dritten Welt und Überlegungen zu ihrer Neugestaltung“ hat Gräf die Arbeit von Entwicklungsbanken systematisch analysiert. Die Arbeit baut auf der Hypothese auf, dass die effiziente Durchführung von komplexen Projekten, von Eigeninteresse und Rahmenbedingungen abhängt. Letztgenannte hat Gräf mithilfe des individualistischen Analyseansatzes erarbeitet, der das Erfassen von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen der zu analysierenden Institutionen zulässt (wenn diese das Handeln beeinflussen) erarbeitet. So konnte nicht nur die Geberseite, sondern auch die Nehmerseite analysiert werden. Gräf stellt auf der Nehmerseite erhebliche Umsetzungsprobleme fest. Da Entwicklungsbanken ökonomischen Restriktionen unterliegen und – wie andere Banken auch – an der Effizienz ihres Geschäftes interessiert sind, lässt sich ein sicherheits- und kostenorientiertes Handeln feststellen, was zu einer Benachteiligung mancher Zielgruppen führt. Die Zielgruppe der FZ ist kostenträchtiger und wird daher nicht mit Krediten bedient. Entwicklungsbanken sind vermehrt in politische und gesellschaftliche Strukturen involviert und daher hohem Druck ausgesetzt, der sich negativ auf die Zielgruppen auswirkt. Insbesondere staatsnahen Entwicklungsbanken ist es aufgrund von ökonomischen Rahmenbedingungen nicht möglich, die Zielgruppen auf wirtschaftspolitischer Ebene zu erreichen. Das führt zu einer staatlichen Abhängigkeit der Zielgruppe und einer Einflussnahme des Staates auf die Kreditvergabe (Gräf 1996, S. 252–253). „Die Akteure auf der Nehmerseite verfolgten also überwiegend ganz andere Ziele, als bei der FZ mit Entwicklungsbanken vorgesehen waren. […] Als Analyseergebnis kann daher gesagt werden, daß [sic!] Entwicklungsbanken per se kein Instrument zu einer zielgruppenorientierten Entwicklungshilfe sind, wodurch Steuerungsbedarf durch die Geberseite entsteht“ (Gräf 1996, S. 253).

Steuerungsbedarf stellt Gräf auch im Falle der KfW Entwicklungsbank fest. Aufgrund des institutionellen Aufbaus und administrativen Rahmenbedingungen der FZ, kann das BMZ das Handeln der KfW als Durchführungsinstitution nicht steuern, um der mangelnden Erreichung der Zielgruppe entgegenzuwirken. Gräf sieht es daher als notwendig an, neue Steuerungselemente einzurichten, damit das BMZ auch im Projektprozess in die Arbeit der Entwicklungsbank eingreifen kann. Gräf empfiehlt weiter, die Höhe der Kreditlinie an die des Sparkapitals von Entwicklungsbanken zu koppeln. Geberinstitutionen sollen ihre administrativen Apparate durch personelle Ressourcen erhöhen, um sich an die immer komplexer werdenden Projekte anzupassen (Gräf 1996, S. 254–255).

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Der Verwaltungswissenschaftler Uwe Stehr (1989) befasst sich ähnlich wie Gräf mit der tatsächlich praktizierten Kreditvergabepolitik von Entwicklungsbanken. Auch wenn die KfW Entwicklungsbank dort nicht unmittelbar Gegenstand der Untersuchung ist, sind Stehrs Überlegungen und Forschungsergebnisse für die vorliegende Arbeit dennoch von Relevanz. In „Determinanten der Kreditvergabepolitik der internationalen Entwicklungsbanken“ hat Stehr das Kreditvergabeverhalten und die damit verbundenen Einflussfaktoren (Determinanten) internationaler Entwicklungsbanken untersucht. Er untersucht dazu die Weltbank sowie afrikanische, asiatische und interamerikanische Entwicklungsbanken. Die Auswahl erfolgte im Zuge der Verschuldungskrise 1982 und der steigenden Bedeutung der Entwicklungsbanken für den finanziellen Ressourcentransfer in den Globalen Süden. Mit Hilfe von ökonometrischen Methoden (Regressionsanalyse), hat Stehr die tatsächlich praktizierte Kreditpolitik als Reflex der entwicklungspolitischen Zielsetzung untersucht. Der Forschungszeitraum begrenzt sich auf die Periode 1972– 1985. In diesem Zeitraum wurden 125 Länder als Kreditempfänger untersucht. Berücksichtigung fanden auftretende weltwirtschaftliche Schocks. Stehr konnte feststellen, dass die Pro-Kopf-Kreditvergabe mit wachsenden Bevölkerungszahlen gesunken ist. Dafür macht er die Interessenlage der Geberinstitute verantwortlich. Ein Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Pro-Kopf-Kreditvergabe konnte innerhalb der Gruppe der Banken und Fonds festgestellt werden. Dieser differenzierten Untersuchungsgruppe schreibt Stehr ein negatives Vorzeichen für die Kreditvergabe aufgrund von Bedürftigkeitskriterien zu. Banken, die Kredite anhand der Risikoerwägung vergeben, konnten positive Vorzeichen zugeschrieben werden. Abschließend kam Stehr zu dem Ergebnis, dass Bevölkerungsgröße und Einkommenshöhe als relevante und längerfristige entwicklungspolitische Determinanten für die Kreditvergabepolitik in Entwicklungsbanken angesehen werden können (Stehr 1989, S. 116–119).

3 Methodologie und Methode Wissenschaftliche Arbeiten basieren auf erkenntnis-, wissenschafts- und sozialtheoretischen Annahmen, welche die Methodologie und methodische Vorgehensweise prägen. Die methodische Vorgehensweise stützt sich auf diese Vorannahmen und erhält durch diese ihre Legitimation (Strübing 2014a, S. 37). Da es sich hierbei um die persönliche Setzungen und Zuschreibungen der Forschenden handelt, wird in diesem Kapitel bewusst – wenn auch für wissenschaftliche Arbeiten unüblich – durch ­Ich-Formulierungen Position bezogen.

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3.1 Ontologie – forschungsleitende Prämissen, Modelle und Begriffe Die forschungsleitenden Prämissen sind eng an das pragmatistische Verständnis der Bedeutung von Handlungen geknüpft. Der Pragmatismus ist eine prozess- und handlungsorientierte Philosophie. Handlungsprozesse bringen das Bewusstsein eines Menschen und die Bedeutung von Objekten und Sachverhalten hervor. Nichts wird als gegeben vorausgesetzt – weder das Bewusstsein eines Menschen noch der Wert von Objekten. Die KfW Entwicklungsbank stellt den Forschungsgegenstand der vorliegenden qualitativen Analyse dar und wird hier als Struktur Kollektiven Handelns (SKH) verstanden und untersucht. Der Begriff SKH und die daraus resultierende Definition beruhen auf einem von Franke und Roos entwickeltem Konzept, das sich am pragmatistischen Verständnis von Handlungen anlehnt. Unter der Bezeichnung SKH können soziale Institutionen wie Staaten, aber auch Vereine, Parteien oder die Familie zusammengefasst werden. Eine SKH zeichnet sich durch das kollektive Handeln mehrerer Personen aus, die durch Regeln und Strukturen die Auswirkungen ihres Handelns regulieren wollen. Dabei ist die SKH gebettet in Prozesse eingebettet, die stets einem Moment des krisenhaften und Nicht-Kontrollierbaren mit sich bringen. Die Handlungsregeln einer SKH bestimmen deren Ziele und Identität (Franke und Roos 2013, S. 313). Die KfW Entwicklungsbank wird als SKH von der Forschenden wie folgt definiert: Die SKH ist in die Strukturen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eingebettet. Die KfW Entwicklungsbank ist eine Durchführungsinstitution, die im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) arbeitet, die ebenfalls als SKHs zu verstehen sind (KFW Entwicklungsbank 2016a). Die SKH arbeitet demnach im Auftrag externer SKHs und agiert trotz eigener intern durchdeklinierter Strukturen im Auftrag dieser externen Handlungsstrukturen. Arbeitsschwerpunkte der Bundesregierung und des BMZ gewichten sich beispielsweise je nach Amtszeit einer Regierungspartei (Henning 2018, S. 5). Parteien sind nach Franke und Roos ebenfalls als SKH zu verstehen (Franke und Roos 2013, S. 313). Hinzu kommt der internationale Diskurs der EZ. Dieser prägt und leitet die Entwicklungsprojekte Deutschlands im Ausland. Darunter fallen Deklarationen der UN wie bspw. die Sustainable Development Goals (SDGs) oder internationale Menschenrechtsvereinbarungen. Überarbeiten diese internationalen SKHs ihre Strukturen oder Handlungsansprüche, werden alle anderen SKHs, die im Gefüge der EZ agieren, davon beeinflusst (Henning 2016, S. 4–5).

3.2 Epistemologie – Wissen, Wahrheit und Objektivität Die Philosophie des Pragmatismus, deren erkenntnistheoretischen Überlegungen meine Position maßgeblich informieren, befasst sich mit drei elementaren Fragen der Wissenschaft: „Wie ist Erkenntnis möglich? Wie entsteht Bedeutung? Was ist ­ Wahrheit?“

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(Schubert 2010, S. 13). In Anlehnung an das pragmatistische Erkenntnismodell verstehe ich Realität, menschliche Handlungen und Interaktionen sowohl Theorie als auch die Wissenschaft selbst – und das ist das Entscheidende – als Prozess. Empirische Forschung ist ein Prozess, dessen Wahrheit durch Forschende als Momentaufnahme, aber nie als endgültiges Ergebnis festgehalten wird. Ein Prozess, der durch Interaktion menschlichen Handelns beeinflusst wird. Realität ist diesem pragmatistischen Verständnis nach, nie universell. Diese prozessuale Realitätsauffassung schlussfolgert dasselbe für das Verständnis von Theorien. Eine Theorie ist keine universelle Wahrheit. Theorien sind Ausschnitte einer Wirklichkeit in der Realität, die von Prozessen und Perspektiven geprägt sind. Das bedeutet, dass eine Theorie eine angreifbare und fehlbare Interpretation ist (Strübing 2014a, S. 38–39). Diese erkenntnistheoretische Argumentationslogik beruht auf dem pragmatistischen Wahrheitsbegriff, der konträr zu dem in der Wissenschaft weitverbreiteten universellen Wahrheitsbegriff steht (Strübing 2014a, S. 40). Ziel wissenschaftlichen Denkens ist es, Sachverhalte und deren praktische Konsequenzen zu prüfen und nicht grundsätzlich anzuzweifeln. Diesem Wahrheitsbegriff nach ist es wichtig, handlungspraktische Bedeutungen abzuleiten. Nach Peirce sind praktische Konsequenzen – also die Interpretation der Wirkung der Handlungen – durch Erfahrungen geprägt. Die Bedeutung der praktischen Konsequenz wird durch die subjektive, praktische Erfahrung von Forschenden bestimmt. Das bedeutet, es kann keine universelle Deutung eines Sachverhaltes geben, da keine universelle Wahrheit existiert (Strübing 2014a, S. 40). Diese These führt mich zu einer weiteren wichtigen Positionierung: Wissenschaft kann nie vollständig objektiv sein. Max Weber – dem ich mich hiermit anschließe – ist der Auffassung, dass eine rein wissenschaftliche Untersuchung nicht frei von Werturteilen sein kann und dass das Ergebnis einer Forschung durch den Willen der Forschenden einer bestimmten Frage nachspüren zu wollen, beeinflusst wird. Die Vorstellung, die praktische Sozialwissenschaft habe zur Aufgabe Werturteile erkennbar zu machen, um ein objektives Forschungsergebnis mit universellen Theorien zu erzielen, ist laut Weber zwar erstrebenswert, jedoch utopisch. Weber betont zudem, dass nur ein persönlicher Zugang mit Werturteilen eine Offenlegung des Problems ermöglicht. Je mehr Kulturbedeutung ein zu untersuchendes Problem aufweist, desto weniger kann die Erfahrungswissenschaft sich allein diesem Problem zugänglich machen (Weber 1904, S. 27–28). Ich schließe mich Weber mit der Aussage an, dass Subjektivität in Sozialwissenschaften durchaus zur Problemorientierung genutzt werden kann. Das Interesse an einem Forschungsfeld und -gegenstand ermöglicht Forschenden einen Zugang, der Probleme – gar Ungerechtigkeiten – sichtbar werden lässt. Die Erkenntnis, dass ein Problem vorliegt, das untersuchungswert ist, kann nur durch persönliche Wertevorstellung sichtbar werden (Weber 1904, S. 27–28). Samuel Salzborn geht noch einen Schritt weiter und betont das Politische bei der Auswahl des Forschungsgegenstandes. Dies sei „[…] ein politischer Prozess der Entscheidung und des Ausschlusses“ (Salzborn 2018, S. 43). Wertneutralität in der Wissenschaft sei ein Wiederspruch und führe zu einer wissenschaftstheoretischen Ruhigstellung (Salzborn 2018, S. 45). Dieser Aussage stimme ich zu. Wissenschaft ist für mich ein Instrument,

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das Kritik äußern dürfen sollte, um Wirkung zu erzielen. Ideologie – so Salzborn – wird immer nur dann kritisiert, wenn die eigene dieser nicht entspricht (Salzborn 2018, S. 45). Das wissenschaftliche einer Forschung ist meiner Ansicht nach nicht die Wertneutralität, sondern die Transparenz, die Rechenschaft, die ich als Forschende den Lesenden schuldig bin. Gedanken- und Analysengänge müssen zugänglich gemacht werden. Dazu gehören eine ontologische Einordnung der Forschung als Fundament, eine detaillierte methodische Erörterung und Begründung, Zugang zum Forschungsmaterial, Offenlegung der Analyse- und Gedankengänge sowie ein reflektiertes und selbstkritisches Fazit mit weiterführenden Forschungsfragen.

3.3 Methodische Vorgehensweise Die Forschungsarbeit orientiert sich nicht nur im methodologischen Grundverständnis, sondern auch methodisch an der von Glaser und Strauss entwickelten Grounded Theory (GT). Durch Glaser und Strauss 1967 erstmals vorgelegt und 1987 und 1994 von Strauss erweitert, verfolgt die Methode der GT eine analytische Vorgehensweise nach Sequenzen. Dabei werden Kategorien und Subkategorien stärker vernetzt als beispielsweise bei der Methode der Inhaltsanalyse nach Mayring (Bortz und Döring 2006, S. 332). Die Grounded Theory versteht „[…] Kodieren als den Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material“ (Strübing 2014b, S. 16). Dabei erfolgt das Kodieren nach Strauss in einem dreistufigen Prozess von offenem, axialem und selektivem Kodieren. Von dieser Dreiteilung wende ich mich allerdings ab und orientiere mich stattdessen an Roos, der nicht zwischen substantiellem und theoretischem Kodieren unterscheidet, da er Kodieren immer theoriegenerierend versteht (Roos 2013, S. 313). Pro Forschungszeitraum wurde ein Kodierbaum angelegt, in dem die Sequenzen in Kategorien und anschließend in Thesen sortiert und formuliert sind. Jede Sequenz ist mit der Kommentarfunktion mit einem Memo versehen, in dem erste analytische Gedankengänge, Kategorienbildungen und vorläufige Thesen formuliert sind. In der anschließenden Ergebnissicherung sind diese Memos, Kategorien und Thesen verschriftlicht – ein weiterer Prozess, den ich als Teil meiner Theoriebildung betrachte. Die Materialauswahl erfolgte durch das Konzept des Theoretical Sampling, welches eine Erweiterung und Änderung des zu erhebenden Datenmaterials während des Forschungsprozesses ermöglicht. Datenmaterial kann demnach parallel zum Auswertungsprozess hinzugezogen werden (Strübing 2014b, S. 29). Während des Forschungsprozesses habe ich das Experteninterview mit Klara Henning von der KFW Entwicklungsbank ausgewertet und daraufhin weiteres Datenmaterial für den Forschungszeitraum 2010–2015 hinzugezogen. Erst nach dem Analysieren des Interviews entschied ich, Material des BMZ hinzuzuziehen, da das Ministerium die Arbeit der KfW als SKH maßgeblich bestimmt. Hennig spiegelt zwar nicht zwingend die Meinung der gesamt KfW Entwicklungsbank wider, dennoch stufe ich ihre Aussagen aufgrund ihrer Position in der Abteilung Entwicklungs- und Sektorpolitik der KFW Entwicklungsbank als repräsentativ

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ein5. Die Befragung erfolgte mit teilstrukturiertem Leitfaden, der mir in erster Linie als Orientierung durch das Interview helfen sollte (Mayer 2013, S. 37). Der Leitfaden ist in drei Themengebiete unterteilt: Personenbezogene Hintergrundfragen, das Verständnis von Wachstum und Wohlfahrt und detaillierte Fragen zu den Forschungszeiträumen. Ich habe den Begriff der Wohlfahrt mit in meine Befragung aufgenommen, um einen Eindruck bezüglich des Menschenbildes der KfW zu erhalten. Meines Erachtens lassen sich durch die Analyse dieser Definition Rückschlüsse darauf ziehen, was der Mensch laut der KfW Entwicklungsbank will, um ein gutes Lebens führen zu können. Dabei sollten auch Begriffsdefinitionen und -Verwendungen von wirtschaftswissenschaftlichen Termini wie zum Beispiel Pro Poor Growth, Green Growth oder ähnlichen Begriffen geklärt werden. Der Zugang zum Datenmaterial hat sich im ersten Zeitraum 1994–1996 als besonders schwierig herausgestellt. Primärliteratur von der KfW Entwicklungsbank, der Bundesregierung oder BMZ konnten nicht in digitaler Form gefunden werden. Das Konzernarchiv der KfW Bankengruppe arbeitet – auf Rückfrage per E-Mail – auf der Grundlage des Bundesarchivgesetzes6, welche Schutzfristen von 30 Jahren vorsieht. Zudem kann die Nutzung des historischen Archivs nur vor Ort in Berlin erfolgen. Beruhend auf der Annahme, dass die Arbeit der KFW Entwicklungsbank durch ihre Auftraggeber geleitet wird (Henning 2018, S. 9), stütze ich meine Analyse daher auf die Auswertung zweier Weltkonferenzen: Die Bevölkerungskonferenz in Kairo 1994 und den Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995. Dies begründe ich damit, dass die Positionen der KfW Entwicklungsbank als Struktur Kollektiven Handelns (SKH) von grundlegenden Handlungsregeln des BMZ bestimmt werden, das einerseits ebenfalls nicht unabhängig agiert, sondern vom internationalen Diskurs über die Grundregeln der Entwicklungszusammenarbeit beeinflusst wird (Henning 2018, S. 9).

4 Analyse und Auswertung der Forschungszeiträume 4.1 Forschungszeitraum I: 1994–1996 4.1.1 Das Menschenbild Im Zentrum der analysierten Weltkonferenzen steht der Schutz und die Förderung der Frau und Kindern weiblichen Geschlechts sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau in einer heteronormativen Partnerschaft/Ehe. In der Kopenhagener Deklaration für soziale Entwicklung (1995) wird die Unterstützung von Partnerschaften zwischen Mann und Frau in der Form einer Familie oder Lebensgemeinschaft hervorgehoben. Darin wird die geteilte Verantwortung von Mann und Frau in der Kindererziehung und Betreuung

5Ich

musste kurzfristig händisch in der Einwilligungserklärung die Klausel „Die Meinung der Interviewten gibt nicht zwingend die Position der KfW wieder“ hinzufügen. Siehe Anhang. 6Siehe § 11: https://www.buzer.de/11_BArchG.htm (zuletzt aufgerufen am 01.06.2018).

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älterer Familienmitglieder als unterstützenswert beschrieben sowie die aktive Einbringung des Mannes in der Elternschaft. Dabei wird auch ein verantwortungsvolles und reproduktives Verhalten des Mannes als erstrebenswert betont (United Nations 1995). In der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (1994) wird das Konzept der heteronormativen Familie ebenfalls explizit hervorgehoben. In Prinzip 9 wird die Familie als Einheit der Gesellschaft beschrieben (United Nations [1994] 2014, S. 14). „The family is the basic unit of society and as such should be strengthened. It is entitled to receive comprehensive protection and support. In different cultural, political and social systems, various forms of the family exist. Marriage must be entered into with the free consent of the intending spouses, and husband and wife should be equal partners“ (United Nations [1994] 2014, S. 14).

In Prinzip 11 wird der Stellenwert und der Schutz des Kindes formuliert. Die Gesundheitsversorgung und Bildung haben höchste Priorität (United Nations [1994] 2014, S. 14). Unabhängig von der Kultur und Religion des Landes in der Entwicklungshilfe7 geleistet werden soll, werden Wertevorstellungen des Globalen Nordens universalisiert und für die Entwicklung des Globalen Südens als erstrebenswert formuliert. Die Familie als Gemeinschaft zwischen Mann und Frau genießt einen höheren Stellenwert als das Individuum oder andere Formen des Zusammenlebens. Die Stellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften findet keine Erwähnung. Es wird lediglich von verschiedenen Formen der Partnerschaft gesprochen (United Nations [1994] 2014, S. 8). Schutz für marginalisierter Gruppen wie beispielsweise Homosexuelle, wird nicht thematisiert. Lediglich die Lebensform Indigener soll geschützt werden (United Nations [1994] 2014, S. 15). Heteronormative Lebensformen werden durch die Festschreibung in Prinzipien universalisiert und bilden den Wertekonsens der damaligen EZ. Die Lebensvorstellung und somit auch das Verständnis von Wohlfahrt, basiert auf eurozentristischen Werten, die für den Globalen Süden normiert werden. Auf diesem Menschenbild baut das Verständnis und die Definition von Entwicklungszusammenarbeit bzw. -hilfe auf, welches im nachfolgenden Kapitel erläutert wird.

4.1.2 Das Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit EZ wird als Hilfe von Ländern des Globalen Nordens verstanden, die sich in ihrer Position als internationale Gemeinschaft dafür verantwortlich und insbesondere geeignet fühlen, gemeinsam Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Entwicklung zu leisten. Das Verantwortungsbewusstsein beruht unter anderem auf der Annahme, dass einzelne Staaten nicht in der Lage sind die Probleme einer globalisierten Welt eigenständig zu lösen. Einzig die Zusammenarbeit von Ländern des Globalen Nordens

7Der

Begriff Entwicklungshilfe ist durch den Begriff Entwicklungszusammenarbeit heute fast vollständig abgelöst. Länder des Globalen Südens sollen dadurch nicht als Empfänger von Hilfsleistungen, sondern als gleichberechtigte Partner angesehen werden (BMZ 2019a).

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schafft die Voraussetzung für den Ausbau einer nachhaltigen Marktwirtschaft in Entwicklungsländern und einer Integration dieser in die Weltwirtschaft (BMZ 2019d). Das nachfolgende Zitat aus dem „Programme of Action“ der Konferenz in Kairo 1994, verdeutlicht den Wirtschaftsfokus des Entwicklungsbegriffes der UN nochmals deutlicher: „The international community should continue to promote a supportive economic environment, particularly for developing countries and countries with economies in transition in their attempt to eradicate poverty and achieve sustained economic growth in the context of sustainable development“ (United Nations [1994] 2014, S. 19).

Für den ersten Forschungszeitraum charakteristisch sind zudem Formulierungen der internationalen Gebergemeinschaft als Kooperationszusammenschluss, der sich den weniger entwickelten Ländern annehmen muss. „Principle 7: […] The special situation and needs of developing countries, particularly the least developed, shall be given special priority. Countries with economies in transition, as well as all other countries, need to be fully integrated into the world economy“ (United Nations [1994] 2014, S. 12).

In welcher Form sich die Länder des Südens einbringen sollen wird in keinen der analysierten Quellen definiert. Es werden überwiegend Problemerkenntnisse formuliert, die durch die internationale Gebergemeinschaft der Länder des globalisierten Nordens behoben werden müssen. Hier wird das Wirtschaftswachstum bereits als Mittel zur Lösung hervorgehoben, ohne die Probleme auszudifferenzieren. Armut, Ungleichheit und mangelnde Entwicklung werden als Auslöser formuliert, die zu einer unzureichenden Befriedigung der Bedürfnisse führen, die durch eine Integration in die Weltwirtschaft behoben werden können (United Nations [1994] 2014, S. 12–15). Das Prinzip von Entwicklungszusammenarbeit Mitte der 1990er Jahre wird als Hilfe von nördlichen Ländern („developed countries“) verstanden. Diese haben die Verantwortung sowie die technischen Voraussetzungen, die für den Ausbau einer nachhaltigen und globalen Wirtschaft nötig sind. Nur durch die Integration der Länder des Globalen Südens in die Weltwirtschaft ist nachhaltige Entwicklung möglich.

4.1.3 Wachstum führt zu Entwicklung Wachstum nimmt im Forschungszeitraum 1994–1996 bereits eine zentrale Rolle ein, auch wenn diese nicht direkt als solche bezeichnet wird und in verschiedenen Formen auftritt. Ein immer wiederkehrender Begriff ist der der Nachhaltigen Entwicklung. In der „Kopenhagener Deklaration für Soziale Entwicklung“ von 1995 wird in drei verschiedene Formen der Entwicklung unterschieden, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen führen (United Nations 1995). „We are deeply convinced that economic development, social development and environmental protection are interdependent and mutually reinforcing components of sustainable development, which is the framework for our efforts to achieve a higher quality of life for all people“ (United Nations 1995).

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Der Begriff, so wie er in der Kopenhagener Deklaration Verwendung findet, bezieht sich auf soziale, wirtschaftliche und ökologische Ebene. Entwicklung muss in der Gesellschaft, in der Wirtschaft aber auch unter der Berücksichtigung der Umwelt (ökologische Ebene) vorangetrieben werden, damit sich die Lebensqualität der Menschen nachhaltig entwickelt und somit verbessert. Auch wenn an dieser Stelle der Analyse noch kein Vergleich zwischen den Forschungszeiträumen stattfinden soll, soll hier bereits die erste These formuliert werden: Der Begriff Entwicklung wird im ersten Forschungszeitraum als Fortschritt und somit auch als Wachstum auf dreidimensionaler Ebene verstanden: Sozial, wirtschaftlich und ökologisch. Nur wenn Entwicklung in den drei Dimensionen berücksichtigt wird, ist Wachstum qualitativ (United Nations 1995). Soziale Entwicklung als Komponente des qualitativen Wachstums sei kontextspezifisch und könne nicht unabhängig seines Umfeldes, in dem es stattfinden soll, entstehen. Soziale Entwicklung führt zu Frieden, Stabilität und Sicherheit auf nationaler und internationaler Ebene (United Nations 1995). Nachhaltige Entwicklung umschließt auch die ökologische Ebene, wie in der Konferenz in Kairo definiert wird: „Sustainable development as a means to ensure human well-being, equitably shared by all people today and in the future, requires that the interrelationships between population, resources, the environment and development should be fully recognized, properly managed and brought into harmonious, dynamic balance“ (United Nations [1994] 2014, S. 13).

Um diese Form der nachhaltigen Entwicklung zu erreichen, müssen unnachhaltige Strukturen in der Produktion und Konsum reduziert werden – insbesondere in nördlichen Ländern. (United Nations [1994] 2014, S. 13). In diesem Kontext wird ebenfalls vor allem die Verantwortung der „developed countries“ hervorgehoben. Nur durch den Einsatz der Länder des Nordens und deren Förderung einer nachhaltigen Wirtschaft kann die Ungleichheit zwischen Globalen Norden und Süden ausgeglichen werden (United Nations [1994] 2014, S. 11–19). Wirtschaftswachstum werden dabei mehrere Funktionen zugeschrieben. Zum einen habe wirtschaftliche Entwicklung das Potenzial soziale Entwicklung und soziale Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten, so lange es nachhaltig sei und einer großen Zahl von Menschen („broad-based8“) zugutekommt. Die aktive Einbindung ärmerer Gesellschaftsschichten in die Marktwirtschaft, fördere zusätzlich die Kreativität und Initiative Einzelner, die damit zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen und sozialen Fortschritt fördern. Zugang zu Technik, insbesondere für Kleinstunternehmen und kleine und mittlere Unternehmen fördere ebenfalls Entwicklung. Neben inländischer Wirtschaftsförderung wird auch dem globalen Wirtschaftswachstum ein Nutzen für den Globalen Süden zugeschrieben. Der Globale Süden muss technisch

8Im

Kontext der Entwicklungszusammenarbeit der 1990er Jahre findet man häufig den Begriff broad-based, der um die Jahrtausendwende und der Entstehung des Pro Poor Growth Begriffes vollständig abgelöst wurde (Kakwani et al. 2004, S. 419).

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und finanziell unterstützt werden, damit er sich aktiv im Weltmarkt einbringen kann. So könne Wirtschaftswachstum zur Reduzierung von Armut beitragen.

4.2 Forschungszeitraum II: 2010–2015 Die Auswertung des Forschungszeitraums 2010–2015 basiert auf der Analyse drei ausgewählter Quellen. Neben dem Interview mit Klara Henning wird ein Positionspapier der KFW Entwicklungsbank aus dem Jahr 2016 „Themen aktuell: Qualitatives Wachstum“ hinzugezogen. Zusätzlich trägt ein Positionspapier der BMZ zu einer detaillierteren Analyse bei. Das Positionspapier des BMZ halte ich für notwendig, da Klara Henning im Interview vermehrt auf die Richtlinienkompetenz der Bundesregierung und des BMZ verweist (Henning 2018, S. 5). Das Positionspapier des BMZ ist zwar aus dem Jahr 2006 und fällt somit aus dem Forschungszeitraum, ist im Kontext der Pro Poor Growth Debatte meinen Einschätzungen zu folge immer noch aktuell.

4.2.1 Das Menschenbild Das Menschenbild der KfW Entwicklungsbank wird nun durch ein multidimensionales Verständnis von Wohlfahrt geprägt, welches wiederum eng mit dem Verständnis von Wachstum zusammenhängt. Wirtschaftswachstum steigert laut der KfW gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 1). Die Frage nach Wohlstand beantwortet auch Henning mit einem Verweis auf das Wachstumsverständnis. Wohlstand ist „[…] eigentlich dieselbe Antwort wie zu Wachstum würde ich fast sagen. Dass wir es multidimensional verstehen, Menschen vor allem, da wir ja vor allem Infrastrukturen schaffen ist unser größter Hebel quasi Zugang zu schaffen […]“ (Henning 2018, S. 8). Mit der Hilfe von Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen und Infrastruktur, sollen Menschen im Sinne der Gleichberechtigung Zugang zu allen Dingen erhalten, die ihnen bisher verwehrt geblieben sind (Henning 2018, S. 8). Der Mensch strebt – dem Verständnis der KfW Entwicklungsbank nach – als Individuum nach Selbstverwirklichung durch Entwicklung. Der Mensch möchte sich immer weiterentwickeln und befürwortet Wirtschaftswachstum, solange er daraus sein volles Potential schöpfen kann. Auch wenn Wohlstand multidimensional verstanden wird und kontextspezifisch definiert wird, ist das Menschenbild der KfW universal, da jeder Mensch Entwicklung durch Wirtschaftswachstum erfahren will. Charakteristisch für diesen Forschungszeitraum ist zudem die Wahrnehmung des Menschen als Individuum unabhängig einer Familien- oder Partnerschaftskonstellation (Henning 2018, S. 9). 4.2.2 Qualitatives Wachstum in der EZ Der Wachstumsbegriff ist im zweiten Forschungszeitraum allgegenwärtig und wird laut Henning kontextspezifisch definiert und pro Sektor durchdekliniert (Henning 2018, S. 6). Qualitatives Wachstum ist „[…] dass man die Menschen befähigt ihr Potential zu entfalten, jenseits von einem reinen Wirtschaftswachstum“ (Henning 2018, S. 6).

Qualitatives Wachstum in der Entwicklungszusammenarbeit …

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Qualitatives Wachstum wird als Entwicklungsprozess bezeichnet, der nachhaltigen Fortschritt auf dreidimensionaler Ebene gewährleisten soll: ökonomisch, ökologisch und sozial (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 1). „Qualitatives Wachstum bezeichnet einen Entwicklungsprozess, der einen nachhaltigen Fortschritt in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht anstrebt. Qualitatives Wachstum bedeutet die Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt, die aber nicht zwangsläufig auch eine Steigerung von Einkommen bedeutet. Es spiegelt sich auch etwa in einer erhöhten Verteilungsgerechtigkeit, mehr Chancengleichheit, sozialer Sicherheit, friedlichem Zusammenleben oder dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen“ (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 1).

Hier wird bereits deutlich, dass Wachstum eng mit Entwicklung verknüpft wird und deutliche Parallelen zu Forschungszeitraum I aufweist. Um qualitatives Wachstum zu messen, beauftragt die KfW Entwicklungsbank Consulting Firmen wie GOPA oder GFA, die mit Hilfe von Machbarkeits- und Umsetzungsstudien entwicklungspolitische Projekte auf mögliche Lücken, Bedarfe und Vulnerabilitäten prüfen (Henning 2018, S. 6). Qualitatives Wachstum wird demnach die Eigenschaft zugeschrieben, Bedarfe in Ländern des Globalen Südens beheben zu können. Zudem deutet sich an, dass die Umsetzungs- und Machbarkeitsstudien auf Wertevorstellungen und einem Verständnis von Wohlfahrt beruhen, die die Geberländer des Globale Nordens normiert und universalisiert haben. Im KFW Positionspapier wird definiert, dass qualitatives Wachstum auf die Steigerung der Wirtschaftsleistung abzielt um gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu steigern (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 1). „Wirtschaftlicher Fortschritt ist unbedingt notwendig, um die Lebensverhältnisse in den ärmeren Ländern zu verbessern. Doch er darf nicht zulasten von Umwelt und sozialem Frieden erfolgen“ (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 1).

Wachstum kann nicht immer in allen drei Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt werden. Zielkonflikte sind die Folge, wenn Wachstum in einer Dimension negative Auswirkungen auf andere Dimensionen hat. Hier gilt es Interessen auszugleichen um den Wachstum dennoch zu gewährleisten (KFW Entwicklungsbank 2016b, S. 2). In der Konzeptionsphase, die Henning im Interview schildert, werden mit Hilfe von ­Zielgruppen- und Betroffenenanalysen überprüft, wie sich die Bevölkerung, in der ein entwicklungspolitisches Projekt der Bundesregierung umgesetzt werden soll, zusammensetzt (Henning 2018, S. 8). „[…] welche Menschen leben in der Region, wie sieht das mit der Einkommensverteilung aus, wo sind extrem arme, gibt es benachteiligte Bevölkerungsgruppen, Indigene, wie sieht es mit der Geschlechtergerechtigkeit aus, menschenrechtliche Situation im Allgemeinen […] Dann gibt es, wenn es sich um einen fragilen Kontext handelt, im Peace and Conflict Assesment heißt das, wo man dann genau guckt, welche Konfliktparteien es gibt und was das für Auswirkungen hätte. […] ich glaube der Hauptteil für die, also wie die Pro Poor Growth angehen ist wirklich in dieser Konzeptionsphase wo wir identifizieren wo die Potentiale sind für Pro Poor Growth“ (Henning 2018, S. 8).

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Hier lässt sich die These formulieren, dass Armut und Ungleichheit multidimensional verstanden werden, etwa in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit, benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Indigene. Zwischenstaatliche Ungleichheit findet hingegen keine Erwähnung. PPG wird jedoch grundsätzlich das Potenzial zugeschrieben, qualitatives Wachstum zugunsten armer Bevölkerungsschichten generieren zu können. Das BMZ unterschiedet in relative und absolute Armut. Dabei kritisiert die BMZ jedoch auch, dass in beiden Definitionen von einem eindimensionalen Verständnis, exklusiv auf die Entwicklung von Einkommen fokussierenden Verständnis von Armut ausgegangen wird. Das BMZ ist der Ansicht, dass Armut und Ungleichheit einen Effekt auf wirtschaftliches Wachstum haben, welches ebenfalls nicht berücksichtig wird (BMZ 2006, S. 3). Des Weiteren wird bemängelt, dass es lediglich kontextspezifische Untersuchungen zur Wirkung von PPG gibt. Darin wird jedoch deutlich, dass PPG durchaus auch Wachstum auf sozialer, kultureller und politischer Ebene bewirken kann. Durch eine Erweiterung der Analyse auf sektorale und geografische Strukturen, könne gemäß des BMZ das Potenzial von PPG hinsichtlich des Beschäftigungszugangs für Menschen in ärmeren Regionen besser ausgeschöpft werden (BMZ 2006, S. 3–4). Hier lässt sich bereits die These formulieren, dass PPG Wachstum auf multidimensionaler Ebne steigern kann, wodurch das Wirtschaftswachstum generiert werden soll. Damit Wachstum pro-poor sein kann, müssen zudem Gesundheitssystem ausgebaut werden, damit Menschen sich auf produktive Tätigkeiten konzentrieren können anstatt sich um ihre Gesundheit und tägliches Überleben zu sorgen. Gleichzeitig würde eine Absicherung benötigt, die Menschen im Krankheitsfall unterstützt und Ernteausfälle ausgleicht (BMZ 2006, S. 4). „It is equally important that the risks to which (extremely) poor and disadvantaged people are particularly vulnerable are dealt with in such a way that these people are not forced to concentrate solely on daily survival and on preserving their health, but are able instead to increasingly channel their potential into productive activities […]“ (BMZ 2006, S. 4).

Aus der Analyse geht hervor, dass PPG nicht primär darauf abzielt, die Lebensbedingung von ärmeren Bevölkerungsteilen zu verbessern. Stattdessen sollten deren Lebensumstände verbessert werden, um Wirtschaftswachstums zu sichern. PPG tritt an dieser Stelle als erweiterter Begriff des qualitativen Verständnisses von Wachstum auf. Dieses qualitative Wachstum soll zwar, wie oben beschrieben, Entwicklung auf dreidimensionaler Ebene (sozial, ökonomisch und ökologisch) ermöglichen, jedoch mit der Absicht, Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum zu verbesser. Zwar besteht zwischen der Armutsreduzierung und der Steigerung des Wirtschaftswachstums im PPG Konzept kein Widerspruch, oftmals erscheint es jedoch so, als wäre nicht die Armutsbekämpfung das eigentliche Ziel und Wirtschaftswachstum das hierfür notwenige Mittel, sondern als würde es sich genau umgekehrt verhalten.

Qualitatives Wachstum in der Entwicklungszusammenarbeit …

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4.3 Der Vergleich der Zeiträume Das Menschenbild der KfW Entwicklungsbank hat sich im zweiten Forschungszeitraum, vom Fokus der Familie im Sinne von Mann und Frau gelöst. Der Mensch als Individuum soll sein volles Potenzial ausschöpfen können. Im Sinne der KFW Entwicklungsbank strebt der Mensch als Individuum nach Selbstverwirklichung durch Entwicklung. Der Mensch möchte sich immer weiterentwickeln und befürwortet Wachstum, solange er darin sein volles Potenzial schöpfen kann. Auch wenn Wohlfahrt multidimensional verstanden und kontextspezifisch definiert wird, ist das Menschenbild der KfW universal, da jeder Mensch Entwicklung durch Wachstum erfahren will. Die Werte- und Moralvorstellung nördlicher Länder gilt vor allem in den 1990er Jahren als höchste Stufe menschlicher Entwicklung und wird universalisiert. Die Prinzipien in den Weltkonferenzen leiten mich daher zur Annahme, dass die EZ in den 1990er Jahren von einem ethnozentristischen, eurozentristischen und evolutionistischen Grundverständnis vom Gutem Leben geprägt ist. Auch wenn sich die heutige EZ mit Formulierungen vom Guten Leben zurückhält, wird das Ziel qualitatives Wachstum zu ermöglichen noch immer vom nördlichen Lebensstandard und der Vorstellung von Wohlstand geprägt. Der Stellenwert von Wachstum in der EZ hat sich vom Zeitraum 1994–1996 und 2010–2015 nicht bedeutend verändert. Der heute verwendete Begriff des qualitativen Wachstums ersetzt den Begriff der nachhaltigen Entwicklung in den 1990er Jahren. Heute wird zwar durchaus noch von nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit gesprochen, jedoch bezieht sich der Nachhaltigkeitsbegriff auf die Wirtschaftlichkeit von Projekten nach Abzug der unterstützenden Institutionen. Können sich Entwicklungsprojekte im Globalen Süden nach Beendigung des Projektzeitraumes eigenständig finanzieren, gelten sie als nachhaltig. Der Begriff Entwicklung wie er in den 1990er Jahren zur Einstufung der Länder des Globalen Südens verwendet wurde, ist zumindest im deutschsprachigen Raum nicht mehr üblich. Entwicklung wird in beiden Forschungszeiträumen dreidimensional auf der Ebene der Gesellschaft, der Umwelt und der Wirtschaft verstanden. Wirtschaftswachstum wird in beiden Forschungszeiträumen eine multidimensionale wie armutsreduzierende Funktion zugeschrieben. Wirtschaftswachstum generiert nach dem Verständnis der KfW Entwicklungsbank, Entwicklung in allen drei genannten Ebenen, mit dem Ziel Wirtschaftswachstum auch zukünftig zu steigern. Dieses allein ist laut der KfW Entwicklungsbank notwendig, um Armut und Ungleichheit zu reduzieren. Inwiefern hierfür gemäß der KfW eine Einbindung der Länder des Globalen Südens in die Weltwirtschaft nötig ist, ließ sich durch die Analyse nicht exakt rekonstruieren. Qualitatives Wachstum zielt nach meiner Analyse jedoch nicht darauf ab, die Lebensbedingungen der Menschen jenseits des Wirtschaftswachstums bzw. zunehmender Einkommen zu verbessern. Qualitatives Wachstum soll grosso modo lediglich die Rahmenbedingungen für noch mehr Wirtschaftswachstum ermöglichen. PPG tritt an dieser Stelle als erweiterter Begriff des qualitativen Verständnisses von Wachstum auf, das Wachstum zugunsten Armer generieren soll, um in erster

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Linie deren Einkommen zu steigern. Die beiden anderen Dimensionen des qualitativen Wachstums sind der ökonomischen Dimension nachgeordnet. Im Kontext der EZ der 1990er Jahre ist der Pro Poor Growth Begriff noch nicht etabliert. Broad-based growth findet eine vergleichbare Verwendung in dieser Zeit und wird um die Jahrtausendwende von PPG vollständig abgelöst (Kakwani et al. 2004, S. 419). Auch wenn das BMZ selbst die Eindimensionalität des PPG Begriffes stark kritisiert, soll qualitatives Wachstum zugunsten Armer das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Die Reduzierung an Einkommen gemessener Armut bildet in beiden Forschungszeiträumen eine Zielsetzung der EZ. Eine so definierte Armut wirkt sich in erster Linie negativ auf das Wachstum eines Landes aus, da die Entwicklung/Wachstum nicht vorangetrieben werden kann. Die Auswirkungen der so verstandenen Armut werden zwar als multidimensional eingeordnet, erstrecken sich also auch auf die soziale und ökologische Dimension, doch als Zielsetzung und Begründung weshalb es Armut zu reduzieren gilt, dient eindimensional die Entwicklung des Wirtschaftswachstums. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Reduzierung von innergesellschaftlicher Ungleichheit im früheren Zeitraum keine direkte Erwähnung findet, wohingegen zwischenstaatliche Ungleichheit und Geschlechtergerechtigkeit im Vordergrund stehen. Die Reduzierung innergesellschaftlicher Ungleichheit findet dann aber im Zeitraum 2010–2015 mehr Aufmerksamkeit. Rücksicht auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Indigene werden als Ziel formuliert. Gleichberechtigung und die Beachtung der Menschenrechte werden betont. Keine Erwähnung findet Zwischenstaatliche Ungleichheit.

5 Fazit Die vorliegende hat sich mit dem Verständnis von (qualitativem) Wachstum zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit in der EZ der KfW Entwicklungsbank befasst. Da sich die KFW Entwicklungsbank, so wie auch andere entwicklungspolitische Institute, in jüngerer Zeit den Begriff Pro Poor Growth prominent zu Eigen gemacht hat, hat sich die Arbeit zum Ziel gesetzt, die diesem Konzept zugeschriebenen Bedeutung in Bezug auf qualitatives Wachstum zu untersuchen. Folgende Forschungsfrage galt es mithilfe der Methode der Grounded Theory zu untersuchen: Kann qualitatives Wachstum pro- poor sein und unter der Berücksichtigung eines multidimensionalen Verständnisses von Armut in der Entwicklungszusammenarbeit umgesetzt werden? Wie der Vergleich der zwei Forschungszeiträume deutlich zeigt, hat sich das Verständnis von Wirtschaftswachstum in der EZ am Beispiel der KfW Entwicklungsbank nicht verändert. Der heute verwendete Begriff des qualitativen Wachstums ersetzt den in den 1990er Jhren besonders prominenten Begriff der Entwicklung als Leitkonzept. Ich erachte den Begriff qualitatives Wachstum jedoch für ungenau und irreführend, da dort multidimensionales Wachstum zuvorderst zugunsten der Wirtschaftsförderung generiert werden soll und nicht mit dem vorangigen Ziel der Verbesserung auch der sozialen und

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ökologischen Lebensbedingung ökonomisch Armer. Auch wenn die KfW Entwicklungsbank für ein dreidimensionales Verständnis von Armut und Wachstum plädiert, kann ein solches Wachstum meines Erachtens nie pro-poor sein, solange es primär das Wirtschaftswachstum ankurbeln soll. Den Grundgedanken, Wirtschaftswachstum zugunsten Armer generieren zu wollen, halte ich zwar für nachvollziehbar, doch wie der Stand der Forschung zeigt, gibt es Defizite in der Methodik der Armutsmessung. Selbst Collier, der mit seinem Fokus auf Wachstum zur Reduzierung von Armut innerhalb der EZ kritisiert wird, sieht die Messung anhand des Durchschnittseinkommens als Orientierungswert von Armut als unzureichend an. Der atypische Verlauf der untersten Milliarden wird in diesem Orientierungswert nicht berücksichtigt (Collier 2008, S. 8). So kritisiert auch Silva die mangelnde Segregation in Analysen, wodurch detaillierte Informationen verloren gehen (Silva 2009, S. 3–4). Wirtschaftswachstum sollte unter dem Aspekt generiert werden, dass es tatsächlich die Lebensqualität der Menschen steigert. PPG ist wie qualitatives oder nachhaltiges Wachstum ein Begriff, der in erster Linie die immerwährende Steigerung des Wirtschaftswachstums als zentrales Handlungsziel der EZ rechtfertigen soll. Die Definition von PPG, die anhand von Einkommenswachstum gemessen wird, zeigt deutlich, dass pro-poor der Multidimensionalität von Armut nicht gerecht werden kann, genauso wenig wie das Konzept des sogenannten qualitativen Wachstums. Das Kernproblem liegt meines Erachtens nicht in unzureichenden Orientierungswerten der Armuts- und Wachstumsmessung, sondern im universellen Verständnis von gutem Leben. Auch wenn Klara Hennig im Interview mehrfach die Multidimensionalität von Wohlfahrt betont, wird in den untersuchten Quellen wenig auf ein die soziale und ökologische Dimension gleichrangig berücksichtigendes Verständnis von Wohlfahrt bzw. Guten Lebens eingegangen. Der Begriff der Qualität in der EZ beruht auf einem durch Globalisierung und Wachstum geprägten Grundverständnis von gutem Leben, der nicht in allen Gesellschaften und Kulturen zu übertragen ist (Latouche 2004, S. 3). Armutsreduzierungsmaßnahmen sollten in erster Linie die Grundbedürfnisse des Menschen abdecken, doch das ist mehr die Aufgabe der Soforthilfe, nicht der EZ. EZ halte ich dennoch für notwendig und unter dem Aspekt der aus der post-kolonialen Situation ergebenden Verantwortung nördlicher Länder gegenüber dem Süden für richtig. Das Verständnis von qualitativem Wachstum sollte sich meiner Ansicht nach jedoch noch stärker vom Vorrang von der Komponente des wirtschaftlichen Wachstums lösen, hin zum individuelleren Verständnis von Wohlfahrt, das auch die soziale und ökologische Dimension stärker berücksichtigt. Nachhaltiges und soziales Wachstum sollte einen höheren Stellenwert erhalten. Eine völlige Abkopplung des Globalen Südens von der Weltwirtschaft, so wie dies Serge Latouche gelegentlich nahezulegen scheint, halte ich für ein spannendes politisches Gedankenexperiment, in der Praxis jedoch für utopisch. Das Verständnis von Lebensqualität ist im Globalen Norden zu sehr an stetigem Wachstum, Konsum und Besitz geknüpft, dass eine multidimensionale Reduzierung vorn Armut im Globalen Süden nicht möglich ist.

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III Analyse transformativer Praxis

Indigene Philosophie und Widerstandstechniken als Labor weltgesellschaftlicher Transformation Deborah Düring

Zusammenfassung

Der zivilgesellschaftliche Widerstand der indigenen Gemeinschaft der Teriben gegen das Staudammprojekt El Diquís in Costa Rica bewirkte aufgrund der Vielfältigkeit der Akteur*innen, des mannigfaltigen Widerstandsrepertoires und deren gemeinsamen Denk- und Handelsweisen den Baustopp des Energie- und Entwicklungsprojektes. Auch die Verbesserung der Qualität der Demokratie in Costa Rica, sowie der innerstaatliche Diskursanstoß über Minderheitenrecht in neoliberalen Wirtschaftsstrukturen, zeigen dabei das transformative Potenzial von (zivil-)gesellschaftlichen Widerständen. Die kollektive Denk- und Handelsweise sowie das holistische Naturverständnis aus der indigenen Philosophie beeinflussten die Motivation und Zielsetzung des Widerstandes. Art und Struktur des Widerstandes und die Konstellation der Akteur*innen können als ein wesentliches transformatives Element bewertet werden. Schlüsselwörter

Indigene · Neue Soziale Bewegungen · Lateinamerika · Zivilgesellschaftlicher Widerstand · Transformation · Postkolonial

D. Düring (*)  Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_15

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D. Düring

1 Einleitung „We will not fight by hurting anyone. We will fight by telling the world, that we are an indigenous town, that we have cultural riches, that we have natural riches and the river is a part of our life. […] The day that the river is lost, we are dead. They day that we lose this nature, why to live?“ – Digna Rivera, Mitglied der indigenen Gemeinschaft der Teriben

Die indigene Gemeinschaft der Teriben kämpfte mit einem breiten Widerstandsrepertoire und vielfältigem Akteursnetzwerk gegen die Zerstörung der Natur, ihrer Lebensgrundlage und für den Erhalt ihrer Kultur. Seit Planungsbeginn des Staudammprojektes Proyecto Hidroeléctrico el Diquís (PHED) formierte sich der Widerstand durch die 2000 Mitglieder starke Gemeinschaft der Teriben. Im März 2019 erklärte der Projektträger, das staatliche Energieunternehmen Institutuo Costarricense de Electridad (ICE), nach wiederholten Bau- und Stoppphasen die Einstellung des Großbauprojektes PHED1, das im Rahmen des zentralamerikanischen Entwicklungsplans Plan Puebla Panama (PPP) zur Steigerung der Attraktivität der Region entwickelt wurde. Weltweit werden Konflikte um die Ressourcen Wasser und Land als zwei der größten Sicherheitsrisiken des 21. Jahrhunderts bezeichnet; nicht nur als zwischenstaatliche Konfliktrisiken, sondern auch als ein Risiko für indigene Gruppen und deren Identitäts- und Kulturverlust (Mildner 2011, S. 203 ff.). Dabei formiert sich häufig zivilgesellschaftlicher Widerstand, angeführt durch indigene Gemeinschaften. Die im Rahmen von solchen Konflikten auftretenden unterschiedlichen Interessen an dem Rohstoff Wasser und dem mit der Aufstauung verbundenen Verlust von Teilen des Landes, welches Ernährungsgrundlage und kulturelle Stätte ist, wird aufgrund der zunehmenden Knappheit der Ressource Wasser in den kommenden Jahren präsenter (Mildner 2011, S. 9 ff.). Dabei nehmen indigene Gemeinschaften als Akteure häufig aufgrund ihrer Kultur und Philosophie eine besondere Rolle in solchen Konflikten ein. Die Rolle der indigenen Werte und Rechte, sowie deren Kultur und Geschichte, hat dabei auch im Fall des Widerstands der Teriben gegen den PHED einen großen Einfluss auf die Beweggründe zum Widerstand sowie die Art und Weise der Ausformulierung des Widerstands ausgeübt. Der vorliegende Beitrag ist das Ergebnis einer breiter gefassten Forschungsarbeit über die Rolle von zivilgesellschaftlichem Widerstand in Ressourcenkonflikten am Beispiel des Widerstands der Teriben gegen das Staudammprojekt PHED in Costa Rica. Im vorliegenden Beitrag werden nun die Befunde zu Konstellationen der Akteur*innen, der Motivation und der Strategie der indigenen Gemeinschaft der Teriben genauer beleuchtet. Dabei ist

1In

einer Pressekonferenz am 02.11.2018 erklärt ICE-Vorsitzende Irene Canas das Ende des Projektes. Costa Rica hätte kein Bedarf an zusätzlicher Energie. Im Jahr 2017 wurde das Projekt von Javier Orozco, damaliger Planungsdirektor des ICE, noch als essentiell für den Strombedarf des Landes bezeichnet. Luis Pacheco, ICE Vorstand für Elektrizität, betonte zu Beginn des Jahres 2018 den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsstärkung und Energie, als eines der Hauptargumente für den Bau des Staudammes (vgl. Schiffmann 2019; Noticias Repretel 2018).

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der Anspruch der vorliegenden Arbeit nicht, ein vollständiges Bild zu zeichnen, sondern vielmehr die Besonderheiten des Widerstands der indigenen Gemeinschaft der Teriben zu analysieren und die Frage zu diskutieren, ob 1) der Widerstand der Teriben als transformativer Moment gesehen werden kann, und 2) welche Rolle die indigene Philosophie auf den Widerstand der Gemeinschaft hatte. Transformation wird hierbei als „Prozess der Veränderung, vom aktuellen Zustand hin zu einem angestrebten Ziel-Zustand in der nahen Zukunft [definiert]. Eine Transformation repräsentiert einen fundamentalen und dauerhaften Wendepunkt“ (Deuringer 2000, S. 38). In der Folge wird zunächst der Forschungsgegenstand genauer erläutert und in die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen eingebettet 2). Im Anschluss daran wird die methodologische Fundierung der Arbeit sowie die methodische Vorgehensweise beschrieben 3). Die Herausarbeitung der entscheidenden Faktoren des erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Widerstandes der Teriben, die Rolle der indigenen Philosophie im Widerstand, sowie die sich daraus ergebenden transformativen Momente werden diskutiert 4) und schlussendlich erfolgt eine Zusammenfassung und Reflexion der Ergebnisse 5).

2 Forschungsstand Zum Verständnis des Konfliktes, des Widerstandes und der Rolle der indigenen Philosophie wird zunächst ein Umriss über die relevanten Ereignisse und Themenbereiche gegeben. Dabei ist sowohl die Auswahl der Aspekte als auch die gesamte Forschungsarbeit von meinem subjektiven Blickwinkel geprägt und sollte mit diesem Wissen gelesen werden.2 Costa-ricanische Umweltpolitik und der Staudamm PHED „Der Umweltschutz und der Einsatz für ein besseres Weltklima gehören zur allseits akzeptierten Staatsdoktrin in Costa Rica“3 (Dehmer 2015). Das Land will bis 2021 klimaneutral werden und den CO2-Ausstoß drastisch verringern. Die Gewinnung von 2Ich

entschied mich bewusst diesen Aufsatz in der ersten Person zu schreiben, um den persönlichen Bezug zu dem Forschungsfeld offen zu legen, und somit dem Lesenden die Möglichkeit zu geben, dies in die Interpretation mit einzubeziehen. Die Offenlegung der eigenen Rolle in der Forschung, sowie der Vorannahmen werden in Kap. 3 genauer erläutert. Ich lebte von August 2013 bis August 2014 in Tèrraba, wobei ich immer wieder Gespräche mit Bewohner*innen über den Staudamm und den Widerstand geführt habe, und auch Teil von Aktivitäten im Rahmen des erweiterten Widerstands, der Anerkennung der Autonomie der Teriben, war. Die unterschiedlichen Erfahrungen dokumentierte ich teilweise in einem persönlichen Tagebuch, unwissend über das spätere Forschungsinteresse. Meine Rolle und mein Wissen, welches ich durch den Aufenthalt erlangt habe, versuche ich in der Forschung und der Darlegung der Ergebnisse explizit zu machen. 3Die Rolle des Images Costa Ricas spielt immer wieder, sowohl in der Argumentation für den Ausbau, als auch als Argument beim Projektabbruch von Seiten des Projektträger ICE eine Rolle. So äußert sich Donald Rojas, Angehöriger der indigenen Gemeinschaft Boruca und Repräsentant

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Energie aus erneuerbaren Quellen bis 2021 ist dabei Teil des nationales Entwicklungsplans 2015–2030 (PND) und des nationalen Energieplans 2012–2024 (ICE) (Fernández Mena 2014, S. 104–106; ICE o. J.). Auch internationale und transnationale Abkommen, wie der zentralamerikanische Entwicklungsplan Plan Puebla Panama (PPP), nehmen eine wichtige Rolle in der costa-ricanischen Politik ein. Der Bau des PHED soll dabei im Rahmen des Plans zur Entwicklung Zentralamerikas, des PPP, den Standort Costa Rica für internationale Unternehmen und Investor*innen attraktiver machen, und somit zur Entwicklung der Regionen von Mexiko bis Panama beitragen4 (Lindner 2016, S. 3 ff.). Die costa-ricanische Regierung setzte den Bau des Staudammes als nationales Ziel fest. Der Bau von Staudämmen wird immer wieder zu einem Symbol von ­Nation-Building und Entwicklung, insbesondere in Ländern des Globalen Südens (Nüsser 2003). Aufgrund der vielen verschiedenen Akteur*innen und Institutionen bei einem solchen Großbauprojekt müssen „[e]nvironmental problems and dimensions on environmental conflicts […] be understood in isolation from political and economic context in which they emerge“ (Nüsser 2003). Das Großbauprojekt PHED wurde im Jahr 2007 vom staatlichen Elektrizitätsinstitut ICE beschlossen. Im folgenden Jahr begann man mit der Planung und dem Bau. Für den Staudamm soll der Rio Grande de Tèrraba mit einer 172 m hohen Staumauer aufgestaut werden. Dadurch entstünde ein 6800 Hektar großer Stausee, wobei zehn Prozent (685

der Mesa Nacional Indigena de Costa Rica, zu den Gründen des Projektabbruchs: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht“ (Schiffmann 2019). In der Analyse von Peter Stiegelmeier (2009) wurde der Bau des Staudammes von den Projektträgern immer mit dem nationalen Ziel das ökologische Bild Costa Ricas durch die Steigerung der Elektrizität aus erneuerbaren Energien benannt. 4Der Begriff der „Entwicklung“ wird aus einer postkolonialen Perspektive kritisch betrachtet. Historisch betrachtet wurde in der Entwicklungstheorie mit dem Begriff ein Wandel bezeichnet, welcher die Verbesserung des Lebensstandards bedeutete. Zu Beginn wurde die „Entwicklung“ am Bruttoinlandsprodukt, später auch an anderen Indikatoren, wie Schulbildung und Lebenserwartung, gemessen. Es handelt sich um ein abstraktes Bündel von miteinander verwobenen und normativ aufgeladenen Prozessen. Dabei wird dieser Prozess, welcher in Europa, europäischen Kolonien und in Nordamerika, später auch in Ländern Asiens, stattgefunden hat als historische Norm erklärt. Der Begriff, so Aram Ziai (2016, S. 400 ff.), führt zudem zu einer simplen, entpolitisierenden Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster für gesellschaftliche Phänomene. Die postkoloniale Theorie kritisiert, dass das Interpretationsraster der „Entwicklungsprobleme“ die heterogenen Phänomene, die oftmals mit Machtverhältnissen, Privilegien und Exklusion zu tun haben, verschleiert. Es entsteht eine Entpolitisierung sozialer Ungleichheit als „Entwicklungsproblem“ (Ziai 2016, S. 400 ff.). Neben dem Evolutionismus in der Entwicklungstheorie wird auch das Prinzip der Treuhandschaft in Bezug auf das Verständnis von Expert*innenwissen über positive gesellschaftliche Wandlungsprozesse in den postkolonialen Theorien kritisiert (Cowen und Shenton 1996; Nandy 1994). Eine ausführlichere Diskussion des Entwicklungsbegriffes, sowie die postkoloniale Kritik daran sind in Cowen und Shenton (1996; Kößler 1998; Ziai 2004) zu finden.

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Hektar) des indigenen Territoriums Tèrraba, 75 Hektar des indigenen Territoriums China Kichá und insgesamt 108 kulturell wichtige Stätten von der Überflutung betroffen wären (ICE 2008; Guevara Viquez 2009, S. 7 ff.; Stiegmaier 2009, S. 20 ff.). Die negativen Auswirkungen des PHED auf die Natur sowie die dort lebende Bevölkerung und die rechtlich vorgeschriebene, jedoch unterlassene Konsultation der indigenen Gemeinschaft sind Gegenstand des im folgenden behandelten Ressourcenkonfliktes. Die Teriben beklagen die Nicht-Einhaltung ihrer Rechte, die Zerstörung der Natur, ihrer Kultur und somit ihrer Existenzgrundlage durch das staatliche Energieunternehmen ICE und den Staat selbst (Eisenbach 2011). Das mit 1850 Mio. USD Baukosten geplante Projekt hat, genauso wie sein Vorläuferprojekt Boruca5, verschiedene direkte und indirekte Auswirkungen auf die Bevölkerung des Kantons Buenos Aires und die indigene Gemeinde Tèrraba6. Dabei sind der mögliche Verlust der kulturellen Identität durch die Zuwanderung der Projektbeteiligten und der Verlust von heiligen Stätten als negative Auswirkungen von besonderer Relevanz. Der Fluss Dì Ques, in der Sprache der Teriben „der große Fluss“, gilt als heilige Stätte im Glauben der Teriben. Er symbolisiert die Verbindung zwischen den Menschen und der Natur und ist Ort des heiligen Wassergottes (Frente de Defensa de los Derechos Indigenas de Tèrraba 2008). Durch das Aufstauen des Rio Grande de Tèrraba würden mehrere heilige und kulturelle Stätten der indigenen Gemeinschaft zerstört, wie beispielsweise die Zone der Camancrahua, in welcher laut Legenden7 das Dorf Tèrraba gegründet wurde (Stolle o. J., S. 8 ff.). In Zusammenhang mit dem Verlust der Kultur steht auch der Verlust des Landes. Denn „durch das Bekanntmachen des Bauprojektes [bereits seit dem Vorhaben Boruca] wurden Erwartungen [geschürt]. Investor*innen interessierten sich für das Land und spekulierten über den Kaufpreis“ (Beita et al. 2000, S. 26). Entgegen der von Costa Rica ratifizierten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Konvention 169 wurden so Grundstücke in indigenen Gebieten verkauft. Das führte neben den historischen Faktoren dazu, dass 90 % des offiziellen Territoriums der Indigenen illegal in „Besitz“ Nicht-Indigener gelangte. Für die von Subsistenzwirtschaft lebende Gemeinschaft bedeutet dies den Verlust der Existenz, sowie aufgrund ihrer Lebens- und Denkweise einen großen Einschnitt in deren Kultur und gefährdet die indigene Identität.

5Die

Staudammprojekte Boruca-Cajón und Gran Boruca, welche in den 70er Jahren geplant wurden, und nach jahrzehntelangem Widerstand aufgrund der Verletzung indigener Rechte eingestellt wurden, sollten 12.500 Hektar Land in der gleichen Zone überfluten. Das Projekt sollte mit 832 Megawatt zu großen Teilen das Unternehmen ALCOA, welches Bauxitvorkommen in der Region abbauen wollte, mit Energie versorgen (Oviedo 2008; Lindner 2016, S. 3 ff.). 6Die Komplexitätsreduzierung auf die zum Verständnis der Arbeit relevantesten Aspekte ist hier notwendig. Eine ausführliche Aufgliederung der positiven und negativen Auswirkungen finden sich unter anderem in der Arbeit von Stiegmeier (2009, S. 13 ff.). 7Viele der Orte, Sagen und das Wissen in Bezug auf die Naturreligion wurden nur durch mündliche Überlieferungen bewahrt und werden von Generation zu Generation weitergegeben.

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Die im Beitrag eingenommene Perspektive auf der Mikro-Ebene – in Bezug auf die Ressource Wasser und Land – gewinnt dabei im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend an Bedeutung. „Die Kommerzialisierung von Wasser [stellt] einen Frontalangriff auf das Konzept der Gemeinschaftsgüter dar“ (Barlow 2003, S. 118), wobei Wasser in vielen Teilen der Erde „als Bestandteil der jeweiligen materiellen Kultur einer Gesellschaft verstanden und behandelt“ (Schaeffer 2003, S. 25) wird. Für indigene Gemeinschaften ist dies, aufgrund der Nichtanerkennung des Eigentumsrechts und der fehlenden Partizipationsmöglichkeiten, gekoppelt mit der wichtigen Bedeutung von Wasser, ein verschärfender Faktor für Konflikte. Dabei hat innerhalb eines Konfliktes der marginalisierte und dadurch eingeschränkte Akteursstatus weitreichende Folgen – beispielsweise durch die häufigere Enteignung des Landes. Die Gründung von G ­ rassroot-Bewegungen auf der Mikro-Ebene kann dabei die politische Beteiligung der Indigenen durch das Schaffen eines institutionellen Rahmens fördern (Neumann und Schöpper 2011, S. 203 ff.; BMZ o. J.). Die Anwendung von bereits existierenden institutionellen Rahmenbedingungen, wie Gesetze und Konventionen sind ein weiterer Aspekt bei zivilgesellschaftlichen Widerständen, auf welche auch die indigene Gemeinschaft der Teriben in ihrem Widerstand zurückgriff. Rechtliche Grundlage für die Ansprüche der Teriben Die Teriben sind seit dem Jahr 1956 offiziell als indigene Gemeinschaft vom Staat Costa Rica anerkannt (Diaz Azofeifa 2009, S. 129). Die im Jahr 1989 verabschiedete Konvention 169 der ILO bezeichnet Gemeinschaften als indigen, wenn es sich um „in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ handelt, welche „infolge ihrer sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse von anderen Teilen der nationalen Gemeinschaft [unterschieden werden] und deren Stellung ganz oder teilweise durch die ihnen eigenen Bräuche oder Überlieferungen oder durch Sonderrechte geregelt“ (ILO 1989, Artikel 1) sind. Zudem müssen sie „von Bevölkerungsgruppen abstammen, die […] in einem geographischen Gebiet […] zur Zeit […] der Festlegung der gegenwärtigen Staatsgrenzen ansässig waren und die […] einige oder alle ihrer traditionellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einrichtungen beibehalten [haben]“8 (ILO 1989, Artikel 1). Die ILO-Konvention 169 verpflichtet den Staat zudem, die selbstbestimmte Entwicklung der indigenen Gemeinschaften und deren Kultur anzuerkennen und zu fördern. Die Unversehrtheit von Werten, Gepflogenheiten und Einrichtungen, wie beispielsweise spirituellen Stätten, ist vom Staat zu garantieren (ILO 1989, Artikel 5). Auch das Recht indigener Gemeinschaften auf die natürlichen Ressourcen ihres Landes werden in der Konvention festgeschrieben. Dazu gehört ebenso die Sicherstellung der Konsultation der betroffenen Gemeinschaft beim Abbau von unterirdischen Ressourcen, welche laut der ­costa-ricanischen Verfassung 1983 im

8Diese

Begriffsdefinition wird in der Arbeit als Arbeitsdefinition aufgrund der eigenen Bezugnahme der Gemeinschaftsmitglieder darauf bewusst gewählt. Debatten um die Definition sind dabei vielfältig.

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Besitz des Staates sind (ILO 1989, Artikel 15). Die internationalen Richtlinien wie z. B. die ILO 169, welche 1992 von Costa-Rica ratifiziert wurde, genauso wie die Deklaration für die Rechte indigener Völker aus dem Jahr 2007, werden in der costa-ricanischen Verfassung mit nationalen Gesetzen gleichgesetzt (Asamblea legislativa 1982, Articel 7). Neben den nationalen Gesetzen, wie dem Gesetz Indigena N 6172, welches die Regierung im Jahr 1977 erließ, in welchem sich der Staat zur Wahrung der indigenen Identität, Kultur und Rechte verpflichtet, sind in Bezug auf den vorliegenden Widerstand insbesondere internationale Konventionen und Urteile von Bedeutung. Die Zustimmung für Großbauprojekte, welche die Rechte und die Kultur der Bewohner*innen einschränken können, muss beispielsweise dabei vom Staat durch die Kenntnissetzung und Einwilligung freiwillig erworben werden (UN 2007, Artikel 32). „Die Staaten verständigen sich und kooperieren nach Treu und Glauben mit den betroffenen indigenen Völkern über deren eigene repräsentative Institutionen, um ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung zu erhalten, bevor sie Gesetzgebungsund Verwaltungsmaßnahmen beschließen und durchführen, die sich auf diese Völker auswirkt“ (UN 2007, Artikel 19). Dabei sind als selbstgewählte eigene Institutionen nicht automatisch die vom Staat eingesetzte Asociaciones de Desarrollo (ADIT)9 gemeint, sondern, wie im Fall der Teriben, der Ältestenrat. Auch verpflichtet sich Costa Rica dazu, Orte, welche eine besondere spirituelle Bedeutung für die Indigenen haben, wie beispielsweise Gewässer, zu bewahren und zu stärken (UN 2007, Artikel 25, Asamblea legislativa de la Republica de Costa Rica 1977; Asamblea legislativa 1982, Artikel 6). Diese gesetzlich verankerte vorherige Konsultierung fand in Bezug auf das PHED nicht statt. Erst im Verlauf wurde die Zustimmung der ADIT eingeholt, dessen Entscheidung aufgrund der fehlenden Legitimation durch die Indigenen jedoch nicht rechtskräftig ist. Auch wenn laut nationalem Gesetz der Staat als Eigentümer der mineralischen und

9Die

Asociaciones de Desarrollo (Entwicklungsvereinigungen) der indigenen Gebiete erlangten mit dem Gesetz Nr. 3859 (1967) Rechtsstatus. In Umsetzung der Bestimmungen heißt es in Artikel 3 der 1978 verkündeten Verordnungen zum Indigenengesetz (Dekret Nr. 8487-G): Um die in Artikel 2 des Indigenengesetzes genannten Rechte und Pflichten wahrzunehmen und zu erfüllen, nehmen die indigenen Gemeinschaften die im Gesetz Nr. 3859 der Nationalen Direktion der Gemeindeentwicklungsvereinigungen und deren Vorschriften vorgesehene Organisation an. Die Asociaciones de Desarollo werden als lokale Regierungen und offizielle Vertretung der indigenen Gemeinschaft von staatlicher Seite anerkannt. Folglich müsse alle Aktionen und Projekte darüber abgewickelt werden. Die ADIT sind 1) Gemeinschaftliche Fördervereine. 2) Die auf sie angewandte Rechtsordnung ist die des Privatrechts und daher unterliegen sie dem Grundsatz der Freiheit und seiner wesentlichen Bestandteile, den Grundsätzen der Willensautonomie und der Gleichheit der Vertragsparteien. 3) Das öffentliche Interesse ist als dasjenige zu verstehen, das die Allgemeinheit berührt oder im Interesse der Allgemeinheit liegt. 4) Vereinigungen zur Entwicklung der indigenen Gemeinschaften sind lokale Regierungen und offizielle Vertreter der indigenen Gemeinschaften (DINADECO o. J.). Die Gemeinschaft der Teriben kritisiert die Repräsentationsstruktur, unter anderem aufgrund fehlender Legitimation der gewählten Vertreter*innen und korrupten Strukturen.

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unterirdischen Ressourcen in indigenen Gebieten gilt (Asamblea legislativa 1982, Artikel 6), so entbindet dies die costa-ricanische Regierung und privatwirtschaftliche Unternehmen jedoch nicht von ihrer Verantwortung der Konsultation der Gemeinschaften, da Großbauprojekte auch überirdischen Schaden anrichten. Die Pflicht des Staates bei Großbauprojekten die Gemeinschaften vorab zu konsultieren und deren Zustimmung frei und gemäß der eigenen Tradition und Sachlage einzuholen, wurde im Zuge des Urteils im Präzedenzfall der Saramaka gegen Suriname10, vom Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte bekräftigt (Inter-American Court of Human Rights 2007, S. 43; GIZ 2013, S. 17 ff.). Diese rechtliche Grundlage, sowie das Wissen und die Angst bezüglich der Folgen des PHED für die Gemeinschaft, führten unter anderem zur Formierung eines Widerstandes von Teilen der indigenen Gemeinschaft der Teriben seit Planungsbeginn. Theorie(n) der Neuen Sozialen Bewegungen Die Philosophie, Kultur und Identität der indigenen Gemeinschaft ist Teil einer kollektiven Identität, welche als Mobilisierungs- und Zugehörigkeitsmerkmal in dem Widerstand der Teriben heraussticht. Autonomie und Selbstbestimmung sind im Theorieansatz der Neuen Sozialen Bewegungen zentrale Ziele. Postmaterielle Werte wie Umweltschutz, Freiheit, Bildung oder Kultur sind starke Mobilisierungsfaktoren. Soziale Konflikte werden in den meisten Theorievorschlägen als Gegenstand kollektiver Interpretationsprozesse betrachtet. Dezentralisierte, basisdemokratische Entscheidungsprozesse und ein hoher Grad an Selbstreflexion sowie strategischer Flexibilität sind weitere Charakteristika dieses Ansatzes (Herkenrath 2011, S. 51; Buechler 1995, S. 442). Alle Theorien betten die Bewegungen dabei in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen ein, wobei sie sich in Bezug auf die unterstellte Wirkung unterscheiden, beispielsweise durch die Zuschreibung einer reaktiven Rolle bei Habermas oder einer aktiv steuernden Funktion bei Touraine (Buechler 1995, S. 442 ff.; Habermas 1992, S. 15 ff., 1998, S. 2 ff.). Die Neuen Sozialen Bewegungen in den diversen lateinamerikanischen Staaten zeichnen sich laut HansJürgen Burchhardt (2012) im Vergleich zu ihren westlichen Pendants durch einen höheren Mobilisierungsgrad, die hohe soziale Ungleichheit, die geringe Existenz von Massenintegrationsparteien und die Mehrdimensionalität der Partizipationsmöglichkeiten aus. Dies muss in Bezug auf die Verallgemeinerbarkeit von Forschungsergebnissen im Allgemeinen und in Bezug auf die Analyse der spezifischen Faktoren im Einzelfall mitbeachtet werden (Buchhardt 2012, S. 9–21, 163–171; Ismar und Mittag 2010, S. o. J.). Die Orientierung an ethischen Forderungen dominiert dabei laut Anne Tittor (2012, S. 31 ff.)

10Am

28. November 2007 entschied der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Mitglieder des saramakischen Volkes das Recht haben, die natürlichen Ressourcen, die auf und in ihrem traditionell besessenen Territorium liegen und die für ihr Überleben notwendig sind, zu nutzen und zu genießen. Der Staat gehört nicht zu den Unterzeichner*innen der internationalen Konventionen. Surinam erteilte Konzessionen für den Holzeinschlag und den Bergbau auf dem Gebiet des saramakischen Volkes, ohne dieses vorab umfassend und wirksam konsultiert zu haben (ESCR-Net 2014; Orellana 2013, S. 2 ff.; Price 2012).

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die Bewegungen in den letzten Jahren. Seit dem 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung Amerikas 1992 findet die Anerkennung der Rechte der marginalisierten Bevölkerungsschichten mehr Unterstützung. Die Präsenzen indigener Vertreter*innen in unterschiedlichen Institutionen, der starke Einfluss und der internationale Druck zwingen die Regierungen Lateinamerikas zum Handeln. Die Verschlechterung der sozialen Verhältnisse durch neoliberale Wirtschaftsreformen führt(e) dabei zu Protestbewegungen, welche dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ablehnen. Zivilgesellschaften, insbesondere marginalisierte Bevölkerungsschichten, betrachtet Tittor als Motor für Veränderungen in Lateinamerika. Die Forderung nach mehr Partizipation und das Stärken demokratischer Prozesse geschieht dabei häufig, typisch für Lateinamerika, zeitnah zueinander in verschiedenen Ländern. Die Regierungen antworten mit Einbindungsangeboten auf diese Bewegungen (Tittor 2012, S. 31 ff.; Duden 2016). Die Entwicklung eines allgemeingültigen Konsultationsprozesses für alle Bauprojekte in Costa Rica ist dabei eines der Ergebnisse des Widerstandes der Teriben und kann als ein solches Einbindungsangebot der Regierung bewertet werden. Der Suchprozess nach neuen Formen politischer und sozialer Partizipation11 ist dabei grundlegend und geteiltes Moment in den Neuen Sozialen Bewegungen in Lateinamerika (Schorr 2012, S. 283 ff.). Aufgrund der kollektiven Identität und der rechtlichen Sonderstellung können insbesondere Widerstände von Indigenen solche Partizipationsformen fördern. Um den Leser*innen zu ermöglichen, die Forschung und die Ergebnisse besser einordnen zu können, werden zunächst die ontologischen und erkenntnistheoretischen Perspektiven der Forscherin kurz erläutert, bevor der Widerstand der Teriben unter diesen Aspekten beleuchtet wird.

3 Methodologische Fundierung Jede Forschung und die Präsentation der Ergebnisse sind von den Vorstellungen, der Art des Denkens und der Sozialisation der Forschenden geprägt. Das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsvorhaben kann nicht dem Anspruch vollkommener Objektivität gerecht werden, denn jeder einzelne Analyseschritt ist von meiner Sozialisation und den Erfahrungen, während des einjährigen Aufenthalts in der Gemeinschaft der Teriben geprägt. In Bezug auf den Forschungsgegenstand stellt sich – insbesondere aus postkolonialer Perspektive12 – die kritische Frage nach der im Zuge der

11Der

Begriff der Partizipation wird hierbei weit gefasst und umfasst die Teilhabe, Teilnahme und Mitwirkung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Die Konsultation ist nur ein Teilaspekt der Partizipation. 12„Postkolonial ist als eine politisch motivierte Analysekategorie zu verstehen, die einerseits die nachhaltige Prägung der globalen Situation durch Kolonialismus, Dekolonialisierung und neokolonialistische Tendenzen aufzeigt – und damit nicht nur die aktuelle Wirkmächtigkeit eines unabgeschlossenen Kolonialdiskurses konstatiert, sondern auch ein chronologisches Geschichtsverständnis kritisiert“ (Reuter und Villa 2015, S. 17). Dabei gilt es die Verschränkung von Wissen

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Wissensproduktion ausgeübten Gewalt. Die geräuschlose und unsichtbare Gewalt der Wissensproduktion ist dabei Teil der „anhaltenden Kongenialität von Macht und Wissen“ (Brunner 2015, S. 7). Die Verwendung von postkolonialen Theorieansätzen in den empirischen Forschungen der Friedens- und Konfliktforschung finden im Vergleich zu anderen Forschungsbereichen noch geringe Anwendung. Postkoloniale Theorie kann ein begrifflich- konzeptionelles Instrumentarium bereitstellen und eine Auseinandersetzung zur erkenntnistheoretischen Reflexion über Forschungsfragen- und ziele ermöglichen. Die Reflexion der Verwendungsmöglichkeiten in Diskursen und Politiken, welche häufig außerhalb des Einflussbereichs stattfinden13, genauso wie die methodische Frage des Einflusses von kulturellen Kontexten auf die Forschungssituation und Machtasymmetrien zwischen Forscher*in und Forschungssubjekt, müssen in der Friedens- und Konfliktforschung eine wichtige Rolle spielen (Engel 2014, S. 135 ff.). Bewegungen gegen die Kolonialisierung wurden als „ethnische Kriege oder Stammeskriege markiert […], um auf diese Weise antikoloniale Widerstände diskursiv unsichtbar zu machen“ (Engel 2014, S. 137), so ­Jean-Loup Amselle (zit. N., 1999, S. 40). Die Anwendung postkolonialer Theorien prägten das methodische und analytische Vorgehen der Arbeit. Um die Entstehung eines Machtgefälles durch das Forschen „über“ eine marginalisierte Bevölkerungsgruppe zu minimieren, versuchte ich durch die Auswahl der Methode, den intensiven Austausch mit Gemeinschaftsmitgliedern, sowie durch das Lernen der indigenen Denk- und Handlungsweise entgegenzuwirken, wobei eine vollkommene Auflösung nicht möglich ist (Gandhi 1998; Mahadevan 2011, S. 61). Neben der Reflexion sowie dem intensiven Austausch über diese Problematik mit einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft der Teriben, trägt auch das Verständnis der indigenen Denk- und Handlungsweise zum Verständnis der vorliegenden Arbeit und des Widerstandes an sich bei. Die indigenen Gemeinschaften organisieren sich seit Beginn der Kolonialisierung immer wieder (aber darüber hinaus im Alltäglichen) in Protestbewegungen. Die Analyse von Protesten und indigenen Widerständen aus westlichen Perspektiven gerät insbesondere seit dem Aufkommen der Postkolonialen Studien immer mehr in die Kritik (Spivak 1994, S. 69 ff.; Ziai 2005). Ein Fokus in Bezug auf die vorliegende Forschung liegt deshalb darin, den Gegenstand, so gut wie dies aufgrund der eigenen Subjektposition möglich ist, aus einer Perspektive der Subalternität

und Macht offenzulegen, und das Bild des ‚zivilisierten‘ Westens zu dekonstruieren. Weitere Hinweise sind unter anderem zu finden in Kapoor (2008), Castro et al. (2010), Franzki und Aikins (2010), Randeria und Eckert (2009) und Wood (2006). 13Aufgrund der geringen Beeinflussbarkeit der Verwendung der Forschungsergebnisse in der politischen Praxis, insbesondere für staatliche Akteur*innen, entschied ich mich in Rücksprache mit den Mitgliedern der Gemeinschaft weder die Transkriptionen der Interviews, die Feldtagebücher noch alle Ergebnisse zu veröffentlichen, sondern nur der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Die Gemeinschaft der Teriben befindet sich immer wieder in Austausch mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und beschließt somit im Konsens über die Weitergabe der Ergebnisse.

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und Postkolonialität zu betrachten und kritisch zu reflektieren. Der Begriff der Subalternen geht auf den italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci zurück und wurde von Gayatri Chakravorty Spivak weiterentwickelt. Als Subalterne werden diejenigen bezeichnet, welche außerhalb des hegemonialen Diskurses existieren und deshalb keinen Einfluss auf diesen haben. Der Versuch der Subalternen über Umwege eine institutionelle Handlungsfähigkeit zu erlangen, scheitert immer wieder daran, dass diese aufgrund ihres subalternen Charakters in die Subalternität zurückgedrängt werden. Das Ungleichgewicht besteht darin, dass die Subalternen, in hier behandelten Fall die marginalisierte Bevölkerungsschicht der Indigenen, von der Gesamtgesellschaft beeinflusst werden, sie selbst jedoch außerhalb des Diskurses existieren. Im Kontext der kolonialen Re-Produktion können Subalterne nicht sprechen und auch nicht gehört werden (Spivak 1994, S. 69). Die Fähigkeit des Sprechen-Lassens und Zuhörens als Lösung dieser Problematik sahen bereits Michel Foucault und Gilles Deleuze als Ziel ihrer politischen Arbeit an, wobei Spivak die fehlende Umsetzung dieser Idee kritisierte (Ziai 2005). Alle postkolonialen Theoretiker*innen kritisieren den Prozess der Wissensproduktion über das Andere (Williams und Chrisman 1994, S. 8). Das Wissen über die kulturellen Differenzen, sowie der Verzicht auf das Vorschreiben von an marginalisierte Bevölkerungsschichten adressierten Handlungsentwürfen, ist dabei von Bedeutung. Die semiotische und politische Repräsentation des Globalen Südens in Forschungsarbeiten muss, laut Theoretikern wie Aram Ziai, immer vor dem Hintergrund der machtverstrickten Wissensproduktion betrachtet werden (Ziai 2005; Engel 2001; Escobar 2001, S. 139 ff.). Auch muss die Forschung immer mit dem Wissen betrachtet werden, dass die „lifeworld of the subaltern has to be translated into the language of science […] dominanted by Western concepts and Western languages“ (Briggs und Sharp 2006). Die Analyse selbst und deren Formulierung ist dabei bereits ein gewaltvoller Eingriff. Dies so gut wie möglich reflektierend, zielt die vorliegende Arbeit auf die Verknüpfung der Erforschung von Subalternität und Indigenität, zu der Jodi A. Byrd and Michael Rothberg bereits 2011 in ihrem Aufsatz Between Subalternity and Indigenity aufgefordert haben. Der Fokus der Forschung auf den Widerstand soll auch zum Erkenntnisgewinn beitragen, inwieweit die subalternen Gruppen sich Gehör verschaffen können und wie das Zurückfallen in die Subalternität verhindert werden kann14.

14Der

Fokus kann dabei die Subalternen darüber stärken, dass er emanzipatorische Momente der Autonomie und Selbstbestimmung bespricht und darüber auch die hegemoniale Wissensproduktion durchkreuzt. Der Nutzen und die Rückkopplung der Ergebnisse an die „Betroffenen“ ist dabei elementar bei einer Auseinandersetzung mit kritischer Wissensproduktion.

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3.1 Indigene Philosophie Die Erklärung der ontologischen und epistemologischen Dimensionen der indigenen Gemeinschaft der Teriben ist für das Verständnis der Forschung, sowie aus Respekt gegenüber der indigenen Gemeinschaft, von großer Bedeutung und kann als forschungsethische Selbstverpflichtung begriffen werden15. Indigene Philosophie basiert auf den gelebten Erfahrungen der Menschen (Estermann 1999, S. 11–87). Die mündlich überlieferten Erfahrungen der Mitglieder der Gemeinschaft dienen dabei als Quelle und sind ein elementarer Bestandteil der Kultur (Stolle o. J., S. 5 ff.)16. In indigenen Logiken ist meist die Annahme zentral, dass ein Mensch erst durch Beziehungen mit anderen seine Position in der Gesellschaft findet. Die Idee der Relationalität, welche „besagt, dass alles mit allem in Verbindung steht und es keine völlig losgelöste (absolute) Wesenheit gibt“ (Estermann 1999, S. 97) wird durch die Idee des „Seins in Beziehungsgeflechten“ (Torrez 2001, S. 64) ergänzt. Die Betrachtungsweise der Welt als holistisches Ganzes erklärt, weshalb alles aus der Perspektive der Gemeinschaft gedacht wird. Neben der Wirklichkeit wird in der indigenen Philosophie der Erkenntnis eine andere Rolle zugesprochen als im westlichen Verständnis, in welchem Erlebtes mit Vernunft strukturiert wird und Erfahrungen durch den Verstand zur Erkenntnis führen (Estermann 1999, S. 98–100). In Denkweisen von Indigenen erfolgt die Erkenntnis über die Teilhabe am Alltag der Menschen und die Eingliederung dessen in die kosmische Ordnung. In Bezug auf die Strukturierung von indigenen Gemeinschaften und Widerstandsakteur*innen ist auch der Begriff des Wissens von Relevanz. Wissen wird als kollektiver, generationenüberschreitender Prozess begriffen, in dem Wissen aus den Erfahrungen des Kollektivs entspringt. Legitimiert wird Wissen dabei durch das Alter, die Tradition und die Gewohnheit. Ziel ist es dabei, die natürlichen Lebenskreisläufe zu erkennen und zu reproduzieren (Estermann 1999, S. 119 f.; Estermann o. J.; Stolle

15Es

existiert keine einheitliche indigene Philosophie. Die hier vorliegende Erklärung ist der Versuch einen allgemeinen Überblick über die Denk- und Handelsweise der Teriben zu formulieren, wobei dies kein Anspruch der Vollständigkeit erfüllt. Die Interpretationsleistung der Sprache, welche sowohl von Bröran auf Spanisch, als auch von Spanisch auf Deutsch, von den unterschiedlichen Akteur*innen geleistet wurde, muss hier kritisch betrachtet werden. In diesem Kapitel wird eine Verknüpfung der Philosophie der Teriben als auch aus anderen wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der Indigenen Philosophie probiert. Detaillierter Aspekte der Philosophie und deren Einfluss auf den Widerstand werden im Kap. 4 genannt. 16Der Autor Arno Stolle verschriftlichte im Rahmen eines einjährigen Aufenthaltes in der Gemeinschaft der Teriben die Legenden und Sagen. In vielen Gesprächen mit den Bewohner*innen sammelte er diese Geschichten und stellte die Sammlung der Gemeinschaft zur Verfügung. Das Dokument befindet sich in Händen der Gemeinschaft und ist nicht veröffentlicht. Dieses Dokument, sowie die Gespräche und Interviews, sind Basis der hier formulierten Philosophie der Teriben.

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o. J., S. 1 ff.). Die ontologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen der Forscherin und des Forschungssubjektes beeinflussten die Auswahl der Methodik. In der Forschung wurde sowohl in der Datenerhebung als auch der Datenauswertung ein Methodenmix angewandt, um den spezifischen Untersuchungsgegenstand und die vielen verschiedenen Facetten zu analysieren. Die Methodenauswahl ist dabei von dem Ziel geprägt, dass „the (indigenous) voices are there if the methods of the researchers are appropriately tuned in to them“ (Briggs und Sharp 2006). Die Indigene Philosophie begreife ich als meine epistemologische Prämisse in der Forschung.

3.2 Die Datenerhebung und -analyse Um im gesamten Forschungsprozess die Offenheit gegenüber dem Gegenstand zur garantieren und aufgrund der Zielsetzung einer mikrosoziologischen Analyse des Widerstands der Teriben entschied ich mich für ein theoriegenerierendes Vorgehen. Die induktive Vorgehensweise soll dabei der Zielsetzung der Offenheit gegenüber dem Forschungssubjekt gerecht werden. Um die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der beforschten Gemeinschaft erfassen zu können und dem Ziel, einen sozialen Prozess zu rekonstruieren, zu entsprechen, entschied ich mich zur Datengenerierung Interviews mit Expert*innen zu führen, da dadurch eine möglichst dichte Behandlung des Themas mithilfe weniger Fälle möglich ist (Gläser und Laudel 2010, S. 34). In der vorliegenden Forschung sind Expert*innen Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Die subjektive Einstellung und Erfahrung der Interviewpartner*innen ist dabei Teil des spezifischen Expert*innenwissen. Die Interviewpartner*innen wurden nach dem theoretical sampling Verfahren von Anselm Strauss und Barney Glaser ausgewählt, welches in der Grounded Theory angewendet wird. Der Verzicht auf ein vorab bestimmtes Daten-Sample und die Spezifizierung der Auswahlkriterien für Interviewpartner*innen garantiert die Offenheit gegenüber den unterschiedlichen Akteur*innen und Widerstandsformen (Glaser und Strauss 1998, S. 51 ff.; Strübing o. J.; Strauss und Corbin 1996, S. 148 ff.). Die Auswahl der Interviewpartner*innen orientierte sich dabei an meinen aus dem einjährigen Aufenthalt resultierenden Kenntnissen über die Familien- und Organisationsstruktur der Gemeinschaft und zielt auf das Sichtbarmachen vielfältiger Perspektiven. Insgesamt wurden Expert*innen aus den einzelnen Organisationen und Gruppierungen sowie den verschiedenen Familienbünden interviewt. Zur Ergänzung wurden während des gesamten Forschungsverlaufs Hintergrundgespräche geführt, welche nicht nur die Auswahl der Interviewpartner*innen erleichterte, sondern auch das Verstehen und Einordnen der aktuellen und vergangenen Prozesse innerhalb der Gemeinschaft. Der Datenkorpus wurde durch eine weitere Auswahl von Text- und Videodokumenten ergänzt. Das Forschen in und mit einer fremden Sprache ist dabei von besonderen Herausforderungen geprägt, wobei die Bedeutung von Wörtern unauflöslich mit dem s­ innhaften Aufbau der

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jeweiligen Sozialwelt verbunden ist17 (Schütz 2004, S. 155 ff.). Um den Forschungsgegenstand in seiner Komplexität zu erfassen, wurden die durch Expert*inneninterviews und andere Dokumente generierten Informationen auf zwei unterschiedliche Arten ausgewertet. Zur Generierung von Informationen über den Widerstand, sowie zur Erfassung des Bedeutungssystems hinter den Äußerungen, entschied ich mich die qualitative Inhaltsanalyse mit einigen Elementen aus der Grounded Theory zu erweitern (Bogner et al. 2014, S. 24 ff.). Die Forschungsfrage wurde mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Phillip Mayring (2015, S. 11 ff.) und ergänzend durch die qualitative Inhaltanalyse mittels Extraktion nach Jochen Gläser und Grit Laudel (2010, S. 34 f.) sowie der Verwendung von Schlüsselkategorien nach Glaser und Strauss (1998) beantwortet. Zur Erfassung des Akteur*innen-Netzwerkes und deren Konstellation wurde zusätzlich eine Netzwerkanalyse durchgeführt (Hollstein und Straus 2006, S. 37 ff.; Crossley 2010, S. 1 ff.; Bellotti 2015, S. 16 ff.; Stegbauer 2008, S. 11 ff.). Die erhobenen Daten wurden in zwei Schritten paraphrasiert und generalisiert, wobei die vorformulierten Kategorien immer wieder reformuliert und angepasst wurden. Im Laufe der Forschung wurden dabei immer wieder neue Daten hinzugenommen, um bestehende Kategorien tiefer gehend zu analysieren.

4 Präsentation der Ergebnisse Im folgenden Abschnitt werden Ausschnitte der Analyseergebnisse in Bezug auf die Frage diskutiert, ob die indigene Philosophie der Teriben und die Widerstandstechniken der Gemeinschaft transformative Potenziale beinhalten. Dazu werden der Einfluss der indigenen Philosophie auf die Motivation und die Art und Weise des Widerstands der Teriben gegen den PHED, sowie die unterschiedlichen Widerstandstechniken beleuchtet und miteinander verknüpft. Darauf aufbauend wird das Potenzial des Widerstands der Teriben betrachtet, Prozesse weltgesellschaftlicher Transformation zu inspirieren. Dabei beleuchtet der vorliegende Artikel nur einen Bruchteil des gesamten Widerstandes und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern lediglich Ideen aufgreifen. Die Argumentation muss dabei immer aus der im vorherigen Kapitel erläuterten epistemologischen und ontologischen Perspektive betrachtet werden.

17Die Interviews wurden alle in Spanisch geführt und transkribiert. Im zweiten Kodiervorgang wurde die Übersetzung vorgenommen. Dabei ist sowohl die spanische Sprache von einigen Interviewpartner*innen, als auch von mir, nur die zweite Sprache. Die Übersetzung ins Deutsche wurde mit einer Kollegin zusammen reflektiert. Dennoch ist alleine die Übersetzung von meiner Subjektivität geprägt.

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4.1 Motivation zum Widerstand durch indigene Kultur Der Widerstand der Teriben gegen den Staudamm PHED ist auf vielfältige Art und Weise durch die indigene Denk- und Handlungsweise geprägt. Sowohl die Kultur der Teriben, als auch die Philosophie der Gemeinschaft üben einen Einfluss auf die Motivation und die Widerstandstechniken aus18. Die Geschichte der Teriben, eine Art der Wissensform, ist dabei von einer Reihe negativer Erfahrungen geprägt und beeinflusst den Willen zum Widerstand gegen das Staudammprojekt PHED. Die Folgen von vergangenen Großbauprojekten, wie der Bau der wichtigsten Verbindungsstraße Zentralamerikas, welche zu Verlust von Land und der Unabhängigkeit der Gemeinde Tèrraba, sowie zu Armut und langsamen Verlust der eigenen Identität geführt hat, prägt die Bewohner*innen genauso wie die noch massiv zu spürenden negativen Folgen der Kolonialisierung. Die Mitglieder der Gemeinschaft artikulieren die Angst, dass ihnen mit dem Bau des Staudammes „noch das Wenige, was [ihnen] geblieben ist“ (B4_9)19 verloren geht. Die Gemeinschaft ist sich aufgrund historischer Ereignisse über die Folgen für ihre Identität, ihre Kultur, ihr Leben und die Umwelt bewusst. Die Erzählungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit, genauso wie die Legenden von indigenen Widerständler*innen, wie Nasö Lokes20, und die Legenden über heilige und kulturelle Orte prägen den Willen zum Widerstand. Die lange Historie von Diskriminierung, sowohl auf staatlicher- und rechtlicher Ebene, als auch auf

18Kultur

wird hier in einem totalitätsorientierten Sinn als alle Glaubens-, Lebens- und Wissensformen begriffen, welcher sich der Mensch in der Sozialisation angeeignet hat und aufgrund welcher sich die Gesellschaft von anderen unterscheidet (Nünning 2009). Aufgrund dessen wird im Folgenden von der indigenen Kultur gesprochen, wobei die Philosophie als Teil dieser betrachtet wird. Die Reduzierung des Philosophieaspektes in den Kulturbegriff kann kritisch hinterfragt werden, ist für die vorliegende Zielsetzung jedoch vertretbar. 19Die Interviews mit Mitgliedern der Gemeinschaft wurden auf deren Wunsch hin anonymisiert und absichtlich in diesem Rahmen nicht veröffentlicht (siehe Fußnote 145). Die hier vorliegende Zitation soll dabei die Unterscheidung der Interviews ermöglichen. Der erste Buchstabe bzw. das Wort bezeichnet die Art des Dokumentes (B = Befragung/Interview, D = Dokument, Video = Video). Die Zahl im Anschluss daran ist die Nummer des Dokumentes bzw. des Interviews, in welcher Reihenfolge sie bei in der Analyse gelistet wurden. Die Zahl hinter dem Unterstrich verdeutlicht den Abschnitt in welchem das Zitat bzw. der Verweis zu finden ist. Bei Bedarf können ggf. einzelne Interviewpassagen, nach Rücksprache mit den Interviewten, von der Autorin herausgegeben werden. Dazu wenden Sie sich bitte an [email protected]. Die wörtlichen Zitate wurden durch mich vom Spanischen ins Deutsche übersetzt. Auch der erweiterte Datencorpus wurde hier aufgrund der teilweise sensiblen Daten auf diese Art und Weise zitiert. Falls Sie genaueren Einblick in den Datencorpus erhalten wollen, wenden Sie sich an die angegebenen Kontaktdaten. 20Nasö Lokes wird in der Legende „La Abuela de la Piedra“, sowie in diversen mündlichen Überlieferungen als wichtigster Kämpfer gegen die spanischen Kolonisatoren bezeichnet, welcher in Zusammenarbeit mit „Tjer“, welche die Teriben von den Wunden und Krankheiten heilte, zum Überleben der Teriben beitrug (Stolle o. J., S. 87 f.).

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persönlicher Ebene stärkte die Zielsetzung, mit dem Widerstand die „strukturelle Diskriminierung“ aufzubrechen (B2_27): „Was wir suchten im Widerstand [war], dass Costa Rica uns als Lebewesen anerkennt, welche die gleichen Bedingungen auf das Recht auf Leben, die gleichen Lebensbedingungen und die Nutzung unseres Landes, unserer Erde, unseres Territoriums und unserer Kultur haben“ (B2_227 ff.). Das Wissen aus den persönlichen Erlebnissen und Erzählungen wurde durch die Erfahrungsberichte aus anderen indigenen Gemeinschaften, beispielsweise aus Brasilien oder Panama, auch in Bezug auf die negativen Folgen von Staudämmen und die Möglichkeiten eines erfolgreichen Widerstandes, noch erweitert und steigerte die Motivation zum Widerstand (B4_42, D23_16). Genauso wie die Geschichte beeinflussen das holistische Naturverständnis und die kollektive Handlungs- und Denkweise, welche in der indigenen Philosophie der Teriben verankert ist, die Motivation und Praxis der Gemeinschaft. Der Widerstand der indigenen Gemeinschaft muss in Bezug auf die Gesamtheit der Welt und deren Zusammenhänge betrachtet werden, woraus sich ein Widerstand für die Gemeinschaft aller Lebewesen und der ganzen Umwelt ableiten lässt (B4_24). Der Mensch selbst wird als ein Teil der Mitwelt begriffen und steht in Abhängigkeit zu dieser Umwelt. Das Handeln der Gemeinschaft bedarf der Betrachtung der Gesamtheit und deren Zusammenhänge. Das holistische Naturverständnis führte dazu, dass die Teriben ihre Rolle im Widerstand darin sahen, die Umwelt zu schützen, da der Mensch selbst ein Teil dieser Umwelt ist, und ohne diese Umwelt kein Leben möglich ist (B2_332 f., B4_26 f.). Auf dieser Philosophie beruht auch die Motivation, durch den Widerstand für eine nachhaltige Entwicklung einzutreten. Denn die wirtschaftliche Entwicklung, in welche das Staudammprojekt eingebunden ist, impliziert in diesem Falle negative Folgen für die Umwelt. Auch die kollektive Denk- und Handelsweise beeinflusste den Widerstand. Die Philosophie der Sieben Generationen, welche alle kollektiven Entscheidungen mit dem Blick auf mögliche Konsequenzen für die kommenden sieben Generationen im Voraus denkt (Video 11_82), hat zur Folge, dass sich ein Widerstand zum Schutz der nachfolgenden Generationen formierte (B4_22). Die wahrgenommene Bedrohung der Identität der Gemeinschaft hat ebenfalls Einfluss auf den Widerstand.21 Der Widerstand der Teriben ist von der Angst des Verlustes der Identität durch

21Identität ist dabei „ein im Verlauf der Sozialisation gebildetes Selbstverständnis einer Person. Identität ist ein soziales Gebilde, das sich über Kindheit und Pubertät bis in das Erwachsenenalter durch das Hineinwachsen in die soziokulturelle Umwelt und die Selbst- und Fremdzuschreibung von sozialen Rollen bildet“ (Hillmann 1964, S. 350 f.). In Bezug auf den Beitrag ist die kollektive Identität von Bedeutung: „Kollektive Identität lässt sich bestimmen als ein Syndrom von Bewusstseins- und Ausdrucksformen von mindestens zwei Personen, welche um ihre Zusammengehörigkeit (als Paar, Gruppe, Klasse, Ethnie, Nation usw.) wissen, diese – im Regelfall – handlungspraktisch demonstrieren und insofern auch von ihrer Umwelt als zusammengehörig wahrgenommen werden. Vorausgesetzt werden damit 1) ein subjektives Wir-Gefühl und demnach (die Fiktion von) Gemeinsamkeiten, die eine Abgrenzung der eigenen Referenzgruppe nach außen ermöglichen, sowie 2) Formen von Vergemeinschaftung, die durch anhaltende Interaktion bzw. Organisation stabilisiert und nach innen wie nach außen symbolisch vermittelt werden.

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Zuwanderung der zahlreichen am Staudamm tätigen Arbeiter*innen geprägt, da insbesondere für eine kleine Gemeinschaft wie Térraba, ein solcher Zustrom schwerwiegende Auswirkungen hat (Dokument 17_2). Auch der Verlust des Landes, welches den Teriben als Garant für die Unabhängigkeit und als Grundlage für ihre Ernährung dient, hätte Auswirkungen auf ihre Gewohnheiten und die Umwelt. Dieser Verlust des Landes ist gekoppelt an einen Verlust der Identität. Denn neben dem Verlust der Unabhängigkeit hat dies auch „the permanent loss of a large number of burial, sacred and vitally important cultural sites that are described by the community as ‚pillars of their identity‘“ (Dokument 17_12:1527) zur Folge. Die Überflutung von mehr als 100 archäologischen Stätten, welche eine große Bedeutung für die Teriben haben, und die Zerstörung des natürlichen Laufes des Flusses, welcher eine wichtige Position im Glauben der Teriben einnimmt, sind wichtige Aspekte für den Widerstand der Teriben (Dokument 17_9:361): „Alleinig die Existenz des Flusses bedeutet für uns spirituell sehr viel. Der große Diquís, die großen Gewässer, von welchen unsere Großväter erzählten, von der Gründung des Volkes Bröran. Hier beginnt unsere Geschichte. Wenn der Fluss stirbt, stirbt unsere Geschichte. Dann sind wir tot“ (B1_106 ff.). Neben der Motivation gegen den Verlust der eigenen Identität zu kämpfen, betrachtet die indigene Gemeinschaft dabei den Widerstand selbst als einen Ort des Widerauflebens des indigenen Glaubens und deren Kultur (B4_24). Der Widerstand der Teriben ist maßgeblich von der indigenen Philosophie und der Angst des Verlustes der Identität und Kultur geprägt. Die Denk- und Handlungsweise der Teriben beeinflusst nicht nur die Motivation und Zielsetzung des Widerstandes, sondern auch die Art und Struktur des Widerstandes, sowie der Akteur*innenkonstellation.

4.2 Vielfältige Akteur*innenkonstellationen und Widerstandsstrategien Die aus der indigenen Philosophie abgeleiteten Ziele des Schutzes der Natur, die gemeinsame Denkweise und das gemeinsame Wissen über die Folgen eines Staudammes für die Identität, dienen sowohl als Basis für die vielfältigen Widerstandsstrategien, als auch als Grundlage für den Zusammenschluss zu Allianzen, in welchen „der eine den anderen unterstützt“ (Video 2_21:17). „Der Widerstand war sehr gemeinschaftlich, weil es nur einen Grund zum Kämpfen gab, für die Verteidigung des

Die Stabilisierung einer Innen-Außen-Differenz beruht auf der wechselseitigen Zuschreibung von „wir“ und „die Anderen“, wobei die dabei entstehenden Bilder fortlaufend registriert und verarbeitet werden. Kollektive Identität beruht nicht auf ontologischen Gemeinsamkeiten, sondern auf fortlaufenden Interaktionen. „Sie wird in gesellschaftlichen Prozessen geformt.“ (Berger und Luckmann 1977, S. 185)10 (Rucht 1995, S. 10).

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Flusses, für die Verteidigung der Natur, zur Verteidigung der Rechte“ (B3_118 ff.). Auf Basis dieser gemeinschaftlichen Zielsetzungen wurde der Widerstand durch vielfältige Aktionen bereichert und angetrieben. Den gemeinsamen Kampf für den Erhalt des zusammenhängenden Ökosystems demonstrierten die Akteur*innen bei Aktionen, wie dem gemeinsamen Glaubensritus zu Ehren des Wassergottes (Video 20). Das, aus der Denk- und Handlungsweise entwachsende Verantwortungsgefühl gegenüber dem Erhalt der eigenen Kultur, genauso wie der Natur und dem damit zusammenhängenden Kreislauf, ist im Widerstand maßgeblich. Die Einbettung der Kritik am Staudamm in eine konsum- und entwicklungskritische Perspektive strukturierte die Widerstandsweise, wie bei der Organisation des Festivals NO PHED, bei welchem unterschiedliche Akteur*innen verschiedene Aktionen und Reden zum Thema PHED, eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Kritik, zeigten. Alle Akteur*innen fokussierten unterschiedliche Themen in Bezug auf die Ressource Wasser und Land, mobilisierten jedoch gemeinsam gegen das Staudammprojekt, jede*r auf die eigene Art und Weise (Video 3). Im Folgenden werden die wichtigsten Widerstandsstrategien der Teriben vorgestellt. Der Widerstand zeichnet sich insbesondere durch ein breites Widerstandsrepertoire auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, sowie den Einschluss verschiedener Akteur*innen aus. Eine Kombination aus radikalen, informativen und legalen Schritten kommt zur Anwendung. Akteur*innen im Widerstand Der Widerstand der Teriben ist von einem dichten Netzwerk geprägt, wobei im Folgenden nur die wichtigsten Akteur*innen und deren Verbindung zueinander beschrieben werden. Das gesamte Akteur*innnennetzwerk in Bezug auf den Widerstand gegen den PHED ist von der führenden Rolle der Teriben und deren Widerstandsstrategien geprägt. „Wir gehen voran, ihr folgt uns und unterstützt uns“ (B4_32), so ist die Auffassung der Widerstandsmitglieder der indigenen Gemeinschaft die Rolle der Akteur*innen von außerhalb betreffend. Zu Beginn des Widerstands kommunizierten einzelne Akteur*innen mit Mitgliedern der Dorfgemeinschaft und artikulierten ihre Bedenken in öffentlichen Dorfversammlungen (B2_40). Die einzelnen Akteur*innen gründeten im Anschluss Organisationen mit unterschiedlichen Schwerpunktprofilen. Die Frauen-Organisation Mano de Tigre legte den Fokus ihrer Arbeit auf den Austausch zwischen den Frauen, die Vermittlung der Rechte und Fähigkeiten zur Stärkung der Rolle der Frauen in der Gemeinschaft. Dabei ist aus der Analyse der Videos und Interviews festzustellen, dass die Aktivitäten der Gruppe sowohl intern, beispielsweise durch die künstlerische Darstellung der Problematiken mit Protestschildern, als auch extern durch den Auftritt bei nationalen und internationalen Frauenforen, eine wichtige Rolle in den Zeiten des Widerstandes darstellten (B2_48, B2_35). Der Fokus vieler Frauen auf die Familie und der damit verbundene Generationsaspekt spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle in der Denk- und Handlungsweise der Teriben. Die Gruppe Nasö Lokes agierte als Jugendgruppe in der Gemeinschaft und wurde von den Jugendlichen mit dem Wunsch nach Austausch unter Gleichaltrigen gegründet.

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Die Offenheit sowie die Kreativität, das Wissen und der Tatendrang der Jugendlichen hatten dabei einen großen Einfluss auf den Widerstand (B5_28). Die Veranschaulichung der Problematiken des PHED mithilfe von Theaterstücken ermöglichte beispielsweise den Zugang zu anderen, weniger informierten Mitgliedern der Gemeinschaft und der gesamten Gesellschaft (B5_28). Dabei kooperierte die Jugendgruppe mit Studierenden der Universidad de Costa Rica. Dies führte zu einer besseren Qualität und größeren Verbreitung des Stückes (B5_38, B5_23). Die Asociacion Cultural Teribe setzte den Fokus im Widerstand auf den Erhalt der eigenen Kultur, beispielsweise baute sie ein Gemeinschaftsmuseum auf. Die Kommunikation und das Meinungsbild innerhalb der Gemeinschaft, sowie die anschließende Bündelung der Meinungen zur Präsentation nach außen, zeichnete das Aufgabenfeld dieser Organisation aus. Die Kollaboration mit anderen Gemeinschaften und Organisationen war insbesondere für die Verbreitung der Meinungen, beispielsweise bei Pressekonferenzen, entscheidend. Auch die Organisation Asociacion de Defensa de los Derechos Indigenas Teribes (ASODINT) verfolgte das Ziel, die Öffentlichkeit über die Problematiken und den Widerstand der Indigenen Gemeinschaft zu informieren. Organisationen wie ASODIN oder Rincon Ecologico, welche ihren Fokus auf den nachhaltigen Tourismus setzten, unterstützen durch den Tourismus die Verbreitung der Informationen und das Verständnis für die indigene Lebensweise. Das Handeln aller Akteur*innen der indigenen Gemeinschaft richtet sich dabei an der Haltung des Ältestenrates aus. Die indigene Regierungsinstanz, welche von den ältesten Mitgliedern der Gemeinde gestellt wird, diskutierte und kommunizierte in wöchentlichen Sitzungen gemeinschaftliche Belange und erarbeitete im Zuge des Widerstandes Handlungsvorgaben. Zudem orientierte sich die Akteur*innenstruktur innerhalb Tèrrabas an Familienstrukturen, wobei Organisationen, wie der Rat der Ältesten und der Jugendgruppe, sich den Familienstrukturen entziehen. Die Gemeinschaft der Teriben versuchte dabei, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, Allianzen mit anderen indigenen Gemeinschaften zu schließen, und somit die Situation aller Indigenen zu stärken. Beim Besuch des UN-Sonderbeauftragten für indigene Anliegen, James Anayas im Jahr 2010 luden die Teriben andere indigene Gemeinschaften ein, um deren Anliegen vor dem Vertreter der Vereinten Nationen vorzutragen (Video 18_129). „Je mehr wir uns vereinen, desto mehr können wir kämpfen“ (Video 20_01:51). Der Austausch mit verschiedenen indigenen Gemeinschaften, wie beispielsweise mit der Gemeinschaft Comarca Guna Yala, welche von einem vierzigjährigen Kampf gegen den Staudamm Bayano erzählen kann, hat nicht nur dazu beigetragen, dass den Teriben die Wichtigkeit des Widerstandes vor Augen geführt wurde, sondern sie konnten auch von dem Wissen und den Erfahrungen der unterschiedlichen Widerstandsstrategien dieser und anderer Gemeinschaften lernen (B1_47). Dieser Austausch über die Erfahrungen und die unterschiedlichen Arten des Widerstandes in den verschiedenen Ländern führte zu einem spezifischeren Wissen über Widerstand und dessen Strategien. Neben dem Zusammenschluss von verschiedenen Gemeinschaften schlossen sich auch andere Organisationen und Institutionen dem Widerstand der Teriben an. Nationale, internationale sowie private Universitäten, deren Studierende und Dozierende

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u­ nterstützten die Teriben bei der Schaffung einer breiteren Öffentlichkeit. Die Aufnahme und Veröffentlichung von Dokumentationen, die Bereitstellung von Räumen für Pressekonferenzen und Stellungsnahmen sowie deren Veröffentlichung über die eigenen Medienkanäle lief beispielsweise in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Teriben und förderte die Kenntnisse über den Konflikt in der Öffentlichkeit.22 Die Möglichkeit der transnationalen Kontaktaufnahme erleichtert die Suche nach Verbündeten und die Entwicklung von gemeinsamen Strategien (Bornschier 2008, S. 641). Wobei die Digitalisierung auch das Potenzial zur weiteren Verstärkung von Ungleichheiten aufgrund der unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten aufweist (Della Porta und Diani 1998, S. 98 ff.; Herkenrath 2011, S. 116). Auch die Organisation von Veranstaltungen wie Festivals (Video 7), die Unterstützung bei Protesten auf verschiedenste Art und Weise, sowie die Universität als Ausbildungsort für die indigene Jugend, welche durch das dort gelernte Wissen, den eigenen Widerstand auch in Zukunft beeinflussen könnte (B1_27), ist von Bedeutung für den Widerstand. Die Durchführung von Studien, sowohl von nationalen als auch internationalen universitären Instituten und Komitees, zu verschiedenen Themenkomplexen half den Teriben ihre Argumente fundiert zu belegen, und somit die Macht der Argumentation und des Widerstandes zu steigern. Der Widerstand der Teriben profitierte enorm von dem erlangten Wissen und die durch Forschung erzeugte Legitimation ihrer Argumentation. Denn diese Legitimationsbasis verschaffte den Teriben eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung ihrer Positionierung gegen den Staudamm und beeinflusste somit das Wahrgenommen-Werden auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Die Interaktion der Teriben mit den Vereinten Nationen und deren Unterorganisationen stellte eine weitere wichtige Verbindung im Widerstand gegen den PHED da. Sowohl der Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) als auch der Sonderbeauftragte machten sich eine Bild von der Lage der Teriben und formulierten auf Basis des angesammelten Wissens Berichte und Empfehlungen an die costa-ricanische Regierung, welche insbesondere die Einhaltung der internationalen Rechte wie das Recht auf Partizipation am Bauprozess, die vorherige Abstimmung und den Schutz der indigenen Kultur, forderte (Dokument 14_1:1845, B2_32). Der Sonderbeauftragte nahm in dem gesamten Netzwerk eine Art unparteiische Vermittlerrolle ein, welche das Ziel einer gemeinsamen Lösung verfolgte. Die Kommunikation mit den unterschiedlichsten Akteur*innen in Kombination mit den Berichten und Empfehlungen anderer U ­ N-Institutionen trug beispielsweise zur Vorstellung der bisher erreichten Übereinkommen in den Konsultationsprozessen am 06.03.2018 bei. Die Machtposition, welche die Vereinten Nationen im internationalen Staatennetz innehält, sowie die erschaffene mediale Aufmerksamkeit und die Bezugnahme auf die unterschiedlichen

22Dem

Internet kommt dabei, nach Schlitz et al. (2007, S. 157 ff.), eine besondere Rolle zu, da es sowohl die Kommunikation innerhalb der Bewegung, als auch die Möglichkeit der Erschaffung einer eigenen Öffentlichkeit ermöglicht (Almeida und Lichbach 2003, S. 249 ff.; Beyeler und Kriesi 2005, S. 101 ff.).

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Akteur*innen der UN, hat dabei das politische Handeln der Regierung beeinflusst (Dokument 14_4:2634). Nichtregierungsorganisationen unterstützten die Gemeinschaft außerdem durch die Vermittlung von Expert*innen wie beispielsweise Anwälten. Diese Rechtsexpert*innen verfügten dabei über Wissen im Bereich der Menschenrechtsverletzungen und wurden beispielsweise von der Nichtregierungsorganisationen Forest People Programms (FPP) vermittelt und bezahlt (B1_66). Die rechtliche Unterstützung der gesamten Gemeinschaft durch Nichtregierungsorganisationen wie Kus Kura S.C., Ditsö, FPP, sowie die spezielle juristische Ausbildung einiger Jugendlicher an der Universität, ermöglichte den Widerstand auf rechtlichem Wege und sicherte der Gemeinschaft somit auch eine verbesserte rechtliche Position, wie beispielsweise die Erlangung der Staatsbürgerschaft aller Teriben (B3_29, B1_21). Die Kenntnisse über indigene Rechte und Gesetze bildeten die Grundlage für einen Widerstand auf gesetzlicher Ebene. Expert*innen von nationalen und internationalen Universitäten sowie Expert*innen von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen unterstützten die Gemeinschaft beim Lernprozess über die Verfassung Costa Ricas und der darin enthaltenen Rechte. Die Unterstützung von außerhalb führte dazu, dass sich die Teriben „viel Wissen über die negativen und illegalen Prozesse“ (B3_16) des costa-ricanischen Staates aneigneten und somit beginnen konnten, „sich mit den Gesetzen, welche sie hatten, welche die gleiche costa-ricanische Regierung unterzeichnet hatte, […] von dieser Regierung einzufordern“ (B1_157 f.). Die Einforderung ihrer Rechte auf unterschiedlichen Ebenen war „eine sehr starke Strategie“ (B4_109). Neben dem Wissen ist natürlich die Existenz der Gesetze entscheidend. Um diese durchzusetzen, kommunizierten die Teriben auf verschiedenen legalen Instanzen mit den zuständigen Sprecher*innen (B2_46). Sie formulierten Petitionen, zeigten Rechtsverletzungen auf und nutzten verschiedene gerichtliche Instanzen (D22_49:3089). Sie reichten sowohl Sammelklagen, wie bezüglich des zu versiegen drohenden Flusses Veragua (B2_32), als auch individuelle Klagen einzelner Gemeindemitglieder (D22_40:226) ein. Auch formulierten die Teriben eigene Gesetzesentwürfe, welche sie der Regierung vorlegten. All diese Vorgänge waren nur durch das Wissen über die rechtlichen Begebenheiten möglich. Dabei ist es jedoch wichtig, dass der „indigene Kampf primär ihr eigener“ (B4_126) ist, weshalb die Aneignung von Wissen so entscheidend ist, um selbst den legalen Widerstand bestreiten zu können. Wissen ist „die Befähigung zur Verteidigung“ (B1_126). Der Widerstand selbst war dabei ein Lernprozess, wobei sowohl die Aneignung von individuellem Wissen, als auch der Austausch mit anderen diesen Prozess angereichert haben (B5_23, B3_2). Eine weitere wichtige Rolle, welche Organisationen im Widerstand gespielt haben, ist die Verbreitung von Informationen über den Fall der Teriben und deren Standpunkt zum PHED. Mithilfe der eigenen Medienkanäle trugen beispielsweise die Universitäten nicht nur zur Verbreitung der Position der Teriben bei, sondern bildeten somit auch einen Gegenpol zu den „regierungstreuen Massenmedien“ (Dokument 12) und deren Meinung über den Staudamm (B3_5, B3_31). Dabei arbeiteten die verschiedenen Organisationen zusammen. Die Gründung der Zeitschrift La Bröran Idioma ist beispielsweise ein Kooperationsprojekt der Universidad de Costa Rica und der NGO

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Ditsö (B3_7). Auch Nichtregierungsorganisationen verbreiteten Informationen auf deren Medienkanäle, wobei die gegenseitige Bezugnahme aufeinander, sowie das Berichten in verschiedenen Sprachen, den Verbreitungsgrad erweiterten und sich somit als förderlich für die Schaffung einer alternativen Öffentlichkeit erwiesen. Das Wissen und die Reflexion im Umgang mit der medialen Öffentlichkeit basiert auf dem Erfahrungsaustausch mit anderen indigenen Gemeinden (B1_38). In Bezug auf den Widerstand der Teriben war neben der Generierung von Aufmerksamkeit in den Massenmedien, auch die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit, welche insgesamt im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen an Bedeutung gewonnen hat, wichtig. Die Berichte und Veröffentlichungen von Universitäten und Nichtregierungsorganisationen sowie medienwirksame Widerstandsaktionen haben eine solche „alternative Öffentlichkeit“ (Stamm 1988, S. 14) als ein kritisches Komplement zu den sonst eher pro PHED gerichteten öffentlichen Massenmedien etabliert (Dokument 12). Insbesondere in der aktuellen Gesellschaft, welche eine durch Massenmedien „beherrschte Öffentlichkeit geworden“ (Habermas 1992, S. 451) ist, ist eine solche alternative Öffentlichkeit auch durch die eigene Zeitung La Bröran Idioma von besonderer Bedeutung für den Widerstand und für seinen Erfolg. Denn bei zivilgesellschaftlichem Widerstand ist das Gewinnen von nachhaltiger Aufmerksamkeit und Zustimmung der großen Öffentlichkeit grundlegend, um die staatlichen Institutionen unter Druck zu setzten und so zum Handeln zu bewegen. Die Gemeinschaft der Teriben hat es im Laufe ihres Widerstandes durch die Hinzunahme des Internets als alternative Kommunikationsplattform, die Vergrößerung der Akteur*innenkreise von außerhalb, durch verschiedenen Universitäten und die Vereinten Nationen, sowie durch den Besuch des UN-Sonderbeauftragten geschafft, eine solche nachhaltige Öffentlichkeit zu schaffen. Damit hat sie unter anderem dazu beigetragen, die politischen Handlungstragenden zu beeinflussen. Das Zusammenspiel der verschiedenen Akteur*innen hat nicht nur den Widerstand an sich, sondern auch die Vielfalt der Widerstandsstrategien beeinflusst. Sowohl interne als auch externe Akteur*innen haben verschiedene Arten von Widerstand, den jeweiligen Themenschwerpunkten der Organisation entsprechend, geleistet. Die Widerstandsstrategien der Teriben und ihrer Unterstützenden weisen große Vielfalt auf. Von klassischen Repertoires wie Protesten und Straßenblockaden über die künstlerische Darstellung der Problematik bis zum Widerstand auf rechtlicher Basis. Dabei sind das Zusammenspiel und die wechselseitige Unterstützung verschiedener Akteur*innen in Bezug auf die Kenntnisse der unterschiedlichen Strategien und deren Anwendung von besonderer Bedeutung. Es konnte in Bezug auf die Kooperationen eine Zunahme von langfristigen Zusammenschlüssen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene festgestellt werden. Die von Staggenborg (1985) erwähnten Ad-Hoc-Allianzen fanden dabei nur in einzelnen Fällen, wie der Finanzierung von ­ einzelnen Dokumentationsprojekten einiger weniger Organisationen, statt (1986). Im Laufe des Widerstands formierten sich auch immer wieder „Kämpfe im Kampf“ (Dokument 15_14:1782), wie beispielsweise die Besetzung der dorfeigenen Schule, welche auf radikalere Art und Weise die Durchsetzung des bestehenden Rechtes der individuellen Bildung verlangte.

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4.3 Indigener Widerstand und weltgesellschaftliche Transformation Aus dieser Beobachtung, der Analyse des Materials sowie der Theorien wird die These abgeleitet, dass der zivilgesellschaftliche Widerstand der Teriben als Motor der Demokratisierungsbewegung in Costa Rica gesehen werden kann. Der Begriff der Demokratisierung bezieht sich hierbei auf das Polyarchie-Konzept nach Robert A. Dahl. Neben den Dimensionen der Rechtsstaatlichkeit und der Partizipation, stellt dieser drei Bedingungen auf, gemäß derer Bürger*innen einer Demokratie i) politische Präferenzen herausbilden können müssen, ii) die Freiheit haben, diese den Mitbürgern*Innen und der Regierung artikulieren zu können und denen iii) unabhängig des Ursprungs und Inhaltes gleiches Gewicht von der Regierung beigemessen werden muss. Bezüglich der Demokratie in Costa Rica war das Land, dank dem Export von Kaffee und Bananen, bis Mitte der 1980er Jahre ein stabiler, demokratischer Wohlfahrtsstaat mit einem hohen Entwicklungs- und Bildungsstand (Dahl 1971, S. 11 ff.). Das Land wird seit 1994 als eine konsolidierte Demokratie bezeichnet, welche sich durch einen Sozialstaat, eine relative Verteilungsgerechtigkeit und niedrige Arbeitslosenquote auszeichnet (Gratius 2008, S. 167). Costa Rica wird häufig als „politischer, sozialer und wirtschaftlicher Stabilitätsanker in Zentralamerika“ (Gratius 2008, S. 167) bezeichnet. Ein funktionierender Rechtsstaat, der Verzicht auf Gewalt, eine Friedenstradition und ein hoher Entwicklungsstand werden dabei als Indikatoren genannt. Die Proteste der Indigenen, welche in der Amtszeit des konservativen Präsidenten Rodriguez begannen, waren die ersten Unruhen im Land seit den 1930er Jahren. Die indigenen Gemeinschaften bemängeln dabei immer wieder die unzureichende Qualität der Demokratie. Im Widerstand forderten die Teriben die Einhaltung der in der costaricanischen Verfassung verankerten demokratischen, konstitutionellen und rechtlichen Regeln des Staates ein. Die Teriben forderten eine an den politischen Präferenzen der Bürger*innen orientierte Regierungspolitik, wobei die Vereinten Nationen als Wächterinstitution agieren sollten. Die Einhaltung und Einforderung der Rechte, genauso wie die Förderung der Meinungs- und Pressefreiheit sind institutionelle Garantien einer Demokratie und wurden in Costa-Rica durch den Widerstand der Gemeinschaft gefördert. Die Formierung einer Gegenöffentlichkeit schaffte eine alternative Informationsquelle und trug somit zur Demokratisierung Costa Ricas bei, weil sie Druck auf die Regierung ausübte und damit die drei Bedingungen nach Dahl beförderte. Die Durchsetzung der Grund- und Bürger*innenrechte, wie die kulturelle und ethische Selbstbestimmung, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht auf Land sind Faktoren, die im Zuge des Widerstandes eingefordert wurden und somit die Qualität der Demokratie insgesamt verbesserten. Die Einforderung der Gesetze sowie die Einforderung des Baustopps des PHED aufgrund der Beschneidung der kulturellen und ethischen Selbstbestimmung wurden durch den Widerstand der Teriben artikuliert und beeinflussten das Handeln der politischen Entscheidungsträger*innen. Der Prozess der Institutionalisierung einer Vorabbesprechung mit allen indigenen Gemeinschaften kann dabei als Versuch gewertet

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werden, diese Grund- und Bürger*innenrechte im aktuellen und auch in zukünftigen Fällen zu garantieren (Dokument 23_6 ff.). Dennoch ist die Rolle des Ältestenrates als einziger legitimer Repräsentant der Gemeinschaft immer noch nicht vollständig vom ­costa-ricanischen Staat anerkannt. Auch die Rückgabe an die Indigenen, beziehungsweise Unterbindung der illegale Besiedlung des Landes, wird von staatlicher Seite blockiert (Video 19_50:40). Allerdings kann die Einforderung der Meinungsfreiheit und die Schaffung von alternativen Informationsquellen, sowie die Anerkennung des Rechtes auf eine Teilhabe durch die Konsultation, welche durch den Widerstand der Teriben erwirkt wurde, als Förderung der Demokratie in Costa Rica bewertet werden. Auch wenn andere Akteur*innen und Einflüsse, wie die Rolle der Vereinten Nationen oder des sozialdemokratischen Präsidenten Arias, ebenfalls einen Einfluss auf diesen Prozess hatten, welcher im Zuge der Forschung aufgrund der begrenzten Kapazitäten nicht angemessen ausgelotet werden konnte, erscheint die Zivilgesellschaft der Teriben, wie in vielen Fällen in Lateinamerika, doch als eine Art Anwalt der Gesamtbevölkerung und Motor gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung (Werz 2005, S. 345 f.). Der zivilgesellschaftliche Widerstand der Teriben kann als ein wichtiger Schritt von der politischen zur gesellschaftlichen Demokratisierung gewertet werden. Der Widerstand der Teriben kann, in Anlehnung an die Theorie von Olaf Kaltmeiers (2007, S. 192 ff.), auch in den politischen Handlungsraum des Staates eingebettet werden, um so die transformative Wirkung des Widerstandes aus der Makroperspektive zu betrachten. Die lateinamerikanische Wirtschaftspolitik hat sich seit der Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren dem sogenannten Washington Consensus unterworfen, welcher wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Stabilisierung und wirtschaftlichen Förderung Lateinamerikas beinhaltete. Gekoppelt mit der Globalisierungswelle in den 1980er Jahren durchlebten die Volkswirtschaften Lateinamerikas tiefgreifende Reformen der Liberalisierung, der Deregulierung und der Privatisierung der Märkte, die die lateinamerikanischen Länder konkurrenzfähig zu anderen Standorten auf dem globalen Wirtschaftsmarkt machen sollten und somit darauf zielten, die Krise der 80er Jahre zu überwinden (Sangmeister 2003, S. 9 ff.). Das Postulat dieser neoliberalen Globalisierung stellt die wirtschaftliche Effizienz über alle anderen politischen, innergesellschaftlichen Werte (Grabendorff 2003, S. 163 ff.). Der Zwang zur politischen Rücksichtnahme auf marginalisierte Bevölkerungen innerhalb der Demokratie scheint insoweit dem Primat der ökonomischen Logik einen Riegel vorzuschieben (Zakaria 2001, S. 3). Dies erzeugt einen Widerspruch innerhalb der staatlichen Politiken, nämlich zwischen der Rücksichtnahme auf marginalisierte Bevölkerungen – wie den indigenen Gemeinschaften – einerseits und der neoliberalen, auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaftspolitik andererseits. Investor*innen, wie ausländische Unternehmen, sollen die Wirtschaft Costa Ricas ankurbeln. Dabei fließt der größte Teil der Wertschöpfung an ausländische Unternehmen, genauso wie beispielsweise der durch den Staudamm geschaffene Strom selbst in andere Länder, wie die USA, fließen soll (Video 19_37:05). Das Großbauprojekt des Staudammes El Diquís gilt als eines der größten Projekte dieser Art in ganz

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­ entralamerika und könnte durch dessen Bau weitere Investor*innen in das Land ziehen, Z womit der Markt also Wachstum und Sicherheit, beispielsweise durch Arbeitsplätze, schaffen könnte (Stiegmeier 2009, S. 14). Solche Großbauprojekte, welche die Wirtschaftskraft des Landes verbessern sollen, haben in Costa Rica Tradition. Der Ausbau der Interamericana Sur, eine der wichtigsten Handelsrouten Zentralamerikas, wurde mit denselben Argumenten gefördert und durchgesetzt. Dies zeigt, dass die aus den 1980er Jahren stammende, neoliberale Wirtschaftspolitik auch heute noch die Handlungen des Staates bestimmt. Der Abbau von Zöllen, der Abschluss von Freihandelsabkommen, wie im Jahre 2013 mit der Europäischen Union, soll die Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, und Handelsverkehrs fördern. Handelshemmnisse wie eine schlechte Infrastruktur sind dabei hinderlich. Diese neoliberale Politik Costa Ricas hatte auch die Privatisierung der Wasser- und Stromindustrie des Landes zur Folge, eine fortschreitende Deregulierung des Marktes durch den Abbau staatlicher Steuerungsinstrumente und der Verminderung des Eingriffsrechts. Dies soll den Markt stärken und somit das Wohlstandsniveau des Landes und der gesamten Region anheben (Gabriel 1992, S. 13 ff.; Gratius 2008, S. 167 ff.). Auch die Argumentationsweise des ICE für den Staudamm weisen auf eine Dominanz des Willens zur Erzielung wirtschaftlicher Gewinne hin. Der Gewinn für die dortige Bevölkerung und für gesamt Costa Rica wird immer wieder betont. Gegner*innen des Projektes werden in der Öffentlichkeit als Entwicklungsgegner*innen dargestellt (B3_16). Die Erhebung des Staudammprojektes zum nationalen Entwicklungsziel (Video 19_54:00), sowie die Argumentationsweise, dass das Projekt eine Entwicklungshilfe für die gesamte Region darstelle, zeugt von neoliberalen Handlungsmaximen, welche durch den Entwicklungsplan Plan Puebla Panama und die Teilhabe von ausländischen Investor*innen in einen globalen Kontext gesetzt werden kann. Parallel zu dieser Politik und den zahlreichen Wirtschaftsreformen etablierte der Staat im Laufe seiner Verfassungsänderungen immer mehr Schutzmechanismen in Form von Gesetzen für die marginalisierte Bevölkerungsschicht der Indigenen. Aufgrund ihres geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung und dem wichtigen kulturellen Wert der Gemeinschaften, ratifizierte Costa Rica zum Schutz der Indigenen beispielsweise im Jahr 1992 die Konvention 169 (vgl Kap. 2). Die praktische Umsetzung dieser Politik zum Schutz der Indigenen erfolgt im Vergleich zur Wirtschaftspolitik weniger entschlossen. Die Teriben kritisieren diese staatliche Präferenzsetzung und fordern die ihnen zustehenden Rechte zu ihrem Schutz mithilfe des legalen Widerstandes ein. Mit diesem Widerstand blockieren sie die Pläne der Regierung, was ihnen sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene besonders zu Beginn des Konfliktes viele Feinde einbrachte, welche sie als Hindernis für die nationale Entwicklung bezeichneten (Video 12_05:28). Dabei ist der Schutz der Indigenen und deren Recht auf ihr Land und den Erhalt ihrer Kultur genauso in der Politik des costa-ricanischen Staates verankert wie die wirtschaftlichen Ziele. Diese beiden Handlungsmaximen kollidieren und erzeugen einen Konflikt, der im Widerstand der Teriben zu Tage tritt. Auf der einen Seite die indigene Gemeinschaft, welche den ihr zustehenden Schutz einfordert, gegen die wirtschaftlichen Interessen des ICE; und auf der anderen jene, welche den Bau als notwendig für

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die Weiterentwicklung des Landes betrachten. Das Offenlegen dieser innerstaatlichen Konfliktlinie zwischen einer von neoliberaler Globalisierung geprägten Politik und einer Politik zum Schutz marginalisierter Bevölkerungsgruppen durch den Widerstand der Teriben kann dabei als ein Schritt zur Transformation der costa-ricanischen Gesellschaft gewertet werden. Denn das Aufdecken solcher Konflikte sowie die Förderung demokratischer Strukturen haben dabei langfristige Wirkungsmöglichkeiten auf eine Gesellschaft und können transformative Potentiale auch für die Weltgesellschaft beinhalten.

5 Fazit Der zivilgesellschaftliche Widerstand der Teriben im Konflikt um die Ressource Wasser und Land hat aufgrund seiner Vielfältigkeit die Handlungsweisen der ­costa-ricanischen Regierung verändert und den Bau des Staudammes El Diquís verhindert. Die Vielfältigkeit der Widerstandsstrategien und die Einbindung vieler unterschiedlicher Akteur*innen, sowohl auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, sind dabei Teil des Erfolgsrezeptes der Teriben. Die Fähigkeiten der unterschiedlichen Akteur*innen wurden dabei in den Widerstand und dessen Repertoire eingebracht, und somit eine große Bandbreite an unterschiedlichen Akteur*innen und Aktionen erlangt. Von Protesten über Festivals bis zu juristischen Kämpfen wurde nicht nur gegen den Staudamm, sondern auch für die Freiheit der Indigenen in ganz Costa Rica gekämpft. Grundlegend für den gemeinsamen Widerstand und die Unterstützung von anderen nationalen und internationalen Gemeinschaften und diversen Organisationen, wie Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen, waren dabei gemeinsame Ideale und Zielvorstellungen, der gemeinsame Kampf für den Erhalt der Natur und den Schutz der indigenen Kulturen. Aus diesen Idealen leitet sich auch die Motivation der indigenen Gemeinschaft ab. Eine kollektive Denkweise, ein holistisches Naturverständnis und historische Erfahrungen haben die indigene Gemeinschaft angetrieben, gegen den Bau und die daraus resultierenden negativen Folgen anzukämpfen. Das Bauvorhaben, welches dem neoliberalen Wirtschafts- und Handlungsmodell der Regierung entspricht, wurde durch den Widerstand einer indigenen Gemeinschaft und ihrer vielzähligen Unterstützter*innen auf Basis indigener Philosophie gestoppt. Das Einfordern der von der Regierung ratifizierten Gesetze und die Durchsetzung partizipativer Prozesse durch die Proteste der indigenen Gemeinschaft haben dabei die Qualität der Demokratie in dem zentralamerikanischen Land gesteigert. Da die Teriben eine der ersten Gemeinschaften in Zentralamerika sind, welche den Bau eines solchen Wasserkraftwerkes verhindert haben, kann, unter Bezugnahme auf den demokratischen Domino-Effekt im Prozess der Re-Demokratisierung in den 80er Jahren in Lateinamerika, darauf gehofft werden, dass ein solcher Domino-Effekt der gesellschaftlichen Demokratisierung auch von diesem Widerstand ausgeht (Werz 2005, S. 329). Der Widerstand der Teriben hat zudem das Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Aspekten verdeutlicht und somit eine Debatte angeregt. Der Widerstand der Teriben

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kann dabei als Beispiel dafür genommen werden, dass die Überwindung des technischen und entwicklungsorientierten Paradigmas und das Verständnis der engen Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur die Grundlage für eine nachhaltige Veränderung in den politischen Handlungsmaximen der Staaten sind. Zivilgesellschaftlicher Widerstand von indigenen Gemeinschaften kann dabei einen Anstoß zu einem solchen Paradigmenwechsel geben. Der durch den Widerstand erzeugte vielfältige Druck von politischer, gesellschaftlicher und weltgesellschaftlicher Seite auf einen Staat hat dabei Einfluss auf dessen politische Handlungsweise und kann somit sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene Transformation bewirken. Die positiven Ergebnisse dürfen dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass Natur, Land und Wasser im Besonderen weiterhin als auszubeutende Ressource in unserer Weltgesellschaft gesehen werden, welche zur Befriedigung des ökonomischen Gewinnstrebens, insbesondere der Länder des Globalen Nordens, dienen. Das Erfolgserlebnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eines alternativen Entwicklungsmodells bedarf, welches die Energieentwicklung in Costa Rica und auch in anderen Ländern an die jeweiligen soziokulturellen Kontexte des Landes anpasst und die tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung und deren starke Verbundenheit zur Natur miteinbezieht. Der Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung, beziehungsweise das Überdenken des Entwicklungsparadigmas, genauso wie des gesamten Kapitalistischen Systems, muss dabei nicht nur in der Politik und bei den betroffenen Gemeinschaften stattfinden, sondern im globalen Zusammenhang gedacht und diskutiert werden. Auch die Wissenschaft muss sich kritisch hinterfragen und postkoloniale Theorien stärker in die Forschung miteinbeziehen. Der Widerstand der Teriben hat in dem Einzelfall eine Veränderung hervorgerufen, kann als gutes und ermutigendes Beispiel für andere Gemeinschaften fungieren und hat somit auch ein nicht zu unterschätzendes transformatives Potential. Ein Wechsel hin zu einem nachhaltigen System, welches den Schutz des Ökosystems, der natürlichen Ressourcen und der Bevölkerung garantiert, ist dabei jedoch die Aufgabe der gesamten Weltgesellschaft – der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Individuen. Die indigene Philosophie kann dabei einen Denk- und Handlungsrahmen geben, wie dies bei der Verankerung eines Rechtes der Natur, nach dem auf indigener Philosophie beruhenden Konzept des Buen Vivir, in die ecuadorianische und bolivianische Verfassung geschehen ist (Ayala 2012). Die Durchsetzung und somit die Transformation der Gesellschaft muss jedoch von vielfältigen Akteur*innen gewollt und durchgesetzt werden.

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Yes, we camp for climate action. Die Klimacamps im Rheinland als Orte des Protests und transformative Möglichkeitsräume Julia Hübinger

Zusammenfassung

Klimacamps sind Orte des Protests gegen klimaschädliche Industrien und unzureichende Politik sowie transformative Möglichkeitsräume, in denen alternative Praktiken im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation erprobt und erlernt werden können. Der Beitrag untersucht beispielhaft das Klimacamp im Rheinland (2017) und diskutiert, inwiefern die Praxis im Sinne präfigurativer Politik auf eine sozial-ökologische Transformation hinweist. Die Forderung nach einer ­sozial-ökologischen Transformation, nach einem grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und des Naturverhältnisses, wird hier als Antwort auf die mannigfaltigen Symptome einer multiplen Krise verstanden. Schlüsselwörter

Sozial-ökologische Transformation · Klimacamp · Gelebte Alternativen · Klimagerechtigkeit · Soziale Bewegungen · Protest · Präfigurative Politik

1 Einleitung Es ist ein warmer, sonniger Sommernachmittag im August. Auf einem abgemähten Feld stehen am rechten Rand ein gelbrot gestreiftes Zirkuszelt und eine große Menge Fahrräder, links sind mehrere Pavillons zu sehen. Darunter stehen Menschen an Tischen, unterhalten sich angeregt und schneiden dabei Gemüse. Dahinter steht ein großes J. Hübinger (*)  Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_16

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weißes, rechteckiges Zelt, das an der Längsseite geöffnet ist. Hier, im Küchenzelt, wird bereits das Abendessen in großen Töpfen gekocht. Mitten auf dem Feld ist ein Schild zu sehen mit der Aufschrift: „Welcome! Just got here? Please visit the infotent“. Wer dieser Einladung folgt, kann im Zirkuszelt geschäftiges Treiben beobachten. In der Mitte erklären einige Personen, die schon länger auf dem Camp sind, den ­Neu-Angekommenen das Wichtigste, um sich zurecht finden zu können: wo die Bereiche für Schlafzelte und sanitäre Anlagen sind, dass sich alle in die Schichtpläne zum Putzen eintragen sollten und wie das Programm der kommenden Tage ablaufen wird. Nebenan befindet sich ein Zelt mit der Aufschrift „power to the people“ und aufgestellten Photovoltaikzellen davor, gefolgt von circa zwanzig mittelgroßen Zelten, in denen kleinere Gruppen sitzen und diskutieren. Am Ende des Platzes ist ein dumpfes Hämmern zu hören, hier werden gerade Komposttoiletten, Waschbecken und Duschen aufgebaut. Am Ende des weitläufigen Feldes führt ein kleiner Weg auf eine große Wiese mit einer Vielzahl kleiner bunter Campingzelte und irgendwo bellt ein Hund. „‚Klimacamp‘ in Erkelenz ist geöffnet – 6000 Teilnehmer [sic] werden erwartet“ titelt der Kölner Stadt-Anzeiger (o. N. 2017) und auch in weiteren Medienberichten (Kreutzfeld 2017; Schelter 2017) wird deutlich, warum die Teilnehmenden zum Camp gereist sind: In erster Linie der Protest gegen den Abbau von Braunkohle im Rheinischen Revier, aber auch Workshops und Diskussionsrunden, die praktische Erprobung von Alternativen in den Bereichen Energie, Mobilität und Technik sowie die Vernetzung verschiedener sozialer Bewegungen. Die oben beschriebene Szenerie wurde im Rheinland (KC2017a) beobachtet, sie könnte aber auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten stattgefunden haben. Beispielsweise bei Klimacamps in Frankreich, Österreich, den Niederladen, Schweden oder Tschechien (Hubbard 2017). Protest- und Aktionscamps lassen sich als Praktik sozialer Bewegungen verstehen. Sie eint der klimapolitische Hintergrund, auch wenn sie an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Anlässen stattfinden. Damit ist die gesellschaftlich wie politisch relevante Frage und Herausforderung verbunden, wie mit gegenwärtigen Veränderungen der Umwelt und des Klimas umgegangen werden könnte. Eine potentielle Antwort, dieser Herausforderung zu begegnen, wird mit dem Begriff der sozial-ökologischen Transformation immer wieder in die Diskussion eingebracht. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt aber oft unklar. Die Fragestellung meines Beitrags lautet daher: Welche Vorstellungen sozial-ökologischer Transformation finden sich in den Praktiken sozialer Bewegungen, hier am Beispiel des Klimacamps im Rheinland 2017, wieder?

Um Antworten auf die Fragestellung formulieren zu können, werden Materialien herangezogen, die größtenteils auf dem Klimacamp im Rheinland Ende August 2017 erhoben wurden. Als Datenerhebungsmethode wurde dafür die teilnehmende Beobachtung ausgewählt. Hinzu kommt die Analyse weiteren ergänzenden Materials, das im Laufe der Auswertung im Zuge eines theoretischen Samplings herangezogen wurde.

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Kap. 2 erläutert den Stand der Forschung hinsichtlich Transformationsforschung, Theorien sozialer Bewegungen, die Geschichte der Umwelt(gerechtigkeits)bewegung sowie die Klimagerechtigkeitsbewegung und Klimacamps. Die ontologischen und epistemologischen Prämissen, welche diesen Beitrag grundlegend prägen, werden in Kap. 3 beschrieben. Zusätzlich wird der Ablauf des Forschungsprozesses und die verwendete Methodik dargelegt. Im Anschluss werden in Kap. 4 die Ergebnisse dieses Prozesses präsentiert: Wie Klimacamps sich in Praxis und Theorie erklären lassen. Klimacamps erfüllen verschiedene Funktionen, die anhand zahlreicher Beispiele aufgezeigt werden. Danach werden verschiedene theoretische Ansätze vorgestellt, welche die Praxis konzeptionell erfassen. Die Selbstkritik der Akteur*innen sowie ein Blick auf mögliche Risiken der Praxis dürfen nicht fehlen. Zum Schluss werden die wichtigsten Aspekte des Beitrags zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen geworfen.

2 Stand der Forschung Inwiefern stellt der Transformationsdiskurs eine mögliche Antwort auf die ökologische Krise dar und welche Veröffentlichungen prägen den wissenschaftlichen Diskurs zum Thema? Zunächst wird ein kursorischer Überblick über Definitionen, Konzepte, Fragestellungen, Autor*innen und Veröffentlichungen zum Thema „sozial-ökologische Transformation“ gegeben. Anschließend werden grundlegende theoretische Konzepte für soziale Bewegung als kollektive politische Akteure skizziert. Die Geschichte der Umwelt(gerechtigkeits)bewegung wird erläutert und abschließend aktuelle Forschungen explizit zu Klimagerechtigkeit und Klimacamps vorgestellt.

2.1 Transformation: eine Antwort auf die ökologische Krise? Transformation wurde in den Politikwissenschaften bisher als analytischer Begriff für postsozialistischen Wandel seit den 1990er Jahren verwendet. Eng damit verbunden ist die Orientierung ehemals sozialistisch organisierter Staaten in Richtung Europa bzw. zum sogenannten Westen hin, also zu demokratischen und kapitalistischen Gesellschaftsund Wirtschaftsordnungen. Gegenwärtig bildet sich eine weitere Bedeutung des Begriffs heraus. Transformation und Transformationsforschung kann nun, weiter gefasst, verstanden werden als die Suche nach theoretischen und praktischen Antworten auf die Frage: „Wie kann grundlegender gesellschaftlicher Wandel im tradierten Entwicklungspfad und Herrschaftsmodell gelingen?“ (Brie et al. 2016, S. 3 f.). Ein interdisziplinäres Transformationsverständnis, das sich seit knapp 10 Jahren herausbildet, erweitert den Begriff um die Dimension des Ökologischen. Hinsichtlich des Status quo des „Erdsystems“ besteht in den wichtigsten, westlichen (natur-) wissenschaftlichen Think Tanks (IPCC 2014; Meadows et al. 1972; Meadows und Randers 2005; UNEP 2012;

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WBGU 2011) weitgehend Einigkeit. Der berühmte und vielfach zitierte Bericht an den Club of Rome Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) schlussfolgert, dass innerhalb der nächsten hundert Jahre, also bis 2070, die „absoluten Wachstumsgrenzen“ erreicht werden. Um das befürchtete Aussterben der Menschheit zu verhindern, ist es deshalb notwendig und möglich, einen Gleichgewichtszustand zwischen Ökologie und Wirtschaft herzustellen (Meadows et al. 1972, S. 17). Das 30-Jahr Update dieser Studie aus den 70er Jahren zeigt: was damals als business-as-usual-Pfad simuliert wurde, wird nun als overshoot-Szenario bezeichnet und deckt sich mit den empirischen Daten (Meadows und Randers 2005). Das bedeutet, die menschliche Nutzung bio-physischer Ressourcen geht weit über die ökologischen Kapazitäten des Planeten hinaus. Im Gegensatz zu einer Strategie der Ignoranz und Verdrängung der Forschungsergebnisse oder dem Ruf nach Selbstregulierung des Marktes sowie technologischen Lösungsansätzen plädieren die Autor*innen für den dritten Weg einer strukturellen Transformation: The third way to respond is to work on the underlying causes, to step back and acknowledge that the human socioeconomic system as currently structured is unmanageable, has overshot its limits, and is headed for collapse, and, therefore, seek to change the structure of the system. (Meadows und Randers 2005, S. 261)

Im Anschluss an diese Ergebnisse wurde daher versucht, die „absoluten Wachstumsgrenzen“1 in mess- und überprüfbaren Kennzahlen und Kriterien zu erfassen, um einen „sicheren Handlungsspielraum der Menschheit“ abzustecken. Diese „planetarischen Leitplanken“2 (Steffen et  al. 2011) sind in den drei Kategorien Klimawandel,

1Die

Rede von „absoluten Wachstumsgrenzen“ in Abhängigkeit von einer steigenden Weltbevölkerung korrespondiert mit der Theorie Thomas Malthus, rapides Bevölkerungswachstum sei die Ursache für eine krisenhafte Knappheit von Ressourcen (explizit der Lebensmittelproduktion) (Dryzek 2013, S. 28). Damit verbunden ist die Ansicht, die „Weltbevölkerung“ oder „Menschheit“ als aggregierte Entität ohne Handlungsfähigkeit zu verstehen (ebd., S 42). Die Metaphorik des Diskurses ist geprägt von einem negativen Menschen- und Weltbild, welches den Menschen als Krankheitsursache des Planeten versteht. Die Zukunftsvorstellung ist deshalb auf Krisen, Konflikte, Crashs und das Überschreiten von Grenzen ausgerichtet (ebd., S. 42 f.). Ziel der Überlegungen ist trotzdem, das Überleben der „Menschheit“ zu gewährleisten. Die damit verbundenen (bevölkerungs-) politischen Maßnahmen und das dahinter stehende Menschenbild sind aus humanitärer und emanzipatorischer Sicht kritisch zu sehen (ebd., S. 48 f.). Karen O’Brien betont: „This is significant in terms of responding to global environmental change, as humans not only are contributing to changes in the earth system, but they are also capable of recognizing, reflecting and consciously taking actions to influence future outcomes“ (Speth 2008 in O'Brien 2012, S. 670). Nichtsdestotrotz war die Studie The Limits to Growth ein wichtiger Meilenstein der Wachstumskritik. 2Das Konzept „planetarische Leitplanken“, „planetarische Grenzen“, planetary boundaries ermittelt kritische Schwellenwerte (sog. Kipppunkte) globaler Umweltveränderungen im Vergleich zu vorindustriellen Werten in neun Kategorien: atmosphärische CO2-Konzentration, Biodiversität, Stickstoff- und Phosphorkreislauf, Versauerung der Ozeane, Frischwassernutzung, Landnutzung durch Landwirtschaft, Luftverschmutzung sowie andere Formen chemischer Verschmutzung, bspw. durch Kunststoffe, Schwermetalle und radioaktive Materialien (Steffen et al. 2011).

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­ iodiversitätsverlust und Stickstoffkreislauf bereits überschritten. Werden diese kritischen B Schwellen erreicht und überschritten, dann ist sowohl die Funktionsfähigkeit als auch die relative Stabilität globaler Ökosysteme insgesamt gefährdet und unvorhersehbare Systemänderungen sind möglich. Im Konzept planetarischer Leitplanken sind sozial-ökonomische Prozesse jedoch tendenziell unterrepräsentiert. Die Art und Weise wie Gesellschaft(en) organisiert sind, wie das Zusammenspiel aus Wirtschaft, Gesetzen und Regulierungen, Werten und Normen sowie lokalem, regionalem, nationalem und supranationalem Natur- und Klimaschutz ineinandergreift, ist jedoch entscheidend dafür, wie und durch wen das interdependente Ökosystem „Planet Erde“ zukünftig beeinflusst werden wird. Neben den planetarischen Leitplanken, die auch als ökologische Grenzen der Ökonomie/des Wachstums bezeichnet werden, lassen sich auch soziale Grenzen der Ökonomie/des Wachstums festlegen. Kate Raworth (2017) entwickelt dazu das Modell der „Doughnut Economics“ und macht damit nicht nur auf den Meadow’schen Zustand des overshoot, sondern auch auf soziale Defizite in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Energie, Geschlechtergerechtigkeit, Bildung, politische Partizipation u. a. aufmerksam. Ökonomie sollte sich in diesem Modell stets zwischen einer Basis an sozialen Kriterien und einem Maximum an Nutzung des Ökosystems bewegen. Die Berichte über die Grenzen des Wachstums sowie das Konzept der planetarischen Leitplanken fokussieren darauf, die verschiedenen Dimensionen der ökologischen Krise zu untersuchen. Gleichzeitig ist die konstatierte ökologische Krise kein singuläres Phänomen, sondern eingebettet in eine, miteinander zusammenhängende und sich gegenseitig bedingende multiple Krise (Brand 2009). Das Konzept der multiplen Krise deutet die gegenwärtige Krisenhaftigkeit als „Resultat eines neoliberalen und imperialen Umbaus des Kapitalismus“ (Brand 2009, S. 5). Es nimmt die damit verbundenen Widersprüche und zunehmende Instabilität etablierter politischer Institutionen in den Blick und betont die Ungleichzeitigkeit der Einzelphänomene. Obwohl auf Grundlage dieser Studien die Notwendigkeit und die Dringlichkeit des Handlungsbedarfes anerkannt wird, existieren vielfältige konkurrierende Transformationsvorstellungen, -konzepte und -strategien. Transformation ist eine mögliche Strategie, Klimawandelauswirkungen zu begegnen und wird daher von O’Brien (2012) im Anschluss an aber auch in Abgrenzung von Mitigation3 und Adaptation4 konzeptualisiert. Einige Autor*innen definieren

3Mitigation

ist ein Konzept, welches Emissionen reduzieren möchte, um die Ursachen globaler Umweltveränderung zu unterbinden und dadurch die Konzentration klimaverändernder Gase in der Atmosphäre zu verringern (Woodward und Buckingham 2008, S. 201). 4Das Konzept der Klimawandel-Adaptation steht für Anpassungen in ökologischen, sozialen oder ökonomischen Systemen (Prozesse, Praktiken und Strukturen) als Antwort auf tatsächliche oder erwartete Klimaveränderungen und deren Auswirkungen (Smit et al. 2001, S. 879 in O’Brien 2012, S. 669).

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­ransformation als physische und/oder qualitative Veränderung der Form, Struktur T oder Bedeutung (Folke et al. 2010; Nelson et al. 2007; Pelling 2011 in O’Brien 2012, S. 670). Andere wiederum verstehen Transformation als psychosozialen Prozess und die menschliche Fähigkeit Wandel zu wollen, anzustoßen und zu bewirken (Sharma 2007 in O’Brien 2012, S. 670). Transformation wurde bisher in Forschung und Politik womöglich zu wenig beachtet, weil ein transformatives Konzept, im Gegensatz zu Mitigation und Adaptation, den Status quo in Frage stellt. Das gefährdet diejenigen, die vom gegenwärtigen System und seinen Strukturen profitieren. O’Brien (2012, S. 670) stellt daher fest: „Transformation means different things to different people or groups, and it is not always clear what exactly needs to be transformed and why, whose interest these transformations serve, and what will be the consequences.“

Weitere Begriffe, die für Transformationsprozesse verwendet werden, etwa Transition, Veränderung, Revolution, Wandel, Umbruch, Reform(ation), sind vielfältig und werden häufig synonym verwendet. Allerdings kann sich die Bedeutung von Begriffen je nach Verwendungskontext stark unterscheiden. Um einen vorläufigen Transformationsbegriff für diese Arbeit zu formulieren, hilft die etymologische Unterscheidung Ulrich Brands (2014, S. 249 f.) zwischen Transformation (lat. transformare = formen, gestalten, bilden) als normative Umgestaltung und Verwandlung von etwas und Transition (lat. transire =  (hin)übergehen, überqueren) als analytisch-deskriptiven Begriff für Prozesse des Wandels. Er weist nicht nur auf die begriffliche Ungenauigkeit in der deutschen Sprache hin, sondern auch auf Übersetzungsschwierigkeiten ins und aus dem Englischen, die viele Publikationen zum Thema kennzeichnet. Brand (2016, S. 23) warnt außerdem davor, den Begriff der Transformation als „neue kritische Orthodoxie“, d. h. als unangreifbare, normative Zielvorstellung, lediglich als rhetorische Strategie und möglicherweise gar als Nachfolgebegriff für Nachhaltigkeit5 zu verwenden. Ebenso ist Transformation nicht ausschließlich im Sinne der sich ohnehin vollziehende Veränderungs- oder Modernisierungsprozesse zu verstehen, sondern hat eine strategische

5Der

Begriff der Nachhaltigkeit ist umstritten. Die Nachhaltigkeitskonzeption der Vereinten Nationen WCED (1987) ist stark wachstumsfokussiert und verwendet einen schwachen Nachhaltigkeitsbegriff. Die beiden Ziele, Nachhaltigkeit und Entwicklung, implizieren drei wesentliche Annahmen: 1) Wachstum führe als Motor zu Entwicklung und Nachhaltigkeit, 2) eine Entkopplung der Ökonomie von der Ökologie sei möglich, und schließlich 3) die Ursache des Problems solle gleichzeitig die Lösung darstellen. Das Konzept nachhaltiger Entwicklung versucht die Quadratur des Kreises: grünes Wachstum soll die Lösung für das Problem ökologische Krise sein, welche, so die meisten Wachstumskritiker*innen, durch den Zwang zu wachsen verursacht wurde. Nicht zuletzt postulieren Wachstumskritiker*innen zurzeit: „the only sustainable growth is degrowth“ und diskutieren die Möglichkeit, die Abhängigkeit von Wachstum zu beenden (Kallis et al. 2012; Muraca 2015; Paech 2017).

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Komponente in sich (Brand und Wissen 2017, S. 39). Und auch Julia Wittmayer und Katharina Hölscher schlussfolgern, dass das Konzept der Transformation weiterer Klärung bedarf, um nicht seinen analytischen wie normativen Kern zu verlieren und für business-as-usual-Lösungen verwendet zu werden (2017, S. 91). Ich verstehe unter (sozial-ökologischer) Transformation im Anschluss an O’Brien (2012) eine strategische Forderung, die im gesamtgesellschaftlichen Umgang mit globalen Umweltveränderungen diskutiert wird. Die Forderung umfasst einen grundlegenden Systemwandel, der das Gesamte in den Blick nimmt und nicht an Symptomen, wie beispielsweise der ökologischen Krise, verhaftet bleibt. Diese Transformation umfasst Veränderungen des Energie- und Landnutzungssystems, des Finanzsystems und der Governancestrukturen, Macht- und Geschlechterverhältnisse, Produktions- und Konsummuster, Lebensstile sowie Wissenssysteme, Werte und Weltbilder (O’Brien 2012, S. 671). Der Zusatz „sozial-ökologisch“ verweist explizit auf die Interdependenzen sozialer und ökologischer Systeme. Transformation wendet das Bild hin zu einer stärkeren Verantwortlichkeit des Menschen für die Ursachen der Umweltveränderungen und damit auch der Möglichkeit, die bisherigen Pfade zu verlassen und Veränderungen anzustoßen. Die Forderungen nach Transformation können nicht nur als eine Antwort auf die Symptome einer ökologischen Krise verstanden werden. Vielmehr ist diese ökologische Krise, die in Die Grenzen des Wachstums und mit Hilfe planetarischer Leitplanken konzeptualisiert wird, lediglich eine Dimension der ökologischen wie sozioökonomischen, sprich: multiplen, Krise, welche mit Transformationsforschung wissenschaftlich begleitet wird. Forschung, die versucht Transformation(en) genauer zu verstehen, sucht also nach Antworten auf die folgenden Fragen: „What exactly do we mean by transformation? What types of transformations are considered necessary and why? Who decides? Can transformations be carried out in a deliberative, participatory manner that is both ethical and sustainable? How can it occur at a scale that will make a difference?“ (O’Brien 2012, S. 670)

Einige sozial- und politikwissenschaftliche Publikationen attestieren das Fehlen kritischer Transformationsforschung (Brand 2016; Brie 2014; Brie et al. 2016; O’Brien 2012, S. 668). Sie plädieren für eine andere theoretische Positionierung sowie für ein gesellschaftskritisches Transformationskonzept, das die eingreifende und gestaltende Praxis befördert. Als Parameter kritischer Transformationsforschung werden ein sozial-ökologisches Entwicklungsmodell, der Bruch mit dem Profitmotiv, das Aus­ loten einer Postwachstumsgesellschaft und ein neues gesellschaftliches Naturverhältnis genannt (Thomas 2016, S. 16). Die Forschungsperspektive ist dabei in die Zukunft gerichtet. Transformation wird hier als sich notwendigerweise vollziehender und deshalb zu gestaltender Übergang verstanden. Vor diesem Hintergrund orientiert sich mein Beitrag an den aufgeworfenen Fragen von O’Brien (2012, S. 670). Mich interessiert, welche Vorstellungen, Narrative und Beispiele für Transformationen in den zu untersuchenden

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Materialien auftauchen werden: Welche Transformation wird angestrebt und warum genau diese? Wie können Transformationen partizipativ und deliberativ, gerecht und nachhaltig gestaltet werden?

2.2 Forschungen zu sozialen Bewegungen „Was ist eigentlich eine soziale Bewegung?“ war eine der ersten Fragen, die ich mir zu Beginn der Forschungsreise stellen musste. Erste Antworten auf diese Frage finden sich bei verschiedenen Autor*innen, die sich im Feld der Forschung zu sozialen Bewegungen verorten lassen. Am häufigsten wird der Ansatz Donatella Della Portas und Mario Dianis (2009, S. 20 f.) herangezogen. Sie verstehen soziale Bewegungen als Prozesse, bei denen verschiedene Akteur*innen kollektiv handeln. Die gemeinsam Handelnden haben eine 1) kollektive Identität, sind 2) stark informell vernetzt und befinden sich in 3) konflikthaften Beziehungen mit klar identifizierbaren Gegner*innen. Dahingegen nennt Susan Buckingham (2008, S. 36), in Anlehnung an Manuell Castells, als Merkmale sozialer Bewegungen, dass diese 1) ihr jeweiliges Feld selbst definieren, 2) sie entweder konservative oder revolutionäre Werte vertreten können und 3) anhand ihrer Identität, ihren Antagonismen sowie Zielen und Visionen definiert werden können. Eine weiterer Definitionsversuch, nach Mark Herkenrath, versteht soziale Bewegungen als Netzwerke, „welche [1] sich selbst als Gruppe begreifen, [2] das Ziel verfolgen, grundlegenden sozialen Wandel zu bewirken, zu verhindern oder umzukehren und [3] deren Kollektiv eine geringe interne Rollenspezifikation aufweist“ (Herkenrath 2011, S. 25 in Sander 2017, S. 27). Alle drei Definitionen betonen die Identität als Gruppe oder Kollektiv als eines der wichtigsten Merkmale sozialer Bewegungen. Doch was bedeutet kollektive Identität genau? Am Beispiel der Umweltbewegung lässt sich sagen, dass die Idee einer schützenswerten Umwelt und bestimmte damit verbundene Praktiken und Symbole, zum Beispiel Fahrrad fahren und Jutebeutel, eine geteilte Vorstellung, ein Wir-Gefühl bilden. Außerdem sind informelle Vernetzung und flache Hierarchien kennzeichnend. Viele verschieden Verbände, Organisationen und Einzelpersonen setzen sich zum Teil vernetzt, zum Teil unabhängig voneinander für „die Umwelt“ ein. Della Porta und Diani (2009) legen besonderen Wert auf die Gegner*innenschaft sozialer Bewegungen. Wer sind die, oft stilisierten, Gegner*innen der Umweltbewegung? Das sind „die Umweltverschmutzer*innen“: beispielsweise Individuen, die zu viel fliegen und damit CO2 emittieren, Landwirt*innen, die Felder überdüngen und Firmen, die ihre Abwässer ungefiltert in Flüsse leiten. Buckingham (2008) hingegen unterstreicht nach Castells eher die Inhalte, Werte und Zielvorstellungen sozialer Bewegungen. Herkenrath (2011) nennt weiter das Ziel „grundlegender sozialer Wandel“ als ein wesentliches Merkmal sozialer Bewegungen. Dieser Aspekt wird auch von Heiko Beyer und Annette Schnabel (2017, S. 13–16) hervorgehoben. Der Ist-Zustand soll hin zu einer abstrakten Idee des Soll-Zustands verändert werden. Für Umweltbewegte steht fest: die Welt muss „grüner“

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werden, aber was „grüner“ genau bedeutet, bleibt oft unklar, weil die Frage, was als schützenswerte Natur6 gilt, definitorisch umstritten ist. Die Themenbereiche sozialer Bewegungen können stark variieren, im Folgenden wird deshalb die Entstehung der Umweltbewegung, die bisher nur als illustratives Beispiel herangezogen wurde und ihre Entwicklung hin zur Umweltgerechtigkeitsbewegung sowie der Übergang in den Klimadiskurs näher erläutert.

2.3 Die Entstehung der Umwelt(gerechtigkeits)bewegung Seit den 1980er Jahren werden die Frauen*7-, Umwelt-, Bürgerrechts- und Friedensbewegungen in der Bewegungsforschung als Neue Soziale Bewegungen bezeichnet. In Abgrenzung zur früheren Arbeiterbewegung sind diese nicht als per se revolutionär zu verstehen. Neue soziale Bewegungen zeichnen (sub)kulturelle Gegenentwürfe und leisten symbolischen Widerstand (Beyer und Schnabel 2017, S. 137 f.). Die Geschichte der Umweltbewegung(en) in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) lässt sich grob in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase beginnt im späten 19. Jahrhundert und ist dominiert von den beiden Themen „Naturschutz“ und „Gesundheit“. Einerseits soll dabei „traditionelles Naturerbe“ geschützt werden, in den USA entstehen dadurch die großen Nationalparks, welche oft mit Vertreibung indigener Gemeinschaften verbunden sind. Handlungsleitend für die Gründung der Nationalparks ist die Vorstellung, es gebe einen „ursprünglichen schützenswerten“ Zustand von Landschaften. Andererseits werden infolge der fortschreitenden Industrialisierung die damit

6Die

Überlegungen der Umweltethik bilden die Grundlage, um für Natur-, Umwelt- und Klimaschutz zu argumentieren, sowohl unter Rückbezug auf anthropozentrische als auch physiozentrische Begründungen. Anthropozentrische Konzeptionen stellen den Menschen in den Mittelpunkt der moralischen Betrachtung und messen „der Natur“ instrumentellen Wert bei, z. B. als Ressourcenquelle oder ästhetischer Erholungsraum. Physiozentrische Konzepte hingegen sprechen auch anderen Entitäten als Menschen, nämlich Tieren, Pflanzen oder Ökosystemen intrinsischen Wert zu und stellen diese ins Zentrum der ethischen Begründung (Krebs 1997, S. 345 f.). Anstatt zwischen instrumentellen und intrinsischen Werten zu unterscheiden, schlägt Barbara Muraca (2011) vor, umweltethischen Argumentationen eine relationale Ontologie zu Grunde zu legen, wobei die Verwobenheit menschlicher und nicht-menschlicher Welten keine Beziehung der Wahl, sondern eine faktische ist. Viele verschiedene Ethikkonzeptionen und Weltanschauungen, beispielsweise klassisch aristotelische, indigene, feministische oder religiöse, basieren auf der Prämisse, dass die Beziehungshaftigkeit wesentlich für die moralische Signifikanz von Entitäten und letztlich auch für eine Konzeption guten Lebens ist (Chan et al. 2016, S. 1463). Das gute Leben umfasst dabei Menschen, Tiere, Pflanzen sowie insbesondere auch Dinge und ist Ausdruck einer Ethik des Gemeinsamen, welche über eine instrumentelle Zweck-Mittel-Relation hinaus geht (Baier et al. 2016, S. 36). 7Das Gendersternchen * hinter dem Begriff „Frauen“ markiert die diskursive Produktion der sozialen Kategorie „Frau“ und repräsentiert zusätzlich nicht-binäre Geschlechtsidentitäten.

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verbundenen Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter*innen und Anwohner*innen thematisiert (Buckingham 2008, S. 37). Eine zweite Phase ist seit den 1950/60er Jahren durch einen Anstieg umweltbezogener Gruppen gekennzeichnet. Organisationen wie beispielsweise Greenpeace, World Wide Fund for Nature und Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland werden gegründet und können viele Anhänger*innen mobilisieren. In den sogenannten Industrieländern wird, in Zeiten relativer materieller Sicherheit und steigenden Wohlstands, die damit einhergehende Umweltzerstörung zu einem besorgniserregenden Thema. Insbesondere die Verschmutzung von Wasser und Luft als transnationale Phänomene, sowie Tierrechte und Kernenergie beunruhigen viele Menschen (Buckingham 2008, S. 38 f.). Die Aktivitäten der Umweltschutzbewegungen nehmen weltweit betrachtet in den folgenden Jahrzehnten zu. Gleichzeitig wird die Thematik aber auch immer komplexer. Das führt zu Fragmentierung und Differenzierung innerhalb der Bewegung, wenn verschieden Ziele, beispielsweise der Tierschutz in Fließgewässern und der Bau von Wasserkraftwerken zugunsten des Klimaschutzes in Konflikt zueinanderstehen (Buckingham 2008, S. 41). Seit Ende der 1980er Jahre entsteht in den USA, als Reaktion auf hierarchische Organisationsformen und der Unterrepräsentation von Frauen*, Schwarzen8 Menschen und ethnischen Minderheiten, das Women’s Environmental Network sowie das Black Environmental Network. Die Idee der Umweltgerechtigkeit erweitert die Vorstellung der westlichen, weißen, ­Mittelklasse-Umweltschutzbewegung, die in Bezug auf die Verteilung negativer Umweltauswirkungen von einer not-in-my-backyard Mentalität geprägt ist und deren Handeln auf den Erhalt einer „sauberen“ Umwelt ausgerichtet ist (Buckingham 2008, 42 f.; Dryzek 2013, 213 f.). Geht man jedoch nicht von einer per se schützenswerten Natur aus, sondern vergleicht die Auswirkungen von Umweltverschmutzung auf unterschiedliche lokale Bevölkerungsgruppen, dann zeigt sich, dass manche Menschen und Gemeinden disproportional unter giftigen Abfällen und anderen Verschmutzungen in Umweltmedien leiden, weil sie „arm“, „Schwarz“ oder „indigen“ sind. Die Umweltgerechtigkeitsbewegung steht also für eine not-in-anybody’s-backyard Mentalität (Buckingham 2008, S. 45; Müller 2017, S. 225). Nicht nur in den USA und in Europa organisieren sich Menschen in Umweltbewegungen. Die Chipko-Bewegung in den 1970er  Jahren in Indien, die ­Green-Belt-Bewegung in Kenia seit 1977 und das Netzwerk La Via Campesina, welches weltweit für die Landrechte und Anliegen kleinbäuerlicher Lebensmittelproduktion kämpft, stehen nur exemplarisch für die vielfältigen Protest- und Bewegungsformen in Asien, Afrika und Südamerika. Charakteristisch ist, dass die Aktionen und Proteste

8Der

Begriff Schwarz (oder People of Color) wird bewusst groß geschrieben und ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen gemacht haben. Ebenso wird der Begriff weiß bewusst kursiv gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei um eine sozial konstruierte Kategorie handelt (Ogette 2018, S. 14 f., 76 f.).

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dieser Bewegungen durch die Bedrohung der unmittelbaren, materiellen Lebensgrundlage motiviert sind und nicht die Idee einer an-sich-schützenswerten Natur vertreten (Dryzek 2013, S. 216; Martinez-Alier et al. 2014, S. 24 f.). Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Entstehungsgeschichte der Umweltbewegung sagen, dass nur schwer von der einen Umweltbewegung gesprochen werden kann. Kennzeichnend für die verschiedenen Bewegungen im Umweltkontext ist vielmehr, dass sich die Bewegungen einerseits entlang spezifischer Themen, beispielsweise Anti-Atom oder Tierschutz, fragmentieren. Andererseits finden sich auch Schnittmengen, es bilden sich Netzwerke zu übergreifenden Themen. Der Vernetzungsprozess und der gegenseitige Austausch wird unter anderem durch die Sichtbarkeit der verschiedenen Einzelproteste in den Medien und durch das Internet begünstigt.

2.4  Camp for Climate Action – Klimacamps und Klimagerechtigkeitsbewegung Während bislang von der Umwelt(gerechtigkeits-)bewegung die Rede war, wende ich mich nun der Klimagerechtigkeitsbewegung und Klimacamps als Aktionsform der Bewegung zu. Der Themenkomplex rund um Klimawandel, Klimaschutz und Klimagerechtigkeit lässt sich sowohl als Subdiskurs oder Fragment des Umweltdiskurses wie auch als Weiterentwicklung bzw. Fokussierung charakterisieren (Dryzek 2013, S. 9). Während Umweltthemen häufig in lokalen, regionalen oder nationalen Kontexten verbleiben, ist Klima ein genuin globales Thema. Über wirksame Klimaschutzmaßnahmen lässt sich trefflich streiten und viele Maßnahmen stehen unmittelbar mit anderen Umweltschutzmaßnahmen in Konflikt. Soll beispielsweise mehr erneuerbare Energie durch Windkraft produziert werden, dann verändern sich zwangsläufig bislang gewohnte Landschaftsbilder, weil Windräder aufgestellt werden müssen. Die Ursachen für den anthropogenen Klimawandel sind ungleich verteilt und die Auswirkungen treffen nicht alle Menschen gleichermaßen (Leichenko und O’Brien 2008, S. 4). Geographisch wie sozio-ökonomisch bestehen große Differenzen hinsichtlich der Menge emittierter klimaschädlicher Gase und der Vulnerabilität9 durch Klimawandelauswirkungen, beispielhaft dafür stehen pazifische Inselstaaten oder Bangladesch (Dryzek 2013, S. 215). Diese ungleiche und als ungerecht empfundene Situation, motiviert viele Menschen in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv zu werden und als Aktionsform dafür an Klimacamps teilzunehmen. Dabei geht es weniger darum, negative Auswirkungen gleicher zu verteilen, sondern vielmehr die „gesellschaftlichen Grundstrukturen“ zu

9Das

Konzept der Vulnerabilität erklärt wie und warum einige Gruppen von negativen Auswirkungen globaler Umweltveränderungen stärker betroffen sind, als andere. Vulnerabilität ist eng mit dem Konzept der Resilienz (der Fähigkeit eines Systems, auf plötzliche äußere Einflüsse und langfristige Veränderungen zu reagieren) verknüpft (Leichenko und O’Brien 2008, S. 31).

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v­ erändern und dadurch die Entstehung negativer Auswirkungen stark zu verringern oder ganz zu vermeiden (Müller 2017, S. 225–228). Im Folgenden werden jüngste Forschungsberichte zur Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland vorgestellt. Außerdem erkläre ich, was Klimacamps genau sind, und wo bzw. wann diese als Aktionsform verwendet werden. Einige Autor*innen forschen zu Klimacamps und (allgemeiner) Protestcamps und erarbeiten Konzepte der theoretischen Verortung in Konzeptionen des Politischen. Henrik Sander (2016, 2017) untersucht im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Klimagerechtigkeitsbewegung und Anti-Kohle Proteste in Deutschland. Sander analysiert anhand von Strategiepapieren, themenrelevanten Zeitschriftenartikeln und Expert*inneninterviews nicht nur die Entstehungsbedingungen der Bewegung, sondern auch die Wirkung der Kampagne Ende Gelände10. Die Bewegung wurde mithilfe des collective identity-Ansatzes11 und des Framing-Ansatzes12 analysiert. Sander (2017) zeigt, dass das Framing des Themas Braunkohleverstromung als existentielles Problem und insbesondere die Perspektive globaler Ungerechtigkeit, die Forderung nach einem sofortigen Kohleausstieg legitimiert. Außerdem steigert das Ideal einer klimagerechten Gesellschaft die Attraktivität der Bewegung für junge, ökologisch orientierte, bewegungsaffine Menschen. Sie können sich mit dem Wir-Gefühl, der geteilten Gegner*innenschaft sowie den kulturellen Symbolen in Gesängen und Kleidung identifizieren. Klimacamps, die im Rheinland seit 2010 durchgeführt werden und seit 2016 auch in der Lausitz jeweils mehrere tausend Menschen anziehen, dienen dabei als Orte der Vernetzung und des Zusammenlebens (Sander 2017, S. 30). Klimacamps unterscheiden sich von anderen Formen politischer Versammlungen und Aktionen, weil sie soziale Räume schaffen und diese temporär aufrechterhalten. Das erfordert auch den Aufbau von, meist do-it-yourself-Sanitäranlagen, Gemeinschaftsküchen, Möglichkeiten der (politischen) (Selbst-)Bildung, Energieversorgung, kulturellen Festen und Darbietungen, wie auch die mediale, juristische und medizinische Begleitung der Proteste (Feigenbaum et al. 2013, S. 1–40). In der britischen Klimabewegung wurden Camps hauptsächlich zwischen 2006 und 2011 als Aktionsform und Taktik verwendet. Je nach Perspektive und Kontext können diese Camps als Teil der Umweltbewegung, in Bewegungen gegen Landnahme oder im antikapitalistischen Kontext verortet werden. Dabei stehen jedoch die Ziele direkte Aktionen ­(high-impact-activism) durchzuführen, das Praktizieren sogenannten low-impact-livings

10Das

Bündnis Ende Gelände führt seit 2015 öffentlichkeitswirksame Aktionen zivilen Ungehorsams gegen Braunkohleinfrastruktur im Rheinland und in der Lausitz durch. 11Der collective identity-Ansatz untersucht, welche kollektive(n) Identität(en) von der Bewegung konstruiert werden (vgl. Abschn. 2.2). 12Der Framing-Ansatz untersucht, wie soziale Bewegungen Themen, auf die sie sich beziehen, auf eine spezifische Art deuten und ihnen damit einen Rahmen geben. Dieser wird dann medial möglichst schlüssig und einfach kommuniziert (Sander 2017, S. 33).

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und das voneinander Lernen im Vordergrund (Russell et al. 2017, S. 150). Nach Bertie Russell et al. (2017) ist ein wichtiger Aspekt dieser Camps direkte Aktionen durchzuführen. Diese Aktionen richten sich gegen die Infrastruktur der Kohleindustrie. Die Aktivist*innen blockieren Zufahrtsstraßen und -schienen, besetzen Braunkohlebagger in Tagebauen und erzeugen damit große mediale Aufmerksamkeit (Sander 2017, S. 26). Sander bezeichnet die Klimacamps im Rheinland und in der Lausitz als „großen Erfolg“ (ebd., S. 30). Ein weiterer Aspekt ist das sogenannte low-impact living: vegane Ernährung ist emissionsärmer, Komposttoiletten verbrauchen weniger Wasser und Strom gibt es nur, wenn die Sonne scheint bzw. der Wind weht. Auf Klimacamps wird das „Ideal einer klimagerechten Gesellschaft […] für eine begrenzte Zeit und an einem Ort bereits im Hier und Jetzt antizipier[t].“ (ebd., S. 33). Abschließend lässt sich sagen, dass sich Klimacamps als Aktionsform der Klimagerechtigkeitsbewegung aus vielen verschiedenen Perspektiven untersuchen lassen. Zum einen die Rolle von Camps als Orte, um praktische Alternativen im Hier und Jetzt auszuprobieren. Zum anderen wie Camps als notwendige Infrastruktur für Proteste im ländlichen Raum dienen. Und nicht zuletzt ihre Funktion als Möglichkeit zu Austausch, Vernetzung und (Selbst)Bildung innerhalb der Bewegungen.

3 Methodologische Fundierung Das Nachdenken über Fragen einer sozial-ökologischen Transformation, schließt auch Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch/Gesellschaft zu Natur beziehungsweise Natur zu Mensch/Gesellschaft ein. Aus der dualistischen Auffassung, Kultur als das Andere von Natur zu verstehen, lässt sich die Zuschreibung ableiten, die Ontologie(n) des Sozialen sowie des Politischen als etwas genuin Menschliches zu verstehen. Es stellt sich jedoch zusätzlich die Frage nach einer Ontologie des ­Nicht-menschlichen und des Verhältnisses zum Nicht-menschlichen, wenn das Naturverhältnis nicht unterbestimmt bleiben soll. Anschließend erläutere ich die Grundlagen meines Verständnisses von Wissen und Wissenschaft und skizziere den Ablauf meines Forschungsprozesses.

3.1 Natur als sozial konstruierte, diskursiv vermittelte, politische Ökologie Ich gehe davon aus, dass die Art und Weise, wie Menschen in Gesellschaften über Natur denken und sprechen konstitutiv dafür ist, was als Natur verstanden wird und wie Individuen und Kollektive in Bezug auf Natur handeln. Im beginnenden 21. Jahrhundert stehen eine Vielzahl von Schlagworten, beispielsweise Umwelt, Wildnis, Gen(e), Biologie, race, sex, Biodiversität, Tier(e), Leben, Intelligenz, Instinkt, Realität, Klima(wandel) und Ökosystem, repräsentativ für den Begriff „Natur“ (Castree 2014, S. 18).

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Natur wird als Schlüsselbegriff für die 1) externe, nicht-menschliche Welt, aber auch 2) universelle, gesamte physische Welt, die auch den Menschen einschließt sowie 3) intrinsisches Merkmal, im Sinne einer essenziellen Qualität und definierenden Eigenschaft und zuletzt 4) übergeordnete Kraft und Macht, die auf und in den meisten oder allen lebenden Dingen wirkt, verwendet (Castree 2014, S. 8–11). Natur steht damit im Common Sense für eine extrem realistische Position auf der Achse ontologischer Bestimmungen. Seit dem linguistic turn in Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik ist die Annahme vorherrschend, dass sich die Bedeutung eines Begriffs (hier: „Natur“) nicht aus einer eigentlichen Bedeutung oder der Referenz auf das „Ding-an-sich“ ableitet, sondern aus den Relationen der Bedeutungen zueinander (Hall 1994, S. 140). Sprache strukturiert als Begriffssystem menschliches Wissen und definiert soziale Realität. Was Natur ist, wird also im sprachlichen Austausch über Welt repräsentiert und damit sozial konstruiert. Es gibt keinen a-sozialen Referenzpunkt, um über die „wahre Natur“, die Ontologie der Natur zu sprechen. Dabei soll die Existenz von Natur als begrenzte bio-physische Welt und die damit verbundene Vulnerabilität menschlicher (wie ­nicht-menschlicher) Körper jedoch nicht geleugnet werden. Die ontologische Frage nach der Existenz materieller Natur13, dem „was“, tritt für diesen Beitrag in den Hintergrund. Stattdessen wird das „wie“ des Mensch-Natur-Verhältnisses erkundet. Wie sich die Begriffe, mit denen wir über Natur sprechen, verändern und wie dadurch Themen und Probleme interpretiert, diskutiert und analysiert werden, lässt sich historisch und kontextuell nachvollziehen (Böhme 1997). Die meisten Begriffe, zum Beispiel Umwelt, Biodiversität und Klimawandel sind, im Verhältnis einerseits zur Erdgeschichte und andererseits in der ­ westlich-europäischen Kulturgeschichte, sehr junge Konzeptionen. Die Kommunikation über „die Natur“, in Schulen und Universitäten, in Unternehmen und Parlamenten, in Medien und im Internet ist eine diskursive Vermittlung. Sie ist ausschlaggebend dafür, als was wir „Natur“ verstehen. Politische Ökologie (PÖ) erforscht als interdisziplinäres Feld das Mensch-Natur-­ Verhältnis unter Berücksichtigung politisch-ökonomischer Zusammenhänge (vgl. Blaikie und Brookfield 1987; Greenberg und Park 1994; Robbins 2012). Lokale, regionale und globale Umweltveränderungen werden in der Politischen Ökologie als Ergebnis umkämpften Wissens, Macht und gesellschaftlicher Praxis verstanden (Robbins 2012, S. 21–23). Der größere politisch-ökonomische Kontext und die damit verbundenen (supra)nationalen Entscheidungen wirken sich auf den Zugang zu und die Kontrolle über Naturräumen aus. Die Überlegungen der PÖ münden daher letztlich in der Frage nach

13Unter dem Schlagwort Neuer Materialismus wird gegenwärtig diskutiert, wie sich sozio-ökonomische Systeme und deren Auswirkungen in ihrem Wechselverhältnis zu materiellen Objekten und Dingen ko-konstituieren. Bio-physischen Prozessen und materiellen Gegebenheiten wird in diesen Konzepten Handlungsfähigkeit zugeschrieben (Robbins 2012, S. 83; kritisch: Folkers 2013).

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einer Demokratisierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Darunter versteht Daniela Gottschlich (2017, S. 195) die „Politisierung von Themen und Praktiken“, welche das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur bestimmen. Notwendigerweise müssen dafür sowohl die problematischen Ursachen und sozial-ökologischen Herausforderungen analysiert, als auch die Alternativen imaginiert werden, wie Robbins zusammenfasst: „As a result, political ecology presents a Jekyll and Hyde persona, attempting to do two things at once: critically explaining what is wrong with dominant accounts of environmental change, while at the same time exploring alternatives, adaptations, and creative human action in the face of mismanagement and exploitation: offering both a “hatchet” to take apart flawed, dangerous, and politically problematic accounts, and a “seed,” to grow into new socio-ecologies.“ (Robbins 2012, S. 54)

Eine politisch ökologische Forschungspraxis ermöglicht die Kooperation mit sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen sowie Graswurzelbewegungen und unterstützt dadurch die Suche nach Alternativen zum Konzept nachhaltiger Entwicklung14. Forscher*innen finden sich dabei in einer komplexen, multiplen Identität zwischen Innen und Außen wieder, in der Rolle des konstruktiv-kritischen Beobachtens, Analysierens, des Verteidigens und Fürsprechens (Rocheleau 2008, S. 721).

3.2 Wissen ist situiert, partial und selektiv Die Unterscheidung in ontologische und epistemologische Prämissen suggeriert, dass Wirklichkeit und Realität sowie die Erkennbarkeit und das Wissen darüber zwei getrennte Bereiche sind. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Annahmen von Wirklichkeit(en) und das, was als real anerkannt wird, sehr stark durch das erlangte/ erlernte Wissen darüber geprägt sind. Wissen wirkt sich wiederum darauf aus, welche Wirklichkeit(en) beobachtet, beschrieben und mit Erklärungen versehen werden können. Ontologie und Epistemologie sind also miteinander verwoben; ontologische Prämissen enthalten immer auch epistemologische Annahmen und vice versa. Nichtsdestotrotz ist die begriffliche Differenzierung hilfreich, um strukturierte und systematisierte Aussagen über Ontologie und Epistemologie treffen zu können. Epistemologie kann definiert werden als das Gedankensystem, welches die Frage nach den Voraussetzungen für das Zustandekommen von Wissen stellt (welche Zugänge haben wir zu der in der Ontologie beschriebenen Realität und welche Voraussetzungen und Grenzen unterliegt Erkenntnis?). Ferner als System, das Fakten von Glauben und Meinung unterscheidet, sowie als das System, welches strukturiert, was Wissen und Erkenntnisse sind und wie zu geteiltem Wissen beigetragen werden kann (Ackerly und True 2010, S. 24). Wissen gilt meist als die Gesamtheit des Gewussten und der Kenntnisse. Wissen und (Er)Kenntnisse können

14Zur

Kritik des Konzeptes nachhaltige Entwicklung vgl. Fußnote 5.

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erlernt, gelehrt, angeeignet und weitergegeben sowie erfahren und erinnert werden (DWDS 2017). Wissenschaft15 ist, wenn dieser Prozess formalisiert und organisiert wird und sich verschiedene Einzelansichten zu einem kollektiven, geteilten Wissenssystem zusammenfügen. Wahrheit kann als eine Aussage definiert werden, die mit allen anderen Aussagen innerhalb des Systems kohärent ist, diesen also nicht widerspricht. Daraus folgt aber auch, dass Wahrheit stets vorläufig und im Zweifelsfall korrigierbar ist. Eine Aussage kann auch von allen Teilnehmer*innen eines herrschaftsfrei imaginierten Diskurses als wahr und damit als Konsens akzeptiert werden (Singer 2005, S. 69). Einige Epistemologien sind privilegierter als andere, daher ist es wichtig, die eigene epistemologische Perspektive zu reflektieren. Beispielsweise brauchen statistische Daten weniger Rechtfertigung, um im Argumentationsprozess anerkannt zu werden, als ein illustratives Beispiel (Ackerly und True 2010, S. 24). Die Wahl der erkenntnistheoretischen Annahmen sowie die eigenen Glaubenssätze und Wertvorstellungen sind auch davon abhängig, welche Position Forschende16 in einer globalisierten Welt haben, wie sie in sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen verortet sind (Ackerly und True 2010, S. 36). Situiertes Wissen betont die Bedeutung des Ortes und Körpers des*r Forschers*in, des „erkennenden Selbst“ (Haraway 1995 [1988], S. 85) bei der Erzeugung von Wissen. Die Metapher des Fotografierens zeigt, dass die entstandenen Bilder kein umfassendes, vollständiges Bild von Wirklichkeit zeigen können – Wissen ist stets partial und selektiv. Welche Fotografie entsteht, ist abhängig vom Standpunkt der Kamera und der Richtung des Blicks, mit der das Bild aufgenommen wird. Je nachdem, welche Brennweite das verwendete Objektiv hat, fällt der Blickwinkel der Betrachtung größer oder kleiner aus. Ein Großteil dessen, was die aufgenommene Situation potenziell beeinflussen könnte,

15Wissenschaft

und die damit verbundene universitäre Lehre ist nach wie vor stark disziplinär organisiert, ­ sozial-ökologische Transformation jedoch ein interdisziplinäres Thema: nur das Zusammenspiel aus Gesellschafts-, Geistes- und Naturwissenschaften ermöglicht, verschiedene Aspekte zu beleuchten und ein umfassendes Bild zu zeichnen. Mit der vorherrschenden Disziplinarität sind hohe Hürden verbunden, die nur mühsam zu überwinden sind. Wie also lässt sich Interdisziplinarität erreichen? Wird diese durch einen möglichst guten Austausch von spezialisierten Expert*innen aus Einzeldisziplinen ermöglicht oder braucht es die Fähigkeit von Einzelnen, möglichst verschiedene Perspektiven einnehmen zu können? Haraway würde auf diese Überlegungen mit: „wir sind immer mittendrin“ (1995) antworten und dazu ermutigen sich nicht von disziplinären Grenzen abschrecken zu lassen, sondern sich mit genau diese n Differenzen auseinanderzusetzen. 16Als junge, weiße, in Deutschland aufgewachsene und ausgebildete Person, befinde ich mich in einer äußerst privilegierten Situation. Gleichzeitig ist mein Blick auf Welt westlich geprägt und meine Lebensweise notwendigerweise „imperial“. Die Wohlstands- und Konsumgesellschaften des sogenannten Globalen Nordens sind darauf angewiesen, sich ökologische Ressourcen, d. h. Rohstoffe und Naturraum sowie soziale Ressourcen, d. h. Arbeitskraft, des sogenannten Globalen Südens anzueignen (Brand und Wissen 2017). Die Reflektion dieser Bedingungen motiviert mich unter anderem, meine Forschung an den Grenzen zwischen Akademie und Aktivismus anzusetzen.

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liegt jedoch immer außerhalb des Betrachtungsrahmes. Das Konzept des situierten Wissens impliziert, das epistemologische Verständnis von Wahrheit im Sinne einer „einzigen Wahrheit“ kritisch zu hinterfragen. Gemeinhin gilt, sogenannte Tatsachen könnten helfen, wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden. Das Problem liegt aber darin, dass soziale, politische und moralische Aussagen oft nicht in den Kategorien wahr oder falsch gefasst werden können. Stattdessen sind Tatsachen und Fakten als Wissensobjekte ein Ergebnis wissenschaftlicher Aushandlung und Konstruktion. Dabei gelten in der Wissenschaft ausreichende Plausibilität, Kohärenz und Konsens als Merkmale und Qualitätskriterien für die „Wahrheit“ einer Aussage (Singer 2005, S. 69, 99). Der geteilte Glaube an die Wahrheit einer Aussage und das Handeln im Sinne dieser angenommenen Wahrheit führt zu realen Konsequenzen und damit zu sozialen Tatsachen. Bezüglich des Themas des Beitrags lässt sich abschließend feststellen, dass die verschiedenen Entwürfe einer sozial-ökologischen Transformation im Moment als marginaler Diskurs verstanden werden müssen. Den hegemonialen Gegenpart dazu bildet der Nachhaltigkeitsdiskurs. Innerhalb des (wissenschaftlichen) Diskurses gibt es nur einen begrenzten Rahmen, über Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsorganisation nachzudenken. Klimacamps, verstanden als gesellschaftliche Räume, in denen kollektive Aushandlungsprozesse angestoßen und hegemoniale Deutungen infrage gestellt werden, versuchen also, die definitorische Macht neu zu verhandeln und Diskurse zu verschieben.

3.3 Forschungsprozess und Methodik Als Untersuchungsgegenstand für diesen Beitrag wurden Klimacamps als Aktionsform sozialer Bewegungen ausgewählt17. Einige Quellen konstatieren das Entstehen, Weiterentwickeln und Wachsen verschiedener Bewegungen im Themenspektrum Klima(gerechtigkeit) und Postwachstum bzw. Degrowth (Burkhart et al. 2017; Eversberg und Schmelzer 2016). Seit 2010 werden im Rheinland Klimacamps durchgeführt. 2015 findet erstmals die D ­ egrowth-Sommerschule auf dem Klimacamp im Rheinland statt, in den Jahren darauf steigt die Anzahl der Klimacamps in ganz Europa stetig an (Hubbard 2017). Diese Entwicklung spricht dafür, Klimacamps nicht nur als Orte des Widerstandes und des Protestes zu untersuchen. Sondern die Konzeption der Untersuchung auch auf die Aspekte des Ausprobierens und Erfahrens alternativer Lebensformen auszuweiten. Zusätzlich Austausch und Vernetzung innerhalb und zwischen verschiedenen Bewegungskontexten zu untersuchen. Und zuletzt die Möglichkeiten und Grenzen, die angestrebte Utopie temporär

17Diese

spezifische Auswahl schließt andere Akteure innerhalb des Transformationsdiskurses, beispielsweise transnationale Organisationen, nationale Regierungen oder Unternehmen, von der Betrachtung aus.

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konkret(er)18 werden zu lassen zu beleuchten. Damit die diesem Beitrag zugrunde liegende Untersuchung im Rahmen einer Masterarbeit machbar blieb, wurde das Klimacamp im Rheinland 2017, das gleichzeitig auch Ort für die Degrowth-Sommerschule und das Connecting Movements Camp war, als beispielhaftes Camp ausgewählt. Bereits ein einziges Camp bietet die Möglichkeit, eine Vielzahl von Beobachtungen zu machen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und weiteres schriftliches Material zu finden, das analysiert werden könnte. Theoretisches Sampling im Sinne der Grounded Theory Methode ist nicht-repräsentatives Sampling, also eine explorative Strategie, die das Ziel verfolgt, im iterativen Forschungsprozess neue und interessante Datenquellen aufzuspüren (Clarke 2012, S. 33). Hinzu kommt, dass die Camps selbst relevante Daten produzieren, die ich, unter Rückbezug auf die pragamtistische Maxime19 (Roos 2013, S. 315, 323) und frei nach dem Motto: „all is data“ (Bryant 2009, S. 13), für meine Analyse nutzen kann. Zum Beispiel in Form von Selbstdarstellungen auf Homepages, in digitalen sozialen Netzwerken und in den Medien. In der Vorbereitungsphase, vor dem Klimacamp, überlegte ich mir daher folgendes Vorgehen für den Feldaufenthalt: Die noch offen formulierte Ausgangsfragestellung und das geplante Forschungsvorhaben legt eine Beobachtung nahe. Ich wurde also von einer bloßen Teilnehmerin zur Beobachterin des Geschehens mit „expliziter Aufmerksamkeit“ und einem „breiten Blick“ (Cohn 2014, S. 75)20. Der*die Forscher*in hat die

18Barbara

Muraca (2015) versteht Postwachstumskonzeptionen, unter Rückgriff auf die Vorarbeit Ernst Blochs, als konkrete Utopien. Der Utopiebegriff wird hier nicht wie im alltäglichen Sprachgebrauch als etwas Unerreichbares verstanden, sondern als ein Ort des Zukünftigen, des Visionären und Fantastischen. Die Utopie als Nicht-Ort wird hier zum Prozess des Noch-Nicht-Gewordenen, wobei sich die Visionen, Wünsche und Wertvorstellungen der konkreten Utopie aus den sozialen Widersprüchen des Gegenwärtigen ergeben. Die Idee der konkreten Utopie korrespondiert mit dem Konzept präfigurativer Politik in dem Sinne, dass die möglichen Veränderungen antizipiert und als praktisch-positive Alternativen, beispielsweise Klimacamps, aber auch solidarische Landwirtschaften, Reparaturwerkstätten oder Regionalwährungsprojekte umgesetzt werden. 19Die pragmatistische Maxime nach Charles S. Peirce besagt, dass die Bedeutung eines Begriffs anhand der (zugeschriebenen) Wirkungen und praktischen Bezügen des Begriffs gefasst werden kann. Die Bedeutung des Begriffs umfasst dabei die gesamte Konzeption der Wirkungen und Bezüge (Roos 2013, S. 315 f.). 20Viele ethnografische Arbeiten wurden durchgeführt, um „fremde“ Lebenswelten besser zu verstehen. Dabei einen Unterschied zwischen der eigenen und der „fremden“ Lebenswelt oder Kultur zu konstatieren, führt dazu, eine Differenz zwischen sich und den Anderen, dem Fremden und Exotischen, zu konstruieren (Hall 1994, S. 137, 150). Daraus ergibt sich für die Darstellung ethnografischer Forschungen jedoch ein Perspektivenproblem: wer hat die Definitionsmacht darüber, was als Eigenes und Fremdes, was als Hauptkultur und was als Subkultur gilt? Liegt die Deutungshoheit bei der zu untersuchenden Praxis oder den Forschenden? Ich verstehe Forschung deshalb nicht als „forschen über“ das Feld, sondern als „forschen im“ oder „forschen mit“ dem Feld, wenngleich letzten Endes die Deutungshoheit und Definitionsmacht bei den Forschenden liegt.

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Aufgabe, Beobachtungen in Form von Feldnotizen zu protokollieren und sich dabei zu reflektieren. Herausfordernd war hier nicht nur die Auswahl solcher Ausschnitte des Camps, die voraussichtlich relevante und spannende Daten im Sinne der Fragestellung liefern würden. Sondern auch, als Forscherin eben kein „körperlos-vergeistigte[s] epistemologische[s] Subjekt“ (Breuer und Muckel 2016, S. 69 f.) zu sein, sondern eine lebensweltliche Person, die sich im Forschungsprozess in individuellen emotionalen und persönlich-biographischen wie auch strukturellen, sozialen und institutionellen Rahmen bewegt. Um die Auswahlstrategie des Materials zu systematisieren wurde in Anlehnung an das Kodierparadigma (Strauss und Corbin 1996; Roos 2013; Strübing 2014) eine Heuristik entwickelt. Die so nach und nach ausgewählten Daten analysiere und interpretiere ich mit Hilfe der Prinzipien des Theoretischen Samplings, des Kodierens und Kategorisierens. Während der Analyse wurde das weitere Vorgehen stets schriftlich festgehalten, Hypothesen gebildet und die Fragestellung weiterentwickelt sowie um Unterfragen ergänzt (Bischoff et al. 2014, S. 32 ff.). Einerseits wird der Forschungsprozess dadurch intersubjektiv nachvollziehbar, andererseits werden die Forschungsergebnisse (vor-)strukturiert und für eine übersichtliche Darstellung vorbereitet.

4 Forschungsergebnisse: Klimacamps in Praxis und Theorie Nimmt man die Argumentationen und Narrative der drei sozialen Bewegungen Degrowth, Klimagerechtigkeit und Feminismus zusammen, dann lässt sich sagen: Es besteht eine starke Überzeugung, dass die bestehenden Verhältnisse, insbesondere das Wirtschaftssystem Kapitalismus, aber auch das gesellschaftliche Naturverhältnis kritisiert werden müssen (KC2017a, S. 29). Das Wachstumsparadigma, welches der kapitalistischen Wirtschaft inhärent konstruiert wird, soll durch eine Veränderung der Lebens- und Wirtschaftsweise überwunden werden (ebd., S. 4, 29). Die Akteur*innen sind davon überzeugt, dass das gegenwärtige System an Legitimation verliert, krisenhaft strukturiert ist und Alternativen deshalb notwendig werden (ebd., S. 31). Die Problemdefinition wird umfassend gedacht, die Verbindungen zwischen den vielfältigen Krisen des Sozialen und des Ökologischen stehen im Mittelpunkt (ebd., S. 29). Die Alternative, eine sozial-ökologische Transformation, wird als gesamtgesellschaftliches Projekt verstanden, welches die Ziele eines guten und gerechten Lebens für alle beinhaltet. Die beiden Gerechtigkeitsziele umfassen Klimagerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit. Weitere normative Ziele sind eine umfassende Demokratisierung sowie der Abbau von Hierarchien (ebd., S. 4 f., 29). Impulsgeber und Hoffnungsfunken für die angedachten Alternativen sind unter anderem die Ideen, die den

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Projekten Zapatismus21 und Demokratischer Konföderalismus22 zugrunde liegen. Diese stammen dabei aus außereuropäischen politischen Kontexten (ebd., S. 31).

4.1 Klimacamps sind… Die vorangegangene Argumentation legitimiert die Praxis der Klimacamps im Rheinland. Die Legitimation speist sich darüber hinaus aus der Annahme, dass soziale Bewegungen derzeit die zentralen gesellschaftlichen Akteure sind, die zu einer Verbesserung des bestehenden Systems beitragen und die aktive Lösung des Problems in Angriff nehmen (ebd., S. 5). Klimacamps nehmen dabei vier wesentliche Funktionen ein: Erstens sind Klimacamps Orte gelebter Alternativen, wenn auch nur temporär wird eine geteilten Lebenswelt im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation errichtet (vgl. Abschn. 4.1.1). Ein wichtiger Aspekt, der in den Definitionen sozialer Bewegungen eine zentrale Rolle einnimmt, ist die konflikthafte Beziehung zu einem antagonistischen Gegenüber (Della Porta und Diani 2009, S. 20). Der Bereich des Widerstands und Protestes gegen Braunkohle ist, gerade im ländlichen Raum, der zweite wichtige Grund dafür, ein Camp als selbstversorgende Infrastruktur zu errichten (KC2017a, S. 4, vgl. Abschn. 4.1.2). Drittens dienen Klimacamps als Räume des Austausches und der Vernetzung zwischen verschiedenen Bewegungen (vgl. Abschn. 4.1.3) und viertens als Orte der Bildung und Selbstbildung (vgl. Abschn. 4.1.4). Konzeptuell lassen sich die Camps als community of practice, unter dem Aspekt präfigurativer Politik sowie als politischer Refrain verstehen (vgl. Abschn. 4.2). Selbstverständlich ist auch zu hinterfragen, welche Risiken und Fallstricke mit der Praxis des Klimacampens verbunden sind, inwiefern die Bewegungen sich selbstkritisch reflektieren und welche Kritikpunkte sich finden lassen (vgl. Abschn. 4.3).

21Das heutige Verständnis des Zapatismus ist eine Mischung verschiedener Ideen. Da sind zum einen maoistisch-marxistisch-leninistische wie auch feministische Einflüsse, neben dem Input von Befreiungstheologie, indigenen Kosmologien und ökologischen Gedanken, die eine klare einordnende Selbstbeschreibung verunmöglichen (Hübinger 2020, S. 308 f.). Das Versagen des mexikanischen Staates ist die wesentliche Motivation für die revolutionäre Praxis und den Aufbau autonomer, nichtstaatlicher Organisationsstrukturen in der Region Chiapas. Neben dem Ziel der nationalen Befreiung und einem Ende von Ausbeutung und Unterdrückung ausgehend von den 1970/80er Jahren entwickelte sich bis heute, wo das zapatistische Gebiet klar umgrenzt ist, eine globale Haltung, die mit dem Slogan „eine Welt in der viele Welten Platz haben“ beschrieben werden kann (ebd.). Zwar folgen die Zapatista gewissen Prinzipien, sie formulieren aber keine Endvision oder konkrete Zukunftsvorstellung; stattdessen lautet der Wahlspruch: preguntando caminamos – fragend gehen wir voran (ebd.). 22Das Konzept des Demokratischen Konföderalismus (DK) strebt eine basisdemokratische und dezentrale Organisierung auf lokaler und regionaler Ebene an. Als zentrale Referenz des DK gilt der libertäre Munizipalismus Murray Bookchins (2015). DK erweitert die Konzeption Bookchins um eine feministische Perspektive (Hübinger 2020, S. 307 f.).

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4.1.1 … Orte gelebter Alternativen Wie und auf welche Art und Weise die Teilnehmenden ihre großen, oft globalen und abstrakten Zukunftsvorstellungen innerhalb des Camp-Alltags umsetzen, zeigt sich in der praktischen Organisation des Camps. Die Analyse fokussiert sich, in Anlehnung an die Infrastruktur-Analyse bei Feigenbaum et al. (2013), auf den Bereich der ­re-creation infrastructures. Darunter verstehen die Autor*innen: „[s]ocial reproduction, or what we have called re-creation infrastructures, is ultimately linked to the ability of the camp to function as an alternative world in that it provides safety, care, shelter and food for its participants“ (Brown et al. 2017, S. 15). Der Fokus auf Nahrung, Energie und basalen Infrastrukturen, also das Kümmern um unmittelbare Notwendigkeiten und ­ Grund-bedürfnisse, deutet auf eine „verantwortlich-fürsorgliche“ (Baier et al. 2016, S. 41) Haltung der Akteur*innen hin. Das Programmheft (KC2017a), welches den meisten Teilnehmenden als erste Orientierung bei der Ankunft auf dem Camp dient, verdeutlicht bereits auf den ersten Seiten die wichtigsten Werte des Camps. Das sind die Selbstorganisation aller Camp-Bereiche, die Übernahme von Verantwortung durch jede*n Einzelne*n und nicht zuletzt die Verteilung der anfallenden Aufgaben an alle, also eine kooperative Arbeitsteilung (KC2017a, S. 5). Selbstorganisation bedeutet hier, dass sämtliche Vorgänge von Einzelpersonen getragen werden. Von den Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen, über das Management von Geld und Finanzen, bis hin zu sanitären Einrichtungen und Küche und ebenso alle Veranstaltungen. Es gibt jedoch keine institutionalisierte Struktur, welche die genannten Bereiche zur Verfügung stellt: „Es gibt eine riesige Zahl von sichtbaren und unsichtbaren Aufgaben, bei denen ihr euch mit euren Interessen, Fähigkeiten, Eigenschaften und Bedürfnissen einbringen könnt und so die große kleine Welt Klimacamp mittragt.“ (ebd.)

Einer der wichtigsten Aspekte des Camps ist daher, dass sich die Teilnehmenden einbringen und an der Etablierung des Camps partizipieren. Die meisten Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen auf dem Camp sind als Räte-Systeme organisiert. Die kleinste Einheit bilden dabei die Nachbar*innenschaftsplena, in denen sich die Menschen, die in unmittelbarer Umgebung zueinander zelten, täglich über ihre Anliegen austauschen. Diese entsenden einzelne Sprecher*innen in den täglich stattfindenden Sprecher*innenrat, der wiederum das zentrale Entscheidungsgremium des Camps ist. Zudem gibt es verschiedene Plena, zu Beginn und am Ende des Camps sowie jeden Morgen, um die wichtigsten Informationen weiterzugeben (KC2017a, S. 6 f.). Das Camp möchte als offener Ort verstanden werden, zu dem möglichst viele Menschen (sprach-)barrierefreien Zugang haben. Verschiedene Maßnahmen versuchen, diese Offenheit zu ermöglichen. Zum einen gibt es beispielsweise keinen festen monetären Teilnahmebetrag. Denn „Geldmangel soll niemanden daran hindern, am Klimacamp, an den Aktionen oder allgemein an unserem politischen Kampf teilzunehmen. […] Das Wichtigste ist uns, dass alle am Camp und an der Bewegung teilhaben können“ (KC2017a, S. 12). Des Weiteren gibt es ein Übersetzungskollektiv, welches die Übersetzung der Diskussionen und

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Workshops meist zwischen dem Deutschen, Englischen, Französischen und Spanischen gewährleistet (ebd.). Trotzdem reflektieren die Autor*innen, dass diese gewünschte Offenheit nicht immer selbstverständlich ist. Die Zusammensetzung der Gruppe ist sehr homogen – dadurch entstehen verschiedene Barrieren, die Teilhabe erschweren oder ganz verhindern (KC2017a, S. 8). Die Achtsamkeit und das Bewusstsein möglichst Vieler, über die eigenen Privilegien und die damit verbundenen Ausschlussmechanismen haben einen festen Platz im Camp-Alltag und werden immer wieder in den Plena angesprochen. Wie unter dem Aspekt der Selbstorganisation bereits erläutert wurde, kann das Camp nur bestehen, indem sich möglichst viele Menschen an den anfallenden Aufgaben beteiligen. Die Kommunikation und Organisation erfolgt entweder über Schichtpläne, in die sich Menschen für Tätigkeiten eintragen können, per Nachfrage in den morgendlichen Plena oder auch auf Zuruf, wenn spontan Hilfe für eine bestimmte Tätigkeit benötigt wird (Hübinger 2020, S. 310). „Hier im Mitmach-Zelt erfährst du, was wo zu tun ist, wie und wo du dich einbringen kannst – ob ein paar Stunden fürs Mitkochen, Abwaschen oder Toilettensäubern, für die Nachtschicht, Fahrdienste oder Infozeltschichten, für den Kinderspace, Übersetzung oder vieles andere.“ (KC2017a, S. 15)

Die Mithilfe bei allgemeinen Aufgaben ist dabei stets freiwillig. Die dahinterliegende Annahme ist, dass Menschen von alleine tätig werden und notwendige Arbeiten durchführen, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sich entlang ihrer individuellen Interessen und Fähigkeiten einzubringen (KC2017a, S. 5). Das hier dargestellte Menschenbild ist äußerst voraussetzungsvoll und in der Praxis so nicht gegeben, wie das nun folgende Beispiel zeigt. Denn insbesondere die vermeintlich klassische ­Aufgaben- und Arbeitsteilung anhand der sozialen Kategorie Geschlecht, also die Einteilung in „typisch männliche“ und „typisch weibliche“ Arbeiten, lässt sich in der Praxis nicht so leicht transformieren. Immer wieder müssen Personen gesucht werden, die bereit sind, Schichten bei der Kinderbetreuung zu übernehmen, um Eltern zu entlasten und die Teilnahme an Workshops zu ermöglichen (KC2017a, S. 19). Außerdem ist ein wichtiges Thema des Camps, dass die Schichten fürs Säubern der Toiletten überwiegend von Frauen* übernommen werden. Das führt so weit, dass eines Morgens im Tagesplenum ein Warnstreik von denjenigen angekündigt wird, die sich immer wieder zum Putzen bereit erklärt hatten, der im Verlauf des Camps auch durchgeführt wird (Hübinger 2020, S. 310). Ein weiteres Beispiel ist die aktive Suche des Presse-Teams nach Presse-Sprecherinnen, um die repräsentative Außenwirkung des Camps diverser zu gestalten (ebd., S. 311; o. N. 2017). Diese Beispiele zeigen, dass das Ziel einer geschlechtergerechten Organisation und Verteilung von Arbeit auch auf dem Camp nicht erreicht werden kann. Die Übernahme von der normalerweise privaten, unsichtbaren Care-Arbeit steht jedoch immer wieder in der camp-öffentlichen Diskussion. Viele andere Praktiken des Camps lassen sich als Maßnahmen und Strategien verstehen, zum übergeordneten Ziel Transformation beizutragen. Im Bereich der Mobilität beispielsweise wird der Fortbewegung mit Fahrrädern eine große Bedeutung zugeschrieben.

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Die Anreise zum Camp erfolgt bei einigen mit dem Fahrrad, andere bringen Fahrräder mit, um vor Ort mobil zu sein. Teilweise wird die gemeinsame Anreise als Fahrradtour, ausgehend von verschiedenen Städten, wie Stockholm, Wien oder Freiburg, zum Klimacamp organisiert (Hübinger 2020, S. 311). Der Bereich Ernährung und Landwirtschaft spiegelt sich darin wieder, dass in der Küche größtenteils Lebensmittel aus ökologischem Anbau verarbeitet und vegan gekocht werden (KC2017a, S. 13). Oft beteiligen sich Camp-Teilnehmende an der Nachernte von Gemüse, welches von lokalen Landwirten an das Camp gespendet wird, weil es in Größe oder Form nicht den Lebensmittel-Richtlinien entspricht und deshalb nicht verkauft werden kann, aber trotzdem noch genießbar ist. So wird die Vernichtung von Nahrungsmitteln verhindert (Hübinger 2020, S. 311). Die Energieversorgung des Camps wird durch Windenergie und Solarenergie ermöglicht (KC2017a, S. 14). Zum einen gibt es eine Gruppe, die sich um die technischen Angelegenheiten des Camps kümmert, andererseits gewährleisten auch Einzelpersonen die Energieversorgung des Camps mit selbstgebauten Solarstrom erzeugenden Anlagen. Meistens sind diese Projekte umringt von Interessierten, die sich die Bauweise und technische Details erklären lassen. Neben dem Austausch von Wissen findet hier auch eine Aushandlung über die Frage statt, welche Arten von Technologie eine transformierte Gesellschaft benötigt oder hervorbringen könnte. Das Camp verortet sich in den Öffentlichkeitsmaterialien explizit als antikapitalistisch (KC2017a, S. 13), gleichzeitig lässt sich ein umfassendes „außerhalb“ kapitalistischer Verhältnisse nicht umsetzen. Das Camp versucht daher, die Teilnahme am Camp finanziell weitestgehend bedingungslos, also unabhängig von einem festen Geldbetrag, zu ermöglichen (KC2017a, S. 12). Dass die Teilnahme am Camp lediglich auf einem freiwilligen Beitrag für Infrastruktur und Lebensmittel beruht, ermöglicht im Idealfall Reflexionsprozesse hinsichtlich des eigenen Umgangs mit Geld als universales, gesellschaftliches Tauschmittel. Auffällig ist jedoch, dass im Themenbereich Wirtschaft und Finanzen verhältnismäßig wenige Workshops zu wirtschaftstheoretischen Themen angeboten werden, lediglich zwei Veranstaltungen des Klimacamps23 lassen explizit auf die Diskussionen über alternative Wirtschaftsmodelle schließen (KC2017a, S. 31, 32).

4.1.2 …Infrastruktur für Proteste im ländlichen Raum Proteste im ländlichen Raum stehen vor anderen Herausforderungen als Proteste in städtischen Umgebungen. Während der städtische Raum meist Infrastrukturen zur Unterbringung, Versorgung und Fortbewegung der Aktivist*innen bereithält, müssen diese Infrastrukturen für Proteste im ländlichen Raum erst geschaffen werden. Hinzu kommt, dass das Publikum, die breitere Öffentlichkeit, sich nicht ebenfalls am Ort

23Das

Programm der Degrowth-Sommerschule wurde nicht analysiert und bleibt für diese Aussage unberücksichtigt. Ebenso ist denkbar, dass sich spontane Diskussionsgruppen des Connecting Movements Camp gebildet haben, die im Programmheft nicht abgebildet sind.

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des Geschehens befindet und somit eine mediale Vermittlung der Aktionen unbedingt erforderlich ist. Der Protest der Aktivist*innen, das Besetzen von Braunkohletagebauen oder von Kraftwerke versorgender Infrastruktur verstehen Russel et al. (2017, S. 150) als eine high-impact-activism-Maßnahme. Der Protest führt einerseits dazu, dass teilweise die Versorgung der Kraftwerke mit Brennstoff verringert wird und somit eine Drosselung der Kraftwerksleistung nötig ist. Zum anderen sind die Proteste medial repräsentiert und beeinflussen dadurch die Diskurse (Sander 2017, S. 31 f.). Nicht zuletzt zeigt sich im Rückblick auf die letzten Jahre auch, dass Camping als politische Protestform immer wieder zum Politikum wird. So konnte das Klimacamp im Rheinland als Ausgangspunkt für die ersten Ende Gelände Proteste 2015 noch in unmittelbarer Nähe des Tagebaus Hambach stattfinden. Im Herbst 2018 und auch im Sommer 2019 wurden die Genehmigungen für das Camp in der Nähe von Tagebauen und Kohleinfrastruktur jedoch immer wieder verweigert oder verzögert (Röse 2019; Gego 2018). Mit steigender räumlicher Entfernung zum Ort des Protestes steigen auch die logistischen Herausforderungen für die Aktivist*innen.

4.1.3 …Räume für Vernetzung und Austausch Ein weiterer wichtiger Aspekt des Camps ist seine Funktion als Plattform der Vernetzung zwischen den einzelnen Bewegungen (Beyer und Schnabel 2017, S. 192 f.; Burkhart et al. 2017, S. 16). Das „Connecting Movements Camp“ beschäftigt sich ausschließlich mit der Aufgabe, die „Isolation vereinzelter Kämpfe und Diskussionen“ (KC2017a, S. 21) zu verlassen. Die Podiumsdiskussion mit dem Titel „Connecting Movements – Bewegungen verbinden“ zeugt von der großen Bedeutung von Austausch. Ebenso nennt die analysierte Broschüre „ausgeCO2hlt“ Verbindungen und Netzwerke als wichtigste Erfolgsbedingungen sozialer Bewegungen (ausgeCO2hlt 2017, S. 98). Mit dem Austausch der einzelnen Bewegungen und der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander ist verbunden, dass sich die Akteur*innen der eigenen Handlungsund Gestaltungsfähigkeit versichern. Die Öffentlichkeitsmaterialien sind durchweg in einem positiv-optimistischen Grundtenor verfasst und zielen darauf ab, Menschen zur Teilnahme zu motivieren (KC2017a, S. 4). Auch in den Diskussionen im Camp ziehen sich die Themen Hoffnung und Optimismus als Motivationsfaktoren durch die Redebeiträge (Hübinger 2020, S. 307, 310, ausgeCO2hlt 2017, S. 15 f.). Die europäischen Bewegungen ziehen Inspiration aus anderen internationalen Bewegungen und die plakativen Bilder der Protestaktionen in Deutschland machen wiederum Menschen an anderen Orten Mut (Hübinger 2020, S. 311). Das zeigt sich insbesondere auch an den Entwicklungen der letzten Jahre: so wurde vermehrt auch für Klimacamps in Tschechien, den Niederlanden, Großbritannien und Italien mobilisiert und darüber hinaus verschiedene Themenbereiche miteinander in Beziehung gesetzt. Beispielsweise Klima und Migration auf dem Power Beyond Borders Camp sowie Klima und Antifaschismus auf dem Klimacamp im Leipziger Land. Klimacamps schaffen hier einen Raum für die Konstruktion gemeinsamer Zukunftsvorstellungen (o. N. 2019b).

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4.1.4 …Orte der Bildung und Selbstbildung Alle drei Organisationseinheiten, Klimacamp, Degrowth-Sommerschule und Connecting Movements Camp, realisieren verschiedene Veranstaltungsformate (KC2017a, S. 18), beispielsweise mehrtägige Kurse, Workshops und Podiumsdiskussionen. Darüber hinaus auch kulturelle Programmpunkte wie zum Beispiel Filmvorführungen oder Konzerte. Degrowth-Sommerschule und Connecting Movements Camp unterscheiden sich hinsichtlich des Grades an Organisation sowie dem Verständnis von Expert*innenwissen und Rollenverteilung in Lernprozessen stark (KC2017a, S. 4). Nichtsdestotrotz ermöglichen beide Strukturen, dass die Rollen von Lehrenden und Lernenden verschwimmen. Auch Menschen, die nicht in institutionalisierten Bildungseinrichtungen unterrichten, können als Lehrende auftreten und alle können unabhängig von ihrer jeweiligen Bildungsbiographie lernen. Alle drei Strukturen teilen jedoch die Überzeugung, dass das gemeinsame Lernen und (Selbst-)Bildung – nicht nur theoretischen, sondern auch praktischen Wissens – die Grundlage für das gemeinsame Handeln bildet. Hinzu kommt, dass die Themensetzung nicht an die Lehrpläne staatlicher Bildungsinstitutionen gebunden ist. Das ermöglicht eine Schwerpunktsetzung auf vernachlässigte und marginalisierte Themen, bspw. Wachstumskritik und das Infragestellen hegemonialer Deutungen. Nicht zuletzt eröffnet der Bereich Bildung und Selbstbildung eine Reihe größere Fragestellungen: welches Wissen benötigen wir für eine sozial-ökologische Transformation? Wie können selbstständige Lernprozesse bei Lernenden angestoßen werden, ohne fertige Wahrheiten zu verkünden? Welchen Beitrag können die gegenwärtigen Bildungsinstitutionen zu sogenanntem transformativem Lernen leisten? Was müsste sich in Schulen und Universitäten verändern, um transformative Bildung zu ermöglichen?

4.2 Konzeptualisierung: Klimacamps als community of practice, präfigurative Politik und politischer Refrain Neben der untersuchten Praxis lassen sich Klimacamps vielfältig t­heoretisch-konzeptionell erfassen, sei es als community of practice (Wenger-Trayner 2015), als präfigurative Politik (Russell et al. 2017, S. 148) und nicht zuletzt als politischer Refrain (ebd., S. 155–158). Erstens sind Klimacamps als community of practice zu verstehen: Communities of practice are groups of people who share a concern or a passion for something they do and learn how to do it better as they interact regularly. (Wenger-Trayner 2015, S. 1)

Das Kriterium dafür, dass es sich um eine community of practice im Sinne Etienne und Beverly Wenger-Trayners (2015, S. 2) handelt, ist, einen gemeinsamen Interessensbereich zu entwickeln, hier: das Einrichten einer temporären, alternativen Lebens- und Wirtschaftsweise und alle damit verbundenen Einzeltätigkeiten. Hinzu kommt die

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Gemeinschaft, die explizit durch das gemeinsame Handeln entsteht und nicht nur durch einige geteilte Merkmale Erst das geteilte Repertoire an Wissen, Erfahrungen, Geschichten, Werkzeugen und Herangehensweisen an Probleme und Herausforderungen, kennzeichnet eine community of pratice. Im Mittelpunkt steht dabei das gemeinsame Lernen, sei es explizit in einem Kurs der Degrowth-Sommerschule oder bei Workshops, Diskussionen oder praktischen Tätigkeiten. Menschen kommen hier allerdings nicht nur zusammen, um etwas zu lernen. Über das Lernen findet auch ein Sozialisations- und Subjektivierungsprozess Einzelner statt, um als Teil der Gemeinschaft anerkannt zu werden (Wenger 1998, S. 4). Das Camp trägt als community of practice dazu bei, dass Subjekte ihre individuellen und kollektiven Handlungsspielräume erweitern können. Zum einen werden konzeptionelle Strategien entwickelt, zum anderen konkrete Infrastrukturen aufgebaut, die zu einem ressourcenschonenden und ökologisch nachhaltigen Leben und Wirtschaften beitragen sollen. Brown et al. fassen zusammen, welche Rolle Camps als Orte gelebter Alternativen, Vernetzung und (Selbst-)Bildung spielen: „[w]hen protest camps become home places, we see the limits of conceptualisations of politics as rationalist speech acts: camps can create a space for participants to engage in deeper identity quests that seek life beyond the capitalist status quo. Precisely because protest camps prefiguratively embody alternative ways of being they can serve as powerful inspirations long after specific camps cease to exist.“ (Brown et al. 2017, S. 18)

Das Imaginieren und Praktizieren alternativer Lebenswelten nennen Russel et al. (2017, S. 148) präfigurative Politik.24 Anstatt auf zukünftige Reformen oder Revolutionen zu warten, wird in der Gegenwart versucht, die gewünschte Gesellschaft und Politik im kleinen Maßstab zu antizipieren (Sander 2017, S. 33). Diese Einbettung in einen größeren Kontext und eine spezifische Rolle innerhalb des Politischen, geht weit über das bloße Verständnis von Klimacamps in ihrer Rolle als, lediglich ereignishafte, Protestcamps hinaus. Spannend wäre hier auch weitergehend zu untersuchen, inwiefern die Organisations- und Entscheidungsstrukturen der Camps das Erlernen neuer politischer Selbstverständlichkeiten ermöglichen. Russel et al. (2017, S. 155–159) verstehen die Praxis des Zeltens daher, in Anschluss an Deleuze und Guattari, als politischen Refrain. Die Funktion des Refrains liegt

24Gordon

(2008, S. 17, 20) versteht präfigurative Politik, ein Ethos direkter Aktion und die Ablehnung jeglicher Herrschaftsformen als ein wesentliches Merkmal anarchistischer Bewegungen. Aufgrund der negativen Konnotationen, die der Bezug auf anarchistische Ideen, verstanden als chaotische Gewalt und Zerstörung hervorruft (Gordon 2008, S. 12), stellt das Thema eine Kontroverse dar, auf deren Rekonstruktion in diesem Beitrag nicht weiter eingegangen wird. Trotzdem formulieren White und Kossoff (2007, S. 62) die Überzeugung, dass libertäre Ideen und Visionen die wesentliche Grundlage zur Lösung der Umweltproblematik bilden und deshalb eine wichtige Inspirationsquelle für Umwelt- und Klimabewegung darstellen.

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darin, zur stabilisierenden Definition und Produktion einer beliebigen Menge beizutragen. Wenn dieser Refrain unterbrochen wird, würde die so geordnete, kohärente und funktionale Menge sich wieder in Chaos auflösen. Während in den frühen 2000er Jahren Klimacamps lediglich als lokales Phänomen stattfinden und europaweit wenig mediale Aufmerksamkeit bekommen, finden diese in den letzten Jahren häufiger statt und die Vernetzung zwischen den Camps steigt immer weiter an. Die Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung können auf den nach ähnlichen Prinzipien organisierten und strukturierten Camps vergleichbare Erfahrungen machen, ganz egal, ob das jeweilige Camp bei Leipzig, Venedig oder Wien stattfindet (o. N. 2019b). Das trägt dazu bei, dass sich immer mehr Menschen, auch im Sinne des collective identity Ansatzes25, der „geordneten, kohärenten Menge“ Klimagerechtigkeitsbewegung zugehörig fühlen. Gleichermaßen stellen sich hier weiterreichende Fragen: Trägt dieser politische Refrain, der zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten stattfindenden Klimacamps, zu einer Etablierung bzw. Verstetigung der Praxis bei? Welche Chancen und welche Herausforderungen (beispielsweise die Suche nach geeigneten Flächen) liegen im Aufund Abbau der Infrastrukturen? Welche Rolle spielt es, dass ein Klimacamp eine Art Happening darstellt, etwas Außergewöhnliches, das fernab des widersprüchlichen und möglicherweise frustrierenden Alltags stattfindet?

4.3 (Selbst-)Kritik und Risiken Welche community of practice, welche Gemeinschaft findet sich überhaupt auf einem Klimacamp ein? Überwiegend weiße, akademisch gebildete Aktivist*innen, die in Städten leben (ausgeCO2hlt 2017, S. 31, 49; Müller 2017, S. 229) und nicht zwangsläufig zu der Gruppe der „lokal Betroffenen“ gehören. In den untersuchten Materialien gehen die Akteur*innen der Degrowth- und Klimagerechtigkeitsbewegung vergleichsweise selbstkritisch mit der Zusammensetzung der eigenen Strukturen um. Das Thema Intersektionalität26 ist zwar bislang (noch) unterrepräsentiert, aber die Homogenität der eigenen Zielgruppe wird als problematisch erkannt und Diversität und Heterogenität angestrebt. In der Klimagerechtigkeitsbewegung engagieren sich mehrheitlich privilegierte Menschen, die es sich leisten können, ihre Zeit für (Klima-)Aktivismus aufzuwenden. Nichtsdestoweniger besteht gleichzeitig die Gefahr der Selbstausbeutung und Prekarisierung, wenn überdurchschnittlich viel Zeit für die Bewegung aufgewendet wird und dadurch weniger Zeit für Erholung und finanzielle Absicherung bleibt. Eine

25Zu

Theorien sozialer Bewegungen und dem collective identity Ansatz vgl. Abschn. 2.2. Begriff Intersektionalität bezeichnet die Verschränkung verschiedener sozialer Kategorien, die Ungleichheit verursachen, beispielsweise Klasse, Nationalität, Ethnizität, Alter und Sexualität. 26Der

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steigende Zahl an Aktiven ist überarbeitet, leidet unter Depressionen oder Burn-Out oder steigt ganz aus der Bewegungsarbeit aus (Chen und Gorski 2015 in Junge 2018). „When an activist burns out, she typically derails her career and damages her self-esteem and relationships. She also deprives her organization and movement of her valuable experience and wisdom. The worst problem, however, may be that when an activist burns out she deprives younger activists of a mentor, thus making them more likely to burn out. And so it’s a vicious circle with burn-out leading to more burn-out.“ (Rettig 2016, S. 16 in Junge 2018, S. 15)

Eine bewegungsinterne Reflektion zu diesen Themen findet derzeit statt (Junge 2018; Luthmann 2018). Debattiert wird dabei unter anderem, wie Aktivist*innen gute Selbstfürsorge praktizieren können und sich auf eine Art und Weise engagieren können, die zur eigenen Persönlichkeit passt. Fraglich ist, welche kollektiven Strategien es geben könnte, langfristiges Engagement in der Bewegung zu ermöglichen. Muraca (2014, S. 15 ff.) warnt vor nicht-intendierten Nebenfolgen utopischer Suchbewegungen. Dazu gehört unter anderem die Gefahr der Abschottung und Grenzziehung zwischen dem kollektiven Wir und den Anderen. Das zeigt sich beispielweise in Szenecodes, also geteilte Arten sich zu kleiden, Musikgeschmack, bestimmte sprachliche Ausdrücke, Ernährungsformen und Mobilitätstrends, verallgemeinert die gesamte Lebensweise. Ebenso stellen Wissenshierarchien eine große Hürde für Neue dar: der Zugang zur Gruppe gestaltet sich schwieriger oder bleibt ganz verwehrt. Nicht zuletzt steht außer Frage, dass der kleine Maßstab des Camps nicht 1:1 auf die makroökonomische oder -gesellschaftliche Ebene hochskaliert werden kann (van Dyk 2016, S. 251). So warnt van Dyk (2016, S. 246) davor, dass die Gefahr bestehe, Gemeinsinn, Gemeinwohl und Gemeinschaft zu verabsolutieren und dabei soziale Ungleichheiten zu negieren. Die Autorin befürchtet deshalb die Entstehung eines sogenannten ­„Community-Kapitalismus“, der die „Ressource Gemeinschaft“ als Folge einer „Überaffirmation von Mikro-Praktiken“ gezielt vereinnahmt (van Dyk 2016, S. 254, 261).

5  System Change not Climate Change – Transformativer Möglichkeitsraum Klimacamp Die Erdsystemforschung zeigt schon lange auf: Der Planet Erde befindet sich im overshoot-Szenario oder anders formuliert in der ökologischen Krise. Das bedeutet, dass einige der planetarischen Leitplanken bereits überschritten sind. Gleichzeitig werden soziale Grenzen teilweise auch unterschritten, sodass die Symptome, Ursachen und Auswirkungen der ökologischen Krise nur im Kontext einer multiplen Krise umfassend erklärt werden können. Die multiple Krise umfasst neben der Ökologie unter anderem die Bereiche Wirtschaft und Finanzen, Energie und Ernährung, Migration, Geschlechterverhältnisse sowie politische Institutionen. Die einzelnen Aspekte dieser Krise sind auf vielfältige und tief greifende Art miteinander verbunden, bedingen sich zum Teil

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g­ egenseitig und sind das Ergebnis neoliberalen und imperialen Wirtschaftens (Brand 2009, S. 5–10). Die Antwort auf die multiple Krise lautet: Transformation. Genauer gesagt eine sozial-ökologische Transformation. Die strategische Forderung nach grundlegendem Wandel, der nicht nur den gegenwärtigen Status quo, die gesellschaftlichen Verhältnisse und das Naturverhältnis infrage stellt, sondern auch die damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse (O’Brien 2012, S. 671). Im Fokus der Untersuchung stehen soziale Bewegungen, welche kollektive Identitäten bilden und je nach Themenfeld spezifische Gegner*innenschaften konstruieren. Kennzeichnend für soziale Bewegungen ist insbesondere, dass der Übergang vom Ist-Zustand zu einem imaginierten und abstrakten Soll-Zustand das kollektive Handeln motiviert. Soziale Bewegungen werden als handlungsfähige und einflussreiche Akteur*innen verstanden, die dazu in der Lage sind Diskurse zu beeinflussen. Sei es gegen Braunkohleabbau beim Klimacamp im Rheinland, im Leipziger Land oder in Tschechien bei Limity jsme my (Wir sind die Grenzwerte). Gegen neue Erdgas-Infrastruktur beim Power Beyond Borders Camp in Großbritannien oder bei Acampamento de Acção contra Gás Fóssil e pela Justiça Climática in Portugal. Gegen klimaschädlichen Kreuzfahrttourismus beim Klimacamp in Venedig, Italien oder gegen die energieintensive und für konventionelle Landwirtschaft notwendige Düngemittelproduktion im Rahmen des Free the Soil Klimacamps in Brunsbüttel. Die Aktionen und Camps sind nicht nur als Protest, als Artikulation marginaler Themen und als Versuch des Agenda-Settings zu verstehen. Denn die Bandbreite der Anliegen ist größer als das pure „Dagegen“. Es geht auch um Kohleaussteig und Klimagerechtigkeit, um Energie- und Ernährungssouveränität, um offene Grenzen und Bewegungsfreiheit, um eine Verkehrs- und Agrarwende sowie um Postwachstum und Kapitalismuskritik. „Für uns ist klar, dass wir den Klimawandel nicht mit, sondern nur gegen den Kapitalismus eindämmen können“ (ausgeCO2hlt 2017, S. 11). Nicht zuletzt mobilisiert die österreichische Klimagerechtigkeitsbewegung unter dem Slogan „system change not climate change“ und bringt damit deutlich zum Ausdruck, dass ein radikaler Systemwandel, eine sozial-ökologische Transformation unumgänglich ist. Nimmt man die verschiedenen Bewegungsspektren zusammen, dann zeigt sich, dass die verschiedenen Aspekte einer Transformation weitestgehend abgedeckt sind. Diese umfassen Veränderungen des Energie- und Landnutzungssystems, des Finanzsystems und der Governancestrukturen, der Macht- und Geschlechterverhältnisse, der Produktions- und Konsummuster, der Lebensstile sowie Wissenssysteme, Werte und Weltbilder (O’Brien 2012, S. 671). Ein Aspekt, der bislang innerhalb der Bewegungen wenig bearbeitet wurde, ist die Frage, wie genau sich die neue Gesellschaftsform innerhalb des alten Systems und dieses gleichzeitig überwindend konstituieren soll, wie der „imaginierte Soll-Zustand“ erreicht werden kann. Ein (stark vereinfachtes) 3-Ebenen Modell für gesellschaftlichen Wandel umfasst Kultur, Regime und Nischen (o. N. 2019a). Auf der Ebene der Kultur sind die dominanten Werte und Weltbilder repräsentiert, die sich langsam weg von Wachstum und Profitorientierung hin zum guten Leben für alle, Suffizienz und Solidarität verändern. Auf der Ebene der Regime finden sich die hegemonialen politischen, ökonomischen

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und sozialen Institutionen, die langsam, nach und nach von transformierten Institutionen abgelöst werden. Diese werden zunächst in Nischenprojekten entwickelt, um dann aus der Nische heraus das alte System abzulösen. Die Forderung nach Transformation und das Beeinflussen der medialen Diskurse in den jeweiligen Themen- und Politikfeldern ist hier auf der Ebene der Kultur, der Werte und Einstellungen, der Wissenssysteme und Weltbilder repräsentiert. Die Praxis der Klimacamps als transformative Möglichkeitsräume lässt sich innerhalb des Modells auf der untersten Ebenen, der Ebene der Mikro-Praktiken und Nischenprojekte einordnen. Diese Mikro-Praktiken entwickeln ­ sich nach und nach, werden größer und weiträumiger und verdrängen letztlich die bestehenden Infrastrukturen und materiellen Ordnungen – soweit die Theorie. An dieser Stelle zeigt sich, dass das Herunterbrechen auf ein 3-Ebenen-Modell gesellschaftlichen Wandels keine Antworten auf die Frage geben kann, wie genau die neue Form sich aus der alten entwickelt. Denn das Modell bildet weder die Pfadabhängigkeiten der alten Technologien und Produktionsprozesse ab, noch die Interessen und polit-ökonomische Macht der hegemonialen Akteur*innen. Klimacamps trotzdem als transformative Möglichkeitsräume zu verstehen, entstand aus der Diskussion mit Julia Costa Carneiro und geschieht in Anlehnung an ihren Beitrag in diesem Band (Costa Carneiro 2020). Der Begriff „transformativer Möglichkeitsraum“ fasst gut zusammen, inwiefern die verschiedenen Aspekte der Klimacamps, als Teile ihres transformativen Potentials zu verstehen sind. Wenn Klimacamps Orte sind, an denen neben dem Protest, Alternativen gelebt werden können, an denen Vernetzung und Austausch stattfindet und an denen Menschen sich selbst oder andere (weiter)bilden, dann eröffnen diese Räume Möglichkeiten der Selbstermächtigung und der Emanzipation. Denn die Abhängigkeiten und Verhältnisse, in denen wir uns alltäglich bewegen, sind nicht naturgegeben, sondern gemacht und damit auch veränderbar. Dafür braucht es Strukturen und Räume, in denen kollektiv und individuell gelernt, ausprobiert, geschaffen und wieder verworfen werden kann – eben transformative Möglichkeitsräume. Das Problem der Skalierung bzw. die Frage nach der Übertragbarkeit bleibt an dieser Stelle nach wie vor bestehen, auch wenn die Konzepte der präfigurativen Politik und des politischen Refrains leise Hoffnungsträgerinnen sind. Wie könnte eine solidarische Gesellschaft durch Care als Transformationsprinzip (Winker 2015, S. 145 ff.), eine solidarische Ökonomie (van Dyk 2016, S. 264) oder eine solidarische Lebensweise (Brand und Wissen 2017, S. 165 ff.) im großen Maßstab realisiert werden? Der Sommer 2019 hat gezeigt, dass sich die Praxis der Klimacamps immer weiter verbreitet und sich das Feld der Klimagerechtigkeitsbewegung thematisch immer stärker ausdifferenziert. Nicht zuletzt haben Fridays For Future und Extinction Rebellion die Bewegung mit ihren Schulstreiks und Aktionen zivilen Ungehorsams um wichtige Aspekte erweitert und ihren Protest in Sachen Klimaschutz auf die Straße getragen. By 2020 we rise up lautet das Motto der Klimagerechtigkeitsbewegung. Sei es Mobilität, Landwirtschaft oder Energie – es bleibt weiterhin spannend, welche Handlungs- und Politikfelder als nächstes von den Bewegungen im Sinne einer sozial-ökologische Transformation erfasst werden.

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Das Grandhotel Cosmopolis als transformativer Möglichkeitsraum. Einblicke in eine aktivistische Stadtforschung Julia Costa Carneiro

Zusammenfassung

Der Beitrag gibt Einblicke in einen andauernden, praxisbegleitenden Forschungsprozess eines sozialen Experiments. Aus einem Selbstverständnis als aktivistische Forscherin untersucht die Autorin auf methodologischer Basis der Situationsanalyse nach Adele Clarke den kollektiven (raumbetonten) Sinnformungsprozess des Grandhotel Cosmopolis in Augsburg. Dabei fasst sie die Bedingungen, die das Projekt im Spannungsfeld zwischen Einhegung und Eröffnung zum transformativen Möglichkeitsraum machen. Das sensibilisierende Konzept des transformativen Möglichkeitsraumes entwickelt sie auf der Basis aktueller Ansätze aus der Diskussion um eine Demokratisierung von Stadtentwicklung, die insbesondere über Argumente aus dem Postwachstumsdiskurs ergänzt werden. Darüber wird das Konzept für eine kritisch-feministische, transformative Stadtforschung anschlussfähig und über den empirischen Bezug auf den untersuchten Raumformungsprozess verdichtet. Transformative Potenziale der alltäglichen Re-Produktion des Ortes durchziehen eine Geschichte des Grandhotel Cosmopolis’ voller Widersprüche und Deutungskämpfe und eröffnen weiterreichende Fragen zu dessen Zukunftsfähigkeit und Bedeutung als sozialer Raum präfigurativer Politik. Die theoretisch-methodologische Vermittlung zwischen den Themen aktivistische Stadtgestaltung, Postwachstum und transformative Forschung mündet in einer Skizzierung der Untersuchungsergebnisse, die auch ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse zugänglich sein soll.

J. Costa Carneiro (*)  Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6_17

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Schlüsselwörter

Transformativer Möglichkeitsraum · Postwachstumsstadt · Urbane Transformation · Recht auf Stadt · Urban commons · Aktivistisches Forschen ·  Grandhotel Cosmopolis · Situationsanalyse

1 Einleitung Globale Urbanisierung durch demografisches Wachstum, Zuzug von Menschen vom Land in die Städte, und zunehmende Migrationsbewegungen gilt als wirkungsmächtigster Prozess sozialen Wandels im 21. Jahrhundert und macht urbane Räume zunehmend zu den zentralen Organisationsformen nahezu aller menschlichen Gesellschaften (WBGU 2016, S. 7; Nagorny-Koring 2018, S. 54). Folglich ist die anhaltende Verstädterung auch eng verbunden mit globalen Krisen und (welt-)gesellschaftlichen Konflikten zu verstehen. In diesem Zusammenhang wird immer öfter die Zukunftsfähigkeit moderner, kapitalistisch-demokratischer Stadtgesellschaften infrage gestellt und mit alternativen Ansätzen städtischer Re-Produktion konfrontiert. In unterschiedlichen Perspektiven wird die Stadt als Keimzelle für kulturelle, soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Veränderung angesehen (WBGU 2016) und erscheint damit tendenziell als privilegierter Ort für gesellschaftliche Transformation (Barnett 2014; WBGU 2016; Brocci 2017). Als Fabriken sozialer Ungleichheit, Betroffene ­sozial-ökologischer Krisen und potenzielle Arenen gesellschaftlicher Transformationen scheinen städtische Räume insofern auch prädestiniert für eine intervenierende Erforschung sozialer Wirklichkeit. Urbane Transformationsforschung muss im Hier und Jetzt ansetzen und bedarf geeigneter Perspektivierungen und entsprechender Forschungswerkzeuge, um die Komplexität aktueller städtischer Verhältnisse verstehbar zu machen und weiter, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich die Dinge von hier aus weiter entwickeln können (vgl. Oßenbrügge und Vogelpohl 2014, S. 11; Clarke 2012; Wright 2017). Die Diskussion um Postwachstum/Degrowth sensibilisiert im Blick auf Stadt nicht nur dafür, bereits existierende Ansätze in ihren transformativen Potenzialen zu fassen, sie enthält auch Konzepte, um deren Praktiken, Diskurse und andere konstituierenden Bedingungen in ihren globalen Zusammenhängen zu verstehen und darüber auch lokale Möglichkeiten zu erweitern. Über das Konzept des transformativen Möglichkeitsraums lassen sich zukunftsweisende Prozesse urbaner Re-Produktion in ihrer Widersprüchlichkeit, Gleichzeitigkeit und Interdependenz erkunden. Sie entstehen als Antworten in der Konfrontation mit den realen Folgen einer imperialen Lebensweise (Brand und Wissen 2017), die als dominierende Ordnung nicht nur weltgesellschaftliche Verhältnisse bestimmt, sondern auch aktuelle Stadtentwicklungspolitiken definiert. Produktion, Aneignung und Nutzung städtischer Räume basieren in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften auf weitestgehend unhinterfragten, wachstumsorientierten Imperativen

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und manifestieren sich in einem „Urbanismus der Ungleichheit“ (Rinn 2018). Eine transformative Stadtentwicklungspolitik bedarf transdisziplinärer Vorschläge und konkreter, machbarer Ansätze zur ökologischen, ökonomischen und sozialen Erneuerung, um allen Stadtbewohnenden nachhaltig ein gutes Leben zu ermöglichen. Transformative Möglichkeitsräume1werden hier als Ausgangspunkt im Entwurf urbaner Postwachstumsgesellschaften situiert, „von denen ausgehend und gestärkt durch die gesellschaftliche Gegenhegemonie zunehmend Gegenmacht aufgebaut werden kann“ (Schmelzer und Vetter 2019, S. 222 f.). Als (informelle) Prozesse lokaler Stadtentwicklungspolitik ermöglichen sie, andere Organisationsformen innerhalb der bestehenden Ordnung auszuprobieren und letztlich solidarische Lebensweisen situativ zu er-finden. Für die Transformationsforschung sind sie darüber hinaus Gelegenheiten, die Bedingungen sozialer Raum(re-)produktion zu erforschen, die zur Transformation neoliberalisierter (Brenner et al. 2010) Städte hin zu Postwachstumsstädten beitragen können. Das Grandhotel Cosmopolis (GHC) in Augsburg, habe ich als einen solchen sozialen Experimentierraum kennen gelernt, als einen Ort des Protests, an dem Gewohnheiten und Vor-Bilder kreiert werden, die mit existierenden Regeln, wie Gesellschaft herkömmlich strukturiert ist, im Konflikt stehen. Als einen „Zwischenraum“, in dem diese Regeln im Alltäglichen neuverhandelt und ein völlig anderes städtisches Leben in seinen Ansätzen sichtbar wird. Christoph Schäfer (2016, S. 13 f.; Hervorh. i. O.) im Vorwort zu Henri Lefebvres Recht auf Stadt zeichnet diesen Alltag im GHC eindrücklich: „Treffpunkte schaffen, Aneignung der Räume, Situationen konstruieren, die Potenziale des Einzelnen multiplizieren, Kunst, die das Leben verändert, sich selbst verändern, die Anwesenheit des Fremden, sich in Festen verausgaben und verschwenden, zusammen kochen, zusammen essen, teilen, In-Ruhe-gelassen-werden-aber-sehen-was-sonst-passiert, Beziehungen neu erfinden, unwahrscheinliche Begegnungen, ungeplante Unterhaltungen, das Recht auf Zentralität für alle, das Recht auf Unterschiedlichkeit“.

Hier habe ich mich aufgefordert gefühlt, Stadt aktiv und selbstbestimmt mitzugestalten. Der vorliegende Beitrag ist Teil eines anhaltenden Prozesses transdisziplinärer, kritisch-solidarischer Forschung mit dem GHC und entstand auf der Grundlage meiner

1Auf

das Konzept des transformativen Möglichkeitsraumes gehe ich im Abschn. 3.2.4 explizit ein. Zunächst sei angemerkt, dass in der Diskussion um Degrowth/Postwachstum hier von realen Utopien, Freiräumen, Nowtopias gesprochen wird (Schmelzer und Vetter 2019; Muraca 2015; Wright 2017). Ich bevorzuge den Begriff des Möglichkeitsraums für meine Untersuchung des GHCs, weil er eine größere analytische Offenheit gegenüber inhärenten Widersprüchen beinhaltet. Ich denke, dass insbesondere die kritisch-solidarische Thematisierung solcher Widersprüche transformatorisches Potenzial birgt, denn in ihnen finden sich Anhaltspunkte für die Weiterentwickelung solcher Unternehmungen. Sie zeigen konkret, wo nicht-reformistische Reformen (Schmelzer und Vetter 2019) zur Stärkung solcher transformatorischen Inkubatoren notwendig sind und machen so den Transformationsprozess vom Hier und Jetzt hin zu bevorzugten Situationen sichtbar.

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situationsanalytisch (Clarke 2012) fundierten Forschungsarbeit, die ich im Rahmen meines M.A.-Studiums „Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung“ an der Universität Augsburg ausarbeitete. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf Erfahrungen im GHC2 und weist gleichzeitig darüber hinaus: Zu Beginn schaffe ich einen Zugang zu meinen gegenwärtigen Forschungsinteressen im GHC (Kap. 2). Ich führe in die begrifflichen Grundbausteine meiner Forschungsfrage ein (Kap. 3) und fasse das GHC als transformativen Möglichkeitsraum (Abschn.  3.2.4). Darüber werden meine empirischen Untersuchungen der alltäglichen Raum(re-)produktion des GHC mit Ansätzen aus der urbanen Transformationsforschung denkbar. Darauf folgt eine Darstellung des Forschungsstandes zu transformativen Stadtentwicklungspolitiken im Kontext der Diskussion um städtische Postwachstumsgesellschaften. Hier fokussiere ich demokratisierende Ansätze kollektiver Akteur*innen und Institutionen (Kap. 4). Im Kap. 5 gebe ich einen Einblick in meine Art und Weise, wie und in welchem Selbstverständnis ich gegenwärtig (im GHC) forsche. Eine partielle Darstellung meiner Forschungsergebnisse erfolgt über die prozessbetonte R ­ e-Präsentation der urbanen Raumformung des GHC sowie eines exemplarisch gemappten Hauptstreits aus dem heraus sich Bedingungen zur Verstetigung des transformativen Möglichkeitsraumes lesen lassen (Kap. 6). Diese sollten auch ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse (aus diesem Beitrag) zugänglich sein. Ich schließe die vorliegenden Einblicke in meine Forschungsarbeit über eine Pointierung zentraler (möglicher) Bedingungen zur Verstetigung des GHC als transformativer Möglichkeitsraum. Diese dürfen als Anschlussstellen für projektspezifische Veränderungen im GHC gelesen werden und möchten zum anwendungsorientierten Austausch über Transformationsstrategien zur Realisierung von demokratischen Postwachstumsstädten einladen (Kap. 7).

2Meine

alltägliche Mitarbeit im GHC erstreckte sich über mehrere Jahre, parallel zu meinem MAStudium und einer sozialpädagogischen Teilzeitbeschäftigung. Seit 2012 war ich sporadisch dabei, beteiligte mich an Renovierungsarbeiten, lud ein zum Kinderplenum und unterstütze bei Aktionen. Mein Engagement intensivierte sich ab Mitte 2014; ich übernahm vermehrt koordinierende und konzeptionelle Aufgaben, erzählte vom Projekt in zahlreichen Vorträgen, schrieb dafür und darüber und vermittelte die ­GHC-Arbeitsweise in Workshops, organisierte Veranstaltungen und Aktionen mit, pflegte die internationale Netzwerkarbeit und experimentierte damit, sozialwissenschaftliche Forschung und künstlerische Ansätze zusammenzubringen: Dazu initiierte ich die Arbeitsgruppen „Gepäckbeförderung“ und „Räume Denken“ und regte die Prozessdokumentation des GHC an. Gemeinsam mit anderen realisierte ich 2016 das Projekt „Ortswechsel“, und verabschiedete mich dann insbesondere wegen der bevorstehenden Geburt meines Kindes aus der aktiven Mitarbeit im GHC. Die hier dargestellten Einblicke in meine Forschung mit dem GHC sind ein weiterer Teil in der Summe eines Ganzen, das auf dem Dialog zwischen mir und „dem GHC“ basiert, unabgeschlossen bleibt und stetiger Veränderungen unterliegt.

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2 Zugänge schaffen: Das GHC, meine Forschungsinteressen und uns verbindende Fragestellungen Das GHC entstand 2011 als Zwischennutzung eines 60er Jahre Baus auf 2600qm eines leerstehenden Altenheims in bester Augsburger Innenstadtlage. Mit der räumlichen Verbindung zweier Mieter*innen (Regierung von Schwaben und Grandhotel Cosmopolis e. V.) wurden unterschiedliche Bedürfnisse unter ein Dach gebracht: bezahlbarer Kreativraum und Unterbringung von Asylbewerbenden. Die Diakonie als ­Gebäude-Eigentümerin war offen für das Bild, das eine kleine Gruppe selbstbeauftragter Raumpionier*innen aus dieser Gelegenheit entwarf (vgl. Heber et al. 2011): Ein Hotel für Menschen mit und ohne Asyl entstand. Die Regierung von Schwaben verwaltet die Asylunterkunft in einem Trakt; die „Hoteliers“3 gestalten den anderen Gebäudeteil zum Kulturhotel mit Café-Bar, Gemeinschaftsküche mit Speise-, Veranstaltungs- und Konzertsaal und Workspace mit verschiedenen Ateliers, Büros und Studios. Auch über die Grenzen des Gebäudes hinaus interveniert das GHC in bestehende Strukturen und symbolisiert in künstlerischaktivistischen Inszenierungen eine „für alle(s) offene“ Stadtkultur in Augsburg und darüber hinaus. Das Projekt wurde aufgrund der unmittelbaren Verbindung zu einer Asylunterkunft insbesondere zu Beginn der Krise der europäischen Flüchtlingspolitik rege besprochen und vielseitig ausgezeichnet. Dabei erfuhr es bisher keine öffentliche Aufmerksamkeit im Kontext von Postwachstum/Degrowth. Zu Beginn meiner forschenden Arbeit stand nicht die Absicht, das GHC als Projekt theoriegeleitet in einen Diskurs einzuordnen; ich suchte also nicht nach einer „Forschungslücke“, sondern initiierte einen systematischen Austausch zwischen den mich interessierenden Feldern – aktivistische Stadtgestaltung, transformative Forschung und Postwachstum – und damit den Versuch, das Transformationswissen auf beiden Seiten, als Wissenschaftlerin und Aktivistin, zu erweitern. Auf der Basis der von Barney Glaser und Anselm Strauss in den 1960er Jahren entwickelten Grounded Theory Methodologie (GTM) wollte ich den Alltag des GHC als einen historisch gewordenen, kollektiven Sinnformungsprozess4 untersuchen und

3„Hoteliers“

als Selbstbeschreibung der Betreibenden. Das sind Kreative, politisch Aktive, extra dazu Angereiste, engagierte oder vielseitig interessierte alte und neu hinzugekommene Augsburger*innen, die hier in unterschiedlichen Aufgaben- und Arbeitsverhältnissen zusammenwirken. Die Anzahl der Beteiligten variierte über die bisherige Entwicklung und so lässt sich die Größe der Unternehmung auch aufgrund des breiten Netzwerks an Assoziierten, die punktuell mitgestalten, schwer fassen. 4Da ich selbst in unterschiedlichen Positionen Teil dieses kollektiven Sinnformungsprozesses war (und weiter bin), ist mein Denken, Ordnen und Schreiben in besonderer Weise in der Situation begründet. In dieser Doppelrolle zwischen meinen Interpretationen als Forscherin und denen als Aktivistin differenzieren zu wollen, schien mir weder möglich noch erkenntnistheoretisch sinnvoll. Deshalb musste ich mir immer wieder bewusst darüber werden, von welchen Vorannahmen, Zielen und Gefühlen geleitet, ich als Beteiligte die untersuchte Situation aus meinen unterschiedlichen Positionen heraus re-konstruiere. Diese verschiedenen Ebenen meiner Forschung mit dem

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diesen aus einer transformationsorientierten Perspektive5 heraus verstehen und weiter denken. Dazu arbeitete ich mit der von Adele Clarke (2012) eingeführten Forschungsprogrammatik der Situationsanalyse und wandte mich in einer grundsätzlichen Ergebnisoffenheit „den in Worten und Taten ausgedrückten Auffassungen, Interpretationen, Absichten und Perspektiven der Menschen“ zu6 und versuchte, sie „nach ihren eigenen Bedingungen zu erforschen“ (ebd., S. 45). In diesem Prozess kristallisierte sich die folgende, meine Forschung leitende Frage heraus: „Was sind Bedingungen eines transformativen Möglichkeitsraums im Spannungsfeld zwischen Eröffnung und Einhegung innerhalb urbaner Raum(re-)produktionsprozesse im Alltag des GHC?“7

3 Grundbausteine meiner Forschungsfrage: Aneignung zentraler Begrifflichkeiten Zur Nachvollziehbarkeit der Genese meiner Forschungsfrage und zur Klärung meiner forschungsleitenden Interessen und Absichten bedarf es der Darstellung zugrundeliegender ontologischer Konzepte.

GHC versuche ich in diesem Beitrag in Form von Fußnoten (Raum für Reflexion als Forschende und wichtige forschungsbezogene Hintergrundinformationen aus meiner aktivistischen Arbeit) und über die Ergebnisdarstellung (prozessual, fragmentarisch, ästhetisch, autoethnografisch gefärbt) zumindest anzudeuten. 5Über meinen partiellen Blick rückt die Bedeutung, die der Anschluss der Asylunterkunft für das Projekt hat, immer wieder in den Hintergrund. Auch wenn Flucht und Asyl für das GHC konstituierende Schlüsselelemente sind, so blicke ich auf das GHC bewusst nicht als ein fluchtmigrantischer Ort, weil mein Fokus auf die Demokratisierung von Stadtentwicklung prinzipiell alle miteinschließt. Ich re-produziere damit wohlmöglich eine rassistisch-diskriminierende Beteiligungspraxis aktueller Stadtentwicklung, die Geflüchtete vielerorts nicht als Bürger*innen der Stadtgesellschaft miteinbezieht. Das Gegenteil ist meine Absicht. Wenn ich Geflüchtete nicht ausdrücklich hervorhebe, möchte ich vielmehr betonen, dass es um die gesamte, solidarische Stadtgesellschaft geht, die auch Geflüchtete miteinbezieht (vgl. Abschn. 4.2.2 zu solidarische Städte). Gleichzeitig re-präsentiert die fehlende Betonung von Menschen mit Fluchtgeschichte auch deren mehrheitlich physische Abwesenheit im GHC-Möglichkeitsraum: Geflüchtete erscheinen in den Gestaltungspraktiken des Möglichkeitsraums insbesondere als implizite Akteur*innen, wohingegen sie diskursiv diesen Raum als zentrale Elemente tragen, was ebenfalls kritisch zu betrachten lohnt (siehe dazu Costa Carneiro 2020). 6Dazu generierte ich auf mein Erkenntnisinteresse bezogene Daten: das Transkript eines zweistündigen, reflexiven Gruppengespräch diente mir als zentrale Datenquelle in der Analyse und i.S. des Theoretischen Samplings reicherte ich diese über Feldnotizen und dokumentierte Aussagen und Handlungen als prozessbegleitende „Gepäckbeförderung“ an, sowie aus Re-Präsentationen des GHC (Erstkonzept, Internetmedien, Presseberichte). 7Zur Erläuterung der Begriffe Einhegung und Eröffnung siehe Beginn Kap. 6.

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3.1 Die (Re-)Produktion sozialer Räume Das Konzept8 der sozialen Raumproduktion entnehme ich Henri Lefebvres (1991[1974]) dialektischem Denken, in dem er Raum gemäß seinen Manifestationen als erfahrenen, erdachten und gelebten Raum erfasst. Diese Dreiheit vermittelt, dass Raum einen komplexen Charakter hat und in die gesellschaftlichen Beziehungen auf allen Ebenen gleichzeitig eindringt. Raum konstituiert Gesellschaft und materialisiert sich über ihre soziale Praxis, einschließlich ihrer Interessen und Bedürfnisse und ist dahingehend historisch informiert: „every society […] produces a space, it’s own space“ (Lefebvre 1991, S. 31). Da die einzelnen Dimensionen des Raumes stetigen Änderungen unterliegen, sind auch ihre Beziehungen zu den anderen Raumdimensionen immer in Bewegung. Dadurch ergeben sich teils widersprüchliche Raumproduktionsverhältnisse, es entsteht „differentieller Raum“ (Lefebvre 1991, S. 352 ff.), in dem sich – vereinfacht gesagt – über Verschiebungen von Raumkonzepten schließlich gesellschaftliche Veränderung vollzieht (Vogelpohl 2018, S. 153). Die Überzeugung, dass Raum kein leerer Behälter, sondern politisch umkämpft und gesellschaftlich veränderbar ist, wird zur ontologischen Prämisse Lefebvres Forderung eines „Recht auf Stadt“ (2016) und begründete gleichsam den Prozess der hier präsentierten Forschung. Lefebvre geht es dabei um mehr als den Anspruch auf Teilhabe. Er fordert das „Recht auf das städtische Leben“ (ebd., S. 166), was in der Aneignung und Veränderung der aktuellen Stadt entsteht. Auf eine tiefgreifende Demokratisierung des Städtischen zielt auch David Harvey (2015, S. 23), wenn er das Recht auf Stadt als „a right to change ourselves by changing the city“ übersetzt. Anne Vogelpohls lefebvre’sch-feministische9 Lesart der Stadt weitet den 8Meine

Exploration des ontologischen Konzepts sozialer ­ Raum(re-)produktion ging aus der Begegnung mit Henri Lefebvre im aktivistischen GHC Alltag hervor (vgl. Christoph Schäfer 2016). Ich behielt es als sensibilisierendes Konzept bei (und dachte es aus einer Postwachstumsperspektive feministisch weiter), weil es die Integration verschiedener, in der sozialen Welt des GHC existierenden Perspektiven ermöglicht und gleichzeitig zentrale Werte (z. B. Gleichwertigkeit in Ungleichheit) und Zielvorstellungen (z. B. Eröffnung ko-produzierender Räume) mit dem Projekt teilt (zur Aneignung sensibilisierender Konzepte aus der beforschten Wirklichkeit vgl. Duckles et al. 2019, S. 640). 9Lefebvres „Recht auf Stadt“ feministisch weiterzudenken gelingt Vogelpohl über die folgenden zentralen Begriffe, die sowohl in Lefebvres sozialtheoretischen Entwürfen als auch in ­kritisch-feministischen Ansätzen signifikant sind: Differenz, Alltag, Verwerfen von starrem Denken und Kollektivität (2018, S. 153 f.). Diese Begriffe werden von Lefebvre philosophisch gedacht, während sie in feministischen Theorien (forschungs-)praktisch und politisch leitend sind. Darüber hinaus schlägt Vogelpohl drei methodologische Werkzeuge vor, die lefebvre’sch informierte Forschungsansätze erweitern können: Reflexion der eigenen Positionalität, intersektionales Denken als „der Fokus auf die Verschränkung von unterschiedlich gelagerten Differenzkategorien“ (2018, S. 154) und die Anerkennung verschiedener Wissensformen und ihrer politischen Subjekte (ebd.). Diese methodologischen Werkzeuge verstehe ich ergänzend zu meiner forschungsleitenden Programmatik der Situationsanalyse. Sie ermöglichen, meine Untersuchungssituation explizit politisch zu lesen und als Raum transdisziplinärer Wissen(schaft-)sproduktion anzuerkennen.

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Blick auf Bedingungen, die substanzielle Veränderungen ermöglichen oder einhegen, wenn sie diese fasst als „Ort des Alltages, in dem das Zuhause, die Straße, Produktionsstätten, Diskurse von Schönheit und Körper, Verstecke, Erinnerungen, öffentliche Orte, Orte der Reproduktion und vieles mehr verschränkt sind“ (Vogelpohl 2018, S. 155). Für Vogelpohl lassen sich hier komplexe Zusammenhänge von Intersektionalität, Positionalität und Kollektivität konkretisieren und politisieren (ebd.). Dieses Stadtverständnis ermöglicht mir, den verräumlichten Alltag, also die anhaltenden sozialen Produktions- und Reproduktionsprozesse des GHC in den Blick zu nehmen und diese selbst als zentrale Ebene der Transformation zu erkunden.

3.2 Urbane Strategien emanzipatorischer Transformationsprozesse Während sich über eine lefebvre’sch-feministische Konzeption sozialer Raum(re-) produktion der GHC Alltag als breites Forschungsphänomen für eine ­kritisch-solidarische Untersuchung öffnen lässt, bedarf es im Weiteren einer Konkretisierung dessen, was in diesem Alltag analytisch gefasst werden möchte. Dazu skizziere ich das sensibilisierende Konzept des transformativen Möglichkeitsraums, zunächst über entsprechende Argumente in der Diskussion um Postwachstum und urbane Transformation.

3.2.1 Eigenschaften gesellschaftlicher Transformationsprozesse Der Wandel hin zu einer Postwachstumsgesellschaft wird in den meisten Beiträgen mit dem Begriff der Transformation10 verbunden (u. a. Brie 2014; Adler 2016; Muraca 2015). In Abgrenzung zum Rekurs auf Demokratisierungsprozesse anderswo (Reißig 2014, S. 108) oder der Interpretation des Transformationsbegriffs als rein ökologisches, technisch-organisatorisches Projekt (ebd., S. 109) sowie in deutlicher Erweiterung zu Begriffen der Transition und Reform (Brand 2014) meint Transformation hier den radikalen Umbau, Rückbau, Aufbau und Wiederaufbau einer (Stadt-)Gesellschaft. Transformationsprozesse zeichnen sich durch einen komplexen, mehrdimensionalen Übergang zu und einer Neukonstitution von Typen sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Ordnung aus (Reißig 2014). Ein Prozess, der sich entsprechend auch geografisch und baulich materialisiert. Dieser Wechsel vollzieht sich in einem interdependenten Verhältnis zwischen intendiertem, zweckgebundenem Handeln und evolutionärem, eigendynamischen und nicht steuerbarem Prozess. Sehr treffend bezeichnet Rolf Reißig (2014,

10Ganz allgemein bedeutet Transformation „Umwandlung“ oder „Umgestaltung“, bestehend aus einem Überschreiten („trans“) auf einen quasi emergenten Prozess und der Formung und Gestaltung („formation“), also gewisser Weise der Ordnung dieses Prozesses (Kluge, T. & Hummel, D. (2006). Transformationen. In: E. Becker & T. Jahn (Hrsg.), Soziale Ökologie. Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen (S. 259–266). Frankfurt am Main, New York: Campus.).

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S. 56) diesen als „Such-, Lern- und Experimentierprozess“ kollektiver und individueller Akteur*innen mit bestimmten gemeinsamen Zielorientierungen, normativen Leitideen oder geteilten Zukunftsannahmen. Trotz dieser Vorannahmen zeichnet sich Transformation durch einen ereignishaften und kontingenten Entwicklungsprozess aus. Transformationsprozesse wachsen vor allem aus dem Inneren von Gesellschaften, können aber auch durch exogene Anstöße oder spezifische Ereignisse begünstigt werden. Dieser Prozess der grundlegenden gesellschaftlichen Umformung vollzieht sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen und wird dort von entsprechenden Akteur*innen gestaltet (ebd., S. 110).

3.2.2 Konturen einer emanzipatorischen Transformationsstrategie Barbara Muraca (2015, S. 205) differenziert drei Ebenen, die für eine gesellschaftliche Transformation11 in den Blick genommen werden müssen: die Ebene der individuellen und kollektiven Praktiken, die Ebene gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen und die Ebene des sozialen Imaginären. Freiräume ausweiten, ­nicht-reformistische Reformen durchsetzen und Gegenhegemonie aufbauen, sind drei komplementäre Strategien im Spannungsverhältnis zwischen kleinteiligen Praktiken von unten und konkreten Politikvorschlägen und einer gesamtgesellschaftlichen Vision, die im Zusammenspiel auf den Ebenen der Transformation den Umbau zur Postwachstumsgesellschaft ausmachen (Schmelzer und Vetter 2019, S. 206 ff). Das soziale Imaginäre12 ist nach Serge Latouche (2015) der komplexe Bedeutungszusammenhang, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt legitimiert. Nach Latouche hat die Wachstumsideologie lange Zeit das soziale Imaginäre in modernen Industrienationen kolonisiert, also die Vorstellung, dass Wachstum wünschenswert, notwendig und im Wesentlichen unendlich sei dominiert unsere (mentalen) Infrastrukturen (Latouche 2015; Schmelzer und Vetter 2019, S. 223) anhaltend. In neoliberal strukturierten Städten bezieht sich Gestaltungsmacht insbesondere auf ein soziales Imaginäres, das einmal vorgibt, das städtische Gemeinwohl bedürfe grundlegend der Erweiterung von Standortfaktoren zur Akkumulation von wohlstandsversprechenden und urbanen Infrastrukturen. Darüber hinaus gibt es vor, das Gemeinwohl repräsentiere einen „vollständigen“, „gesellschaftlichen Willen“ und es herrsche Konsens über das gute Leben in der Stadt (Rinn 2018, S. 16). Für eine

11An dieser Stelle ist kritisch zu reflektieren, dass sich der hier skizzierte Transformationsbegriff westlich begründet aber über seine gesamtgesellschaftliche (sprich weltgesellschaftliche) Bezugnahme Gefahr läuft, andere Regionen kolonialisierend in ihren eigenen Strategien, Praktiken und Bedingungen zu vereinnahmen. Der kolonialisierende Charakter des stark normativ geprägten Transformationsbegriffs wirkt sich im Übrigen auch auf die hegemoniale Beherrschung der Zukunft der Welt aus. 12Beim sozialen Imaginären geht es um die Grundlage tiefer Überzeugungen, etablierter Werte und das fundamentale Selbstverständnis einer Gesellschaft, das sie zusammenhält (Muraca 2015, S. 205). Es stellt somit den Legitimations- und Rechtfertigungshintergrund von Praktiken, Handlungen und Institutionen im weiteren Sinne dar und ist damit für eine gesamtgesellschaftliche Umformung zentral.

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gesamtgesellschaftliche Transformation bedarf es also zunächst einer Dekolonisierung des sozialen Imaginären. Das bedeutet, dass wir uns einmal von dem beherrschenden Wachstumsparadigma emanzipieren und gleichzeitig eine Gegenmacht aufbauen müssen, die im Sinne eines alternativen Alltagsverstandes gesellschaftliche Veränderung hin zu einer solidarischen Lebensweise stärkt (Schmelzer und Vetter 2019, S. 225). Um Zugänge zu einem zukunftsfähigen Miteinander zu erweitern, brauchen wir ver-öffentlichte Alternativerzählungen, die erfahrbar gemacht und die über die Bezugnahme zu (gesamt-) gesellschaftlichen Krisensituationen politisiert werden13. Solche Erzählungen entstehen auf der Ebene der individuellen und kollektiven Praktiken etwa in transformativen Möglichkeitsräumen, oder auch in der kollektiven Produktion von postkapitalistischen Nowtopias und sozialen Bewegungen (Schmelzer und Vetter 2019, S. 219). Die Ebene gesellschaftlicher Institutionen, Strukturen und Politiken ist insbesondere zur Verallgemeinerung kooperativer Nischenexperimente und zur Überwindung kollektiver Wachstumsabhängigkeit innerhalb der gegenwärtigen Infrastrukturen und Institutionen bedeutsam (Schmelzer und Vetter 2019, S. 221). Während Freiraumstrategien auf eine Veränderung von unten zielen, liegt bei n­ icht-reformistischen Reformen der strategische Fokus auf der Entwicklung von Vorschlägen zur Veränderung und nachhaltigen Neukonstitution von Politiken und Institutionen, die ein postwachstumsgesellschafltliches Leben strukturieren (Schmelzer und Vetter 2019, S. 214–225). Letztlich wird die Transformation nur gelingen und nachhaltig einen gesamt-gesellschaftlichen Umbau entfalten, wenn es sich um eine dezidiert demokratische Transformation handelt: „Eine Transformation jetziger Wachstums- zu Postwachstumsgesellschaften muss sowohl eine demokratische Transformation sein als auch […] eine Transformation der Demokratie selbst“ (Bohmann und Muraca 2016, S. 290, Hervorh. i. O.). Cornelius Castoriadis’ Demokratiekonzept und seiner Vorstellung einer paideïa, eines demokratischen Erziehungsprozesses, gilt einigen Postwachstumsdenker*innen als politisch theoretischer Ansatzpunkt in Überlegungen, wie die Transformation zur Postwachstumsgesellschaft demokratisch gestaltbar ist (u. a. Bohmann und Muraca 2016; Latouche 2015; Roos 2019).

3.2.3 Die Stadt als gestaltbare Transformationsarena Eine alles umfassende, langfristig ausgerichtete Unternehmung, wie es die demokratische Umformung zur Postwachstumsgesellschaft fordert, muss notwendigerweise konkrete Vorschläge für Veränderungen auf den jeweiligen Ebenen entwickeln, um realisierbar zu werden. Die Stadt als gesellschaftliche Institution verstehe ich dabei nicht als isolierten Transformationsgegenstand sondern als global-regional vernetzten, lokalpolitischen Handlungsraum, der durch das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung

13z. B. auch Klimacamps als Orte präfigurativer Politik, vgl. Beitrag von Julia Hübinger in diesem Band.

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zur zentralen, prozessgestaltenden und koordinierenden Transformationsarena wird.14 Dabei sind Städte „in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, im Rahmen von politischen Kontexten, ökonomischen Funktionen oder allgemeinen soziokulturellen Trends zu interpretieren“ (Kemper und Vogelpohl 2011, S. 22). Das bedeutet in der aktuell herrschenden Situation von neoliberaler Stadtentwicklung, dass Strategien der Umgestaltung hier auf eine umfassende Re-Politisierung der Bürger*innen und ihres alltäglichen, kommunalen und lokalen Handelns (vgl. Roos 2019, S. 55) zielen sollten. „[W]hat does it mean, for example, freedom or the opportunity for citizens to participate, he asks, if in the society of which we are talking about there is not something – which disappears in contemporary discussions … – and that is the paideïa, the education of the citizen? It does not mean teaching arithmetics, it means to teach him to be a citizen. Nobody is born a citizen. And how to become one? Learning to be. We learn it, first, looking at the city in which we live. And certainly not watching today’s TV“ (Castoriadis 2010, S. 69, zit. nach Latouche 2015, Kap. 25).

Grundlegend für Castoriadis’ Idee der paideïa ist die Überzeugung, dass die eher passiv-institutionelle Formung von Subjekten über einübende Teilhabe für die Entwicklung echter Mündigkeit und Selbstbestimmung als Bürger*innen nicht ausreichend ist (Sörensen 2016, S. 34). Darüber hinaus brauche es im Prozess der demokratischen Subjektivierung eine forcierte politische Unterrichtung und eine radikaldemokratische Bildung, die im Sinne einer Erziehung „zur Kritik“ (Sörensen 2016, S. 34) auf eine „Form non-konformistischen Engagements als Leitbild setzt“ (Sörensen 2016, S. 34). Ansätze einer solchen Politisierung von Bürger*innen sind aktuell z. B. in der s­tädtisch-organisierten Fridays for Future-Bewegung zu beobachten oder in alltagsaktivistischen Kontexten von der soziokratisch geleiteten Elterninitiative bis zur genossenschaftlich getragenen solidarischen Landwirtschaft. Diese Möglichkeitsräume bringen Stadtgesellschaften in Bewegung und schaffen Zugänge zur kollektiven demokratischen Subjektformung, weil sie sich auf aktuelle (welt-)gesellschaftliche Ungleichverhältnisse lokal beziehen und darüber erfahrbare, transformative Aktionsfelder im Umgang mit globalen Krisen er-öffnen.

14Ich

grenze meinen Blick damit entschieden ab zu der mittlerweile weitreichenden Perspektive der „Eigenlogik der Städte“: Eigenlogik verweist darin auf eine allgemein herrschende Struktur der Städte, die nicht auf individuelle Handlungen oder gesamtgesellschaftliche Bedingungen zurückgeht, sondern in einem „gewachsenen Kanon routinierter und habitualisierter Praktiken“ (Löw, M. (2010). Soziologie der Städte. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 613) zu finden ist. Martina Löw (ebd., S. 606) versteht Stadt als das Ergebnis von lokalen, kulturellen Praktiken, die es zu verstehen gilt, um die „Eigenart einer Stadt zu begreifen“ (ebd., S. 606).“. Damit wird die „Eigenlogik der Stadt“ zur Interpretationsfolie, um individuelles Handeln oder Verhalten auf kulturelle Spezifika der Stadt zurück zu führen – und umgekehrt. Damit geht der Versuch einher, Stadt als einen eigenständigen Forschungsgegenstand zu etablieren, das Städtische somit als von dem Gesamtgesellschaftlichen getrennt zu betrachten und somit auch als isolierten Transformationsgegenstand zu konzeptualisieren (vgl. Kemper und Vogelpohl 2011, S. 19 f.).

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3.2.4 Städtische Möglichkeitsräume als lokale Inkubatoren einer Transformationsstrategie Der Begriff des Möglichkeitsraums ist als Konzept seit den 2000ern in der Stadtplanungsliteratur zu finden. Reiner W. Ernst (2018) beschreibt städtische Möglichkeitsräume als von städtischen Initiativen und sozialen Bewegungen geschaffene Räume, „in und mit denen in der Stadt eine soziale und kulturelle Erneuerung zur Stärkung nachhaltiger Lebensweisen und Werte stattfindet oder auf den Weg gebracht wird. Sie sind Räume der offenen Kommunikation zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, der Experimente und der aufklärenden Vermittlung, der Kooperation und der grenzenüberschreitenden [!] Kommunikation auch unter (bisher) Fremden“.

Unter Einbezug von emanzipatorisch-transformationsorientierten Aspekten meines Blicks auf Stadt erweitere ich diese Definition für meine Forschungssituation: Ich fasse hier also transformative Möglichkeitsräume als soziale Laboratorien für gerechtes und wirklich nachhaltiges Zusammenleben und Gelegenheiten der (­Selbst-)Veränderung in einer Gesamtlage, in der die dominante Erzählung eine Alternativlosigkeit zu den aktuellen Verhältnissen propagiert. Inmitten der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden andere Formen sozialen Miteinanders erprobt, es entstehen dementsprechende Organisationsstrukturen und Kommunikationsweisen. Im kollektiven Arbeiten-im-Entstehen wird flüchtig eine Form von Gesellschaft sichtbar, die in ihren Qualitäten zukunftsfähig er-scheint: Sharing, commoning, up-cycling, repairing, caring stehen Symbol für endliche planetare Ressourcen und fokussieren die Reduktion auf grundlegende menschliche Bedürfnisse. Transformative Möglichkeitsräume sind nicht auf die Stadt begrenzt, sondern entstehen prinzipiell überall dort, wo sich individuelle und kollektive Akteur*innen im Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen selbstermächtigen und Bewältigungsstrategien er-finden, die nicht auf der Externalisierung von damit verbundenen Kosten gründen (z. B. Klimacamps, ad hoc Zeltstädte von Refugees in Athen). Darüber kommen die Akteure*innen in Prozesse unbestimmten sozialen Lernens im Tun, aus denen sich eine Kultur des im-gemeinsamen-Machen-voneinander-Lernens und Konturen kollektiver Autonomie ­ entwickeln können. Als informelle Bildungsorte sind sie „Räume, in denen die postpolitische Situation in Frage gestellt und mit Praktiken einer radikalen Demokratisierung experimentiert wird. Solche Experimente […] leisten ihren Beitrag zu alternativen Vermessungen und Kartografien des Denkbaren, des Wahrnehmbaren und folglich des Möglichen und Machbaren“ (Swynegedouw 2013, S. 155).

Als diskursive Räume sozialer Imagination eröffnen sie die Möglichkeit, eine bevorzugtere Gesellschaft als die, in der wir gegenwärtig leben, zu skizzieren. Stark normativ aufgeladen provozieren sie (Selbst-)Erfahrungsräume, in denen wir unsere Werte und Einstellungen ändern können, uns als politische Akteur*innen kennen lernen, woraus eine Motivation der Selbstermächtigung wächst. So kreieren Möglichkeitsräume auch

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ein kollektives, politisches Subjekt was zumindest in Form von Awareness-Raising wirkmächtig wird und darüber hinaus transformatives Potenzial birgt: In der kollektiven Erfahrung eines anderen Miteinanders erwächst die Möglichkeit, Gemeinschaft nicht nur neu zu denken, sondern auch anders zu verkörpern. So liegt im Alltäglichen das Politische: Als präfiguratives Handeln verstanden, zielt es darauf ab, normative Zukunftsentwürfe als Ausgangspunkt für gesamtgesellschaftliche Transformation im alltäglichen Handeln zu verankern, also in Bezug auf Formen sozialer Beziehungen, Entscheidungsfindungsprozesse, Kultur etc. zu verkörpern (Konzeptwerk et al. 2017). Transformative Möglichkeitsräume verbinden über ihren konkreten Ausdruck Ansätze auf allen drei Ebenen gesellschaftlicher Umformung. Sie sind also auch prädestinierte Situationen, um alternative soziale Prozesse kritisch-solidarisch zu untersuchen und empirisch fundierte Vorschläge zu formulieren, die die Diskussion zum guten Leben aller in der Stadt anreichern und darüber einen Beitrag zur Demokratisierung von Stadtgestaltung leisten (vgl. Wright 2017).

4 Demokratisierung von Stadtentwicklungspolitiken: Forschungsstand Aus meinem „Gespräch“ mit dem GHC formte sich im Prozess meiner Forschung mein Erkenntnisinteresse15. Aktuell interessiere ich mich für transformative Prozesse städtischer Raumformung16 auf der Ebene kollektiver Akteur*innen und Institutionen und im Besonderen, für Bedingungen ihrer Verstetigung. Mein Fokus in diesem Beitrag liegt auf solchen Ansätzen, die auf eine Demokratisierung von Stadtentwicklungspolitiken zielen. Ich schaffe damit einen Kristallisationspunkt meines Interesses, der interdisziplinär informiert ist, aber darüber hinaus reicht. In der Absicht, die verschiedenen konstituierenden Perspektiven zu skizzieren, gehe ich auf aktuelle wissen-

15Auch die Einbettung des GHC in den Diskurs um Stadtentwicklung ist nicht nur meinem persönlichen Interesse geschuldet, sondern entspricht einer geteilten Lesart der Potenziale des GHC als „städtebauliche Innovation“ (vgl. Städtebaupreis 2016) oder gelebter Raum (vgl. Christoph Schäfer 2016). Das GHC Gebäude miteinzubeziehen war deshalb wichtig, weil es als Schlüsselbedingung für die eigene Identität und das Selbstverständnis im GHC gelesen werden kann. Materialisierte Aspekte aus der Untersuchung auszuklammern würde entgegen dem eigenen Selbstverständnis zentrale Bedingungen des Selbst-Werdens dieses Möglichkeitsraums verkennen. 16Wenn ich von Raumformung spreche und damit voraussetze, dass urbane Transformation gestaltbar ist (und potenziell die Logik einer kapitalistischen Re-produktion überwinden kann), spreche ich aus einer klar privilegierten Position einer weißen, akademisch gebildeten, Mittelstands-Europäerin, die von einer bayerischen, mittleren Großstadt relativen Wohlstands aus auf Stadtproduktion blickt. Die Bedeutung eines solchen Blicks ist vor dem Hintergrund weltgesellschaftlicher Dominanz von prekären Städten durchaus kritisch zu befragen. Schließlich ermöglicht mir meine privilegierte Position aber auch, mich in kritisch-solidarischer Weise mit meiner eigenen Lebenswelt auseinanderzusetzen.

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schaftliche Diskussionen, Projektberichte und Theoretisierungen ein, vorwiegend im deutschsprachigen Raum. Aufgrund der Transdisziplinarität des untersuchten Forschungsphänomens und der Relevanz von praxisorientierten Projekten bespreche ich den Forschungsstand nicht entlang disziplinärer Grenzen. Es erscheint mir sinnvoller, meine systematische, den Forschungsprozess stetig begleitende Anreicherung von Wissen17 über die und aus meiner untersuchten Situation heraus nachvollziehbar zu machen. Mit der so entstehenden, unvollständigen Ordnung hoffe ich einen Einblick in transformative Ansätze demokratisierender Stadtentwicklung zu geben und mögliche Anschlussstellen zum Weiterdenken und -handeln im GHC anzudeuten. Meine Argumentation gründet auf einer Wachstumskritik18, die sich in Bezug auf eine Vielfachkrise des globalen Kapitalismus (Demirović et al. 2011) ausformuliert und damit – verkürzt gesagt – die Überlegung verbindet, der wachstumsgetriebene Kapitalismus beraube die (Welt-)Gesellschaft um die Bedingungen für eine gelingende demokratische Praxis (Ketterer und Becker 2019, S. 13). Die Art und Weise wie ich auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Problematisierungen blicke, orientiert sich an Kernelementen der gegenwärtigen Diskussion um Transformation zur Postwachstumsgesellschaft, die auf globale ökologische Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und ein gutes Leben in Wachstumsunabhängigkeit zielt (Schmelzer und Vetter 2019, S. 158) und sich von anderen kritischen Analysen insofern unterscheidet, als dass sie notwendige Veränderungsprozesse explizit fordert (ebd., S. 146): „Degrowth steht für einen Transformationspfad hin zu Formen des Wirtschaftens und der gesellschaftlichen (Selbst-)Organisation, in denen das Wohlergehen aller im Zentrum steht und die ökologischen Lebensgrundlagen erhalten werden. Dies schließt eine grundlegende Veränderung der alltäglichen Praxis im Umgang miteinander und einen umfassenden kulturellen Wandel ebenso ein wie eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise mit ihren Wachstums-, Wettbewerbs- und Profitzwängen“ (Konzeptwerk et al. 2017, S. 108 f.).

17Ich möchte den Lesenden nicht verheimlichen, dass ich mich bei der Anreicherung von Kontextwissen insbesondere für solche Beiträge interessiere, die sich um die Re-Politisierung von Stadtgestaltung bemühen. Die Strukturierung des Forschungsstandes scheint darum auch stark über meine normativen Absichten beeinflusst. 18Ich stehe dabei einer kapitalismuskritischen Degrowth-Position nahe, die sich ausgehend von sozialer sowie ökologischer globaler Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufgrund der diagnostizierten imperialen Lebensweise einer globalen Mittel- und Oberschicht und deren „kosmopolitischer Plünderungsökonomie“ (Schmelzer, M. & Passadakis, A. (2011). Postwachstum. Krise, ökologische Grenzen, soziale Rechte. Hamburg: VSA., S. 10) formiert. „‚Wachstum‘ steht hier für ein übergreifendes Merkmal (Steigerungsdynamik) der autodynamischen Reproduktionsweise (Dörre et al. 2009) spätmoderner kapitalistischer Gesellschaften, ihrer Kultur und ‚imperialen Lebensweisen‘ (Brand und Wissen 2011), ihres Wohlstands- und Fortschrittsverständnisses“ (Adler 2016, S. 3). In diesen Gesellschaften scheint Wirtschaftswachstum insbesondere über ein Wohlstandsversprechen sozial legitimiert und für den Erhalt einer Konsumkultur notwendig gemacht.

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Eine Erweiterung der gegenwärtigen Diskussion zur urbanen Transformation um dezidiert wachstumskritische Raumanalysen und strategische Überlegungen zur sozialen Umformung aus der Postwachstumsdiskussion erscheint mir insbesondere im Hinblick auf die Forderung nach einer umfassenden Re-Politisierung von Stadtgestaltung naheliegend. Ausgehend von angedeuteten Zusammenhängen beider Diskussionen lese ich ausgewählte Ansätze unter Aspekten der Demokratisierung von Stadtentwicklungspolitiken und mache sie damit für meine Untersuchung zugänglich.

4.1 Wachstumsabhängige Stadtproduktion transformieren Obwohl die Frage nach der Stadt der Zukunft seit jeher disziplinübergreifend rege besprochen ist, so werden Städte in der bisherigen Postwachstumsdiskussion zumeist nur am Rande als gesellschaftliche Räume der Transformation und Lebensorte einer Postwachstumsgesellschaft thematisiert. Die Postwachstumsbewegung blickt auf reduktive Stadtpolitiken, wie sie in den Cittáslows in Bezug auf sanften Tourismus und Zeitwohlstand oder in den Transition Towns nach dem Permakulturexperten Rob Hopkins weltweit resiliente Produktions- und Lebensweisen lokal etablieren. Dezidierte und umfassende Auseinandersetzungen mit der Frage, welche Perspektiven Degrowth als ein politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Ansatz für die Transformation wachsender19 Stadtgesellschaften geben kann, sind hingegen bisher kaum zu finden.20 Degrowth und Stadt treffen sich in der Praxis und dort vor allem in Nischen: Nachbarschaftsgärten, Hausprojekte, alternative Freiräume, Repair-Cafés und Gemüsekooperativen (Stellmacher und Brecht 2017, S. 338) sind existente Verbindungen. Von diesen zu erzählen, kann das Gestalten und das Denken der Postwachstumsstadt gleichermaßen stärken. Auch wissenschaftliche Reflexionen praxisorientierter Ansätze oder theoretische Beiträge, die sich mit Fragestellungen zur Transformation von Städten befassen, sprechen kaum von Postwachstum/Degrowth oder thematisieren entsprechende Forderungen nur implizit. In aktuellen Forschungen wird urbane Transformation überwiegend einseitig technologischökologisch oder über den Begriff der Nachhaltigkeit und über „soziale Innovationen“ gedacht und raumtheoretische Perspektiven (dazu zähle ich hier Urbanistik, Stadtund Raumsoziologie, Geografie und Stadtforschung) beginnen erst langsam, sich der

19Abzugrenzen

sind hier Ansätze, die sich auf Shrinking Cities beziehen. bestätigen dies, wie z. B. Stellmacher und Brecht 2017; Varvarousis, A.; Koutrolikou, P. (2018). Degrowth and the City. https://www.e-flux.com/architecture/overgrowth/221623/degrowthand-the-city/. Zugegriffen: 27.07.19. Dieser Leerstelle widmen sich jüngst Postwachstums- und Transformationsforschende mit dem Projekt Postwachstumsstadt. Dieses unternimmt den Versuch, umfassende Entwürfe und Transformationsansätze einer solidarischen Stadt zu konturieren und in die Diskussion um Postwachstum/Degrowth einzubringen. Dazu Brokow-Loga, A. & Eckhardt, F. (Hrsg.) (2020). Postwachstumsstadt. Konturen einer solidarischen Stadtpolitik. München: oekom verlag.

20Ausnahmen

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­ ostwachstumsdiskussion zu öffnen (Schulz 2017). Sozialwissenschaftliche AuseinanderP setzungen, die sich umfassend mit der Demokratisierung von Stadtproduktion im Zuge der Transformation zur Postwachstumsgesellschaft beschäftigen, suchte ich vergebens21. Vielmehr erscheint in Beiträgen zur Postwachstumsdiskussion das Lokale als projektübergreifender Bezugspunkt22. Es finden sich unzählige Projekte, die sich als Graswurzelbewegungen (z. B. Transition Towns) auf lokaler Ebene formierten oder als think tanks Ideen zur Postwachstumsstadt (z. B. essbare Stadt, autofreie Stadt, Zero Carbon City) am Beispiel der eigenen Stadt konkretisieren (und teils davon ausgehend generalisieren): Dort wo Veränderungen am ehesten möglich scheinen, vor Ort, in Stadt und Kommune, setzen Ideen von Resilienz und Re-Lokalisierung auf verschiedenen Ebenen der Stadt an. „Der Prozess beruht auf einer erfolgreichen Einbeziehung und neuen Vergemeinschaftung der Bürgerinnen und Bürger in ihre Stadt und auf ehrenamtlichem Engagement“ (Köhler und Abraham 2015, S. 138). Sie fordern dabei zumeist jedoch keine umfassende Neuordnung gegenwärtiger Stadtproduktion und stärken darüber teils sogar herrschende Ungleichheitsverhältnisse (z. B. werden gegenwärtig im GHC über die Selbstausbeutung ehrenamtlicher Mitarbeitender lohnabhängige Fachkräfte u. a. in der Asylunterkunft eingespart. Diese würden in einer Postwachstumsgesellschaft über die Kombination von grundsätzlich drastisch reduzierter Lohnarbeit mit einem bedingungslosen Grundeinkommen hier unentgeltlich aber nicht prekär beschäftigt werden können). Andere prominente Konzepte23 städtischer Umgestaltung wie die Smart City, die Green City oder die „nachhaltige Stadt“ lassen sich hingegen von Ideen zur Postwachstumsstadt deutlich abgrenzen, weil sie sich eindimensional auf die Steigerung von Effizienz und Klimaschutz beschränken, während soziale Aspekte unterbelichtet bleiben (Hebert 2016, S. 298 ff.). Wenn sie Fragen der Umwelt- und Lebensqualität ins

21Das

mag auch daran liegen, dass räumliche Phänomene in den Gesellschaftswissenschaften generell eher peripher betrachtet werden, und Raum vielerorts immer noch als passiver „Behälter“, in dem „Dinge“ Platz haben verstanden wird (Lloveras, J; Parker, C. & Quinn, L. (2017). Reclaiming sustainable space: A study of degrowth activists, Marketing Theory, sagepub-journal. http://journals. sagepub.com/doi/10.1177/1470593117732458 am 16.12.2017. Zugegriffen: 02.09.2019). Oder aber Städte werden aus einer Perspektive der Eigenlogik gelesen und damit als Orte und soziale Räume der Transformation verkannt, und in ihren „gegebenen“ gesellschaftlichen Verhältnissen essenzialisierend festgeschrieben. 22Das Lokale als Bezugspunkt dem Städtischen vorzuziehen, ist strukturell gesehen sinnvoll, weil so auch ländlicher Raum oder kleinere Kommunen transformationsstrategisch mitgedacht werden können (Nagorny-Koring 2018). Ich denke, aus einem Blick auf konkrete lokale Raumpolitiken ist der Bezugspunkt „Stadt“ hier wichtig, weil er Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten kommunalpolitisch konkretisiert und Stadtbewohnende direkt anspricht. 23So finanzierte das BMBF ein umfangreiches Modell zur Smart City „Morgenstadt“ (kritisch: Hebert 2016), die OECD fasst zusammen, wie im Konzept der Green City (städtisches) Wachstum und Klimaschutz verbunden werden können (Nagorny-Koring 2018, S. 63) und die (neoliberalisierte) „nachhaltige Stadt“ scheint vielerorts fester Bestandteil im Stadtmarketing einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung.

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Zentrum stellen, zielen sie oft – verkürzt gesagt – auf die Expansion von Räumen und Möglichkeiten der Kapitalakkumulation (Nagorny-Koring 2018, S. 63), treiben damit eine De-Politisierung von Stadtproduktion voran (Michel und Roskamm 2013, S. 10; Swyngedouw 2015) und kommodifizieren darüber hinaus auch Transformationsbegriffe. Im Folgenden skizziere ich solche theoretischen und praktischen Ansätze, die ich aufgrund ihrer politisierenden Qualität für relevante Bezugspunkte im Nachdenken über die Transformation zur Postwachstumsstadt halte. Ausgangspunkt ist ein Verständnis von Stadt als Repräsentationsraum sozialer Wirklichkeit (Kemper und Vogelpohl 2011) und eine kapitalismuskritische Lesart gegenwärtig dominierender Ordnungen der Stadt, die u. a. über Konzepte der postpolitischen, neoliberalisierten Stadt entschlüsselt werden können und mit Möglichkeiten einer (Re-)Politisierung urbaner Produktionsverhältnisse konfrontiert werden sollten.

4.2 Möglichkeiten einer (Re-)Politisierung urbaner Gegenwartszenarien er-finden oder: Das städtische Leben einer Postwachstumsgesellschaft entwerfen „Was wir heute brauchen, ist das Aufzeigen neuer politisierter Wege hin zur Produktion einer neuen, gemeinschaftlichen Urbanität“ (Swyngedouw 2015, S. 180).

Diese gemeinschaftliche Urbanität sieht Erik Swyngedouw (2015) aus der „Politisierung der Umwelt“ erwachsen, die als „egalitäre, demokratische Auseinandersetzung und als Kampf um die Produktion sozioökologischer Bedingungen verstanden wird, in denen wir gerne leben würden“ (ebd., S. 180). Dazu müssen Dispute um das gute Leben für alle(s) als Grundlage für urbane Arrangements in den Vordergrund gerückt und positiv verkörperte, egalibertäre, jetzt realisierbare sozioökologische Zukunftsvisionen benannt werden (ebd., S. 184). Swyngedouw geht es um die Politisierung urbaner Gegenwartsszenarien. Diese bedarf einmal der Anerkennung der politischen Unbestimmtheit der Natur und der konstitutiven Verschiedenheit zwischen den Menschen einer Gesellschaft. Weiter müssen politische Gleichheit uneingeschränkt gefordert, sowie reale Möglichkeitsbedingungen mit transformativem Potenzial sichtbargemacht und realisiert werden. Ganz generell zielen derartige Gestaltungsansätze auf eine aktualisierte Wiederbelebung der Stadt und der polis als politischer Raum (ebd., S. 184). Der Raum wird „politisch in dem Sinne, dass er […] zu einem integralen Bestandteil der Unterbrechung der ‚natürlichen‘ (oder besser noch: naturalisierten) Herrschaftsordnung wird, dadurch, dass sich jene, die keinen Platz in dieser Ordnung haben, einen Ort der Begegnung schaffen. Das Politische gibt sich so gesehen durch diese Begegnung als Moment der Unterbrechung zu erkennen, nicht durch die bloße Existenz von Machtverhältnissen und Interessengegensätzen“ (Dikeç 2005, S. 172).

Mit Jaques Rancière gesprochen, machen diese Orte der Begegnung, der ­Ver-Unordnung sichtbar, was vorgeblich nicht existiert, weil es nicht identifizierbar, nichtintelligibel ist.

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Solche politischen Räume geben den Anteillosen einen Anteil, machen das Unvernehmbare vernehmbar (Kleesattel 2016, S. 32). Mit dem „Anteil der Anteilslosen“ fasst Rancière die Personen, die nicht teilhaben an den Gütern, Positionen, Orten; diejenigen, die in der bestehenden Ordnung keine Rolle spielen (ebd., S. 30). Versteht man z. B. Migrationspolitik im Gegensatz zum Politischen als polizeiliche Maßnahme so werden gegenwärtig Flüchtende als Anteilslose abgeschnitten und „aus allen Rahmen (an)gemessener Existenz“ verworfen. Allerdings bleiben sie trotz ihres Ausschlusses permanent präsent und bedeuten eine potenzielle Infragestellung der konstitutiven Ordnung (ebd., S. 32). Damit birgt das Politische eine intervenierende, verändernde, ermöglichende Qualität, die über die Verhandlung von Interessen hinausgeht und auf die Restrukturierung des konstituierenden gesellschaftlichen Raumes abzielt (Žižek 2010, S. 287). „Politik in diesem Sinne ist die Fähigkeit, die Grundlagen, auf denen sich der politische Streit entfaltet, zu diskutieren, in Frage zu stellen und zu erneuern, die Fähigkeit, eine gegebene Ordnung radikal zu kritisieren und für eine neue und bessere zu kämpfen. Kurz gesagt, Politik verlangt, dass man den Konflikt akzeptiert“ (Swynegedouw 2013, S. 153).

Insofern als dass die gegenwärtige postpolitische Stadt und ihre hegemonialen, konsensuellen Bilder der Gesellschaftsordnung eine bestimmte Fiktion darstellen, braucht eine radikaldemokratische Gesellschaftsbildung neue große Erzählungen, die echte Möglichkeiten für den Entwurf städtischer Zukünfte eröffnen (Swynegedouw 2013, S. 154). Eine solche alternative Erzählung ist die der Postwachstumsstadt.

4.2.1 Soziale Imaginative einer Postwachstumsstadt: Urban Commoning „Das Durchkreuzen elitärer Fantasien erfordert den intellektuellen und politischen Mut, sich egalitäre Demokratien vorzustellen, die Produktion gemeinsamer Werte und die kollektive Produktion des größten kollektiven Werks, der Stadt; es erfordert die Einführung neuer politischer Entwicklungsmöglichkeiten eines Lebens in Gemeinschaft und, am wichtigsten, den Mut, eine Wahl zu treffen, Partei zu ergreifen“ (Swyngedouw 2016, S. 185).

Aktuell sind es insbesondere experimentelle Projekte, soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen, die solche Fiktionen innerhalb der Spannungen, Inkonsistenzen und Ausgrenzungen der neoliberalisierten Stadt skizzieren. Noch handeln sie kaum explizit im Zusammenhang einer demokratischen Wachstumswende aber inhaltlich nähren sie ähnliche Absichten: Die Eigentumsfrage im städtischen Raum zur Verhandlung zu stellen, sich den städtischen Raum (kollektiv) anzueignen und nach den eigenen Bedürfnissen gemeinsam zu gestalten, zu teilen, sich als Bürger*innen verantwortlich zu machen und Rechte einzufordern, Leerstände als Missstände zu kritisieren und zu offenen Orten zu transformieren, Stadt als Gemeingut zu konzipieren, in Vielfalt und Andersartigkeit zusammenzuleben, über das Wie zu streiten, mit Ungleichen in Dialog zu gehen. Viele der Projekte arbeiten nach konzeptuellen

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­Entwürfen des Commonings: Urbane Gärten, Up-Cycling-Werkstätten, Tauschläden und Repair-Cafés sind allesamt Formen urbanen Alltagshandelns, die gegen-hegemoniale Praxen erfahrbar machen und über die sich eine alternative Geschichte zum guten Leben in der Stadt erzählt. Begreift man Commons als soziale Beziehungen, die in einem beständigem Prozess ausgehandelt werden und in denen unterschiedliche wie auch sich widerstreitende Gemeinschaften den Zugang, die Nutzung und Bedeutungen definieren, dann muss der Raum, der der Herstellung dieser neuen Beziehungen dient, notwendigerweise auch Teil eines andauernden Prozesses des Aushandelns von Macht, Hierarchie sowie In- und Exklusion sein (Stavrides 2018, S. 15). Entsprechend sind Räume des Gemeinschaffens prekäre, weil unbestimmte und unsichere Prozesse der Selbstorganisation und -verwaltung. Getragen und versorgt durch jene, die Gemeingüter nutzen (Gruber 2018, S. 45) sind sie auch von Menschen politisch besetzte öffentliche Güter (Harvey 2013, S. 136 f.). Als Ergebnisse sozialer Aneignungsprozesse sind Commons prinzipiell in allen als essenziell angesehenen Lebensbereichen möglich (Stadt, Gesundheit, Mobilität, Wissen etc.). Aneignung kann als die Fähigkeit verstanden werden etwas, das bereits mit Bedeutung besetzt ist, kollektiv neu zu interpretieren und z. B. anderen Nutzungen zuzuführen (Ferguson 2014, S. 18). Die Commons, Allmende, Gemeingüter bezeichnen den Versuch, in Formen kollaborativer Sozialbeziehungen und gemeinsamen Sorgetragens demokratische Praxen in Gesellschaft und Ökonomie zu kultivieren (Baier et al. 2015, S. 49). Im Prozess des Gemeinschaffens liegt die Betonung im Gegensatz zu Privatinteressen auf der Materialisierung gemeinsamer Ziele. Das fordert ein Umdenken von Grund auf – im wahrsten Sinne des Wortes: Stavros Stavrides (2014) versteht Gemeinschaffen als „Prozess der Infragestellung bestehender Grenzen, des Erweiterns und der Interpretation von Raum“ (zit. nach Ferguson 2014, S. 19). Dieser bezieht sich auch auf das Überdenken von Gemeinschaft „as a shared identity, which excepts others, develops all the time methods and forms in order to invite newcomers“ (Stavrides 2017). So wird Gemeinschaft zu einem offenen politischen Prozess, über den die Bedeutung und die Form des Zusammenlebens befragt und potenziell transformiert werden kann (Stavrides 2016, S. 32 f.). Auf Situationen gegenwärtiger städtischer Raum(re-)produktion bezogen, bedeutet das, Stadt als Gemeingut zu verstehen und daraufhin veränderte, kollektive Vorstellungen dessen zu formulieren, was zukünftige urbane Gesellschaften strukturieren könnte. Projekte, die mit Ansätzen des urbanen Gemeinschaffens experimentieren, machen deutlich, dass urbane Räume zur Befriedigung der eigentlichen Bedürfnisse der Nutzer*innen gestaltet werden können. Sich den städtischen Lebensraum zu eigen zu machen, erzeugt potenziell ein Gefühl von Wohlstand aus der Wahrnehmung der subjektiven/kollektiven Kompetenz. In ähnlicher Weise zu der Erfahrung von Selbstwirksamkeit sieht Stavrides im Anschluss an Rancière hier Gelegenheiten der politischen Subjektivierung, in denen „people transform themselves while they are transforming their relations to others“ (Stavrides 2017). Mit Rekurs auf die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Refugees im Athen der „Flüchtlingskrise“ 2015 benennt er zentrale Voraussetzungen für den Prozess der Subjektivierung, auch von Neuankommenden: Hier wurden Refugees nicht in etwas

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hineingegeben und es wurde ihnen auch kein Zugang zu etwas Existierendem gegeben. Sie wurden zu Ko-Partizipierenden in der Formation von kleinen, illegalen, temporären Siedlungen in Form von ad-hoc Zeltstädten an unterschiedlichen Orten in Athen. Für Stavrides ist Commoning also ein Prozess, der Subjekte erschafft und nicht gebraucht. Er versteht diesen auf kollektiver wie individueller Ebene als reflexive, kritische Erneuerung unseres Selbst, als „becoming newcomers to ourselves, too“. Dazu brauche es nicht nur Aufmerksamkeit auf Machtbeziehungen und auf identitätsschaffende Vorbedingungen unserer eigenen Kultur, sondern auch ein Weitergehen und ein Suchen nach Möglichkeiten zur Erweiterung der Räume des Gemeinschaffens. Das Konzept der urban Commons bündelt unterschiedliche Praktiken städtischer Vergemeinschaffung und aktualisiert darüber auch das von Lefebvre geforderte Recht auf Stadt als „right to shape the city collectively“.

4.2.2 Soziale Bewegungen urbaner Transformation: Recht auf Stadt, Solidarische Städte und ein neuer Munizipalismus Die Verfasstheit der Stadt im Kapitalismus kann als eine wesentliche Ursache für soziale Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe gedeutet werden. Städtischer Raum wird als Ware behandelt. Unter dem Stichwort „Recht auf Stadt“ formieren sich weltweit Protestbewegungen, die neue städtische Räume erschaffen, die am Alltag der Stadtbewohnenden anschließen und der neoliberalen Verwertungslogik der Stadt größtenteils entzogen sind (z. B. Kotti & Ko; Deutsche Wohnen & Co. enteignen). Aufgrund ihrer partialen Interessen können sie sehr verschiedene Milieus versammeln (Stellmacher und Brecht 2017, S. 335). Sei es für das Bleiberecht von Geflüchteten zu kämpfen und rassistische Kontrollen öffentlich zu kritisieren, zu erforschen, wo Jugendliche sich in der Stadt unsicher fühlen, Leerstandsnutzungen und bezahlbaren Wohnraum zu fordern, oder gegen die Verdrängung von Marginalisierten aus den Stadtzentren vorzugehen – die Bezugspunkte in der Stadt sind vielfältig (Kiczka 2016). „Recht auf Stadt“-Bewegungen scheinen auch deshalb als strategische Allianzen für die Idee einer Postwachstumsstadt interessant, weil sie – anders als autonome Räume der 1980er Jahre – auch den Akteur*innen die Möglichkeit zur Formulierung eigener Gegenentwürfe geben, die es nicht gewohnt sind, sich in politischen Debatten zu artikulieren (vgl. Hardt und Negri 2009). Die Träger*innen dieser Räume der Wiederaneignung von Stadt kommen aus nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen und formieren so eine soziale Bewegung mit großer möglicher Wirkmacht für eine gesamtgesellschaftliche Transformation. Die Forderung auf das Recht auf Stadt geht auf Henri Lefebvre zurück, der dieses 1968 in Le droit à la ville als das Recht, nicht von städtischer Zentralität ausgeschlossen und in einen Raum abgedrängt zu werden, der im Zuge einer modernen, neoliberalen Stadtentwicklung zum Zweck der Diskriminierung produziert wurde (Schmid 2014, S. 184). Dirk Gebhardt und Andrej Holm (2011, S. 8) fassen Lefebvres Forderung so: „Das Recht auf die Stadt umfasst das Recht auf Zentralität, also den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens; und das

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Recht auf Differenz, das für eine Stadt als Ort des Zusammentreffens, des Sich-Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung steht. Es bezieht sich also gleichzeitig auf die Stadt als physische Form und auf die mit ihr in Wechselwirkung stehenden sozialen Verhältnisse und Praktiken. Es beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen und strategischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade. Das Recht auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen.“

Dabei richtet sich das Recht auf Stadt vor allem auf die, die mit Rancière gesprochen als die Anteilslosen gefasst werden können, weil ihre städtische Anwesenheit prekär oder illegalisiert ist, weil sie ökonomisch marginalisiert sind und so z. B. nicht selbst am Protest teilhaben können, weil sie aufgrund einer gegenderten, heterosexuellen oder moralischen Ordnung ausgeschlossen oder bedroht werden. Es richtet sich als Forderung und Aufruf an alldiejenigen, die von der hegemonialen Raumordnung als störende Elemente identifiziert werden und denen so das Recht auf Stadt, gesellschaftlich legitimiert, verweigert wird (Marcuse 2009, S. 190 f.). Die verschiedenen möglichen Bezugnahmen auf das Recht auf die Stadt eröffnen ein großes Potenzial, um Ansätze aus der Postwachstumsdiskussion „auf den Boden zu bringen“: Lefebvre lädt über seine Texte zur Stadt ein, Stadt und städtische Prozesse aus einer umfassenden Perspektive zu verstehen, also Stadt nicht nur auf die materiellen Veränderungen und Umverteilungen hin zu untersuchen, sondern auch Formen der symbolischen Repräsentation mitzudenken (Gebhardt und Holm 2011, S. 14). Das Recht auf Stadt kann aber auch als gegenhegemoniales Projekt gelesen werden, das utopische Visionen der Stadtentwicklung – und damit auch der gesellschaftlichen Veränderung – zusammenfasst (ebd., S. 15). Außerdem ergeben sich aus dessen Durchsetzung reformpolitische Forderungen (ebd., S. 16), die verknüpft mit Argumenten aus der Postwachstumsdiskussion starke Aussagekraft im Hinblick auf zukunftsfähige Stadtplanung und demokratisierende stadtpolitische Praktiken haben können. Schließlich trägt das Recht auf die Stadt in ähnlicher Weise wie die Diskussion um Degrowth auch das Potenzial eines neuen Internationalismus oder Transnationalismus, in dem wir hier in unserem Nachdenken über und in unserem Gestalten der guten Stadt für alle von Bewegungen des globalen Südens lernen können (zu Recht auf Stadt vgl. Mayer 2011). Solidarische Städte und ein neuer Munizipalismus Eine „Stadt für alle“ fordern auch Aktivist*innen aus Netzwerken und Bündnissen solidarischer Städte. In Reaktion auf die Krise der europäischen Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 formieren sich gegenwärtig zivilgesellschaftliche Gruppen, städtische Politiker*innen und Stadtverwaltungen zu Bewegungen der Städte des Willkommens, der Zuflucht und der Solidarität (Christoph und Kron 2019). Die entstehenden Initiativen gehen in den Widerstand zu den wachsenden Restriktionen europäischer und nationaler Grenz- und Migrationspolitiken und treten auf kommunaler Ebene für Schutz oder soziale Inklusion von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus ein.

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„Der politische Raum der Stadt ist also zu einem Kampf- und Experimentierfeld rund um die Zukunft europäischer (oder sogar globaler) Flüchtlings-, Migrations- und Grenzregime geworden, aber auch für eine grundlegende Demokratisierung städtischer Gesellschaften“ (Christoph und Kron 2019, S. 8).

Angelehnt an das Modell der Sanctuary Cities, zielen sie darauf, allen Stadtbürger*innen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu gewähren und tragen erklärtermaßen Repressionsmaßnahmen gegen illegalisierte Migrant*innen sowie auch Abschiebungen nicht mit. Seit der Durchsetzung der repressiven Abschiebepolitik Ende 2016/Anfang 2017 erhält das Konzept auch in europäischen Städten immer mehr Beachtung (Schleicher 2017)24. Hier geht es also vor allem um Rechte aller in der Stadt. Daran anschließend thematisiert auch das Urban Citizenship Konzept die Stadtbürger*innenschaft ohne Staatsbürger*innenschaft.25Für die Transformation institutionalisierter Stadtpolitiken scheint der insbesondere in einigen südeuropäischen Städten erstarkende neue Munizipalismus interessant, der als Reaktion auf ökonomische und politische Krisen in globalem Maßstab den Fokus auf lokale Handlungsmöglichkeiten linker Stadtverwaltung richtet (Christoph und Kron 2019, S. 10): „Munizipalistische Bewegungen streben an, kommunale Regierungen zu übernehmen oder zu beeinflussen, um lokale Institutionen (wieder) gemeinwohlorientiert auszurichten, ein neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu schaffen und so die Art wie Politik gestaltet wird von unten her zu demokratisieren und institutionelle Rahmenbedingungen zu verändern“ (Vollmer 2017, S. 147).

Der Begriff vermag unterschiedlichste Akteur*innen und soziale Bewegungen unter ihm zu vernetzen.26 Allen gemein ist eine „Methodologie der politischen Praxis“, die ihren Blick auf alltägliche Widersprüche und soziale Beziehungen, auf die lokale Gemeinschaft (Vollmer 2017, S. 152) und das Gemeinwohl, oder besser: „das allgemeine Interesse“ (Fraser 2019, S. 227) lenkt. Was die munizipalistischen Bewegungen in den verschiedenen Städten Spaniens von den anderen Projekten und sozialen Bewegungen signifikant unterscheidet, ist ihr Bestreben eine neue Institutionalität zu erproben. Ihnen

24vgl.

auch Heuser, H. (2017). Sanctuary Cities in der BRD. Widerstand gegen die Abschiebepolitik der Bundesregierung. ­fluechtlingsforschung.net/sanctuary-cities-in-der-brd/. Zugegriffen: 05.04.2019. 25Während Rechtswissenschaflter*innen die juristischen Spielräume und Grenzen von Kommunen ausloten, beziehen sich sozialwissenschaftliche Diskussionen im Kontext solidarischer Städte insbesondere auf Debatten um globale Bewegungsfreiheit und Stadtbürger*innenschaft. Hier wird Stadt in einer internationalistischen Perspektive als konkreter Ort der Umsetzung globaler Rechte betrachtet (Kron und Lebhun 2018). 26Das zeigte sich im Kongress „Fearless Cities“, zu dem sich 600 Vertreter*innen dieser munizipalistischen Bewegungen (Bürgermeister*innen, Vertreter*innen lokaler Protestinitiativen) aus über 150 Städten weltweit auf Einladung „Barcelona en Comú“ im Juni 2017 in Barcelona zu Austausch und Vernetzung zusammen fanden (Vollmer 2017, S. 147).

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geht es nicht um die Besetzung der Institutionen oder die Ablehnung dieser, vielmehr versuchen sie sich in instituierenden Praxen und konstituierenden Prozessen und darin um „Weisen der Verstetigung, Bewahrung, Verknüpfung, Ermöglichung, Umhüllung und Sorge“ (Kubaczek und Raunig 2017, S. 8). Das Grandhotel Cosmopolis kann als eine neue Form der Institution gelesen werden, in der aus einer – wenn auch oberflächlichen Kooperation – von zivilgesellschaftlichen, kirchlichen und staatlichen Akteur*innen ein gegen-hegemonialer institutioneller Rahmen geschaffen wurde. Über die alltäglichen Praktiken der Hoteliers, ihre politischen Allianzen und alternativen Erzählungen werden darin dominierende Ordnungen im Umgang mit und in der Unterbringung von Asylsuchenden irritiert. Darüber hinaus wird das Projekt zum wirkmächtigen Symbol zivilgesellschaftlicher Einflussnahme (was u. a. „Nachfolgeprojekte“ spiegeln, vgl. Costa Carneiro 2020), die institutionelle Erneuerung exemplarisch sichtbar macht, aber auch deren Grenzen verdeutlicht. Die Auseinandersetzung mit strukturellen Einhegungen eines menschenwürdigeren, gerechteren und demokratischeren Umgangs mit Asylsuchenden gehört zum unbezahlten Alltagsgeschäft, und wird in künstlerischen Interventionen in die ­(Stadt-)Öffentlichkeit getragen. Aus der Absicht, über nicht-reformistische Reformen und Erneuerung von zentralen städtischen Institutionen breite strukturelle Veränderungen zu bewirken, scheinen munizipalistische Bewegungen für die Verstetigung von transformativen Möglichkeitsräumen im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft besonders interessant. Über die Nähe und Unmittelbarkeit politischer Partizipation können zudem Subjektivierungsprozesse erwachsen. Inhaltlich geht es um Bereiche der städtischen Versorgung (z. B. Wasser, Gesundheit, Müll, Soziale Daseinsvorsorge, Bildung, ÖPNV) und damit um alle zentralen Infrastrukturen urbaner Re-Produktion. Die Diskussion betont neben der Re-Munizipalisierung und der Umgestaltung von Demokratie auch die Erweiterung von Gemeingütern und feministische Politiken27 (Russell 2018; Ahora Madrid 2017). In dieser politischen Praxis der Übertragung einer alternativen Logik wandelt sich die kommunale oder munizipalistische Ebene – so die Absicht – von der Adressatin politischer Forderungen zur aktiv Beteiligten der sozialen Bewegung (Vollmer 2017, S. 148). Quer zur n­ ational-zentralistischen Politik birgt sie das Potenzial zur Ausbreitung in ganz Europa unter „einem Zusammenfluss, der alle gegebenen Skalierungen überfließt, vom kleinsten lokalen Zusammenhang des Dorfs oder Stadtteils bis zur translokalen Formation der neuen Munizipalismen“ (Kubaczek und Raunig 2017, S. 9).

4.2.3 Wege der Verstetigung transformativer Ansätze: Grundbedingungen der Stadtgestaltung kollektivieren Ausgehend von der These, dass der Neoliberalismus nicht nur das Wirtschaftssystem von alltäglichen Bedürfnissen entfremdet, sondern auch das politische System (Brown 2015),

27Die

Feminisierung der Politik zielt nicht nur auf Gendergleichberechtigung auf der Ebene politischer Repräsentation und Entscheidungsfindung, sondern darauf, „die Logik der Sorgeverhältnisse in das aktuelle politische Rahmenwerk zu übertragen“ (Ahora Madrid 2017, S. 108 f.).

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gelangen insbesondere auch formelle und institutionelle Bereiche der Stadtproduktion ins Visier transformatorischer Ansätze. Allen voran wird der Bereich der Stadtplanung als entpolitisierter Raum kritisiert, aus dem das konflikthafte Wesen des Politischen zugunsten von Bündnissen mit Großinvestor*innen verdrängt wurde (Gribat et al. 2017, S. 12). In aktuellen Diskussionen über steigende Immobilienpreise und Wohnungsknappheit werden neben den nach wie vor lautstarken marktradikalen Stimmen auch solche deutlich hörbar, die sich für eine Neuausrichtung der Bodenpolitik im Dienste einer sozialen Wohnungspolitik aussprechen. Dieser Gegenpol argumentiert für die Dekommodifizierung öffentlichen Bodeneigentums und für die Stärkung kommunaler Handlungsmacht sowie für eine kommunale Verwaltung von Bodeneigentum mit transparenten und allgemeingültigen Regelungen, also mit einer Stärkung von Government statt Governance (Heinz und Belina 2019, S. 30 f.). Weniger hörbar sind Forderungen sozialer Bewegungen, die der Diskussion noch einen wesentlichen Aspekt hinzufügen: Sie betonen die Verbindung des Bodeneigentums mit der Demokratisierung dessen (kommunal&selbstverwaltet Wohnen 2018) und denken in Richtung kollektiver Besitz von Boden und Immobilien, in der eine Vielzahl von Akteur*innen berücksichtigt werden müsste und darüber gleichzeitig der Schutz vor Reprivatisierung hergestellt werden könnte (Heinz und Belina 2019, S. 30). Stadtraum als Gemeingut zu begreifen kann auch hier als Türöffnerin einer emanzipatorischen Raumpolitik strategisch sinnvoll sein: Die Commons-Perspektive hinterfragt die Logik von Privateigentum und marktwirtschaftlicher Organisierung von Raum, Boden und städtischer Infrastruktur. Entgegen einem Verständnis von Planung als technischem, rationalem und linearem Vorgang der „öffentlichen Problemlösung“ und als konsensorientierte Interessensabwägung (Gribat et al. 2017, S. 14) fordert sie, die Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen in den Mittelpunkt von Raumvergabeordnungen und Stadtplanungen zu stellen. Gleichzeitig deutet sie auf die damit einhergehende Verantwortung von Architektur und Stadtplanung, gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Hier geht es auch um die Frage, welche materiellen Strukturen Raum für postwachstumsorientierte Lebensstile und Produktionsweisen bieten könnten (z. B. auch Tiny Houses; Clusterwohnungen, Solidarische Landwirtschaft etc.; vgl. Nelson und Schneider 2018). Die Suche nach entsprechenden rechtlichen Formen für die Auf-Dauer-Stellung des öffentlichen Eigentums führt zu Genossenschaften und Stiftungen oder zum Mietshäusersyndikat. Derzeit wird in Berlin versucht, nach dem Vorbild der Community Land Trusts aus den USA kollektiven Bodenbesitz in unsere gesetzlichen, ökonomischen und institutionellen Anforderungen zu übersetzen (Günkel 2019). Community Land Trusts definieren Eigentumsrechte um und übergeben diese teilweise an die Gemeinschaft, und ermöglichen so (anders als Wohnbaugenossenschaften) finanzschwachen Gruppen einen Zugang zu Wohneigentum28 (de Pauw 2012, S. 290). 28Dazu

werden Grund und Boden von der Immobilie getrennt betrachtet und von einem Community Land Trust (CLT) mit der Absicht erworben, für immer (i.S. des Erbbaurechts) Eigentümer des Grundstücks zu sein. Die Eigentümer*innen sind gemeinnützige, gemeinschaftlich-­ organisierte Gesellschaften, und der Erwerb, die Nutzung und der Weiterverkauf unterliegen

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Aspekte des Wohnens und Arbeitens sind durchzogen von gesellschaftsregulierenden Strukturierungen und bieten mannigfaltige Möglichkeiten hegemoniale Ordnungen in anderen Formen der urbanen Raumproduktion zu durchkreuzen: urbane Landwirtschaft, geteilte Raumnutzungen, offene Werkstätten und viele andere, die sich nicht unbedingt in bestehende Kategorien einordnen lassen. In diesen alternativen Raumproduktionen sind Organisationsformen zu finden, die oft über herkömmliche Formen privatwirtschaftlicher Unternehmen und Versorgungsbeziehungen hinausweisen (Schulz 2017, S. 13). Stadtplanung hat hier eine ermöglichende und fördernde Funktion: In der Gestaltung von Wohn- und Gewerbebauten oder öffentlichen Flächen können beispielsweise Räume des Teilens und dafür notwendige Infrastrukturen konzipiert werden. Oder aber planerisches Handeln wird radikal demokratisiert und städtische Räume kollektiv entworfen: „Neben dem physischen Raum gilt es die gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie die sozialen Praktiken mit einzuschließen und utopischen Überschuss zu produzieren. Die Umsetzung dieses Konzepts ist eine kollektive Wunschproduktion, deren Ergebnisse zur Grundlage von Stadtentwicklung werden“ (Tribble et al. 2017, S. 270).

So formuliert das Kollektiv PlanBude die Leitlinie ihres radikal ergebnisoffenen Beteiligungsprozesses – der Wunschproduktion – mit dem sie die Umgestaltung des Geländes der Esso-Häuser in St. Pauli, Hamburg, aus dem Stadtteil und dessen (­ Alltags-) Sprache heraus realisierten. Prozesse wie die PlanBude schaffen „Plattformen, die es ermöglichen, dass über die Frage, was und wie Stadt als Ganzes sein soll, ein Austausch entsteht“ (ebd.: 274, Hervorh. i. O.). In diesem Sinne wird hier das kollektive Wissen der Vielen zur Grundlage für die Übersetzung in eine Programmatik des Neubaus und damit zum Ausgangspunkt einer Stadtgestaltung „von unten“. Wie aber kann das Wissen der Vielen in eine Stadtgestaltung einfließen, die nicht bedingungslos offen ist, weil sie auf eine sozial-ökologische, solidarische Postwachstumsgesellschaft abzielen sollte? Wenn Bürger*innen durch praktische Teilhabe an der Gestaltung urbaner Prozesse ermächtigt werden (Abb. 1), kommt ihnen auch eine Verantwortung zu, das Gemeinwohl in den Fokus des eigenen Handelns zu stellen. Die demokratische Gestaltung einer Postwachstumsstadt bedarf also auch eines breiten, geteilten Verständnisses über die ökonomisch-ökologisch-politischen Krisenzusammenhänge und über machbare Ansätze ihrer Überwindung. Wollen also Entscheidungswege radikal demokratisiert werden, brauchen wir auch eine radikaldemokratische Bildung von Stadtbürger*innen. Hieran kann sich eine intervenierende Sozialforschung aktiv beteiligen.

bestimmter Einschränkungen, die darauf zielen, Wohnraum von der Marktentwicklung zu entkoppeln, kostengünstigen Wohnungsbau und andere Gemeinschaftsgüter zu entwickeln, zu errichten und zu verwalten (Mironova, O. (2018). Der Wert von Grund und Boden – wie Community Land Trusts das Wohnen erschwinglich halten. ARCH + Zeitschrift für Architektur und Urbanismus 51, 64–69).

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Abb. 1   Künstlerisch-aktivistische Stadtforscher*innen vom GHC eröffnen im Rahmen des „Ortswechsel“ einen städtischen Möglichkeitsraum. Im Austausch mit Interessierten über den Ort entstehen Entwürfe zu dessen Umgestaltung „von unten“, die der geplanten Kommodifizierung des urbanen Freiraums mit einfachen Mitteln entgegnen; Darstellung: Andreana Liora/„Ortswechsel“ Projekt

Wie können wir aber auf solche alternativen Prozesse forschend blicken, um sie in dieser Absicht für die Transformation aktueller Stadtentwicklungspolitiken zu öffnen?

5 Zur Konstitution meines forschenden Blicks „Our methods do not stand outside the structures in which we live“ (Charmaz 2016, S. 47). Nicht nur das Erkenntnisinteresse, auch meine Art und Weise, wie ich aktuell forsche, hat sich im Forschungsprozess selbst erst konstituiert. Im folgenden Kapitel versuche ich – in stark verkürzter Version (ausführlicher in Costa Carneiro 2020) – meine ontologischen und epistemologischen Vorannahmen, mein methodisches Vorgehen und mein Selbstverständnis als aktivistisch Forschende explizit zu machen.

5.1 Relationales, gewordenes, sinnvolles Soziales Ich forsche, weil ich überzeugt davon bin, dass wir das historisch gewordene soziale Leben besser verstehen müssen, um hier und jetzt mögliche zukunftsfähige Varianten unseres Zusammenlebens zu entwerfen. Mein Verständnis vom sozialen Leben ist

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geprägt von Erfahrungen, die ich in meinen Mit-Welten gemacht habe, vom Nachdenken und durch den Aus-Tausch darüber ebenso wie vom systematischen Denken anderer. In meinen sozialwissenschaftlichen Betrachtungen leitet mich die Auffassung, dass dem sozialen Leben kein verdeckter, vorhergehender Sinn zugrunde liegt, sondern die Bedeutung vielmehr im Sozialen selbst entsteht, wenn dieses von Menschen ge- und bedeutet wird (Blumer 1973) oder auch diskursiv formatiert und strukturiert wird (Keller 2012b, S. 13) oder sich in Beziehung zu anders-als-menschlichen Dingen konstituiert (Haraway 2016). Über die systematische Untersuchung von Praktiken und Diskursen29, die das Soziale und darin enthaltene Subjektivitäten konstruieren und konstituieren, wird das „erkennende Subjekt“ mit Foucault dezentralisiert und „Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind“ (Foucault 2003, S. 889) gelangen in den analytischen Fokus. Dadurch werden soziale Welten relevant, die als Diskursuniversen gemeinsam geteilte Perspektiven erschaffen (Mead 1938/1972, S. 518) und „die wichtigsten affiliativen Mechanismen, durch die Menschen soziales Leben organisieren“ (Clarke 2012, S. 86) darstellen. Sie sind Schauplätze organisierender Praktiken (Castellani 1999, S. 254–255), in denen Macht-Wissensbeziehungen interagieren und darüber interpretative Strukturen im Diskurs verkörpern (Clarke 2012, S. 96 f. im Anschluss an Foucault; Gubrium und Holstein 1997, S. 117). Reiner Keller (2012a, S. 12) fasst die Komplexität der sozialen (Re-)Produktion als permanente, aktive Gestaltungs- und Deutungsleistung. Damit ist das, was als wirklich und möglich von Handelnden wahrgenommen wird durch gesellschaftliche Wissensvorräte und institutionelle Gefüge vorstrukturiert30 (Keller 2013, S. 34). Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es keine einzige, objektive Wahrheit in der Betrachtung kollektiven Handelns gibt: Wahrheit ist „immer eingebunden in selektive menschliche Perspektiven auf die Welt; wahr ist das, was funktioniert, und zwar sowohl auf der Ebene des individuellen Denkens und Handelns wie auch beim kollektiven ‚Denken‘ und Handeln“ (Keller 2012a, S. 39 f.). Als Wirklichkeitsforscher*innen müssen wir anerkennen, Wahrheit nie abzubilden, sondern „lediglich“ zu re-repräsentieren (Exo 2015, S. 290 ff.), somit erscheint sie als kontingent, verhandelbar und partiell. Ein Satz, der als wahr gelten will, muss innerhalb einer geteilten Sinnwelt intersubjektiv Sinn ergeben und wird als umso wahrer gelten, je selbstverständlicher und kritiklos er er reproduziert wird (Franke und Roos 2013, S. 20). 29Mit

Keller (2013, S. 30) im Anschluss an Foucault verstehe ich „Diskurse als historisch entstandene und situierte, geregelte Aussagepraktiken, welche die Gegenstände konstituieren, von denen sie handeln“. 30Dementsprechend gliedert sich auch meine Perspektive in einen begrenzbaren Horizont möglicher Perspektiven ein. Das, was ich gegenwärtig über die GHC-Raum(re-)produktion wissen kann, basiert auf bereits bestehenden Wissensbeständen und -vorräten. Wenn andere Perspektiven auf das von mir mit-geteilte Wissen Bezug nehmen (auch in deutlicher Abgrenzung dazu), erweitert sich mein subjektiver Wissenshorizont über den mir bisher zugänglichen Teil hinaus, bleibt aber immer unvollständig und unfähig, Wirklichkeit umfassend zu verstehen.

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5.2 Eine Situation sozialer Raum(re-)produktion rahmen Intersubjektive Bedeutungsproduktion hat sowohl epiphänomenale wie materielle Konsequenzen für unsere Wirklichkeiten (Clarke 2012, S. 49). Im Sinne einer poststrukturalistisch informierten Grounded Theory Methodologie, wie sie Clarke mit der Situationsanalyse anbietet, richte ich mein Untersuchungsinteresse auf ein Verständnis von sozialer Komplexität, also auf die verschiedenen Handlungen, und darüber hinaus auch auf die wirkmächtigen nicht-menschlichen Objekte31 (z. B. Technologien, Tiere, Diskurse, bildliche Darstellungen usw.), welche die (Re-)Produktion der „sozialen Ganzheit“ (vgl. Clarke 1991) des GHC allesamt begründen. Mit Adele Clarke (2012, S. 24) fasse ich diese soziale Ganzheit als Situation und mache „das Verständnis ihrer Elemente und ihrer Beziehungen zum primären Ziel der Untersuchung“. Dem Konzept der Situation unterliegen vier wissenstheoretische Annahmen: In Anlehnung an das „­Thomas-Thomas-Theorem“ (Thomas und Thomas 1928) ist eine Situation, die als wirklich definiert wird, in ihren Konsequenzen wirklich (Clarke 2012, S. 65). Das bedeutet auch, dass durch meinen Blick auf die erforschte Situation diese interpretativ konstruiert wird und fordert in der Konsequenz, meine „Sicht der Dinge“ als nur eine unter vielen möglichen selbst-kritisch zu formulieren (ebd., S. 39) und möglicherweise sogar mit lokalen Wegen der Sinnproduktion32 zu verbinden (vgl. Duckles et al. 2019). Im Anschluss an C. Wright Mills’ (1940, S. 472) Ausführungen über situiertes Handeln erleichtern situative Fragen durch vorläufige Eingrenzungen eines breit gerahmten Erkenntnisinteresses im Verlauf der Datenerhebung handlungsleitende Motive zu erkennen (Clarke 2012, S. 67). Sie ermöglichen es, Forschungssituationen prinzipiell offen zu halten aber im Prozessverlauf immer wieder mittels Relationen und Perspektiven analytisch zu konturieren. Weil situative Fragen zwischen allzu abstrakten Fragestellungen und situativen, interrelationalen Bedeutungen vermitteln, sind sie mir ein wichtiges Werkzeug33, um mein Erkenntnisinteresse im analytischen Prozess weiterzuentwickeln und mich als (politisch) positionierte Forscherin sichtbarer zu machen. In der kritisch-feministischen Perspektive Haraways’ (1995) verpflichten die „Verkörperung der Wissenden und die Situiertheit des Wissens“ (Clarke 2012, S. 66) Forschende als Träger*innen spezifischen Wissens radikal in die Situation miteinzubeziehen. Das schafft nicht nur einen Zugang zur (selbst-)kritischen Reflexion der Wissensproduktion, es beinhaltet darüber hinaus eine zentrale Anforderung an das ­im-Entstehen verbleibende Forschungsdesign: So kann das „theoretische Sampling explizit darauf 31Konsequenterweise

dürfen auch solche Elemente nicht ausgeschlossen werden, die sich weder als menschlich noch als nichtmenschlich konzeptualisieren lassen, sogenannte Hybride oder Cyborgs oder Wasauchimmerfürwelche. Alle haben sie Eigenschaften und ihr Eigenleben (Clarke 2012, S. 104 f. ). 32Ein gelungenes Beispiel finde ich in diesem Band Deborah Dürings epistemologische Prinzipien, die sie von der indigenen Philosophie ableitet, mit der sie im Zuge ihrer Forschung konfrontiert wird. 33Ich mache in diesem Beitrag einige relevante situative Fragen über Kursivsetzung kenntlich.

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ausgerichtet werden, das breitest mögliche Spektrum an Variationen in wichtigen Datenquellen aufzutun“ und „bestimmte Aspekte der Situiertheit, Verschiedenheit(en) und Variation erforscht“ sowie „heterogene Positionen und Beziehungen (…) explizit aufgespürt, verfolgt, analysiert und diskutiert werden“ (Clarke und Keller 2011, S. 209)34. Clarke begreift die Situation als „immer größer als die Summe ihrer Teile, da sie deren Relationalität in einem bestimmten zeitlichen und räumlichen Moment enthält“ (Clarke 2012, S. 66). Hiermit entwickelt sich in der Situation „ein Eigenleben“ (Blumer in Hall 1997, zit. nach Clarke 2012, S. 66), welches ihr eine „Art Handlungsmacht zubilligt, ähnlich der Handlungsmacht, welche die Diskurse in der Foucault’schen Terminologie haben bzw. darstellen“ (ebd., S. 67). Mit dieser breit angelegten Situierung von Forschungsphänomenen schafft Clarke eine methodologische Grundlage, in der sie die Situation als zu konfrontierendes Objekt, wie auch als kontinuierlichen Prozess im Anschluss an die Konfrontation begreift (ebd., S. 65). Damit rückt sie die Bedingungen der Situation in den Fokus der Untersuchung, denn sie sind es, die diese nicht nur kontextuell, sondern relational begründen (ebd., S. 112). Das bedeutet, „dass alles, was sich in der Situation befindet, so ziemlich alles andere, was sich in der Situation befindet, auf irgendeine (oder auch mehrere) Weise(n) konstituiert und beeinflusst. Alles was sich tatsächlich in der Situation befindet oder auch nur so aufgefasst wird, bedingt die Handlungsmöglichkeiten, konstituiert ‚die Möglichkeitsbedingungen‘“ (Clarke 2012, S. 114).

Daraus ergibt sich die analytische Herausforderung zu deuten, was die konstitutiven Bedingungen der Situation sind (und was nicht) und aus welcher Perspektive „welches Element handelnd relevant und damit zu einem Bestandteil der Situation gemacht“ (Strübing 2018, S. 688, Hervorh. i. O.) wird. Mit Clarkes vier Prämissen lässt sich meine Untersuchungssituation rahmen: Die urbane Raum(re-)produktion im Alltag des GHC ist ein kontinuierlicher Prozess, der weit über den hier untersuchten Ausschnitt hinausgeht. Letzteren begrenze ich über den Zeitraum zwischen Ende 2011 und Ende 2018 und definiere ihn über die Deutung des GHC als transformativen Möglichkeitsraum, was folgenreich für den Sinnformungsprozess ist und darum (selbst-)kritisch reflektiert wurde (vgl. Costa Carneiro 2020). Als Transformationsforscherin öffne ich das GHC damit für eine Betrachtung aus einer emanzipativen Postwachstums-Perspektive, konkretisiere und begrenze gleichzeitig die Untersuchung der alltäglichen Stadtproduktion des GHC auf solche Verbindungen, in denen diese die Eigenschaften des Konzepts eines transformativen ­Möglichkeitsraumes

34Clarke

spricht dabei immer wieder von der Relevanz der Anerkennung von Verschiedenheiten und hebt dabei die Darstellung der Bedeutungen, die Verschiedenheit aber auch Gleichheit außerhalb „allgemein anerkannter und vorhandener Theorien“ für Menschen haben kann, hervor (Clarke 2012, S. 70 f.). Dieser methodologische Fokus der Situationsanalyse ist für mich ein Sozialforschung demokratisierendes Moment, weil so eindimensionalen – wenn auch kritischen – Wissen(schaft) spraxen, die immer auch hagiographisch sind, etwas hinzugefügt wird (vgl. Clarke 2012, S. 99).

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aufweist. Wie dem GHC diese Eigenschaften zugesprochen werden, befragt also im doppelten Sinne einmal die Art und Weise meiner methodischen Praxis, der herangezogenen Konzepte und außerdem die eigensinnigen Darstellungen der beforschten sozialen Welt und unterstreicht damit die Situiertheit von Wissen der Forschenden und Teilnehmenden gleichermaßen. Über diese artifizielle Verbindung wird beispielhaft sichtbar, dass wir als Wissen-Schaffende keine unschuldigen Entdecker*innen sind: „In Wirklichkeit müssen wir unbescheidene Zeugen werden, zugestanden verkörperte Wissende, und neue, ja, radikale Vorstellungen davon produzieren, was gewusst werden kann und sollte“ (Clarke 2012, S. 64, Hervorh. i. O.).

5.3 Forschungswerkzeuge: Sensibilisierende Konzepte, Maps, Memos, Selbstreflexion Was gewusst werden kann, ist abhängig davon, wie und mit welchen Absichten wir soziale Wirklichkeit beobachten. Wenn ich gegenwärtig forsche, arbeite ich mit den drei von Clarke vorgeschlagenen Maps, in denen ich die Daten analytisch aufbreche und dann in Memos relational in ihren Eigenschaften beschreibe: Situations-Maps dienen der Darstellung aller wichtigen Elemente einer Situation und als analytisches Werkzeug zur Erfassung und Diskussion ihrer Komplexität und der Beziehungen zwischen ihnen; Maps von Sozialen Welten/Arenen skizziere ich zur Veranschaulichung aller kollektiven Akteur*innen, wichtiger anders-als-menschlicher Elemente und ihrer Handlungsschauplätze und zur Analyse organisationaler, institutioneller und diskursiver Dimensionen auf Meso-Ebene der Situation; Positions-Maps35 sind eine Vereinfachungsstrategie zur Visualisierung von in Diskursen zur Sprache gebrachten oder nicht zur Sprache gebrachten Schlüsselpositionen (Clarke 2012, S. 38, 124). Über vielfältige Kartierungen meiner Untersuchungssituation entwerfe ich in Memos kleinteilige sowie allgemeinere relationale Interpretationen (siehe dazu Maps und ausgewählte relationale Memos in Costa Carneiro 2020). Mithilfe heuristischer Fragen an das empirische Material, mit Abduktionen und Abstraktionen, ständigen Vergleichen und der Reflexion durch Schreiben verknüpfe ich so „empirical observation with imaginative interpretation“ (Bryant und Charmaz 2007, S. 46). Fortlaufende Literaturrecherchen und erweiternde empirische Datenerhebungen i. S. des Theoretischen Samplings begründen den analytisch-interpretativen Prozess. Dabei geht es mir um das Herausarbeiten von multiplen Positionen und heterogenen Darstellungen von der geteilten Untersuchungssituation (Clarke 2012). Ich ziele zunächst darauf, die Erfahrungen aus der empirischen Welt in Kodes zu bündeln und versuchte dann, diese in einer Weise theoretisch zu betrachten, in der die Theorien für die vorliegenden Daten nützlich 35Insbesondere

über die Arbeit mit den Positionsmaps entwickelte ich das Verständnis, den Möglichkeitsraum gelöst von Dualismen wie Eröffnung/Einhegung und eher als Zwischenraum innerhalb verschiedener sozialer Standorte zu konzeptualisieren.

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sein können.36 Theoretisierungen sind Überlegungen und systematisierende Reflexionen, die an konkrete empirische Beobachtung anschließen, aber über diese hinausgehen. Sie werden in Situationsanalysen gegenüber abgeschlossenen Theorien bevorzugt. Es ist „ein fortlaufender Prozess der Erzeugung sensibilisierender Konzepte, des gegenstandsverankerten Theoretisierens, provokanten, wenn auch provisorischen Analysierens“ (Clarke 2012, S. 35). Dieser wird über die Selbstreflexion meiner Situiertheit als Forscherin in Memos und Notizbüchern fortlaufend begleitet. In diesem Prozess verdichte ich meine analytischen Interpretationen zu Kategorien, die ich über den Vergleich zu neuen Daten, Kodes und anderen Kategorien weiter ausdifferenziere oder fallen lasse, weil sie keinen Bestand mehr zu haben scheinen. Auf diese Weise fahre ich fort, bis ich keine neuen, beständigen Aspekte mehr aus den Daten, den Maps und den Memos herauslese. Diese Kategorien machte ich in meiner Analyse der Re-Produktion des transformativen Möglichkeitsraumes zu Schlüsselbedingungen. Sie spiegeln mir eindrücklich, dass ein Möglichkeitsraum durchzogen von Widersprüchen, Multiplizitäten, Ambivalenzen und ganz generell Produkt komplexer interaktionaler Prozesse ist. Aus der lefebvre’schen Trialektik gedacht, sind insbesondere in den allen Dingen und Prozessen inhärenten Widersprüchen „vermittelnde Möglichkeiten“ für die Zukunft zu finden, die parallel zur Analyse der Gegenwart mitgedacht werden können (Ronneberger und Vogelpohl 2014, S. 261). Um sie also in ihren konstitutiven Spannungsverhältnissen zu fassen, spanne ich über meine Forschungsfrage „Was sind re-produktive Bedingungen des Möglichkeitsraums GHC im Spannungsfeld zwischen Er-Öffnung und Einhegung?“ einen Bedeutungshorizont auf. Jetzt wird die Breite der Variation (Charmaz 2011) abbildbar. Um diese weiter anzureichern, richte ich immer wieder meine „empirische Fokussierung auf die Situation als Ganzes und die Untersuchung von Unterscheidungen, die dort aus der Perspektive verschiedener Akteure gemacht werden“ (Clarke 2012, S. 107). Analytisch interessieren mich solche Konstellationen von Zwängen, Chancen oder Ressourcen (Clarke 2012, S. 96 f. im Anschluss an Foucault), die die transformativen Potenziale des GHCs eröffnen oder einhegen und als re-produzierende Bedingungen das GHC als Möglichkeitsraum verstetigen. Solche Möglichkeitsbedingungen werden über ihre Diskussion (anstatt ihrer Definition) auch als umkämpfte Bedingungen verstehbar. Die Bedingungen, die aus dem Erzählen vom GHC erfassbar werden, ergänze ich stellenweise über den Bezug zu Überlegungen aus der Postwachstumsdiskussion. Diesen Akt verstehe ich als Erweiterung des situativ als möglich Gedeuteten und damit als Moment politischer Bildung und als Werkzeug aktivistischer Sozialforschung. 36Obwohl ich mich dabei an dem Konzept des „theoretischen Agnostizismus“ (Hennwood, K.; Pidgeon, N. (2003). Grounded theory in psychological research. In: Paul M. Camic, Jean E. Rhodes & Lucy Yardley (Hrsg.), Qualitative research in psychology: Expanding perspectives in methodology and design (S. 131–155). Washington, DC: American Psychological Association) orientiere und zunächst zweifelnd den Aussagen aus den Daten zuwende, und auch versuche, meine eigenen Wünsche und Hoffnungen nicht zum Zweck der Forschung zu machen, ist meine analytische Arbeit hier stark normativ geprägt von der Überzeugung, das GHC habe das Potenzial eines transformativen Möglichkeitsraumes und sei deshalb ein interessanter Forschungsgegenstand.

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5.4 Aktivistisches Forschen. Überlegungen zu transformativen Wissen(schaft)spraxen Mein Engagement in Situationen wissenschafts-aktivistischer Wissenspraxen37 prägt wechselseitig meine ontologischen und epistemologischen Überzeugungen, schiebt mich in die Auseinandersetzung mit entsprechenden Methodologien und fordert mich, die ethisch-politische Verantwortung meiner Forschung zu reflektieren. Dies führt mich direkt zur Problematisierung meiner privilegierten Sprecher*innenposition als Forschende und zu praktischen Versuchen der Demokratisierung von wissenschaftsproduzierenden Prozessen. Allem voran steht die Frage, zu welchen gesellschaftlichen Realitäten meine Forschung beiträgt und beitragen soll? „Es geht darum, die Welt zu verändern, eine Wahl zu treffen zwischen verschiedenen Lebensweisen und Weltauffassungen. Um dies zu tun, muss man handeln, muss begrenzt und schmutzig sein, nicht transzendent und sauber. Wissensproduzierende Technologien, einschließlich der Modellierung von Subjektpositionen und der Wege der Besetzung solcher Positionen, müssen immer wieder sichtbar und offen für kritische Eingriffe gemacht werden“ (Haraway 2002, S. 362).

Daraus folgt, dass ich über forschungsgestaltende Entscheidungen die beforschte Situation mitgestalte und damit dieser gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet bin: Wen lasse ich über meine Forschung wie sprechen, um die GHC Raum(re-)produktion zu verstehen und wen nicht? Ich ziele darauf, mir der Forschung zugrunde liegenden Bedingungen bewusst zu werden und sie in ihrer Komplexität sichtbar zu machen. Insbesondere interessiere ich mich für die hintergründigen Bedingungen der Perspektiven und solche, die das Sichtbarwerden bestimmter Perspektiven verhindern (Clarke 2012, S. 99, zit. nach Foucault 2003)38. Jede Forschung ist politisch. Als Forschende arrangieren wir Forschungsprozesse, die unter existierenden strukturellen Bedingungen stattfinden, und über Perspektiven, Privilegien, Positionen, Interaktionen, über die Körper und geografischen Standorte der Forschenden beeinflusst sind (Charmaz 2011, S. 184). Gleichsam stellt jede Wissensproduktion eine Realität schaffende oder verändernde Intervention dar. Weil Forschung als Repräsentation immer eine Abweichung vom

37Ich spreche hier von Wissenspraxen, um unterschiedliche Formen der Wissensproduktion miteinzuschließen (z. B. über Wissenschaft, Alltagserfahrung, Aktivismus, etc.) und als realitätsbildende Praxen anzuerkennen. 38Gleichzeitig bin ich mir der unzähligen Weisen, wie sich die Aspekte einer Situation in ihren verschiedenen Bedeutungen für einige Menschen nachteilig auswirken können, nicht bewusst (Clarke 2012, S. 115). Es gibt überall ‚blinde Flecken‘ oder Orte des Schweigens, an denen implizite Akteur*innen/Aktanten die Situation wirkmächtig miterschaffen. Es erfordert Offenheit, mich mit den darin enthaltenen, potenziell schwierigen Themen auseinanderzusetzen und weiter, mit meiner Datenauswahl überhaupt erst zu ermöglichen, dass die (fehlenden) Bedeutungen einiger dieser Aspekte überhaupt erst explizit für die beforschte Situation berücksichtigt werden können (Clarke 2012, S. 116).

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Repräsentierten kreiert, ist sie immer auch ästhetisch (Exo 2015, S. 290). „Ästhetische Ansätze gehen mit dieser Unvermeidlichkeit bewusst um und wählen eine Form für die subjektiv-interpretative Darstellung aus“ (ebd.) und machen damit Forschung als politischen Aktanten explizit, weil sie die Subjektivität offen thematisieren. Ich zähle Clarkes Mappingansätze in jedem Fall zu ästhetischen Formen analytischer Praxis, weil sie Mehrdimensionalität von Zusammenhängen abbildbar machen sowie über die Visualisierung der Forschenden diese in ihrer Wirklichkeit gestaltenden Position explizit darstellen. Wie kann ich aber meine Erkenntnisse darstellen, um nicht nur in der Generierung von Wissen, sondern auch über die Rückkoppelung dieses Wissens in die beforschte Situation in entsprechender Weise im Gespräch zu bleiben? Mein Nachdenken über diese Frage führte mich zum Ausprobieren von aktionsbasierten, partizipativen, performativen Forschungsansätzen mit der Absicht, mich mit meiner Forschung auf den Boden zu holen, mich verständlich zu machen, mich in meinem Interesse zu zeigen und dessen Relevanz für situationsspezifische Fragen, Anregungen und Kritik zu öffnen. Für die hier dargestellte Forschungsarbeit stellte ich parallel zu meiner Situationsanalyse meine Interpretationen über den Rückbezug „ins Feld“ an verschiedenen Stellen39 zur Diskussion. Darüber gestaltete ich einen selbstkritischen Austausch und öffnete eine Möglichkeit zur Erweiterung der bisherigen Erkenntnisse (von Hoteliers und mir als Forscherin). Hier verschwimmen herkömmlich gültige Grenzen zwischen Forschung, Bildung und Aktivismus, wodurch immer auch die Gefahr besteht, Forschungssituationen zu manipulieren, zu instrumentalisieren und zu paternalisieren. In der akademischen Welt laufen solche Ansätze zudem Gefahr, als nicht-normale Wissenschaftspraxis delegitimiert zu werden. Aus diesen Gründen sollten transformative Wissen(schaft)spraxen dialogisch angelegt sein und so versuche ich, in unterschiedliche Richtungen und durch verschiedene Techniken mit den „Elementen meiner untersuchten Situation“ ins Gespräch zu kommen und gemeinsam (meine) Forschung weiterzudenken: Im kritischen Selbst-Befragen während meiner interpretativen Analyse der Datenmaterialien, in Formaten zum Austausch über meine Forschungsarbeit mit daran Beteiligten oder durch Vermittlung in eher akademischen Formaten des Wissensaustauschs. Wie Marion Hamm (2013, S. 67) ihre Doppelrolle als Aktivistin und Ethnografin reflektiert, suche auch ich „aktiv nach Wegen, eine hybride Position einzunehmen, die sowohl im Feld des Aktivismus als auch im Feld der Universität angesiedelt ist und so den Dialog zwischen beiden begünstigt“ (Abb. 2).

39Dass

eine aktivistische Forschung insbesondere für die Transformation zur Postwachstumsstadt von großer Bedeutung ist, wurde mir u. a. durch Reaktionen auf unseren Beitrag zu „Transformative Möglichkeitsräume erforschen“ gemeinsam mit Julia Hübinger und Susanne Rupp im Rahmen der Konferenz POSTWACHSTUMSSTADT – Perspektiven des sozial-ökologischen Wandels, die am 10. und 11. Mai 2019 an der Bauhaus-Universität Weimar von der Professur Sozialwissenschaftliche Stadtforschung veranstaltet wurde, gespiegelt (siehe Abb. 2). Gleichzeitig wurden hier auch die damit einhergehenden Herausforderungen diskutiert.

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Abb. 2   Austausch und Mapping zum Sichtbarmachen, zur Um-Ordnung und zur Dokumentation kollektiven Wissens über Verstetigungswege transformativer Möglichkeitsräume im Rahmen unseres Beitrags zur Konferenz POSTWACHSTUMSSTADT – Perspektiven des sozial-ökologischen Wandels, 10. und 11. Mai 2019, Bauhaus-Universität Weimar, gemeinsam mit Susanne Rupp und Julia Hübinger; eigene Darstellung

6 Urbane Raumformung im Alltag des GHC: im Spannungsfeld zwischen eröffnenden und einhegenden Bedingungen Entsprechend meines Selbstverständnisses als aktivistische Forscherin experimentiere ich an dieser Stelle mit Formen der Ergebnisdarstellung, die die ästhetische Konstruiertheit von Forschung kenntlich machen und sich zu ihrer politischen Positionalität offen bekennen40. Ich möchte, dass meine auf die soziale Wirklichkeit referierende Erzählung (Keller 2014, § 23) auch ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse (aus diesem Beitrag) einen Einblick in das GHC ermöglicht und im besten Falle auch den Austausch zwischen Wissenschaft und Aktivismus bereichert. Für diejenigen, die also hier erst einsteigen, 40Ich bin dabei inspiriert von Donna Haraway (2016), Norman Denzin (2008) und Mechthild Exo (2015), die vorschlagen, die Repräsentation sozialer Wirklichkeit radikal als ästhetische Konstruktion kenntlich zu machen und entsprechend in Formen des fiktiven Dialogs, in fragmentarischen oder autopoetischen Texten, in fotografischen Essays oder mit anderen ästhetischen Techniken zu re-kodieren.

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in aller Kürze: Was wollte ich wie über das GHC in Erfahrung bringen? Ich befragte den Alltag des GHC zu seinen Potenzialen für eine umfassende, (stadt-)gesellschaftliche Umformung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Wohlbefinden über aktive Mitgestaltung der Stadt und ökologisch nachhaltigen Formen des Zusammenlebens. Aus einer transformationsorientierten Perspektive verstehe ich das GHC als Möglichkeitsraum für die Transformation zur städtischen Postwachstumsgesellschaft. Solche Möglichkeitsräume sind bedeutsam für eine radikale gesamtgesellschaftliche Veränderung, auch, weil sie einen Austausch über Vorstellungen eines zukunftsfähigen Zusammenlebens eröffnen, aber besonders, weil sie die Erfahrung ermöglichen, Alternativen eines guten Lebens auszuprobieren. Gleichzeitig sind sie in die Komplexität der neoliberalisierten Stadt verwoben, und so ist ihre Realisierung und Verstetigung auch abhängig davon, wer und wie für die Stadt als Ganzes Entscheidungen trifft, wer wie (nicht) über das GHC spricht oder wie die Grandhoteliers marktlogische Zwänge in ihren gemeingeschaffenen Ort übersetzen. Das GHC hat vielfältige Be-Deutungen und es gibt unterschiedliche sinnvolle Lesarten von dem, was hier gemacht wird. Meine Geschichte erzählt von der städtischen Raumformung41 des GHC, einem andauernden Prozess, den ich zwischen 2011 und 2018 beobachtete und im Folgenden in einzelnen Phasen42 gegliedert re-präsentiere. Meine Prozessanalyse ist bemüht, die vielschichtigen, zusammenwirkenden Handlungen und ihre Konsequenzen für das GHC als sozialen Raum zu verstehen und in ihrer Komplexität und Verwobenheit sichtbar zu machen. Dabei bleibt meine Darstellung immer unvollständig und geprägt von meinem ganz spezifischen forschenden Blick. Weil ich selbst Teil der beobachteten Situation bin, wirke ich in meinen unterschiedlichen Positionen (als Forscherin und Aktivistin) auch in diese hinein. Darum ist es von Bedeutung, wie ich was und wozu ich es beobachte. In der GHC-Raum(re-) produktion fokussierte ich insbesondere solche Bedingungen, denen ich ein transformatives Potenzial zuspreche, das auch für andere Situationen relevant scheint, aber

41Ich bevorzugte im Verlauf meiner Forschungsarbeit von Raumformung statt von Raum(re-) produktion zu sprechen, weil sich in diesem Begriff die politisierenden, ästhetischen und transformativen Qualitäten der untersuchten Prozesse mit einer feministischen Lesart Lefebvres′ Raumkonzept verbinden lassen. Raumformung als Konzept schafft damit eine Möglichkeit, über die Betrachtung der kapitalistischen Raum(re-)produktion hinaus zu denken und zu handeln. 42Die Darstellung in unterteilten Prozessphasen dient der Strukturierung und besseren Nachvollziehbarkeit von wirkmächtigen Veränderungen im Gesamtprozess. Sie soll keineswegs vortäuschen, es handle sich hier um eine klar ablesbare, linear ablaufende, kollektiv verfolgte Entwicklung. Aus meiner Wahrnehmung gab es zu jeder Zeit sehr diverse und oftmals konfliktäre Interessen, Meinungen, Gefühle, Strategien und Entwicklungsstränge innerhalb eines Großen und Ganzen. Insbesondere in der Zeit, als die Zahl der aktiv Mitwirkenden sehr stark angewachsen war, also im Prozess der Inbetriebnahme und der Institutionalisierung gab es eine große antagonistische Qualität in dem Projekt. Ich verstehe dieses Große und Ganze also eher als kontinuierlichen Aushandlungsprozess über die Bedeutung, die Ziele und die Strategien, die das Projekt verkörpern soll.

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insbesondere für das GHC selbst. Was ich als transformative Potenziale erkenne, ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit Ansätzen zur Stadtproduktion „von unten“ (also ausgehend von den Bedürfnissen der Stadtgesellschaft) und basiert auf Aussagen über die Realisierung und Verstetigung des GHC selbst. Das erfahrungsbasierte Wissen dachte ich mit theoretischen Konzepten weiter, insbesondere aus einer DegrowthPerspektive auf Stadtentwicklung. Darüber verdichtete sich die These, dass das GHC als transformativer Möglichkeitsraum insbesondere für die radikale Demokratisierung von Stadtentwicklung von Bedeutung ist. Ich sehe dieses Potenzial keineswegs gesichert oder einfach geradeaus verallgemeinerbar, sondern vielmehr als übergeordnete Eigenschaft bedrohter, situativ ausgehandelter Bedingungen: Sie erschaffen und verstetigen das GHC als transformativen Möglichkeitsraum in einem Spannungsfeld zwischen Er-Öffnung und Einhegung innerhalb des alltäglichen Raumformungsprozesses. Sie eröffnen Gestaltungsraum und laden Bewohnende, Nachbarschaften, Gäste, alte und neu hinzukommende Augsburger*innen dazu ein, darüber, was das GHC ist und wie das Zusammenleben aller in der Stadt sein könnte, in einen Austausch zu kommen. Ähnlich wie Paul Chatterton (2018, S. 5) von verschlossenen Potenzialen nachhaltiger Städte spricht, sehe ich die transformativen Qualitäten des GHC immer wieder eingehegt, und es bedarf veränderter, alltäglicher Praktiken, diese (wieder) zu eröffnen: „Huge civic potential is bubbling under the surface, but is constrained through a whole host of complex mechanisms related to power, greed, fear, paternalism, division, mistrust, the unevenness of educational opportunities, resources and social networks. Unlocking includes simple everyday tasks such as building social connections and speaking up for how things could be different, and more formal and complex tasks such as fighting for more resources and legislative changes.“

Einhegende Qualitäten liegen in verschließenden Praktiken, Diskursen oder Gebäudestrukturen und machen aus einem gemeingeschaffenen GHC punktuell oder phasenweise einen privatisierten, selbstbezogenen und zur Ware gemachten Ort. Viele der verschließenden Eigenschaften initiieren aber auch erst eine Suche nach Alternativen und erscheinen mit als Ausgangspunkte für die transformativen Potenziale des Projekts. Die Bedingungen der GHC-Raum(re-)produktion lassen sich also schwer in einer dualistischen Logik von „eröffnen“ und „einhegen“ verstehen. Stattdessen lade ich ein, sie in ihren Widersprüchen, Spannungen und Abhängigkeiten zu diskutieren und darüber nachzudenken, wie sich die Dinge von hier aus weiterentwickeln könnten (Clarke 2012, S. 97). Dabei teile ich mit Donna Haraway (2016, S. 3) die Überzeugung, dass „Science fact and speculative fabulation need each other“. In Form eines überlappenden, fragmentarischen, teils alltagssprachlichen und zugespitzten Textes verwebe ich also analytisch gefasste Kategorien aus dem GHC als Ort der Praxis mit imaginativ entworfenen Bedingungen, inspiriert von anschlussfähiger Literatur, der ich während des Forschungsprozesses begegnete und mit zum analysierten Datenmaterial machte. So re-präsentiere ich sozial konstruierte Wirklichkeiten und fabulöse, mögliche Wirklichkeiten mit der Absicht, den Möglichkeitsraum zu erweitern und zu stärken und dabei

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auch verschließende Eigenschaften kritisch zu erhellen. Im Anschluss an die Prozessdarstellung der GHC-Raumformung visualisiere ich exemplarisch eine Positionsmap (Clarke 2012) des Haupt-Diskurses um die Bedeutung von Kontrolle des Gestaltungsraumes für den Fortbestand des Möglichkeitsraumes GHC43.

6.1 Projektbeginn: Er-Öffnung einer politischen Gegenerzählung Das GHC basierte bei Projektbeginn 2011 auf der grundlegenden Überzeugung, dass eine andere Welt möglich und Gesellschaft gestaltbar ist. Daraus ermächtigten sich die Machenden selbst, einen lokalen Ausschnitt dieser global-lokal vernetzt verstandenen Welt in einer bestimmten Haltung umzugestalten. Diese Haltung basiert auf dem Menschenbild, dass alle Menschen als Menschen gleich sind und alle Menschen das Potenzial haben, ihren alltäglichen Lebensraum aktiv zu gestalten44. Imaginative Kraft in Verbindung mit dem baulichen Anschluss an eine Flüchtlingsunterkunft werden zu zentralen Grundbedingungen und rahmen einen an sich ergebnisoffenen Prozess: Einen Gestaltungsraum in der Stadt realisieren, der gesellschaftliche Mit-Gestaltung für alle ermöglichen will. „Und wir haben halt klar eine Lösung präsentiert, die revolutionär anders war. Die so selbstverständlich klar und offen war, dass sie eigentlich/ also eigentlich, dass es unmöglich ist, die zu realisieren, aber die war schon da“ (Transkript reflexives Gruppengespräch 2018, #00:39:38-5#).

Inhaltlich zielte die Umnutzung eines Leerstands unter dem Konzept eines Hotels für Menschen mit und ohne Asyl auf die aktivierende Erneuerung eines Ortes, der sich von herkömmlichen Ordnungen in Bereichen des migrationsstädtischen Lebens wie Arbeit, Kultur, Wohnen und Fürsorge unterscheiden wollte. Um diesen Raum zu realisieren, brauchte es die (stadt-)gesellschaftliche Akzeptanz der Idee, des Ortes und der Machenden. Dazu kamen die werdenden Hoteliers ins Gespräch: Untereinander zum Zweck der Organisation der selbstorganisierten, planvollen Aneignung des Hauses. Mit der Diakonie als Vermieterin und der Regierung von Schwaben als Mitmieterin zur ­Verhandlung der Bedingungen der Zwischennutzung des geteilten Gebäudes. Und mit allen Interessierten der Stadtgesellschaft zur Vermittlung der Idee, zur Einladung

43Die hier veröffentlichte Ergebnisdarstellung ist Teil einer umfangreicheren Re-Präsentation meiner Situationsanalyse. Letztere ist Interessierten über Costa Carneiro (2020) zugänglich. 44Sicherlich ist in einer derart heterogenen Gruppe nicht davon auszugehen, dass es ein geteiltes Menschenbild gibt. Ich spreche hier von dem die Situation dominierenden Common Sense, in dem ich feine Unterschiede zwischen den Positionen vereinheitliche. Die Existenz ungleicher Ressourcen zur aktiven Mitgestaltung wird z. B. auch eindrücklich sichtbar, wenn die Bewohner*innen mit Fluchterfahrungen zu Beginn als aktiv am Projekt Beteiligte konzeptualisiert wurden, und sich später größtenteils zeigte, dass sie dazu oftmals nicht bereit oder fähig waren.

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zur Mitgestaltung und zur Solidarisierung mit dem Projekt. In diesen vermittelnden Praktiken ging es darum, Zugänge zum sozialen Gestaltungsraum zu schaffen und zu erweitern, das Gebäude zu er-öffnen und den Ort damit auch (teilweise) zum öffentlich betretbaren und öffentlich besprochenen Raum zu machen. Zusammengefasst ging es um „eine Intervention ins öffentliche Leben“. In diesem Prozess er-öffneten die Grand Hoteliers eine Erzählung, eine politische Fiktion45 von einer anderen Welt, die unabgeschlossen bleibt: „Sie bedeutet, sich auf den Prozess einzulassen, statt Leitbilder oder gar klare Ziele vorzugeben: Hier geht es um Zuhören, nicht ums Überstimmen, um die Entdeckung von Unerwartetem, das die Entwicklung bereichern oder verändern kann, und um die Vielstimmigkeit einer dialogischen Rede, die die Linearität eines konstruierten Monologs durchbrechen kann“ (Hebert 2016, S. 338 im Anschluss an Sennett).

Mit dem Bild eines Grandhotel Cosmopolis’ wird ein imaginativer Rahmen gesetzt, der relativ vage einen größtmöglichen Bedeutungshorizont aufspannt, der dann im Machen erst spezifisch wird. Die Hoteliers entwerfen durch ihren Alltag ein Bild einer anderen Gesellschaft, oder auch ein soziales Imaginativ. Vor allem aber machen sie es praktisch erlebbar: Leute wie du und ich schenken ihre Zeit, sie laden ein, dabei mitzumachen, sie begeistern über ihre Begeisterung für das, was hier entsteht. Sie renovieren, investieren, produzieren, diskutieren gemeinsam einen neuen Ort für die Stadt und ihre Gäste. Alle machen alles, keine*r ist zuständig, viele wollen einfach aktiv werden, einige machen sich verantwortlich. Sie verbinden ihre eigenen Bedürfnisse nach Freiraum mit der Übernahme von Verantwortung für unsere kapitalistisch-gesellschaftliche Krisensituation, befähigen sich selbst, eine konkrete Antwort zu formulieren auf die immer aktuelle Frage, wie wir miteinander leben wollen. Responsabilität. Die Vermittlung, der Zugang, der Einbezug zur Realisierung der Idee gelingt über das prozessbegleitende ästhetische Sichtbarmachen der räumlichen Aneignung: Baustellenkonzerte und -führungen oder die Inbetriebnahme der Lobby-Bar inmitten der unabgeschlossenen Umbauarbeiten des Hotelturms machen das, um was es hier geht, verständlich und kreieren Raum für Austausch darüber, wie es morgen weiter gehen soll. Diese das GHC begründenden Praktiken eröffnen einen transformativen Möglichkeitsraum in der Stadt, inmitten fader bayerischer Konventionen entsteht ein kosmopolitischer Ort. Bewegung, Begegnung, Entgrenzung. Es entsteht ein Hotelturm mit ganz verschieden gestalteten Zimmern und geteilten Arbeitsräumen der über Windfangtüren

45Sie geben also nicht vor, diese neue Welt/Gemeinschaft sei bereits real. Sie kreieren ein Bild, was zwischen der Welt, wie sie ist und einer Welt, wie sie noch sein könnte, vermittelt: „Kunst und Politik [haben] gemeinsam, dass sie Fiktionen produzieren, was nicht bedeutet, erfundene Geschichten zu erzählen. Fiktion meint vielmehr, einen neuen Bezug zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Sichtbarem und seiner Bedeutung, Einzelnem und Gemeinsamen zu stiften“ (Rancière, J. (2008). Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b_books, S. 88 f.).

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vom regierungsverwalteten Trakt im anderen Flügel des 2600qm Gebäudes getrennt ist. Nebenan herrscht eine völlig andere Ordnung, hier vereinheitlichen Zimmer und deren normiertes Inventar das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen. Spannend, eine institutionelle Verbindung staatlicher, zivilgesellschaftlicher und kirchlicher Akteur*innen zu wagen, die mit entgegengesetzten Interessen einen Raum k­ o-produzieren. Wie hätte sich der soziale Raum von hier aus entwickeln können, wenn die beteiligten Akteur*innen wirklich miteinander zusammengearbeitet, also kollaboriert hätten? Eine andere vorstrukturierende Bedingung der sozialen Raumproduktion des GHC, liegt in der Verknüpfung mit dem „Flüchtlingsthema“. Inmitten der wachsenden zivilgesellschaftlichen Solidarität mit flüchtenden Menschen (u. a. European Commission 2007) erfährt das Projekt von Beginn an Anerkennung dafür, eine Alternative zu herrschenden Abgrenzungspolitiken der Regierenden und einen „Ort gelebter Willkommenskultur“ zu symbolisieren. So gesehen sind die Machenden des GHCs als „Pioniere des Wandels“ im Lokalen beteiligte Akteur*innen der bereits stattfindenden gesellschaftlichen Transformation und „durch Vernetzungen, wachsende Kompetenzen, gezieltere Kommunikationen mit der Politik und Öffentlichkeit [gewinnen sie] an Bedeutung und können transformatorische Dynamiken auslösen“ (Reißig 2014, S. 84; vgl. u. a. Leggewie und Welzer 2009). Die wachsende Bedeutung dieses Beispiels einer realen Alternative spiegeln auch das große mediale Interesse und der Zuwachs von Mitwirkenden im Projekt. Das Interesse an Beteiligung scheint weiter darin begründet, dass das Projekt an eine vergleichsweise junge Geschichte kreativer Zwischennutzungen in Augsburg anschließt und es zu diesem Zeitpunkt kaum andere kulturelle Freiräume informeller Stadtproduktion gibt. So sind lokale Bedingungen und wirkmächtige soziopolitische Diskurse zufällige Faktoren, die zu Ko-Produzierenden des GHC-Raumes werden. Oder anders: Transformative Möglichkeitsräume scheinen eine lokal-global46 bezogene Passform zu brauchen, um sozio-politisch anschlussfähig auf unterschiedlichen Ebenen zu sein. Die transnationale, politische Krisenerfahrung verwächst hier mit Praktiken der konkreten Solidarisierung. Multiple interdependente Responsabilität. Der geteilte Lebensraum GHC verkörpert den Versuch eine „radical democtratic egalitarian“ Form gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen zu gestalten (Wright 2010, S. 12). Als Hybrid der Selbstermächtigung und Beteiligung realisiert sie sich in den Zwischenräumen inmitten bestehender Machtspiele um Illegalisierung und Ausschluss, die mit der Verbindung zum „Flüchtlingsthema“ für die kollektive Unternehmung entstehen. So gesehen formuliert das GHC einen Widerspruch zu der rassistischen Ordnung stadtgesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Basis einer

46Das Lokale geht über den Ort hinaus und wird vielmehr über den subjektiven Bezug zu einer spezifischen Situation hergestellt, der es uns ermöglicht, in dem kontextuellen Ausdruck globaler Konflikte um-gestaltend einzuwirken (Heeswijk, J. v. (2016). Preparing for The Not-Yet. In: A. P. Pais, C. F. Strauss (Hrsg.), Slow Reader. A Resource for Design Thinking and Practice (S. 43–53). Amsterdam: Valiz).

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Isolation von Geflüchteten in Lagern47. Offenheit als grundlegende Bedingung für den Prozess der Um-Gestaltung des Gebäudes während der Bauphase bleibt für diese widerständige Geschichte wichtig und im weiteren Verlauf immer wieder umkämpft, entzogen oder vorgetäuscht.

6.2 Inbetriebnahme: Wie mächtige Erzählungen den (gesellschaftlichen) Sinn des GHC ein-schreiben Mit dem Einzug der „Gäste mit Asyl“ und der Hoteleröffnung wird im Sommer 2013 das GHC in Betrieb genommen: das Grandhotel Cosmopolis ist – zumindest ­Gebäude-strukturell – realisiert und die Zimmer der Asylunterkunft werden kontinuierlich belegt. Kaum gestartet, erreichen die neuen Bewohnenden erste Abschiebebescheide und kollektiv helfen die Hoteliers, deren Durchsetzung vorerst zu verhindern. Die Solidarisierung von Hoteliers mit Geflüchteten erhält realpolitischen Ausdruck und wird ungeplant zentraler Bestandteil des Projekt-Alltags: Die niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit der Bewohnenden, an Unterstützung zu gelangen, führt dazu, dass anfallende Sorge-Arbeit zu großen Teilen von zivilgesellschaftlich Engagierten übernommen wird. Das dazu erforderliche Wissen eignen sie sich aus der Konfrontation mit Bedürfnissen sukzessive an. Bedürfnisse werden nicht professionell erfasst, sondern aus dem zwischenmenschlichen Kontakt und der solidarischen Grundhaltung gegenüber Neuankommenden verstanden. Humbled humans. Schutz, Anerkennung, Bindung, Platz. Mehr Menschlichkeit. Was bist du bereit dafür zu tun? Wo ist deine persönliche Grenze? Zu dieser Zeit steht die mediale Inszenierung der „Flüchtlingskrise“ noch aus und die Abschottungspolitiken erscheinen noch nicht derart repressiv, wie sich diese entwickeln werden. Das GHC erfährt als Ort nicht nur kommunalpolitische Legitimation, sondern auch zunehmend Anerkennung und Interesse für sein „innovatives“ Konzept, was sich auch in ersten Projektförderungen und Preisen, sowie im weiteren Zuwachs an Mitwirkenden ausdrückt. In der Breite entgegengebrachter Anerkennung entstehen vielfältige Perspektiven auf das, was hier gemacht wird, über Darstellungen und Konzeptualisierungen wird Bedeutung reflektiert, projiziert und produziert. In der Arbeitsgemeinschaft GHC gelten neben dem Bild des Grandhotel Cosmopolis insbesondere solche Vermittlungsentwürfe als notwendig, die nach Außen gerichtet sind, eben um Anerkennung für das, „was das GHC macht“ zu erlangen, die sich bestenfalls auch finanziell ausdrückt. Raum für Verständigung darüber, was hier wie gestaltet werden will, ist hingegen selten. Der Rekurs auf das Konzept der Grand Hotels schafft einen

47Vortrag

zu „Kontradiktionen im Lagersystem“ von Dr. Simon Goebel, Zentrum Flucht und Migration (Universität Eichstätt)/Tür an Tür im Rahmen der Veranstaltung „Innovationen in Flüchtlingsunterbringung: Notlösung, Utopie oder echte Alternative?“ am 22.11.2019 im Grandhotel Cosmopolis.

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ästhetischen und diskursiven Rahmen, der das Topos Migration/Flucht mit Reise, Sehnsucht und Traum von einem besseren Leben verbindet und damit einen verbindenden Bedeutungshorizont zwischen Hotelgästen und Bewohner*innen aufspannt: „Die visuellen und zeitlichen Grenzen zwischen Tages- und Dauergästen, mit und ohne Asyl, Geschichten zwischen Realität und Fiktion lösen sich auf, neue Verbindungen entstehen, […] [e]s entsteht eine lebhafte und lebendige ‚soziale Plastik‘“ (Saatkamp 2015, S. 224).

Andere Repräsentationen des sozialen Raumes sprechen vom „Leuchtturm“ in der „Flüchtlingskrise“, konstruieren das Projekt als „Ort der gelebten Willkommenskultur“ und als Symbol für zivilgesellschaftliche Solidarisierung. Damit einhergehend wird das GHC ausgezeichnet als Kunstprojekt, als städtebauliche Innovation, als Hotel u. a. Die dort Arbeitenden sprechen über das GHC als sozialer Mittelpunkt für sie selbst und die dort Wohnenden, die öffentlichen Räume gelten ihnen als Treffpunkte, weil sie leicht zugänglich sind oder nicht-konsum-orientierte Versorgungsleistungen stellen (z. B. Internetcorner, Fairteiler, informelle Unterstützung). Über die vielfältigen Interpretationen werden verschiedene Angebote gemacht, welchen Sinn das GHC hat, wie es zu verstehen und zu erfahren ist und inwiefern zukunftsweisende Potenziale zu entwickeln sind. Dieser geöffnete Bedeutungshorizont zieht sehr verschieden interessierte Akteur*innen an, die sich mit unterschiedlichen Absichten, Handlungen und Intensitäten ihrer Mitarbeit involvieren. Die verschiedenen Konzeptualisierungen (Diskurse) strukturieren wiederum die alltägliche räumliche Praxis des GHC mit, fordern Bestätigung und provozieren tief greifendere Auseinandersetzungen mit dem eigenen Handeln. Darüber werden auch die Arbeitsbereiche zunehmend differenzierter und Tätigkeiten, die zuvor gezielt zusammengebracht wurden, werden vermehrt getrennt gedacht. Über einflussreiche diskursive Setzungen, die das, was das GHC ist und leistet, in einer oberflächlichen Lesart zergliedern, manifestiert sich eine entsprechende organisatorische Aufteilung des Projekts: die „Betriebe“, die „Wilde 13“ für Fluchtthemen, der „Kunstcontainer“, das „Live-Team“ für Kulturveranstaltungen, „Grafik und Öffentlichkeitsarbeit“, das „Accounting“, die „Putzkolonne“. Obwohl sich viele Aktive dieser Unter-Ordnung verweigern und auch die realen ­Aufgaben- und Arbeitsverhältnisse diesen Grenzziehungen nicht entsprechen (wollen), ist die formelle Arbeitsteilung wirkmächtig: Die Trennung zwischen Basisarbeit (Betriebe, Unterstützung von Geflüchteten, am Rande auch der Bereich Reinigung und Instandhaltung des Gebäudes) und sogenannter „Meta“-Arbeit (Kunst, Politik, Konzeptentwicklung) legt den Grundstein für folgende Hierarchisierungen von Arbeitsbereichen und die damit verbundene Legitimation von Top-Down-Strukturierungen. Gleichzeitig bleibt eine bewusste, kollektive, tief greifende, schöpferische Thematisierung und Revolutionierung von übergeordneten Themen wie Arbeit, Organisationsentwicklung (Vision, handlungsleitende Prinzipien), Ökonomie, Gebäudestruktur und Machtverhältnisse aus. Das befördert Widerstände, ein penetrantes Gefühl von Unstimmigkeit veranlasst einige, das Projekt zu verlassen. An vielen Stellen mündet die fehlende kollektive

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Reflexion in eine reflexartige Anpassung an herkömmliche Kategorisierungen von Tätigkeiten und damit auch die subtile Verinnerlichung marktlogischer Reproduktionsweisen. Insbesondere die unzureichende Anerkennung der Haupttätigkeiten des GHC, der Reproduktionsarbeit (Sorgearbeit, Reinigung und Instandhaltung des Gebäudes, Kochen, Unterstützung von Neuankommenden, Gästebetreuung, Freiwilligenengagement, Gruppen-/Gemeinschaftsbildung), scheint das transformative Potenzial, das das GHC als Form einer erneuernden, demokratisierenden, einbeziehenden Institution hat, einzuhegen: „We cannot built an alternative society and a strong self-reproducing movement unless we redefine our reproduction in a more cooperative way and put an end to the separation between the personal and the political, and between political activism and the reproduction of everyday life“ (Federici 2012, S. 147).

Der schnelle Zuwachs an Mitwirkenden und die große mediale Aufmerksamkeit des Projekts steigern die Dynamik der Zusammenarbeit in der Gruppe, und intensivieren die Erfahrung der Mitgestaltung mit der Konsequenz, dass das Projekt schwieriger zugänglich für Neuankommende wird. Gleichzeitig wird der Gestaltungsraum auch darüber begrenzt, dass zunehmend reguliert wird, wer über was wie öffentlich sprechen „darf“ und wie die Organisations- und Entscheidungsstrukturen gestaltet werden sollten, dass sie das, „was hier los ist“48, entsprechend formieren. Damit wird sichtbar, wie die anfänglich radikale Offenheit des Ortes über eine machtvolle Strukturierung eingehegt wurde, die dem Ort auch eine spezifische Identität zu geben versucht: Das GHC als Kunstort, als Soziale Plastik, als Ort von gesellschaftspolitischer Bedeutung, aber bitte nicht als soziokulturelles Zentrum, Ort der Sozialarbeit oder gar Spielwiese. Eine Art planlose Prozessorientierung setzt sich als dominante Unternehmensstrategie durch. Betört vom Zauber des Neuen, unerfahren in der Gestaltung von Utopien und überreizt durch die unmittelbare Erlebbarkeit des Andersmachens, geben sich viele Hoteliers hier voll rein. Das GHC wird zum (Selbst-)Erfahrungsraum mit der Gelegenheit, die Frage „was will ich wirklich?“ zu erkunden. Die damit verbundenen, gesellschaftspolitischen Absichten zur Weltverbesserung tragen viele auch über die Erfahrung einer prekären Selbstversorgung, denn eigentlich basiert hier alles mehr oder weniger auf „Muskelhypothek“ und dem Ausschöpfen privater Ressourcen. Der Umgang mit „Humankapital“ steht im Widerspruch zu den lediglich symbolisch angedeuteten ökonomischen Prinzipien („give as much as you can“), es bleibt unerklärt, wie sich das Projekt wirtschaftlich strukturiert. Seltsam, wo doch die eigenen Betriebe als tragfähige Säulen des Projekts

48„Die Idee, eine solche Formierung wäre nunmehr notwendig, basiert ja immer schon auf der Wahrnehmung, dass ein einigermaßen klar konturiertes ‚was hier los ist‘, überhaupt besteht“, folgert Ulrich Roos und bereitet meiner kritischen Selbstreflexion an dieser Stelle den Boden: Ja, auch meine Interpretationen und Konzeptualisierungen, wie sie z. B. in dieser Arbeit ausformuliert sind, strukturieren und vereinfachen den unübersichtlichen Ort der Praxis und machen ihn für meine Zwecke brauchbar.

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konzipiert werden. Mag sein, dass Wirtschaften einfach nicht im Fokus des Schaffens liegt so wie Gustavo Esteva (2014, S. 149) Gemeinschaffen als eine die kapitalistische Logik durchkreuzende Praxis versteht: „Commoning, the commons movement, is not an alternative economy but an alternative to the economy“. Oder aber, es gibt gar keine ausformulierten, bewusst gesetzten Strategien für ein alternatives Wirtschaften.

6.3  Vereinheitlichung, Vereinnahmung, Vereinfachung: Anpassung der Organisationsstruktur Ende 2014 erhält das GHC die Zusage zur einjährigen Projektförderung über 100.000 € aus Stiftungsmitteln. Die als Projektförderung gerahmte Basisförderung beeinflusst maßgeblich die inhaltliche Ausrichtung des gesamten Projekts. Einmal, weil die Rahmung vorsieht, die eigene Arbeitsweise zu reflektieren, zu professionalisieren und über Vernetzung international zu expandieren und weiter, weil erforderlich wird, den mit der Förderung einhergehenden Erwartungen einer bürokratisch organisierten Verwaltung zu entsprechen. So zwingt die Förderungsvereinbarung mit einer staatlichen Stiftung die kollektive Aufmerksamkeit ins Innere des Projekts den Boden. Ausführende sind hier nicht nur Überzeugte aus dem Inneren Zirkel, sondern insbesondere auch Mitwirkende, die noch nicht so „tief drin sind“ im GHC, an vielen Stellen in weniger prominenten Positionen, etwa Praktikant*innen oder Sozialstundenabbauende oder auch Bewohnende der Unterkunft. Die Prozesse der ­Top-Down-Strukturierung laufen nicht ohne Widerstände ab, werden aber unter bestimmten diskursiven Rahmungen allgemein akzeptabel oder sogar legitimiert: Der Diskurs „Stärkt die Betriebe“ ist eingebettet in eine Erzählung des GHC als Projekt, das nur als solches einen Möglichkeitsraum aufspannt, weil es auf dem Fundament der Hotel-, G ­ astronomie- und Veranstaltungsbetriebe steht. Über diese Erzählung erlangen die Betriebe und deren Betreiber*innen und Fürsprecher*innen grundsätzlich mehr Macht in der Deutung allgemeiner Problemlagen und in der Formulierung von Strategien ihrer Überwindung. Die darin materialisierte marktwirtschaftliche Logik wird herausgefordert über das davon abweichende Verständnis, das GHC als politische Fiktion gehe weit über die Betriebe hinaus und realisiere sich in der Art und Weise, wie dieses Projekt betrieben wird. Diese Perspektive zielt auf eine alternative Form der Re-Produktion und ihrer Institutionalisierung und artikuliert ihre Absicht in Diskursen um das „Potenzial einer neuen Form der Institution“. Diese inneren Deutungskämpfe kosten die GHC Arbeitsgemeinschaft viel Energie, befördern eine Kultur der 3 gegenseitigen Abgrenzung und befördern manipulative Strategien zur Stärkung individueller Interessen einer kleinen Deutungs-Elite. Über informelle Sondierungsprozesse (z. B. durch Exklusivität von Entscheidungen über Zeitpunkt der Gremien oder auch durch Abwertung einzelner Positionen), durch die argumentative Verknüpfung mit machtvollen institutionellen Systemen (z. B. über die Betonung des Vorstandes als finanziell haftende juristische Person des GHC) und über die Produktion von Angstdiskursen (z. B. das GHC sei in „Existenznot“, womit fehlende finanzielle

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Ressourcen zum Erhalt des GHC benannt werden, während andere existenzielle Bedingungen, wie z. B. Gesundheit der Mitwirkenden nicht darunter zählen) werden Top-down-Strukturierungen durchsetzungsfähig und innerhalb entsprechender Rahmungen (z. B. durch die Legitimation des „Inneren Zirkels“ als Entscheidungsgremium unter dem Namen „Rat“) institutionalisiert. Mit dem Ende der Laufzeit der Projektförderung der staatlichen Stiftung verlassen einige bis dato intensiv Involvierte das Projekt, viele Aktive sind ausgebrannt. Die interne Krisenerfahrung nimmt zu, und so folgt Anfang 2017 die Einladung des „Inneren Zirkels“ zu einer Klausur: Auf der Basis einer Klärung der aktuellen Situation des GHC erscheint notwendig, über die Zukunft des Projekts ins Gespräch zu kommen. Ein zentrales Thema dieser Klausur – das auch im reflexiven Gruppengespräch diskutiert wird – ist Führung. Der Diskurs der Bedeutung von Führung zum Fortbestand des GHC erstarkt so zum Ende der Phase der Institutionalisierung und Führung49 wird als Kompensationsstrategie im Umgang mit der Überforderung und Unsicherheit der gefühlten „Strukturlosigkeit“ des Projekts von einigen Hoteliers gefordert und von anderen heftig bekämpft. Andere Vorschläge für die zukünftige Gestaltung zielen im Kontrast zur Machtkonzentration auf die Steigerung von Transparenz und fluider Informationsweitergabe, die Anerkennung von Fähigkeiten anderer und auf dieser Basis die Verantwortungsteilung auf mehrere Hoteliers, die Wertschätzung von Freiwilligen und deren Gleichberechtigung gegenüber Angestellten. Diese und andere alternativen Ideen bleiben allerdings – auch aufgrund des fehlenden kollektiven Willens – sehr abstrakt und werden kaum beispielhaft in das Projekt übersetzt. Eine Ausnahme, die kurzfristig eingeführt wird (aber nicht nachhaltig von Bestand sein wird), zielt auf die stärkere Durchmischung im Rat über die situative Öffnung des Entscheidungskreises: Wöchentlich wird zur Themensammlung in allen Arbeitsbereichen eingeladen und darauf basierend eine Tagesordnungsstruktur im Voraus an die GHC-Arbeitsgemeinschaft geschickt. Diejenigen, die Expertise/Interesse zu einem angekündigten Thema haben, werden so eingeladen, zur Ratssitzung zu erscheinen und sich am Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Durch den Rat (unter Beratung eines „Committees“) als exklusives Entscheidungsgremium soll der Fortbestand des Hauses gesichert werden. Dem unterliegt die Überzeugung, dass der Fortbestand des Projektes eines „handlungsfähigen Entscheidungsgremiums“ (in Form einer kleinen, konsens-orientierten Gruppe) bedarf, das zunächst auf die finanzielle Stabilisierung des Projekts zielen muss. Unter Druck wird der Rat legitimiert, erfährt aber immer wieder massive Widerstände aus der GHC-Arbeitsgemeinschaft und verbleibt so in seinen Entscheidungen häufig ohne eine kollektiv getragene Kraft zur Realisierung dieser. Die GHC Arbeitsgemeinschaft droht zu zerfallen während die komplexen Problemlagen der eigenen Organisationsstruktur und die schwierigen Projektinhalte weiterwirken. 49Es

werden unterschiedliche Verständnisse von Führung diskutiert, was aber der Strategie einer Top-Down-Strukturierung über einige Zeit nicht den Boden nahm. Für Interessierte an dieser Diskussion lohnt sich ein Blick in den ausführlichen Forschungsbericht und die Positionsmap zur Bedeutung von Führung für den Fortbestand des GHC, vgl. Costa Carneiro (2020).

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6.4  Verunsicherung, Verklärung, Vermarktung: marktlogische Überlebensstrategien Nachdem 2016/2017 wieder einige verantwortlich Mitwirkende das Projekt verlassen, sich die prekäre Gesamtsituation weiter zuspitzt, die „Flüchtlingskrise“ etwas an Gehör in der öffentlichen Debatte verliert, die mediale Aufmerksamkeit auf das Projekt abnimmt, die Förderungen auslaufen, die internen Strukturierungsmaßnahmen ohne nachhaltige Verbesserung der Organisationskultur und Selbstverwaltung bleiben, wird also Anfang 2017 von einigen Hauptverantwortlichen in der Klausur „In welchem GHC willst du leben?“ die Frage nach der Weiterführung des Projekts gestellt. Das GHC ist zu dieser Zeit längst zum städtischen Gut verwachsen. Das wird sichtbar über die Begründungen, warum das GHC auch in der existenziellen Notlage fortbestehen muss, bzw. warum es nicht einfach geschlossen werden kann. In der Suche nach Überlebensstrategien wird das GHC auf seine wirtschaftliche Struktur reduziert betrachtet. In einer EntwederOder-Logik wird die finanzielle Sicherung des Hotelturms forciert, die schwelgenden Konflikte, die inneren Kämpfe und Abgrenzungspraktiken bleiben ohne tief greifende Klärungsprozesse auf Gruppenebene bestehen. Ihnen wird mit repressiven Diskursen wie „ihr müsst vertrauen“ begegnet. Offensichtlich werden Beziehungs- und Gruppenarbeit von wenigen internen Autoritäten immer wieder als „unnötig“ oder „Luxus“ abgetan, obwohl andere Hoteliers diese immer wieder forcieren. Interne Kritiker*innen an der herrschenden Strukturierung werden teilweise informell aus Entscheidungsgremien ausgeschlossen. So werden mögliche kollektive Resilienzstrategien (Luthmann 2019) verkannt und in ihrer Bedeutung für den Fortbestand des Projektes missachtet. In der Überlebensstrategie der finanziellen Rettung ist die eingenommene psychobiologische Reaktion nicht Flucht oder Kampf, sondern Anpassung. Anpassung als die Inkorporierung der herrschenden Logik von Unternehmensführung, als Konventionalisierung der Institution GHC. Die „Visionsfindung“ versucht diese Überlebensstrategie ins Innere zu vermitteln. Dabei vermag die begriffliche Rahmung nicht dem zu entsprechen, was sich in diesem Prozess zeigt. Es wird nach einer Konzeptualisierung für das Projekt gesucht, die das, was das GHC ist, verwertbar macht. Mit der Idee des „Seminarhotels“ oder der „Grand Academy“ wird das größtmögliche Potenzial des Ortes ausgeschöpft und kommodifiziert: Der Hotel- und Gastronomiebetrieb, der Seminarraum, die „Expertise“ oder Arbeitsweise der Arbeitsgemeinschaft werden zur vermarkteten Ware, die fortan zur Basisfinanzierung des Projekts beitragen soll. Die Konzeptualisierung als „Seminarhotel“ spiegelt auch die gemachte Wirklichkeit des GHC: „Bürotower“, „Produktorientierung“, „Hierarchisierung von Gestaltungsmacht“ sind nur einige zentrale Diskurse, die die marktlogisch regulierte alltägliche Raumproduktion des GHC zu dieser Zeit beschreiben. Diese Entwicklung wird immer wieder auch durchkreuzt und unterbrochen von internem Protest, der widerständigen Wieder-Aneignung der Räume im GHC, durch selbstkritische Stimmen des Inneren Zirkels und Momente der Solidarisierung, der kollektiven Reflexion und des Zusammenarbeitens. Letztere dominieren hier jedoch nicht die soziale Wirklichkeit des GHC und so hat diese Prozessphase ihren Höhepunkt mit dem öffentlichen Auf-

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ruf zur „Rettung des GHC in Existenznot“. Ende 2018 ruft das GHC unter dem Slogan in verschiedenen öffentlichen-medialen Kanälen zur finanziellen Unterstützung auf, um diesen gesellschaftlichen Lernort nochmal neu zu strukturieren und zukunftsfähig zu machen (Grandhotel Cosmopolis 2018). Die breite, wohlwollende Resonanz spiegelte auch die Bedeutung, die da Projekt mittlerweile erlangt hat. Deshalb wollen wir weitermachen, die Frage ist Wie. Damit schließe ich meine untersuchte Situation zum Herbst 2018 und hier die analytische Betrachtung der (Re-)Produktion des sozialen Raumes GHC50. Die eröffnenden und einhegenden Bedingungen des transformativen Möglichkeitsraumes skizzierte ich in ihren konstituierenden Spannungsverhältnissen. Zur exemplarischen Darstellung der unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Positionen zu den Bedürfnissen und Strategien zum Fortbestand des Projekts, möchte ich anschließend noch kurz auf einen zentralen übergeordneten Diskurs eingehen, der immer wiederkehrende Hauptstreite fasst: Die Bedeutung von Kontrolle des Gestaltungsraumes zum Fortbestand des Möglichkeitsraumes GHC51.

6.5 Exemplarisch: Hauptstreit zu Bedingungen des Fortbestandes Die Abbildung zeigt im Spannungsfeld zweier Achsen die wichtigsten Positionen52 dieses Hauptstreits und in (Klammern) meine analytische Interpretation damit verbundener Praktiken (Abb. 3).

50Wer

in diesen Tagen das Projekt erstmalig näher kennenlernt, wird evtl. Möglichkeitsraum eröffnende Qualitäten als dominierend wahrnehmen. So geht es mir jedenfalls nach meiner längeren physischen Abwesenheit, während derer sich das Projekt wieder stark verändert hat. Heute nehme ich – auch im Gespräch mit anderen beobachtenden Mitgestaltenden – wieder eine größere Offenheit wahr, ein wertschätzenderes Miteinander und die von vielen geteilte Bereitschaft, sich selbst und das Projekt zu verändern. 51Der Diskurs um die Bedeutung von Kontrolle ist von stetiger Relevanz für das Projekt, da das GHC originär mit Bezug auf das Konzept der Sozialen Plastik alle einlädt, die aktiv Gesellschaft mitgestalten möchten, in diesem Sinne als offener Gestaltungsraum konzipiert wurde und insbesondere in der Prozessphase des Projektbeginns die kollaborative Um-Gestaltung des Gebäudes als zentrale Erfahrung der Begründer*innen gilt. Gleichzeitig hat sich über den Prozess der sozialen Raumproduktion gezeigt, dass Begrenzungen von Gestaltungsräumen innerhalb des Projekts für dessen Fortbestand unerlässlich waren und sind. Zwischen diesen Polen und über vielfältige Positionen differenziert sich das Spannungsfeld zwischen Eröffnung und Einhegung des Möglichkeitsraumes GHC aus. Hier werden die Bedingungen verhandelt, die letztlich für den Fortbestand eben dieser Qualität des GHC, ein transformativer Möglichkeitsraum städtischer Postwachstumsgesellschaft zu sein, entscheidend sind. 52Über den untersuchten Prozess hinweg wurden hierzu unterschiedliche diskursive Positionen angeboten, viele existierten gleichzeitig und/oder standen im Widerspruch zueinander, einige dominierten für eine Weile in der Wahrnehmung der sozialen Welt der GHC Arbeitsgemeinschaft, manche wurden marginalisiert. Ergänzend zu den Positionen aus meinem Datenmaterial fügte

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Abb. 3   Positionsmap 1.3_Bedeutung von Kontrolle des Gestaltungsraumes zum Fortbestand des transformativen Möglichkeitsraumes GHC; eigene Darstellung

Gestaltungsraum symbolisiert für mich im GHC die physisch-materiellen Dinge, das Wissen und die tragenden zwischenmenschlichen Beziehungen, die gebraucht werden, um Gesellschaft selbstbestimmt mitzugestalten. Dazu zählen die Möglichkeit, über die Ausrichtung, die Aktionen und die Visionen des Projekts mitzusprechen, Entscheidungen mitzutreffen, ihnen einen ästhetischen Ausdruck zu geben, über das GHC öffentlich zu sprechen, es zu bedeuten, die Geschichte des GHC zu erzählen. Hier werden Ideen von Arbeitsgruppen realisiert, Projekte von Bewohnenden ermöglicht, aber auch Unternehmungen von Entrepreneuren und deren Mitarbeitenden haben Teil am Gestaltungsraum der GHC-Produktion. Der Gestaltungsraum ist die materielle und ideelle Infrastruktur des sozialen Wandels, er ermöglicht Eigenaktivität, Kreativität und Experiment. Letztlich fasst er jene Bedingungen, die aus der hier eingenommenen Perspektive eine radikal politisierende und damit demokratisierende Raum(re-)produktion ermöglichen.

ich auch Positionen aus theoretischen Bezügen ein (vgl. Clarke 2012, S. 173). So konnte ich insbesondere auch „Orte des Schweigens“ über Vergleiche zwischen Empirie und Theorie sichtbar machen und den Horizont des als möglich Gesehenen evtl. erweitern. Über die Kartierung aller Positionen in ihrer eigenen Perspektivität wurden schließlich Spannungsverhältnisse sichtbarer, in denen zwischen eröffnenden/verstetigenden und verschließenden/einhegenden Bedingungen der transformative Möglichkeitsraum GHC re-produziert wurde/wird.

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Die Kontrolle von Gestaltungsräumen im GHC erfolgt über verschiedene Praktiken und erhält in Verbindung mit entsprechenden Diskursen allgemeine Legitimation. Kontrolle erscheint dabei als bewusste, strategisch eingesetzte Begrenzung oder Hierarchisierung von Entscheidungsmacht, aber auch unbeabsichtigt und implizit, etwa über unstetigen Informationsaustausch, weil Zugänge zu Gestaltungsräumen nicht mehr klar vermittelt werden. Oder auch solche Formen der Kontrolle, die ich als Kompensationsmechanismen deute, weil sie die Handlungsfähigkeit in Situationen von Überforderung oder emotionaler Überwältigung wiederherstellen. In der Konsequenz begünstigen diese Kontrollpraktiken und nichtintendierten Nebenfolgen die Exklusivität von Gestaltungsräumen (was in einigen Positionen durchaus als notwendig zum Erhalt des GHC als transformativer Möglichkeitsraum gedeutet wird, z. B. P9). Über die Exklusivität von Zugängen oder über Deutungsmacht werden auch die ­(Re-)Produktionsbedingungen des Möglichkeitsraumes (ein Stück weit) elitär beschlossen.

7 Anschlussstellen „The right to the city is […] far more than a right of individual or group access to the resources that the city embodies: it is a right to change and reinvent the city more after our hearts’ desire“ (Harvey 2013, S. 4).

Über die Verbindung zwischen Postwachstum, aktivistischer Stadtgestaltung und transformativer Forschung verortete ich meine hier dargestellte empirische Untersuchung des GHC an der Schnittstelle dieser Diskursuniversen und konzeptualisierte das Projekt in seinen Praktiken, Diskursen und anderen Möglichkeitsbedingungen als transformativen Möglichkeitsraum: Über Praktiken der Selbstermächtigung und der entgrenzten Solidarisierung, innerhalb derer Privilegien als Ressourcen geteilt werden, eröffnen die Grandhoteliers einen gemeingeschaffenen Treffpunkt der Unterschiedlichkeit. Mittels partizipativer Ansätze und der Kollektivierung von Produktionsprozessen wird diese Möglichkeit verstetigt, erweitert und immer wieder auch über andere Interessen und inhärente Widersprüche irritiert und verändert. Strategisch zielt die ergebnisoffene Unternehmung auf das ästhetische Sichtbarmachen und die Erfahrung von (struktureller) Veränderung. Darüber wird eine alternative Lebensweise vermittelt, die über alltägliche Interaktion zur handlungsleitenden Kultur wird und damit prinzipiell für eine Breite an interessierten Menschen Zugänge der Mitgestaltung schafft. Mit Barbara Muraca sind soziale Experimente wie das GHC für die gesamtgesellschaftliche Transformation bedeutsam, weil sie die Umdeutung etablierter Werte ermöglichen und utopische Zukunftsmöglichkeiten antizipieren und verkörpern. Dabei wirken sie an einer politischen Gegenerzählung zu herrschenden Formen ­ (stadt-) gesellschaftlicher (Re-)Produktion mit und fördern so die Veränderung des zugrunde liegenden sozialen Imaginären (2015, S. 205). Eine wirkmächtige, das eigene Handeln stärkende Fiktion, auf die das Projekt in seinem alltäglichen Schaffen bezogen werden

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kann, ist die der Postwachstumsstadt. Über die Fähigkeit der Selbstinstituierung (z. B. „GHC als neue Form der Institution“), über die (Selbst-)Veränderung und Schöpfung neuer Regeln inmitten des bereits Regulierten (z. B. „Hotel für Menschen mit und ohne Asyl“), im Protest gegen jegliche Alternativlosigkeit (z. B. als Ort gelebter Willkommenskultur) ermöglicht das GHC einen Prozess der Bildung zur Autonomie und Demokratie (vgl. Bohmann und Muraca 2016, S. 307). Dieser bleibt umkämpft und gefährdet. Im Sinne einer paideïa erscheinen in diesem kollektiven, subversiven Lernen neue Verbindungen und alternative Subjektpositionen, die Gesellschaft performativ und präfigurativ konstituieren (Bohmann und Muraca 2016, S. 307). Gleichzeitig bergen diese informell geschaffenen Strukturen große Konfliktpotenziale, insbesondere im Zuge der Neu-Verregelung von Zugängen, in Konfrontation mit marktlogischen Produktionsansprüchen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Damit das GHC als transformativer Möglichkeitsraum für die Stadtgesellschaft fortbestehen kann, erscheint eine breite, multikulturelle und -professionelle Träger*innenschaft wichtig. Ein Netz aus Mitwirkenden mit unterschiedlichen explizierten Verantwortlichkeiten in Bezug auf das Projekt, vielfältigen Fähigkeiten und (politischen) Positionen sehe ich als stärkend für dessen nachhaltige Anschlussfähigkeit an stadtgesellschaftliche Interessen. Wenn die kollaborative Qualität in der Gestaltung des Ortes erhöht werden will, erscheinen mir Veränderungen auf der Ebene alltäglicher Re-Produktion innerhalb des Projekts nötig, aber insbesondere auch die (stadt-)gesellschaftliche Bereitschaft, Sorge für soziale Experimente wie das GHC zu tragen. Diese könnte sich u. a. in Förderstrukturen materialisieren, die sich auf die tatsächlichen Bedürfnisse solcher Räume beziehen, wie etwa Möglichkeiten zur Basisfinanzierung (die insbesondere auch Leistungen der sozialen Re-Produktion wie Fürsorge-/Care-Arbeit und ihre Akteur*innen anerkennt) statt projektgebundener Mittelvergaben oder die Kollektivierung von Boden- und Immobilienbesitz. Es geht auch darum, in mächtigen stadtentwicklungspolitischen Arenen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, inwiefern Orte wie das GHC für demokratische Stadtgesellschaften bedeutsam sind und diese, wo möglich, in die transformativen Raumformungsprozesse des Projekts miteinzubeziehen. Das GHC wäre dabei verantwortlich, Erkenntnisse aus dem eigenen Entwicklungsprozess kontextspezifisch an (noch) nichtinvolvierte Interessierte zu vermitteln und so als ergebnisoffener Prozess zugänglich zu bleiben. Dazu braucht es innerhalb der Projektorganisation Gelegenheiten zur kontinuierlichen Reflexion der eingesetzten Methoden und der Resultate der alternativen Struktur- und Regelbildung, die ihrerseits maximal inklusiv und radikaldemokratisch gestaltet sein sollte. Das setzt eine Organisationsstruktur voraus, die beweglich bleibt, um institutionelle Veränderung entsprechend der Reflexionsergebnisse vornehmen zu können. Offenheit erscheint so als originäre Bedingung für die Realisierung und Verstetigung transformativer Möglichkeitsräume wesentlich. Diese Offenheit muss strukturell angelegt sein, oder wie Richard Sennett (2018, S. 14) im Anschluss an Melanie Mitchell (Mathematikerin) beschreibt:

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„‚Offenheit‘ setzt ein System voraus, das es erlaubt, Absonderliches, Seltsames und Mögliches zusammenzufügen. […] Es ist ein System, ‚in dem große Netzwerke aus Komponenten ohne zentrale Steuerung und mit einfachen Operationsregeln ein komplexes Kollektivverhalten, eine differenzierte Informationsverarbeitung und eine über Lernen oder Evolution erfolgende Anpassung hervorbringen.‘“

Clarke’s Situationsanalyse ist ein forschungsprogrammatischer Ansatz, um dieser Offenheit auch methodologische Entsprechung zu geben. Über die breite Situierung des Forschungsphänomens war meine Untersuchung von Beginn an offen für unterschiedliche Wege, die ich verfolgen konnte. Aus meinem Selbstverständnis als aktivistische Forscherin und meiner Position, in einer Doppelrolle im GHC beteiligt zu sein, ergab sich die Selbstverpflichtung, das GHC in einer kritisch-solidarischen und selbstreflexiven Weise zu untersuchen. In dem Interesse an Bedingungen der Verstetigung transformativer Potenziale sah ich diesen Anspruch realisierbar und von Relevanz für das Projekt. Ich hoffe, über diese Einblicke in meinen anhaltenden Forschungsprozess nicht nur zum anwendungsorientierten Austausch über urbane Transformationsstrategien zur Realisierung von demokratischen Postwachstumsstädten anregen zu können, sondern darüber hinaus auch die Bedeutung von intervenierender Forschung exemplarisch herauszustellen, die über eine Re-Konstruktion sozialer Verhältnisse hinauszugehen vermag, indem sie auf (existente) Möglichkeiten zu deren Veränderung deutet.

Literatur Adler, F. (2016). Transformation zur Postwachstumsgesellschaft – ja, aber wie und wer? Kommentiert von Stefanie Graefe. Working Paper der DFG-Kollegforscher_innengruppe Postwachstumsgesellschaften, Nr. 3/2016, Jena. Ahora Madrid (2017). Die Zukünfte des Munizipalismus. Feminisierung der Politik und demokratische Radikalisierung. In: C. Brunner, N. Kubaczek, K. Mulvaney, G. Raunig (Hrsg.), Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte (S. 105–112). Wien: transversal texts. Baier, A., Müller, C., Werner, K. (2015). Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Doityourself. Bielefeld: transcript. Barnett, C. (2014). What Do Cities Have to Do with Democracy? International journal of urban and regional research, 38 (5). Zugriff: 19.09.2019. Blumer, H. (1973). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (S. 80–101). Bd. I. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bohmann, U., Muraca, B. (2016). Demokratische Transformation als Transformation der Demokratie: Postwachstum und radikale Demokratie. In: AK Postwachstum (Hrsg.), Wachstum – Krise und Kritik (S. 289–311). Frankfurt a. M./ New York: Campus. Brand, U. (2014). Transition und Transformation: Sozialökologische Perspektiven. In: M. Brie (Hrsg.), Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus (S. 242– 280). Münster: Westfälisches Dampfboot. Brand, U., Wissen, M. (2011). Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: A. Demirovic, J. Dück, F. Becker & P. Bader (Hrsg.), VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus (S. 78–93). Hamburg: VSA.

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J. Costa Carneiro

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Verzeichnis der Autor*innen

Julia Costa Carneiro hat Soziale Arbeit (Diplom) und Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung (Master) studiert und interessiert sich für die Gestaltung zukunftsfähiger Formen urbanen Zusammenlebens. In einem forschend-aktivistischem Selbstverständnis begibt sie sich in solche städtischen Raumformungsprozesse, die nicht nur mit dominierenden Handlungsweisen alltäglicher Urbanisierung brechen, sondern insbesondere auch radikaldemokratische Alternativen erproben, die auf ein nachhaltiges, gutes Leben für alle in der Stadt zielen. Entsprechend dazu rahmt sie Forschungssituationen, die zur Förderung sozial-ökologischer Gerechtigkeit beitragen wollen und mittels partizipativer und ästhetischer Formen auf die Demokratisierung von Wissen(schaft)sproduktion zielen. In Zusammenarbeit mit dem Grandhotel Comopolis entstand außerdem: Costa Carneiro, J. 2016. Grandhotel Cosmopolis als Ort der Bildung von Gesellschaft. Spannungen zwischen Utopie und Wirklichkeit. In: Ziese, M. and Gritschke, C. (Hrsg). Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld. Bielefeld: transcript, S. 313–323. Deborah Düring,  B.A., ist Masterstudentin der Friedens- und Konfliktforschung/Internationale Studien an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Technischen Universität Darmstadt. Sie absolvierte ihren Bachelor in Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg und der Pontificia Universidad Católica del Perú. Ihre Schwerpunkte liegen auf der Analyse von Ressourcenkonflikten, mit dem Fokus auf die Ressourcen Wasser und Land, sowie Indigene Gemeinschaften als auch Postkolonialen Ansätzen in der Außenpolitik. Manuel Eberhardt, B.A. erwarb seinen Bachelorabschluss in Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg. Er absolviert aktuell an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg den Masterstudiengang Politikwissenschaft mit Begleitfach Geographie. Seine Interessensschwerpunkte sind die Europäische Integration, die Umweltpolitik und die nachhaltige Stadtentwicklung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Roos (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29973-6

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Verzeichnis der Autor*innen

Mareike Edler,  M.A. hat „Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft“ an der Universität Augsburg studiert, ebenso wie Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Neben der kritischen Analyse entwicklungspolitischer Kontexte und internationaler Zusammenarbeit liegt der Schwerpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses auf dem Bereich Krisenmanagement und Sicherheitspolitik. Insbesondere untersucht sie dabei politische und gesellschaftliche Krisenreaktionen und Narrative im Zusammenhang mit Terrorismus und Radikalisierungsprozessen. Moritz Harzbecher studiert den Bachelor Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg und arbeitet dort als Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Soziologie mit Berücksichtigung der Sozialkunde. Daniel Hegemann,  M.A. hat Politikwissenschaft und Soziologie an der ­Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg studiert. Er war als Tutor am Augsburger Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung angestellt. Die Schwerpunkte seines Forschungsinteresses liegen auf Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Ungleichheitsforschung sowie Postwachstumstheorien. Gegenwärtig arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und beschäftigt sich dort unter anderem mit der Trias Bevölkerungsentwicklung, steigender Energieverbrauch/Wirtschaftswachstum und Klimawandel. Yannic Hollstein,  B.A. studiert Sozialwissenschaften B.A. und Erziehungswissenschaft M.A. an der Universität Augsburg. Während seines Studiums beschäftigte er sich vor allem mit diskursanalytischen Ansätzen und Machtdynamiken im Feld der politischen Diskussion. Gegenwärtig erforscht er die Wahrnehmung chinesischer Außen- und Innenpolitik in Europa sowie das Verhältnis von Politik und Pädagogik. Seit 2018 arbeitet er zudem am Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Augsburg. Julia Hübinger,  M.A. hat Verpackungstechnik an der Hochschule der Medien Stuttgart und Umweltethik an der Universität Augsburg sowie der Universität Oslo studiert. Sie konzipiert und realisiert Projekte und Veranstaltungen im Sinne einer sozial-ökologische Transformation und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv. Sabrina Koch, M.A. hat Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Konflikten in Gesellschaft und Politik an der Universität Augsburg studiert. In Ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Bedeutung von Demokratie bei ausgewählten Vertreter*innen im deutschen Postwachstumsdiskurs. Weitere Schwerpunkte ihres Studiums und ihrer Arbeit sind Arbeitsmarktpolitik und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ehrenamtlich engagiert sie sich bei Bündnis 90/Die Grünen.

Verzeichnis der Autor*innen

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Anna Lohs, B.A. ist Masterstudentin der Sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Während ihres Studiums legte sie ihre Forschungsschwerpunkte sowohl auf den philosophischen Pragmatismus als auch auf Postwachstumsbzw. Degrowth-Theorien. Gegenwärtig erforscht sie im Rahmen ihrer Masterthesis die UN-Bildungskampagne ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung‘ aus einer ­Degrowth-Perspektive. Georgina Phillips,  B.A. absolviert derzeit den Masterstudiengang Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Ihre Themenschwerpunkte liegen im Bereich Postwachstum und Degrowth, Nachhaltigkeit, Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Transformatives Lernen. Das Interesse für den Bildungsbereich spiegelt sich in ihrer freiberuflichen Tätigkeit als Referentin im Bereich BNE und Globales Lernen wider. Auch wissenschaftlich setzt sie sich mit diesen Themenkomplexen auseinander. Gegenwärtig beschäftigt sie sich mit dem Transformationspotential von Akteuren im Forschungsraum Stadt. Lea Rahman  ist Studentin an der Universität Augsburg im Studiengang B.A. Sozialwissenschaften und Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Aktuell beschäftigt sie sich vorwiegend mit der internationalen Klimapolitik sowie diskurstheoretischen Überlegungen zu Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. PD Dr. Ulrich Roos ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der Weltgesellschaftsforschung, der Internationalen Politischen Ökonomie und Ökologie, der Außenpolitik der EU und der Bundesrepublik Deutschland sowie den rekonstruktiven Methoden der Weltpolitikforschung. Gegenwärtig forscht er zu Nachhaltigkeitsnarrativen und -diskursen sowie den damit verwobenen normativen Ordnungen auf weltsystemischer wie kommunaler Ebene. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören: Die Krise des Wachstumsdogmas: ein Plädoyer für eine intervenierende Sozialwissenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2019: 6, S. 49–58; Eine pragmatistische Analyse und Kritik der pragmatischen Globalstrategie der Europäischen Union: zugleich der Versuch einer Aktualisierung der Ethiken von Charles Sanders Peirce und John Dewey, in: Merkl, Alexander/Koch, Bernhard (Hrsg.) 2018, Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, Baden-Baden, 145–180 (gemeinsam mit Ulrich Franke); Rekonstruktiv-interpretative Designs, in: Wagemann, Claudius/Goerres, Achim/Siewert, Markus (Hrsg.) 2018, Handbuch Methoden der Politikwissenschaft, Wiesbaden, 1–23 (gemeinsam mit Ulrich Franke). Julia Schönborn, M.A. hat im Sommer 2019 ihren Master in Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft an der Universität Augsburg abgeschlossen.

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Verzeichnis der Autor*innen

Ihren Bachelor in Ethnologie hat sie von der Goethe Universität Frankfurt am Main. Sie hat sich auf Entwicklungszusammenarbeit mit Regionalschwerpunkt Südostasien spezialisiert und arbeitet derzeit als Praktikantin in der deutschen Gesellschaft für Internationale Entwicklungszusammenarbeit (GIZ) in der Abteilung International Services Asien. Henriette Friederike Seydel  studierte M.A. Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft (Universität Augsburg) und B.A. European Studies (Universität Passau). Ihre Studienschwerpunkte lagen auf diskurstheoretischen Überlegungen zu Rassismus, (Post-)Kolonialismus und Sexismus. Derzeit arbeitet sie in Augsburg in einer Projektstelle des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als Ansprechpartnerin für zivilgesellschaftliches und kommunales entwicklungspolitisches Engagement in Schwaben. Marius Thomay studiert Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg und ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung. Hannah Witt, M. A. studierte im Bachelor Philosophie und Anglistik an der ­Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Darauf aufbauend absolvierte sie den Master der Umweltethik an der Universität Augsburg, wobei sie sich vorwiegend mit Fragen zu nachhaltigem Konsum und dem Verhältnis des Menschen zur Natur befasste. Derzeit ist sie freiberufliche Lektorin für wissenschaftliche Abschlussarbeiten.