Mythos Rhythmus: Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900 3515103570, 9783515103572

Um 1900 wird Rhythmus in der Wissenschaft sowie in Kunst und Literatur zu einem relevanten Phänomen: Nietzsche erhebt ih

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DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitender Beitrag
DER MYTHOS RHYTHMUS
I: DER MYTHOS RHYTHMUS IN DEN GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN
DER RHYTHMUS ALS GRUNDLAGE EINER ERNEUERUNG DER WISSENSCHAFTEN UND ALS INSTRUMENT EINER SOZIALEN THERAPIE
RHYTHMOLOGIE IN DER KUNSTWISSENSCHAFT ZWISCHEN DEM 19. UND 20. JAHRHUNDERT: DER FALL AUGUST SCHMARSOW
DER INNERE WILDE (THE SAVAGE WITHIN) RHYTHMUS, TANZ UND KULTUR IM EUROPÄISCHEN PRIMITIVISMUS UM 1900
ÉTIENNE-JULES MAREY UND DIE BRÜDER BRAGAGLIA: FOTOGRAFIE, BEWEGUNG UND RHYTHMUS
DIE RHYTHMUSFORSCHUNG IN DER DEUTSCHEN PSYCHOLOGIE UM 1900
NIETZSCHES ZARATHUSTRA UND DER „GROSSE RHYTHMUS“
II: DER MYTHOS RHYTHMUS IN DER LITERATUR
RHYTHMUS UND METRIK: NAIVE UND DOGMATISCHE WISSENSCHAFT UM 1900
KLANG UND RHYTHMUS BEI STEFAN GEORGE
LEBENSRHYTHMUS UND HARTE FÜGUNG: DER HÖLDERLIN-TON DER MODERNE
„RITMI FUTURISTI“: ZUM TRANSMEDIALEN KONZEPT DES RHYTHMUS IM ITALIENISCHEN FUTURISMUS
KOSMISCHE APOKALYPSE UND WIEDERGEBURT, KONSTRUKTIVISTISCHER REDUKTIONISMUS UND DYNAMISCHE RHYTHMIK
RHYTHMUS IN MUSILS LITERAT UND LITERATUR
UMBRUCHSRHYTHMEN JAZZMUSIK IN DEN ROMANEN DER WEIMARER REPUBLIK
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Mythos Rhythmus: Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900
 3515103570, 9783515103572

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Massimo Salgaro Michele Vangi (Hg.)

BAND 3

SCHRIF TEN DER VILL A VIGONI

Franz Steiner Verlag

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Massimo Salgaro / Michele Vangi (Hg.) Mythos Rhythmus

AURORA Schriften der Villa Vigoni herausgegeben von Immacolata Amodeo Band 3

Massimo Salgaro / Michele Vangi (Hg.)

Mythos Rhythmus Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10357-2 (Print) ISBN 978-3-515-11173-7 (E-Book)

“Poetry begins, I dare say, with a savage beating a drum in a jungle, and it retains that essential of percussion and rhythm.”

T. S. Eliot

“La poesia senza più ritmo? Ma la poesia elementare ed essenziale è ritmo solo. È il suono del cembalo al cui busso danza il selvaggio; è il moto della culla al cui dondolio chiude gli occhi il bambino! Dopo, s’è aggiunta una nenia al primitivo tam tam, al primitivo don don: una nenia di suoni senza senso e poi di parole” Giovanni Pascoli “Everything is determined, the beginning as well as the end, by forces over which we have no control. It is determined for the insect, as well as for the star. Human beings, vegetables, or cosmic dust, we all dance to a mysterious tune, intoned in the distance by an invisible piper.” Albert Einstein

“The first memory of sound would have to be your mother’s heartbeat, for all of us. You grow up, from when you’re a peanut, listening to rhythm.” Lou Reed

DANKSAGUNG Die Tagung, auf die der vorliegende Band zu großen Teilen zurückgeht, wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms „Villa-VigoniGespräche in den Sozial- und in Geisteswissenschaften“ finanziert. Für die Aufnahme in dieses Programm, mit welchem die DFG seit vielen Jahren einen wichtigen Beitrag zu der deutsch-italienischen Wissenschaftskooperation leistet, möchten wir unseren aufrichtigen Dank ausdrücken. Herzlich danken möchten wir auch dem Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni, das unsere Tagung beherbergt und besonders Frau Prof. Dr. Immacolata Amodeo, Generalsekretärin der Villa Vigoni, die diesen Band in die von ihr herausgegebene Reihe aufgenommen hat. Ein ganz herzliches Dankeschön geht nicht zuletzt an alle, die die Beiträge dieses Bandes lektoriert haben: Anna Büchl, Desirée Biehl, Christian Dengg, Maria Gambino, Andrea Hahn, Carolin Hahn, Verena Maisch, Mara Nogai, Julian Stefenelli,Viola Usselmann, Gudrun Wiesel. Da fast sämtliche Autoren der Beiträge keine deutschen Muttersprachler sind, waren sorgfältige Korrekturarbeiten unentbehrlich, weshalb ohne die kompetente und geduldige Unterstützung der erwähnten Personen dieser Band niemals erschienen wäre.

INHALTSVERZEICHNIS Einleitender Beitrag Massimo Salgaro, Michele Vangi Der Mythos Rhythmus .......................................................................................... 11 I: Der Mythos Rhythmus in den Geistes- und Sozialwissenschaften Olivier Hanse Der Rhythmus als Grundlage einer Erneuerung der Wissenschaften und als Instrument einer sozialen Therapie........................................................... 29 Andrea Pinotti Rhythmologie in der Kunstwissenschaft zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert: der Fall August Schmarsow .................................................................................. 41 Francesco Ronzon Der innere Wilde (the savage within). Rhythmus, Tanz und Kultur im europäischen Primitivismus um 1900.............................................................. 55 Anja Meyer Étienne-Jules Marey und die Brüder Bragaglia: Fotografie, Bewegung und Rhythmus ..................................................................................... 71 Riccardo Luccio Die Rhythmusforschung in der deutschen Psychologie um 1900 ........................ 83 Gabriella Pelloni Nietzsches Zarathustra und der „grosse Rhythmus“ ............................................ 99 II: Der Mythos Rhythmus in der Literatur Eske Bockelmann Rhythmus und Metrik: Naive und dogmatische Wissenschaft um 1900 ............ 119 Maurizio Pirro Klang und Rhythmus bei Stefan George............................................................. 133

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Inhaltsverzeichnis

Marco Castellari Lebensrhythmus und harte Fügung: Der Hölderlin-Ton der Moderne ............... 143 Giovanna Cordibella „Ritmi futuristi“: Zum transmedialen Konzept des Rhythmus im italienischen Futurismus ................................................................................ 157 Andrea Benedetti Kosmische Apokalypse und Wiedergeburt, konstruktivistischer Reduktionismus und dynamische Rhythmik: Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung zum Ersten Weltkrieg ............................ 171 Massimo Salgaro Rhythmus in Musils Literat und Literatur .......................................................... 189 Michele Vangi Umbruchsrhythmen. Jazzmusik in den Romanen der Weimarer Republik ........ 203 Die Autoren ......................................................................................................... 215 Register ............................................................................................................... 219

DER MYTHOS RHYTHMUS Massimo Salgaro, Michele Vangi In seiner 1963 erschienenen Studie Der habsburgische Mythos stellt Claudio Magris die österreichisch-ungarische Monarchie sowohl als soziopolitisches als auch als mythisches Konstrukt dar. Bezeichnenderweise bildete sich diese Interpretation um die Jahrhundertwende heraus – also genau zu jener Zeit, in welcher der Vielvölkerstaat kurz vor seiner Auflösung stand: Die Mythisierung sei laut Magris als Reaktion von Literaten und Künstlern auf diesen Verfall hin zu werten und insofern eine verklärte idealisierte Perspektive: der Vielvölkerstaat als Garant von Stabilität, Harmonie und Ordnung. In Bezug auf diese historischen und ideologischen Koordinaten entwirft Magris folgendes Mythoskonzept: [Mythen sind] die Art und Weise, mit der eine Gesellschaft sich bemüht, um die Vielfalt des Realen auf eine Einheit, das Chaos auf eine Ordnung, die brüchige Akzidenz des Lebens auf eine Essenz, die historisch-politischen Wiedersprüche auf eine Harmonie zu reduzieren, die im Stande ist, sie zusammenzufügen und sogar sie aufzuheben.1

Laut Magris’ Definition – gleichsam ein italienisches Pendant zur deutschen Mythos-Debatte der 1970er und 1980er Jahre – ist der Mythos zugleich ein übergeordneter Wert, ein Leitbegriff und ein kulturelles Konstrukt, das jeweils in einem bestimmten historischen und intellektuellen Kontext zu verstehen ist. Mythen versinnbildlichen ex negativo die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit und die Unzulänglichkeit der Realität im Hinblick auf die durch den Mythos verkörperten Maßstäbe und Werte. Sie sind somit Spiegelbilder ihrer Zeit und stellen Auswege aus einer als unbefriedigend empfundenen Situation dar.2 Von dieser Auffassung des Mythos ausgehend möchten wir uns dem europäischen Rhythmusdiskurs um 1900 nähern, der auch mythopoetische Charakteristika aufweist. Der „Mythos Rhythmus“ fällt in eine ähnliche Zeit wie der habsburgische Mythos und ist eine Reaktion auf die empfundene Unzulänglichkeit der Realität. Er verspricht eine Aussöhnung der Gegensätze, eine Aufhebung der Kontraste in eine harmonisch und ganzheitlich erlebte Wirklichkeit, ein Allheilmittel gegen für die Zeit typische Neurosen und einen „Fluchtweg“ aus einer Welt, von der man sich entfremdet hat.3 1 2

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C. Magris, Il mito asburgico, Neuausg., Torino 1996, S. 4 (Übersetzung der Herausgeber). Deutsche Ausgabe: Ders., Der habsburgische Mythos, Wien 2000. Der Rhythmusdiskurs um 1900 könnte auch als Symptom einer fragmentarischen Welt betrachtet werden, das die Utopie einer neuen Totalität hervorruft. Vgl. D. Kremer, „Vorwort“, in: G. Pulvirenti, FragmentenSchrift. Über die Zersplitterung der Totalität in der Moderne, Würzburg 2008, S. 7. Diese ordnungsstiftende Funktion des Mythos scheint eine regelmäßig wiederkehrende Kons-

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Die Rhythmusforschung schwankte immer wieder zwischen kritischer Bewertung und theoretischer Euphorie, und auch die Auslegung des Rhythmusbegriffs ist seit jeher umstritten. Rhythmus wurde sehr unterschiedlich definiert beziehungsweise von verwandten Begriffen wie Takt und Metrum abgegrenzt, was auch zu Widersprüchen führte. Seine Verwendung in vielen verschiedenen historischen Momenten, Ausdrucksformen und Forschungsgebieten – Musik, Malerei, Tanz, Literatur, aber auch Psychologie, Anthropologie, Soziologie und Neurowissenschaft – hat hier durchaus zur begrifflichen Vagheit und Widersprüchlichkeit beigetragen. Noch heute herrscht keine Einigkeit darüber, inwiefern beispielsweise das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität oder Singularität und Wiederholung das Konzept des Rhythmus prägen. Mit dem vorliegenden Sammelband soll indirekt zur Theoriebildung beigetragen werden: Die Aufsätze befassen sich allesamt mit den vielfältigen Ausformungen des „Mythos Rhythmus“ in der Zeit um die Jahrhundertwende und überwiegend im deutschsprachigen Raum – also circa von der Gründung des Deutschen Reichs bis zur Weimarer Republik. In dieser Periode ist der Rhythmus in verschiedenen Disziplinen, wie etwa Psychologie, Philosophie, Sozialwissenschaften, Literatur- oder Musikwissenschaft, so präsent, dass man geradezu von einer „mythopoetischen Fruchtbarkeit“ sprechen kann. In dieser „Gründungsphase der Rhythmusforschung“4 wird Rhythmus als kulturelles Konzept neu aufgearbeitet und wirft Forschungsfragen auf, die auch heute noch aktuell sind. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien zum Thema „Rhythmus“ erschienen, die dieses vor allem aus einer psychologischen und neurowissenschaftlichen Perspektive beleuchten5 oder es in einen interdisziplinären Kontext setzen.6 Inter-

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tante in der Kulturgeschichte des Abendlandes zu sein. Christine Lubkoll stellt fest: „Immer wieder kommt es – in der Antike, in der Renaissance, in der Aufklärung und der Romantik – zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Phänomen des Rhythmus und zu Paradigmenwechseln in der Theoriebildung. Vornehmlich geschieht dies in Phasen von Übergängen: Rhythmus-Vorstellungen sind Indikatoren für epochale Wahrnehmungsstrukturen; sie dienen der Ordnungsstiftung besonders dann, wenn festgefügte Lebenszusammenhänge sich wandeln, wenn neue technische und soziale Konstellationen veränderte Orientierungsmuster erforderlich machen“. C. Lubkoll, „Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900“, in: Ders. (Hrsg.), Das Imaginäre des fin de siècle: ein Symposium für Gerhard Neumann, Freiburg 2002, S. 83 f. Einen Überblick über den geschichtlichen Wandel des Rhythmus gibt Isabel Zollna, „Der Rhythmus in der geisteswissenschaftlichen Forschung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik LiLi 96 (1994), S. 12–52. A. Spitznagel, „Geschichte der psychologischen Forschung“, in: K. Müller, G. Aschersleben (Hgg.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern 2000, S. 3. Vgl. K. Müller, G. Aschersleben (2000): In diesem Band wird die Rhythmusforschung aus der interdisziplinären Warte der Psychologie (Kognitionspsyologie: S. 83–106; S. 111–132, S. 137–158, S. 163–183 und Entwicklungspsychologie: S. 191–217, S. 227–244, S. 255–283) sowie der Biologie (Neurologie: S. 59–78; S. 293–310) beleuchtet. Vgl. C. Brüstle, N. Ghattas, C. Risi, S. Schouten (Hgg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005. Dieser Sammelband ging aus der Tagung „Rhythmus in Prozess“ hervor, die 2004 in Berlin stattfand. Mit diesem Titel will man vor allem das Performative eines Rhythmus hervorheben, der immer auch eine Orientierung in einem Prozess darstellt. Rythmus strukturiert somit unsere Zeiterfahrung und beinflusst unser körperliches Emp-

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disziplinär angelegt ist auch dieser Sammelband, der sich jedoch zeitlich auf besagte Jahrhundertwende beschränkt. Zwar wird der Bandbreite der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Rhythmus Rechnung getragen,7 zugleich wird jedoch auch auf die Spezifizität des deutschen Rhythmusdiskurses eingegangen.8 RHYTHMUS UND TAKT Im philosophischen Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts emanzipiert sich die Definition des Rhythmus von normativen, zumeist numerisch definierten Grundsätzen und erlangt auch dadurch eine nahezu universelle Anwendbarkeit.9 Der Rhythmus wird oft als Gegenpart zum mechanisierten Leben und zum Lärm der modernen Großstadt betrachtet, deren Abläufe durch den Takt der Maschinen geprägt sind. Nach Ludwig Klages ist „der Rhythmus eine allgemeine Lebenserscheinung, an der als lebendes Wesen […] auch der Mensch teilnimmt“, der Takt hingegen eine menschliche Leistung, eine mechanische, seelenlose Wiederholung. Der Rhythmus sei eine „Urerscheinung des Lebens“,10 die in der Natur selbst begründet liegt. Bei Klages wird Rhythmus zur „Welterklärungsformel und gleichzeitig zum Inbegriff der Lebendigkeit der Seele“,11 in ihm seien die irdischen Versprechen einer körperlich-seelischen Harmonie und eine neue Form des Miteinanders vereint. Während der Takt für die künstliche, messbare Erzeugung von Regelmäßigkeit steht, wird Rhythmus als harmonische Verwirklichung des Individuums in einer natürlichen Ordnung verstanden. In Anlehnung an Klages bezeichnet Émile JaquesDalcroze den Rhythmus als vitales Prinzip und den Takt als geistiges Prinzip. In

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finden vor allem in der künstlerischen Produktion und Rezeption. Der Band bietet verschiedene Beiträge zu diesem Thema sowohl aus der Literatur-, Kultur-, Kunst-, Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft als auch aus Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaft. Die Bandbreite reicht dabei von der mittelalterlichen Literatur (S. 175–198) bis hin zur aktuellen Biologie und Neurowissenschaft (vgl. S. 107–148). Die Anerkennung seiner historischen Dimension unterscheidet unseren Beitrag von den Ausführungen Patrick Primavesis und Simone Mahrenholzʼ, die den Rhythmus als „eines traditionelles Paradigmas des Ästhetischen und als eine elementare Kategorie der Zeiterfahrung“ betrachten. P. Primavesi, S. Mahrenholz (Hgg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schlingen 2005, S. 10. Helmut Günther beschreibt die Gründung der deutschen Rhythmusbewegung (1890–1910) mit den folgenden emphatischen Worten: „Als Isadora Duncan 1903 in Deutschland auftrat, wurde sie gefeiert als wahrhafte Löserin, Erlöserin und Befreierin. Was die Deutschen bis jetzt nur erahnt und ersehnt hatten – den Körper als Offenbarer der Seele – das wurde bei ihr endlich sichtbar. Jetzt erst wurden auch die Deutschen schöpferisch. Die großen und eigentlichen Beiträge der Deutschen zur Rhythmik waren: die Entdeckung der rhythmischen Bewegung im Raum und eine regelrechte Rhythmus-Philosophie“. H. Günther, „Historische Grundlinien der deutschen Rhythmusbewegung“, in: G. Bünner, P. Röthig (Hgg.), Grundlagen und Methoden rhytmischer Erziehung, Stuttgart 1979, 3. Auflage, S. 36. Zur Bedeutung von Isadora Duncan für die Rhythmusbewegung vgl. den Beitrag von Francesco Ronzon in diesem Band. Vgl. W. Seidel: „Rhythmus“, in: K. Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Weimar 2003, S. 291–314. L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921, S. 138. C. Gruny, M. Nanni (Hgg.), Rhythmus-Balance-Metrum, Bielefeld 2014, S. 10.

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solchen Mythisierungen eines Naturrhythmus schwingen Zeitdiagnosen mit, die einem linearen Fortschrittsmodell kritisch gegenüberstehen. Takt und Rhythmus entsprechen auch nach Rudolf Bode zwei gegensätzlichen Erlebnissen: Der ursprüngliche natürliche Rhythmus sei ein „Kontinuum“, da „die unzerstörte Einheit von Raum und Zeit […] Grundbedingung rhythmischen Erlebens“ sei.12 Einen Gegensatz zu dieser einheitlichen Raum-Zeit-Empfindung stellt das moderne urbane Leben dar. Im Vorwort von Rhythmus und Körpererziehung hatte Bode zentrale Gegensätze aufgelistet: „Das Organische im Gegensatz zur Maschine, die Seele im Gegensatz zum Ich, die Natur im Gegensatz zum Gesetz…das Volk im Gegensatz zum Staat, der Eros im Gegensatz zum Logos.“13 Diese vernunftkritische Haltung, die den Rhythmusdiskurs Anfang des 20. Jahrhunderts prägte, ging nach dem Ersten Weltkrieg zum Teil in den neudeutschen Nationalismus ein. Der Rhythmus wurde somit zum Leitmotiv der Befreiungsbewegung der deutschen Seele, deren „rhythmischer Pulsschlag sich noch heute in tausend Gebilden widerspiegelt und der das tiefe Geheimnis bildet jenes fast unfaßbaren Wortes: Deutschland!.“14 Hiervon ausgehend ist der Schritt zu einer exaltierten Ideologie extrem kurz; es darf daher nicht verwundern, dass Rudolf Bode, einer der renommiertesten Rhythmustheoretiker, auch zu einem der Hauptvetreter der nationalsozialistischen Leibeserziehung wurde.15 Aus sozialkritischer Perspektive sind Rhythmus und ganzheitliche Lebensempfindung vom Philosophen Georg Simmel in Verbindung gebracht worden. Simmel diagnostiziert mit großer Sensibilität die „Steigerung des Nervenlebens“, die durch die Beschleunigung und die Technisierung des Großstadtlebens16 induziert worden war: Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewusstseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.17

Wenn der Rhythmusbegriff für die Wiedererlangung eines ganzheitlichen Erlebens steht, verwundert es wenig, dass gerade zu jener Zeit parallel auch der Begriff der „Gestalt“ eine Hochkonjunktur erlebte und beide Termini häufig als Synonyme 12 13 14 15 16

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R. Bode, Rhythmus und Körpererziehung, Jena 1923, S. 24. Ebd. S. 1. R. Bode, Ausdrucksgymnastik, München 1922, S. 10. Vgl. H. Günther (1979), S. 56. Laut Gabriele Klein ist die moderne Großstadt der Kristallisationsort für soziale Probleme, der zentrale Ort bürgerlicher Kultur- und Zivilisationskritik aber auch der unverzichtbare Hintergrund der modernen Kultur und der avantgardistischen Kunst. Vgl. G. Klein, „Dis-Kontinuitäten, Körperrhythmen, Tänze und der Sound der Stadt“, in: C. Brüstle, N. Ghattas, C. Risi, S. Schouten (2005), S. 67–82. G. Simmel, „Die Großstadt und das geistige Leben“, in: Th. Petermann (Hrsg.), Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden 1903, S. 185 f.

Der Mythos Rhythmus

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bzw. teils übereinstimmende Konzepte empfunden wurden. Nach der Formel des Gestaltpsychologen Christian von Ehrenfels ist die Gestalt ein Ganzes, das mehr als die Summe seiner Einzelteile ausdrückt und somit, wie der Rhythmus, einen holistischen Charakter aufweist.18 Die Gestaltpsychologie sieht besonders die Kunstrezeption durch dieses ganzheitliche Erleben geprägt.19 Wenn man von einer verlorenen oder wiedergewonnenen Ganzheitserfahrung zu Anfang des Jahrhunderts spricht, kommt man nicht umhin, die Evolutionstheorie zu erwähnen. Der Mensch wird darin vor allem über seine Abstammung vom Tier definiert, mit dem er auch über das Rhythmische verbunden sei, wie Charles Darwin in Descent of Man (1871) beobachtet: „The perception, if not the enjoyment, of musical cadences and rhythm is probably common to all animals, and depends on the common physiological nature of their nervous system.“20 Der Rhythmus sei Tier und Mensch gemein und bilde den Grundstein für die Evolutionsästhetik.21 Rhythmische Sensibilität scheint dabei eine Fähigkeit zu sein, die eine wichtige evolutionäre Funktion übernimmt, indem sie Kommunikation und Kooperation ermöglicht und erleichtert, die für das menschliche Miteinander unabdingbar sind. Das Evolutionsargument Darwins und seiner deutschen Vertreter stellt eine wissenschaftliche und materialistische Variante ganzheitlichen Empfindens dar, das, etwa in expressionistischen Werken, auch explizit unwissenschaftliche, gar mystische Züge annehmen kann. Unter anderem auch Hermann Broch plädiert für eine Engführung von biologischem und geistigem Leben, wenn er den Rhythmus als „einfachstes Bild der Wesenheit des Lebens“ definiert. Der ekstatische Moment dessen zeichnet sich nach Broch durch „eine Sichtbarkeit der Totalität“ aus.22 Der Rhythmus wurde als dionysische Kraft, „Vater aller Kunst“23 verstanden, die einen Gegenpol zur apollinischen Rationalität bildet. 18

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Vgl. C. v. Ehrenfels, „Über Gestaltqualitäten“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), S. 249–292. Ausgehend vom Aufsatz von Fraisse Is rhythm a Gestalt? (1975) bespricht Albert Spitznagel den Gestaltcharakter des Rhythmus. Vgl. Ders., „Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung“, in: K. Müller, G. Aschersleben (2000), S. 20–22. Vgl. Auch M. G. Ash, Gestalt psychology in Germany Culture 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1998, S. 108 f. Vgl. J. v. Allesch, Wege zur Kunstbetrachtung, Dresden 1921. C. Darwin, Descent of man, London 1871, S. 333. „No doubt the perceptive powers of man and the lower animals are so constituted that brilliant colours and certain forms, as well as harmonious and rhythmical sounds, give pleasure and are called beautiful; but why this should be so, we know no more than why certain bodily sensations are agreeable and others disagreeable. It is certainly not true that there is in the mind of man any universal standard of beauty with respect to the human body“. Ebd., S. 353. H. Broch, „Notizen zu einer systematischen Ästhetik“, in: Ders., Werkausgabe, hrsg. von P. M. Lützeler, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 9.2, S. 11–35. Broch beruft sich auf den frühen Nietzsche, als er den Rhythmus mit der „primitiven Ausdrucksmöglichkeit der ekstatisierten Persönlichkeit“ beschreibt und Dionysos als „Vater aller Kunst“ definiert. Ders., Ebd. S. 20. Auch Karl Freiherr von Lezetow behauptet apodiktisch in einer Stellungnahme zu Arno Holz: „Ein Kunstwerk ohne Rhythmus ist dagegen nicht denkbar. Form und Rhythmus sind ja im Grunde genommen dasselbe.“ K. Freiherr von Lezetow, „Der neue Rhythmus (1898/1899)“, in: E. Ruprecht, D. Bänsch (Hgg.), Literarische Manifeste der Jahrhundertwende, Stuttgart 1970, S. 41.

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RHYTHMUS ALS URZUSTAND Den Studien zum Rhythmus, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts publiziert worden sind, ist gemein, dass der Rhythmus auf die Ursprünge menschlicher Aktivitäten, insbesondere im Bereich der bildenden Kunst, zurückgeführt wird. Dies impliziert, dass dieser mit einer Rückkehr in einen Urzustand in Verbindung gebracht wird. Auch diese „regressiven“ Tendenzen sind Teil der Mythisierung des Rhythmusbegriffs, die ihm eine Strahlkraft verleiht, die auf die Gegenwart weiterwirkt.24 Die Tendenz, den Rhythmus als ursprüngliche Lebensform zu betrachten, ist auch in den Sozialwissenschaften zu finden. Beispielsweise führt der Ökonom Karl Bücher in seinem Werk Arbeit und Rhythmus die Entstehung der Literatur auf die ersten Arbeitslieder zurück: „Es ist die energische rhythmische Körperbewegung, die zur Entstehung der Poesie geführt hat. Insbesondere die Bewegung, die wir Arbeit nennen.“25 Laut Bücher sind Arbeit, Musik und Dichtung in einer primitiven Phase quasi in einer Trias verschmolzen „was sie verbindet, ist das gemeinsame Merkmal des Rhythmus, das in der älteren Musik und in der älteren Poesie als das Wesentliche erscheint.“26 Parallel dazu begab sich der Anthropologe Heinz Werner auf die Suche nach den Ursprünge[n] der Lyrik.27 In Werners evolutionsästhetischer Studie, die eine eigene Theorie des Rhythmus enthält, wird das primitive Denken beschrieben, bei dem zwischen Wirklichkeit, Traum und Leben unterschieden wird.28 Auf den Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl Bezug nehmend, beschreibt Werner das besondere Verhältnis zwischen Urvölkern und ihrer Umwelt, das durch die Sprache hergestellt wird: Eine geradezu magische Verbindung zwischen dem gesprochenen Wort und dem Referenzobjekt veranlasse sie beispielsweise dazu, die Namen Verstorbener auszusprechen, da das bloße Wort deren Seele beschwören könne.29 Laut Werners Theorie glauben sie, durch die Sprache auf die Welt Einfluss nehmen zu können, insofern, als das Bezeichnende und das Bezeichnete auf zauberhafte Weise verbunden seien:

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„Die deutschen Rhythmiker wollten zurück zu den Urkräften und Urquellen des Seins. Die deutsche Rhythmusphilosophie wurde von der irrationalen und antiintellektualistischen Lebensphilosophie geschaffen. Das All, der ganze Kosmos war schwingender Rhythmus! […] Die Deutschen ersehnten eine Vereinigung mit dem Kosmos“. H. Günther (1979), S. 37 f. K. Bücher, Arbeit und Rhythmus, 4. Aufl., Leipzig / Berlin 1909, S. 365. Ebd. S. 364. H. Werner, Die Ursprünge der Lyrik, München 1925. Vgl. auch dazu G. Simmel, „Psychologische und ethnologische Studien über Musik“, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 13/3 (1881–1882), S. 261–305. Vgl. Ebd. S. 27. Diese magische Kraft wird von Werner als „Pneumatismus“ bezeichnet, worunter er den Glauben an die Anziehungsfähigkeit verwandter seelischer Eigenschaften und an die Übertragbarkeit magischer Substanzen versteht. Werner beobachtet zudem, dass in primitiven Urvölkern oft bestimmte Gegenstände angefertigt wurden, die sich auf real existierende Objekte beziehen, um diese durch einen Ähnlichkeitsbezug magisch beeinflussen zu können. Vgl. Ebd. S. 46 f.

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So ist die strenge und bewusste Rücksichtnahme auf das Formale innerhalb der zauberischen Praxis eine unumgänglich nötige: von der formalen Art der Wiedergabe der Zeremonien, der Gesänge, der Sprüche, von der genauen Einhaltung der übernommenen und erprobten Formeln hängt der Erfolg des Zaubers ab; jede Außerachtlassung kann die bösartigsten Folgen haben. Darum entwickelt sich in der Ausbildung der Formel die besondere Intention auf das Formale: in der Bewusstheit der Anwendung dieser oder jener Gestalt, dieses oder jenes Stiles liegt die Drehung des Lyrikers vom bloßen Gehalt zum bedeutenden Ausdruck begründet, wie sie später in der rein ästhetischen Einstellung nochmals und radikal als eine immanent künstlerische sich vollzieht.30

Diese primitiven Formeln haben laut Werner Gestaltcharakter – und der Rhythmus macht dabei eine besondere Facette der Gestalt aus.31 Er verbindet nicht nur Worte mit den benannten Elementen der Welt, sondern auch den Sprechenden mit seinem inneren Zustand.32 Der Rhythmus verspricht deshalb auch die Sprachkrise, die das Denken der westlichen Welt in der Jahrhundertwende prägt, zu sanieren. Während den europäischen Intellektuellen die Worte im Mund „wie modrige Pilze“ zerfallen, wie Hugo von Hofmannsthal es sinnbildlich ausgedrückt hat, scheinen sich die Primitiven mithilfe ihrer Sprache harmonisch in ihre Umwelt zu integrieren. Werners Reflexion über die „therapeutische“ Wirkung des Rhythmus auf die Psyche erinnert an die rituelle Funktion der „Entladung der Affekte“, die laut Nietzsche in der griechischen Antike dem Rhythmus zukomme: „Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers – das war das Recept dieser Heilkunst.“33 Dabei versteht Nietzsche, der Takt und Rhythmus synonym benutzt, Rhythmus als übergreifendes ästhetisches Formalprinzip, das Musik, Tanz und Poesie innewohne. Die Macht des Rhythmus äußere sich auch in seinem „ansteckenden“ Charakter: „[D]er Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füße, auch die Seele selber geht dem Tacte nach.“34 Der Rauschzustand, der vom Rhythmus verursacht wird, fuße auf archaischen Komponenten der menschlichen Natur und könne auch in der Kunstrezeption hervorgerufen werden. Der Nietzsche-Anhänger und Theatertheoretiker Georg Fuchs schreibt in „Der Tanz“, dass der Rhythmus zwischen Publikum und Schauspielern eine Gemeinschaft stiften solle, indem er beide in einen Rauschzustand versetze. „Rhythmische Schwingungen“ des eigenen Körpers können also auf andere Menschen übertragen werden, die somit „in einen gleichen oder ähnlichen Rauschzustand versetzt“ werden. 35 30 31 32 33

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Ebd. S. 37 f. Vgl. Ebd. S. 114. Vgl. Ebd. S. 120. F. Nietzsche, „Vom Ursprung der Poesie“, in: G. Colli, M. Montinari (Hgg.), Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, Bd. 2, München 1988, S. 441. Zu Nietzsche und dem Rhythmus vgl. F. F. Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, Berlin New York 2008. Vgl. auch dazu den Beitrag von Gabriella Pelloni in diesem Band. F. Nietzsche (1988), S. 440. Auch Walter Benjamins Begriff der „Rhythmik“ dürfte auf Nietzsche zurückzuführen sein, vgl. A. Trautsch, „Die abgelauschte Stadt und der Rhythmus des Glücks. Über das Musikalische in Benjamins Denken“ in T. R. Klein (Hrsg.), Klang und Musik bei Walter Benjamin, München 2013, S. 20. G. Fuchs, Der Tanz. Flugblätter für künstlerische Kultur, Stuttgart 1906, S. 13.

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RHYTHMUS ALS PHARMAKON Der Terminus „Rhythmus“ wurde um 1900 also subversiv gegen die Entwicklungen der Technik und der Zivilisation verwendet. Somit wird Rhythmus zu einem Pharmakon, das sich durch ein innewohnendes Paradoxon auszeichnet, wie Christine Lubkoll zurecht bemerkt: „Die Paradoxie bzw. Aporie der Rhythmusdebatten um 1900 besteht gerade darin, dass ein natürlicher, organischer ‚Ur-Rhythmus‘ postuliert wird, der einerseits durch die Mechanismen der Kultur verstellt, andererseits aber nur über diese zugänglich ist.“ 36 Die von Lubkoll herauskristallisierte Aporie im Rhythmusdiskurs korrespondiert mit der in diesem Band vorgeschlagenen Interpretation der mythischen Natur des Rhythmus als kulturell stark konnotiertes Konstrukt. Die bereits beschriebenen Rückprojektionen stehen symptomatisch für eine entfremdete Gesellschaft, der ihre Verbindung zum „natürlichen Rhythmus“ durch die Modernisierung und Technologisierung abhanden gekommen ist. Der technische Fortschritt hat zwar eine Vormachtstellung gegenüber den Naturvölkern ermöglicht, führte aber gleichzeitig auch zu einem Verlust einer als „paradiesisch“ empfundenen Lebensform. In den damaligen Untersuchungen, etwa eines Karl Bücher, hört man deutliche Anklänge des spätaufklärerischen Mythos des bon sauvage heraus. Der Primitivismus der zeitgenössischen Kunst ist die künstlerische Entsprechung dieser Tendenz. Wieder kann man sich auf Bücher berufen, der die Arbeitskonzepte der Natur- und Kulturvölker gegenüberstellt. Dabei unterminiert er das Vorurteil, wonach die „Wilden“ keine Motivation zur Arbeit hätten, auch wenn sich ihr Arbeitsbegriff in der Tat grundlegend von unserem unterscheidet. Das folgende Zitat ist exemplarisch für die Idealisierung der Lebensverhältnisse der Urvölker: Zunächst wirkt künstlerisches Bilden und Gestalten an und für sich anregend und spornt beim Fortschreiten des Werkes immer wieder vom Neuen zur Tätigkeit an. Aber auch mit der Vollendung des Geschaffenen erkaltet nicht die Freude an ihm. […] Da in der Regel jeder sein Arbeitsprodukt auch selbst zu gebrauchen beabsichtigt, so teilt sich die Freude und die Ehre des Besitzes schon der Seele des Arbeitenden mit und ermuntert ihn um so mehr zur Ausdauer, je näher das werdende Erzeugnis der Vollendung kommt. Das Gewordene selbst wieder trägt nach Ursprung und Bestimmung ein ausgesprochen individuelles Gepräge; als Verkörperung der individuellen Arbeit und als Ausrüstung für das Leben wird es recht eigentlich zu einem Stück der Person, die es schuf. […] In dieser fortdauernden Gemeinschaft des Produzenten und des Produktes liegt gewiss ein kulturförderndes, die Arbeitsmühe erleichterndes Moment. Was heute nur der bildende Künstler, der Dichter, an ihren Werken erfahren, dass sie Ruhm bringen, das war gewiss ursprünglich jedem gelungenen Erzeugnis der Menschenhand eigen. Und die Freude des Schaffens, die der Kulturmensch fast nur noch bei der Geistesarbeit recht empfindet, muß den Naturmenschen überall beseelt haben.37

Diese Beschreibung wird nur vor dem Hintergrund der Entfremdung von der Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaft verständlich. Dem Mythos nach ist der Arbeiter im Naturzustand glücklich und kreativ, geradezu ein Künstler. Außerdem leidet er nicht an der für das Abendland charakteristischen Dichotomie von Subjekt und 36 37

Ch. Lubkoll (2005), S. 84–85. K. Bücher (1909), S. 15–16.

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Objekt bzw. Produzent und Produkt. Seine Arbeit bedarf keiner Geistes- und Willensanstrengung, weil sie sich, einem Tanz gleich, automatisch vollzieht. Der Tanz wirkt deshalb wie ein Heilmittel gegen die Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft. Er wird als menschliche Ursprache aufgefasst: „Der echte Naturtanz ist überhaupt kein Tanz, sondern rhythmisches Geschehen“.38 Der Rhythmus, der die Wahrnehmungsfähigkeit und die motorische Dimension des Menschen synchronisiert, drückt sich am besten in performance aus.39 Parallel zur Erneuerung der Tanzästhetik wurden um die Jahrhundertwende Lehren und Methoden zur Förderung einer harmonischen Körperkultur erarbeitet. Dabei begab man sich in die Nähe der damals stark verbreiteten Lebensreformbewegungen, wie es im Beitrag von Olivier Hanse in dem vorliegenden Band gezeigt wird. Nach der Auffassung Émile Jaques-Dalcrozes, der sich 1907 in seiner Gymnastiklehre mit dem Rhythmusbegriff als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst auseinandersetzt, steht der „Arrhythmie“, die typisch für eine technisierte Gesellschaft ist, eine natürliche „Eurythmie“ gegenüber.40 Gemäß dieser Konzeption ist Rhythmus nicht nur ein Ur-Mythos, sondern ein Pharmakon, das gegen unterschiedliche Krankheiten des Zeitalters wirkt: „Rhythmische Erziehung wird zum Therapeutikum gegen die Verfallserscheinungen eines arrythmischen Zeitalters.“41 Deshalb wird am Anfang des 20. Jahrhunderts rhythmische Erziehung auch zum Schlagwort der Pädagogik. In Schriften wie Der Rhythmus: Untersuchungen über sein Wesen und Wirken in Kunst und Natur und seine Bedeutung für die Schule von Bernhard Koch wird das neue erzieherische Credo verbreitet.42 38 39

40 41 42

R. v. Laban, Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart 1920, S. 29. Für das Theater, das von diesem Diskurs beeinflusst wird, wird eine neue Theaterdramaturgie gefordert, in der Subjekt und Objekt, d. h. Publikum und Schauspiel, miteinander verschmelzen. Der Schritt von solchen Konzepten zu einer performativen Theaterdimension ist klein. Vgl. E. Fischer-Lichte „Rhythmus als Organisationsprinzip von Aufführungen“, in: C. Brüstle, N. Ghattas, C. Risi, S. Schouten (2005), S. 235–247. In ihrem Aufsatz baut Fischer-Lichte das Konzept des Rhythmus reibungslos in den Werkzeugkasten der Performanztheorie ein. Während im „traditionellen Theater“ der Rhythmus den dramaturgischen Prinzipien des Handlungsverlaufs oder der psychologischen Entwicklung der Figuren untergeordnet ist, wird er im Theater und in der Performance-Kunst häufig das übergeordnete oder gar das ausschließliche Prinzip zur Organisation und Strukturierung von Zeit. Dabei kommen dem Rhythmus drei Funktionen zu 1.) er dehierarchisiert die verwendeten theatralen Mittel, 2.) er erscheint ein Prinzip der Selbstorganisation im Hinblick auf die Inszenierung und 3.) er fördert das Gemeinschaftsgefühl von Schauspielern und Publikum. Im postdramatischen Theater wird duch einen spezifischen Gebrauch des Rhythmus die Theaterdramaturgie demontiert, um eine Energie freizusetzen, die es dem Publikum erlaubt „Gemeinschaft als geteilte Erfahrung in ihrer Dynamik leiblich zu spüren und zu erleben“, ebd. S. 246. An die Stelle hierarchischer Ordnung tritt eine vorübergehende, zusammenhanglose Gemeinschaftserfahrung, die selbstreferentiell ist und leibich erlebt wird. Durch diese Selbstreferenz des Rhythmus wird „dem Zuschauer die eigene Wahrnehmung zum Ereignis“, ebd. S. 247. Vgl. G. Brandstätter, „Rhythmus als Lebensanschauung. Zum Bewegungsdiskurs um 1900“, in: ebd. S. 34. Ebd. S. 38 f. Vgl. B. Koch, Der Rhythmus: Untersuchungen über sein Wesen und Wirken in Kunst und Natur und seine Bedeutung für die Schule, Langensalza 1922. Eine ähnliche Optimierung des Rhythmus wird auch in aktuelleren Studien, etwa in G. Bünner, P. Röthig (1979), angestrebt.

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Koch, der sich auf Studien von Bücher, Dalcroze und Bode beruft, integriert den Rhythmus in seine Reform der Gesamterziehung, im Glauben, dass „unsere heutige Schule noch allzusehr unter dem Einfluss eines zu weit gehenden Intellektualismus steht.“43 Hier kommen die irrationalen Tendenzen, die weitgehend auch zeitgenössische kulturelle Strömungen wie den Expressionismus charakterisieren, zum Ausdruck. Diese Tendenzen gipfeln im Vorschlag eines rhythmischen Religionsunterrichts, der Herz und Gemüt ansprechen soll und nicht nur den Verstand, wie es meistens der Fall ist. Dabei soll das „rhythmisch-poetische Gewand der Religionssprache“44 eine tiefere Beachtung finden. Die rhythmische, performative Kunst wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch – weniger elitär und metaphysisch – mit dem Ausbruch eines regelrechten Tanzfiebers populär: Es entstehen Hunderte von Tanztypen, welche afroamerikanische und europäische Musiktraditionen vereinen.45 Alte Tänze, wie Walzer und Polka mit ihrer klaren und rigiden Gestaltung, sind für die Jugend der 20er Jahre überholt. Neue Tanzrhythmen hingegen, wie etwa der afroamerikanische Ragtime, werden zum Trend. Dieser neue Bewegungsdrang wird 1925 von Siegfried Kracauer als „Darstellung des Rhythmus schlechthin“ bezeichnet: Der moderne Gesellschaftstanz, dem Gefüge der in den Zwischenschichten geltenden Bindungen entfremdet, neigt zur Darstellung des Rhythmus schlechthin; statt daß er bestimmte Gehalte in der Zeit zum Ausdruck brächte, ist diese selber sein eigentlicher Gehalt. War in Epochen des Beginns der Tanz eine Handlung des Kultus, so ist er heute ein Kult der Bewegung, war früher der Rhythmus eine erotisch-seelische Bekundung, so möchte heute der sich selbst genügende Rhythmus die Bedeutung aus sich erst entlassen.[…] Gewiß, der Tanz überhaupt als zeitliches Ereignis kann das Rhythmische nicht entbehren; doch es ist ein anderes, ob es durch den Rhythmus das Eigentliche erfährt oder in den Rhythmus an sich das uneigentliche Ende findet.46

Kracauer bewertet diese „Tanzwut“ als negativ, weil ihr das mystische und erotische Prinzip abhanden gekommen, sie eine sich selbst genügende Bewegung geworden sei.47 Für einen Einklang zwischen Körper und Arbeit plädiert auch die psychotechnische Forschung, die man heute als angewandte Psychologie bezeichnen würde. Im Vergleich zu den erwähnten Rückprojektionen, die technikfeindliche Positionen vertreten, stellt sich die Psychotechnik in den Dienst der industriellen Produktion. Einer ihrer Hauptvertreter, Hugo Münsterberg, macht, wie auch Tanzpädagogen der damaligen Zeit, die Maschine für die Zerstörung des natürlichen, ursprünglichen Rhythmus verantwortlich: Bewegungen seien so schnell geworden, „dass die sub43 44 45 46 47

Vgl. B. Koch (1922), S. 57 f. Ebd. Vgl. A. Hartmann, „Rhythm is it! Rhythmus in Tanz und Bewegung nach 1900“, in: M. Woitas, A. Hartmann (Hgg.), Strawinskys „Motor Drive“, München 2010, S. 139–157 und den Beitrag von Michele Vangi in diesem Band. S. Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt a. M. 1963, S. 41. Heinz Pollack hingegen preist diese Entwicklung als Wiederentdeckung des „Urrhythmus“, der den modernen Gesellschaftstanz mit Tänzen der Antike verbinde. Vgl. H. Pollack, Die Revolution des Gesellschaftstanzes, Dresden 1922, S. 13.

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jektive rhythmische [Bewegung] verloren ging“.48 Münsterbergs Rezept geht aber in eine der Lebensreform konträre Richtung: Er setzt es sich zum Ziel, die Bewegungen des Menschen an die rhythmischen Erfordernisse seines Arbeitsplatzes anzupassen und dadurch zu optimieren: Die rhythmische Tätigkeit bedeutet notwendigerweise psychophysische Ersparnis, und diese Ersparnis ist instinktiv in der ganzen Kulturgeschichte angestrebt. Die Wiederholung der Bewegung, wie der Rhythmus sie erlaubt, macht keine wirkliche Wiederholung des psychophysischen Impulses notwendig. Die Hemmungen fallen weg, und die bloße Nachwirkung erlaubt eine Ersparnis bei dem erneuten Impuls. Die Geschichte der Maschine zeigt sogar, dass die neueren technischen Entwicklungen nicht nur die Arbeitsteilung schon zur Voraussetzung hatten, sondern für die zerlegte Arbeit bereits eine weitgehende, dem psychophysischen Organismus angepasste Rhythmisierung der Arbeit in den Werkstätten vorfanden. Die Maschine hat dann zunächst häufig nur die rhythmischen Bewegungen des Menschen nachgeahmt.49

Zunächst ist an diesem Passus die Annahme auffallend, dass die Rhythmik der technischen Apparate aus der Rhythmik der menschlichen Bewegung hervorgegangen sei. Dies erscheint umso widersprüchlicher, da laut Münsterbergs eigener Deutung die Beschleunigung des Maschinentempos die menschliche Rhythmik verdrängt, d. h. zur Arrhythmie geführt habe. Darüber hinaus könne der Rhythmus zur Produktionssteigerung eingesetzt und somit der kapitalistischen Wirtschaft dienlich werden. Hier geht es also nicht um eine Distanzierung von der modernen Gesellschaft, sondern um eine affirmative Haltung, die eine rhythmische Harmonisierung von Subjekt, Tätigkeit und Produktion anstrebt. Der Rhythmus erlaube es, im sozialen Raum dem Individualismus und dem Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzuarbeiten, da er seit jeher die Synchronisierung der menschlichen Aktivitäten fördere.50 Die Optimierung der kapitalistischen Produktion mithilfe des Rhythmus finde nach dem Ersten Weltkrieg im Fordismus ihren Höhepunkt. Parallel dazu wird der „Mythos Rhythmus“ blasser und verliert an Brisanz und Präsenz im kulturellen Diskurs. 51

48 49 50 51

H. v. Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie, Leipzig 1913, S. 97. Ebd. Vgl. H. Werner (1925), S. 125, der sich hier auf Karl Bücher bezieht. Ganzheitliches Empfinden, sprich das Gefühl von Harmonie, das im modernen Großstadtleben abhanden kommt, kann jedoch durch mediale Repräsentationen wiedergewonnen werden. So macht der Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) von Walter Ruttmann nicht nur die Stadt zur Protagonistin eines Dokumentarfilms, sondern versucht zugleich deren Rhythmus und Geschwindigkeit über das Medium Film zu vermitteln. Es handelt sich dabei um eine Dokumentation über die Metropole an sich – gleichzeitig wird aber auch die Transformation der Alltagswahrnehmung des modernen Menschen mithilfe des Mediums Film dokumentiert. In der experimentellen Filmkunst wird der Takt in der Musik als rhythmische Bewegung umgesetzt.

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DIE BEITRÄGE IN DIESEM BAND Der Mythos um das Phänomen „Rhythmus“ entwickelte sich über Disziplingrenzen hinaus weiter: Rhythmus wurde nicht nur als literatur- oder musikwissenschaftliches Konzept verstanden, sondern als interdisziplinärer Forschungsgegenstand, der aus diversen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen untersucht wurde. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, bringt der vorliegende Sammelband Beiträge zur Rhythmusforschung aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen. Der Band besteht aus zwei Abschnitten, die aufeinander Bezug nehmen: „Der Mythos Rhythmus in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ und „Der Mythos Rhythmus in der Literatur“. Im Beitrag von Olivier Hanse wird die therapeutische Wirkung des Rhythmus mit der geisteswissenschaftlich geprägten „Gebildetenrevolte“ der wilhelminischen Ära in Verbindung gebracht. Als Antwort auf als befremdlich wahrgenommene Tendenzen, wie die zunehmende Spezialisierung (in einer kapitalistischen technologisierten Gesellschaft) und den Individualismus (als Prinzip in dieser neuen Gesellschaft), seien Gesamtkonzepte erarbeitet worden, die sowohl für eine grundsätzliche Einheit von Wissenschaft und Kunst als auch für einen neuen Einklang von Körper und Geist plädierten. Wie die umfassenden Rhythmustheorien von Carl Ludwig Schleich und Rudolf Steiner versteht Hanse auch die reformpädagogischen Ansätze von Émile Jaques-Dalcroze, Rudolf Bode und Rudolf Laban als – für das beginnende 20. Jahrhundert typische – „palingenetische“ Projekte, die sich für einen „neuen Menschen“ stark gemacht hätten. Rhythmus fungierte nicht nur als Brücke zwischen Ästhetik und Wissenschaft – auch innerhalb einzelner Disziplinen sei er um die Jahrhundertwende zu einem Leitbegriff avanciert, wie Andrea Pinotti in seinem Aufsatz am Beispiel der Studien des Leipziger Kunsttheoretikers August Schmarsow behauptet. In seinen auf dem Aufbau des menschlichen Körpers beruhenden Architektur- und Ornamentiktheorien habe Schmarsow nämlich den Rhythmus – neben Symmetrie und Proportionalität – zu den Grundprinzipien künstlerischen Schaffens und der Kunstwahrnehmung gezählt. Er sei davon ausgegangen, dass Rhythmus in dieser Trias nicht nur eine von drei Komponenten darstellt, sondern Symmetrie und Proportionalität in sich aufnimmt, indem er den statischen Aspekten, die ihnen innewohnen, Dynamik verleiht. Schmarsows Interesse für die Urvölker entsprach ganz dem damaligen Zeitgeist. Dieser Aspekt steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Francesco Ronzon zu Rhythmus, Tanz und Kultur: Bei der Konstruktion des Mythos des „Primitiven“ sei „Rhythmus“ in seiner Verbindung von Tanz und Körper an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine zentrale Trope gewesen. In den von Ronzon analysierten Fällen werde der primitive Rhythmus unterschiedlich konnotiert: Als Ausdruck der Natürlichkeit des Körpers sei er für Isadora Duncan das Element gewesen, das archaische Triebe und den apollinischen Hang zu Symmetrie und Ordnung harmonisiert; in den Züricher Kreisen des Dada sowie bei den Choregoraphien Vaslav Nijinskys hätten die „magischen“ Rhythmen, welche die rituellen Tänze außereuropä-

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ischer Kulturen charakterisierten, das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum revolutioniert. Das beginnende 20. Jahrhundert wurde bereits damals als Zeit der Beschleunigung und einer zunehmenden Mobilität wahrgenommen. Diese neue Dynamik bewirkte ein wachsendes Interesse an Bewegungsabläufen im Allgemeinen. Man versuchte, sie genauer zu verstehen, aufzuzeichnen und zu analysieren. Dies wurde mithilfe fotografischer Apparate möglich, wie Anja Meyer in ihrem Beitrag zeigt: Durch immer raffiniertere Technik sei es dem Physiologen Étienne-Jules Marey gelungen, Bewegungsabläufe fotografisch zu zerlegen und so zu dokumentieren. Ziel des sogenannten „Fotodinamismo“, den der Futurist Anton Giulio Bragaglia entwickelte, sei wiederum das Einfangen und die Reproduktion des Gesamteindrucks einer Bewegung gewesen. Sowohl Marey als auch Bragaglia haben in ihren Studien Bezug auf den Begriff des „Rhythmus“ genommen, der somit eine „Übersetzung“ ins Visuelle erfuhr. Technische Instrumente und umfangreiche Experimente wurden nicht nur angewendet, um Bewegungsabläufe fotografisch zu reproduzieren. Beeinflusst durch eine positivistisch motivierte Affinität für Messdaten setzte sich die Experimentalpsychologie im deutschsprachigen Raum auch mit der psychischen Wahrnehmung von Bewegungen auseinander. Wie Riccardo Luccio in seinem Aufsatz zeigt, sei die damalige Bewegungsforschung über den Rhythmusbegriff eng mit der Untersuchung der Zeitwahrnehmung (Mach, Münsterberg, Meumann) einerseits und mit psychotechnischen Studien (Keiver Smith, Awramoff) andererseits verbunden gewesen. Auf theoretischer Ebene habe sich der Rhythmus-Begriff in der psychologischen Forschung als besonders fruchtbar erwiesen: Kurt Koffka stellte mithilfe seiner Experimente fest, dass die menschliche Rhythmuswahrnehmung über die Gruppierung von einzelnen Reizen zu einem Ganzen funktioniert. Dieses vereinheitlichende Moment wurde als „Gebilde“ bezeichnet – in der Gestaltpsychologie ein Vorläufer des Begriffs „Gestalt“. Friedrich Nietzsche fungiert in vielen Beiträgen dieses Sammelbandes als Schlüsselfigur: Er erhob den Rhythmus zum wirkungsvollsten Mittel in der Kunst. Gabriella Pelloni geht dieser Annahme auf den Grund, indem sie eine Entwicklung nachzeichnet: Der Rhythmus, der in Nietzsches philologischen Vorlesungen als lebendiger Kern der dichterischen Sprache der Antike galt, sei im Zarathustra zum Angelpunkt eines neuen Verständnisses von Sprache avanciert. Viel mehr als ein bloßes rhetorisches Mittel sei – so Pelloni – Rhythmus für Nietzsche ein Phänomen, das in einer gesamtsemiotischen Perspektive verstanden werden müsse. Somit scheine er Literatur- und Sprachtheorien des späten 20. Jahrhunderts (Benveniste, Meschonnic) zu antizipieren, die den Begriff „Rhythmus“ aus der metrischen Tradition lösten und ihn als Ausdruck der Situativität und Performativität betrachteten, die der Sprache innewohnen würden. Rhythmus bedeutete jedoch nicht immer nur Taktrhythmus. In seinem Essay, der den literaturwissenschaftlichen Teil des Sammelbandes einleitet, vertritt Eske Bockelmann die These, dass der Taktrhythmus auf unserer Wahrnehmung beruhe. So nähmen wir akustische Reize unwillkürlich als Sequenzen von Betontem und Unbetontem wahr. Diese binäre Empfindung sei dem Menschen jedoch nicht ange-

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boren, sondern erst etwa um 1600 im westlichen Europa entstanden und habe die europäische Dichtung seit der Frühen Neuzeit – vor allen in den germanischen Sprachen – entscheidend beeinflusst. Aus unserer Perspektive besonders interessant ist Bockelmanns These, dass die Tendenz literaturwissenschaftlicher Studien zur Metrik, jegliche Versform zu einem Taktrhythmus zu assimilieren, um 1900 einen dogmatischen Höhepunkt im deutschsprachigen Raum erreicht habe. Diese Eindimensionalität wurde jedoch um die Jahrhundertwende von elitären ästhetischen Theorien konterkariert. Gerade solche Widersprüche zeugen von der Produktivität des „Mythos Rhythmus“. Für Stefan George war Rhythmus das musikalische Intensitätszentrum eines Gedichtes. Maurizio Pirro zeigt in seinem Aufsatz, in welchem Verhältnis diese Rhythmusauffassung zu Georges lyrischem Schaffen steht. Am Beispiel von Georges Gedicht Weihe zeigt Pirro eine widerspenstige Rhythmik auf, welche die Interpretation des Textes erschwert. Zu der damit verbundenen antinaturalistischen und zugleich antiromantischen Auffassung von Kunst gehörte auch das öffentliche Vortragen des Gedichts: Dabei wurde durch die Erzeugung eines unpersönlichen und geradezu unnatürlichen Leserhythmus jedwede Empathie seitens des Publikums vermieden. Die Vielschichtigkeit des Rhythmusdiskurses im George-Kreis offenbart der Beitrag von Marco Castellari. Im Zentrum steht hier die auch von diesem Kreis rezipierte Monografie Das Erlebnis und die Dichtung (1906) Wilhelm Diltheys. Zunächst wird das intertextuelle Netzwerk rekonstruiert, das dem von Dilthey lancierten „Hölderlin-Rhythmus“ zugrunde liegt; dieser Begriff sei durch die Romantik beeinflusst worden. In einem zweiten Teil seines Aufsatzes zeigt Castellari, wie Diltheys vitalistische Hölderlin-Lektüre im George-Kreis zwar starke Resonanz erzeugte, im Hinblick auf den Rhythmusbegriff aber neu durchdekliniert worden sei: Die im George-Kreis entstandene Hölderlin-Ausgabe Norbert von Hellingraths habe den Akzent auf Hölderlins Spätwerk gesetzt, das Dilthey vernachlässigt hätte. Dabei sei laut Hellingrath die formale Kategorie der „harten Fügung“ besonders relevant gewesen, bei der das einzelne Wort als taktische Einheit wirkt: Auch dadurch sei der moderne und antiromantische Rhythmus beim Vorlesen generiert worden, den Maurizio Pirro in dem erwähnten Beitrag zu diesem Band beschreibt. Wenn es um die performance, also den Aspekt der szenischen Umsetzung neuer Rhythmen geht, kommt man um den italienischen Futurismus nicht herum. Filippo Tommaso Marinetti legte 1916 in einem seiner Manifeste die Prinzipien der futuristischen Deklamation dar, welche die Vortrags- und die Vorlesekunst radikal erneuern sollten: Der futuristische Vorleser sollte – ohne auf Verständlichkeit zu achten – „im Ganzen und für das Ganze die Motoren und ihre Rhythmen imitieren“. Giovanna Cordibella bezeichnet das Rhythmuskonzept der Futuristen in ihrem Beitrag als „transmedial“: Ausgehend von einer Analyse der Modernisierungsprozesse einer technisierten Gesellschaft habe der Futurismus die neu identifizierten modernen Rhythmen umfunktionalisieren wollen; in der Literatur sowie in der bildenden Kunst und im Hörspiel seien zahlreiche innovative Praktiken ausprobiert und oft durch Unterstützung neuer medialer Dispositive „live“ umgesetzt worden. Die vielseitigen Beiträge des italienischen Futurismus zum Rhythmusdiskurs werden auch am Beispiel der deutschen Avantgarde deutlich, worauf Andrea Be-

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nedetti in seinem Beitrag eingeht. Im Zentrum seiner Argumentation steht die lyrische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im expressionistischen Umfeld der Zeitschrift Der Sturm. Der Maschinenkult und Marinettis Neuerungen – sowohl auf literaturtheoretischer als auch auf formaler Ebene – fänden in der Kriegslyrik August Stramms und Franz Richard Behrens’ ihren Nachhall. Der Kriegsrhythmus sei von den Expressionisten lyrisch originell umgesetzt worden: Stramm habe beispielsweise die Syntax zergliedert, um sie dann in neuen Abfolgen wieder zusammenzusetzen, die eine eigenartige Rhythmik aufweisen („Und / Sammeln schreitet / Lächeln Schreiten Schwinden / Und / Schreiten schwindet / Schwinden Lächeln Schreiten“). Behrens habe das formale Konzept Stramms wieder aufgenommen und es im Sinne eines noch abstrakteren literarischen Konstruktivismus weiterentwickelt. Auch Robert Musil beteiligte sich aktiv am Rhythmusdiskurs seiner Zeit und untersuchte in seinen theoretischen Schriften die psychische Wahrnehmung von Kunst. Mit Musils Präzisierung des Rhythmusbegriffs setzt sich der Beitrag von Massimo Salgaro auseinander. Musil zufolge weise die Kunst einen Gestaltcharakter auf, bei dem auch Aspekte wie Rhythmus eine Rolle spielen. Rhythmus übernehme bei der Kunstrezeption vor allem die Funktion der Vereinheitlichung sinnlicher, formaler und inhaltlicher Aspekte. Der Einfluss der Gestalttheorie auf Musils Verständnis von Rhythmus sei, so Salgaro, unübersehbar. Musil habe die GestaltPsychologie mit der evolutionsästhetischen Reflexion Heinz Werners zusammengebracht, der den rituellen und emotionalen Wert rhythmischer Formeln in der Literatur untersucht hatte. Die Mischung gegensätzlicher Rhythmen stellt Michele Vangi in den literarischen Darstellungen des Jazz in deutschsprachigen Romanen der 1920er und 1930er Jahren anhand von Beispielen fest. In Herman Hesses Steppenwolf, in Klaus Manns Mephisto sowie in weiteren weniger bekannten Texten sei die hybride Andersartigkeit des Jazz teils auf dessen afrikanischen Wurzeln, teils auf seinen USamerikanischen Ursprung zurückgeführt worden. Diese unterschiedlich artikulierten Formen von „Sehnsucht“ sind für Vangi symptomatisch für den verklärenden Charakter eines genuin europäischen „Mythos Rhythmus“. Der durch den Jazz induzierte „Umbruch“ werde in diesen Romanen nicht nur zum Gegenstand der Erzählung, sondern sei durch den abrupt wechselnden Erzählrhythmus auch auf stilistischer Ebene nachgeahmt worden. Die hier versammelten Studien zeugen von der Allgegenwart des „Mythos Rhythmus“ in der deutschen Kultur der Jahrhundertwende. Dabei ist uns bewusst, dass wir, indem wir den Mythos als Schlüsselbegriff zum Verständnis des Phänomens „Rhythmus“ vorgeschlagen, an eine kulturkritische Debatte des späten 20. Jahrhunderts angeknüpft haben, die vielschichtiger und weitreichender als die Konsonanz ist, die wir zu Beginn zwischen dem Rhythmus um 1900 und Claudio Magrisʼ habsburgischem Mythos geschildert haben. In jener Debatte, die u. a. durch die Wiederentdeckung von Hegels Ältestem Systemprogramm des deutschen Idealismus im 1977 angeregt wurde, avancierte der Bedarf an einer „neuen Mythologie“, die bereits in der Frühromantik und im Idealismus theorisiert wurde, zum zentralen An-

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liegen eines postideologischen und -religiösen Zeitalters.52 Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wurden sehr unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Auffassungen des Mythos vorgeschlagen: Teils wurde dieser als ontologisches und zeitimmanentes Fundament verstanden, das sich den Menschen durch zyklisches Auftreten manifestiert; teils wurde – in Anlehnung an Hegels Systemprogramm – die kommunikative Funktion von Mythen hervorgehoben, denn es kam darauf an, „den institutionellen Rahmen zu verstehen, innerhalb dessen Mythen eine gesellschaftliche Funktion erwerben.“53 Zum kulturellen Konstrukt des Rhythmus um 1900 eignen sich unseres Erachtens sowohl die erste als auch die zweite kurz skizzierte theoretische Bezugnahme auf den Mythosbegriff. „Rhythmus“ wird dabei einerseits als „Urerscheinung des Lebens“ (Klages) bzw. überindividueller Ur-Mythos verstanden: als ein „Monomythos“ – um an eine berühmte Wortschöpfung Odo Marquards wiederanzuknüpfen –, in dem ein residuales Verhältnis zur religiösen Essenz des Menschen deutlich zu erkennen ist.54 Der „Mythos Rhythmus“ erweist sich somit als ein trostspendendes kulturelles Konstrukt, da er, wie der kosmische Rhythmus, verspricht, einen Ausgang aus der Linearität der Geschichte zu ermöglichen. Andererseits konnten wir sehen, dass der Rhythmus für ästhetische bzw. erzieherische Programme in der Zeit um 1900 funktionalisiert wurde: In dieser therapeutischen Funktion des Rhythmus zeigt sich „das menschliche Gesicht“ des Mythos, das beispielsweise Manfred Frank anhand der Aktualität der romantischen und postromantischen Mythologie konturiert hat. In diesen Rhythmuskonzepten bzw. -rezepten erlangt der „Mythos Rhythmus“ eine sozio-politische Relevanz, die ihn allerdings gegen Instrumentalisierungen – wie die des Nazi-Faschismus – nicht immunisieren. Wir hoffen, mit unserer interdisziplinären Fokussierung auf den Rhythmus einen kleinen Beitrag zur Reaktivierung des „Mythos-Rhythmus-Diskurses“ geleistet zu haben, ein Diskurs, der – etwa ein Jahrhundert nach der untersuchten Rythmuseuphorie – noch ein erhebliches Forschungspotential aufweist.55

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Für eine Rekonstruktion der Mythos-Debatte vgl. M. Cometa, „Mitocritica“, in. Ders. (Hrsg.), Dizionario degli studi culturali, Roma 2004, S. 290–302. M. Frank. Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982, S. 77. Vgl. O. Marquard, „Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie“, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 91–116. Die Publikation geht zum Teil auf eine Tagung zum Thema „Rhythmen der Moderne“ zurück, die Teil des DFG-geförderten Programms „Villa-Vigoni-Gespräche in den Sozial-und in Geisteswissenschaften“ war. Die Nachwuchstagung fand vom 19. bis zum 21. Oktober 2011 in der Villa Vigoni in Loveno di Menaggio am Comer See statt. Projektantragsteller bzw. -koordinatoren waren Michael Neumann (Universität Konstanz), Massimo Salgaro (Universität Verona) und Michele Vangi (Villa Vigoni / Universität Mailand).

I: DER MYTHOS RHYTHMUS IN DEN GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN

DER RHYTHMUS ALS GRUNDLAGE EINER ERNEUERUNG DER WISSENSCHAFTEN UND ALS INSTRUMENT EINER SOZIALEN THERAPIE Olivier Hanse „Das vorige Jahrhundert, in seinem Idealismus, sah die Welt in seiner Vogelperspektive an; dieses, in seinem Spezialismus, sieht sie aus der Froschperspektive an; hoffentlich wird das nächste, in seinem Individualismus, sie aus der für den Menschen einzig berechtigten, nämlich aus der menschlichen Perspektive ansehen.“1

Die Kritik der modernen Naturwissenschaften durch den völkischen Kulturkritiker August Julius Langbehn (1851–1907) kann – wie viele seiner Stellungnahmen aus dem Bestsellerwerk Rembrandt als Erzieher – als repräsentativ für die intellektuellen Milieus der sogenannten „fortschrittlichen Reaktion“2 gelten, die in der wachsenden Bedeutung von Mathematik, Physik, Chemie und Technik eine Bedrohung für das Bildungssystem erblickten, aus dem sie hervorgegangen waren, und die dadurch langfristig auch ihr eigenes Sozialprestige und ihre Position in der Gesellschaft gefährdet sahen. Die von Ulrich Linse (*1939) und Klaus Vondung (*1941) treffend beschriebene „Gebildetenrevolte“3 bringt durch ihre vielfältigen Erscheinungen etwa innerhalb der Lebensreformbewegung4 oder auch der Lebensphilosophie5 solche Abstiegsängste zum Ausdruck: Der weit verbreitete katastrophistische (und zugleich pseudomedizinische) Diskurs über die Dekadenz, die Nervosität,6 die Neurasthenie und die Entartung des modernen Menschen, die Mechanisierung und Atomisierung der Individuen kann weitgehend als „Somatisierung eines Klassenunbehagens“7 interpretiert werden. Die Angstvorstellung von einer Implosion der wilhelminischen Gesellschaft kommt in der Beschreibung der einzelnen Körper zum Ausdruck, die in Gymnastiklehrbüchern oft als Projektionsflächen für 1 2 3 4 5 6 7

A. J. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1900, S. 69 f. Vgl. R. Hamann, J. Hermand, Stilkunst um 1900, Frankfurt a. M. 1977, S. 24–176. Vgl. K. Vondung (Hrsg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 20–33 und S. 119–123. Vgl. D. Kerbs, J. Reulecke (Hgg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. Vgl. K. Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg i. Br. 1995. Vgl. J. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. Vgl. M. Cluet, La ‚libre cultureʼ. Le mouvement nudiste en Allemagne depuis ses origines au seuil du XXe siècle jusqu’à l’arrivée de Hitler au pouvoir (Bd. 1), Lille 2000, S. 167 f.

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kollektive Wünsche und Ängste fungieren.8 Auf diese Weise wird außerdem das Ziel verfolgt, Entwicklungen der Zeit zu verurteilen, welche die Herrschaft der Industriellen und der Bankiers mit sich brachte, und sich selbst im Rahmen der verschiedensten gemeinschaftlichen Projekte als ‚Arzt des sozialen Körpers‘ und somit als den potentiellen Leader einer erneuerten Gemeinschaft zu profilieren. In diesem Kontext werden oftmals die Begriffe Leben,9 Lebendigkeit und Gesundheit dem dominierenden Materialismus und all dem entgegengesetzt, was die Werte der Bildungsbürger zu gefährden schien: etwa eine moderne Kunst, die dem Bürgertum seinen Anteil an der Festlegung ästhetischer Normen abspricht,10 eine Schule und eine Wissenschaft, die zunehmend den ganzen Menschen aus den Augen verlieren und überwiegend nur noch vom Utilitarismus der Zeit bestimmt sind. Obwohl sich Langbehn nur am Rande mit dem Thema Rhythmus auseinandersetzte,11 muss festgehalten werden, dass das Vorhaben verschiedener Autoren der Jahrhundertwende, um den Begriff Rhythmus herum eine Einheit der Wissensbereiche wiederherzustellen, auf derselben Kritik von „Mikroskopismus“ und „Spezialismus“12 in der modernen Wissenschaft beruht, wie sie auch in Langbehns Hauptwerk zum Ausdruck kommt. Mit diesen Kampfbegriffen wurde eine Entwicklung scharf kritisiert, die in den Augen vieler Gebildeter den Triumph ihrer Kontrahenten (Industrielle, Ingenieure und Techniker) und den Schwund ihres eigenen gesellschaftlichen Einflusses wiederspiegelte. Anhand der Beispiele Carl Ludwig Schleich (1859–1922) und Rudolf Steiner (1861–1925) soll im vorliegenden Beitrag gezeigt werden, inwiefern die Utopie einer umfassenden Rhythmologie, welche der Zersplitterung der Wissenschaften ein Ende setzen sollte, durchaus als Teil der erwähnten „Gebildetenrevolte“ zu verstehen ist.13 Anschließend soll am Beispiel der rhythmischen Projekte von Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950), Rudolf Bode (1881–1970) und Rudolf Laban (1879–1958) kurz geschildert werden, wie um 1900 sogar noch größere Hoffnungen in den Rhythmus gesetzt wurden, als dieser in Therapieversuchen sozusagen als Heilmittel eingesetzt wurde mit dem Ziel, sowohl den einzelnen Menschen zu regenerieren als auch den Egoismus der Zeit zu überwinden und wieder gesunde, fröhliche und neu hierarchisierte Gemeinschaften zu bilden.14

8 9

10 11 12 13 14

Vgl. I. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000, S. 179–207. Vgl. G. Bollenbeck, „Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. Zum Verhältnis von Reformoptimismus und Kulturpessimismus“, in: K. Buchholz (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Bd. 1), Darmstadt 2001, S. 203–207. Vgl. G. Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. A. J. Langbehn (1900), S. 154 f. Vgl. ebd. S. 62 f. Vgl. K. Vondung (1976). Zur Verwendung dieses Begriffs in zivilisationskritischen Schriften und dem Einfluss von F. Tönnies, siehe : M. Riedel, „Gesellschaft, Gemeinschaft“, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Bd. 2), Stuttgart 1975, S. 801–862.

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RHYTHMOLOGISCHE UTOPIEN UND PROJEKTE ZUR ÜBERWINDUNG DER ZERSPLITTERUNG VON WISSENSBEREICHEN Angesichts einer in ihren Augen übertriebenen Aufwertung von technischen und arithmetischen Fähigkeiten und der Konzentration von Wissenschaftlern auf Details erblickten verschiedene Autoren in der transdisziplinären Erforschung von rhythmischen und periodischen Phänomenen die Perspektive einer Versöhnung von Natur- und Geisteswissenschaften, die das Ende einer unproduktiven Konkurrenz und einer unheilvollen materialistischen Gesinnung mit sich bringen würde. Zwei von ihnen, die Anhänger einer zugleich von Platon und aus dem 16. Jahrhundert (vor allem von dem Alchemisten und Astrologen Paracelsus) übernommene Vorstellung waren, dass Mikrokosmos und Makrokosmos einander entsprechen, sollen im Folgenden als repräsentative Beispiele angesprochen werden. Die Idee, die Erforschung von biologischen und kosmischen Rhythmen zu einer Wissenschaft zu erheben, welche alle anderen umfassen könnte, findet sich im Essay Von der Seele des Chirurgen und verkannten Philosophen Carl Ludwig Schleich, der in seinem Buch versucht, den Grundstein einer solchen Rhythmologie zu legen.15 Das neue Fachgebiet wird darin definiert als eine „Art moderner Astrologie, wonach das Organische sehr wohl seine Bildungsvariationen dem kosmischen Geschehen verdanken kann und wonach die Form der Lebewesen, die Entwicklung neuer Arten vielmehr buchstäblich im Himmel beschlossen wird als auf unserem winzigen Planeten.“16 In Schleichs Augen zeigt der Rhythmus die geheimnisvolle Verbindung auf, die zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen, zwischen dem Lebendigen und dem Anorganischen besteht. Eine Untersuchung dieses Phänomens erscheint ihm somit perfekt dazu geeignet, die verschiedenen Wissensbereiche und Forschungsfelder wieder zusammenzuführen. Schleich vertritt die Ansicht, dass Menschen niemals in der Lage sein werden, den eigentlichen Motor der Welt, die sogenannte Urkraft, unmittelbar zu erforschen, dass wir aber eine indirekte Kenntnis davon erlangen können, indem wir das Verhalten der Materie ihr gegenüber beobachten. Die Elastizität der Materie und ihre Fähigkeit, sich zu komprimieren, um dem kontinuierlichen Druck der Kraft standhalten zu können, sei die Grundlage eines ewigen rhythmischen Tanzes, in dem Kraft und Materie abwechselnd nachgeben und so die Welt einem ständigen Puls aussetzen würden. Die Vielfalt des Lebendigen, die Evolution der Spezies seien, so der Essayist, die Folge dieser kontinuierlichen Bewegung, denn die von diesem Tanz mitgezogene organische Welt müsse unaufhörlich ihren Rhythmus dem des ganzen Kosmos anpassen und neue Formen hervorbringen, die den ständig neuen Bedingungen standhalten könnten. Die Evolutionstheorie könne laut Schleich mit dieser Entdeckung in Einklang gebracht werden, wobei ihr Motor im Gegensatz zu Darwins Ausführungen keineswegs ein unerbittlicher Krieg aller gegen alle sei, sondern vielmehr die Notwendigkeit, sich in kosmische Variationen zu integrieren, deren 15 16

Vgl. C. L. Schleich, Von der Seele, Berlin 1910. Ebd. S. 21.

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Umfang weit über unseren Planeten hinausreiche.17 Sobald die Gesetze des kosmischen Rhythmus erkannt seien, würden sich Biologie und Morphologie von selbst auflösen und zu Unterwissenschaften der von Schleich begründeten Rhythmologie werden. Fast alle Wissenschaften würden sich dann widerstandslos darin integrieren lassen, was der sinnlosen Multiplikation der Fachbereiche und der damit verbundenen sterilen Zersplitterung des Wissens ein Ende setzen werde. Man werde dann endlich einsehen, dass die Physik, die letzten Endes nichts anderes als eine Theorie der Widerstände sei, und die Chemie, die die Variabilität der Körpereigenschaften in Bezug auf wechselnde Umweltbedingungen erforsche, in einer viel breiteren Problematik ihren Platz finden müssten, welche die Welt der Atome mit der Welt der Sterne verbinde.18 Anschließend werde sich selbst die Psychologie mit diesen Experimentalwissenschaften verbünden und anerkennen, dass sich jede Persönlichkeit durch ihre rhythmische Reaktivität und die Widerstandskraft ihrer Nervenzentren beschreiben lasse und dass Fantasie als die Fähigkeit der menschlichen Seele aufgefasst werden müsse, sich in den Rhythmus eines anderen Wesens hineinzuversetzen, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze oder ein Gegenstand. Und zum Schluss würden nicht nur die verschiedenen Wissensbereiche ineinander übergehen, sondern der Künstler und der Wissenschaftler würden auch die konstitutive Ähnlichkeit ihrer Vorgehensweisen erkennen, sei doch Kunst im Grunde nichts anderes als der Versuch, mit den dargestellten Gegenständen rhythmisch zu verschmelzen und so ihren inneren Kern zu verstehen.19 Alles in allem sollte laut Carl Ludwig Schleich die Anerkennung einer universellen Rhythmizität dazu führen, die zwischen den verschiedenen Fachgebieten aufgestellten artifiziellen Grenzen abzuschaffen oder sie zumindest stark zu erschüttern. Die Wissenschaften, die bis jetzt eher darum bemüht gewesen seien, ihr eigenes Territorium einzugrenzen und sich in einem unerbittlichen Wettbewerb gegeneinander zu behaupten, würden durch die gemeinsame Erforschung des allverbindenden Rhythmus Hand in Hand im Verständnis des Universums und des Lebendigen fortschreiten. Mit komplett anderen Zielvorstellungen und sich einem viel breiteren Publikum zuwendend entwirft der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner sein System, das allerdings ebenfalls auf der Anerkennung der spirituellen und rhythmischen Natur des Menschen basiert, als eine Art Metawissenschaft, welche dazu bestimmt sein soll, alle Fachgebiete in einem universalen okkulten Wissen zusammenzufassen und zugleich als eine Therapie gegen den modernen Materialismus, die in einer beinah schillerischen Perspektive dazu berufen sei, den Menschen aus einem provisorischen Ungleichgewicht seiner Fähigkeiten herauszuholen, damit er die nächste Stufe seiner Entwicklung erreichen kann.20 In der Überzeugung, dass alle physischen Erscheinungen ihren Ursprung in spirituellen Phänomenen haben, versucht Steiner, eine sogenannte ‚Geisteswissenschaft‘ hervorzubringen, welche 17 18 19 20

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 13 f. Vgl. ebd. S. 33 f. Vgl. H. Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis (1884–1945), Göttingen 2007.

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Medizin, Agronomie, Astrologie, Moral, Pädagogik und Metaphysik nicht nur bereichern, sondern möglicherweise auch vollenden und ersetzen könnte. Auf diesem Weg hofft er ebenfalls, die Zersplitterung der Wissensbereiche abschaffen und durch Anknüpfung an die okkulte Weisheit eines Paracelsus zum spirituellen Fortschritt der Menschheit beitragen zu können.21 Der Begriff Rhythmus nimmt in Steiners Kritik einer hauptsächlich auf der Chemie basierenden, „materialistischen Medizin“22 eine zentrale Position ein. Er vertritt die Ansicht, dass in jeder Therapie spirituelle Einsichten die Hauptrolle spielen sollten, da ohne diese eine medizinische Behandlung immer nur Symptome bekämpfen, niemals aber die wahren Ursachen der physischen Störungen erfassen könne. [N]ur der, welcher weiß, wie das Äußere zum Innern in einem Verhältnis steht, kann im einzelnen Falle sagen, wie das Äußere, das Makrokosmische, für das Mikrokosmische verwendet werden kann. (…) Es ist immer ein oberflächliches Urteil, wenn im Erkrankungsfalle die Diät eines Menschen bestimmt werden soll nach rein äußerlich gefundenen Gesetzen, die der Statistik oder der Chemie entnommen worden sind. Da handelt es sich um ganz andere Gründe. So sehen wir wie hier das geistige Erkennen dasjenige durchströmen und durchglühen muss, was mit dem gesunden und kranken Menschen zu tun hat.23

Laut dem ‚Vater der Anthroposophie‘ kann niemand irgendwelche organischen Störungen treffend analysieren, wenn er dabei die spirituelle Natur des Menschen und die ihn mit dem Kosmos verbindenden Rhythmen außer Acht lasse. Als Beweis dafür bezieht sich Steiner auf die „Krise am 7. Tag“24 im Fall einer Lungenentzündung, welche in seinen Augen nur erklärt werden kann, wenn angenommen wird, dass der Mensch nicht nur aus einem physischen Körper besteht, sondern dass dieser ständig durch die Rotation unsichtbarer und miteinander interagierender Leiber beeinflusst wird.25 Da Einsetzen und Senken des Fiebers unmittelbar mit der periodischen Begegnung von zwei Bestandteilen unserer spirituellen Konstitution, dem Ätherleib und dem Astralleib, zusammenhingen, könne man durch bloßes Experimentieren am physischen Körper nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gelangen. Allgemein betrachtet müsse jede Wissenschaft, die nur auf der Basis von Analysen und Messungen arbeitet, oberflächlich und fruchtlos bleiben. Und nur durch ein breiteres Verständnis der menschlichen Natur, das auch durch die Mathematik nicht beweisbare psychische und esoterische Wahrheiten einschließt, könnten Wissenschaftler aus diesem Zustand herauskommen. Die Anthroposophie profiliert sich außerdem noch – wie viele Reformbewegungen der Jahrhundertwende – als eine Art soziale Therapie, die Europas Schicksal wieder in die richtigen Bahnen lenken könnte. Sie diagnostiziert beim modernen Menschen einen provisorischen Zustand der Verschiebung im Verhältnis zur 21 22 23 24 25

Zum Verhältnis zwischen Anthroposophie und Paracelsus, siehe: R. Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, Dornach 1993. Vgl. R. Steiner, Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, Dornach 1989, S. 97–114. Ebd. S. 108. Vgl. ebd. S. 156. Zur Beschreibung der verschiedenen Leiber des Menschen, siehe: ebd. S. 148–160.

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äußeren Naturordnung, welche nur durch einen allgemeinen spirituellen Fortschritt im Sinne von Steiners Lehre überwunden werden könne. Im aktuellen Zustand würden die Menschen durch ein Verharren in diesem Übergangsstadium verunsichert und verwirrt, und sie könnten mit dieser unbequemen Situation nicht gut umgehen: Erst teilweise vom Einfluss der Natur befreit, hätten sie das oberste spirituelle Stadium noch nicht erreicht, in dem aus ihnen dann ein neuer Rhythmus entspringen würde, mit dem sie den ganzen Kosmos durchdringen könnten.26 Bevor sie dieses Endstadium erreichen, litten sie aber unter einem intellektuellen und sentimentalen Chaos, und die Versuchung sei für viele groß, umzukehren und durch ein „Zurück zur Natur“ die mühsam erzielte Emanzipation zunichte zu machen. In Steiners Augen ist das der falsche Weg; der Mensch solle im Gegenteil nach vorne schauen und schrittweise lernen, wieder rhythmisch zu denken und zu handeln und seinen spirituellen Fortschritt in die Hand zu nehmen, damit er seinen eigenen Rhythmus endgültig findet und mit dem Kosmos teilen kann. Wie es einst Wesen gegeben hat, die aus ihren Rhythmen heraus Sonne, Mond und Erde sich haben bewegen lassen, so wird auch der Mensch einmal seinen Rhythmus in die Welt hinausversetzen, wenn er die göttliche Stufe erreicht hat. Das ist der Sinn des Unabhängigwerdens im Rhythmus.27

So verschieden sie in ihrem Ansatz und ihren konkreten Zielen auch sein mögen, teilen Schleichs Rhythmologieprojekt und Steiners Anthroposophie doch die Absicht, der Zersplitterung der Wissenschaften und ihrem Konkurrenzkampf ein Ende zu setzen. Sie betrachten beide die Erforschung kosmischer Rhythmen und ihren Einfluss auf irdische Organismen als Möglichkeit, zu einer weniger reduktionistischen wissenschaftlichen Perspektive zurückzukehren sowie sich allmählich vom herrschenden Materialismus abzuwenden, den sie als Zeichen für die Dominanz der Bankiers und Industriellen erkennen. Die beabsichtigte Erneuerung der Wissenschaften wird bei Steiner außerdem von der Idee einer individuellen und sozialen Therapie begleitet, insofern als die gegründete ‚Geisteswissenschaft‘ – ähnlich wie Langbehns Projekt einer ästhetischen Erziehung des deutschen Volkes28 – die Moderne wieder in die richtigen Bahnen des spirituellen Fortschritts lenken sollte, womit ihre Begründer und Spezialisten als wahre Träger des Gemeinwohls zu gelten hätten.

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Vgl. ebd. S. 198. Ebd. S. 158. Vgl. J. Heinßen, „Kulturkritik zwischen Historismus und Moderne: Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher“, in: W. Bergmann (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 121–138.

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RHYTHMOLOGISCHE ZENTREN ALS UTOPISCHE LABORATORIEN EINER NEUEN GEMEINSCHAFT Wie in anderen lebensreformerischen Utopien um 1900 spielt bei der sogenannten Rhythmusbewegung die Idee einer sozialen Therapie auf der Basis der körperlichen Gesundheit eine zentrale Rolle und sie erscheint vielen Gründern von Gymnastikund Tanzschulen als die beste Voraussetzung für eine dauerhafte Erneuerung der Gesellschaft.29 Im Kontext solcher reformpädagogischen Projekte werden Rhythmus und Körperkultur als erzieherische Mittel verwendet, die Individuen sowie Gruppen wieder koordinieren und zu einem geordneten und doch fröhlichen Ganzen zusammenfügen können.30 Durch die Beschreibung der drei bekanntesten rhythmologischen Zentren der Zeit soll nun über ihre bedeutenden Unterschiede in der Definition des Begriffs Rhythmus hinaus der gemeinsame Bezug zur „Gebildetenrevolte“ herausgearbeitet werden.31 Die Gartenstadt Hellerau32 war zweifelsohne eines der komplexesten und erfolgreichsten Projekte der Lebensreform, insofern als sie Aspekte wie Bodenreform, die positive Beeinflussung der Individuen durch gutes Handwerk und harmonische Architektur (im Gegensatz zu den Mietskasernen der Großstadt)33 und das Praktizieren einer ganz besonderen Körperkultur in sich vereinte. Ihre Ideologen und intellektuellen Anführer sahen bis zum Ersten Weltkrieg vor, den Zusammenhalt der Einwohner durch das Bewusstsein einer gemeinsamen Mission zu stärken: Diese sollte darin bestehen, den Rhythmus als zurückeroberte geheimnisvolle Kraft fruchtbar zu machen und mit der Rhythmik eine weltverändernde Entdeckung zu verbreiten, deren Bedeutung, so Wolf Dohrn (1878–1914), etwa der Nutzbarmachung der Elektrizität oder der Erfindung der ersten Dampfmaschine gleichkomme.34 In der Rede, die letzterer bei der feierlichen Eröffnung des für Émile JaquesDalcroze gebauten Instituts hielt, präsentierte der Mann, der den ‚Vater der rhythmischen Gymnastik‘ nach Sachsen kommen ließ, sein Unternehmen in diesem Sinne als eine der größten Herausforderungen des Jahrhunderts: Der Rhythmus solle in Hellerau „zur Höhe einer sozialen Institution“ erhoben werden.35 Dohrn war nicht nur von Dalcrozes pädagogischer Arbeit fasziniert, die auf die Ausbildung ausgeglichener und leistungsfähiger Individuen durch Musikalisierung der Jugend und Erziehung ihres Nervensystems abzielte,36 sondern er wurde zudem 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. H. Günther, „Historische Grundlinien der deutschen Rhythmusbewegung“, in: G. Bünner (Hrsg.), Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung, Stuttgart 1971, S. 33–71. Zu diesem Ideenkomplex, siehe: I. Baxmann (2000). Vgl. K. Vondung (1976). Dieses Thema wurde schon eingehend behandelt in: O. Hanse, A l’école du rythme… Utopies communautaires allemandes autour de 1900, Saint-Etienne 2010. Vgl. T. Nitschke, Die Geschichte der Gartenstadt Hellerau, Dresden 2009. Vgl. K. Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform, München 1977. Vgl. W. Dohrn, „Die Aufgabe der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze“, in: Der Rhythmus. Ein Jahrbuch 1 (1911), S. 1. Vgl. ebd. S. 14. Zur Erläuterung und Geschichte der Methode Jaques-Dalcroze vor der Zeit in Hellerau, siehe: A. Berchtold, Emile Jaques-Dalcroze et son temps, Lausanne 2000, S. 74–103.

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durch die Theorien des Nationalökonomen Karl Bücher (1847–1930) beeinflusst, der im rhythmischen Ablauf der Arbeit bei den sogenannten ‚Primitiven‘ eine der Grundlagen für eine Sozialisierung des Menschen und die Überwindung des überkommenen horror laboris, des angeborenen Hasses auf die Arbeit, sah.37 Das rhythmische Projekt der Gartenstadt, in der alle Einwohner zur Teilnahme am Rhythmik-Unterricht aufgefordert wurden, verstand sich mehr oder weniger bewusst als ein Weg, die „glückliche Arbeit“38 der Alten als Gegenmodell zu den unmenschlichen Bedingungen der industriellen Produktion wiederherzustellen. Der reaktivierte Rhythmus sollte die menschlichen Gruppen wieder disziplinieren, den sozialen Frieden wiederherstellen und die von weiten Teilen des Bildungsbürgertums befürchtete Implosion der wilhelminischen Gesellschaft abwenden.39 In Hellerau wird der Wille zur Rückeroberung des Rhythmus außerdem von einer ehrgeizigen Übernahme des wagnerischen Projekts eines Gesamtkunstwerks begleitet, das zugleich als der Höhepunkt der Kunst, als eine Rückkehr zu ihrem Urzustand und als wirksamstes Heilmittel gegen die Vereinzelung in der Gesellschaft aufgefasst wurde.40 Émile Jaques-Dalcroze und der Pionier der modernen Inszenierung, Adolphe Appia (1862–1928), sind davon überzeugt, dass Richard Wagner (1813–1883) der Rhythmus als Bindeglied einer zufriedenstellenden Synthese gefehlt hatte. Und sie streben in ihrer gemeinsamen Arbeit danach, die Wohltaten der Rhythmik bei Individuen auf menschliche Gruppen zu übertragen und so die Gemeinschaft der Gartenstadt selbst in ein ‚Gesamtkunstwerk‘ zu verwandeln, d. h. in eine harmonische, kohärente, wohlstrukturierte, fröhliche und brüderliche Konstruktion, die sich von selbst als das Modell eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus durchsetzen würde. In den Theatervorstellungen des Instituts wurden die rhythmisch bewegten und in der Form eines Bewegungschors perfekt synchronisierten Körper zur Metapher der ersehnten neuen Gesellschaft und zugleich zum Ort, an dem dieses Ideal verwirklicht werden sollte. Hierarchie und Koordination (der Künste wie der Individuen) sollten dort nicht mehr als Zwang empfunden werden, sondern zur Bildung eines fröhlichen organischen Ganzen beitragen. Paul Claudel (1868–1955), der wie viele europäische Intellektuelle seiner Zeit durch die Schulfeste41 tief beeindruckt wurde und sich der sozialen Di-

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41

Vgl. K. Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig / Berlin 1909, S. 2–4. Vgl. I. Baxmann, „Die Moderne und der Traum von der glücklichen Arbeit“, in: I. Baxmann / S. Göschel / M. Gruß / V. Lauf (Hgg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009, S. 15–35. Zu dieser sozialkritischen Interpretation des Gartenstadtkonzepts, siehe: M. Cluet, „Cité-jardin et idées ‚réactionnaires-progressistesʼ“, in: B. Koehn (Hrsg.), La Révolution conservatrice et les élites intellectuelles, Rennes 2003, S. 177–199. Vgl. G. Giertz, Kultus ohne Götter. Emile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia. Der Versuch einer Theaterreform auf der Grundlage der rhythmischen Gymnastik, München 1975. Zum Thema Gesamtkunstwerk, siehe auch: T. Picard, L’art total. Grandeur et misère d’une utopie (autour de Wagner), Rennes 2006, S. 34–37. Zu den Schulfesten und ihrer begeisterten Rezeption unter den europäischen Intellektuellen, siehe: M. Fasshauer, Das Phänomen Hellerau. Die Geschichte der Gartenstadt, Dresden 1997, S. 172–186.

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mension des Projekts wohl bewusst war, hat Dohrns Unternehmen insofern treffend als ein „Laboratorium einer neuen Menschlichkeit“42 bezeichnet. Rudolf Bode, der zugleich Schüler und Kontrahent von Dalcroze war und 1911 eine private Gymnastikschule in München gründete, aus der im Deutschland der Zwischenkriegszeit zahlreiche Ortsgruppen hervorgingen,43 teilte mit seinem Lehrer den Willen, auf den sozialen Körper einzuwirken und einen befriedenden Einfluss auf die gefürchtete Arbeiterklasse zu gewinnen. Aber im Gegensatz zu den rhythmischen Chören der Hellerauer Schulfeste sollten die Schüler, die Bode-Gymnastik praktizierten, auf keinen Fall zu einer mechanischen Koordination ihrer Bewegungen unter Befolgung des musikalischen Taktes ausgebildet werden. Der stark von der Lebensphilosophie Ludwig Klages’ (1872–1956) beeinflusste Bode plädierte im Gegenteil für eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Rhythmus‘ und ‚Takt‘ und fasste letzteren als das rationale Prinzip einer „toten Wiederholung“ auf, die niemals „zur Grundlage der körperlichen Erziehung der deutschen Jugend werden“44 dürfe. Sich auf diesen Gegensatz stützend, definierte er die eigene Rolle des Pädagogen als Kampf gegen die unheilvolle ‚Arhythmie‘ der Zeit, eine Tendenz zur allgemeinen Entwurzelung und zum Instinktverlust, die im Wesentlichen auf die Überbetonung des Intellekts in der schulischen Erziehung und auf den allgegenwärtigen Einfluss der Maschine zurückzuführen sei.45 Die Reaktivierung der irrationalen rhythmischen Kräfte sei laut Bode dazu berufen, Rassenstolz und nationalen Zusammenhalt wiederherzustellen und zudem die Sozialdemokraten mit ihren Forderungen nach Freiheit und Gleichheit – politische Werte, die er mit Langbehn,46 Klages47 und anderen Vertretern der „konservativen Revolution“48 für völlig naturwidrig hielt – zum Schweigen zu bringen. In der Bode-Methode besteht der erklärte Zweck der Musik darin, den vitalen Rhythmus jedes Individuums zu stimulieren und die Massen auf subliminaler Ebene so zu vereinen, dass jeder seine individuelle Eigenart entfalten kann. In der Tat widerstehe, so Bode, die im Rhythmus schwingende Masse am Besten allen metrischen Forderungen so, dass die vitalen Kräfte gegenüber dem Bewusstsein die Oberhand gewinnen und dass sich jeder mit den anderen zusammen durch den lebendigen Tanz des Kosmos mitgezogen fühle.

42 43 44 45 46 47 48

Vgl. K. Lorenz, „Der Traum vom ‚Laboratoire d’une humanité nouvelleʼ“, in: R. Ring (Hrsg.), Hellerau Symposion, Remscheid / Genf 1993, S. 23–30. Vgl. B. Wedemeyer-Kolwe, Der ‚Neue Menschʼ. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, S. 48 f. R. Bode, Der Rhythmus und seine Bedeutung für die Erziehung, Jena 1920, S. 18. Zur Unterscheidung von ‚Rhythmus‘ und ‚Takt‘ bei Klages, siehe: L. Klages, „Vom Wesen des Rhythmus“, in: L. Pallat (Hrsg.), Künstlerische Körperschulung, Breslau 1923, S. 94–137. Vgl. R. Bode, Rhythmus und Körpererziehung, Jena 1925, S. 33. Vgl. A. J. Langbehn (1900), S. 154 f. Vgl. L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, in: Sämtliche Werke, hrsg. von E. Frauchinger (Bd. 2), Bonn 1981, S. 1204. Zur Definition des Begriffs, siehe: L. Dupeux, „Kulturpessimismus, Konservative Revolution und Modernität“, in: M. Gangl / G. Raulet (Hgg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1994, S. 287–299.

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Olivier Hanse [A]ller Rhythmus ist letztlich ein Massenerlebnis. Je mehr Masse im Rhythmus schwingt, umso größer die Berührungsfläche mit dem kosmischen Lebensrhythmus, umso geringer die Möglichkeit, diesen Massenschwung in den Dienst des metrischen, d. h. messenden Intellekts zu zwingen.49

Im Gegensatz zu dem, was für gewöhnlich als Massenphänomen bezeichnet wird, würden, so Bode, in einer solchen Menge nicht die mechanische Synchronisation und die Uniformität siegen. Je größer die Zahl der Teilnehmer, desto leichter sei es im Gegenteil für den Einzelnen, seinen eigenen Rhythmus wiederzufinden und zu pflegen. Durch den kollektiven Widerstand gegen die rationalen Kräfte finde nämlich dann eine geheimnisvolle Interaktion zwischen dem Individuum und dem Ganzen statt, das alle zusammen bilden. Laut einer beliebten vitalistischen Metapher erhalte jeder in dieser Osmose seine eigene Individualität, so wie die Wellen einzeln durch ihre Zugehörigkeit zur Totalität des Ozeans geformt werden. So ist übrigens auch laut dem Gymnasten die Bedeutung des Chores in der griechischen Tragödie zu erklären: Die beeindruckende Anzahl der Choristen habe es diesem erlaubt, zugleich „metrisch strukturiert“ und „rhythmisch bewegt“50 zu bleiben; das individuelle und kollektive Schwingen der Seelen und der Ausbruch der irrationalen Kräfte hätten aus ihm eine wunderschöne Erfahrung der Integration in eine organische Totalität höheren Ranges gemacht. Zuletzt zeugt die von Rudolf Laban51 beschriebene Vision einer Arbeits- und Festgemeinschaft,52 ein Projekt, das zwischen 1913 und 1919 im Rahmen seiner Sommerkurse auf dem schweizerischen Monte Verità in Ascona53 nur teilweise Wirklichkeit wurde, ebenfalls von dem Willen, auf den sozialen Zusammenhalt einzuwirken und insbesondere durch das Praktizieren eines rhythmischen Tanzes die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu befrieden. Um in den revoltierenden Proletariern wieder den Willen zur Arbeit zu erwecken, suggeriert der Tänzer, dass der von Karl Bücher in seinem Werk Arbeit und Rhythmus54 beschriebene Mechanismus in gewisser Weise umgekehrt werden müsse. Laut dem Nationalökonomen stammte der Rhythmus ursprünglich von den kollektiven Arbeitsmethoden der ‚Primitiven‘: Dadurch dass der Rhythmus dank der Automatisierung der Bewegungen den Geist und die Vorstellungskraft der arbeitenden Menschen befreit habe, seien die Arbeitslieder entstanden, aus denen sich später allmählich die verschiedenen schönen Künste hätten entwickeln können. Laban schlägt seinerseits vor, diese Entwicklung quasi wieder in diese Richtung zurückzulenken, d. h. den modernen Menschen wieder zu Tanz und Rhythmus zu erziehen, damit dieser im Alltag wieder seinen Platz findet und insbesondere die Arbeit und das ganze Gemeinschaftsleben in ein fröhliches ‚Fest‘ verwandelt. 49 50 51 52 53 54

R. Bode (1925), S. 31. Vgl. R. Bode, Ausdrucksgymnastik, München 1922, S. 26 f. Eine detaillierte Biographie findet sich bei: E. Dörr, Rudolf Laban. Ein Portrait, Norderstedt 2005. Zur detaillierten Darstellung des Projektes, siehe: R. Laban, „Kultische Bildung im Feste“, Die Tat 3 (1920), S. 161–168. Vgl. A. Schwab, Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht, Zürich 2003. Vgl. K. Bücher (1909).

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[I]m Fest [wird] der Einzelne, die Gruppe und die Gesamtheit über den ordnenden Grundrhythmus kulturellen Lebens belehrt und zur Begeisterung für diese Ordnung erregt und bewegt. Die rhythmisch ordnende Kraft des Festes schwingt als tänzerischer Sinn in den Alltagsrhythmus hinüber und erweckt dort als Einsicht, Lebens- und Arbeitsfreude die Erfüllung des Kulturideals.55

Parallel zu der Hoffnung, die er in Karl Büchers Theorie setzt, sieht Laban außerdem vor, alle Mitglieder der Gemeinschaft an sogenannten Gruppenspielen teilnehmen zu lassen, welche ihnen den Sinn für Maß und Respekt beibringen und so die Kommunikation zwischen Menschen und zwischen Gruppen erleichtern sollten.56 In den sogenannten Kämpfen, einer Variante dieser Spiele, sollten die verschiedenen Berufskörper die Möglichkeit haben, ihre Konflikte rhythmisch darzustellen und ihre Forderungen miteinander zu konfrontieren, damit sie unter dem wohlwollenden Einfluss des Choreographen lernen, ihre Widersprüche und ihre einseitige Perspektive auf Dinge zu überwinden, Kompromisse zu finden und ihre Bemühungen zu koordinieren.57 Nachdem er das Scheitern der herrschenden Klassen angeprangert hat, welche – von der Verteidigung ihrer eigenen Interessen gelenkt – den Zusammenhalt des sozialen Körpers gefährdet und gegen die immer unmenschlicher werdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter nichts unternommen hätten,58 präsentiert Rudolf Laban den Tänzer als den einzig fähigen Menschen, der die Gesellschaft noch retten, die Arbeiter richtig erziehen und die sozialen Konflikte lösen könne. Da dieser einen besonderen Sinn für Maß und Synthese besitze, sei er in der Lage, ein gemeinschaftliches Leben aufzubauen, das nicht mehr vom allgegenwärtigen Konkurrenzkampf, sondern von Freude, Fleiß und Solidarität beherrscht werde. Als Wahrer des Rhythmus und Vertreter einer Ethik, die „ebensowenig auf rein naturwissenschaftlichen (…) wie auf religiösen oder staatlich-gesetzgeberischen Anschauungen“59 aufgebaut sei, sei dieser wie kein anderer sonst imstande, das Band wiederherzustellen, das früher einmal Fest und Arbeit vereinigt hatte, so dass letztere allen wieder persönliche Entfaltung, Stolz und Kohäsion schenken werde. FAZIT Derartige Versuche, Wissenschaften oder Individuen durch die Rückbesinnung auf den Rhythmus wieder zusammenzuführen, können als Teil einer mehr oder weniger bewussten kollektiven Logik verstanden werden, durch welche die von Abstiegsängsten geplagten Bildungsbürger um 1900 die Werte der Mehrheit (Materialismus, Utilitarismus, auf dem Besitz materieller Güter beruhende Hierarchie) in Frage zu stellen und auf unpolitischem Weg eine andere Zukunft vorzubereiten versuchten, 55 56 57 58 59

R. Laban, Die Welt des Tänzers, Stuttgart 1920, S. 128 f. Vgl. ebd. S. 164. Vgl. ebd. S. 164 f. Vgl. ebd. S. 162. Vgl. ebd. S. 163.

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ohne jedoch das Risiko eingehen zu müssen, die bestehende Ordnung voreilig zu stürzen, da diese immer noch den wirksamsten Schutz gegen eine mögliche proletarische Revolution zu bieten schien. In beiden Unternehmungen erscheint der Rhythmus nicht nur als das Opfer eines utilitaristischen und egoistischen Zeitgeistes, sondern auch als ein universelles Instrument zur Wiederherstellung von Koordination und Kohäsion, das sowohl auf Wissenschaften und Künste als auch auf Individuen und soziale Gruppen angewandt werden kann. Im Rahmen von reformerischen Projekten bildete er den Mittelpunkt einer ganzen Reihe von Therapien, welche darauf abzielten, den modernen Menschen wieder zu einem Gleichgewicht zu verhelfen und der unerbittlichen Konkurrenz zwischen Wissenschaften, Individuen und sozialen Gruppen ein Ende zu setzen. Zugleich sollten die rhythmischen Experimente in Ascona, Hellerau oder München – zumindest in Gedanken – dem friedlichen Aufbau eines Leaderships dienen, das im Kleinen ausprobiert wurde, bevor es sich als Alternative zu den bestehenden Strukturen präsentieren konnte. Der pseudomedizinische Diskurs und der Antiintellektualismus, die diese Projekte teilweise kennzeichneten, waren jedoch mit zahlreichen Risiken verbunden, durch die sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren: Die Leitgedanken konnten sich leicht gegen diejenigen wenden, die den Diskurs in Gang gesetzt hatten; und angesichts der offenbar unzureichenden Handlungsmittel und des sich verschlimmernden Abstiegs der gebildeten Mittelschicht konnten damit Frustrationen genährt werden, die eine ideologische Verhärtung und den Rückgriff auf eine radikalere und aggressivere politische Logik rechtfertigen konnten. Wie wir wissen, entschieden sich die Anführer der Lebensreformbewegung in den 30er Jahren mehrheitlich zugunsten des Nationalsozialismus.60 Laban und Bode haben sogar eine Zeit lang im NS-Staat Karriere gemacht.61 Und selbst wenn die Situation mancher Autoren von Rhythmustheorien, wie etwa bei dem Lebensphilosophen Ludwig Klages, komplexer ist und heute noch debattiert wird,62 können auch bei diesem ideologische Überschneidungen mit der Blut-und-Boden-Ideologie kaum geleugnet werden.

60 61 62

Vgl. W. R. Krabbe, „‚Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreformbewegung ist der Nationalsozialismusʼ. Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich.“, Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 431–461. Vgl. L. Guilbert, Danser avec le IIIe Reich, Bruxelles 2000, S. 145–154 (über R. Bode) und S. 171–181 (über R. Laban). Vgl. T. Schneider, „Ideologische Grabenkämpfe. Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 275–294.

RHYTHMOLOGIE IN DER KUNSTWISSENSCHAFT ZWISCHEN DEM 19. UND 20. JAHRHUNDERT: DER FALL AUGUST SCHMARSOW Andrea Pinotti Es wurde eindrucksvoll betont, dass der Begriff „Rhythmus“ um die Jahrhundertwende zur Schlüsselkategorie im Bereich der deutschsprachigen Kunstwissenschaft avancierte.1 In diesem höchst fruchtbaren epistemologischen Kontext wurden von berühmten Kunsthistorikern und -theoretikern (wie Gottfried Semper, Heinrich Wölfflin, Alois Riegl) zentrale Aspekte einer Rhythmologie des Bildes untersucht, die einer der bedeutendsten Rhythmus-Theoretiker unserer Gegenwart, der französische Philosoph Henri Maldiney, noch 19672 als grundlegend erkannte und die noch heutzutage weit entfernt davon scheinen, erschöpft zu sein. In diesem sicherlich nicht homogenen Bereich hebt sich die herausragende Gestalt des Leipziger Dozenten August Schmarsow ab: Als die des Autors, der sich am intensivsten mit dem Begriff Rhythmus sowohl in seinen kunsthistoriographischen als auch (und vor allem) in seinen kunsttheoretischen Werken beschäftigt hat. In seinen Monographien und Aufsätzen (die meisten wurden in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft veröffentlicht) hat er eine allgemeine Lehre des Bildrhythmus entwickelt, die eng mit seiner Idee der Ästhetik als Ästhesiologie (im etymologischen Sinn der aisthesis als Konstellation von Empfindung-Wahrnehmung-Fühlung) verbunden ist. In dieser Perspektive zeigt sich die Erfahrung des Rhythmus als ein psychosomatisches Erlebnis, als eine Erfahrungsmöglichkeit des menschlichen Leibes selbst. 1853 in Schildfeld (Mecklenburg) geboren, 1936 in Baden-Baden gestorben, war Schmarsow Schüler von Rudolf Jahn in Zürich und von Carl Justi in Bonn. Seine Ausbildung war nicht ausschließlich an der Kunstgeschichte orientiert: seine Dissertation betraf die germanische Philologie und wurde einem Vergleich Leibniz und Schottelius gewidmet.3 Sicherlich war aber das kunsthistorische und -theoretische Gebiet dasjenige, in dem er seine bedeutendsten Beiträge anbot: die rein historiographische Tätigkeit – sowohl Monographien über individuelle Künstler als auch Studien über einzelne Werke einschließend – konzentriert sich überhaupt in 1 2 3

Siehe den sehr nützlichen und umfassenden Aufsatz von G. Vasold, „Optique ou haptique: le rythme dans les études sur l’art au début du 20e siècle“, Intérmédialités 16 (2010) (Rythmer/ Rhythmize, hrsg. von M. Cowan, L. Guido): http://id.erudit.org/iderudit/1001955ar. H. Maldiney, „L’Esthétique du rythme“ (1967), in: Ders, Regard Parole Espace, Lausanne 1973, S. 147–172. Vgl. A. Schmarsow, Leibniz und Schottelius: die „unvorgreiflichen Gedanken“, Straßburg 1877.

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den Berliner, Göttinger und Breslauer Phasen seiner Arbeit. 1890 gründete Schmarsow in Florenz das Deutsche Kunsthistorische Institut.4 1893 erhielt er dank Karl Lamprechts Unterstützung einen Lehrstuhl als ordentlicher Professor der Kunstgeschichte an der Universität Leipzig. Der Titel seiner Antrittsvorlesung, gehalten am 8. November desselben Jahres, war Das Wesen der architektonischen Schöpfung.5 Er beinhaltet Elemente einer höchst prägnanten Formulierung: der Terminus „Wesen“ markiert seine Wendung von kunsthistoriographischen zu kunsttheoretischen Themen; der Terminus „architektonische Schöpfung“ weist auf die zentrale Rolle, die die Architektur für Schmarsow im Vergleich zu den bildenden Künsten fortan spielen wird. In den Leipziger Jahren (bis 1919, als er sich wegen einer Plagiatsanklage zurückzog) entwickelte Schmarsow eine transdisziplinäre Methodik der Kunstforschung, in der Kunstgeschichte und Psychologie, Ästhetik und Physiologie zusammenarbeiteten. In dieser Vorgehensweise wurde er unter anderen auch von Hermann Lotze angetrieben. Schmarsow war vielleicht nicht so berühmt wie die zwei Hauptvertreter der deutschsprachigen Kunstwissenschaft um die Jahrhundertwende – eben Alois Riegl und Heinrich Wölfflin (mit denen er gerne und häufig polemisierte) –, aber dafür nicht weniger einflussreich. Das Phänomen, dass sein Name bald in Vergessenheit geriet, ist paradoxerweise direkt proportional zu der kapillaren – aber oft vaterlosen – Diffusion seiner Gedanken im gegenwärtigen Architektur-Diskurs. Wenn wir die wölfflinsche Formel der „Kunstgeschichte ohne Namen“ paraphrasieren wollten, könnten wir eben sagen, dass seiner ein Fall von „Kunstwissenschaft ohne Namen“ zu sein scheint. 1. LEIB UND RHYTHMUS Anfangspunkt von Schmarsows Rhythmuslehre ist sein Verständnis der künstlerischen und zunächst architektonischen menschlichen Erfahrung als eine nicht ausschließlich optische, sondern leibliche. Die Kunst ist für ihn eine „schöpferische Auseinandersetzung“6 zwischen Mensch und Welt, und in solcher Auseinandersetzung spielt eine wesentliche, strukturelle und stiftende Rolle die menschliche leibliche Organisation: die eigentliche Möglichkeitsbedingung des Sinnes. Deswegen 4

5 6

Siehe H. W. Hubert, „August Schmarsow, Hermann Grimm und die Gründung des Kunsthistorischen Instituts in Florenz“, in: M. Seidel (Hrsg.), Storia dell’arte e politica culturale intorno al 1900: la fondazione dell’Istituto Germanico di Storia dell’Arte di Firenze, Venezia 1999, S. 339–358. 1894 in Leipzig veröffentlicht. „Die Kunst ist eine Auseinandersetzung des Menschen (d. h. seiner leiblichen und psychischen oder geistigen Anlage) mit der Welt, in die er gestellt ward. Zu dieser Auseinandersetzung gehören immer zwei Pole: Subjekt und Objekt“, A. Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft: am Übergang vom Altertum zum Mittelalter kritisch erörtert und in systematischem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1905; Neuausgabe mit einem Nachwort von E. Ikonomou, Berlin 1998, S. 8, Fußnote 1. Die Charakterisierung der Kunst als „Auseinandersetzung“ Mensch-Welt wird als Leitmotiv in diesem Buch immer wieder betont.

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scheint ihm Riegls unilaterale Privilegierung der optischen Wahrnehmung überhaupt unannehmbar: Je weniger wir aufgelegt sind, uns wie ausschließliche Augengeschöpfe mit einer Ansicht zu begnügen, desto freieren Gebrauch werden wir von dem Wechsel des Standpunktes machen, um die stoffliche Individualität des Dinges da möglichst allseitig zu erfassen.7

Die kinästhetische Dynamik des Leibes ermöglicht die Erfahrung der dritten Dimension und vor allem der Innenräume der Architekturen, die der eigentliche Kern von Schmarsows Analysen sind; d. h. Räume, die sowohl durch die architektonischobjektiven Gliederungen als auch durch die subjektiven Prozesse des architektonisch-menschlichen Erlebnisses gestaltet werden. Eben diese „Raumgestaltung“ ist bei Schmarsow das „Wesen“ der architektonischen Schöpfung.8 Es geht also nicht um „reine Sichtbarkeit“ (um Benedetto Croces Charakterisierung des kunstwissenschaftlichen Formalismus zu verwenden),9 sondern vielmehr um bewegte „allgemeine Leiblichkeit“ in ihrer „kinästhetischen Anlage“.10 In dieser Hinsicht ist ein Vergleich zwischen Riegl und Schmarsow als Leser von Adolf Hildebrands berühmtem Aufsatz Das Problem der Form in der bildenden Kunst höchst erhellend. Riegl fokussiert den von Hildebrand beschriebenen Unterschied zwischen der „Gesichtsvorstellung“ vom Nahbilde und der „Bewegungsvorstellung“ vom Fernbilde, und historisiert solche Sehmodalitäten als die Wahrnehmungsmerkmale des haptischen altägyptischen, beziehungsweise des optischen spätrömischen Kunstwollens.11 Seinerseits kritisch gegen Hildebrands optisch-malerische Auffassung der Plastik scheint Schmarsow jene Hinweise des Bildhauers verarbeitet zu haben,12 die sich vielmehr auf das Verhältnis berufen, das unsere „räumliche Vorstellung“ mit unserer „Körperempfindung“, leiblichen „Mitempfindung“, körperlichen „Mimik“ verbindet.13

7 8 9 10

11 12

13

Ebd. S. 16. Siehe seinen diesem Begriff ausdrücklich gewidmeten Aufsatz: „Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 9 (1914), S. 66–95. B. Croce, „Die Theorie der Kunst als reiner Sichtbarkeit“ (1911), in: Kleine Schriften zur Ästhetik, hrsg. von J. Schlosser, Bd. 2, Tübingen 1929, S. 129–205. Am stärksten drückt sich Schmarsow über die Notwendigkeit eines synästhetischen Ansatzes in seinem späten Aufsatz „Gemeinschaft der Sinnesgebiete im schöpferischen Akt“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 24 (1930), S. 1–15, aus. Dieser Text geht von einer Kritik der Lehre Konrad Fiedlers aus und erwähnt die entsprechende Interpretation von Benedetto Croce. Hier charakterisiert Schmarsow den Rhythmus als „das lehrreichste und umfassendste Beispiel für die Gemeinschaft der Sinnesbereiche“ (ebd. S. 5). Vgl. A. Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Straßburg 1893, I. Kapitel („Gesichtsvorstellung und Bewegungsvorstellung“), S. 9–19. Mit solcher Auffassung „ist das Problem der Form in der bildenden Kunst schon allein auf dem Boden der Malerei gestellt, und es bleibt die Frage, wie weit aus diesen komplicierteren Bedingungen nachträglich noch der Fall der Plastik zurückgefunden werde“, A. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst in ihrem gegenseitigen Verhältnis, Leipzig 1899, S. 17. Dieses Buch ist im allgemeinen eine Auseinandersetzung mit Hildebrands Lehre. A. von Hildebrand (1893), VI. Kapitel („Die Form als Funktionsausdruck“), S. 83–107.

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Der Leib ist bei Schmarsow „der eigene Leib“ und wirkt durch seine Glieder als Vermittler zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt. Die Struktur des menschlichen Leibes, die Eigenart seiner aufrechten Haltung (die ihn vom tierischen Leib unterscheidet), die Disposition der Organe, […]der Grad ihrer Beweglichkeit oder ihrer Abhängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zusammenwirkens der beiden Hände an den beiden Armen, der beiden Füße an den beiden Beinen, der beiden Augen an der Vorderseite des Kopfes samt der inneren Anlage des paarigen Sehapparates, alle diese Verhältnisse bestimmen nicht allein unsere Orientierung, sondern auch unsere Auffassung und Hervorbringung, alle Möglichkeiten und Äußerungsweisen unserer Wirksamkeit, wie die Ausdehnung und die Grenzen unserer Wirkungskreises.14

Solcher Leib, so und so organisiert, bewegt sich oder bleibt stehend über einen Grund, der der Boden, die Erde ist. In beeindruckender Wahlverwandtschaft mit Husserls phänomenologischen Behandlung der Räumlichkeit und der Raumkonstitution schreibt Schmarsow: Der Grund und Boden unter unseren Füßen, in dem sie [d. h. „unsere vier Wände“ als das architektonisch Notwendigste] stecken, versteht sich von selbst, nämlich als Voraussetzung unseres menschlichen Körpergefühls und unserer Orientierung auf dem allgemeinen Schauplatz dieser Erde, damit aber auch unseres natürlichen, wenn auch erst werdenden Raumgefühls, wie es in aufrechtstehenden und -gehenden Lebewesen sich ausbilden muss.15

Nachdem Schmarsow der leiblichen Organisation16 des Menschen Bedeutung beigelegen hat, unterscheidet er in Gottfried Sempers Kielwasser segelnd drei solche die Organisation regelnden „Gestaltungsprinzipien“: Symmetrie, Proportionalität, Rhythmus (Semper würde hier eher Richtung sprechen).17 Das Gesetz der Symmetrie ist zunächst in der bilaterale Konstitution des Leibes oder in den Organpaaren verwurzelt (Augen, Hände, Beine usw.) und fungiert nach Schmarsow als Gestaltungsprinzip der Dimension der Breite. Um die aufrechte Haltung des menschlichen Körpers und dessen vertikale Wachstumsachse artikuliert sich die Proportionalität der Teile, die das Gestaltungsprinzip der Dimension Höhe ist. Solange wir aber bei der ersten und zweiten Dimension verweilen, bleiben wir stillstehend, betrachten wir folglich die Dimensionalität im statischen Sinne. Solche Gebiete – behauptet Schmarsow – werden von der Bewegung dynamisiert: die 14 15

16 17

A. Schmarsow (1905), S. 33. Ebd. S. 182. Siehe E. Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Husserliana XVI, Den Haag 1973; Ders., „Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur“, in: M. Farber (Hrsg.), Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, Cambridge (Mass.) 1940, S. 307–325. Für einen Vergleich Husserl-Schmarsow siehe H. F. Mallgrave, E. Ikonomou (Hrsg.), Empathy, Form, and Space, Santa Monica 1994, S. 65–66; E. Ikonomou, „Nachwort“, in: A. Schmarsow (1905) Neuausgabe (1998), S. 363–364. Über das Verhältnis Organisation-Kunst siehe auch Schmarsows Aufsatz „Vom Organismus unserer Kunstwelt“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 23 (1929), S. 209–230. Schmarsow bietet eine synthetische Darstellung solcher Prinzipien in seinem kurzen Aufsatz „Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde“, Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 48 (1896), S. 44–61.

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Höhe wird infolgedessen zum Emporheben, zur Steigerung; die Breite wird zum Entlanggehen, -sehen oder -tasten: sie wird zur Länge. Als wir uns von einem Extrem zum anderen bewegen, erfahren wir auch die Achse der Tiefe, der dritten Dimension. Ihr Gestaltungsprinzip ist der Rhythmus. Solches Prinzip gesellt sich nach Schmarsow nicht einfach als drittes Element zu einer Reihe von gleichwertigen Prinzipien hinzu, sondern es nimmt auf sich und steigert zugleich die Eigenschaften von Symmetrie und Proportion, es integriert sie in einen reicheren Bereich. Solche Kategorien genügen aber nicht zum Verständnis von unserem leiblichen Verhältnis mit den Dingen. Zu diesem Zweck müssen noch andere Begriffe in den Diskurs eingeführt werden: das Paar Nebeneinander/Nacheinander und das Paar Regelmäßigkeit/Gesetzmäßigkeit. Die Regelmäßigkeit ist der zeitlichen Fassung des Nacheinanders unterworfen und herrscht im Gebiet der Zeitkünste: in der Musik, in der Mimik, in der Poesie. Trotzdem verwendet man diesem Terminus auch im Raumbereich, wenn man einen Körper als regulär charakterisiert. Aber wie kann man Kategorien auf die räumliche Welt ausdehnen, die eigentlich für die Beschreibung von zeitlichen Erlebnissen gedacht sind? Schmarsow bemerkt, wie ein Zeitverlauf der Wahrnehmung nötig ist, um die Regelmäßigkeit eines räumlichen Körpers von allen Seiten stufenweise zu fassen: wenn er groß ist, muss man sich um ihn herumwälzen; wenn er klein genug ist, muss man ihn in der Hand umdrehen. Auf diese Weise, im fortlaufenden Schauen und Tasten der Aspekte des Gegenstandes bis zum Erfassen des Ganzes, haben wir die Bewegung in die Wahrnehmung integriert. Deswegen können wir also sagen, dass die Vorstellung der Sache von Anfang an den Reiz zur Bewegung als Streben zur totalen Fassung des Ganzen in sich selbst trägt. Es ist ein typisches Erlebnis – sowohl der Ornamentik als auch der Architektur – mit Hilfe der Bewegung (sei sie wirklich oder imaginär) die Rezeption des Objektes zu vervollkommnen. Anders verhält es sich aber mit der Gesetzmäßigkeit. Hier herrscht die Anschauung des Nebeneinanders. Die Körper werden als feste Bilder und in sich bestehende „objektive“ Gegenstände der Außenwelt konzipiert, ohne ihre Verbindung mit dem lebendigen Subjekt zu betonen. Die Regel ist subjektiv, das Gesetz aber objektiv. Dennoch kann der Mensch solche Objektivität immer in seine Subjektivität wiederaufnehmen, durch die Teile seines Leibes den Konturen des Objektes folgen, und entdecken, dass die Regel mit dem Gesetz übereinstimmt, d. h. dass eine Harmonie zwischen dem menschlichen Verständnis und dem Naturgesetz besteht. Also „Regelmäßigkeit als Disposition der inneren Anlage des menschlichen Subjekts“ und „Gesetzmäßigkeit der Natur als Ausdruck ihres festen Aufbaues und unverbrüchlichen Zusammenhangs“18 bilden die beiden Extreme, innerhalb derer Schmarsows Analyse über die Prinzipien von Symmetrie, Proportionalität und Rhythmus sich entfaltet. Wegen seiner eigenen Beweglichkeit und zeitlichen Existenz kann der Rhythmus selbstverständlich dem stabilen, strengen Gefüge der Gesetzmäßigkeit nicht entsprechen, sondern muss sich eher auf die lebendige und organische Regelmäßigkeit beziehen. Dort, wo die Gesetzmäßigkeit die Bewegung starr kristallisiert, ist der Rhythmus unmöglich. Nur wenn der Mensch die tote Ma18

A. Schmarsow (1905), S. 52.

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terie solcher Kristallisationen im fortschreitenden Verlauf seiner Lebenssphäre wiederbelebt, kann der Rhythmus endlich auftreten. Solche Lebenssphäre wird von Schmarsow überhaupt im physiologischen Sinne betrachtet, wie die folgende grundlegende Stelle aus dem Rhythmus-Kapitel seiner Grundbegriffe eindringlich zeigt Wo dem Menschen ein ungeschiedener Verlauf von Reizen zuströmt, da reagiert er mit einer Forderung seiner inneren Organisation. Schon Hermann Lotze19 hat die absolut einförmige Aufeinanderfolge gleicher Zeitabschnitte als solchen Anlass genannt. Gegenüber der quälenden Wirkung gleichmäßiger Schalleindrücke, die wohl nur durch den Widerspruch zu der periodischen Innervation unseres Aufnahmeorgans erklärt werden kann, hilft sich unsere Naturanlage durch unwillkürliches inneres Taktieren; das Individuum führt eine subjektive Rhythmisierung ein, d. h. eine nicht objektiv vorhandene, sondern unversehens im Aufnahmeapparat entstehende, der dargebotenen Reizfolge aufgenötigte Zerlegung.20

Wenn der Sinnesbereich des Gehörs der bevorzugte für rhythmische Erfahrungen zu sein scheint, kann die „Geburtsstätte“ des Rhythmus selbst als eine Reflexwirkung auf unangenehme Reize auch in verschiedenen Sinnesgebiete gedeutet werden. Demzufolge kann der Rhythmus als eine Art von „Selbsthilfe“ in Bezug auf „unerträgliche Reizwiederholungen“ bezeichnet werden, eine spezifisch reaktive Tätigkeit, die auf eine sinnlich rezeptive Passivität antwortet, im biologischen Kontext der Verteidigung der organischen Gesundheit und des Überlebens des lebendigen Wesens. Was aber am Anfang spontan, reflektorisch und unwillkürlich ist, kann sich allmählich zu einem immer willkürlicherem und geistigeren Vorgang steigern, wie man das einfach in den Gebieten der Gebärdensprache, der Sprechweise oder der Schreibart sehen kann. Denken wir zum Beispiel an den „periodischen Vorgang des Ein- und Ausatmens“:21 zuerst eine unwillkürliche Äußerung unseres psychophysiologischen Zustandes, die aber willkürlich geprägt und rhythmisiert werden kann, um jenen Zustand zu modifizieren. „Rhythmus“ – so schließt Schmarsow aus diesen Bemerkungen – „ist subjektiv aufgefasst die Regel, objektiv anerkannt das Gesetz alles Kräftespiels im Nacheinander“.22 Regel und Gesetz sind also die zwei Seiten, subjektiv beziehungsweise objektiv, desselben Phänomens. Was die biologische Nützlichkeit der Rhythmisierung betrifft, ist ein Vergleich mit dem sogenannten Formalismus aufschlussreich. Oben haben wir Schmarsow über die „quälende Wirkung gleichmäßiger Schalleindrücke“23 gehört. Das Quälende als Grundmotiv für die Genealogie der plastischen Tätigkeit der Menschen war schon von Adolf Hildebrand hervorgehoben worden. In seinem Problem der Form liest man: „Die Plastik hat nicht die Aufgabe, den Beschauer in dem unferti19 20 21 22 23

Über die musikalische Rhythmisierung durch den Takt äußert sich Lotze unter anderem im § 26 seiner Grundzüge der Aesthetik, Leipzig 1884, S. 26 und in seiner Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868, S. 489–490. A. Schmarsow (1905), S. 85–86. Ebd. S. 86. Ebd. S. 87. Ebd. S. 85–86.

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gen und unbehaglichen Zustande gegenüber dem Dreidimensionalen oder Kubischen des Natureindrucks zu lassen, indem er sich abmüht, sich eine klare Gesichtsvorstellung zu bilden, sondern sie besteht gerade darin, ihm diese Gesichtsvorstellung zu geben und dadurch dem Kubischen das Quälende zu nehmen“. Für Hildebrand – sowohl den Bildhauer als auch den Theoretiker – gilt, dass solange eine dreidimensionale Figur kubisch bleibt, kann sie nicht als Kunstwerk bezeichnet werden: „Erst wenn sie als ein Flaches wirkt, obschon sie kubisch ist, gewinnt sie eine künstlerische Form“.24 Die formalistischen Leser von Hildebrand – Wölfflin, Riegl, Worringer – haben alle solch eine Korrelation zwischen der dritten Dimension und dem Angsterlebnis angenommen. Wölfflin beruft sich in jedem von seinen dem Bildhauer gewidmeten Texten darauf.25 In seinem Hauptwerk betont Riegl seinerseits, dass in der Kunst der Antike eine gemeinsame Verneigung der dreifachen Dimensionalität vorliegt, da dieser Raumeindruck „das größte Unbehagen hätte verursachen müssen“.26 Die Kunst, „das erlösende Wohlgefallen des Beschauers“27 bezweckend, versucht durch eine Reduktion von der dritten auf die zweite Dimension, solch beunruhigende Macht des Kubischen zu neutralisieren. In seiner an Riegls Ebene-Lehre festhaltenden Abstraktionstheorie nahm auch Worringer den hildebrandschen Hinweis an: Das was Hildebrand hier „das Quälende des Kubischen“ nennt, ist im letzten Grunde nichts anderes als ein Überbleibsel jener Qual und Unruhe, die den Menschen den Dingen der Außenwelt in ihrem unklaren Zusammenhang und Wechselspiel gegenüber beherrschte.28

Als therapeutisches Pharmakon gegen die kubische Qual berufen sich die Formalisten auf die Ebene, während Schmarsow sich an die volumetrische Natur des Architektonischen halten will und sich deswegen an den Rhythmus als eine Schutztherapie ohne Negation der dritten Dimension wendet.

24 25

26 27 28

A. Hildebrand (1893), S. 71–72. Vgl. H. Wölfflin, „Ein Künstler über Kunst“, Allgemeine Zeitung, 157 (1893) (jetzt in H. Wölfflin, Kleine Schriften (1886–1933), hrsg. von J. Gantner, Basel 1946, S. 84–89); „Adolf von Hildebrand zu seinem siebzigsten Geburtstag am 6. Oktober 1918“, Kunst und Künstler 16 (1918) (ebd. S. 89–99); „Zur Erinnerung an Adolf von Hildebrand“, Neue Zürcher Zeitung, (1921) (ebd. S. 99–104); „Adolf Hildebrands ‚Problem der Form‘“, Neue Zürcher Zeitung 1425 (1931) (ebd. S. 104–106). A. Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901, S. 22. Ebd. S. 120. W. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1907), München 19113, S. 25–26.

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2. RHYTHMUS UND ORNAMENT Obwohl die Architektur das Lieblingsgebiet von Schmarsows Untersuchungen ist, ist sie nicht der ausschließliche Anwendungsbereich seiner Rhythmuslehre. Auch die Sphäre der Ornamentik bietet ein sehr reiches Material zur Untersuchung der rhythmischen Phänomene an. Wenden wir uns insbesondere dem Aufsatz Anfangsgründe jeder Ornamentik zu (einem Text, der nicht über die Makro-Objekte der Architektur, sondern über Mikro-Objekte arbeitet, die man in der Hand halten kann),29 so zeigt Schmarsow, dass die ornamentale Kontrolle der Bewegung grundsätzlich eine rhythmische ist. Auch im Fall der Ornamentik gilt das, was wir schon für den Fall des Architektonischen und im allgemeinen für die ganze Sphäre der Rhythmik beobachtet haben: Der Rhythmus nimmt als drittes Prinzip der Gestaltung die Prinzipien der Symmetrie und der Proportionalität in sich auf und erhebt sie auf ein höheres Niveau. Anfangspunkt ist die Reihe. In ihrer einfachsten Form besteht sie auf die Wiederholung eines und desselben Elementes. Wenn man zwei Elemente einführt, bilden sie im Ruhezustand betrachtet den Grundsatz der Symmetrie. Der Beobachter gliedert sich als ideale, vertikale Mittellinie zwischen den beiden Elementen ein und fungiert als deren Symmetrieachse. Wenn sich aber andere Elemente hinzufügen, dann kann der Standpunkt des Zuschauers nicht still bleiben. Er muss der Ornamentlinie entlang gleiten und jeweils als Mittelpunkt ein der Elemente aufnehmen, die eigentlich rechts oder links in Rücksicht auf den ursprünglichen Mittelpunkt sind. Solche Verwicklung macht die gleichzeitige Anschauung aller Elemente unmöglich. Die immer erfüllte Erwartung des Vorkommens und Sich-Wiederholens von identischen Eindrücken entzieht dem einzelnen Element seine besondere Bedeutung, um eher die Abfolge zu betonen. Aus der Wiederholung eines symmetrischen Paares durch eine Nebeneinandersetzung erfolgt also das erste Prinzip der rhythmischen Artikulation: die Länge, deren Funktion verhindert, dass die Augen regellos wandern, indem sie ihnen eine Richtung und ein Gleis anbietet und ermöglicht, die zweite Dimension völlig zu fassen. Im Gegensatz zur Symmetrie sind hier die Beweglichkeit des aufnehmenden Organs und das sich-einfühlende Nacherleben grundlegend. Die durchgehende Wiederholung der Paare verliert aber bald ihre Kraft und ermüdet die Aufmerksamkeit des Subjektes. Schon bei der zweiten Wiederholung wird die Rezeption „rein ästhetisch“ und das Auge schreitet selbstständig fort, sich vom wirklich Wahrgenommenen loslösend. Hier fügt sich ein drittes, abweichendes Element ein, dessen Bedeutung nach Schmarsow nicht immer angemessen erkannt 29

A. Schmarsow, „Anfangsgründe jeder Ornamentik“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 5 (1910), 1. Teil S. 191–215, 2. Teil S. 321–355. Siehe auch „Zur Lehre vom Ornament“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 16 (1922), S. 511–526; „Die reine Form in der Ornamentik aller Künste“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 17, 1924, 1. Teil (mit F. Ehlotzky) S. 1–17; 2. Teil S. 129–145; 3. Teil S. 209–220; 4. Teil S. 220–234; 5. Teil S. 305–310; 6. Teil, S. 310–320; 18, 1925, 7. Teil, S. 83– 107.

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wird. Wenn es nur einmal auftaucht, verhindert es unser optisches Fließen und fixiert unsere Beachtung auf sich selbst. Wir sind veranlasst, auf ihm zu verweilen, es mit den anderen schon bekannten Elementen zu vergleichen, die rechts oder links stehen. Wenn vorher die Idealachse des Subjekts selbst als Mittelachse des Paares von symmetrischen Gliedern fungierte, leistet jetzt dieses dritte Element diese Funktion. Anstatt einer Symmetrie haben wir nun eine dreigegliederte Gruppe, die das Prinzip der Proportionalität einführt, d. h. der dimensionalen Beziehung unter den einzelnen Elementen und zwischen jedem Elemente und dem Ganzen. Wenn aber dieses dritte Element stetig wiederholt wird, dann wird es auch in die bewegliche Reihe integriert. Seine widersprechende Hindernisfunktion nimmt allmählich ab, weil sein Auftreten jetzt vorauszusehen und zu erwarten ist. Das ist der elementarste Fall von Rhythmus. Schmarsow will aber nicht den gesamten Status des Rhythmus ausschließlich auf die Leistungen der subjektiven, visuellen Wahrnehmung einschränken. Die Frage der Rhythmisierung muss auch vom Standpunkt des Erzeugers, der schöpferischen Hand, aus untersucht werden. Dem typischen geschichtsphilosophischen Ansatz seiner Epoche entsprechend, entwickelt er eine genetische, von prähistorischen Zeiten ausgehende Betrachtung. Das Problem des kunsttheoretischen Ursprungs der Ornamentik verwandelt sich in die Frage der ersten Produktion eines Ornamentes, die des primitiven Menschen. Der Urmensch reiht konkrete, serienbildende Körper – wie Muscheln oder Tierzähne – um seinen Körper, um diesen zu schmücken. Derartige Verzierungen zwingen den Beobachter vor solch einem dekorierten Leib anzuhalten, seine Wahrnehmungsbewegung abzuschneiden und solche Unterbrechungen als besonders bedeutsam zu betrachten. Bald wird der Reiz vom chromatischen Wechsel (z. B. von weißen Muscheln und roten Korallen) entdeckt und man bildet die rhythmische Reihe. Zu diesem Zweck muss man lebendige Farben auswählen, so dass kein neutraler, unwichtiger Zwischenraum eingeführt wird, sondern ein wirksamer Kontrast entsteht. Dazu kann sich auch ein drittes Glied hinzufügen, das als statisches Element innerhalb einer beweglichen Reihe zur Bildung einer dreigegliederten Einheit beiträgt. Diese Modalitäten der Ornamentik können in der primitiven ornamentalen Praxis auftreten. Demgemäß haben wir hier das Spiel der drei Gestaltungsprinzipien: der Symmetrie in der Anordnung von zwei Satellitenmuscheln auf der rechten und linken Seite einer als Mittelachse wirkenden Zentralmuschel; der Proportionalität, wenn die Aufmerksamkeit gezwungen wird, Unterschiede im Grad der Färbung oder des Maßes zu fassen; des Rhythmus, wenn die Wiederholung und Komplikation aller solcher symmetrischen und proportionalen Elemente das Ganze in Bewegung setzen. Diese Dreigliederung beschreibt natürlich lediglich die reinen Fälle; es kann selbstverständlich unendliche Kombinationen und Verwicklungen all dieser Möglichkeiten geben. Insgesamt aber geht die Konstante des Rhythmus aus der Kooperation von einem Verhältnis stark/schwach und einem periodischen (d. h. an bestimmten Intervallen wiederkehrenden) Fluss des Ganzen hervor. Deswegen dürfen wir mit vollem Recht die Komponenten eigentlich nicht „Gruppen“ nennen, sondern nur vorläufige Assoziationen in Bezug auf das Ganze, innerhalb desselben sie

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erst ihre Bedeutung gewinnen, obwohl es sich jeweils um einzelne Unterperioden oder -serien handelt. Schmarsow beharrt auf der Kraft des Rhythmus, statische durch Symmetrie und Proportionalität gewonnene Situationen innerhalb seines unablässigen Stromes zu dynamisieren. Daher wird der Rhythmus als eine höhere Einheit verstanden. Bei der Analyse der eigentümlichen Weise der ornamentalen Kerbschnitzerei bemerkt Schmarsow, dass der Reiz der rhythmischen Wiederholung, einer erfolgreichen manuellen Handlung eine psychologische Grundlage jeder Ornamentik ist. So abstrakt, geometrisch, leblos sie auch scheinen mag, beruht die rhythmische Serie auf organischen Motivationen, d. h. auf dem menschlichen Leibe, der die äußere Natur durch seine innere Organisation beherrscht. Diese mathematischen und geometrischen Linien kann man als mimisch erstarrte Werte begreifen, die unsere Wiederbelebung, letztlich unser einfühlendes re-enactment erwarten. Nicht nur krumme, einfacher organisch einzufühlende Linien, sondern auch gerade Linien können rhythmisch nachgefühlt werden. Die Welle reißt uns sofort mit ihrer Bewegung als eigentlichen Linienrhythmus hin, indem sie sowohl unsere Augen als auch unsere Hände antreibt, ihrem Vorgang nachzufolgen. Aber von einem Linienrhythmus kann man auch bei dem Falle der geometrischen Serie von Kerben sprechen, deren jetzt geometrische und kristallisierte Natur einst Ausdruck von menschlichem Wollen, Tätigkeit, Kraft war. Die Rezeption solcher Reihen ist nie bloß optisch-geometrisch, sie bringt immer eine körperliche, vor allem taktile Innervation mit sich. Das wahrnehmende Subjekt ist gezwungen, die manuelle Geste, die geleistet wurde, um jene Schnitzereien hervorzubringen innerlich zu wiederholen und mimisch vorzutragen. Es handelt sich also um keine reine Form (wie die Formalisten à la Robert Zimmermann30 sie verstanden), sondern immer und unvermeidlich um eine Form, die in ein Resonanzverhältnis mit dem menschlichen Leib und dessen Organisation tritt. Der Linienrhythmus erschöpft aber nicht alle Möglichkeiten der Rhythmisierung Der Helldunkelrhythmus interessiert Oberflächen, die eine verschiedene Lichtintensität zeigen. In diesem Fall sind die rein optischen Wahrnehmungen wesentlich, während im Fall des Linienrhythmus – wie wir gesehen haben – Muskelund vor allem Tastenempfindungen beteiligt sind. Man kann solch einen Rhythmus unter der Bedingung fassen, dass man sich von der Oberfläche genügend entfernt, so dass die tastenden Organe nicht mehr auf den Plan treten und der haptische Sinn von Nähe und Ferne ausschließlich durch optische Eindrücke gewonnen wird. Wir können hier das Beispiel des Weiß/Schwarz Kontrastes erwähnen, der sich nicht auf einen chromatischen Gegensatz beschränkt, sondern eine Resonanz von taktilen Empfindungen erweckt, indem er zugleich wie ein uns Nahekommen des Weißes und ein sich von uns Weggehen des Schwarzes aussieht. Solche Dynamik, die besonders deutlich und augenfällig im Fall des Reliefs ist, verbindet sich mit der plastischen Form im Fall der Helle und mit dem Zwischenraum zwischen den Körpern im Fall des Dunkels. 30

Siehe R. Zimmermann, Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft, Wien 1865, Nachdruck: Hildesheim-Zürich-New York 1972.

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3. RHYTHMUS UND KOMPOSITION Obwohl der Helldunkelrhythmus oft mit der Zweidimensionalität verknüpft ist, steht er an sich nicht mit einer Oberfläche in Zusammenhang, sondern korreliert mit einer das Raumvolumen organisierenden Dynamik. Auch in diesem Fall setzen sich die stabilen Dimensionen der Höhe und der Breite in Bewegung und verwandeln sich in die Tiefe. Das ist die Metamorphose des räumlichen Hintereinanders in ein zeitliches Nacheinander. Maßgebend ist hier der Pendelgang der menschlichen Beine, der allmählich den Weltraum erobert. Aber dies ist das besondere Feld der Kunst, der Raumgestaltung, d. h. der Architektur. Nur im Erlebnis der Dreidimensionalität, nämlich der Tiefe können wir die Bedeutung eines Baus fassen. In solchem Erlebnis treten die Körper aus ihrem bloßen Augenschein heraus und kommen uns in der Tastnähe entgegen. Das ist die psychologische Wurzel der Architektur und das Maß der progressiven Ortsbewegung wird als temporales Erlebnis des Hintereinander der Zeit durch die Schritte des menschlichen Gangs im Innenraum des Gebäudes bestimmt. Die Tiefe ist die echte Dimension der Architektur (Raumgestalterin); deswegen ist es die Tiefe, die uns die reinste Fassung des architektonischen Rhythmus ermöglicht. Immer wenn im Gebäude eine andere Dimension herrscht, wird sich das Architektonische zugunsten nicht architektonischer Künste unterwerfen. Im Fall eines Übergewichts der Höhe wird der Bau zur Skulptur (Körperbildnerin) neigen; im Fall einer Emphase der Breite wird er nach der Malerei (Flächengestalterin) streben.31 In den beiden letzten Fällen ist der Rhythmus nicht das Hauptprinzip der Gestaltung und der menschliche Gang ist nicht das Haupterlebnis. Zehn Jahre nach den Grundbegriffen, im Werk den Kompositionsgesetzen in der Kunst des Mittelalters gewidmet, verbindet Schmarsow den Begriff vom „Gang“ mit den Bewegungen des Atmens und des Herzschlages,32 die die Grundlage einer psychophysiologische Rhythmik von Systole und Diastole bilden. Auf diesen niederen Funktionen beruhen die Entwicklungsmöglichkeiten der oberen, im Kopf gelegenen Sinnesorgane. Schmarsows Hinweis auf den atmender Leib bei dem Rhythmus von Inspiration und Exspiration findet eine bedeutende Entsprechung in den Bemerkungen von Hildebrand und Wölfflin. Der Erste behauptet, dass es in Bezug auf das Verhältnis zwischen Leib und Bild davon abhängt, „ob es einem weit um die Brust wird oder nicht“.33 Der Zweite beruft sich in seiner Dissertation über die Psychologie der Architektur auf die rhythmisierte Respiration: Der Rhythmus des Atmens, den wir bei andren wahrnehmen, überträgt sich am leichtesten auf uns. Einem Erstickenden zuzusehen ist fürchterlich, weil wir die ganze Qual mitempfinden,

31 32 33

Für diese Bezeichnungen der drei Raumkünste siehe den obengenannten Aufsatz: A. Schmarsow (1896). Siehe A. Schmarsow, Kompositionsgesetze in der Kunst des Mittelalters, Leipzig 1915–22, Bd. I, S. 34. A. Hildebrand (1893), S. 56.

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Andrea Pinotti während wir stumpfer bleiben beim Anblick anderen körperlichen Schmerzes. Diese Thatsache ist wichtig, weil gerade der Atem das unmittelbarste Organ des Ausdruckes ist.34

Wölfflin verbindet die Atmung und ihre Transfermöglichkeit mit dem Erlebnis von Innenräumen und deren Breite beziehungsweise Enge: beschränkte Proportionen wirken kurzatmig wie z. B. beim eiligen Gang. Auf diese Weise erfährt man eine wahrhaft atmende Einfühlung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem architektonischen Objekt, die heute als eine Spur der archaisch menschlichen Fakultät von verkörpernder Identifikation bleibt. Solche Hervorhebung der subjektiv physiologischen Vorgänge in ihren intimsten Verhältnissen zu den objektiven Strukturen – von Schmarsow mit Hildebrand und Wölfflin geteilt – betont noch einmal, dass das Phänomen Rhythmus aus einer wesentlichen Korrelation von Subjekt und Objekt besteht. In der Wahrnehmung der räumlichen Artikulation schränkt sich der Betrachter nicht einfach ein, das Rhythmisierte passiv in sich selbst aufzunehmen, sondern er ergänzt aktiv das Gefüge, so dass der eigentliche Sinn des Rhythmus entstehen kann: Der Betrachter selbst, das menschliche Subjekt, mit dem wir immer rechnen, muß die beiden unfertigen Hälften in sich zusammenfügen; er wird zum Träger der letzten Instanz für beide Seiten.35

Weder das Objekt noch das Subjekt dürfen in einer universalistischen Perspektive erforscht werden. Deswegen untersucht hier Schmarsow ausführlich den rhythmischen Gang in seinen verschiedenen Varianten in Zusammenhang mit den Rhythmen unseres Atmens und Herzens im Kontext der Geschichte der Architektur und deren kulturgeschichtlicher Unterschiede Der streng geschlossene Strophenbau ist das entscheidende Merkmal für die Rhythmik des oströmischen Kirchenbaues. Die immer erneute Durchführung der regelmäßigen Reihe dagegen, das Gliederungsprinzip des Langhauses in seinem ursprünglichen Wesen als Wandelbahn, entschied den mannigfaltigen Entwicklungsgang der Rhythmik des Abendlandes, von den Anfängen der romanischen Basilika bis zur gotischen Kathedrale. Und die Auflösung dieses Gestaltungsprinzips, die Abkehr von dem Bewegungsrhythmus als treibende Kraft der ganzen Raumkomposition zur rein optischen Ausbreitung und zur Beruhigung, zum Stillstand der Schau und damit zum Einraum, bedeutet die Wendung zur Renaissance.36

So wirken die verschiedenen Baustrukturen und die innenräumlichen Kompositionen auf uns in Zusammenhang mit unseren körperlichen Funktionen, mit der Gangmotorik, mit der Tätigkeit der Augen und der Hände und der allgemeinen Mimik. Auf diese Weise erfüllt sich durch ein stetiges Umsetzen und Vikariieren von optischen, taktilen, mimischen, motorischen, physiologischen und psychologischen Eindrücken eine wahrhafte leibliche Einfühlung in das Gebäude. 34 35 36

H. Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886, S. 11. Darüber siehe die Doktorarbeit von Schmarsows Schüler H. H. Russack, Der Begriff des Rhythmus bei den deutschen Kunsthistorikern des XIX. Jahrhunderts, Weida in Thüringen 1910, S. 61–65. A. Schmarsow (1915–22), Bd. I, S. 92. Ebd., S. 97. Gegen diesen methodologischen Ansatz hat sich sehr kritisch Oskar Walzel in seiner Wechselseitige Erhellung der Künste (Berlin 1917, S. 11–25) ausgedrückt. Siehe darüber Schmarsows bittere Erwiderung: „Rhythmus in menschlichen Raumgebilden“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), S. 171–187.

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Als erstes Ergebnis von Schmarsows rhythmologischer Lehre als Methode der Architekturgeschichte hatte sein Schüler Wilhelm Pinder schon am Anfang des Jahrhunderts seine Untersuchungen über die zwei rhythmischen Grundrichtungen der normannischen Architektur im elften Jahrhundert veröffentlicht.37 Die größte Herausforderung für eine kunstwissenschaftliche Rhythmologie scheint uns aber, die rhythmische Analyse nicht nur auf die Haupttypen anzuwenden, sondern sie bis zum Niveau der Singularität herunterzubrechen. In dieser Perspektive zeigt der rhythmologische Vorschlag von Henri Maldiney, den wir schon am Anfang dieses Textes erwähnt haben, eine unübertroffene Radikalität. Er beschreibt nicht nur eine typologische Rhythmik der Kunst: „systole du monde“, die ägyptisch heilige Kunst, die archaisch griechische Kunst, die Kunst des Florentiner Quattrocento, die Malerei von Seurat und vom „klassischen“ Cézanne, „diastole de l’instant“: das chinesische Monochrome Song, „systole-diastole“: der Barock, die Malerei von Rubens, die Architektur von Gaudí, der Impressionismus von Ravenna und des 19. Jahrhundert, die Aquarelle von Cézanne.38 Er hat auch eine rhythmologische Deutung jeder einzelnen Sainte Victoire von Cézanne in ihrer Singularität gefördert: Leur texture n’a pas l’unité structurale d’un système ni l’unité de transition d’un cheminement. Leurs éléments fondateurs sont des tensions dont l’unité est celle d’un rythme. […] Un rythme n’a d’autres cordonnées que soi. Il ne se déroule pas en effet dans un espace externe. Il implique son espace et son temps propre.39

Ein eigenes Zeit-Raum Verhältnis: also eigener Rhythmus, der hier zum Symbol eines singulären Daseins, einer wesentlichen Ausnahme wird.

37

38 39

Vgl. W. Pinder, Einleitende Voruntersuchung zu einer Rhythmik romanischer Innenräume, Straßburg 1904. Siehe auch Zur Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie. Weitere Untersuchungen, Straßburg 1905. Über Schmarsow und seine Schule siehe die Doktorarbeit seines Schülers Willy Drost, Die Lehre vom Rhythmus in der heutigen Ästhetik der bildenden Künste, Leipzig-Gautzsch 1919, S. 55–97. Für diese Gliederung siehe den schon zitierten Aufsatz: H. Maldiney (1967). H. Maldiney, „Cézanne et Sainte-Victoire. Peinture et vérité“ (1990), in: L’art, l’éclair de l’être, Seyssel-sur-Rhône 1993, S. 42–43.

DER INNERE WILDE (THE SAVAGE WITHIN) RHYTHMUS, TANZ UND KULTUR IM EUROPÄISCHEN PRIMITIVISMUS UM 1900 Francesco Ronzon Je suis un Homme qui ne danse pas. (Paul Valéry) Ich glaube, ich muß etwas für Nijinsky machen, den russischen Tänzer […] Ein Gedicht, das sich sozusagen verschlucken läßt und dann tanzen. (R. M. Rilke)

EINLEITUNG Josephine Baker wurde 1906 in einem Slum in St. Louis-USA geboren. Nach einer Phase als Tänzerin und Chorsängerin in New York kommt sie 1925 mit der Revue Nègre nach Paris. 1926 tritt sie im Folies Bergère mit nackter Brust auf, nur mit einem Bananenrock bekleidet. Der Rhythmus, die Haltungen und die Gesichtsausdrücke ihrer Tänze rufen beim französischen Publikum die exotischen, ungezügelten und sinnlichen Bilder hervor, die üblicherweise mit dem nationalen Kolonialreich verbunden wurden. Ein Journalist bemerkte: „Sie ist so natürlich, sie bewegt sich wie ein Tier“. Auf ähnliche Weise äußerte sich der Dichter E. E. Cummings in einem ihr gewidmeten Artikel in der Vanity Fair, in dem er bemerkte: „Wenn wir die Aufführungen von Baker sehen, fällt uns der Dschungel ein.“1 Es handelt sich um eines der bekanntesten und berühmtesten Beispiele der primitivistischen Ideologie und Sensibilität, die in der westlichen Welt Anfang des 20. Jahrhunderts stark verbreitet war. Unter Primitivismus versteht man die kollektive kulturelle Vorstellungswelt, die an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa, Russland und Amerika bezüglich der sogenannten „primitiven“ Eingeborenen, den außereuropäischen Bevölkerungen, die in Stämmen lebten, entstand. Dieses Thema hat stets eine gewisse Prägnanz im Rahmen der anthropologischen Forschung gehabt. In den letzten zwanzig Jahren hat die Kulturanthropologie nach dem Vorbild Hayden Whites, Michel Foucaults und Tzvetan Todorovs oft die Legitimi1

W. Martin, „Remembering the Jungle. Josephine Baker and Modernist Parody“, in: E. Barkan, R. Bush (Hgg.), Prehistories of the Future. The Primitivist Project and the Culture of Modernism, Stanford 1995, S. 310–325.

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tät, in der die kulturelle Alterität in den Medien und in den abendländischen Diskursen beschrieben wurde, tiefgründig analysiert und hinterfragt.2 Ich werde mich im Folgenden auf die Rolle des Rhythmus als kulturelle Trope in dieser primitivistischen Vorstellungswelt konzentrieren. Zur Veranschaulichung des Themas werde ich in meinem Beitrag drei Fälle aus dem Bereich des Tanzes aus der Zeit der Jahrhundertwende genauer untersuchen. Da der Tanz eine öffentliche Aufführung ist, in der sich der Rhythmus explizit zeigt und durch die Körper der Tänzer sichtbar wird, ist er eines der besten Mittel, um die Verbindung zwischen Rhythmus, Kultur und Primitivismus aufzuzeigen. 1. PRIMITIVISMUS Der Begriff des Primitivismus erschien zum ersten Mal in einem französischem Wörterbuch, dem Nouvelle Larousse Illustré, das zwischen 1897 und 1904 veröffentlicht wurde. Darin wurde er schlicht als „Imitation der Primitiven“ definiert, ohne dessen Gehalt näher zu bestimmen.3 Das Wort „primitiv“ wurde anfänglich benutzt, um die italienischen und flämischen Künstler des 14. und 15. Jahrhunderts zu bezeichnen. In der Folge wurde die Bezeichnung auch auf die Künstler der romanischen und byzantinischen Epoche übertragen. Nur später, mit der Entwicklung des Kolonialismus, umfasste der Begriff auch alle nicht-europäischen Kulturen, d. h. die indischen, amerikanischen, präkolumbischen und die asiatischen, afrikanischen und ozeanischen. Zwischen 1815 und 1915 dehnten England, Frankreich, Amerika und in geringerem Maße andere europäische Nationen (einschließlich Russland) ihre politische und wirtschaftliche Macht auf andere Regionen der Welt aus; ihre Machtsphäre stieg von 35 % zu 85 % der Erdoberfläche.4 Aus den Kolonien kamen nicht nur Rohstoffe, Zuchttiere und Landwirtschaftsprodukte, sondern auch Geschichten, Artefakte und Handwerksgegenstände jeder Art nach Europa.5 Diese wurden zunächst mit Misstrauen und bald darauf mit Neugierde und wachsendem Interesse betrachtet. Für sie wurden spezialisierte Galerien eröffnet, die Museen widmeten ihnen eigene Säle, es wurden immer größere Ausstellungen organisiert und die Zahl der Sammler wuchs von Jahr zu Jahr. 1855 wurde in Paris das Musée Permanent des Colonies eröffnet, das Kunstwerke Asiens und der Ureinwohner Amerikas, Afrikas und Ozeaniens ausstellte. 1865 schenkte Henry Christy seine Sammlung primitiver Gegenstände dem British Museum in London. 1878 eröffnete das ethnographische Museum von Paris eine der afrikanischen Kunst gewidmete Abteilung. Die ersten Kunsthistoriker, die den Begriff „primitiv“ verwendeten, benutzten ihn mit einer negativen Konnotation als Synonym für grob und 2 3 4 5

Vgl. J. Clifford, G. E. Marcus, Writing Culture. Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley 1986; J. Clifford, The Predicament of Culture, Harvard 1988; M. Manganaro, Modernist Anthropology. From Fieldwork to Text, Princeton 1990. Vgl. M. Torgovnick, Gone Primitive. Savage Intellects, Modern Lives, Chicago 1990, S.19 f. Vgl. D. K. Fieldhouse, Gli Imperi coloniali del XVIII Secolo, Milano 1967. Vgl. G. W. Stocking (Hrsg.), Objects and Others. Essays on Museums and Material Culture, Madison 1985.

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ohne Geschmack. Allmählich wurden diese Funde auch von Intellektuellen und jungen Künstlern der Avantgarde entdeckt und studiert, die, überdrüssig der Lehren der klassischen Akademien, auf der Suche nach neuen ästhetischen und kulturellen Modellen waren.6 Sie imitierten die primitive Kunst und verfolgten mit ihr das Ziel, die abendländische Ästhetik zu ihrer Kindheit, Spontaneität und Expressivität zurückzuführen. Zu den Hauptvertretern des Primitivismus zählen Künstler wie Paul Klee, Pablo Picasso, Paul Gauguin, und Wassily Kandinsky und künstlerische Bewegungen wie Dada, Kubismus, Futurismus, Surrealismus und Post-Impressionismus. In einem weiteren philosophischen Sinne kreiste ihr ästhetisches und politisches Programm um den Gedanken, dass der moderne Mensch einen perfekten Lebenszustand nur dann erreichen kann, wenn er zu seinem vergessenen Ursprung zurückkehrt; er soll also die Lebensart der außereuropäischen zeitgenössischen Bevölkerungen nachempfinden, die als Überbleibsel der ersten Epochen der Menschheitsgeschichte betrachtet werden. In den Augen dieser Künstler und Intellektuellen der Bohème leben diese Bevölkerungen in enger Beziehung zur Umwelt, der Magie und der Natur und geben ihren Instinkten und Trieben freien Ausdruck, losgelöst von den Zwängen der sogenannten Zivilisation. 2. RHYTHMUS, KÖRPER UND TRIEBE Der Rhythmus ist einer der zentralen Tropen in der Erfindung und Konstruktion des „Primitiven“ an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. 1902 verwendete Erich von Hornbostel, einer der Pioniere der Musikethnologie Afrikas, die Trommel als Leitinstrument und setzte dabei den „motorischen Akzent“ und den „metronymischen Sinn“ als eine Haupteigenschaft des puren afrikanischen Instinkts fest, der seines Erachtens die Grundlage der gesamten schwarzafrikanischen Kultur bildete. Der „Neger“ hätte also den Rhythmus „im Blut“ als einheitlichen, ungeteilten und natürlichen Teil des eigenen emotionalen, prälogischen und triebhaften Verhaltens.7 Wie aus diesen Bemerkungen hervorgeht, spielt in der Vorstellungswelt jener Zeit die vermeintlich natürliche und spontane Verbindung zwischen Rhythmus, Körper und Bewegung in den außereuropäischen Kulturen eine wichtige Rolle. Es handelt sich um eine Triade, die dem Tierreich sehr nahesteht und die auf soziale Kategorien übertragen wird, die – zumindest teilweise – dessen irrationale Veranlagung und emotional-triebhafte Sensibilität besitzen: die Kinder, die Frauen, die Geisteskranken und vor allem die Kulturen, die als primitiv eingestuft werden. In der ersten Hälfte Teil des 20. Jahrhunderts waren die prägendsten Eigenschaften der Menschen mit der Vernunft, dem Wort und der Kontrolle verbunden. Auch wenn die Werke von Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche bereits Zweifel an den Wurzeln und den Trieben des menschlichen Geistes erweckt haben, sind Aspekte wie 6 7

Vgl. M. G. Messina, Le Muse d’oltremare. Esotismo e primitivismo dell’arte contemporanea, Torino 1993. Vgl. C. Waterman, „Lo sviluppo ineguale dell’etnomusicologia in Africa“, in: T. Magrini (Hrsg.), Uomini e Suoni. Prospettive antropologiche nella ricerca musicale, Bologna 1995, S. 329–331.

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Sinne, Körper, Körperlichkeit und Emotionen den Diskursen und den Darstellungen der westlichen Identitätsbildung noch fremd.8 Diese Ideologie ist auch im Tanz und in der klassischen Musik jener Jahre dominant. 1933 nahm Curt Sachs, einer der ersten Musikologen, der sich systematisch mit außereuropäischen Tänzen und Musik auseinandersetzte, an, dass auch im Bereich der Rhythmen, der Tänze und der Musik eine Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, vom Primitiven zur Zivilisation stattfinde. Diese Entwicklung beginne mit den rhythmischen Instinkten und den stereotypen Bewegungen im Tierreich, entwickle sich zu den triebhaften Rhythmen und den wilden Tänzen der primitiven Bevölkerungen und ende mit der Zähmung des Rhythmus und der gebildeten und gesitteten Bewegung der abendländischen Tanzformen.9 Unter diesen Prämissen erscheint es nicht als Zufall, dass die Körperlichkeit und der rhythmische Pulsschlag marginale Parameter in den Tanz- und Musikkünsten zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert waren. Die offizielle Musik vermied die markanten Rhythmen, konzentrierte sich auf das Zusammenspiel von Melodie und Harmonie und verwendete keine Schlaginstrumente.10 Auf ähnliche Weise versuchte das klassische Ballet den Rhythmus, den Körper und das „Diesseits“ der Tänzerinnen zu verbergen, indem es die Bewegungen der Tänzer wie ein Ganzes aus abstrakten und körperlosen Wellen organisierte, die mit Leichtigkeit nach oben geschwungen wurden, um die vulgären Grenzen des realen Körpers zu transzendieren.11 In diesem kulturellen Kontext stellte die Verbindung von Rhythmus, Tanz und Körper eine der revolutionären Methoden dar, die von den „primitivistischen“ Künstlern eingesetzt wurde. Sie stellten damit den Status quo der Künste und Kultur in Frage und brachten ihn zum Umsturz. 2.1. Archaismen Als eines der ersten Beispiele der primitivistischen Vorstellungswelt können die Texte und die Tänze von Isadora Duncan (1878–1927) dienen, die eine Pionierin des modernen Tanzes und speziell der free dance ist. Duncans Karriere beginnt Ende des Jahres 1890 in Amerika. Von der Reaktion des amerikanischen Publikums entmutigt, verlässt sie 1899 die Vereinigten Staaten und zieht nach Europa, wo sie wichtige internationale Anerkennungen in Paris, Berlin, Budapest, Stockholm und St. Petersburg erhält. Duncans Position ist insofern besonders interessant, als sie eine seltene, moderierte und gewissermaßen soft-Version der primitivistischen Ideologie verkörpert. Die kulturelle Alterität, die Isadora Duncan aufzeigt, um ihre Alternative zur zeitgenössischen Welt und zur Kunst des klassischen Ballets zu bieten, ist das antike Griechenland. Die Rhythmen, die durch die Tänze der griechischen Welt erlebt werden, stellen ein Leitmodell dar, das eine neue Kunst und ein 8 9 10 11

Vgl. D. Howes (Hrsg.), The Varieties of Sensory Experience, Toronto 1991. Vgl. C. Sachs, Storia della danza, Milano 1966. Vgl. M. E. Bonds, A History of Music in Western Culture, Upper Saddle River 2003, S. 204 f. Vgl. L. M. Vincent, Competing with the Sylph: Dancers and the Pursuit of the Ideal Body, New York 1981.

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neues Verhältnis zum eigenen Körper einzuführt. Der Bezug zur hellenischen Welt war so weitreichend, dass er in kurzer Zeit durch den ständigen Gebrauch der neoklassischen Tuniken als exzentrisches Repräsentationsgewand mit ihrem öffentlichen Image gleichgesetzt wird. Für Isadora Duncan stellt Griechenland einen idealen Topos dar, um die Normen der Kunst, des Tanzes, des Körpers, des Genders, der Schönheit der Bewegung vom Jahrhundertanfang zu kritisieren, ohne dabei den elitären Status des Tanzes in der Kultur der gehobenen Schichten aufgeben zu müssen. Mit dem Hintergedanken, das klassische Ballet von seiner hegemonischen Position zu verdrängen, setzt Duncan auf das naheliegende Griechenland, durch das sie dem Publikum beschwichtigend zeigen kann, dass die „neue Kunst“ sowohl Elemente der Gegenwart als der Vergangenheit besitzt. Trotz der klassizistischen Bezüge vermengen sich die Reflexionen Isadora Duncans oftmals mit der Idee des „Primitiven“. Das von Duncan vermittelte Bild Griechenlands beschränkt sich nicht auf die Schönheit nach dem klassizistischen Kanon, sondern integriert auch andere und weniger „beruhigende“ Elemente, die auf der Hypothese eines archaischen und primitiven Griechenlands beruhen.12 Diesbezüglich spielt das Denken Nietzsches, das damals in den künstlerischen und intellektuellen Kreisen sehr populär war, besonders aufgrund seiner Schrift zum Ursprung der Tragödie, eine entscheidende Rolle. Duncan selbst hält in der Autobiographie fest, dass nur Jean Jacques Rousseau (Emile), Walt Whitman und Nietzsche für sie als Vorbilder in Frage kamen.13 Wie aus dieser Anmerkung hervorgeht, ist der Primitive, auf den Duncan sich bezieht, nicht derjenige, der von den Sozialwissenschaften empirisch eruiert wurde, sondern ein Konstrukt, das von der spekulativen Philosophie jener Epoche gebildet worden war. Insbesondere vereint die Version Isadora Duncans den unheimlichen Aspekt, der von Nietzsche ersinnt wurde, mit dem heiteren Aspekt, der mit der Idee des „edlen Wilden“ und der Unschuld des Naturzustands verbunden ist. Da Duncan außerdem keine wirkliche Kennerin Nietzsches ist, erweisen sich ihre Bezüge oft als sehr begrenzte fragmentarische Extrapolationen. Wenngleich sie sich eine Zeitlang dem Studium der hellenischen Artefakte und der Geschichte hingibt, wird ihr Griechenland immer eher künstlerisch als empirisch, eher getanzt als analysiert sein. In dieser primitivistischen Neuerfindung des archaischen Griechenlands hat das Thema der Ekstase eine zentrale Rolle inne und erlaubt Duncan somit eine Ästhetik des Rhythmus zu artikulieren, die sowohl einen befreienden als auch reaktionären Einfluss auf die künstlerische Ideologie des Tanzes Anfang des 20. Jahrhunderts haben wird. Die Rhetorik der Ekstase von Isadora Duncan stellt natürlich einen Bezug zum dionysischen Ethos Nietzsches her, aber auf bizarre und partielle Weise. Anfänglich scheint ihre Perspektive dem Diktat Nietzsches zu folgen, indem sie den Rhythmus und den Tanz als eine bacchische Erfahrung identifiziert, welche 12 13

Vgl. E. Barkan, „Victorian Promisquity. Greek Ethics and Primitive Exemplars“, in: R. Barkan, E. Bush (Hgg.), Prehistories of the Future. The Primitivist Project and the Culture of Modernism., Stanford 1995, S. 56–92. Vgl. I. Duncan, My Life, New York 1955, S. 80.

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die abendländische Teilung von Geist und Körper überwindet: „body and soul have grown so harmoniously together that the natural language of that soul will have became the movement of the body.“14 Für Nietzsche ist die dionysische Ekstase frei, triebhaft und verwandlungsfähig und deshalb potentiell blind, obskur und normverletzend. Die ekstatische Bewegung kann sich aus einem inneren Impuls entwickeln und nach außen gerichtet sein oder als eine äußere Kraft bestehen, die sich ins Innere projiziert. In beiden Fällen impliziert sie eine Selbstvergessenheit, einen Verlust an Selbstkontrolle, einen primitiven Zustand. Wenn es darum geht, den Inhalt dieser Ekstase zu ermitteln, entfernt sich Duncan von ihrer Inspirationsquelle. Für sie kann der Tanz zwar frei und natürlich sein, bleibt aber immer eurhythmisch. Isadora Duncan versucht zu vermitteln und einen Schnittpunkt zwischen dem dionysischen Ethos der Vitalität, der freien und triebhaften Bewegung und dem apollinischen Ideal der harmonischen Formen und der klaren körperlichen Schönheit zu finden. Diese unstabile begriffliche Vereinigung findet in einem intellektuellen Rahmen statt, der von der Ideologie des „Natürlichen“ geprägt ist, wie dieser Begriff in der damals sehr verbreiteten Vulgata des Darwinismus aufgefasst wurde. Der Bezug zur Natürlichkeit des Körpers in pseudo-darwinistischem Sinn verfolgt insbesondere zwei Ziele. Erstens kann Duncan durch die Idee, dass es einen natürlichen Körper gibt, auch die gewöhnlichen Körperbewegungen in den Rang der Kunst erheben und verfügt somit über ein Argument zugunsten „the return to the original strength and to natural movements of women’s body.“15 Zweitens hilft die Idee eines natürlichen Körperrhythmus das erhoffte „Zurück nach Griechenland“ zu legitimieren. In ihrer Verschlingung von Apollinischem und Dionysischem hätten die Griechen laut Duncan einen „evolvierten“ Primitiven abgebildet, der emotionelle Freiheit und formale Kontrolle, körperliche Spontaneität und intellektuelles Bewusstsein in sich vereint: The movements of the savage, who lived in freedom in constant touch with nature were unrestricted, natural and beautiful. Only the movements of the naked body can be perfectly natural. Man, arrived at the end of civilization, will have to return to nakedness of the savage, but to the conscious and acknowledged nakedness of the mature Man, whose body will be the harmonious expression of his spiritual being.16

Auf diese Weise ermöglichen die alten Griechen Duncan, dem spätviktorianischen Publikum einen „gezähmten“, akzeptablen und erträglichen Wilden. Was von Duncan als „natürlich“ im Sinne von frei, spontan, dionysisch etikettiert wird, ist gleichzeitig auch beautiful im apollinischen und klassizistischen Sinn: Es drückt also „perfekte Harmonie“, „Form und Symmetrie“, „Kraft und Gesundheit“ aus. Obschon sie ein Oxymoron enthält, wird Duncans These ohne kritischen Hintergedanken ausgedrückt. Die amerikanische Tänzerin ist sich bewusst, dass das, was sie vorbringt, nicht dem Tanz im antiken Griechenland entspricht und dass die aktuelle Gesellschaft keine Form von rituellem Tanz kennt. Ihr Ziel ist es nicht, die Tänze der primitiven Stämme neu zu beleben, sondern eine intime evolutionäre 14 15 16

I. Duncan, The Dance of the Future, Leipzig 1903, S. 14. Ebd. S. 16. Ebd. S. 23.

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Verbindung zwischen dem Tanz, der Teil der hohen Kultur einer Gesellschaft ist, und der rhythmisch-körperlichen Welt, die im alten Griechenland erforscht wurde. Daran anknüpfend ist es interessant zu bemerken, wie der soziale Einfluss und die politischen Konnotationen dieser ekstatisch-naturalistischen Position zweideutig sind und sich im Laufe der Zeit verändern. Einerseits unterstützen die Ideen Duncans die Ideologie der körperlichen Fitness, die sich in jenen Jahren in den USA profilierte. Auch wenn sie darauf zielten, den weiblichen Körper von den spätviktorianischen Zwängen zu befreien, führten ihre Thesen auch eine Diskussion über eine neue weibliche „natürliche“ Identität ein, die nicht weniger beengend und klischeehaft als die vorangehende war. Andererseits knüpft sich in diesen Jahren die Beschwörung von Kulten, Ekstasen und archaischen Riten an die epochale Sensibilität, die von der Rolle der Massen zugleich angezogen und verängstigt ist. Obwohl sich die amerikanische Tänzerin nie direkt und explizit zu den faschistischen und nazistischen Ideologien äußern musste, ist diese Vorstellungswelt äußerst kompatibel mit der faschistischen und nazistischen Liturgie der Mythen, Symbole und Feiern des „Volkes“. Nicht zufällig entwickelte sich in den letzten Jahren ihres Lebens der Drang, den Körper von den Ketten der Mode und der Moral der Jahrhundertwende zu befreien, zu einer explizit rassistischen und nationalistischen Position. Anfänglich erschien der von Duncan theoretisierte Tänzer aufgrund der Universalität seiner natürlichen und primitiven Kondition als heimatlos. Sie drückte dies wie folgt aus: „Der Tänzer wird nicht einer Nation angehören, sondern der ganzen Menschheit.“17 In ihren 1927, einem Jahr vor ihrem Tode, niedergeschriebenen Memoiren, orientiert sich der Pseudo-Biologismus, der die Grundlage ihrer Theorie bildet, in Richtung eines ziemlich offenen Rassismus. Laut Duncan gebe es zwei Typen von Tanz, die in einer strengen evolutionären Hierarchie stehen: einen „weißen“ modernen Tanz und einen „schwarzen“ Ur-Tanz, der vom Jazz inspiriert ist und für die Afroamerikaner typisch ist. Laut Duncan drücken die Jazzrhythmen den „primitiven Wilden“ dessen Tanz sich durch „plumpe affenartige Zuckungen“ charakterisiert.18 Im Laufe der Zeit zeigte der höfliche Primitivismus der Anfänge seine moderate, konservative Seite. Tief in seinem Inneren verbarg der obskure und primitive Dionysos einen heiteren und beruhigenden Apollo, der europäisch und zivilisiert war. 2.2. Urzeit der Zukunft Der Gebrauch des Rhythmus, des Tanzes und des Körpers als primitivistische Waffen im rhetorischen Kampf gegen die ästhetischen Werte des Abendlandes war hingegen eine starke Komponente in der Erfahrung der Dadaisten in Zürich. Auch wenn es nicht immer im geeigneten Ausmaß anerkannt wurde, übte die Dada-Bewegung einen starken Einfluss auf den Tanz des 20. Jahrhunderts aus, indem sie 17 18

Ebd. S. 25. Vgl. I. Duncan (1955), S. 342.

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einem sich rasch wandelnden künstlerischen Milieu neue Möglichkeiten eröffnete.19 Die den Performances der Dadaisten zugrunde liegenden Ideen wurden inspiriert durch vorangehende Bewegungen, insbesondere durch Kubismus, Futurismus und Expressionismus. In dem Moment, in dem sich die Teilnehmer dieser Bewegung während des ersten Weltkriegs in Zürich trafen, hatten sie nur den Willen gemeinsam, die traditionellen Formen des Ausdrucks zu zerstören und eine neue Gesellschaft auf neuen Kunstformen aufzubauen. Die nicht besonders homogene künstlerische Leitlinie war vor allem von Jean Arp, Hugo Ball, Tristan Tzara, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Sophie Taeuber erarbeitet worden.20 Ein Teil der Gruppe war an der Verherrlichung der Vitalität und der Kreativität als Element der Unmittelbarkeit, des Primitivismus und des Irrationalen interessiert. Dieser Aspekt wurde vor allem in Performances von lyrischen Texten hervorgehoben, die von spontanen Bewegungen, Masken, Zauberformeln und Perkussionen begleitet wurden. Ein anderer Teil der Gruppe war eher auf der Suche nach abstrakten Urstrukturen. Auch in diesem Fall stand das Primitive und Irrationale im Mittelpunkt, aber es handelte sich um formale Aspekte, die aus archetypischen Patterns und abstrakten Visualisierungen bestanden; gesucht wurde „die abstrakte Grundlinie, so wie sie erscheint ohne jegliche weitere Komplexität.“21 Auf analoge Weise wurde auch der Tanz im Umfeld des Dada von Zürich an der Galerie Dada und am Cabaret Voltaire praktiziert, wobei das Augenmerk auf zwei Aspekte gerichtet war. Einer kreiste um die Erforschung durch die Verwendung von Lauten, Worten und Masken, während sich der andere auf die Erkundung von formalen Ideen über die Bewegung fokussierte. Die Performances und Choreographien wurden von zwei Frauen ausgearbeitet, Sophie Taeuber und Claire Walter, die unter der Leitung von Rudolf Laban studierten, dem bekannten Choreographen und Erforscher der Bewegung, der 1915 in Zürich eine Schule gegründet hatte.22 Die umfangreichste Beschreibung einer Dada-Choreographie befindet sich im Tagebuch Hugo Balls, in dem er das Programm beschreibt, mit dem am 29. März 1917 die Galerie Dada eröffnet wurde: Abstrakte Tänze: Ein Gongschlag genügt, um den Körper der Tänzerin zu den phantastischsten Gebilden anzuregen. Der Tanz ist Selbstzweck geworden. Das Nervensystem erschöpft alle Schwingungen des Tanzes, vielleicht auch alle verborgene Emotion des Gongschlägers und lässt sie Bild werden. In diesem besonderen Falle genügte eine poetische Lautfolge, damit jeder der einzelnen Wortpartikeln die sonderbarste, sichtbare Wirkung auf dem gelenkigen Körper der Tänzer hervorruft. Aus einem ‹Gesang der Flugfische und Seepferdchen› wurde ein Tanz voller Spitzen und Gräten, voll flirrender Sonne und von schneidender Schärfe.23

Der Rhythmus und der Tanz sind für die Vertreter des Dada typische Elemente, um die Ursprünge, die Triebe und die außereuropäischen Formen zu betonen. Die Dadaisten stellten sich die außereuropäischen Völker als Gemeinschaften vor, die di19 20 21 22 23

Vgl. N. Reynolds, M. McCormick, No Fixed Points. Dance in the Twentieth Century, New Haven 2003, S. 227 f. Vgl. L. Lippard, Dadas on Art, New Jersey 1971. H. Richter, Dada. Art and Anti-Art, New York 1965, S. 46. Vgl. C. Lanchner (Hrsg.), Sophie Taeuber-Arp, New York 1981. H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, Zürich 1992, S. 149.

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rekt mit den Zauberkräften der Natur und des Universums verbunden waren. Die Rhythmen, die Tänze und die Zauberformeln dieser Völker wurden deshalb als einzigartiges Mittel empfunden, um die geistige Natur der Welt zu verstehen und somit die natürliche Welt und die dekadente abendländische Kultur zu vereinen.24 Wie schon angedeutet, ist die Idee, die außereuropäischen Bevölkerungen zum Vorbild zu nehmen, um eine neue soziale Ordnung zu elaborieren und eine kulturelle Revolution zu fördern, kein origineller oder neuer Einfall von Dada. Die Art und Weise aber, in der die Dadaisten die Laute, die Bewegungen und die Masken vermengten, gab diesem Themenfeld eine neue Erscheinungsform. In diesem Fall wurde der Primitive ein Element des Wandels sowohl des Künstlers als auch des Publikums. Auch wenn sie den Futuristen in ihrer Verwerfung der Techniken und der traditionellen theatralischen Performances ähnelten, hoben die Dadaisten von Zürich die Verbindung von Magie und Bewegung stärker hervor. Das erste Event, das am Cabaret Voltaire explizit dem Thema des „Wilden“ gewidmet war, fand am 9. März 1916 statt; bei dieser Gelegenheit las Huelsenbeck mit einem Stock in der Hand, von einer Trommel begleitet und unter Schreien, Pfiffen und Gelächtern des Publikums. Natürlich gab es viele andere Experimente mit Rhythmus, Tanz und Performances: Etwa die bekannte rhythmische Lyrik I Zimbra von Hugo Ball, die in einer erfundenen afrikanischen Sprache geschrieben war, die rhythmischen Simultanlektüren von Gedichten von Marcel Janco, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck, der Einsatz verschiedener Masken von Janco für die soirée der Galerie Dada des 14. April 1917, bei der auch fünf Tänzerinnen von Laban auftraten, die ein „Frühlingskleid“ mit langen Kaftanen trugen. Die Annäherung zwischen Dada und Laban ist in Bezug auf den Primitivismus nicht zufällig. Auch Laban war lange Zeit an den außereuropäischen Rhythmen und Tänzen interessiert gewesen. Schon 1890 konnte er die Tänze der Derwischen beobachten und war von ihrer tiefen Bedeutung berührt. „Man kann aber einen solchen tollen Antrieb zur Bewegung hin und wieder selbst fühlen, im Kampf, in der Gefahr, im Rausch, im Affekt.“25 Dieses Interesse ging früh mit der Faszination für die Magie einher, die im Tanz der „archaischen“ Gesellschaften vermutet wurde, und mit dem Versuch, durch den Tanz außerordentliche Kräfte zu erlangen. Sein Kommentar von 1921 über sein Werk Die Geblendeten ist wichtig, wenn man es in Hinblick auf die parallelen Entwicklungen von Dada betrachtet: Geblendet von der Vision des inneren Lebens, versuchte ich, die im Menschen wirkenden Kräfte zu fassbaren Gestalten zu formen. Im Widerstreit der Einzelseele mit der Massenseele fand ich den Inhalt meiner neuen Tanzspiele. Das aufleuchtende und verdämmernde Geflatter dieser Gestalten blendete mich wie die scharfen Irrlichter in der Nacht. Das Spektakel des dunklen Reiches der inneren Gewalten, des Spiels der Kräfte, die unser Leben so stark gestalten, schien mir ebenso lebensvoll wie die Schilderung der äußeren Natur. […] Die große Linie des Stückes ist nicht schwer zu schildern. Einzelgestalten, die einander Freund sind, verbinden sich zu einer blendenden Scheineinheit. Ein vielarmiger Götze entsteht. Er fällt aber immer

24 25

Vgl. R. Motherwell, The Dada Painters and Poets. An Anthology, New York 1967, S. 176. R. von Laban, Ein Leben für den Tanz / Rudolf von Laban. Faksimiledruck der Ausgabe von 1935, hrsg. und kommentiert von C. Perrottet, Bern / Stuttgart, 1989, S. 69.

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Francesco Ronzon wieder auseinander in seine gewalttätigen, dienenden, träumenden, suchenden, rasenden und erstarrenden Einzelkräfte.26

Wie man feststellen kann, ist die archaische und triebhafte Rolle des Rhythmus und seines choreographischen Ausdrucks sehr tiefgreifend in der primitivistischen Vorstellungswelt von Zürich. Es ist kein Zufall, dass Laban und die Dadaisten von der Trommel als primäres Symbol der primitiven Kulturen und von ihren magisch-rituellen Elementen fasziniert waren und extensiv damit experimentiert haben. Der Dadaist Huelsenbeck war beispielsweise für seine Performances mit der Trommel bekannt, durch die er die magischen Kräfte im Unterbewusstsein seines Publikums bannen wollte; seine Autobiographie ist deshalb in der englischen Version Memoirs of a Dada drummer betitelt worden. Ähnlicher Ansicht war auch Laben, der die Lektüre eines Buches über die Botschaften mittels mexikanischer Trommeln als ein wichtiges Mittel beschrieb, um den künstlerischen und geistigen Charakter der primitiven Musik zu verstehen. Er dachte, dass die Trommelsprache nicht phonetisch sei, sondern „hörbar gemachte Rhythmen seines [des Primitiven] Körpers.“27 Im Vergleich zum soft-und neo-konservativen Primitivismus von Isadora Duncan verfolgt die von den Dadaisten theoretisierte Beziehung zwischen Rhythmus, Tanz und Körper die explizite Intention, die bürgerlichen Werte des letzten Jahrhunderts zu verletzen und zu überholen. 2.3. Modernismus und Heidentum Zu jener Zeit bildeten die Dadaisten zwar eine wichtige künstlerische Nische, befanden sich aber am Rande der offiziellen Kunst. Ein analoges Interesse gegenüber der Triade von Rhythmus, Körper und Primitivismus war auch in der offizielleren Welt des modernistischen Balletts zu erkennen. Ein berühmtes Beispiel ist das des Tänzers Nijinsky für Le Sacre du Printemps von Igor Stravinsky im Rahmen des Russischen Balletts, dessen Impresario Sergei Djagilew war.28 Das Thema des Werks greift auf die antike heidnische slawische Welt mit ihren Opfergaben in den Fruchtbarkeitskulten zurück. Das Werk besteht insbesondere aus zwei Szenen: die Anbetung der Erde und die Opfergabe der Jungfrau. Stravinsky selbst vermerkt: „I had imagined a solemn pagan rite: sage elders, seated in a circle, watched a young girl dance herself to death. They were sacrificing her to appease the God of Spring.“29 Die Musik macht von rhythmischen Ideen, Melodien und Harmonien Gebrauch, die zum Teil der folkloristischen Tradition entnommen sind, aber ohne die stilistische Aufmachung, die von den Zeitgenossen verwendet wird, die sich dem abendländischen Geschmack anpassen wollen (so z. B. der Hispanismus von Manuel De Falla). Das Musikstück beginnt mit stark rhythmischen Strukturen, die von asymmetrischen Akzenten und beweglichen Konfigurationen gebildet sind. Die 26 27 28 29

Ebd. S. 121. Ebd. S. 112. Vgl. L. Garafola, „The Making of Ballet Modernism“, Dance Research Journal 20/2 (1989), S. 23–32. I. Stravinsky, R. Craft, Expositions and Developments, Berkeley 1981, S. 173.

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Akkorde und die Melodien scheinen als statische Elemente in Fragmenten eingeklemmt zu sein, während die rhythmisch-strukturellen Ideen als geschichtete Blöcke auftreten. So synthetisiert es Salzman: Le Sacre is a work that takes shape, not through the extension of line and counterpoint, but through the juxtaposition of static levels of sound and statement, dividing and punctuating psychological time with rhythm and accent, statement and articulation.30

Der Rhythmus ist das wichtigste Darstellungsmittel des primitiven Charakters des rituellen Ereignisses. Der lautliche Zusammenprall und die ständigen, flüchtigen Explosionen der rhythmisch-musikalischen Energie verwischen jegliche schöne Form und den Sinn für Bewegung. Der Rhythmus ist metronymisch, aber die Maße und die Gruppierungen wechseln immerzu, indem sie ein dumpfes und monolithisches Pulsieren erzeugen, das der Idee, die man damals über die Stammesrituale hatte, eng verwandt war. Der Höhepunkt der primitivistischen Erfahrung, die mit dem Sacre verbunden war, wurde 1913 erreicht, als der succès de scandale der Premiere stattfand. Laut Augenzeugen lehnte sich das Publikum gegen die „perverse“ Choreographie von Nijinsky auf, die den herkömmlichen Tanz und die Musik zerstören wollte. So antwortet der bekannte Choreograph und Tänzer im Daily Mail des 12. Juli 1913: Ich bin wegen Verbrechens gegen die Grazie angeklagt. Ich glaube „graziös“ in Balletten von anderen tanzen zu können, falls die Grazie gefragt ist und selbst graziöse Ballette erstellen zu können. Tatsächlich verabscheue ich die konventionelle Poesie der „Nachtigall und der Rose“. Meine Neigungen sind primitiv. Ich esse die Eier ohne die sauce Béarnaise. Es hat auch schon Kunst- und Skulpturschulen gegeben, die sich so veredelt haben, dass es am Ende keinen Ausdruck mehr gab, sondern nur mehr Banalität; danach gab es aber eine Rebellion. Wahrscheinlich hat sich etwas Ähnliches in der Tanzszene zugetragen.31

Die originelle Fassung sah 46 Tänzer vor, von denen viele eine doppelte Rolle spielten. Jede Gruppe arbeitete außerdem als eine autonome Einheit. Gesten und Haltungen, Schritte und Aufstellungen wiederholten sich zwar, waren aber ständig in Bewegung. Die Zählung der Zeit wurde für jede Gruppe unabhängig vorgenommen, so dass anstatt Einklang eine ständige Mutation bewirkt wurde, während die Tänzer die Themen und die Polyrhythmien ausführten. Die Absicht des Tanzes von Nijinsky war vollkommen auf den Rhythmus fokussiert, auf seinen hypnotischen Zauber und auf seine räumlichen und kinetischen Auswirkungen. Wie seine Frau Romola betont, „war für ihn jeder Rhythmus ein getanzter“. Für den russischen Tänzer und Choreographen konnte sich der Tanz „allein durch den Rhythmus“ mit der Musik identifizieren und dabei produziere er rituelle Bewegungen, die der Inbegriff der Klarheit und der primitiven Qualität waren.32 Lincoln Kirsten erklärte sehr gut, wie der Choreograph beabsichtigte, kinetische Blöcke zu bilden, die von Intervallen von fließenden Handlungen analog zur Artikulation der Musik unterbrochen wurden. Die Kritik zur Sacre du Printemps hob öfters den Kampf der vertauschten Haltungen, die Bemühungen, die unge30 31 32

E. Salzman, Twentieth-Century Music: An Introduction, Prentice Hall 1974, S. 30. A.-M. Turi, Nijinsky: l’invention de la danse, Paris 1987, S. 123. Vgl. S. Trombetta, Vaslav Nižinskij, Palermo 2008, S. 179.

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wöhnlichen metronymischen Signaturen zu erhalten und die Frustration wegen der Nutzlosigkeit der bis dahin erlernten Technik hervor. Die ununterbrochene Notwendigkeit, die Zeit zu zählen und ohne Pliés zu springen, löste bei den Tänzern Kopfschmerzen und schmerzende Füße aus.33 Die Idee des Stammesrituals als Grundlage der rhythmisch-tänzerischen Inspiration bewirkte zudem konstant bleibende Schritte trotz wechselnder Musik. Grigoriev, der Regisseur der Gruppe, betonte, dass die Komposition fast ausschließlich aus einem rhythmischen Stampfen ohne jegliche andere Bewegung bestand.34 Der Kritiker Adolphe Boschot äußerte damals eine ähnliche – wenn auch boshaftere – Bemerkung: Imagine these people rigged out in the most shrieking colours… gesticulating like dervishes as they repeat the same gesture a hundred times: they paw the ground, they stamp, they stamp, they stamp, they stamp… Flash! They break into two groups and salute each other. And they stamp, they stamp, they stamp…35

Der Gesamteffekt der Rhythmen, der wiederholten Bewegungen und der Massen im Strom mit ihren verflochtenen Linien war sowohl emotional als auch plastisch, zwei zentrale Faktoren in der primitivistischen Ideologie jener Zeit. In einem 1913 geschriebenen Beitrag definiert der Maler und Essayist Jacques-Émile Blanche das Werk als „statuenhaft“ und behauptet, dass Nijinsky die konventionelle akademische Choreographie mit einem schematischen Ausdruck von inneren Zuständen ersetzt habe.36 Das Szenenbild des Sacre scheint in der Tat ein gutes Mittel zu sein, um verschiedene starke Emotionen auszukosten. Der erste Akt enthält Beschwörungen, rituelle Vorbereitungen, Kampfsportarten und Gruppenekstasen des versammelten Volkes. Im zweiten Akt gibt es weibliche Mysterienspiele, die eine lange Gruppenmeditation beinhalten, um die Auserwählte zu finden, die Weisen, die Tiere imitieren, um die Evolution des Menschen zu beschreiben, und schlussendlich die Trance der Opfergabe. Am Ende seiner Beschreibung stellt Blanche fest, dass im Werk „ein universales Begehren zu den einfachen Formen der Primitiven und sogar der Barbaren“ zu verspüren sei, das sich in neuere Zeiten in der modernen Kunst verbreitet habe. In dieser Hinsicht ist die Sacre ein Wegbereiter für andere moderne Tanzwerke der frühen Dreißiger wie Primitive Mysteries von Martha Granham oder The Shakers von Doris Humphrey. Wie Nijinskys Werk analysieren auch diese Ballette das Sozialleben anhand seiner Rituale. Diese Choreographien fußen auf den Studien über die religiösen Sekten Amerikas sowie ihrer Choreographen und teilen deren zurückgehaltenen Gesten, die psychologischen Ziele und den Gebrauch der Wiederholungen, um Befreiung und Entspannung zu erzielen: z. B. indem sie auf der Stelle hüpfen, im Kreis laufen und sich um eine Achse drehen, um den Energiezustand zu verändern. In jedem Falle betätigen sie Instrumente, um die Energie zu

33 34 35 36

Vgl. L. Kirstein, Nijinsky Dancing, New York 1975. Vgl. S. L. Grigoriev, The Diaghilev Ballet 1909–1929, London 1953, S. 146 f. T. C. Bullard, The First Performance of Igor Stravinsky’s Sacre du Printemps, Rochester 1971, S. 12. Vgl. F. Reiss, Nijinsky ou la grace. La vie de Nijinsky, Paris 1980, S. 88.

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fokussieren und um die rituellen Kräfte einzudämmen und an die Gesellschaft weiterzuleiten.37 Wie diese erforscht auch Nijinskys Choreographie verschiedene Elemente, die in den rituellen Tänzen der außereuropäischen Kulturen gegenwärtig waren: Haltungen, welche die körperliche Aufmerksamkeit ins Innere lenken, die ständige Wiederholung der Bewegungen, die Produktion eines Rhythmus, der eine Alteration des Geisteszustands mit sich führt und die Begrenzung der Gruppenaktivitäten auf Grundmuster im Festsaal. Das anthropologische Wissen dieser sozio-kulturellen Aspekte erlangt der Choreograph durch die Unterredungen mit seinem Assistenten Roerich während der Bearbeitung des Balletts.38 Neben der Entwicklung der rituellen Struktur des Szenario und folglich der Choreographie, war Roerich sowohl Künstler als auch Archäologe. Wie mehrere Kritiker seiner Zeit betonten, bezog er sich für das Bühnenbild auf die Praktiken der Schamanen Russlands und Zentralasiens, die er in den Büchern der Kulturanthropologie kennengelernt hatte. Wie die ethnographische Literatur gezeigt hat, bestehen diese aus einer Sammlung von magisch-rituellen Praktiken, die um eine Trance kreisen, die durch den monotonen Trommelschlag des Zelebrierenden bewirkt wird.39 In diesem Zusammenhang ist ein 1930 – also einige Jahre später – erschienener Beitrag über den neuen afrikanischen Tanz Lindy Hop von Carl Vechten, der bei der umstrittenen Premiere in Paris gewesen war, von besonderem Interesse. Darin beschreibt er die Effekte der Sacre auf den menschlichen Organismus auf folgende Weise: Of all the dances originated by the american negro, this the most nearly approaches the sensations of religious ecstasy. It could be danced, quite reasonably, and without alteration of tempo, to many passages in the Sacre du Printemps of Stravinsky, and the Lindy Hop would be appropriate for the music, which depicts in tone the representation of certain pagan rites, as the music would be appropriate for the Lindy Hop.40

Die Verbindung von Rhythmus, Tanz und Körperlichkeit in der Sacre du Printemps stellt sich als ein Indiz dieses hypothetischen Primitiven dar, der mit seinen Ekstasen, Trieben und Sinnlichkeit das Publikum seiner Zeit neugierig macht. Wie man in den folgenden Jahren erfuhr, löste der Impresario Djagilew selbst den Skandal um die Premiere des Balletts aus, indem er die geladenen Gäste so platzierte, dass potentielle Förderer und Gegner des Stücks in vielen Bereichen des Theaters eng beieinander saßen. Mit der Zeit wichen sowohl die Abstoßung als auch die Faszination für den Primitiven der Schaulust.

37 38 39 40

Vgl. M. Siegel, The Shapes of Change, Boston 1979, S. 49–67. Vgl. A. D’Adamo, Danzare il rito. „Le sacre du printemps“ attraverso il Novecento, Roma 1999. Vgl. G. Rouget, La Musique et la Transe, Paris 1980. C. Van Vechten, Dance Writings, New York 1974, S. 40.

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3. FAZIT Jean Genet sagt in der Einleitung zu Les nègres, eines seiner zynischsten poetischen Dramen: Dieses Stück, ich wiederhole es, ist von einem Weißen für ein weißes Publikum geschrieben. Aber wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, daß es vor einem schwarzen Publikum gespielt wird, müßte man für jede Vorstellung einen Weißen einladen – ganz gleich ob männlich oder weiblich. Der Veranstalter des Theaters wird ihn feierlich begrüßen, ihn in ein zerimonielles Gewand kleiden und ihn zu seinem Platz geleiten, am besten in der ersten Orchester-Reihe Mitte. Es wird für ihn gespielt. Dieser symbolische Weiße sollte während des gesamten Abends von einem Scheinwerfer angestrahlt sein. Und wenn kein Weißer zu dieser Vorstellung bereit ist? Dann soll man an das schwarze Publikum beim Betreten des Saales Masken von Weißen verteilen, und wenn die Schwarzen sich diesen Masken verweigern, benutze man eine Puppe.41

Auf ähnliche Weise wie das raffinierte Identitätsspiel, das vom Schriftsteller und Dramaturgen inszeniert wird und das den Werken von Jean Paul Sartre und Franz Fanon Schuld gebührt, wird auch die Beziehung zwischen Rhythmus, Tanz und Kultur, das charakteristisch für die primitivistische Ideologie ist, als ein ironisches Spiel mit Masken dargestellt. Sowohl die „exotische Reinheit“ als auch die „weiße Überlegenheit“, die hypothetisch durch die Triade zwischen Rhythmus, Tanz und Körper zur Schau gestellt werden, erscheinen nach einer eingehenden Analyse nicht als einzelne Identitäten, sondern als Teile einer einzigen Vorstellungswelt mit hochgradigem politischem Potential, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirksam und weitgehend international verbreitet war. Der Rhythmus und der Tanz – zusammen mit Sprache, Kleidern, Skulpturen und der Hautfarbe – sind zwei der Elemente, die an dieser ideologischen Teilung der Welt teilnehmen. Die Natürlichkeit, die Spiritualität und die Expressivität, die von Isadora Duncan dem alten Griechenland, von den Dadaisten dem Afrika der Stämme und von Nijinsky/Stravinsky dem folkloristischen Heidentum zugeschrieben werden, bilden die andere Seite der Medaille, die diese Bevölkerungen als unkultiviert, rückständig und prälogisch einstuft. Obwohl ihre Wertzuschreibungen gegenüber den „Wilden“ antithetisch sind, lokalisieren sowohl die kolonialistischen Rassisten als auch die modernen Primitivisten ihr Objekt in der gleichen Vorstellungswelt. Beide halten die Alterität, das Exotische und das Außereuropäische als den Ort einer Ursprungsidentität, die alternativ zum Abendland ist: frei, sinnlich, triebhaft, magisch-rituell, ohne Affektiertheit. Für die ersten ist dies ein zu vermeidendes und zu bekämpfendes Übel durch die Kolonialherrschaft und den Export der abendländischen Werte. Für letztere handelt es sich um ein Leitmodell, das man aus revolutionären Gründen zur Schau stellen kann, um eine soziale und kulturelle Welt, die man als bedrängend, entfremdet, alt, und katastrophal empfindet, zu bestreiten. Im Jazzjargon könnte man sagen, der Primitive sei auf der europäischen Bühne am Anfang des 20. Jahrhunderts das Resultat einer kulturellen Improvisation über einen bekannten und allgemein anerkannten Standard für ein Publikum von Zuhörern, die kultiviert genug sind, um deren Sinn zu erhaschen. Die Kontroverse 41

J. Genet, Die Neger, Gifkendorf 1983, S. 7.

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ist binneneuropäisch, der Primitive hat kein Mitspracherecht. Man kann sich vorstellen, dass er aus der Ferne vergnügt das Spektakel betrachtet.

ÉTIENNE-JULES MAREY UND DIE BRÜDER BRAGAGLIA: FOTOGRAFIE, BEWEGUNG UND RHYTHMUS Anja Meyer Die Einführung der Fotografie in die europäische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirkt einen radikalen Einschnitt in die visuelle Perzeption des Menschen und rückt die Vorherrschaft des Auges über die anderen Sinnesorgane noch weiter in den Vordergrund. Von Beginn an beeindruckt die fotografische Abbildung durch ihre perfekte und objektive Reproduktion der Wirklichkeit und wird zum zuverlässigen Mittel der visuellen Dokumentation für Künstler, Literaten und Wissenschaftler. Es sind – neben anderen – genau diese Eigenschaften, die auch vom französischen Physiologen Étienne-Jules Marey als Grundlage seiner Studien zur Bewegung benutzt werden. Mareys Zielsetzung ist rein wissenschaftlich: mit Hilfe einer Serie von bemerkenswerten technischen Verbesserungen, die er persönlich an den Fotoapparaten vornimmt, gelingt es ihm, die Bewegungen von Menschen und Tieren mit äußerster Präzision festzuhalten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickeln die Brüder Bragaglia, Exponenten der neuen Kunstströmung des Fotodynamismus, eine Fotografische Technik, die derjenigen Mareys sehr ähnlich ist. Ihre Werke haben jedoch eher eine ästhetische Funktion und wollen die Überlegenheit der Fotografischen Kunst demonstrieren, die als einzige in der Lage ist, die Bewegung in ihrem vitalen Kern darzustellen.1 Étienne-Jules Marey (1830–1904) ist ein Vertreter des Positivismus. Ein Leben lang widmet sich Marey der Entwicklung von Maschinen und Instrumenten, die imstande sind, auch das nicht Greif- und Sichtbare zu erfassen, insbesondere im Hinblick auf die menschliche Bewegung. Die bemerkenswerte Entwicklung seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit ist durch zwei Hauptphasen gekennzeichnet: Während der ersten widmet sich Marey der Erschaffung von Vorrichtungen zur Aufzeichnung von Bewegungsvorgängen, während der zweiten konzentriert er sich auf neue Methoden im Gebrauch der Fotokamera.2 Sein umfangreiches wissenschaftliches Gesamtwerk ist in beiden Phasen von dem einen grundsätzlichen Ziel geprägt, das jeweils behandelte Bewegungsphänomen zu konservieren und sichtbar zu machen. Es geht ihm also darum, Zusammenhänge, die ansonsten mit den menschlichen Sinnen nur flüchtig wahrnehmbar sind, auf eine Art darzustellen und festzuhalten, die eine wissenschaftliche Analyse auf der Basis kontrollierbarer und belastbarer Daten ermöglicht. 1 2

Vgl. M. Vangi, Letteratura e Fotografia. Roland Barthes – Rolf Dieter Brinkmann – Julio Cortázar – W. G. Sebald, Udine 2005, S. 22. Vgl. L. Dibattista, Il movimento immobile – la fisiologia di É.-J. Marey e di C. E. Francois-Frank, Firenze 2010, S. 34–35.

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Es muss betont werden, dass das primäre Interesse Mareys dem Studium der Bewegungsabläufe gilt, also dem auffälligsten Element, anhand dessen sich Lebewesen von Maschinen unterscheiden lassen und das durch Beobachtung wissenschaftlich analysiert werden kann. Statische Objekte sind relativ einfach zu beschreiben, wohingegen dynamische Vorgänge in der belebten Natur wie die Zirkulation des Blutes, die Schwingen der Vögel im Fluge oder das Zusammenwirken von Gliedern und Muskeln eines galoppierenden Pferdes vom beobachtenden Menschen mit seinen Sinnen nicht vollständig erfasst werden können, auch wenn er dieser Vorgänge gewahr wird. Marey verfolgt sein Ziel hartnäckig und wird somit zum Pionier in der Entwicklung der damals neuen wissenschaftlichen Methode, die mit grafischen Mitteln dem menschlichen Auge ein unvergleichlich besseres Erfassen von dynamisch-natürlichen Bewegungsabläufen ermöglicht. Diese graphische Methode beruht auf der direkten Aufzeichnung der Abläufe auf Papier, wodurch Abstände überprüfbar und ihre Änderung in bestimmten Zeitintervallen messbar werden. Die so dargestellten Zeitintervalle können auch beliebig verlängert oder verkürzt, also verlangsamt oder beschleunigt werden, um dadurch die Bewegung noch präziser beschreiben zu können.3 Mareys Methode erfordert stets aufs Neue die Erstellung einer eigens auf das Experiment zugeschnittenen Versuchsanordnung sowie der entsprechenden Gerätschaften, um dem zu messenden natürlichen Phänomen gerecht zu werden. Während einer ersten Phase seiner Forschungsarbeit richtet Marey seine Anstrengungen vollständig auf das Studium der Bewegungsvorgänge im menschlichen Körper und auf die Entwicklung von Möglichkeiten, diese Bewegungen mit größtmöglicher Präzision zu dokumentieren. Eine der wichtigsten von ihm realisierten Erfindungen auf diesem Gebiet ist der Sphygmograph, ein Gerät, das in der Lage ist, den Pulsschlag als durchgehende weiße Kurve auf den schwarzen Untergrund eines drehbaren Zylinders zu übertragen. Das Instrument ist ein Vorläufer des Elektrokardiogramms, denn mit ihm gelingt es Marey erstmals, die vitalen Vorgänge des Herzschlags und des Blutkreislaufs durch eine neue Art der Darstellung sichtbar zu machen, welche die wissenschaftliche Untersuchung dieser Phänomene auf der Grundlage von Zeit- und Raum-Intervallen ermöglicht (Abb. 1).4

3 4

Vgl. ebd. S. 35–38. T. Creswell, On the Move: Mobility in the Modern Western World, New York 2006, S. 73.

Étienne-Jules Marey und die Brüder Bragaglia: Fotografie, Bewegung und Rhythmus

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Abbildung 1: Drittes Kardiogramm von Marey, publiziert 1863. Bulletin de l’Academie de Medicine, 26.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt die Disziplin der Physiologie zunehmend an Bedeutung, insbesondere aufgrund der lebhaften Debatte zweier konkurrierender Lehrmeinungen. Die Eine sieht den menschlichen Körper wie jeden anderen Gegenstand als den Gesetzen der Thermodynamik unterworfene Materie, die Andere glaubt an die Einzigartigkeit der menschlichen Lebensenergie. Marey ist überzeugt, dass das Geheimnis der „Maschine Mensch“ in der Bewegung liege und dass es daher Aufgabe der Physiologie sei, graphische Instrumente zu entwickeln mit der Fähigkeit, die dynamischen Körperbewegungen objektiv darzustellen. Mareys Forschungsarbeit verlagert sich schließlich vom Inneren des Organismus zum Äußeren; schwerpunktmäßig wendet er sich allgemein der tierischen Bewegung zu. Nach einer Serie von Experimenten gelingt es Marey, den Vogelflug festzuhalten und die Bewegung des Vogels graphisch darzustellen; auf die gleiche Weise widmet er sich der Motorik des Pferdes über die Aufzeichnung seiner Bewegungen unter Einbeziehung des akustischen Rhythmus des Trabs.5 Wiewohl die erzielten Forschungsergebnisse, 1873 unter dem Titel La machine animale veröffentlicht, bedeutende wissenschaftliche Neuigkeiten darstellten, so waren doch deutliche Schwächen in den entwickelten mechanischen Instrumenten und Hilfsmitteln aufgrund der Wechselwirkungen und Interferenzen mit den Bewegungen des abgebildeten Tieres nicht zu übersehen. Auf der Suche nach neuen Lösungen findet Marey die Antwort in der Fotografie. 5

Vgl. L. Dibattista (2010), S. 125–128.

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In seinem Werk Mouvement (1894) gibt Marey einen Überblick über die Entwicklung der grafischen Methoden zur Darstellung von Bewegung und weist dabei als Erster auf den Einsatz der Fotografie als neues Mittel der Aufzeichnung hin.6 Sein Interesse für die Fotografie war schon von Prof. Pierre J. C. Janssen angeregt worden, der 1874 eine Art Fotografischen Revolver entwickelt hatte, der in der Lage war, in sehr kurzen Taktabständen eine Serie von Bildern aufzunehmen. Wichtige Impulse kamen auch von dem englischen Künstler James Muybridge;7 dieser war in jenen Jahren von einem kalifornischen Ex-Gouverneur beauftragt worden,8 mit fotografischen Mitteln die Gangarten des Pferdes zu untersuchen, um den Beweis dafür zu liefern, dass es während des Galopps – so wie es von Marey in seiner La Machine Animale dargestellt wird – einen Moment gibt, in dem das Pferd ohne Bodenkontakt vollständig in der Luft schwebt. Im Jahre 1878 gelingt Muybridge der Beweis von Mareys Thesen anhand einer eindrucksvollen Reihe von Momentaufnahmen eines Pferdes in vollem Galopp. Er postiert dazu 12 Fotokameras entlang einer Pferderennstrecke; das Ergebnis verblüfft noch heute den Betrachter. Es wurde zu einer der berühmtesten Fotoserien und wird als Ursprung der Kinematographie angesehen (Abb. 2).9

Abbildung 2: James Muybridge: The horse in motion, 19 Juni 1878.

Einige Jahre später wird auch Marey selbst das gleiche Phänomen mit Hilfe der Chronofotografie nachweisen. Die von Muybridge benutzte Methode überzeugt Marey nicht vollständig, weil er dessen Momentaufnahmen nicht als regelmäßige und analysierbare Aufteilung der Bewegungsabläufe ansieht, und weil sie überdies 6 7 8 9

Vgl. ebd. S. 127. Zu Muybridge siehe : G. Hendricks, Edward Muybridge: The Father of the Motion Picture, New York 1975; R. Bartlett Haas, Muybridge: Man in Motion, Berkeley 1976. Der Auftrag kam von dem Eisenbahn-Magnaten, Ex-Gouverneur und Pferdeliebhaber Leland Stanford, dessen Interesse vorher durch entsprechende Graphik-Arbeiten von Marey geweckt worden war. L. Dibattista, (2010) S. 130.

Étienne-Jules Marey und die Brüder Bragaglia: Fotografie, Bewegung und Rhythmus

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von 12 verschiedenen Objektiven und daher nicht aus einer einzigen Perspektive aufgenommen worden waren. Marey überarbeitet also den fotografischen ‚Revolverapparat‘ von Janssen, und es gelingt ihm eine Serie von gleichgetakteten Momentaufnahmen eines Vogels im Flug, diesmal aus einer einzigen Beobachterposition.10 Der nächstfolgende Schritt ist die Chronofotografie. Durch das Einsetzen einer rotierenden Lochscheibe in den Fotoapparat zeichnet Marey die Bewegungen eines mobilen Objekts auf einer einzigen Platte auf, auf der die verschiedenen Bewegungsphasen aneinandergereiht werden und in der jeweils realen Position im Moment der Aufnahme erscheinen. Während bei Muybridge das Endprodukt der angewandten Technik eine Zusammenreihung von Einzelaufnahmen ist, bei der jedoch die einzeln festgehaltenen Bewegungsphasen gegenüber der realen zeitlichen Abfolge etwas verfälscht sind, stellt demgegenüber das Endprodukt von Marey eine einzige Bewegung in mehreren Zeitintervallen dar, und zwar auf einer einzigen Platte und von einem einzigen Standpunkt. Durch Variation der Blende und der Rotationsgeschwindigkeit ist Marey auch in der Lage, Platten mit weit auseinander liegenden oder auch nahe zusammen liegenden Abbildungen zu schaffen. Dadurch, dass mit Hilfe dieser Technik die Bewegung auf einem einzigen Träger festgehalten und sichtbar gemacht wird, ist es möglich, die realen Abstände sowohl des Raumes als auch der Zeit zu extrapolieren und zu kalkulieren. Mit anderen Worten, die Aufnahmen von Marey reproduzieren die sichtbare Illusion einer durch die Sinne perzipierten Bewegung.

Abbildung 3: Cheval blanc monté, 1886.

10

Vgl. ebd. S. 133–135.

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Abbildung 4: Chronographie, 1885–90.

Um die Zerstückelung der Bewegung in Einzelbilder noch klarer auszudrücken, entwickelt Marey raffinierte Techniken der chronofotografischen Aufnahme, mit deren Hilfe er richtiggehende lineare Diagramme auf der fotografischen Platte aufzeichnen kann. Um dies zu erreichen, deckt er Teile der aufzunehmenden Szene mit schwarzem Tuch ab und lässt nur die Teile im Licht, also frei zur Aufnahme auf der Platte, deren Bewegung ihn im aktuellen Fall interessiert.11 Das Ergebnis dieser chronofotografischen Technik ist ein bewegtes Diagramm mit einer stilisierten Darstellung der aufgenommen Bewegung vor schwarzem Hintergrund. Diese Aufnahmen heben das Studium der Bewegung auf eine abstrakte Ebene und stellen die Dynamik eines in andauernder Veränderung befindlichen bewegten Körpers als segmentierte, also zerstückelte, rhythmische Sequenz dar. Insbesondere demonstriert Marey damit, dass jede Bewegung durch einen spezifischen Rhythmus charakterisiert ist, der sich nicht nur auf Grund der Anatomie des Subjekts, sei es Mensch oder Tier, differenziert, sondern auch auf Grund der Wechselwirkung mit der Umgebung, in der sich die Bewegung abspielt.

Abbildung 5: laufender Mensch, 1883. 11

Vgl. ebd. S. 138–141.

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Abbildung 6: Trajectoire du pubis pendant la marche humaine, 1894.

Aus Abbildung 5 ist gut ersichtlich, dass Marey weiße, meist lange, Streifen längs der Gliedmaßen eines ansonsten ganz in schwarz gekleideten Mannes befestigt hat, der vor ebenfalls schwarzem Hintergrund läuft. Das Ergebnis ist die Darstellung einer Serie von Linien in regelmäßigen – d. h. zeitgerechten – Intervallen, die in stilisierter, aber wirklichkeitsgetreuer Form die Bewegungen des Athleten während eines Wettlaufs anschaulich macht. In einem 1894 durchgeführten Experiment benutzt Marey anstelle der Streifen weiße Punkte, die er auch wieder an exponierten Stellen des Körpers befestigt: das Ergebnis dieser Chronofotografie ist eine Art dynamischer Spirale im Zeichen eines wiederkehrenden und fortlaufenden Rhythmus. In diesem Beispiel wirkt die rhythmisch geschwungene Linie noch anschaulicher als das System von geraden und getrennten Strichen des anderen Experiments, da die geschwungene Linie – anders als die Striche – einen unmittelbaren Eindruck von Bewegung vermittelt.12 Diese besondere Perzeption der fortlaufenden rhythmischen Schwingung wird sich zu einem der grundlegenden Merkmale des Fotodynamismus entwickeln. Vor dem Hintergrund einer Epoche, in der die Modelle der visuellen Darstellung mit dem Übergang in die Moderne eine substantielle Transformation erfahren, kann der wissenschaftlichen Arbeit Mareys großer Einfluss auf die zeitgenössische ästhetische Reflexion zugeschrieben werden. Die industrielle Revolution und damit einhergehend auch die Entwicklung des Transport- und Kommunikationswesens, die Erfindungen des elektrischen Lichts, der drahtlosen Radio-Übertragung, der Fotografie und der Kinematographie sind einige der Elemente, die einen Wandel des gefühlten Zeitverständnisses mit sich bringen; dieses wird nun nicht mehr nur mit den physiologischen Rhythmen, den natürlichen Tages- und Nacht-Zyklen des Lichts oder dem Ablauf der Jahreszeiten assoziiert, sondern skandiert den Takt der neuen Technologien. Der fließende, pulsierende oder abrupte Übergang wird zur 12

E. Manning, „Grace Taking Form: Marey’s Movement Machine“, in: Ders., Relationscapes: Movement, Art, Philosophy, Cambridge 2009, S. 90–91.

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beherrschenden Herausforderung der Künstler bei ihrer Suche nach neuen, adäquaten Formen der Darstellung. Auch Theoretiker und Philosophen beteiligen sich an der Erforschung der Bedeutung und der Methoden zur Darstellung von Bewegung. Ein Beispiel ist der Franzose Charles Henry, dessen Arbeiten zur „rationalen Ästhetik“ direkt auf Marleys Darstellungen von Rhythmus aufbauen. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts entwickelt sich eine „Ästhetik der Bewegung“; die Wortschöpfung stammt von Paul Souriau, der den Ursprung des ästhetischen Wohlgefallens darin sieht, dass der Betrachter den Körper in seiner Bewegung bzw. die Darstellung desselben auf sich einwirken lässt. Das bestimmende Element bei den Bewegungen in der Natur oder auch denen des menschlichen Körpers ist insbesondere der Rhythmus, ein in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehrendes pulsierendes Phänomen. In seinem Werk Ästhetik der Bewegung (1889), in dem Souriau die Zusammenhänge zwischen Kunst und Technologie untersucht, führt er aus, dass Mareys Fotografische Methode zur Darstellung der Bewegung „wie ein ideales Auge ist, das alles auf den ersten Blick sieht und das Gesehene dann auch festhält“.13 In der Tat wird jedes sich schnell bewegende Objekt dem menschlichen Auge als eine Art Schweif sichtbar, der vom Gehirn schemenhaft als konfuse Abbildung wahrgenommen wird; demzufolge wird auch die künstlerische Darstellung der Bewegung immer unpräzise sein und nicht der Realität entsprechen. Souriau rät dem Künstler, sich die Chronofotografie von Marey anzusehen und die eigene Arbeit an dessen besten und ausdrucksstärksten Bildern auszurichten; auf diese Weise würden in die abschließende Darstellung der Bewegung hunderte von anderen Bildern mit einbezogen und so beim Betrachter der unmittelbare Eindruck von Bewegung vermittelt.14 Souriau nimmt also die Verbindung zwischen der Evolution der bildenden Kunst und der aufkommenden Fotografischen Technik vorweg, die in der künstlerischen Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts unübersehbar wird. Er beruft sich dabei auf Marey als notwendigen Bezug zur neuen, auf Bewegung und Rhythmus beruhenden Ästhetik. Marey, ein Mann der Wissenschaft und Vertreter des Positivismus, war sich des künstlerischen und expressiven Potentials nicht bewusst, das seinen Diagrammen und abstrakten Bewegungsaufnahmen innewohnte. Es sind z. B. Künstler wie Degas und Seurat, die sich zum Studium der Bewegungen von Tänzerinnen der Chronofotografie bedienen,15 während Marcel Duchamp sich direkt von den Aufnahmen Mareys zur Darstellung der Bewegung in seinem Akt, eine Treppe herabsteigend (Abb. Nr.2) inspirieren lässt. In diesem Werk gibt es keinen eigentlichen Akt im anatomischen Sinn, sondern es werden zwanzig verschiedene statische Positionen während des sukzessiven Herabsteigens festgehalten; das Miteinander und Nacheinander von Linien, Ebenen und Formen vermittelt die Intuition einer rhythmischen Abfolge der Bewegungen der Figur.16 Im Gegensatz zum Kubismus mit seiner Vorliebe für feste und eher statische Formen ist dieses Werk zweifellos von 13 14 15 16

Vgl. P. Souriau, The Aesthetics of Movement, Amherst 1983, S. 118. Meine Übersetzung. M. Braun, Picturing Time: The Work of Etienne-Jules Marey, Chicago 1992, S. 276. Vgl. P. D. Osborne, Travelling Light: Photography, Travel and Visual Culture, Manchester 2000, S. 160. Vgl. O. H. Ressler, Der Wert der Kunst, Wien 2007, S. 155.

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einer gewissen Dynamik geprägt, wie sie der futuristischen Kunst zugrunde liegt. Insbesondere sind es die Italiener Balla und Boccioni, die offensichtlich von Marey stammende Elemente und rhythmische Themen in ihre Gemälde einbeziehen, während Anton Giulio Bragaglia ihn in seinem Manifest Fotodinamismo futurista von 1911 zitiert.17 Der Futurismus beginnt in Italien Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Veröffentlichung des ersten Futuristischen Manifests (1909),18 in dem Filippo Tommaso Marinetti einige der zugrundeliegenden Prinzipien festschreibt. Die Zielrichtung der neuen futuristischen Bewegung ist nichts Geringeres als eine regelrechte Revolution der Formen in der Kunst, und tatsächlich setzt sie starke Impulse in diesem Sinne. Der Rausch der Geschwindigkeit, die Gleichzeitigkeit sowie auch die Wiederholung von Ereignissen sind die neuen Motive der futuristischen Ästhetik, die von einer unbegrenzten Zuversicht in den technologischen Fortschritt getragen wird. Überraschenderweise lässt sich bei der ersten Generation der futuristischen Künstler ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Fotografie feststellen, an der bemängelt wird, dass sie mit ihren fixen und statischen Bildern nur eine eingeschränkte Vision der Wirklichkeit wiedergibt.19 Anders ausgedrückt, die Abwesenheit von Bewegung sowie die augenscheinliche Unmöglichkeit, diese darzustellen, verwehrt der Fotografie die ästhetische Anerkennung der Futuristen. Die Polemik gegen die Fotografie erlebt ihren Höhepunkt 1913, als Anton Giulio Bragaglia seine Arbeit Futuristischer Fotodynamismus veröffentlicht. Die daraufhin einsetzende Kritik seitens der futuristischen Künstler gegen die Fotografischen Experimente der vergangenen drei Jahre der Brüder Bragaglia nimmt Formen an, die einer Exkommunizierung der Fotografischen Bewegung gleichen. Unabhängig von diesen damaligen Richtungskämpfen stellt der vom Fotodynamismus eingeschlagene Weg der speziellen Fotografischen Technik einen richtungsweisenden Beitrag zur an Dynamik und Bewegung ausgerichteten ästhetischen Forschung dar.20 Wenngleich die Brüder Arturo und Anton Giulio Bragaglia, Theoretiker des sogenannten Fotodynamismus, der Chronofotographie in kritischer Haltung gegenüberstehen, wenden auch sie bei ihrer Fotografischen Arbeit die von Marey eingeführte Aufnahmetechnik an, allerdings weniger aus wissenschaftlicher Motivation heraus. Ziel des Fotodynamismus ist es nicht, die Bewegung eines Objektes in Einzelphasen zu zerhacken, sondern den Eindruck und das Gefühl einer von Leben beseelten Bewegung zu schaffen.21 In seinem Manifest drückt Bragaglia seine Distanz von Marey wie folgt aus: Wir sorgen uns nicht um die genaue Rekonstruktion einer Bewegung, sondern nur um den Teil der Bewegung, der den Sinneseindruck bewirkt hat, dessen bleibende Erinnerung sich tief in unser Unterbewusstsein geprägt hat. […] Die Chronofotographie von Marey, auch wenn sie 17 18 19 20 21

A. Scharf, „Painting, Photography, and the Image of Movement“, The Burlington Magazine 710 (1962), S. 188–195, hier S. 186. Vgl. Manifesti del Futurismo, Firenze 1914; enthält: F. T. Marinetti, Fondazione e manifesto del Futurismo, publiziert am 20. Februar 1909 im Figaro, Paris. Vgl. C. Marra, Fotografia e Pittura nel Novecento, Milano 1999, S. 22–25. Vgl. M. Vangi (2005), S.22. Vgl. G. Lista, Futurist Photography, Art Journal 4 (1981), S. 358–364, hier S. 360.

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Anja Meyer keinen quadrierten Hintergrund zur Unterteilung der ohnehin schon zerstückelten und skandierten Bewegung benutzt, unterbricht doch immer wieder den Gestus und entfernt ihn so von sich selbst in vielen Einzelaufnahmen.22

Bragaglia kritisiert demnach die Chronofotografie als Technik, die eine mechanistische Fragmentierung der Bewegung durch kalte Sequenzen erzeugt, nicht aber den Eindruck von den dynamischen Übergängen zwischen ihnen vermittelt. Im Gegensatz dazu erhebt er die Fotodynamik in den Rang moderner Kunst, da sie: analysiert und synthetisiert, ganz so wie es von der Bewegung selbst vorgegeben wird, und dies mit großer Effizienz, weil sie die Kraft besitzt, die Kontinuität der Bewegung im Raum so aufzuzeichnen, dass die Fortbewegung der Körper im selben Augenblick der Betrachtung unmittelbar mit der entsprechenden Umsetzung des Ausdrucks einhergeht.23

Die Sichtbarmachung der Bewegung ist also in der Lage, durch die rein gegenständliche Schale hindurch den essentialen Kern dynamischer Vorgänge freizulegen und dadurch beim Betrachter Emotionen anzusprechen, wie dies ansonsten nur bei den größten Kunstwerken der Fall ist. Die zwei entscheidenden Fundamente der transzendentalen Fotografie von Bragaglia sind der Rhythmus und die Grundrichtung der Bewegung. Das Konzept des Rhythmus versteht sich in diesem Zusammenhang als regelmäßige Wiederholung eines Motivs und wird dabei gleichzeitig zum Synonym für dynamische Bewegung und Lebendigkeit; es ist das sichtbare Resultat des Fotodynamischen Prozesses, dessen Kern in der Charakteristik der Kontinuität liegt. Aus dieser Sicht hatte Marey demnach durch die Fragmentierung der Bewegung in voneinander getrennte Einzelbilder einen Verlust an Rhythmus provoziert. Der Rhythmus geht einher mit der Darstellung der Hauptrichtung, denn diese stellt die Synthese der von den Fotografien erfassten Bewegung dar und unterstützt damit den dynamischen Effekt der Bilderfolge. Bragaglia legt Wert darauf, zu betonen, dass seine Werke nicht nur den Eindruck einer Bewegung wiedergeben, sondern dessen direkte Synthese beziehungsweise die visuelle Einheit der Fortbewegung des Objekts in Zeit und Raum. Im visuellen Eindruck stellt sich die Bewegung als eine Art Bogen oder Schweif dar, ein Effekt, der durch den Kunstgriff verlängerter Belichtungszeiten erreicht wird.

Abbildung 7: Schaukelnder junger Mann, 1912. 22 23

Abbildung 8: Die Ohrfeige, 1912.

A. G. Bragaglia, Fotodinamismo futurista, Torino 1970, S. 21–22. Meine Übersetzung. Ebd. S. 23. Meine Übersetzung.

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In diesen Aufnahmen stellt sich die Aktion durch ein beinahe körperloses Verwischen während eines Intervalls von Zeit und Raum mit klarem Anfang und Ende dar. Solche Darstellungen wirken als sichtbare Bestätigung der dem Fotodynamismus zugrundeliegenden These, nach der die Bewegung die Maße zerstört; in der Tat ist es nicht möglich, in dem bewegten „Schweif“ den aufgenommenen Körper objektiv zu erkennen, während die Zeit in Bewegung übertragen wird und, sozusagen, zu deren vierter Dimension wird. Bragaglia selbst drückt es wie folgt aus: „Der Dynamismus ist dermaßen essentiell, dass allein der Rhythmus einer Bewegung oft für ein ganzes Bild ausreicht und die Kraft besitzt, von selbst eine immense Poesie von Harmonie zu schaffen.“24 Bei dieser kurzen Gegenüberstellung der Art und Weise, wie Marey und Bragaglia Bewegung durch Fotografische Technik sichtbar machen, ist es sehr interessant, den großen Unterschied in der visuellen Perzeption von Fotografischen Aufnahmen festzustellen, die auf weitgehend ähnlichen Techniken beruhen. Die Entdeckung und Anwendung der Momentaufnahme durch Marey und Muybridge verzichtet auf die Objektivität einer detaillierten Wiedergabe der Bewegung, liefert aber gleichzeitig den überzeugenden Beweis, dass die Maschine die Fähigkeit des menschlichen Auges da übertrifft, wo die Dynamik der Bewegung vom Auge nur noch konfus wahrgenommen wird.25 Die auf der Fotografischen Platte sichtbar festgehaltene kometenartige Bewegung des Subjekts wird zum ausschlaggebenden Unterscheidungsmerkmal beim Vergleich von Mareys Technik mit der von Bragaglia. Marey sieht in diesem verwischten Effekt ein Hindernis für die Übermittlung des Rhythmus der Bewegung, und er versucht daher in den Folgejahren, ihn durch verschiedene technische Kunstgriffe aus den Bildern zu verbannen. Für Bragaglia hingegen macht der Schweif die fortlaufende Bewegung erst sichtbar. Viele halten weiterhin an der Überlegenheit der künstlerischen Darstellung der Bewegung durch die Maltechnik der verwischten Bilder fest, die insofern als wirklichkeitsgetreuer erachtet werden, als sie besser das Resultat der menschlichen Perzeption wiedergeben, die der mechanischen vorgezogen wird. Diese Überzeugung ist nicht weit entfernt von der vom Fotodynamismus eingeführten, der sich allerdings einer – mittlerweile natürlich perfektionierten – Fotografischen Technik bedient, um die gleiche Empfindung von gleichzeitig dynamischer und nicht greifbarer Bewegung hervorzurufen.

24 25

Ebd. S. 27. Meine Übersetzung. Vgl. A. Scharf (1962), S. 186.

DIE RHYTHMUSFORSCHUNG IN DER DEUTSCHEN PSYCHOLOGIE UM 1900 Riccardo Luccio Im vorliegenden Beitrag wird die Rhythmusforschung in der deutschsprachigen Psychologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts synthetisch analysiert.1 Allein wenn man Rhythmus als rein akustisches Phänomen betrachtet, ist eine große Vielfalt an Definitionen und Auffassungen festzustellen. Laut Ernst Meumann herrschte über die Definition des Rhythmusbegriffs um 1900 „die größte Uneinigkeit.“2 Einige Forscher (u. a. Lobe,3 Herbart4 oder Lotze5) verstanden unter „Rhythmus“ die Gesamtheit der Mittel, mithilfe derer der Hörer unterschiedlich lange aufeinanderfolgende Töne rein akustisch auf- und geistig wahrnehmen kann. Im Gegensatz dazu hielten andere Forscher, wie zum Beispiel Karl Köstlin,6 den Akzentwechsel zwischen verschiedenen Tönen für das eigentlich Rhythmische. Für Hugo Riemann wiederum war Musik sowohl durch die variierende Intensität und Qualität der Töne (in Akzent und Klangfarbe) als auch ihre Länge bzw. Kürze bestimmt. Folglich ergibt sich für Hugo Riemann der Rhythmus nicht nur durch die zeitliche Gliederung, wie es für die traditionelle Auffassung des Rhythmus galt, sondern auch durch die Intensität und den Qualitätswechsel der Töne. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rhythmusbegriff ist also zum einen heterogen, zum anderen sehr umfangreich: So stieg beispielsweise die Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Rhythmus von 333 im Jahre 1913 in nur etwa fünf Jahren auf weit über 400.7 Wir werden deshalb hier nicht jene Autoren berücksichtigen können, die zwar in ihren psychologischen Studien das Thema Rhythmus behandeln, dies aber im Zusammenhang mit Gehör, Kinästhetik oder Bewegung tun und ohne spezifisches Interesse an „Rhythmus“ als psychisches Phänomen. Auch auf all jene Werke, die das Thema Rhythmus im Licht anderer wissenschaftlicher Disziplinen wie Musik oder Literatur untersucht haben, soll hier 1 2 3 4 5 6 7

Eine Übersicht über die psychologische Rhythmusforschung im hier analysierten Zeitraum liefert: A. Spitznagel, „Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung“, in: K. Müller, G. Ascherleben (Hgg.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern 2000, S. 1–40. E. Meumann, „Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus“, Philosophische Studien 10, 1894, S. 250. Vgl. J. C. Lobe, Lehrbuch der musikalischen Komposition, Leipzig 1855. Vgl. J. F. Herbart, Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre, Königsberg 1811. Vgl. R. H. Lotze, Medizinische Psychologie, Leipzig 1852, Buch I, Kap. 9, S. 106–115. Vgl. K. R. Köstlin, Aesthetik, Tübingen 1869. Ch. A. Ruckmich, „A Bibliography of Rhythm (supplementary list), The American Journal of Psychology 26, 1915, S. 457–459; Ders., „A Bibliography of Rhythm. (Second supplementary list)“, The American Journal of Psychology 29, 1918, S. 214–218.

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nicht weiter eingegangen werden.8 Im Fokus stehen Beiträge, die explizit die Psychologie des Rhythmus zum Gegenstand haben und die auch für die heutige Forschung noch relevant sind. Darüber hinaus möchte ich zeigen, dass die Studien über den Rhythmus am Anfang des 20. Jahrhunderts in den Studien über den Gestaltbegriff münden, der einer der folgenreichsten Begriffe der deutschen Psychologie geworden ist. Demzufolge ist mein Beitrag in folgenden drei Abschnitten gegliedert: 1. Rhythmus und Zeitsinn, 2. Rhythmus und Arbeit, 3. Rhythmus und Gestaltpsychologie. 1. RHYTHMUS UND ZEITSINN Aus psychologischem Standpunkt ist der Zeitsinn ein erster unumgänglicher Schritt auf dem Studium des Rhythmus. Hier soll zunächst auf die experimentelle Forschung im Bereich der Zeitwahrnehmung eingegangen werden, die Ernst Mach betrieben hat. Er postulierte, dass die psychische Wahrnehmung der Zeit und ihre psychologische Bedeutung notwendiger Ausgangspunkt vieler Rhythmustheorien sei: Es wird hiermit die Vermutung nahe gelegt, dass die Empfindung der Zeit mit periodisch oder rhythmisch sich wiederholenden Prozessen in nahem Zusammenhange steht. Es wird sich aber kaum nachweisen lassen, wie es gelegentlich versucht worden ist, dass sich das allgemeine Zeitmaß auf die Atmung oder den Puls gründet.9

Erste Anregungen für seine Forschung erhielt Mach vom Physiologen Johann Nepomuk Czermak (1858–1879),10 der in Prag und Graz tätig war. Mach führte seine Experimente zunächst mithilfe eines Metronoms, später dann mit einem speziellen Pendelapparat und Hammerschlägen durch.11 Sein Ziel war es herauszufinden, wie 8

9 10 11

Zum Beispiel können hier die Studien von Hugo Riemann, die im musikwissenschaftlichen Bereich als Meilensteine der Theorie des Rhythmus gelten (Vgl. W. Seidel, Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1976), nur am Rande erwähnt werden; diesbezüglich verweisen wir auf eins seiner Werke: H. Riemann, System der musikalischen Rhythmik und Metrik. Leipzig 1903. Der Beitrag Riemanns ist durchaus relevant für die Psychologie, da schon K. Ebhardt 1898 in seinen Beiträgen zur Psychologie des Rhythmus und des Tempo festgestellt hat, dass „der Psychologe hier manche Anregung und feinsinnige Bemerkung finden [wird].“; K. Ebhardt, „Zwei Beiträge zur Psychologie des Rhythmus und des Tempo“, Zeitschrift für Psychologie 18, 1898, S. 101. Auch auf Karl Büchers Arbeit und Rhythmus aus dem Jahr 1896 kann hier nicht näher eingegangen werden; Bücher zählte zu den interessantesten Persönlichkeiten der deutschen Wissenschaftskultur um die damalige Jahrhundertwende. Aus ökonomischer, geographischer und auch soziologischer Perspektive untersuchte er die rhythmische Gestaltung von Arbeitsprozessen in den Naturvölkern und sah im Rhythmus den Ursprung von Poesie und Musik. Aus unserer Perspektive bleiben die psychologischen Aspekte seiner Ausführungen jedoch eher sekundär; vgl. K. Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1896. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1903, S. 202. Vgl. J. N. Czermak, „Ideen zu einer Lehre vom Zeitsinn“, in: Gesammelte Schriften, Erster Band: Wissenschaftliche Abhandlungen, Leipzig 1879, S. 417–422. Vgl. E. Mach, „Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres“, in: Sitzungberichte der Wiener Akademie, Wien 1865, Bd. 51, S. 542–548.

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weit zwei Zeitpunkte mindestens voneinander entfernt sein müssen, damit ein Mensch in der Lage ist, zwischen ihnen gerade noch ein Zeitintervall wahrzunehmen, d. h. was die kleinste vom Menschen wahrnehmbare Zeiteinheit ist. Dieser Frage ging Mach mit folgender Methode nach, die er den bahnbrechenden Studien Czermaks entnommen hatte: Er untersuchte die Zeitschätzung, indem er den am Experiment teilnehmenden Probanden zwei ungleiche Zeitintervalle vorführte und die Zeitintervalle als unterschiedlich einstufte, wenn bei vier Fällen mindestens drei Probanden das unterschiedliche Intervall wahrnahmen. Ernst Machs Resultate legen erstens nahe, dass das Webersche Gesetz bei der Wahrnehmung von Zeit keine Gültigkeit besitzt.12 Zweitens wächst die Sensibilität für Zeitphänomene nicht proportional zu den Zeitgrößen, sondern die durch jenes Verhältnis messbare Empfindlichkeit erreicht bei etwa 0,4 Sekunden ihr Maximum und nimmt mit längeren bzw. kürzeren Intervallen rasch ab. Zwar kann bei Verlängerung oder Verkürzung eines Rhythmus ein ähnlicher Rhythmus entstehen, er kann aber als solcher nur empfunden werden, wenn die Verlängerung oder Verkürzung nicht über ein gewisses Maß hinausgeht, da diese eine einheitliche Zeitempfindung verhindern. In den 1880er Jahren widmeten sich mehrere Schüler von Wilhelm Wundt wie z. B. Julius Kollert und Karl Vierordt der Erforschung des Zeitsinns.13 Vierordt hatte den Zeitsinn im Rahmen vier verschiedener Experimente untersucht, in denen er auf folgende kognitive Aktivitäten fokussierte: die motorische Reproduktion der empfundenen Zeit, den Vergleich von Zeitgrößen, die Wahrnehmung von Zeiteinheiten und die Wahrnehmung der Geschwindigkeit anhand des Sehsinnes.14 Im ersten Experiment wurde getestet, inwiefern die Versuchsperson in der Lage ist, eine bestimmte Intervalllänge exakt zu reproduzieren. Vierordt klopfte dabei zweimal in einem bestimmten zeitlichen Abstand auf eine Glasplatte – die Versuchsperson musste dann den dritten Anschlag so ausführen, dass zwischen dem ersten und dem zweiten, sowie zwischen dem zweiten und dritten Klopfen gleich viel Zeit vergangen war. Dabei wurde beobachtet, dass kürzere Zeitintervalle generell überschätzt werden, wohingegen längere Zeitperioden tendenziell unterschätzt werden. Das daraus kristallisierte Vierordtsche Gesetz nimmt einen „Indifferenzpunkt“ an, der bei rund 3 Sekunden liegt, bei dem es zu keiner Verschätzung kommt. Vierordts Resultate stimmen grundsätzlich mit denen von Julius Kollert überein, der die Struktur der Experimente von Vierordt – mit einigen Variationen – beibehalten hatte.15 Ein entscheidender Unterschied bei den Ergebnissen bestand jedoch darin, dass in den Vierordt’schen Experimenten der „Indifferenzpunkt“ erheblich höher liegt, als bei jenen von Kollert. Ferner werden von Vierordt außerordent12

13 14 15

Das Webersche Gesetz besagt, dass die Fähigkeit zwei Reize zu unterscheiden proportional zur Reizintensität ist und dass das Verhältnis (k) zwischen einem Reiz (R) und der Änderung der Empfindung des Reizes (Δ R) konstant ist: Δ R/R = k. Vgl. E. H. Weber, De pulsu, resorptione, auditu et tactu, Leipzig 1834. Wilhelm Wundt gilt als der Gründer der Experimentalpsychologie in Deutschland, da er 1869 in Leipzig das erste Labor für Experimentalpsychologie errichtet hat. Vgl. K. Vierordt, Der Zeitsinn nach Versuchen, Tübingen 1868. Vgl. J. Kollert, „Untersuchungen über den Zeitsinn“, Philosophische Studien 1, 1884, S. 78– 89.

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lich große individuelle Schwankungen in diesen Abweichungen beobachtet, während in den Versuchen von Kollert nur Schwankungen von einigen Hundertsteln Sekunden aufgezeichnet wurden. Es ist wohl anzunehmen, dass an diesen unterschiedlichen Ergebnissen noch andere unbekannte Faktoren mitgewirkt haben. Nach Volkmar Estel ist die Zeitschätzung nicht nur am eigentlichen „Indifferenzpunkt“ am genauesten, sondern erreicht auch bei dem Vielfachen desselben Indifferenzunktes ein relatives Maximum an Genauigkeit.16 Laut Estel kann ein Subjekt, sobald der erste „Indifferenzpunkt“ festgelegt ist, auch die darauf folgenden Indifferenzpunkte wahrnehmen. Auch für ihn hat das Webersche Gesetz für den Zeitsinn keine Gültigkeit. Gustav Theodor Fechner, der aufgrund der Ergebnisse der Experimente von Vierordt und Kollert die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für den Zeitsinn glaubte annehmen zu können, kritisierte in einem Aufsatz die Arbeit von Estel, dessen Ergebnisse nicht nur als unbewiesen, sondern als falsch bezeichnet wurden.17 Ohne selbst neue Versuche anzustellen, versuchte er die Experimente von Estel so zu deuten, dass all jene Schwankungen, welche auf die Periodizität des konstanten wie des variablen Fehlers hatten schließen lassen, noch lange nicht als Gesetz gedeutet werden konnten und lediglich zufällige Abweichungen darstellen, welche die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes nicht antasteten. Max Mehner glaubte hingegen, dass der ganze Bereich des Zeitsinns einer neuen Untersuchung unterzogen werden müsse;18 er verwendete das von Estel benützte Messinstrument und ging ebenfalls nach der Methode der Minimaländerungen vor. Auch laut Mehner hatte das Webersche Gesetz im Bereich des Zeitsinns keine Gültigkeit. Für ihn schien sich das Webersche Gesetz erst ab 7,1 Sekunden durchzusetzen, zumal von hier an die mittlere Sensibilität für Reizunterschiede konstant bleibt.19 In einer späteren Arbeit versuchte Fechner die aufgekommenen Missverständnisse zu beseitigen und vor allem Estels Replik auf seine Kritik zu entkräften, ohne seine eigenen Anschauungen zu verändern.20 Neue Experimente wurden aber erst von Richard Glass geboten, der die Kontroverse seiner Vorgänger so zusammenfasste: Vergleicht man die Gesetze Mehner’s mit jenen Estel’s, so lehrt ein flüchtiger Blick schon, in welch’ grellen Gegensatz beide Autoren zu einander geraten. Estel’s Arbeit hat eine wertvolle Abhandlung Fechner’s veranlasst, in welcher dieser unermüdliche Förderer der Psychophysik die Unsicherheit der Estel’schen Schlüsse darthut; Mehner’s Resultate aber sind teilweise außerordentlich merkwürdiger Natur, und die Folgerungen, welche er aus seinen Beobach16 17 18 19 20

Vgl. V. Estel, „Neue Versuche über den Zeitsinn“, Philosophische Studien 2, 1885, S. 37–65; Ders., „Über die Frage des Weber’schen Gesetzes und Periodicitätsgesetzes im Gebiete des Zeitsinnes“ in: ebd., S. 475–482. Vgl. G. Th. Fechner, „In Sachen des Zeitsinnes und der Methode der richtigen und falschen Fälle, gegen Estel und Lorenz“, Philosophische Studien 3, 1886, S. 1–37. Vgl. M. Mehner, „Zur Lehre vom Zeitsinn“, Philosophische Studien 2, 1885, S. 546–602. Hier, wie in anderen sensorischen Bereiche, gilt das Webersche Gesetz nicht für das gesamte Spektrum von Reizen, sondern nur für einen Teil. Vgl. G. Th. Fechner, „Ueber die psychischen Maßprincipien und das Weber’sche Gesetz“, Philosophische Studien 4, 1888, S. 161–230.

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tungen zieht, sind, wie mich dünkt, nicht über alle Anfechtbarkeit erhaben, so dass mir nicht nur ein Beleuchtung der Mehner’schen Sätze, sondern auch eine Wiederholung der Versuche überhaupt angezeigt erschien.21

Es müssen hier auch zwei weitere Schüler Wundts – Hugo Münsterberg und Ernst Meumann – angeführt werden, die sich im Studium der Zeitwahrnehmung profiliert haben. Als Münsterberg seine Forschungen über den Zeitsinn durchführte, stand er noch unter dem wissenschaftlichen Einfluss von Wundt; als er aber 1892 auf Einladung von William James nach Harvard ging, distanzierte er sich zunehmend von den Theorien seines Lehrers. Nach Münsterberg bietet das kleinste, gerade noch wahrnehmbare Intervall zwischen zwei Reizen den wichtigsten Maßstab der Schätzung des Subjekts:22 Dieses Intervall kann nicht kürzer als eine Drittelsekunde sein, weil eine merkbare Empfindung der Entspannung nach der ersten Einwirkung bei einem so kurzen Intervall nicht wahrnehmbar ist. Nach dem ersten Reiz beginnt eine Phase der Spannung, weil das Subjekt eine Erwartungshaltung einnimmt, die erst durch die Wahrnehmung eines neuen Reizes beendet wird. Münsterberg beobachtet, dass die Abfolge der Empfindungen der Spannung und Entspannung in der einfachen Form, wie sie bisher betrachtet wurde, in keiner Weise ausreicht, um die Erscheinungen wirklich zu erklären. Der zweite Reiz tritt nämlich ein, während unsere Aufmerksamkeit durch die Entspannung nach dem ersten Reiz noch etwas verlangsamt ist. Die zweite Spannung wird erst durch den zweiten Reiz, beziehungsweise ein ihm vorangehendes Signal angeregt; zwischen dem Ende der ersten Entspannung und dem Beginn der zweiten Spannung könnte somit ein beliebig langer Zwischenraum liegen. Ferner hebt Münsterberg hervor, dass bestimmte Kontraktionen durch einen Faktor beeinträchtigt würden, der bisher ignoriert worden war, der aber von allerwesentlichster Bedeutung ist, nämlich der Atmung. Die Atmung wird im Spannungszustand unterbrochen und auch das normale ruhige Atmen erzeugt bei jedem Ein- und Ausatmen einen völlig veränderten Spannungszustand zahlreicher Muskeln. Schließlich versuchte Münsterberg mit großer Plausibilität, die Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen von Vierordt, Estel, Mehner und Glass zu erklären – aufgrund der Tatsache, dass sie unterschiedliche Messverfahren angewendet haben. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Zeitsinn und Rhythmus sind die Studien Ernst Meumanns, die in Wundts Philosophischen Studien veröffentlicht wurden und eine lebhafte Kontroverse mit Friedrich Schumann initiierten, sehr relevant. Außerdem waren sie eine Inspirationsquelle für wichtige spätere Forschungen, wie die von Koffka, auf die ich später eingehen werde. Obwohl der Name Meumanns in der heutigen Forschung in Vergessenheit geraten ist und er nur noch als einer der Väter der experimentellen Pädagogik gilt, übten seine Forschungen über Rhythmus, Zeitsinn, Intelligenz und Wille einen starken Einfluss auf die experimentelle Psychologie seiner Zeit aus. Auch er war ein 21 22

R. Glass, „Kritisches und Experimentelles über den Zeitsinn“, Philosophische Studien 4, 1886, S. 424. Vgl. H. Münsterberg, Beiträge zur experimentellen Psychologie, Freiburg i. B. 1889, S. 29 f.

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Schüler Wundts und wurde 1896 zum Professor für Philosophie an der Universität Zürich ernannt, wo er bis 1905 wirkte; in jener Zeit gründete er das Psychologische Laboratorium, den Vorläufer des Psychologischen Instituts. In der Schweiz kam es zum Konflikt zwischen Meumann und Wundt, insbesondere aufgrund ihrer unterschiedlichen Einstellungen zur Begründung einer experimentellen Pädagogik; Meumanns Ideen waren jedoch nicht weit von denen seines Meisters entfernt.23 Meumann machte die Beurteilung der Dauer der verflossenen Zeit und die Täuschungen des Zeiturteils zum Objekt seiner Untersuchungen. Er veröffentlichte zwei Aufsätze über den Zeitsinn,24 die hier nur in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Dabei nahm er an, „dass die Schätzung kleinster, durch bloße begrenzende Reize markierter Zeitintervalle als ein besonderer Fall der Zeitschätzung von derjenigen mittlerer und größerer Zeitstrecken unterschieden werden müsse.“25 Im ersten Falle – bei Intervallen bis zu etwa 0,5 Sekunden – ist die Perzeption der Geschwindigkeit der Abfolge der Eindrücke entscheidend, d. h. die Dauer des zwischen ihnen liegenden Intervalls. Diese Schätzung ist bei diesen kleinsten Zeiteinheiten stark von sinnlichen Faktoren beeinflusst und in hohem Grade von der Art des gewählten Reizes abhängig. In der Einleitung zu seiner Arbeit beschreibt Meumann eine Reihe möglicher Täuschungen, von denen er als eine der frappantesten erwähnte, „dass indirekt gesehene in äußerst kurzen Abständen (0,05–0,3 Sekunden) aufeinanderfolgende Funken langsamer zu verlaufen scheinen als direkt gesehene.“26 Der Hauptteil seiner Forschung gilt dem Einfluss der Zeitintervalle auf die Beurteilung ihrer Dauer. Die hier geschilderten Experimente sind alle so angelegt, dass das Vergehen der Zeit in einer „leeren“ mit einer „reizgefüllten“ Zeitspanne verglichen wird. „Leer“27 ist ein Zeitintervall, wenn er von einem Reiz eingeführt und von einem anderen beendet wird, während ein „gefülltes“28 Intervall durch einen kontinuierlichen Reiz charakterisiert ist. Meumann verwendete in seinen Experimenten auditive, visuelle und taktile Reize, um ein Zeitintervall durch unterschiedliche Sinnesempfindungen begrenzen zu lassen. Wenn beispielsweise das erste von zwei Zeitintervallen durch einen Lichtreiz, das zweite durch ein Geräusch oder einen Tastreiz begrenzt werden, so erscheint die zweite Zeitspanne länger als die erste. Beim Einfluss der Ausfüllung von Zeitstrecken auf die Beurteilung der Dauer beobachtete er, dass nicht die Natur 23 24 25 26 27 28

Vgl. W. G. Bringmann, G. A. Ungerer, „Experimental vs. educational psychology: Wilhelm Wundt’s letters to Ernst Meumann“, Psychological Research 42, 1890, S. 57–73. Vgl. E. Meumann, „Beiträge zur Psychologie der Zeitsinns“, Philosophische Studien 8, 1893, S. 431–509; Ders., „Beiträge zur Psychologie der Zeitsinns“ Philosophische Studien 9, 1894, S. 264–306. E. Meumann, Zur Psychologie der Zeitanschauung“, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie des Sinnesorgane 18, 1896, S. 128. Ebd. Ebd. S. 135 f. Leere Zeit wird als Langweile erlebt und vom Individuum als leeres Geschehen betrachtet. Mit reizgefüllter Zeit meint Meumann „dass die betreffende Zeitstrecke dem Bewusstsein wesentlich durch solche Empfindungen repräsentiert wird, die mittelst willkürlich im Experiment eingeführter Reize hergestellt werden“. Ebd. S. 136.

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der „begrenzenden Eindrücke“, sondern die Art, wie sich dieses Intervall in unserem Bewusstsein prägt, für die Zeitwahrnehmung ausschlaggebend ist. Über den Zeitsinn und die Gründe seiner Auseinandersetzung mit Schumann äußert sich Meumann wie folgt: Ich setze als eine letzte, nicht weiter diskutierbare Erfahrungstatsache, dass die Vorgänge unseres Bewusstseins unserer inneren Wahrnehmung stets zugleich als Vorgänge zeitlicher Natur d. h. als in Zeitverhältnissen stehend gegeben sind, und dass wir diese zeitlichen Verhältnisse relativ gesondert wahrnehmen können, ebenso wie wir Intensitätsverhältnisse relativ gesondert wahrnehmen können, obgleich sie stets nur als die Intensitätsstufen gewisser Qualitäten da sind. Eine zweite, für unser Problem ebenfalls vorauszusetzende Tatsache, ist die, dass dieser relativ gesondert zum Bewusstsein gebrachte zeitliche Tatbestand zum alleinigen Gegenstand einer Aussage gemacht werden kann.29

Von diesen zeitlichen Verhältnissen kann man laut Meumann vier Modifikationen „durch die innere Wahrnehmung als eben so viele ursprüngliche Bewusstseinstatsachen zeitlicher Natur feststellen“ – und zwar: die Dauer, die Aufeinanderfolge, die Gleichzeitigkeit und die zeitliche Wiederkehr. Alles Übrige, was vielfach als psychologische Tatsache des Zeitsinns angesehen wurde, sei für ihn „aus der Reflexion stammende Weiterbildung dieser elementaren Zeitwahrnehmungen.“30 Die Studien über die Zeitwahrnehmung bilden den Einstieg Meumanns in das Forschungsfeld des Rhythmus, da er später in seinem Labor in Zürich wichtige Experimente über Zeitsinn und Rhythmus durchgeführt hat. Er schrieb einen Aufsatz31 über den Rhythmus, der auf seiner Habilitation basierte, dessen Ziel es war: 1. die verschiedenen Tatsachengebiete, in denen wir die rhythmische Erscheinungen finden, gegeneinander abzugrenzen, ihre Eigentümlichkeiten wenigstens durch eine Aufsuchung der den rhythmische Eindruck konstituierenden Elemente zu bestimmen; 2. die Aufgabe der psychologischen Forschung gegenüber den Tatsachen des Rhythmus zu bezeichnen und bestimmte Fragestellungen für die experimentelle Untersuchung zu gewinnen.32

In diesem Aufsatz liefert Meumann einen Überblick über die theoretische Forschung zum Rhythmus. In den ersten drei Kapiteln geht es um Literatur über den Rhythmus in Ästhetik, Philosophie, Psychologie und Physiologie. Das letzte Kapitel behandelt die Anfänge der experimentellen Erforschung des Rhythmus. Im Schlusswort formuliert Meumann, was aus seiner Sicht die psychischen Phänomene, die durch Rhythmus ausgelöst werden, ausmacht, nämlich: Ein zentraler Energiewechsel, eine Adaption an eine bestimmte Ablaufgeschwindigkeit und ein dadurch entstehender Bewegungsautomatismus. Der Forschungsbericht von Meumann ist heute noch von Bedeutung und gibt uns einen Einblick in die Forschung seiner Zeit. Jedoch ist sein Stil sehr kompliziert und entbehrt jeglicher Synthese. Seine Arbeiten haben aber die Forschung seiner Studenten über Rhythmus und Arbeit inspiriert, die wir in der Folge besprechen werden. 29 30 31 32

E. Meumann (1893), S. 504. Ebd. Vgl. E. Meumann, „Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus I.“, Philosophische Studien 10, 1894, S. 249–322; Ders., „Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus II.“, Philosophische Studien 10, 1894, S. 393–430. E. Meumann (1894a), S. 251.

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2. RHYTHMUS UND ARBEIT Der Anfang des 20. Jahrhunderts war, aus der Warte der Psychologie, auch das Zeitalter der Psychotechnik, d. h. der „angewandten Psychologie“. Psychologische Erkenntnisse wurden dabei oft in Bezug auf eine potentielle Arbeitsleistung funktionalisiert, wie auch das damals weit verbreitete Begriffspaar „Rhythmus-Arbeit“ belegt. An dieser Stelle soll nun auf den Aufsatz von Keiver Smith mit dem symptomatischen Titel Rhythmus und Arbeit33 eingegangen werden. Margaret Keiver Smith war eine kanadische Psychologin, die Philosophie in Göttingen studierte und 1898 nach Zürich zog, wo sie im Labor von Ernst Meumann arbeitete. Wie Meumann liefert sie einen wichtigen Beitrag zur Beziehung von Zeitsinn und Rhythmus. Gegenstand ihrer Untersuchung waren die rhythmischen Bedingungen, unter denen Arbeit besser oder schneller ausgeführt werden kann. Zu diesem Zweck führte sie fünf Arten von Experimenten durch: 1) Ergographische Experimente; 2) Experimente zu rhythmischem Schreiben; 3) Experimente mit Gewichten; 4) Experimente zu rhythmischem Lernen. Die erste Experimentserie, die Versuche mit dem Ergographen,34 erbrachte nur wenige Resultate. Keiver Smith hatte anfangs die Absicht, mithilfe des Ergographen unrhythmische Arbeit mit rhythmischer Arbeit zu vergleichen. Da die Ergebnisse jedoch stark variierten, gab sie die Methode auf. Der Zweck von Experimenten mit Schreibübungen war es zu entdecken, ob das Schreiben zu einem bestimmten Takt leichter von der Hand geht als ohne Takt. Ziel der Wissenschaftlerin war festzustellen, inwieweit die Quantität und die Qualität der Leistung von den jeweiligen Umständen abhängig sind. Die Versuchspersonen, die Buchstaben, Silben und Wörter auf einem laufenden Zylinder sahen und diese abschreiben mussten, wurden aufgefordert, dieselbe Tätigkeit ständig zu wiederholen. Die Versuche zeigten folgendes: Jede Person hat ein eigenes Schreibtempo, welches unter gewissen Umständen und in begrenztem Maße variiert. Ein vorgegebener Takt kann Ermüdung beim Schreiben kompensieren und dafür sorgen, dass sie sich nicht negativ auf die Anzahl der geschriebenen Wörter auswirkt. In den Experimenten wurde beobachtet, dass der Rhythmus einen direkten Einfluss sowohl auf die Qualität als auf die Quantität der Arbeit hat. Regelmäßige, schnell wiederkehrende Bewegungen der Gliedmaßen werden tendenziell rhythmisch und man nimmt über ebendiese Bewegungen einen bestimmten Rhythmus wahr – dies ist auch bei der Schreibbewegung der Fall. In den meisten Fällen führt eine rhythmische Begleitung des Schreibens zu einer optischen Veränderung des Schriftbildes. Je schneller das vorgegebene Tempo wird, desto mehr verschlechtert sich das Schriftbild, weil dabei versucht wird, den Rhythmus beizubehalten und dafür auf die Qualität der Schrift verzichtet. Die Gewichtsversuche Keiver Smiths sind anspruchsvoller als die Schreibversuche, weil es hierfür bereits eines bedeutenden Maßes geistiger Konzentration bedurfte. In diesen Versuchen ging es um den Einfluss von Rhythmus auf das Heben 33 34

Vgl. M. Keiver Smith, Rhythmus und Arbeit, Leipzig 1900. Ein Ergograph ist ein Messinstrument zur Beurteilung der Leistung z. B. eines Fingers, der ein bestimmtes Gewicht heben und senken muss. Es wurde 1880 von Angelo Mosso eingeführt.

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von Gewichten. Keiver Smith betonte hierbei, dass es nicht auf die Hebegeschwindigkeit, sondern auf die kinästhetischen Empfindungen der Versuchspersonen beim Heben ankommt. Die letzte Reihe war Gedächtnisexperimenten gewidmet. Hier stellte sich die Frage, welchen Einfluss der Rhythmus beim Lernen und Reproduzieren von Buchstaben und zusammenhanglosen Silben hat. Bei allen Versuchspersonen hat der vorgegebene Rhythmus einen stark „motorischen Charakter“ gezeigt, weil er sich direkt auf die Empfindung der Aktivitäten auswirkte: In den meisten Fällen schien der Rhythmus beim Lesen ein angenehmes und natürliches Gefühl zu bewirken. Weil man beim Lesen zur Assoziationsbildung neigt, konnte jedoch eine direkte Beeinflussung des Gedächtnisses durch den Rhythmus durch diesen Versuch nicht bestätigt werden. Dobri Awramoff,35 der am Psychologischen Labor in Zürich arbeitete, lieferte wichtige Forschungsergebnisse zum Einfluss von Rhythmus auf Quantität und Qualität geistiger und körperlicher Arbeit. Er beobachtete die Unterschiede zwischen rhythmischer und unrhythmischer Arbeit mithilfe des Ergographen. Ebenso wie Kiever Smith untersuchte auch Awramoff das Heben von Gewichten und das Schreiben unter verschiedenen Bedingungen. Die Versuchspersonen wurden gebeten, durch Beugen und Strecken des Mittelfingers ein 5 kg Gewicht solange aufund abzuheben, bis sie keine Kraft mehr hatten. Der Finger wurde mit einem Ergographen verbunden, ihre Bewegungen wurden in Millimeter und die Zeit mit der „Fünftelsekundenuhr“ gemessen.36 Im Hinblick auf das Heben von Gewichten lassen sich Awramoffs wichtigste Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: Jede Versuchsperson hat ein bestimmtes Arbeitstempo, das im Rahmen gewisser Grenzen veränderlich ist. Bei selbstgewähltem Tempo wird meistens weniger geleistet, das Arbeiten aber als angenehmer wahrgenommen als bei einer vorgegebenen Geschwindigkeit. Ein vorgegebenes Tempo ist also nur geeignet, die quantitative Arbeitsleistung – jedoch unter größerem Energieaufwand – zu erhöhen. Je höher dieses Tempo wird, desto größer wird die quantitative Leistung. Für das Heben von Gewichten eignet sich ein bestimmtes Tempo; bei ansteigendem Tempo wird das unangenehme Gefühl in ein schmerzhaftes verwandelt. Die „Hubhöhen“ sind regelmäßiger bei selbstgewähltem als bei vorgeschriebenem Tempo. Aus qualitativer Sicht zeigten diese Experimente, dass die beste Leistung immer dann erreicht wird, wenn das Tempo den Kräften des Arbeitenden entspricht und der Art der Arbeit gerecht wird sowie erst dann, wenn der Arbeiter den Arbeitsschritt beherrscht. Bei steigendem Tempo wächst die Leistung, aber es verschlechtert sich die Qualität der Arbeit und umgekehrt. Außerdem wird die Arbeit bei selbstgewähltem Tempo als angenehm, bei vorgeschriebenem Tempo hingegen als unangenehm empfunden. Die Graphiken zu den Ergebnissen des Experiments werden gleichmäßiger mit der Übung und Gewöhnung der Arbeiter aber nehmen mit der Ermüdung der Probanden ab. Aufmerksamkeit ist förderlich für die Arbeitsleis35 36

Vgl. D. Awramoff, „Arbeit und Rhythmus. Der Einfluss des Rhythmus auf die Quantität und Qualität geistiger und körperlicher Arbeit, mit besonderer Berücksichtigung des rhythmischen Schreibens“, Philosophische Studien 18, 1903, S. 515–62. Ebd. S. 506.

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tung, während die Gefühle der Subjekte eher Begleiterscheinungen sind. Die positive Wirkung des Rhythmus auf das Bewusstsein zeigt sich hauptsächlich in Form einer Anregung und eines Antriebs. Jedem Gewicht entspricht ein bestimmtes günstiges Tempo, aber dieses Tempo ist bei begrenzten Hebungen nicht deckungsgleich mit demjenigen bei unbegrenzten Hebungen. In Bezug auf das Schreiben versuchte Awramoff, die Unterschiede zwischen Männern, Frauen und Kindern zu bestimmen. Er hielt die Eigenheiten des Schreibens der Versuchspersonen durch Apparate fest, die Druck- und Zeitverhältnisse der Schrift der Versuchspersonen registrieren konnten.37 Er stellte fest, dass Frauen im Durchschnitt größer, langsamer und mit größerem Druck als Männer schreiben. Die Schreibbewegungen sind bei Frauen komplizierter und von stärkerer Willensanstrengung begleitet als bei Männern. Kinder schreiben größer, langsamer, unregelmäßiger, unrhythmischer und mit geringerem Druck als Frauen. Auf eine Beschleunigung des Schreibtempos antworten die Männer vorzugsweise mit einer Steigerung der Willensanstrengung, die Frauen und Kinder dagegen mit einer Verkleinerung der Schriftzüge und des Druckes. Bei einem Diktat schreiben die Frauen mit geringem Druck, kleinen Buchstaben und schneller; die Männer mit großem Druck, schneller und mit weitläufigen Buchstaben; Kinder mit geringem Druck, schneller und mit kleineren Buchstaben. Beim Schreiben ohne besonderen Zeitdruck oder Anleitungen üben Erwachsene einen stärkeren Druck auf das Papier aus; Knaben schreiben langsam mit geringem Druck und kleineren Buchstaben; Mädchen mit großem Druck, langsam und großen Buchstaben; das gleiche gilt für alle Versuchspersonen beim Abschreiben. Awramoff räumt jedoch ein, dass es „Frauen mit männlicher und Männer mit frauenhafter Schrift“38 gibt. Diese Experimente sind interessant, weil sie in Bezug auf die Handschrift verschiedene Schreibtypologien unterscheiden, die sehr stark vom Schreibrhythmus abhängen. 3. RHYTHMUS UND GESTALTPSYCHOLOGIE Die Zentralität, die sich die Berliner Schule von Carl Stumpf in der Psychologie des 20. Jahrhunderts erarbeitet hatte, ist kaum zu überschätzen. Er hatte mit Franz Brentano und Rudolf Hermann Lotze studiert und hatte unter seinen prominenten Schülern Edmund Husserl, den Begründer der philosophischen Phänomenologie, Robert Musil, Erich von Hornbostel, Friedrich Schumann und vor allem Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer, die drei Begründer der Gestaltpsychologie.39 Stumpf, der ein Befürworter des phänomenologischen Ansatzes in der expe-

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Die Charakteristiken des Drucks wurden durch den sogenannten Marey’schen Tambour und einen pneumatischen Registrierapparat aufgezeichnet; die Dauer wurde durch ein System von Kontaktlinien aufgezeichnet, welche die Auflösung der Schreibbewegung in eine Anzahl von Zeitmomenten fragmentieren. D. Awramoff (1903), S. 562. Vgl. D. Brett King, M. Wertheimer, Max Wertheimer & Gestalt Theory, Piscataway NJ 2007; M. G. Ash, Gestalt psychology in German culture, Cambridge and New York 1998.

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rimentellen Psychologie war, ist der anerkannte Vater der modernen Psychologie der Musik.40 Einer der ersten Schüler Stumpfs, der Rhythmus erforschte, war Kurt Ebhardt.41 Das bedeutendste Ergebnis seiner Untersuchung kann in folgendem Prinzip zusammengefasst werden: Immer wenn ein Subjekt beim Erzeugen einer Reihe von Klängen – z. B. das Klopfen auf einer Tischplatte – in irgendeiner Weise das Tempo erhöht, wird der notwendige Aufwand, um die richtige Bewegung zu erzeugen, seine Aufmerksamkeit vom Zeitablauf ablenken. Die Zeitabläufe scheinen also unter Kraftaufwand länger, weil der Aufwand von der rationalen Einschätzung der Zeitdauer ablenkt. In einer ersten Reihe von Experimenten hat Ebhardt den Einfluss der Betonung auf die zeitlichen Verhältnisse von „Klopfserien“ studiert, welche die Probanden ausführen mussten. Die beteiligten Versuchspersonen mussten nämlich eine Reihe von Klopfschlägen in regelmäßigen Abständen erzeugen. Das Intervall zwischen den Bewegungen wurde den Versuchspersonen überlassen und variierte zwischen 0,3 und 0,6 Sekunden. Im ersten Experiment hatten alle Bewegungen die gleiche Intensität. Im zweiten Experiment wurde jede zweite Bewegung, in der dritten jede dritte Bewegung betont. Die unterschiedlichen Betonungen erfolgten durch die Variation der Stärke und des Drucks der „Klopfserien“. Das Ergebnis war, dass alle Intervalle nach akzentuierten Bewegungen länger als die folgenden unbetonten Bewegungen waren. In der zweiten Serie von Experimenten, deren Versuchspersonen Klavierspieler waren, wurde der Einfluss der rhythmischen Begleitung auf das Tempo studiert. Ohne auf eventuelle Fehler während des Spiels zu achten, wurde untersucht, wie sich die Gesamtgeschwindigkeit des Spiels ändert, wenn zuerst ohne, dann mit Begleitung gespielt wird. Es zeigte sich, dass beim Spiel mit Begleitung durchgehend weniger Zeit gebraucht wurde, als beim Spiel ohne Begleitung. Laut den Aussagen der Versuchspersonen war die Tempoänderung – wenn überhaupt davon ausgegangen werden könne – höchstens in Richtung einer Beschleunigung beim Spiel ohne Begleitung wahrnehmbar. In einer anderen Serie wurde ein Musikstück auf einem stummen Klavier gespielt, also auf einer Tastatur, die nicht an Saiten angeschlossen war und daher keine Klänge erzeugte. Auch das Spiel am stummen Klavier beanspruchte mehr Zeit, als das Spiel ohne Begleitung. Die Probanden mussten sich die Melodie vorstellen anstatt sie zu spielen und da sie dadurch vollkommen auf ihre Einbildungskraft angewiesen waren, verloren sie die Dauer ihrer Handlung aus dem Blick. Nach Ebhardt könnten die Ergebnisse folgendermaßen interpretiert werden: Man könnte vielleicht versuchen, die Verringerung der Geschwindigkeit des Spiels ohne Begleitung auf folgende Weise zu erklären. Der Spieler hat mehr Arbeit zu leisten, wenn er mit beiden Händen spielt; er muss mehr Noten lesen, mehr Tasten anschlagen, seine Aufmerksamkeit teilen zwischen Beachtung der Melodietöne und denen der zugehörigen Harmonien, bzw. sie anstatt auf die einfacheren Empfindungen einzelner Töne auf die Verschmelzung mehrerer 40 41

Vgl. C. Stumpf, Tonpsychologie, Leipzig 1883–1890; Ders., Anfänge der Musik, Leipzig 1911. Vgl. K. Ebhardt, „Zwei Beiträge zur Psychologie der Rhythmus und der Tempo“, Zeitschrift für Psychologie 18, 1898, S. 99–154.

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Riccardo Luccio zu einem Empfindungskomplex richten usw. Seine Aufmerksamkeit wird dagegen entlastet, wenn er nur die Melodie spielt; es fällt der Zwang fort, sie anzuspannen, und so findet ein Sich gehenlassen, ein Abschweifen von der Aufgabe statt: Vorstellungen und Gedanken, die nicht zur Aufgabe gehören stellen sich ein und werden verfolgt. Dadurch wird eine Verzögerung des Spiels hervorgerufen.42

Abschließend soll nun noch auf Kurt Koffka eingegangen werden, dessen Beobachtung zum Rhythmus die vielleicht wichtigste seiner Generation war. Diese entstammte seiner Dissertation, die er unter der Betreuung von zunächst Carl Stumpf und dann von Friedrich Schumann verfasste. Er schloss seine Forschungen 1908 ab und ein Jahr später erschienen sie in der Zeitschrift für Psychologie.43 Koffka führte zwei verschiedene Arten von Experimenten durch, um zu sehen, ob durch visuelle Eindrücke allein ein rhythmischer Eindruck hervorgerufen werden konnte. Die Pilotstudie bestand darin, dass ein 1 cm breiter schwarzer Strich auf grauem Hintergrund in regelmäßiger und variierbarer Zeitfolge abwechselnd gezeigt und verdeckt wurde. Aufgabe der Versuchspersonen war es, diesen Strich zu beobachten und die eigenen Eindrücke aufzuschreiben. Im Design des Hauptexperiments war an der Stelle des festen Objekts, das abwechselnd gezeigt und verdeckt wurde, eine in regelmäßigen Intervallen aufleuchtende Kreisfläche, die vor einem dunklen Hintergrund auftauchte. Koffka benutzte drei verschiedene Instruktionen für das Hauptexperiment, die in zwei Pilotstudien getestet worden waren. Gemäß der ersten Instruktion, mussten die Versuchspersonen einen Ausschnitt in einem „Schirm“, auf dem ein bläuliches Licht erschien, zuerst beobachten und nach dem Experiment über ihre Beobachtungen berichten. Manchmal wurden die Stimuli rhythmisch präsentiert, d. h. dass der Rhythmus vorgegeben war. In der zweiten Instruktion wurde den Versuchspersonen nahegelegt, die Stimuli in Gruppen von beliebiger Anzahl zu verbinden und dabei einen subjektiven Rhythmus zu erzeugen. Die dritte Instruktion sollte hingegen dazu dienen, rhythmische Reihen ablaufen zu lassen, ohne entsprechende äußere Reize: die Versuchspersonen waren also aufgefordert, entweder einen vorgegeben Rhythmus mit einem Finger „mitzuklopfen“ oder den Rhythmus rein gedanklich (innerlich) zu reproduzieren. Koffka schloss aus seinen Ergebnissen, dass die Regelmäßigkeit nicht in sich selbst Rhythmus sei, weil die Erfahrung der Regelmäßigkeit ein Urteil beinhaltet. Für Koffka ist der Rhythmus eine unmittelbare Perzeption, die der Urteilskraft vorausgeht. Somit antizipierte Koffka durch die Erforschung des Rhythmus einen Grundgedanken der Gestaltpsychologie, demnach „Gestalten“ der Erfahrung unmittelbar erscheinen und keiner weiteren kognitiven Aktivitäten benötigten. Während der Experimente wurden regelmäßig auftretende Reize von den Probanden gruppiert, sodass diese subjektiv gebildeten Gruppen von der gleichen Art wie die entsprechenden objektiven Gruppen waren. Gruppenbildung ist im Rhythmus immer vorhanden, weil dabei mindestens eines oder mehrere Elemente eines Ganzen betont werden müssen. 42 43

Ebd. S. 153. Vgl. K. Koffka, Experimental-Untersuchungen zur Lehre von Rhythmus, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 52, S. 1–109.

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Die Ergebnisse von Koffkas Studien liegen ohne Zweifel auf theoretischer Ebene.44 Alle von Koffka darin gebrauchten Ausdrücke weisen darauf hin, dass es eine bestimmte Art der Aktivität ist, die dem Rhythmus als wesentlich zukommt. Laut Koffka sind die Haupteigenschaften des Rhythmus die Gruppierung von Empfindungsreizen und die Trennung des Rhythmus von den umliegenden Phänomenen. Somit ist Gruppenbildung das Hauptingredienz des rhythmischen Erlebnisses, wie auch die Ergebnisse seiner Experimente bestätigten. Der erste Eindruck, den die Versuchspersonen seiner Experimente hatten, war der der Regelmäßigkeit, was sie zum unwillkürlichen Eindruck verführt, dass „dass mehrere aufeinanderfolgende Zeitabschnitte einander gleich seien.“45 Diese Ergebnisse der Experimente wurden in der Interpretation von Koffka mit dem Konzept des „Gebildes“ Carl Stumpfs in Beziehung gebracht: Der Begriff der Gruppe, auf den wir uns somit geführt finden, fällt unter den allgemeineren der Einheitsform (Gestaltqualität, Komplexion). […] Danach ist die Einheitsform das psychische Gebilde, das der Funktion des Zusammenfassens entspringt, wenn zwischen den zusammengefassten Gliedern sachliche Beziehungen bestehen.46

Die Nähe der Theorien von Stumpf und Koffka könnte mit vielen Zitaten aus Koffkas Aufsatz nachgewiesen werden. Stumpf hatte einen bedeutenden Aufsatz über die phänomenalen Erscheinungen und die psychischen Funktionen geschrieben, in dem das Konzept „Gebilde“ zum ersten Mal als Fachbegriff eingeführt worden war.47 Er definierte diesen Begriff mit folgenden Worten: „Jede Funktion außer der grundlegendenden des Wahrnehmens hat ein Korrelat, dessen allgemeine Natur, wie die der Funktion selbst, nur durch Beispiele erläutert werden kann.“48 Ein solches Korrelat ist das, was Stumpf „Gebilde“ nennt und stellte für Koffka die Grundlage seiner Rhythmustheorie dar. Obwohl die „Gebilde“ einen dynamischen Charakter haben, weil sie eine Interaktion zwischen einem Subjekt und einem Objekt beschreiben, werden sie im Bewusstsein als Einheit aufgefasst. Stumpf bezieht sich in seiner Studie auf zwei grundlegende Konzepte: Das erste ist das von Ehrenfels eingeführte Konzept der „Gestaltqualität“, welches er kritisiert, das zweite ist Husserls „Einheitsmoment“: Es gibt nun aber auch Zusammenfassungen, bei denen keine sachliche Zusammengehörigkeit obwaltet […]. Daher möchte ich unter Mitberücksichtigung dieser Fälle mit dem allgemeinem Ausdruck ‚Inbegriff‘ alles das bezeichnen, was als spezifisches Ergebnis einer Zusammenfassung im Bewußtsein auftritt […] Er ist das notwendige Korrelat der zusammenfassenden Funktion. Formen (Gestaltqualitäten) sind dann spezielle Fälle von Inbegriffen, bei denen noch die sachlich verbindenden Beziehungen der Glieder hinzukommen […] Ein solches Drittes außer Erscheinung und Funktion ist nun auch bei allen anderen intellektuellen Funktionen zu unterscheiden, so beim begrifflichen Denken. Das Erfassen der einfachsten Begriffe ist eine Funktion, die Begriffe selbst ihr Korrelat. Ich habe sie darum früher bereits als Gebilde in diesem Sinne bezeichnet.49 44 45 46 47 48 49

Vgl. Ebd. S. 103 f. Ebd. S. 104. Ebd. S. 103–104. Vgl. C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen, Berlin 1907. Ebd. S. 28. Ebd. S. 29.

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Das Konzept des „Gebildes“ spielte auch in den Theorien Wertheimers eine sehr wichtige Rolle, vor allem in seinem berühmten Aufsatz „über das Denken der Naturvölker.“50 Dieser Begriff, den Wertheimer nicht definiert, erscheint 156 Mal auf 69 Seiten, obwohl Wertheimer weder Stumpf noch Koffka zitiert. Es ist schwer vorstellbar, dass Wertheimer von Stumpfs Aufsatz keine Kenntnis genommen hatte, vor allem weil dieser Aufsatz zu jener Zeit in Berlin stark diskutiert wurde. Man kann also daraus schließen, dass Wertheimer und Koffka ähnliche Vorstellungen von „Gebilde“ hatten, weil sich auch für beide das „Gebilde“ als psychisches Korrelat bei einer sachlichen Beziehung zwischen Elementen konstituiert. Die verschiedenen Objekte ergeben also verschiedene Gebilde. Sie werden nämlich so aufgefasst, wie die Anschauung und die direkten praktischen Bedürfnisse es nahelegen. In einer Formel ausgedrückt: „Das Haus gibt andere Gebilde […] als Früchte oder Reiskörner.“51 Man kann also festhalten, dass sowohl Koffkas Konzept der Gruppierung wie auch Wertheimers Konzept des Gebildes Eigenschaften des Begriffs der Gestalt vorwegnehmen, wie er später durch die Gestaltpsychologie definiert wurde. 4. FAZIT In diesem Aufsatz wurden folgende zwei Themen diskutiert: Die Forschung zum Zeitsinn, vor allem die Ergebnisse der Schule von Wundt, und die Forschungen zum Rhythmus der psychologischen Schulen in Zürich und Berlin. Dabei wurde deutlich, inwiefern die Rhythmusforschung mit den Studien über den Zeitsinn zusammenhängen. Oft sind die Forscher selbst – wie etwa Meumann oder Schumann – vom Studium des Zeitsinns zum Rhythmus gelangt. Abschließend soll Adolph Stöhr zitiert werden, demzufolge die Zeit psychologisch dimensionslos ist und der Rhythmus die Art und Weise ist, durch die der Geist ihr eine psychologische Dimension gibt. Da es ohne Zeitsinn keinen Rhythmus, und umgekehrt, ohne Rhythmus keinen Zeitsinn geben kann, sind beide untrennbar miteinander verbunden. Stöhr legte dies folgendermaßen aus: Es scheint gegen die Unausgedehntheit des Zeitelements zu sprechen, dass der Rhythmus einer Tonfolge, wie man sagt, ohne Mithilfe der Überlegung direkt empfunden werde. In einem ausdehnungslosen Zeitelement kann man bald einen Ton hören und bald mehrere zugleich, niemals aber einen Rhythmus. In einem ausdehnungslosen Zeitelement könnte auch die Erinnerung an vier verschieden sein, weil man sich nur jeweilig an einen einzigen erinnern könnte und niemals an die Reihe als Ganzes. […] Dies alles reicht nicht hin, um den Rhythmus zu empfinden, der eine Zeitstrecke erfordern würde. Bei einem Schuss zucken wir zusammen; nicht infolge des Hörens, sondern durch direkte Berührung des Ohres als eines Bewegungsreizauffängers.52

Bei musikalischen Tönen bewegen wir uns ebenso automatisch, nur leise und äußerlich unsichtbar. Stöhr glaubt, dass unser Gang, unsere Herzbewegung und unser 50 51 52

Vgl. M. Wertheimer, „Über das Denken der Naturvölker“, Zeitschrift für Psychologie 60, 1912, S. 321–368. Ebd. S. 326–327. A. Stöhr, Psychologie, Wien und Leipzig 1922, S. 254.

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Atmen rhythmisch seien. Der Rhythmus wird dabei nicht bewusst empfunden, „sondern die Muskulatur reproduziert den Rhythmus empfindungslos indem sie ihn mitmacht und wiederholt.“53 Von den Ansätzen und Desiderata der genannten Psychologen ist in der zeitgenössischen Forschung wenig beibehalten worden. Dies ist insofern verwunderlich, als insbesondere die Forschung über den Zeitsinn eine gute Ausgangsbasis für die aktuelle kognitive Psychologie – etwa Donders Forschung über die psychische Zeitmessung – liefern könnte. Die hier dargestellte Forschung zum Rhythmus hatte Hochkonjunktur in einer Zeit, in der eine gewisse Art der Forschung im Labor klare Vorherrschaft hatte.54 In dieser Phase war der Fokus der Psychologen nämlich auf das Erlebnis der phänomenischen Wirklichkeit gerichtet, etwa die des Zeitsinns, die wir am Anfang dieses Beitrags skizziert haben. Das gilt nicht nur für die deutschsprachige, sondern auch für die englische und amerikanische Psychologie in denen Bolton,55 Myers,56 Sears57 oder Sanford58 im Bereich der Rhythmusforschung wichtige Beiträge geliefert haben. Diese Hochphase endete mit der Geburt des Behaviorismus, der die gesamte Psychologie veränderte. Der Forschung der psychologischen Schule in Berlin, welche die Rhythmusforschung vorangetrieben hat und die hier vorgestellt wurde, kommt dennoch der große Verdienst zu, der Gestaltpsychologie den Weg bereitet zu haben.

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Ebd. S. 256. Vgl. F. C. Donders, „Over de snelheid der gedachte en der wilsbepaling: Voorloopige mededeling“, Nederlandisch Archiv voor Genesen Natuurkunde 1, 1865, S. 518–521. Vgl. T. L. Bolton, „Rhythm“, American Journal of Psychology 6, 1894, 145–238. Vgl. C. S. Myers, „A study of rhythm in primitive music“, British Journal of Psychology 1, 1905, S. 397–406. Vgl. C. H. Sears, „Studies in rhythm“, Pedagogical Seminary 8, 1901, S. 1–44. Vgl. E. C. Sanford & N. Triplett, „Studies of rhythm and meter“, American Journal of Psychology 12, 1901, S. 361–387.

NIETZSCHES ZARATHUSTRA UND DER „GROSSE RHYTHMUS“ Gabriella Pelloni In den neuesten Arbeiten über den Rhythmus in den Künsten1 wird oft auf Nietzsche hingewiesen als den radikalen Urheber einer Rhythmustheorie, die dem Rhythmus geradezu die Fähigkeit zuschrieb, das philosophische Denken und seine Erkenntnisleistung zu befruchten. Tatsächlich hat kaum jemand dem Rhythmus in den Künsten und in der Philosophie so viel Bedeutung beigemessen wie Nietzsche. Er hielt die Kraft des Rhythmus für so wirkungsmächtig, dass er ihr sogar einen direkten Einfluss auf den Wahrheitsanspruch des Denkens zuschrieb. Wie dem Aphorismus Vom Ursprung der Poesie in der Fröhlichen Wissenschaft zu entnehmen ist, hält Nietzsche den Rhythmus nicht für bloßen Schmuck der Rede, sondern für eine aktiv am Prozess des künstlerischen und geistigen Schaffens beteiligte Kraft; quasi eine aprioristische Struktur oder ein transzendentales Prinzip, sei es kosmologischer oder physiologischer Natur: „[N]och jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt.“2 Hervorgehoben wird in der Regel der Umstand, dass die rhythmische Struktur der Sprache bei Nietzsche untrennbar an ihren verführerischen Charakter gebunden sei: Der Rhythmus stelle ein rhetorisches Mittel dar, das ihm als Altphilologen schon aufgrund seiner Beschäftigung mit antiker Metrik vertraut gewesen sei und mit der Kategorie der Persuasio im Zusammenhang stehe.3 Betont wird dennoch zu Recht auch, dass Nietzsche weit davon entfernt sei, die Kraft des Rhythmus rein auf das Sprachliche zu beschränken und seine Wirkungsmächtigkeit auf eine bloß rhetorische zu reduzieren. Die Kraft des Rhythmus wirke, so Nietzsche, zu gleicher Zeit auf Leib und Seele, sie sei ein Zwang, eine gleichsam elementare Überwältigung, welche die Lust erzeugt miteinzustimmen: „nicht nur der Schritt der Füsse, auch die

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Vgl. u. a. B. Naumann (Hrsg.), Rhythmus: Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 8–9; C. Brüstle, N. Ghattas, C. Risi, S. Schouten (Hgg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005, S. 9–10. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 84, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München / Berlin / New York 1980 (im Folgenden abgekürzt mit KSA), Bd. 3, S. 442. Vgl. H.-J. Frey, Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel / Weil am Rein / Wien 2000, S. 42–56.

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Seele selber geht dem Tacte nach.“4 Jeder Rhythmus hängt somit von der physiologischen Reizbarkeit und der geistigen Disposition des Zuhörers zusammen. Grundlage dieses Wechselverhältnisses zwischen Produktion und Wahrnehmung von Rhythmus ist die Erkenntnis, dass der Leib rhythmisch organisiert ist und jedes Individuum deshalb einen Eigenrhythmus besitzt, den es stets an die Wahrnehmung jedes produzierten Rhythmus heranträgt. Schon in den Rhythmischen Untersuchungen erörtert Nietzsche unter der Überschrift Kraft des Rhythmus, dass der Leib eine Unzahl von Rhythmen enthalte, sodass durch jeden äußeren Rhythmus ein direkter Angriff auf den Leib stattfindet: „Alles bewegt sich plötzlich nach einem neuen Gesetz: nicht zwar so, dass die alten nicht mehr herrschen, sondern dass sie bestimmt werden.“5 Die physiologische Begründung des Rhythmus mache, so Nietzsche, seine Macht aus. Beginnend mit den frühen philologischen Vorlesungen zur griechischen Lyrik und zum griechischen Drama bis hin zur letzten Schrift Ecce Homo setzt sich Nietzsche immer wieder mit den Bedingungen des lyrischen Sprechens auseinander. Im Zentrum stehen Fragen zum Wortakzent und Rhythmus sowie über die Möglichkeit der Vermittelbarkeit von Leidenschaft, Pathos und Affekt; Fragen, die nicht nur den Philologen Nietzsche beschäftigen, sondern den Bereich seiner eigenen dichterischen Produktion und der poetologischen Reflexionen über das Wesen der eigenen Sprache und des eigenen Stils betreffen. Die Nietzsche-Forschung hat wiederholt auf Nietzsches Entdeckung im Bereich der antiken Rhythmik und Metrik hingewiesen, eine Entdeckung, die ihn dazu brachte, auf die Ictustheorie und mithin auf das gesamte metrische Gerüst von Arsis und Thesis für die antike Rhythmik zu verzichten: Die antike Rhythmik, so Nietzsche, sei bloß an quantitierende, zeitökonomische Kriterien gebunden gewesen, sodass rhythmische Kadenzen, Metren und Verse allein durch Längen und Kürzen und nicht durch den für die germanischen Sprachen charakteristischen dynamischen Akzent ausgedrückt wurden.6 Der Ictus in den germanischen Sprachen sei nicht durch Tonhöhe oder Zeitdauer bestimmt, sondern bestehe in der größeren Kraft, mit der er gesprochen wird, d. h. in einem besonders kräftigen Hervorstoßen der Akzentsilben. Während der Wortakzent bei den Griechen „anima vocis“,7 also nur Hochton sei, konzentriere sich das seelische „Leben des Wortes“ in den germanischen Sprachen in der Akzentsilbe, die alles Leben in sich sauge. Mit dem Eintreten des Ictus fange die sogenannte „Verfallgeschichte des lateinischen Vokalismus“8 an, die das Verschwinden des Zeitgefühls beim Sprechen markiere. „[E]in Wechsel von betonten und nicht betonten Silben 4 5 6

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F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 84, KSA Bd. 3, S. 440. F. Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen, in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe in 40 Bänden, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1967 ff. (im Folgenden abgekürzt mit KGW), Bd. II/3, S. 322. Dazu neulich C. Benne, „Good cop, bad cop: Von der Wissenschaft des Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft“, in: G. Abel, M. Brusotti, H. Heit (Hgg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie: Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin 2011, S. 187–210, hier S. 194–195. Vgl. F. F. Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, Berlin / New York 2008, bes. S. 20–42. KGW II/3, S. 398. Ebd. S. 307.

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tritt an Stelle von hoch und tiefbetonten Silben.“9 Indem die physische Anspannung nur auf bestimmte Punkte gedrängt wird, während sie anderen Punkten fehlt, entsteht eine neue Art Rhythmus: keine „Zeitwechselwelle“ sondern „Stärkewechselwellen“. Nietzsche weigert sich somit, Rhythmus und Takt als anthropologische Konstanten aufzufassen, und betrachtet sie als kultur- und sprachabhängige Phänomene. In seiner Theorie der quantitierenden Rhythmik wird konsequent jede Beziehung von Takteinheiten einerseits und von Metrum und Rhythmus andererseits abgelehnt, deren Gleichsetzung in der Ictustheorie die Geschichte der modernen Rhythmik ausgemacht hatte. Auf diese Erkenntnis beruft sich Nietzsche noch einmal, als er 1888 in zwei Briefen an den Musiker und Bekannten Carl Fuchs10 die „barbarische Rhythmik“ („unsere germanische Rhythmik“), die aus einer „Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen, getrennt durch Senkungen“11 besteht, als einen Ausdrucksmittel des Affekts beschreibt, während er für die antike Zeitrhythmik ausschließlich das Prinzip der Zeitorganisation der Rede, welche die Affekte des antiken Redners mäßigen soll, gelten lässt.12 Diese letzten Überlegungen, welche die pointierte Schlussfolgerung hervorrufen, „unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum ‚Ethos‘“,13 führt von der philologischen Praxis direkt ins Zentrum der eigenen dichterischen Produktion und der eigenen Thesen zur Décadence-Ästhetik, die Nietzsche in seinen letzten Schriften mit Blick auf Wagner und dessen Tonkunst zu einer allgemeinen Theorie der Dekadenz der Modernität erweitert. Mit Rückblick auf die im Zarathustra entwickelte Artistik des Stils mit ihrer enormen rhythmischen Variationsbreite subsumiert Nietzsche in Ecce Homo unter dem Schlüsselbegriff des „grossen Rhythmus“ das ästhetische Verfahren des Zarathustra, das er nicht nur als eine Reaktion auf die abgenutzte Alltagssprache, oder auf die steife Begriffssprache der akademischen Philosophie verstanden wissen will, sondern im Nachhinein auch als die künstlerische Praxis erkennt, durch die es ihm gelungen war, die Décadence-Ästhetik zu überwinden: Und bis dahin wird es Niemanden geben, der die Kunst, die hier verschwendet worden ist, begreift: es hat nie Jemand mehr von neuen, von unerhörten, von wirklich erst dazu geschaffnen Kunstmitteln zu verschwenden gehabt. Dass dergleichen gerade in deutscher Sprache möglich war, blieb zu beweisen: ich selbst hätte es vorher am härtesten abgelehnt. […] Die Kunst des 9 10

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Ebd. S. 308. Vgl. F. Nietzsche, An Carl Fuchs, in: Ders., Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin / New York 1986 (im Folgenden abgekürzt mit KSB), Bd. 8, S. 399–405. Der zweite Brief, der dem ersten nur nach einigen Tagen folgt, betont die Notwendigkeit, die antike Rhythmik von der germanischen auseinanderzuhalten. In sechs Punkten listet Nietzsche systematisch die Unterschiede auf, die er in den Basler Vorlesungen herausgearbeitet hatte. Ebd. S. 404. Ebd. S. 404–405: „Unser Rhythmus ist ein Ausdrucksmittel des Affekts: der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich […]: das Zeit-Gleichmaß wurde wie eine Art Oel auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, moralisch und ästhetisch, der Zügel, der der Leidenschaft angelegt wird.“ Ebd. S. 505.

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Gabriella Pelloni grossen Rhythmus, der grosse Stil der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft ist erst von mir entdeckt; mit einem Dithyrambus wie dem letzten des dritten Zarathustra, „die sieben Siegel“ überschrieben, flog ich tausend Meilen über das hinaus, was bisher Poesie hiess.14

Das Ideal des „grossen Rhythmus“, der einen „Instinkt rhythmischer Verhältnisse“ voraussetzt, „der weite Räume von Formen überspannt“,15 wird in Ecce Homo zum ersten Mal begrifflich erläutert, als Kommentar zu einer künstlerisch-literarischen Form, für die offensichtlich die philologisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der antiken Rhythmik in den ersten Jahren des Baseler Aufenthalts maßgebend war. Der Rhythmus wandelt sich vom Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung zum gestalterischen Prinzip in der Kunst, das die Affekte zugleich steigern und bezwingen kann, indem sie die Zeit der Perioden teilt und strukturiert. Unter welchen Voraussetzungen dies im Zarathustra geschieht, anhand von welchen Prinzipien und Techniken es möglich wird, und nicht zuletzt wie es sich im Hinblick auf die Ästhetik der Dekadenz und auf Wagners Melodie als einen Heilungsversuch darstellt, wird der Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Die Gewissenhaftigkeit, mit der Nietzsche im Zarathustra eine neue dichterische Sprache zum Ausdruck von Leidenschaft und innerster Konflikte der Psyche ausarbeitet, ist sicher einer Diagnose der Epoche geschuldet, die den zeitgenössischen Zustand der Sprache thematisiert: […] überall ist hier die Sprache erkrankt, und auf der ganzen menschlichen Entwicklung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit. Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Erreichbaren steigen mußte, um, möglichst ferne von der starken Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entgegengesetzte, das Reich des Gedankens zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses übermäßige Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeitraume der neueren Zivilisation erschöpft worden: so daß sie nun gerade das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöte die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in seiner Not vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen faßt und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; […] so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heißt des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls.16

Nietzsches Einsicht in das Dionysische als ungestümes Aufleben aller symbolischen menschlichen Kräfte stellt gleichsam die Antwort auf seine Suche nach einer regenerativen Lebenskraft dar, die fähig wäre, der gegenwärtigen Epoche neue Vitalität zu verleihen. Bereits in der Geburt der Tragödie wird der dionysische Dithyrambus als der Ort beschrieben, in dem der Mensch zur „höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten“ gereizt wird, so dass auch „Nieempfundenes“ sich zur Äußerung drängen könnte:

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F. Nietzsche, Ecce homo, KSA Bd. 6, S. 304–305. Ebd. S. 339. F. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, KSA Bd. 1, S. 455.

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[…] eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will.17

In diesem Sinne glaubt der Autor der 4. Unzeitgemäßen Betrachtung zu diesem Zeitpunkt noch, in der Kunst Wagners die wiederentdeckte Sprache der wahren Empfindungen zu finden: eine „Brücke zwischen Selbst und Nicht-Selbst.“18 Aus dieser Schrift tritt deutlich hervor, dass Nietzsches Konzeption der Kunst als Medium der Leidenschaft der Begegnung mit Wagner geschuldet ist, welcher einen entscheidenden Einfluss auf Nietzsche und die Entwicklung seiner Konzepte ausübt. In der 4. Unzeitgemäßen Betrachtung sieht Nietzsche in Wagner noch einen Meister im Aufspüren und Dramatisieren der verborgensten inneren Impulse und Erschütterungen, um deren Versinnlichung und Verkörperung in Musik, Gebärde und Wort es geht. Nietzsche ist beeindruckt von Wagners Dichtungssprache, weil sie im Gegenzug zur konventionellen Sprache von der Sensibilität für ein Wort geprägt ist, in dem nicht die logische oder kausale Komponente, sondern die bildliche, evokative, mythopoetische Kraft den Ton angibt. Nietzsche teilt mit Wagner dieses nachromantische Pathos sowie die Öffnung zur Mythopoesis, die an eine Praxis des lebendigen Wortes gebunden wird. Das ist der eigentliche Sinn einer Notiz aus dem Jahre 1882: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden; kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.“19 Dieser Konzeption der Sprache wird er auch nach dem Bruch mit dem Freund treu bleiben. Man kann vielleicht sogar die Behauptung wagen, dass es gerade dieses Feld ist, auf dem sich der Bruch vollzieht.20 Richard Wagner in Bayreuth enthält bereits den Kern von Nietzsches späterem Selbstverständnis als dithyrambischer Künstler, dessen wesentliche Merkmale er hier, in dieser „malerischen“,21 von einem Identifikations- und Idealisierungsimpe17 18 19 20 21

F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA Bd. 1, S. 33–34. F. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, KSA Bd. 1, S. 465. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer – Herbst 1882, KSA Bd. 10, S. 89. Vgl. W. Busch, „I linguaggi dell’inconscio collettivo. Richard Wagner e l’arte ditirambica di Nietzsche nello Zarathustra“, in: M. Gay, I. Schiffermüller (Hgg.), Lo Zarathustra di Nietzsche. G. G. Jung e lo scandalo dell’inconscio, Bergamo 2013, S. 181–222. Es scheint wichtig, die Dynamik dieses „malerischen“ Prozesses zu betonen, der im Transport der Idealisierung, der Liebe und der Identifikation zur Gestaltung eines „idealen“ Typus führt: „Was ich selber einstmals, in meinen ‚jungen Jahren,‘ über Schopenhauer und Richard Wagner schrieb und weniger schrieb als malte – vielleicht in einem allzuverwegenen übermüthigen überjugendlichen al fresco – das will ich am wenigsten heute auf ‚wahr‘ und ‚falsch‘ hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthum zu verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich ‚den Philosophen‘ und ‚den Künstler‘ und gleichsam meinen eigenen ‚kategorischen Imperativ‘ zu malen beschloß, meine neuen Farben nicht ganz

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tus getragenen Darstellung, noch Wagner zuschreibt: „Leiblichkeit des Ausdruckes“, rhythmische Vielartigkeit, Gedrängtheit, „Vereinfachung der Satzgliederung“, und vor allem den gesetzgeberischen Gestus, nämlich die Fähigkeit, „ungestüme, widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen (zu) bändigen, durch eine verwirrende Mannichfaltigkeit von Ansprüchen und Begehrungen, Einen Willen durch(zu)führen.“22 Während zu diesem Zeitpunkt noch Anerkennung für die Sensibilität des Komponisten herrscht, wird Nietzsche später an Wagners Tonkunst alle Merkmale einer Erkrankung diagnostizieren; bei Wagner werden alle Symptome der Dekadenz sichtbar, die sich nicht zuletzt auf einen Mangel an Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber zurückführen lassen: „der Widerwille gegen sich selbst, der Wurm vielfacher Selbstverachtung, die Nothwendigkeit von Berauschungsmitteln eingerechnet seine Kunst, um das Leben überhaupt auszuhalten, und wieder der Ekel hinter dem Rausche, zu alledem das Bewußtsein der Schauspielerei, der Druck der Unfreiheit, an welcher jeder leidet, der sich verkleiden muß, weil er sich selber nackt nicht aushält.“23 In Nietzsches Zeitdiagnose tritt Dekadenz nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene der Form auf. Wie die Streitschrift Der Fall Wagner eindrücklich artikuliert, liest Nietzsche Wagners unendliche Melodie mit Blick auf etwaige organisierende Kräfte oder darauf hin, ob die Musik dem Augenblick, dem Detail nachgebe.24 In Wagners Musik drohe, so Nietzsche, die allgemeine Desintegration: Indiz dafür sei gerade die Unfähigkeit, „große Verhältnisse“ rhythmisch zu überspannen. Das heißt aber, dass sich Wagners Phrasierung durch zwei Hauptmängel auszeichnet: einerseits die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts – die Phrase – und die immer raffiniertere Kunstfertigkeit im Aufführen des Details, in der Wahl der rhetorischen Kunstmittel und in der schauspielerischen Kunst, den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten – kurzum: durch eine Eskalation der sogenannten „barbarischen Rhythmik“; andererseits, als Folge davon, den Verfall der gestaltenden Kraft, d. h. die Verkümmerung der organisierenden Zeitrhythmik, was erneut bewirkt, dass die Phrase über die Melodie und mithin der Augenblick über das Tempo herrscht, und schließlich auch „das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll –)“ und „der esprit über den ‚Sinn‘.“25 Dass diese „Entartungsform des Rhythmischen“ nicht alleine temporale Phänomene, sondern auch die Darstellung von Bewegungen in einer räumlich ausdrück-

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in’s Unwirkliche hinein, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es wußte, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu einem Ausdruck zu verhelfen. “, F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, August – September 1885 41[2], KSA Bd. 11, S. 670–671. F. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth 9, KSA Bd. 1, S. 494. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, August-September 1885 40[60], KSA Bd. 11, S. 660. Diese Notizen lesen sich quasi als Kommentar zur Zauberer-Szene im Zarathustra: „Du aber – musst betrugen: so weit kenne ich dich! Du musst immer zwei- drei- vier- und fünfdeutig sein! Auch was du jetzt bekanntest, war mir lange nicht wahr und nicht falsch genug!“, F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV/2, KSA Bd. 4, S. 318. F. Nietzsche, Der Fall Wagner, KSA Bd. 6, S. 27–29. F. Nietzsche, An Carl Fuchs, vermutlich Mitte April 1886, KSB Bd. 7, S. 176–177.

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baren, durch das Auge wahrnehmbaren Dimension (somit also auch in der Schrift, sei es Prosa oder Dichtung) betrifft,26 verdeutlicht ein weiterer Abschnitt aus dem Brief an Carl Fuchs: In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform („Phrase“) einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der Optik des Musikers – die ist überall im Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge…27

Gegen Wagners Kunst der hypnotischen Griffe, der Überlebendigkeit kleinster zerfallender Teile und der schauspielerischen Gebärde, hält Nietzsche Gestaltung, Gedanken, Helle und Heiterkeit fest. „Ich bin so gut wie Wagner ein Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte“,28 schreibt er in Der Fall Wagner, einer Schrift, die quasi als Vorbemerkung zur Inszenierung des eigenen Selbst in Ecce Homo gelesen werden kann. Bemüht, Zweideutigkeit zu vermeiden,29 unternimmt Nietzsche in Ecce Homo mit Blick auf den Zarathustra den Versuch, das eigene „wahre Selbst“ in der Differenz zu Wagner zu konstruieren, indem er den Stellenwert des Komponisten für sein Leben und seine Kunst anerkennt und würdigt. Das folgende Schlüsselzitat aus Ecce Homo, das sich auf den Zarathustra bezieht, beweist, wie ernsthaft Nietzsche um die Wahrhaftigkeit der künstlerischen Mitteilung bemüht ist: Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, mitzutheilen – das ist der Sinn jedes Stils; und in Anbetracht, dass die Vielheit innerer Zustände bei mir ausserordentlich ist, giebt es bei mir viele Möglichkeiten des Stils – die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat. Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo der Zeichen, über die Gebärden – alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde – nicht vergreift.30

Nietzsche beschwört hier eine Kunst, die sich schöpferische, unbewusste Energien zunutze zu machen versteht, indem sie sie in eine Vielheit von Stilen und Formen übersetzt. In dieser neuen Sprache kommt dem Rhythmus eine Schlüsselfunktion zu, und zwar in einem die gesamte Semiotik des menschlichen Ausdrucksvermögens umfassenden Sinne: was reine innere Erregung, Spannung, Affekt ist, muss sich verwirklichen, indem es in Zeichen, Gebärden und Rhythmen übersetzt und somit Mitteilung an andere wird.

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Dass die antike Rhythmik eine Technik nicht nur der Zeit- sondern auch der Raum-Organisation war, wird im bereits zitierten zweiten Brief an Carl Fuchs noch einmal klar gemacht (KSB Bd. 8, S. 403–404): „die größeren Zeit-Einheiten“ wurden mit Taktschlägen zum Bewusstsein gebracht, weil es nicht möglich war, den Rhythmus von gesprochenen lyrischen Versen zu hören. Erst durch die Tanzbegleitung „sah man die rhythmischen Einheiten mit Augen.“ F. Nietzsche, An Carl Fuchs, 26. August 1888, KSB Bd. 8, S. 401. F. Nietzsche, Der Fall Wagner 1, KSA Bd. 6, S. 11. Vgl. W. Stegmaier, „‚Philosophischer Idealismus‘ und die ‚Musik des Lebens‘. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien. Eine kontextuelle Interpretation des Aphorismus Nr. 372 der Fröhlichen Wissenschaft“, Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 90–128. F. Nietzsche, Ecce homo, KSA Bd. 6, S. 304.

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Die Textpassage stellt jedoch auch einen Beweis dafür dar, dass das Subjekt der Mitteilung (die Vielfalt innerer Zustände) erst durch eine umfassende Kunst des Stils, die sich über die Zeichen, die Gebärden und den Rhythmus nicht vergreift, hervorgebracht wird. Es handelt sich de facto um eine Auffassung von Sprache, die über ein rein semiotisches Verständnis hinausgeht und traditionelle Zeichentheorien radikal in Frage stellt. Denn das Zeichen verstellt den Zugang zur Tätigkeit des Sprechens, die bei jedem Sprechen neu und unvorhersehbar gestaltet wird. In dieser Perspektive wird der Rhythmus nicht mehr auf eine Unterkategorie der Form reduziert, die mit der Auffassung von Sprache als Zusammensetzung von diskontinuierlichen, getrennten Einheiten einhergeht; vielmehr ist er als die zeitliche und räumliche Organisation des Gesamtphänomens des Sprechens zu betrachten. Aktuell hat die Nietzsche-Forschung31 auf die Nähe zwischen Nietzsches Ausführungen über das Phänomen des Rhythmus und der zeichenkritischen Rhythmus-Theorie des französischen Lyrikers, Literaturtheoretikers und Übersetzers Henri Meschonnic hingewiesen. Dieser hat – offensichtlich von Nietzsche inspiriert und an Émile Benvenistes Untersuchungen zur Funktionsweise der Rede und an dessen Kritik der Etymologie des Wortes „Rhythmus“ anknüpfend – in einem Aufsatz von 198232 die vorplatonische Bedeutung des Wortes „rhythmos“ betont, und zwar mit der Absicht, den Begriff des Rhythmus aus seiner metrischen Tradition zu lösen. In einem bahnbrechenden Aufsatz von 195133 hatte Benveniste hervorgehoben, dass rhythmos im Griechischen keineswegs immer die Bedeutung von gleichmäßiger Bewegung und taktartigem Wechsel hatte, die ihm Platon zuschrieb: während Platon den Begriff im Zusammenhang mit regelmäßiger Bewegung gebrauchte und mit dem zahlenmäßig bestimmten Metrum in Verbindung brachte, wurde rhythmos in der ionischen Philosophie, etwa bei Heraklit, im Sinne von „vorübergehender Anordnung“ und „augenblicklicher Konfiguration“ verwendet. Demnach gehört der Rhythmus in Benvenistes Sicht zu jenen sprachlichen Prozessen, die sich im „discours“ – in Abgrenzung zur „langue“ – abspielen. Zu diesen zählen nicht zuletzt die Subjektivität als Interdependenz von Subjekt und Sinn, die Situativität (Zeitlichkeit und Räumlichkeit) und die Performativität der Sprache. In jedem Sprechakt, so Benveniste, verorte sich das Äußerungssubjekt zeitlich und räumlich im Hier und Jetzt der Rede, und schaffe durch diese Assoziationen das, was man „Sinn“ nennt. So gesehen sei der Sinn kein semiotisches Phänomen mehr, sondern eine Aktivität des Subjekts beim Sprechen. Meschonnic knüpft an Benvenistes Theorie an, um den Rhythmus als einen Begriff wiederzuentdecken, der die Individuation in der Sprache zu beschreiben vermag. Deshalb wird der Rhythmus bei Meschonnic nicht mehr wie im Platonis31 32 33

Vgl. C. Benne (2011), S. 200. Vgl. H. Meschonnic, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Paris 1982. Vgl. H. Lösener, Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999. Vgl. É. Benveniste, „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“ (1951), in: Ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt a. M. 1977, S. 363–374 (frz. Original: É. Benveniste, „La notion de rythme dans son expression linguistique“, in Ders., Problèmes de linguistique générale, Bd. 1, Paris 1966, S. 327–355).

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mus als Wechsel von betontem und unbetontem Takt auf der auf Lautesebene verstanden: Er sei weder ein Wiederholungsmuster, noch ein Versmaß, vielmehr sei er als ein geschichtliches Gesamtphänomen zu betrachten, eine vorübergehende, unvorhersehbare, einmalige Anordnung und Sinngestaltung, die nicht notwendigerweise an Mündlichkeit gebunden ist: „[D]er Rhythmus ist die Organisation der Bewegung der Rede in der Schrift durch ein Subjekt.“34 Rhythmus ist somit die Tätigkeit eines Subjekts, das sich in jeder Äußerung neu artikuliert, indem es eine spezifische, nicht auf den Inhalt reduzierbare Semantik hervorbringt, die alle Ebenen der Sprache miteinbezieht. Diese Semantik, die Meschonnic „signifiance“ nennt, unterscheidet sich von der lexikalischen Bedeutung, weil die gesamte Rede daran beteiligt ist. Dies impliziert wiederum, dass Signifikanten sowohl als syntaktische als auch prosodische Einheiten verwendet werden. Der Rhythmus ist die Gestaltung jenes Sinns in der Rede, der nicht nur lexikalisch in den Worten liegt. Und da der Sinn in der Aktivität des Äußerungssubjekts besteht, ist Rhythmus die Gestaltung des Subjekts in der Rede und durch seine Rede. In der Terminologie Nietzsches, dessen Anliegen, mit Meschonnics Rhythmuskonzept in Verbindung gebracht, deutlicher wird, würde das heißen, dass sich die „Person hinter der Leidenschaft“ erst durch die rhythmische Gestaltung der Leidenschaft konstituiert. Nur mithilfe von Kunstmitteln, zu denen auch der Rhythmus gehört, gelingt es nämlich, die Leidenschaften zu einem artistischen Ausdruck zu konstruieren. Jenseits aller Subjekt-Aporien wäre das Ideal somit ein Subjekt, das sich selbst souverän im Akt der Mitteilung gestaltet, indem es seinen eigenen Rhythmus schafft, d. h. sich in der Zeit- und Raum-Ökonomie einer poetischen Rede neu organisiert. Das ist der eigentliche Sinn des berühmten Satzes aus dem Versuch einer Selbstkritik: die „neue Seele“ hätte singen sollen, nicht reden.35 Der Sinn, den die Sprache produziert, ist demnach nicht alleine auf der lexikalischen Ebene des Wortes zu finden, sondern wird auch und vor allem durch den Ton, die Stärke, die Modulation und den Rhythmus bestimmt, d. h. jene materiellen, suprasegmentalen Eigenschaften der Sprache, die nicht in der inhaltlichen Bedeutung aufgehen.36 Die Konsequenz wäre mithin, dass jede Interpretation, die die dichterische Sprache Nietzsches im Zarathustra als bloß linguistisches Experiment begreift, eine relevante Dimension des Textes verfehlt, und zwar die Tatsache, dass sich das ersehnte dionysische Leben, das anfangs losgelöst als Figuration erscheint, erst in 34 35 36

H. Meschonnic (1982), S. 71: „Si le sens est une activité du sujet, si le rythme est une organisation du sens dans le discours, le rythme est nécessairement une organisation ou configuration du sujet dans son discours.“ Übersetzung in H. Lösener (1999), S. 6. Vgl. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik 3, KSA Bd. 1, S. 15. In einem Beitrag, der sich zwischen Kulturanthropologie und Kunstphilosophie positioniert, hat Gert Mattenklott in diesem Sinne Rhythmen und Gebärden in einigen kulturkritischen Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft untersucht: „Die Inhalte werden den Formen inwendig, kaum dass sie aus ihnen noch zitiert werden können“, und noch: „Seine Sprachform [des Aphorismus] erhält die Plastik des zögernden Gehens, des Gesichterschneidens, des aufatmenden Seufzens, als der Gedanke endlich heraus ist.“, G. Mattenklott, „Der Taktschlag des langsamen Geistes. Tempi in der fröhlichen Wissenschaft“, in: F. Hager (Hrsg.), KörperDenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie, Berlin 1996, S 137–151, hier S. 138 u. 140.

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der Konstruktion des Textes verwirklicht. Im Zarathustra schafft Nietzsche einen Raum aus Worten, Bildern, Rhythmen und Gebärden, in dem psychische Realitäten zum Ausdruck gebracht werden und sich in einer rhythmischen Gestaltung neu artikulieren. Eine neue Form soll hervorgebracht werden, in der die Dekadenz überwunden, geheilt wird. Es wird offensichtlich, dass Nietzsche an die Kunst des Stils und des Rhythmus nicht nur einflussreiche künstlerische Ambitionen knüpft: auf dem Spiel steht nicht weniger als die Forderung nach einer Genesung der Sprache, was heißen soll, dass in der Sprache und durch die Sprache die Leidenschaften „dahinter“ werden genesen müssen. Viele Textpassagen im Zarathustra, von einzelnen Reden und Liedern bis zu den Dithyramben des 4. Buches, lesen sich als Rollengedichte, Stimmen und Variationen in der Seele der Hauptfigur. Es handelt sich um die Inszenierung besonderer Augenblicke, die allerdings keinen Repräsentationscharakter aufweisen und vielmehr als Spuren auf der Suche nach dem eigenen Seelengeräusch, als Orte des Zugangs und des Experimentierens mit sich selbst zu betrachten sind. Schicht um Schicht werden die Stimmungen, von denen Zarathustra heimgesucht wird, durchlaufen – von Schwermut, Sehnsucht und tödlicher Melancholie, bis hin zu Euphorie, Taumel, Traumbild, glücklichem Ausser-sich-sein und gelassener Heiterkeit. Das dionysische Leben soll sich im Medium einer dichterischen Sprache konstituieren, die sich stets selbst lauscht, sich ihrer selbst zuwendet und mit sich experimentiert. Dass Nietzsche um immer neue Rhythmen und Modulationen der einzelnen Teile des Werkes bemüht war, beweist ein Brief vom 13. Juli 1883 an Heinrich Köselitz, in dem der Übergang vom ersten zum zweiten Teil des Zarathustra kommentiert wird: „[A]us ihm ergeben sich, was dem Musiker zu sagen fast unschicklich ist, andre Harmonien und Modulationen, als im ersten Theil. In der Hauptsache galt es, sich auf diese zweite Stufe zu schwingen, – um von dort aus noch die dritte zu erreichen.“37 Tatsächlich hebt der zweite Teil des Werkes mit einer Szene an, die Zarathustras Suche nach einer „neuen Rede“ zum Ausdruck bringt: Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab — zum Meere! Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir; müde wurde ich, gleich allen Schaffenden, der alten Zungen. Nicht will mein Geist mehr auf abgelaufnen Sohlen wandeln. Zu langsam läuft mir alles Reden: — in deinen Wagen springe ich, Sturm! Und auch dich will ich noch peitschen mit meiner Bosheit! Wie ein Schrei und ein Jauchzen will ich über weite Meere hinfahren, bis ich die glückseligen Inseln finde, wo meine Freunde weilen: — Und meine Feinde unter ihnen! Wie liebe ich nun jeden, zu dem ich nur reden darf! Auch meine Feinde gehören zu meiner Seligkeit!38

Thematisch geht es hier um die Erregung durch ein großes Glücks- und Freiheitsgefühl. In einer sich voller Elan steigernden Rede entpuppt sich das Ich als schaffende Instanz. Zarathustras Seele wird eins mit der Landschaft und verwandelt sich in den Wirbel ihrer Komponenten: Bach, Felsen, Berge, See, Sturm, Meer, Wolke und Blitz. Ein angriffslustiges, von Lebensfreude erfülltes Pathos schwingt im Akt 37 38

F. Nietzsche, An Heinrich Köselitz, 13. Juli 1883, KSB Bd. 6, S. 397. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, KSA Bd. 4, S. 106–107.

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der Schöpfung mit. Zarathustras neue Seele will sprechen und sich mitteilen, „ihre Wolke“ drängt auf Entspannung: „Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelächtern der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen. / Gewaltig wird sich da meine Brust heben, gewaltig wird sie ihren Sturm über die Berge hinblasen: so kommt ihr Erleichterung.“39 Bereits im zweiten Teil des Zarathustra gibt es Passagen, in denen sich der stilistische Duktus der dithyrambischen Sprache ankündigt: vereinfachte Satzgliederung, Fragen, Betonung durch akzentuierte Worte, Dramatisierung. Es entwickelt sich ein Monolog des Ichs mit sich selbst, das sich über die Abwechslung von Interrogativ- und Ausrufesätzen immer höher schwingt. Dabei erweist sich der Ekel als ein essentieller Moment der Luststeigerung in Wort und Bild: Was geschah mir doch? Wie erlöste ich mich vom Ekel? Wer verjüngte mein Auge? Wie erflog ich die Höhe, wo kein Gesindel mehr am Brunnen sitzt? Schuf mein Ekel selber mir Flügel und quellenahnende Kräfte? Wahrlich, in’s Höchste musste ich fliegen, dass ich den Born der Lust wiederfände! Oh, ich fand ihn, meine Brüder! Hier im Höchsten quillt mir der Born der Lust! Und es giebt ein Leben, an dem kein Gesindel mit trinkt!40

Die Konstruktion eines erregten, pathetischen Selbst erfolgt in Reihen von Frageund Ausrufesätzen, die durch Wortwiederholungen miteinander verbunden werden. Pausen und Unterbrechungen, Momente der Verzögerung, werden durch Gedankenstriche markiert, die eingeschobene Sätze, Satzteile und Worte abgrenzen und somit hervorheben. Die Interpunktion dient der Belebung und Beseelung kleinerer Einheiten,41 die jedoch in einem durch eine umfassendere rhythmische Kadenz strukturierten Gesamtgebilde eingebunden und organisiert sind. In der rhythmischen Artikulation gehen die Erregungen und Energien der Seele Zarathustras auf. Im Zarathustra, so merkt Nietzsche in Ecce homo an, seien gerade „die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus“ das „Maas für die Gewalt der Inspiration.“42 Momente der Entspannung, der Lockerung und der Erfüllung folgen jenen der Spannung, der Heftigkeit und der Aggressivität. Im Wechselspiel der beschleunigten und verlangsamten Zeit werden Strategien eines balancierenden Ausgleichs erprobt, die zu einer Erweiterung und Vergeistigung der körperlichen Funktionen führen sollen, indem sie den Trieb zurückhalten und verzögern. Es ist Nietzsche nicht um das Ausleben von Trieben, sondern um eine Reinigung und Entla39 40 41

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Ebd. S. 107. Ebd. S. 125. Vgl. den bereits zitierten Brief an Carl Fuchs, KSB Bd. 8, S. 400: „Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redeteile der Musik (– ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Konditionalsatz, Imperativ – denn die Phrasierungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), – also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Teile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagners gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriert.“ F. Nietzsche, Ecce homo, KSA Bd. 6, S. 339–340.

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dung der Seele, die durch eine kontrollierte Affektsteigerung erreicht werden kann. In diesem Sinne spricht Nietzsche in Ecce Homo, auf den weiten Rhythmus und den großen Schwingungsausschlag im Lied Die sieben Siegel bezugnehmend, von einem großen „Stil der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft.“43 Die lange, wachsende Schwellenform dieses Textes, die durch den Duktus des Silbenmaßes erreicht wird, bezeugt eine lebensbejahende Selbsterfahrung, die ein voll ausgelebter irdischer Augenblick ermöglicht: Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit Vogel-Weisheit kam: — — so aber spricht Vogel-Weisheit: „Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! sprich nicht mehr! — „sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!“ – Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, — dem Ring de Wiederkunft!44

Es geht ja darum, zu einer Form zu gelangen, die den Rhythmus des Tanzes erhält. Einheitlich und zugleich dissoziativ ist der Rhythmus in Das andere Tanzlied, in dem sich Zarathustras Weisheit erneut, wie auch schon im ersten Tanzlied, mit dem Leben konfrontiert sieht. Das Leben spielt mit ihm ein verlockendes Spiel, das in seiner kontrastreichen Abwechslung sanft, suggestiv und gleichzeitig auch gefährlich wirkt. In diesem Tanz gibt es kein Auf- und Absteigen mehr, nur sprunghafte, improvisierte Bewegungen, ein Flüchten, ein Jagen, ein Schweben und ein Suchen: Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist du? Gieb mir die Hand! Oder einen Finger nur! Hier sind Höhlen und Dickichte: wir werden uns verirren! — Halt! Steh still! Siehst du nicht Eulen und Fledermäuse schwirren? Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich äffen? Wo sind wir? Von den Hunden lerntest du diess Heulen und Kläffen. Du fletschest mich lieblich an mit weissen Zähnlein, deine bösen Augen springen gegen mich aus lockichtem Mähnlein! Das ist ein Tanz über Stock und Stein: ich bin der Jäger, — willst du mein Hund oder meine Gemse sein? Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hinauf! Und hinüber! — Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin! Oh sieh mich liegen, du Übermuth, und um Gnade flehn! Gerne möchte ich mit dir — lieblichere Pfade gehn! — der Liebe Pfade durch stille bunte Büsche! Oder dort den See entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!45

In Zarathustras freirhythmischem Gesang setzt sich der Rhythmus gegen das Gewicht von Worten und Bildern durch. Der interne Reim skandiert den schwingenden Rhythmus des Tanzes, der jedoch durch Zäsuren, Fragen und Ausrufe unterbro43 44 45

Ebd. S. 305. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, KSA Bd. 4, S. 291. Ebd. S. 283.

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chen und somit zaghaft, diskontinuierlich, verfremdend wird.46 Wichtiger als der Inhalt erscheint der Rhythmus des Spiels und die Verwandlung. Es vollzieht sich eine Trennung der inhaltlichen und der sprachmusikalischen Sphäre dergestalt, dass es für die Konstruktion des Textes nicht mehr so entscheidend ist, was gesungen wird, sondern vor allem wie und von wem. Viele Passagen lesen sich somit als Gesten, die kaum mehr Sinn vermitteln, sondern nur Seelenstimmungen zum Ausdruck bringen wollen: Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht? Fiel ich nicht — horch! In den Brunnen der Ewigkeit? Was geschieht mir? Still! Es sticht mich — weh — ins Herz? Oh zerbrich, zerbrich, Herz, nach solchem Glücke, nach solchem Stiche! Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif? Oh des goldenen, runden Reifs — wohin fliegt er wohl? Laufe ich ihm nach! Husch!47

Es wird deutlich, dass die „Wahrheit“ der dichterischen Sprache nicht so sehr in ihrem Inhalt, sondern in der erzeugten Stimmung liegt, die sich eher durch Syntax und Interpunktion als durch Semantik konstituiert. Nietzsche ist auf der Suche nach einer neuen Klarheit und Leichtigkeit in der Sprache und durch die Sprache, und das kann nur in Textformationen geschehen, in denen dem Pathos einer intuitiv und passiv wahrgenommenen Sprache, in der das semantische, ikonische Element vorherrscht, die rhythmische Gestaltung entgegengesetzt wird. Die Sprache strebt einer Fusion von Gedanken und Stil zu: Der Wahrheit Freier? Du? – so höhnten sie – Nein! Nur ein Dichter! Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, Das lügen muss, Das wissentlich, willentlich lügen muss: Nach Beute lüstern, Bunt verlarvt, Sich selber Larve, Sich selbst zur Beute — Das — der Wahrheit Freier? Nein! Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, Aus Narren-Larven bunt herausschneidend, Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen Himmeln Und falschen Erden, Herumschweifend, herumschwebend, — Nur Narr! Nur Dichter!48

In der elliptischen Diktion der direkten Rede, die asyndetische Nominalsätze aneinanderreiht, werden semantische Mehrdeutigkeiten beabsichtigt, die gegensätzli46 47 48

Vgl. G. Agamben, „Idee der Zäsur“, in Ders., Idee der Prosa, aus dem Italienischen v. D. Leupold u. C. Härle, Frankfurt a. M. 2003, S. 25–27. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, KSA Bd. 4, S. 344. Ebd. S. 371–372.

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che Lesarten erlauben.49 Der am Anfang zögerliche, Spannung erzeugende Rhythmus der ersten Satzteile löst sich auf in einer freieren Bewegung, die einen Tanzschritt symbolisiert: „Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / Das lügen muss, / Das wissentlich, willentlich lügen muss“. Wenn es „die Wahrheit an sich“ nicht gibt, sondern nur „Wahrheiten, nach denen sich tanzen lässt“,50 liegt der „Sinn“ der Rede in der Hervorbringung eines artistischen Stils, der sich schwerelos im Medium der Sprache bewegt. Es entstehen somit Strukturen, in denen die Sprache gleichsam mit sich selbst spielt. Zum einen werden durch Zäsuren und akzentuierte Worte synkopierte Rhythmen geschaffen, die Betonungsspannungen auslösen; zum anderen wird mithilfe von Alliterationen und Assonanzen sinnlichen Fusionen und Harmonien zugestrebt, wie es im folgenden Passus der Fall ist: — sitze hier, die beste Luft schnüffelnd Paradieses-Luft wahrlich, Lichte leichte Luft, goldgestreifte, So gute Luft nur je Vom Monde herabfiel —51

Der Nebelwelt der nördlichen Melancholie im Dithyrambus Unter Töchtern der Wüste folgt die Vision einer Wüstenlandschaft, die von jedem Sumpf befreit ist. Das Ziel, dem die Lieder Zarathustras zustreben, besteht offensichtlich darin, die in der eigenen Tiefe verborgene Lust aufzuspüren und zu verwirklichen, sie erzählbar zu machen. Es handelt sich um einen durch einen Willen zur Form geleiteten Prozess der Seelenreinigung und der Selbstbeherrschung, der Befreiung von jeder falschen Scham und Tugend sowie von Trübsal und Schwermut.52 Diese Lust, die auch alles Leid und Verfehlen noch umschließt, ist die Instanz der Erlösung. Der voll und ganz genossene irdische Augenblick ist so einzigartig und wichtig, dass der Wunsch nach seiner ewigen Wiederkehr eine natürliche Konsequenz ist. Zarathustra ist sein eigener Gesang geworden, er hat sich seine eigenen „Wahrheiten“ erarbeitet und derart angeeignet, dass er jetzt gewissermaßen von ihnen gelenkt wird. Rhythmische Phänomene sind aus Nietzsches Sicht nicht durch Ergriffenheit und Unmittelbarkeit der Produktion und der Wirkung gekennzeichnet, sie erschöpfen sich nicht in der Sphäre des reinen Erlebnisses und des spontanen Seelenausdrucks. Nietzsche hält den Rhythmus für das geeignete Kunstmittel, um die Leidenschaften zugleich zu steigern und zu bezwingen; für eine plastische, organisierende 49

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Wolfram Groddeck hebt diesbezüglich zwei mögliche Lesarten hervor: eine skeptische („Du bist doch nur ein Dichter, kein Wahrheit Freier“) und eine emphatische („Nur ein Dichter kann der Wahrheit Freier sein!“). Vgl. W. Groddeck, Friedrich Nietzsche – Dionysos-Dithyramben. Die „Dionysos-Dithyramben“. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, 2 Bde, Berlin / New York 1991, Bd 2, S. 13–14. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887 10 [161], KSA Bd. 12, S. 550. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, KSA Bd. 4, S. 382. Vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, KSA Bd. 4, S. 278: „Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und die Winkel-Tugend von dir ab und überredete dich, nackt vor den Augen der Sonne zu stehen. / Mit dem Sturme, welcher ‚Geist‘ heisst, blies ich über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon, ich erwürgte selbst die Würgerin, die ‚Sünde‘ heisst.“

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Kraft innerhalb einer artistischen Praxis, die er der naturalistischen, durch kein Gesetz der Plastik beherrschten Gebärdenkunst Wagners gegenübergestellt. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Nietzsche in der antiken Rhythmik eine spezifische Form von Selbstbehauptung gegen das dionysische Chaos erkennt und ihr deshalb einen großen anthropologischen Wert zuschreibt.53 In der Tat gehört der Rhythmus in der Geburt der Tragödie nicht zu den dionysischen Phänomenen, von denen der Mensch überwältigt und in einen Rauschzustand versetzt wird, sondern zur apollinischen Sphäre der Individuation und der Abgrenzung: Als architektonisches Prinzip habe er eine bildende und bauende Funktion, welche die dionysischen Willensregungen bändige und Vielheit und Werden in eine zeitliche und räumliche Ordnung bringe.54 Der Zarathustra macht sich dieses Prinzip zunutze, indem er im Stile einer zugleich weit ausholenden und doch das kleinste Detail kalkulierenden Bewegung operiert.55 Bereits in den Rhythmischen Vorlesungen hatte Nietzsche festgestellt, dass die sinnliche Kraft des Rhythmus darin liege, dass sich zwei aufeinander wirkende Rhythmen in der Weise bestimmen, dass der umfassendere den engeren einteilt.56 In dieser Hinsicht bringt das Werk kontrastierende Rhythmen ins Spiel: einen der erregten Unmittelbarkeit, synkopiert, mit Zäsuren arbeitend, und einen anderen, der eher auf Länge zielt, Tonalitäten verschmelzen will und den Anspruch einer artistisch realisierten Geistigkeit erhebt.57 Die architektonische Konstruktion eines Textes durch eine rhythmische, souveräne Kraft soll den bloßen Reichtum an Erfindungen ersetzen, der nur Wirkung erzielen will: „Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein ‚natürlichster‘ Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der ‚Inspiration‘.“58 In dieser Perspektive kommt der Grund noch schärfer zum Vorschein, warum Nietzsche das Verschwinden der bauenden Kraft in jenen Epochen bedauert, die sich durch eine „allgemeine Schauspielerei“ 53 54

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Vgl. F. F. Günther (2008), S. 5 f. Vgl. dazu auch C. J. Emden, „Sprache, Musik und Rhythmus. Nietzsche über die Ursprünge von Literatur 1869–1879“, Zeitschrift für deutsche Philologie 121.2 (2002), S. 203–230. Emden zeigt, dass die Studien über die antike Rhythmik durchaus ins Konzept der Geburt der Tragödie eingegangen sind, woraus zu folgen wäre, dass die Schrift nicht unbedingt primär vom Einfluss Wagners und Schopenhauers bestimmt war. In der Vorarbeit zu Richard Wagner in Bayreuth schreibt Nietzsche diese Fähigkeit noch Wagner zu: „Wagner ist Organisator von Massen: von großer Masse des Mythus, von großen langathmigen Scenen. Gesetzgeberisch für ganz große Verhältnisse. Deshalb kann er einfach sein, wie nie ein Dramatiker gewesen ist. Er erreicht damit die höchste Wirkung. Blick für den großen Rhythmus zeichnet ihn aus. In Betreff des Rhythmus im Kleinen ist er für das Lebensvolle, Bewegte, Vielartige.“ Vgl. KGW II/3, S. 322. Demnach ist Jörg H. Gleiter zuzustimmen, wenn er schreibt, dass sich der „große Rhythmus“ sowohl durch das gesteigerte Pathos der Affektrhythmik, als auch durch das gezügelte Tempo der Zeitrhythmik auszeichnen würde: „Die Gegensätze unaufgelöst in eine neue Einheit einzubinden, dafür steht das ‚Große‘ bei Nietzsche.“ (J. H. Gleiter, „Nietzsches ‚extremster Ästhetik‘ der Modernität: ‚Der grosse Rhythmus‘“, in: R. Reschke (Hrsg.), Bilder – Sprache – Künste. Nietzsches Denkfiguren im Zusammenhang, Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzschegesellschaft, 1 (2011), S. 17–26, hier S. 25. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse § 188, KSA Bd. 5, S. 108.

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auszeichnen: „jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen.“59 Die konstruktive, plastische Kraft scheint für den Aufbau des Textes zentral, insofern die Konstruktion des Selbst im Zarathustra eine Steigerung impliziert, die über allen Reichtum der Empfindungen hinaus nur erreicht werden kann, wenn das Ich sich dem Zwang der Notwendigkeit fügt und einem höheren Willen unterwirft, dessen genauen Ort anzugeben Nietzsche allerdings vermeidet: „Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. […] Ja noch, wenn es sich selbst befiehlt: auch da muss es sein Befehlen büssen. Seinem eigenen Gesetze muss es Richter und Rächer und Opfer werden.“60 Aus der Perspektive des Rhythmus, in dem sich die Struktur des pharmákon reproduziert,61 erläutert dieses Zitat Folgendes: Sich auf die Erfahrung des Rhythmus einzulassen, setzt die Bereitschaft voraus, jede neue Ordnung wieder außer Kraft setzen zu wollen, indem man sie stets der Krise aussetzt. Die Erfahrung des Rhythmus ist eine Erfahrung dessen, was niemals zur Ruhe und zur endgültigen Entscheidung in einer stabilen, festen Gestalt kommen kann. Wird man auf eine neue kommende Ordnung hin ausgerichtet, die sich in einer apollinischen Formel ausdruckt, welche die Zukunft zwingen und dem Werden den Charakter des Seins auferlegen soll, so wird man gleich danach wieder der Krise, dem Exzess, der Dissonanz überlassen. Der Rhythmus ist die Form dessen, was unförmig ist, Form der Bewegung: eine „improvisierte, momentane, veränderliche Form.“62 Die Individuation durch die rhythmische Gestaltung der Leidenschaften erfolgt nicht durch das Festhalten in einer Form: „Werden als Erfinden Wollen Selbstverneinen, Sichselbst-Überwinden: kein Subjekt, sondern ein Thun, Setzen, schöpferisch, keine ‚Ursachen und Wirkungen‘“, notiert sich Nietzsche 1887.63 Die Fähigkeit zur rhythmischen Gestaltung verstanden als Dynamik, Variabilität, und mithin als ständige Krise, die es nie zu einer Auflösung der Gegensätze in einer stabilen Form bringt, wird zum Prinzip einer spirituellen, aktiven Existenz, die einem Leben der blinden Erregung und des histrionischen Illusionismus entgegengesetzt wird. 59 60 61

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F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 356, KSA Bd. 3, S. 596. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, KSA Bd. 4, S. 147. In Daniel Payots pointierten Formulierungen aus seinem Kommentar des Aphorismus 184 der Fröhlichen Wissenschaft; Vgl. Ders. „Der Rhythmus des Kunstwerks“, in: P. Primavesi (Hrsg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2005, S. 171–177, hier S. 173: „[Der Rhythmus] entzieht uns der Verfügung des Heiligen nur, indem er uns einer neuen Verfügung überantwortet; er emanzipiert uns vom Zwang der Götter nur, indem er einen neuen Zwang schafft, dem beide, Götter und Menschen, unterworfen sind. Es ist die Struktur des Pharmakon, die sich darin wiedererkennen lässt: Der Rhythmus ist Heilmittel und Gift zugleich, er vermag nur zu heilen, indem er zunächst den Paroxysmus eben jener Besitzergreifung und Besessenheit bedeutet, von der er uns doch befreien soll. Die Poesie ist eine Weise, die größte Gefahr, die der unwiderruflichen Auflösung, zu umschiffen, um ihr zuletzt vielleicht, zu entkommen. Aber es gibt keine andere Chance, ihr zu entrinnen, als dieses gefährliche Spiel mit der göttlichen Raserei.“ É. Benveniste (1977), S. 370. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1886–Frühjahr 1887 7 [54], KSA Bd. 12, S. 313.

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Den Rhythmus zu einer Lebensform zu machen, bringt es mit sich, dass keine seelische Erregung unbemerkt und unverwirklicht bleiben darf; keine Spur einer unaufgelösten Innerlichkeit, wie im schlaftrunkenen Gesang der Seele in Mittags: „[W]ie sie mir lang und müde wird, meine wunderliche Seele! Kam ihr eines siebenten Tages Abend gerade am Mittage? Wandelte sie zu lange schon selig zwischen guten und reifen Dingen?“64 Die Seele Zarathustras kennt keine Sublimierung, Verdrängung oder Spaltung; sie ist stattdessen auf eine komplexe „Unmittelbarkeit“, auf Lebendigkeit, Assimilation, Theatralisierung des Lebens aus. Die Vielfalt der Seele muss bejaht werden, und das geschieht, indem allen inneren Erregungen und Leidenschaften im Text Ausdruck verliehen wird; als eine Gestaltung, die sich als nur vorübergehend erkennt: „Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als ‚Verewigen‘, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend.“65 Ähnlich wie in seiner antiken Bedeutung bezeichnet der Rhythmus für Nietzsche keine Wiederholung oder regelmäßige Kadenz, sondern eine immer veränderbare, ständig sich selbst überwindende Gestaltung von Elementen,66 deren Bindung keinen ursprünglichen, natürlichen, ewig bedeutsamen Zusammenhang mehr darstellt, sondern immer im Begriff ist, sich zu verneinen, zu zerreißen und zu verändern. Die rhythmische Formwerdung ist eine Form, die sich selbst nicht mehr rechtfertigen kann: Indem der Rhythmus den Zusammenhang zwischen den Zeichen und ihren begrifflichen Inhalten zerreißt, wird der Raum zwischen den Elementen leer und weist keinen notwendigen Sinn mehr auf. Der Text wird somit zu einem freien Raum, der immer wieder neu bewohnbar ist, der jedoch stets porös und durchlässig bleibt, von Pausen, Unterbrechungen, Leerstellen gezeichnet. Eine wirkliche Hinwendung zur eigenen Seele setzt die Negativität des Unterbrechens und des Innehaltens voraus. Nur mittels des Zögerns kann das Handlungssubjekt den Blick souverän lenken und den ganzen Raum des Möglichen durchmessen. Die Unterbrechung schafft Zwischen-Zeiten, durch welche die Sprache sich totalisierenden Ansprüchen entziehen kann: „Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ‚gepredigt‘, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort, eine zärtliche Langsamkeit ist das tempo dieser Reden“, schreibt Nietzsche in Ecce Homo in Bezug auf Zarathustras Rede auf den glückseligen Inseln.67 Das muss nicht zuletzt als Einspruch gegen die totalisierenden, sich verabsolutierenden Gesten der Tonkunst Wagners gelesen werden, gegen die betörend dramatische Unmittelbarkeit der Wagnerschen Musik, die nach Adornos polemisch gefärbter Interpretation des Phänomens des Klanges und dessen Verselbständigung bei Wagner dadurch hergestellt werde,68 dass die Melodie die Momente der Klangentstehung unhörbar macht und 64 65 66 67 68

F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, KSA Bd. 4, S. 343. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1886–Frühjahr 1887 7 [54], KSA Bd. 12, S. 313. É. Benveniste macht auf die etymologische Herkunft des Wortes rytmos aus rein, was „fließen“ bedeutet. F. Nietzsche, Ecce homo, KSA Bd. 6, S. 260. Vgl. T. W. Adorno, „Versuch über Wagner“ (1937), in: Ders., Die musikalischen Monogra-

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sich das Kunstwerk „als sich selbst Produzierendes“ präsentiert. Adorno hat diesbezüglich von „Magisierung“ und „Entsubjektisierung“ gesprochen, vom Verschwinden der „Spur der subjektiven Hervorbringung“ im Zauber der Melodie. Ganz anders Nietzsche, dessen dichterische Sprache bewusst die Momente der Entstehung des „Textorganismus“ exponiert und Bild- und Wortfügung sowie die rhythmische Artikulation als reflektierte Praxis wahrnehmbar macht. Die rhythmische Gestaltung entpuppt sich auch als grundlegendes dramaturgisches Prinzip des Werkes Zarathustra, als Prozess der Strukturbildung, das selbst weit auseinander liegende Textstellen über rhythmische Figurationen in Zusammenhang bringt.69 Nietzsches Text gibt sich bewusst und unverhohlen als Montage von Sprachelementen zu erkennen, doch es gelingt ihm, Ereignisse und Sprache rhythmisch zu verbinden, jeweils mit variierendem Grad von Suggestivität und Intensität.

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phien, Frankfurt a. M. 1990, S. 77 f. Mit dem „rhythmischen Sinn im Großen“ meint Nietzsche ein Gestaltungsprinzip, das weder mit stilistischen noch mit narratologischen Kategorien angemessen beschrieben werden kann. Über Wagners Drama schreibt er noch 1875 in den Vorarbeiten zu Richard Wagner in Bayreuth: „Die Anlage jedes Wagnerischen Dramas ist von einer Einfachheit, welche noch größer ist als die der antiken Tragödie; und dabei ist die dramatische Spannung die höchste. Dies liegt in der Wirkung der großen Formen, ihrer Gegensätze, ihrer einfachen Bindungen, das ist das Antike an dem Bau dieser Dramen.[…] Die Spannung beruht auf den Höhenverhältnissen der Leidenschaften, niemals auf dem Effekt des neuen und überraschenden Schauspiels. Ich wünschte mir den Grad von rhythmischer Augen-Begabung, um über das Ganze Nibelungenwerk in gleicher Weise hinschauen zu können, wie es in einzelnen Werken mir mitunter gelingt: aber ich ahne da noch eine besondere Gattung rhythmischer Freuden des höchsten Grades. Die Rheintöchterscene mit Siegfried im letzten Akt des letzten Dramas und die Rheintöchterscene mit Alberich im ersten Akt des ersten Dramas, der Liebesjubel der sich findenden Siegfrieds und Brünnhildens im letzten Akt des Siegfried und der Abschiedsjubel der sich Trennenden im ersten Akt der Götterdämmerung usw. Dann wieder die Nornenscene im Anfange des ersten Akts (Vorspiels) der Götterdämmerung. Im Tristan Liebessehnsucht (2. Akt), Todessehnsucht im dritten Akt. Im einzelnen Akt ist der Schluß oftmals (Tristan 1, Walküre 1, Siegfried 1) ein Sich-stürzen eines Stromes mit immer schnellerem Rauschen, die zunehmende Breite und zugleich Schnelligkeit der Empfindung, mit der höchsten Sicherheit.“, F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1875 11 [41], KSA Bd. 8, S. 233–234.

II: DER MYTHOS RHYTHMUS IN DER LITERATUR

RHYTHMUS UND METRIK: NAIVE UND DOGMATISCHE WISSENSCHAFT UM 1900 Eske Bockelmann Im Dezember 2012 geht folgende Meldung durch die Zeitungen: Affen ohne Taktgefühl San Francisco – Affen haben buchstäblich kein Taktgefühl: Sie sind nicht in der Lage, sich rhythmisch zur Musik zu bewegen oder auch nur den Takt mitzuklopfen, weil sie den sogenannten Grundschlag einer Tonfolge nicht erkennen können. Das hat ein niederländisch-mexikanisches Forscherteam jetzt mithilfe von zwei Rhesusaffen gezeigt. Menschen erfassen diese regelmäßige Abfolge von gefühlten Schlägen in einem Rhythmus dagegen ganz automatisch und ohne Probleme. Dass den Affen trotz ihrer engen Verwandtschaft mit dem Menschen diese Fähigkeit abgeht, spricht dafür, dass sie sich als eine Art Nebenwirkung der Sprache entwickelt hat, schlussfolgert das Team. (dapd)

Bedauerlicherweise bricht die Meldung an dieser Stelle ab und erwähnt weder die Hühner noch das schallende Gelächter, in das sie bei diesem Experiment müssen ausgebrochen sein. Man kennt den legendären Versuch, der Kaiser Friedrich Barbarossa zugeschrieben wird: Um festzustellen, welche Sprache die Menschen ihrer ursprünglichen Natur nach in sich trügen, ließ man Kinder aufwachsen, ohne dass jemand auch nur ein Wort zu ihnen sagen durfte, und hat dann gewartet, in welcher Sprache sie von sich aus anfangen würden zu sprechen. Kein Wunder: Da kam keine Sprache. Doch siehe, die moderne Forschung bewegt sich, was den Rhythmus anbelangt, noch immer auf solch mittelalterlichem Niveau: Wie man dort blindlings an die Naturwüchsigkeit einer Ur-Sprache glaubte, glaubt man heute noch immer blindlings an die Naturwüchsigkeit eines Ur-Rhythmus, des Rhythmus nach Takten. Wie sich da ein Forscherteam in Sachen Rhythmus zum Affen macht, entspricht dabei leider ganz und gar dem Stand der Forschung. Hie und da mag ein Vereinzelter schon einmal über ihn hinausgekommen sein, insgesamt jedoch verharrt die Wissenschaft vom Rhythmus auf diesem Stand eines unterdurchschnittlichen Alltagswissens. Denn das erklärt sich die Sache mit dem akustischen Rhythmus genau so: Rhythmus liegt in dem, was rhythmisch ist. Das ist eine Annahme, etwa so wahr wie jene berühmte andere, das Auf- und Untergehen der Sonne ergäbe sich daraus, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Auf den Rhythmus angewandt bedeutet solch eine vorkopernikanische Überlegung: Wenn wir Musik hören und finden sie rhythmisch, läge das daran, dass die Musik selbst eben rhythmisch wäre. Oder wenn Verse nach betont/unbetont gehen, hätte das seinen Grund darin, dass die jeweilige Sprache betonte Silben hat. So objektiv, wie sich die Sonne bewegt, so objektiv wären die Töne jener Musik und wären die Verse jener Sprache rhythmisch

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angeordnet. Folglich könnte es beim Wahrnehmen von Rhythmus nur noch darum gehen, diese rhythmische Anordnung der Töne, also etwa „den sogenannten Grundschlag einer Tonfolge“, zu „erkennen“: Er ist ja so eindeutig da, wie sich die Sonne über den Himmel bewegt, und das sieht schließlich jeder Affe. Wer also jenen Grundschlag erkennt, würde damit Rhythmus und Takte einfach deshalb hören, weil er fähig ist, das, was er hört, auch zu „erfassen“. Und von einem ordentlichen Primaten hätte man so etwas nun wirklich erwarten können! Das ist bodenlos, aber es ist Stand der Wissenschaft. Der ruht bis heute auf diesen zwei Grundannahmen: Rhythmus wäre grundsätzlich Taktrhythmus; und Taktrhythmus wäre so sehr ursprüngliche Natur wie der Kosmos oder wie die Menschen oder wie die germanische Seele.1 Was ich hier darlegen werde, ist das Folgende: Wie sehr beide Grundannahmen fehlgehen; wie es sich mit dem richtig verhält, was sie verfehlen; und dass ihre Blütezeit gerade um 1900 liegt.2 Denn das ist die Zeit, die am entschiedensten zu deren Affirmation beiträgt und in der die Wissenschaft sie am rücksichtslosesten durchsetzt. Auch vorher waren sie schon längere Zeit präsent als die unreflektierten Präsuppositionen, die sie bis heute geblieben sind und vermutlich noch sehr lange bleiben werden. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts richtet sich eine Aufmerksamkeit auf sie, die ihnen solche Unschuld raubt und sie zu aggressiven Dogmen verhärtet.3 Später hat diese Phase der Dogmenbildung durchaus ihre Kritik und Relativierung gefunden, jedoch ohne dass selbst solche Kritik sich je wieder dem dogmatischen Bann zu entziehen vermochte, ja, all dies Spätere ist nur je bemühter, umso weiter von einer Aufklärung des Dogmas abgekommen – bis hinab zum Glauben, dass Affen Takte hören müssten.

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Der Verslehre, um die es in diesem Aufsatz insbesondere gehen wird, sind zwar durchaus Verse bekannt, die nicht nach Takten gehen, doch sobald sie bei Versen mit dem Begriff des Rhythmus umgeht, werden darin unreflektiert – und nicht immer leicht zu identifizieren – grundsätzlich die Charakteristika des Taktrhythmus vorausgesetzt. Vgl. C. Küper, „Metrik“, in: K. Weimar, H. Fricke, J.-D. Müller (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Bd. 2), Berlin / New York 2000, S. 591–595; auch E. Arndt, H. Fricke, „Rhythmus“, in: ebd. (Bd. 3), Berlin / New York 2003, S. 301–304; P. Hobsbaum, Metre, rhythm and verse form, London / New York 1996. Vgl. C. Küper (2000), S. 593. Im Jahr 1886 wird der Taktbegriff durch Schmeckebier zum ersten Mal unmittelbar auf die Metrik angewandt, Heusler setzt nach 1900 eine Lehre durch, die metrisch außer Takten gar nichts mehr gelten lässt (s. u.), und in der aktuellen Auflage seiner Deutschen Metrik verwendet Wagenknecht noch immer Versklauseln nach Heusler, die komplett auf der Taktlogik beruhen, und bezeichnet dessen unbrauchbares Werk als „das lehrreichste“ der neueren deutschen Versforschung, vgl. C. Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine Einführung, 5. erweiterte Auflage, München 2007, S. 22 f., S. 143.

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I Rhythmus und Taktrhythmus Zu beginnen ist deshalb mit einem aufs Äußerste gekürzten Gang durch jene grundlegenden Kenntnisse, die der Wissenschaft vom Rhythmus bis heute fehlen und gegen die sie entweder naiv oder verbohrt am Ammenmärchen von der ewigen Natur des Taktrhythmus festhält.4 – Taktrhythmus ist nicht der Rhythmus, den es seit Menschengedenken gegeben hat, sondern eine sehr spezifische Rhythmik, die erst in der Zeit um 1600 im westlichen Europa aufkommt. Rhythmus, wie er uns heute vertraut ist und uns – wie wir glauben – mehr oder weniger im Blut liegt, ist Taktrhythmus. Aber dazu ist er erst geworden. Ohne dass ihn jemand eingeführt hätte, setzt er sich gegen 1600 in den Städten Westeuropas durch und hat sich anschließend nach und nach über die Welt verbreitet – ohne bis heute in alle letzten Winkel vorgedrungen zu sein. Was vor seinem Aufkommen Rhythmus war und dann in weiten Teilen der Welt noch lange Zeit Rhythmus geblieben ist, ist nicht Taktrhythmus, und mehr noch, es hat mit Taktrhythmus keine Verwandtschaft. Damit ist jeder Versuch, Rhythmus einheitlich zu definieren, notwendig zum Scheitern verurteilt, da er blind ist gegen diese grundlegende Trennung der historisch geschiedenen und so grundsätzlich unterschiedlichen Rhythmiken. Eine einheitliche Rhythmusdefinition muss sie vermischen, verfehlt sie beide und kann so wenig etwas taugen, wie wenn man das Farbenspiel eines Herbstwaldes mit dem einer Verkehrsampel auf einen gemeinsamen Begriff bringen wollte. Das ist der Grund, weshalb heute ein tauglicher Rhythmusbegriff noch immer fehlt. – Jene grundsätzlich andere Art von Rhythmus, von der sich die taktrhythmische gegen 1600 zum ersten Mal absetzt, geht mit gleichsam körperlichen Zeitgrößen um, der Dauer von Klängen oder Bewegungen, die in zeitlicher Proportion zueinander stehen, also etwa der Dauer erklingender Silben oder Töne oder aber tänzerischer Bewegungen. Was damit gemeint ist, bleibt uns leicht unklar, eben weil wir taktrhythmisch hören und uns diese andere Art von Rhythmus nur noch sehr schwer vorstellen können. In der Antike ist zum Beispiel diese Abfolge von langen und kurzen Silben rhythmisch: ∪ ∪ – ∪ – ∪ – – ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ ∪ ∪, aber auch diese: – – ∪ – – – ∪ – – – ∪ –, diese: – ∪ ∪ ∪ – ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ – – ∪ – oder diese: – ∪ ∪ – – – – – – – ∪ ∪ – ∪ oder unzählige andere. Weil hier zeitliche Proportionen gegebener Größen aufgefasst und als Rhythmus empfunden werden, gibt es kein einheitliches Muster, nach dem sich eine rhythmische Abfolge richten müsste. Es gibt keine allgemeine rhythmische Vorgabe wie zum Beispiel: „Auf ein langes Element muss stets ein kurzes folgen“, es gibt keine Vorgabe, nach der eine Abfolge langer und kurzer Elemente nur dann rhythmisch wäre, wenn es diese Vorgabe einhält, und wenn nicht, dann nicht. Genau das aber kennen wir vom Taktrhythmus: als jenen Grundschlag nämlich, den 4

Den ausführlichen Beweisgang dessen, was hier folgt, bietet das erste Kapitel meines Buches: E. Bockelmann, Im Takt des Geldes, Springe 2004, S. 12–125.

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wir heute „ganz automatisch und ohne Probleme“ wahrnehmen und in den sich eine musikalische Tonfolge grundsätzlich muss eintakten lassen, wenn sie uns als rhythmisch ins Ohr gehen soll. Er fungiert als Raster, in das sich eine Tonfolge einfügt und, wenn wir sie als rhythmisch empfinden sollen, eben auch einzufügen hat. Eine solche Rasterung durch einen Grundschlag jedoch kennt allein der Taktrhythmus: Jeder anderen Art von Rhythmus, die es vor ihm gegeben hatte und die es noch lange geben sollte, nachdem er in Europa aufgekommen war, ist eine solche Rasterung völlig fremd und sie würde sich mit ihr nicht vertragen. Wir können uns das nur sehr schwer vorstellen, aber es steht historisch außer Frage. – Taktrhythmus dagegen beruht auf einem Reflex, der in der akustischen Wahrnehmung unwillkürlich und aktiv eine Rasterung von Zeitelementen leistet. Die für den Taktrhythmus typische Rasterung ergibt sich als unwillkürliche Leistung eines sehr spezifischen Reflexes, der in der Wahrnehmung von Menschen aktiv sein kann. Dieser Reflex bildet die strikte Voraussetzung für Taktrhythmus: dafür, dass wir überhaupt Takte wahrnehmen, also irgendwelche Klänge nach Takten hören. Jenen Grundschlag, den die Rhesusaffen nicht „erkennen“ konnten, „erkennen“ auch wir nicht, wenn wir ihn hören, sondern wir wirken ihn aktiv in das Gehörte hinein – in jenem unwillkürlichen Reflex. Dafür, dass er aktiv wird, müssen die gehörten Klänge eine Rasterung der Art, wie jener Reflex sie leistet, nur auch zulassen. Bei dem Geräusch etwa, das ein allgemeiner Applaus macht, wird ihm und also uns die Rasterung nicht gelingen, also auch kein Takthören, bei „rhythmischem“ Klatschen dagegen sehr wohl. Trotzdem liegen die Takte nicht einfach schon in diesem Klatschen, sie liegen niemals schon objektiv im Klang, so dass man sie ihm nur noch zu entnehmen hätte. Takte und Takthören entstehen nur dann, wenn, und allein dadurch, dass dieser Reflex in unserer Wahrnehmung aktiv wird und einwirkt auf das, was wir objektiv vernehmen. Takte sind keine objektiven Phänomene, auch dann nicht, wenn wir das sauberste Klatschen „im Takt“ oder selbst einen so überzeugenden Taktgeber wie das Metronom hören. Klatschen oder Metronom geben objektiv nichts weiter vor als Töne in gleichen Zeitabständen – das aber sind noch keine Takte. Was Takte genau sind, zeigt ein einfaches und bekanntes Phänomen. Wenn wir etwa das Ticken eines Weckers hören, so erklingt in gleichen Zeitabständen objektiv immer auch der gleiche Ton: Tick Tick Tick Tick… Das aber ruft unseren Taktreflex auf den Plan und er tut seine Wirkung: Wir hören nicht mehr nur die objektiv gleichen Ticks, sondern hören sie abwechselnd als TickTack Tick-Tack. Das heißt, unsere Wahrnehmung verändert aktiv das, was objektiv erklingt, in etwas anderes, das wir wahrnehmen. Und zwar nehmen wir unwillkürlich jeweils zwei der Zeiteinheiten, die durch die Ticks abgetrennt werden, als Verbindung wahr, wir verbinden sie, indem wir sie zugleich aktiv gegeneinander unterscheiden, nämlich eine gegenüber der anderen hervorheben: je ein Tick über ein Tack. Diesen Unterschied und diese Verbindung leistet unsere Wahrnehmung unwillkürlich, reflexhaft, im Taktreflex. Und so ist also das, was er bewirkt: die Verbindung aus je zwei gleichen und rein zweiwertig gegeneinander unterschiedenen Zeiteinheiten. Das sind Takte. Es gibt sie nicht ohne den Reflex. Und umgekehrt: Den Menschen, in denen der Reflex wirkt, ergeben sich die Takte mit Notwendig-

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keit, nicht nur „ohne Probleme“, sondern in der Tat reflexhaft „automatisch“: unwillkürlich. – Auch diesen Reflex gibt es nicht seit Menschengedenken, vielmehr ist er es, der sich von etwa 1600 an in den Menschen bildet und der mit seinem Aufkommen auch das Aufkommen des Taktrhythmus bedingt. Eben weil dieser Reflex unwillkürlich das beschriebene taktrhythmische Hören bewirkt und auf diese Weise notwendig dazu führt, dass Menschen im Taktrhythmus dichten, singen und musizieren, bezeugt das historisch zu konstatierende Aufkommen von Taktrhythmus in Musik und Dichtung sehr genau das Aufkommen auch des Reflexes. Die bedingende Abfolge ist dabei eindeutig diese: Der Reflex bildet sich in den Menschen und dadurch kommt es zum Taktrhythmus. Wenn der Reflex in Menschen wirksam wird, hören sie durch ihn bedingt taktrhythmisch und formen sie demnach Musik und alles, was ihnen unwillkürlich rhythmisch wird, diesem Hören entsprechend, also nach Takten – dies die notwendige Abfolge. Da Takte niemals objektiv im Klang liegen, kann sich nicht zuerst taktrhythmische Musik herausbilden, um dann womöglich ihrerseits bei den Menschen zum Taktreflex zu führen. Taktrhythmus kann sich keiner rhythmischen Entwicklung als solcher verdanken, keine taktrhythmische Musik kann die Entwicklung dieses Reflexes bedingen, eben weil sie genau ihn schon immer voraussetzt, weil der Taktreflex strikte Voraussetzung dafür ist, dass Menschen durch ihn erst nach Takten hören und dass es also überhaupt Takte und Taktmusik gibt, als Wirkung dieses Reflexes. Der Taktreflex bewirkt Taktrhythmus, er kann sich nicht aus ihm ergeben. Also bewirkt das Aufkommen dieses Reflexes das Aufkommen dieser Rhythmik. Und das heißt: Auch dieser Reflex ist historisch entstanden und gehört nicht etwa zum Vorrat des Ewig-Menschlichen. – Dass Menschen diesen Reflex entwickeln, ergibt sich nicht in einem irgendwie rhythmischen Zusammenhang, sondern ist sehr spezifisch durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingt – Verhältnisse, die historisch zum ersten Mal im westlichen Europa des 17. Jahrhunderts auftreten, inzwischen aber so gut wie die gesamte Welt überzogen haben. So wenig also gehört Taktrhythmus zur ewigen Menschen- oder sonstigen Natur: Er tritt historisch sehr spät auf, wird bedingt durch einen Reflex, der seinerseits alles andere als naturgegeben ist, ja, der noch nicht einmal im Rhythmus wurzelt, egal in welcher von dessen historischen Ausformungen, und hat mit diesem Reflex seinen Ursprung unmittelbar in der – damals erst sich entwickelnden – neuzeitlichen Gesellschaft. Erst in ihr wird den Menschen, und zwar durch ganz alltägliche, rein gesellschaftliche Vorgänge, die sie darin zu vollziehen haben, dieser Reflex abverlangt – ohne dass sie davon wissen und ohne dass sie darüber nachzudenken hätten. Auch uns heute ist dieser Reflex keineswegs angeboren, sondern wir erwerben ihn, unbewusst und gleichsam als zweite Natur, erst indem wir als Kinder irgendwann in jene spezifisch neuzeitlichen Formen der Vergesellschaftung hineinwachsen und sie uns notwendig zu eigen machen. Um welche es sich handelt, lässt sich in der hier gebotenen Kürze nicht sinnvoll darlegen, ist aber sehr genau zu bestimmen.

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Taktrhythmus und Metrik Unter der Wirksamkeit des damals historisch neu auftretenden Taktreflexes verändert sich die gesamte Rhythmuswahrnehmung. Die Rhythmik proportionaler Zeitgrößen weicht der nun bestimmend werdenden, nicht mehr proportional, sondern funktional zu nennenden Taktrhythmik. Die setzt sich um 1600 in der Musik durch und ererbt dort von dem älteren, noch durchaus proportional wertenden mensuralen Tactus der Renaissance den Namen „Takt“, der damit seine neue und uns geläufige moderne Bedeutung erhält. Auch in Versen – um die es hier geht – wirkt sich die veränderte Rhythmuswahrnehmung aus: Sie bedingt eine völlig neue Metrik. Bei den Versen allerdings stellt sich die Sache etwas komplizierter dar als in der Musik. In Versen bekommt es der Taktreflex ja grundsätzlich mit gesprochener Sprache zu tun, und nicht jede Sprache ist prosodisch so beschaffen, dass sich ihre Silben der Einwirkung des Reflexes als Zeitelemente fügen. So beispielsweise verhält es sich bei den romanischen Sprachen: Ihr gesprochener Klang – das heißt die Prosodie, die gilt, solange sie nicht in Musik gesetzt und gesungen werden – weist die Einwirkung des Taktreflexes ab. Deshalb behalten sie auch nach 1600 ihre ältere, rein silbenzählende Metrik bei – wiewohl die Musik der romanischen Sprecher, oder besser wohl: Sänger, historisch sehr wohl in den Taktrhythmus wechselt. Germanische Sprachen wie das Englische, Niederländische und Deutsche dagegen fügen sich der Einwirkung des Taktreflexes und entwickeln deshalb auch eine entsprechend neue Metrik. Beschrieben wird sie von den Zeitgenossen dieses großen historischen Umschlags und noch lange danach allerdings vollständig in Termini der antiken Metrik und entbehrt so noch über Jahrhunderte eines eigenen Namens. Einer angemessenen Beschreibung und Theorie entbehrt sie bis heute. Ausgehen muss eine solche Theorie – auch in der äußersten Verkürzung, wie sie hier nötig ist – von dem, was der Taktrhythmus leistet und vorgibt. – Der Taktreflex hat folgende Wirkungsweise: Er nimmt (1.) einander entsprechende Zeiteinheiten, von denen er (2.) fortlaufend je zwei verbindet, indem er diese (3.) nach dem reinen, rein zweiwertigen Verhältnis von „bestimmt/nichtbestimmt“ oder „betont/unbetont“ gegeneinander unterscheidet. Wenn der Taktrhythmus auf eine wahrgenommene Tonfolge einwirkt, ergibt sich für unsere Wahrnehmung also eine Reihe in etwa gleicher Zeiteinheiten, die nach „betont“ und „unbetont“ abwechseln. Das heißt vornehmlich, bei strikter Alternation, entweder: … EINS-zwei EINS-zwei EINS-zwei … oder aber, da das Unterscheiden der zwei Gruppenelemente nicht in seiner Richtung festgelegt ist: … eins-ZWEI eins-ZWEI eins-ZWEI … Da der Taktreflex je genau nur zwei Zeiteinheiten verbindet, kann er jeweils nur genau eine solche Zeiteinheit zwischen „seinen“ Zweier-Gruppen auch allenfalls überspringen – unter besonderen Bedingungen. Diese übersprungene Zeiteinheit bleibt also unverbunden und fügt sich mit einer vorangehenden oder nachfolgenden

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Gruppe zu einer Folge von drei Einheiten aus einmal „betont“ gegen „unbetont“ plus einmal nicht-betont zusammen. Das ergibt Folgen wie: … EINS-zwei drei EINS-zwei drei EINS-zwei drei … oder … eins ZWEI-drei eins ZWEI-drei eins ZWEI-drei … oder, bei einer Mischung von Zweier- und Dreier-Gruppe, auch beispielsweise: … EINS-zwei EINS-zwei drei EINS-zwei EINS-zwei EINS-zwei drei … In Musik, die damit zu Taktmusik wird, zeigt sich die so beschriebene Wirkung des Taktreflexes erstens darin, dass sie mit gleichen Zeiteinheiten umgeht, zweitens darin, dass diese Zeiteinheiten oder Taktteile nach „betont“ und „unbetont“ oder, wie man auch sagt, nach „guten“ und „schlechten“ Taktteilen abwechseln, und drittens darin, dass Takte grundsätzlich nur auf der Zweier-Gruppe basieren wie der Vier-Viertel-Takt oder aber, wie der Walzer, auf der Dreier-Gruppe. Wichtig ist dabei noch das Phänomen einer oft weit reichenden Potenzierung der Zweier- und, weniger weit reichend, der Dreier-Gruppen. Natürlich hindert keine offizielle Macht der Welt einen Komponisten daran, auch in Sieben- oder Dreizehn-ViertelTakten zu arbeiten, nur wird uns Takthörern eine so gearbeitete Musik nicht mehr reflexhaft-unwillkürlich rhythmisch, sondern bietet unserer rhythmischen Wahrnehmung starke Widerstände. In Versen greift der Taktreflex – vorausgesetzt, er kann dort wirken – auf die Silben als seine Einheiten zu: Dadurch ist die Isochronie dieser Einheiten eingeschränkt. Im Übrigen jedoch beweist sich seine Wirkung dann in einem Versmaß, in welchem notwendig die gleichen Festlegungen gelten wie in Taktmusik: einmal, dass die Silben als Elemente eines solchen Versmaßes strikt entweder als „betont“ oder „unbetont“ gelten, und einmal, dass ein solches Versmaß nur die zwei Möglichkeiten hat, „betont“ und „unbetont“ entweder streng abwechseln zu lassen oder aber zu einer Gruppe aus „betont“ und „unbetont“ noch ein weiteres nicht-betontes Element zu setzen, so dass sich die beschriebene Dreier-Gruppe ergibt. Soll „betont“ unmittelbar auf „betont“ folgen, ist dies taktrhythmisch nur möglich, indem der Vers dazwischen unterbrochen wird – daher die Mittelzäsur im deutschen Pentameter (die Zäsur im antiken Vers ist von rhythmisch völlig anderer Natur). Sollte ein Dichter meinen, es müssten in seinen Versen mehr als zwei „unbetonte“ oder nicht-betonte aufeinander folgen, so lassen sich diese Verse nur wiederum nicht unwillkürlich in dem vom Dichter beabsichtigten Versmaß lesen. – Der Taktreflex wirkt seine Bestimmungen „betont“ und „unbetont“ in Klangfolgen hinein, deren Elemente für sich genommen keinerlei solche Bestimmungen oder Unterschiede aufweisen müssen – sie können so nackt und identisch klingen wie das Ticken eines Weckers; wenn sie aber doch für sich genommen klanglich unterschieden sind, zum Beispiel nach Dauer, Schwere oder auch Betonung, so vermag der Taktreflex darauf zu reagieren, indem er versucht, seine Bestimmungen „betont“ und „unbetont“ an entsprechend in ihrem Klang bestimmte Elemente zu heften. Silben, die Klangelemente von Versen, haben unterschiedliche Dauer, unterschiedliche Schwere, können den Wortakzent tragen oder nicht – so dass sie, wie ich es hier an der Wortfolge „An einem wallenden, kristallengleichen Bach“ einmal grob

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schematisch andeute, ein recht bewegliches Kontinuum von Klangelementen ergeben können: █

An





ei-

██ ▄



██

nem wall- en- den,

██



kris- tall-

▄▄



██

en- glei- chen Bach

Wenn aber der Taktreflex auf den Plan tritt, so nimmt er diese Silben zu seinen Elementen und unterscheidet sie nach „betont“ gegen „unbetont“, belegt sie also mit diesen „seinen“ Bestimmungen. Nach Möglichkeit heftet er dabei sein „betont“ an eine passende Prominenz der Silben, in unserem Beispiel also etwa an die Silben „wall-“ und „Bach“. In jedem Fall aber macht er die Silbenfolge mit ihrem beweglichen Klang zugleich zu einer rein nach „betont/unbetont“ bestimmten Elementenreihe. Und dadurch hören wir die Silben zugleich als diese Folge: An

ei-

-nem wall- en- den,

███

███

kris- tall-

███

en- glei- chen Bach

███

███

███

Genau diese, von unserem Taktreflex bewirkte Folge aber ist es, die wir dann und eben dadurch als das Versmaß solcher Verse empfinden. Dieses Versmaß notieren wir demnach so: x

X

x

X

x

X

x

X

x

X

x

X

oder in der nach „betont/unbetont“ umgedeuteten Notationsweise antiker Verse: ∪ – ∪ – ∪ – ∪ – ∪ – ∪ – Der Silbenklang für sich weist durchaus vielfältigere, nicht diese systematisch rein zweiwertigen Bestimmungen „betont/unbetont“ des Versmaßes auf: Mit denen belegt ihn erst der Taktreflex zusätzlich. Trotzdem, da Silbenklang und Wirkung des Taktreflexes in unserer Wahrnehmung verschmelzen, da der Taktreflex den Silbenklang ja innerhalb unserer Wahrnehmung prägt und verändert und wir selbstverständlich auf unsere Wahrnehmung angewiesen sind und ihr vertrauen, müssen wir glauben, die Silben selbst wären „betont“ und „unbetont“, sie trügen von sich aus eben jenes „betont“ und „unbetont“ als prosodische Merkmale, das jedoch wir erst mittels Reflex in sie hineintragen. Befördert wird dieser Irrtum durch die Tatsache, dass es sehr wohl Silben mit Akzent und solche ohne Akzent gibt, dass Silben also sehr wohl Bestimmungen tragen können, die dem „betont“ und „unbetont“ des Taktreflexes entsprechen. Außerdem wird ein Dichter bei Versen nach „betont/unbetont“ sehr wohl darauf achten, die Akzentsilben so zu verteilen, dass sich der Taktreflex passend daran festmachen kann – denn das heißt ja für den Dichter, den Leser und den Hörer: dass sich daran der Rhythmus und ein Versmaß nach „betont“ und „unbetont“ ergibt. Gleichwohl lässt sich auch an unserem Versbeispiel erkennen, dass die Silben mit Wortakzent zwar in die „betont/unbetont“-Folge des Taktreflexes eingepasst sind, diese Folge aber nicht ihrerseits ergeben. Von den drei Silben etwa des Wortes „wallenden“ trägt die erste den Wortakzent, die beiden anderen Silben sind nicht akzentuiert und insbesondere klingt die letzte Silbe „-den“ beispielsweise ebenso

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schwach wie die Endsilbe „-en“ von „kristallengleichen“. Dennoch hören wir, dem Versmaß entsprechend, an ihrer Stelle eine Betonung, ein „betont“-Element. Das heißt, der Taktreflex folgt an dieser Stelle allein seinem Verlaufsgesetz und belegt eine sonst unbetonte Silbe als Element mit seiner Bestimmung „betont“. Die Silben selbst, ob nun akzentuiert oder nicht, können sich zwar dank des Dichters taktrhythmischem Gehör so weit wie möglich nach den Verlaufsvorgaben des Reflexes richten, was dessen „betont/unbetont“ anbelangt, sie aber „sind“ es nicht, sie tragen es nicht als solches, sie bringen es nicht als solches mit. Dem Dichter, Leser und Hörer kann dieser Unterschied völlig gleichgültig sein. Nicht der Metrik, nicht der Theorie von den Versen. Die muss erkennen, dass bei Versen nach „betont/unbetont“ eine Verwandlung stattfindet: Ein Stück Prosasprache wird in Verssprache verwandelt, Prosasprache wird verwandelt in eine systematisch nach „betont/unbetont“ bestimmte Elementefolge, indem ihr die Bestimmungen „betont“ und „unbetont“ dem Verlaufsgesetz des Taktreflexes entsprechend erst eingeprägt oder unterlegt werden. Von dieser Verwandlung müssen wir nichts bemerken, außer dass uns ein solcher Vers in einer Weise rhythmisch ist, die der Prosasprache abgeht. Doch wenn wir einmal darauf achten, können wir diese Verwandlung sehr wohl auch unmittelbar erleben. Lesen wir dafür einfach einmal diesen simplen Satz: „Ja, ich gehe jeden Abend gerne in diese Bar hier gleich um die Ecke.“ Auf mich persönlich trifft dieser Satz nicht zu, das mag man mir glauben, aber darum geht es hier auch nicht. Ein Satz normaler deutscher Prosa, das steht fest. Ist er ein Vers? Hat er ein Versmaß? Nein. Nun, dann lese man einen Teil daraus noch einmal, unverändert, nur mit einem Zeilenumbruch: Ich gehe jeden Abend gerne in diese Bar … Und jetzt hören wir ihn als Vers! Wir hören ihn im Versmaß! Wir hören seine Silben nunmehr leichthin abwechseln nach leicht und schwer, „unbetont/betont“ – etwas, das wir vorher nicht gehört hatten. Und wir hören den Satz auf diese Weise rhythmisch. Wir hören den Satz nun als eine Abfolge abwechselnd unbetonter und betonter Elemente: Ich gehe jeden Abend gerne ∪–∪–∪–∪–∪ Gegenüber seiner ersten Version hören wir den Satz verwandelt, und zwar verwandelt durch das Hinzutreten des für uns mit Rhythmus verbundenen „betont/unbetont“. Was hier hinzutritt, was hier einwirkt, ist unser taktrhythmischer Reflex: Er leistet diesen Rhythmus, er lässt ihn uns empfinden. Weshalb er dies in der zweiten Version des Satzes tut, mit dem Zeilenumbruch, nicht aber in der ersten, kann man erklären, spielt aber für hier keine Rolle. Entscheidend ist, dass Sprache zwar zum einen ihren Prosaklang mit einem sehr beweglichen Klangkontinuum hat, dass sie zum anderen aber – Achtung, das gilt nicht für die gesprochenen romanischen Sprachen – durch ein „betont/unbetont“ rhythmisch werden kann, das nicht schon in ihr liegt, sondern in der Wahrnehmung eines Sprechers oder Hörers erst hinzutritt. Damit es hinzutritt, hat der Sprachklang nur dies Eine zu tun: in uns den Taktreflex wachzurufen.

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II Metrik – naive Wissenschaft So also steht es um die metrischen Gegebenheiten unter der historischen Voraussetzung, dass es den Taktreflex bereits gibt, dass er wirksam ist in den Menschen, die da mit Versen umgehen. Diese Gegebenheiten erklären ohne weiteres auch die Existenz der heute vorherrschenden Prosalyrik, deren Zeilen so gar kein Versmaß nach „betont/unbetont“ aufweisen, genauer: bei der kein Mensch die Anwandlung hat, sie nach „betont/unbetont“ zu lesen. In ihnen ist die Sprache so wie in meinem Beispielsatz auf eine Weise verwendet, dass sie den Reflex eben nicht auf den Plan ruft, und ohne dessen Einwirken gibt es denn auch kein Versmaß nach „betont“ und „unbetont“. Zugleich hilft solche Lyrik, sich einen grundlegenden Unterschied klarzumachen zwischen Versen, die dem Taktreflex unterliegen, und solchen, die es nicht tun: Diese letzteren gehen allein mit dem Sprachklang um, nicht außerdem mit jener zusätzlichen „betont/unbetont“-Rasterung durch den Reflex. Ohne ihn gibt es nicht jene Verwandlung und nicht die zwei Ebenen des Versklangs, nicht zusätzlich zur Ebene des bloßen Sprachklangs noch die Ebene des reflexbestimmten „betont/ unbetont“-Rasters. Und genau so verhält es sich denn auch vor dem historischen Auftreten des Taktreflexes ganz allgemein bei den Versen. Da nun die metrische Wissenschaft nichts davon weiß, nichts vom Taktreflex und schon gar nichts von den historischen Tatsachen seines Hervortretens, setzt genau mit seinem Aufkommen auch ihre Blindheit gegenüber der nicht dann mehr naiv und vorkopernikanisch zu deutenden rhythmischen Wirklichkeit ein. In den langen Zeiträumen, bevor der Taktreflex aufkommt und solange sich die Sache mit dem Rhythmus noch anders, nicht taktrhythmisch verhält, ist die Metrik als Lehre von den Versen ein Fundus genauer Kenntnis und klaren Verstehens. Die Antike beschreibt bestens ihre quantitierenden Verse nach lang und kurz, in denen nichts an Betonungen irgendeine Rolle spielt, sondern allein die Länge der Silben. Dem Mittelalter bereitet es keine Schwierigkeit, auch den Versbau seiner nicht quantitierenden Verse zu deuten, in denen es um den Reim geht und sonst nur um die Anzahl der Silben. Für mittelalterliche Ohren wäre also der Vers vom kristallengleichen Bach seinem Versmaß und Rhythmus nach, neben dem Silbenklang, nur dieses Ereignis: ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      X Eine Folge von zwölf Silben, von denen nur die letzte reimt und (möglicherweise) als Akzentsilbe festgelegt wäre. Bei folgenden Versen, die tatsächlich dem Mittelalter entstammen: Es gienc ein kint in dem krûte daz erschrac und rief vil lûte sähe das Versmaß, mit einem Reim aus akzentuierter und nicht akzentuierter Silbe, so aus: ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      ▓      X      x

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So weit, so gut. Dann aber kommt der Taktreflex! Und mit ihm, vom 17. Jahrhundert an, ist es in Europa vorbei mit dem einfach richtigen Verstehen von Versen und Rhythmus und es beginnt die bis heute währende Zeit naiver Missdeutung. Menschen, denen die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse diesen Reflex seit damals sozusagen implantieren, also Menschen wie wir, empfinden Rhythmus nur noch nach Takten. Und da sie taktrhythmisch empfinden, empfinden sie das, was vorher Rhythmus war, nicht mehr als rhythmisch. Daraus ergeben sich zwei große Bereiche des Missverstehens. Zuerst das historische Missverständnis. Es lautet: Was auch immer jemals rhythmisch war, es muss taktrhythmisch gewesen sein. Anders empfinden wir es nicht mehr als rhythmisch, geht es uns nicht mehr als rhythmisch ein, also kann es nie anders gewesen sein. Da wir von einem „nicht mehr“ keine Ahnung haben, sondern allein dem folgen, was „jetzt“ in uns ist, glauben wir und haben die Menschen vom ersten historischen Moment an, als sie der Taktreflex regiert, geglaubt, dass die Antike, dass die Germanen, ja dass die Neandertaler und, warum nicht, selbst Rhesusaffen Rhythmus nur immer nach Takten und nach deren Grundschlag gehört und empfunden haben. Und wenn man dann zwar weiß, dass die Antike Verse nach lang und kurz gedichtet hat und durchaus nicht nach „betont/unbetont“, so wie es millionenfach belegt ist, dann schlägt man diesen Versen seit der Neuzeit eben nachträglich Betonungen auf die Silben nach eben dem Verlaufsgesetz, das der Taktreflex inzwischen vorgibt, und die Wissenschaft geht hin, gibt diesen Betonungen ex post den passend brutalen Namen „Ikten“ und weiß nur Eines: dass es die schon immer gegeben haben muss – sonst wird’s doch für uns nicht rhythmisch! Und so besteht notwendig zweitens neben dem diachronen das synchrone Missverständnis: Wer nicht weiß, wodurch unser taktrhythmisches Empfinden historisch bedingt ist und was es leistet, der muss dessen „betont/unbetont“ falsch im Klang und in der Sprache selbst vermuten. Die Bestimmungen, die uns der Taktreflex in die wahrgenommenen Klänge wirkt, muss er für objektive Bestimmungen des Sprachklangs halten – wie wenn man die Bewegung der Sonne, die wir täglich wahrnehmen, naiv für die der Sonne selbst hält oder das Rosa von Brillengläsern, durch die man blickt, für das Rosa des Himmels und der Welt vor unseren Augen. Das führt zu großen wissenschaftlichen Schwierigkeiten dabei, solches Rosa im Himmel nachzuweisen, aber das hat die Wissenschaft nicht davon abgebracht, es weiterhin teils naiv, teils entschieden borniert zu versuchen. So liegt es auf der Hand, welcherart Fehlleistungen sich seit Bestehen des Taktreflexes in einer metrischen Wissenschaft ergeben müssen, die von ihm nichts weiß. Wenn die Betonungen, die er in den wahrgenommenen Klang hineinwirkt und die man da aber unmittelbar für Betonungen der Silben hält, mit eben diesen Silbenbetonungen nicht übereinstimmen – denken wir an das Wort „WALL-enDEN“ in dem Vers vom Bach –, wie wäre das zu erklären? Es dürfte einfach nicht sein, ist aber nun einmal so: Zwischen dem klaren „betont/unbetont“, das wir seit Aufkommen solcher Verse als ihr Versmaß verzeichnen, und den sehr unterschiedlichen Gewichten ihrer Silben kommt es zu unübersehbaren Abweichungen – so wie der Planet Merkur für einen Beobachter auf der Erde seine unerklärlichen Schleifen zieht, unerklärlich nämlich unter der Voraussetzung, dass Merkur und

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Sonne sich um die Erde drehen würden. Folglich ergibt sich ein weites Feld verschiedenster Versuche, eine Diskrepanz, die es nach der Lehre nicht geben dürfte, in eben diese Lehre einzubauen – ohne sie bis heute jemals zu erklären. Zwei Beispiele: Da unterteilt man die Silbengewichte sehr wohl feiner also nur nach „betont“ und „unbetont“, nach einer vier- oder sieben- oder sonstwie-wertigen Skala, und stellt dann Regeln auf, wann welche Abfolge der so gewichteten Silben dazu führt, dass die Silben im Vers nun doch wieder die eine für rein „betont“ und die nächste für rein „unbetont“ gilt; das Entscheidende bleibt unerklärt: Weshalb eine solche Umrechnung überhaupt nötig ist, weshalb die vielwertigen Silben überhaupt ins Zweiwertige umzurechnen sind – wodurch also diese Zweiwertigkeit vorgegeben ist. Oder: Die Tatsache, dass Silben nicht bloß so rein zweiwertig „betont“ und „unbetont“ gesprochen werden, wie es das Versmaß verzeichnet, sondern ab und zu sogar recht deutlich davon abweichend, erklärt ein anerkannter Fachmann mit der Möglichkeit, dass man einen Satz doch generell auf unterschiedliche Weisen betonen und aussprechen kann. Christoph Küper, dem die Welt diese Lehre verdankt, leitet große internationale Metrik-Kongresse, die mit dieser Lehre umgehen, aber keinem fällt dort auf, dass er damit von den zwei Seiten der zu erklärenden Diskrepanz ausgerechnet die erklärt, die keiner Erklärung bedarf, nämlich die Klang- und Betonungsvielfalt der Silben. Zu erklären wäre genau die andere Seite, nämlich woher die Zweiwertigkeit kommt, die diese vielwertigen Silben im Versmaß annehmen. Es gilt nicht zu erklären, dass die Silben vom zweiwertigen „betont/unbetont“ abweichen dürfen, sondern umgekehrt, weshalb sich trotz dieser Abweichungen ein Versmaß ergibt, das konstant zweiwertig ist. Und dafür ist die korrekte Erklärung – da sie über Jahrhunderte hinweg nicht gefunden wurde, darf ich sie wohl wiederholen – die Zweiwertigkeit, nach welcher der Taktreflex seine Elemente gegeneinander unterscheidet. Um 1900 In den Jahrzehnten um 1600 kommt er auf, erzwingt eine rhythmische Revolution in der Musik, erzwingt eine rhythmische Revolution im Versbau der germanischen Sprachen, aber da er es unwillkürlich tut, da die Menschen ihm unwillkürlich folgen, weiß niemand etwas von einer Revolution. Einem Reflex folgt man „automatisch und ohne Probleme“, also muss das, was er vorgibt, durch niemanden erst eingeführt werden. Es bedarf keiner Reform, das radikal Neue ergibt sich mit der Notwendigkeit alles Unwillkürlichen: Es ergibt sich sozusagen ganz natürlich. Es muss nicht erst bedacht werden, es wirkt unmittelbar in seiner Anwendung, wirkt in der rhythmischen Praxis: dem Dichten, dem Tanzen, dem Musizieren. Zwar bedarf es der Übung, um mit dem Neuen nach und nach immer besser umzugehen, doch dieses Neue selbst – als Reflex – bedarf keines Lernens, bedarf keiner Reflexion, braucht keine Theorie.

Rhythmus und Metrik: Naive und dogmatische Wissenschaft um 1900

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Nachdem daher Martin Opitz 1624 in seiner kleinen Deutschen Poeterey5 als Erster im deutschen Sprachraum festgestellt hat, dass es von nun an notwendig sei, Verse nach „betont/unbetont“ zu dichten – diese Notwendigkeit empfindet er, weiß sie aber mit nichts zu erklären –, braucht es ganze zwei Jahrhunderte, bis sich die frühe germanistische Wissenschaft um eine solche Theorie bemüht. Dann allerdings sind es innerhalb kurzer Zeit mehrere große Werke, die sich im Zusammenhang mit der Metrik grundsätzlich auch dem Rhythmus widmen. 1814 und 1816 sind es etwa die beiden Bände von Johann August Apels Metrik, 1815 Gottfried Hermanns Elementa doctrinae metricae in zwei Bänden und 1817 eine Arbeit von Johann Heinrich Friedrich Meinecke, deren Titel bereits verrät, wie all diese Werke sich die Sache mit dem Rhythmus erklären: Die Verskunst der Deutschen aus der Natur des Rhythmus entwickelt.6 Was da erklärt wird, wird erklärt aus dem Wesen und der Natur „des“ Rhythmus. Und es versteht sich: Als dieser eine naturgegebene Rhythmus figuriert fraglos und ausnahmslos immer nur einer, der Taktrhythmus. Alles, was Rhythmus ist und jemals war, was also „unsre“ germanischen „Vorfahren die Weise, die Römer Numerus und die Griechen Rhythmus nannten“, es hätte „eignen, in der Natur gegründeten Principien“ gehorcht und wäre ihnen gehorchend nach Takten gegangen. Jeder dieser Gelehrten weiß, dass es bei den antiken Griechen und Römern anders war, und trotzdem glauben sie allein „unserer Theorie, dass sie beweiset, in allen Rhythmen sey Takt, Rhythmus ohne Takt lasse sich dem Wesen des Rhythmus nach nicht denken“. So schreibt Apel, so lehren es Hermann und Meinecke und genauso lehrt es beispielsweise auch ein gewisser Georg Wilhelm Friedrich Hegel, als er 1816 nach Heidelberg berufen wird und dort seine Vorlesungen über Ästhetik hält.7 „Wesen“ und „Natur“ des Rhythmus sind nicht mehr anders zu denken als taktrhythmisch: Das zeigt die Macht eines Reflexes, der auf diese Weise auch zum Denkzwang wird. Ihm zu folgen, ist naiv, aber offenbar unausweichlich. „Wesen“ und „Natur“ des Rhythmus werden die Namen dieses Zwangs und haben alles zu decken, was sich einer historisch blinden und grundverkehrten metrischen Theorie an Schwierigkeiten ergibt. Und in der Tat: Alle Ansätze, den Taktrhythmus in den Sprachen selbst aufzufinden, das Abweichen des Silbenklangs vom „betont/unbetont“ des taktrhythmischen Versmaßes zu erklären oder ihm wenigstens ordnend beizukommen, und schließlich, den Versen sämtlicher Zeiten und Kulturen Taktrhythmus zu oktroyieren, sie müssen auf Schwierigkeiten stoßen – auf Schwierigkeiten, die umso größer werden, je weiter sich die Wissenschaft in dieses Gebiet einarbeitet und je genauer sie darin zu werden versucht. Der Kampf darum kulminiert in der Zeit um 1900.

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M. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Stuttgart 1970. J. A. Apel, Metrik, Leipzig 1814, 1816; G. Hermann, Elementa doctrinae metricae, Leipzig 1816; J. H. F. Meinecke, Die Verskunst der Deutschen aus der Natur des Rhythmus entwickelt in Vergleichung mit der griechisch-römischen, Quedlinburg / Leipzig 1817. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III (Werke Bd. 15), Frankfurt a. M. 1970, S. 163 ff.

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Eske Bockelmann

1886 ist es Oskar Schmeckebier, der in der Metrik zum ersten Mal offen mit dem Taktbegriff operiert.8 Von 1893 an verdichtet sich die Auseinandersetzung in einer Folge metrischer Werke, die vehement um eine genauere und ins Einzelne gehende Grundlegung ihres Themas ringen. Allein in diesem einen Jahr erscheint neben Hermann Pauls Grundriss der germanischen Philologie mit großen metrischen Abhandlungen von Paul selbst und von Eduard Sievers9 noch dessen Altgermanische Metrik10 und die Neuhochdeutsche Metrik11 von Jakob Minor. 1894 reagiert Andreas Heusler mit einem Buch Über germanischen Versbau12, von Meinecke folgt 1895 noch ein Handwörterbuch der Metrik13. Franz Saran meldet sich 1898 in Sievers’ Beiträgen zur Geschichte der Sprache und Litteratur14 zu Wort, 1907 erscheint seine große Deutsche Verslehre15, doch davor, schon 1901, hatte Sievers noch einmal Metrische Studien16 vorgelegt und musste Minor 1902 bereits eine erweiterte Auflage seiner Metrik17 nachreichen. Alle arbeiten sich daran ab, die gesamte Welt des Metrischen über diesen einen Kamm des Taktrhythmus zu scheren, und keiner lässt es dabei an theoretischer Gewaltsamkeit fehlen. Doch während Sievers und andere noch wenigstens verschiedene Verstypen annehmen, in denen sich der Taktrhythmus nicht immer gleich stark ausgeprägt hätte, in denen etwa nur sein „betont/unbetont“ eingehalten wäre, nicht aber die Isochronie der Einheiten, setzt Andreas Heuslers dreibändige Deutsche Versgeschichte ab 192518 all dem einen dogmatischen Abschluss: Er lässt für Verse allein die voll isochrone Rasterung in Takte gelten. Damit sich ihr die Verse aller Zeiten fügen, staucht und dehnt er Silben wie es ihm passt, stopft, wo etwas fehlt, mit Pausen aus, und wenn sich Verse auch noch dem verweigern, so heißen sie ihm krank, „welsch“, aufs Äußerste verwildert. Mit Heusler erreicht das Dogma von der ewigen Natur des Taktschlags ein Äußerstes an Gewalt. Diese Gewalt hat die Wissenschaft später etwas zurückgenommen. Sehend ist die Wissenschaft von Metrik und Rhythmus bis heute nicht geworden.

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O. Schmeckebier, Deutsche Verslehre, Berlin 1886. H. Paul, Grundriss der Germanischen Philologie (Bd. 2), Straßburg 1893. E. Sievers, Altgermanische Metrik, Halle 1893. J. Minor, Neuhochdeutsche Metrik, Straßburg 1893. A. Heusler, Über germanischen Versbau, Berlin 1894. J. H. F. Meinecke, Handwörterbuch der Metrik in besonderer Beziehung auf die Eigentümlichkeiten derselben in der deutschen Sprache, Leipzig 1895. E. Sievers (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Sprache und Literatur (Bd. 23), Halle 1898, S. 42 f. F. Saran, Deutsche Verslehre, München 1907. E. Sievers, Metrische Studien I, Leipzig 1901. J. Minor, Neuhochdeutsche Metrik, 2., umgearbeitete Auflage, Straßburg 1902. A. Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, Berlin / Leipzig 1925, 1927, 1929.

KLANG UND RHYTHMUS BEI STEFAN GEORGE Maurizio Pirro Zur Darlegung des Begriffes „Rhythmus“ bei Stefan George schlage ich im Folgenden eine dreistufige Systematik vor. Dabei soll zwischen der Ausarbeitung eines kulturkritisch orientierten Rhythmus-Konzeptes auf essayistischer Ebene und der rhythmischen Gestaltung von poetischen Texten unterschieden werden. Ich werde also (I) theoretische Einlassungen Georges in den Merksprüchen zu den Blättern für die Kunst heranführen, in denen Rhythmus im Hinblick auf die Begründung einer nicht naturalistischen Poetik eine wichtige Funktion zukommt, um dann (II) an einem berühmten programmatischen Gedicht aus produktionsästhetischer Perspektive zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Rhythmus-Auffassung zur fiktionalen Tätigkeit Georges in der Anfangsphase seiner Poetik steht. Schließlich werde ich (III) mein Augenmerk auf die performative Dimension von Georges Literaturverständnis richten und aus rezeptionsästhetischer Sicht der Frage nachgehen, wie sich eine bestimmte Vorstellung von rhythmischer Textpräsentation in der Öffentlichkeit auf verschiedene Verfahrensweisen innerhalb des George-Kreises auswirkt. I. In den Blättern für die Kunst werden ab 1892 mit Übersetzungen, Publikationen von Gleichgesinnten und vor allem dichterischen Arbeiten des Zeitschriftengründers Stefan George die Grundlagen einer Poetik der reinen Form gelegt,1 die dem stoffbezogenen Charakter des Naturalismus eine Absage erteilen soll. Die Zeitschrift – so George einleitend – „will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang.“2 Die Dominanz inhaltsgebundener Elemente in der Kunst betrachtet George als zeittypische Dekadenzerscheinung. Ihr setzt er die Absolutheit eines Willens zur Form entgegen, dessen enger Bezug zum Leben gerade dadurch zum Ausdruck kommen soll, dass sich dieser Wille auf keinerlei kontingentes Anliegen einengen lässt, sondern allgemeine Gültigkeit und uneingeschränkte Nähe zum Währenden und Wesenhaften beansprucht, um auf die Terminologie der George-Schüler zurückzugreifen. Daher die strenge Aussonderung von allem Faktischen aus dem Gebiet des künstlerischen Schaffens („wir wollen keine erfindung von geschichten sondern wiedergabe von stimmungen keine betrachtung 1

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Es seien zumindest die zur kritischen Darlegung der Poetik Georges geradezu unabdingbaren Arbeiten erwähnt: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; D. von Petersdorff, Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005 und S. Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin / New York 2007. Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1892–98, Berlin 1899, S. 10.

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Maurizio Pirro

sondern darstellung keine unterhaltung sondern eindruck“);3 daher die Ausschaltung jeder kooperativen Teilnahme des Lesers an der Sinnproduktion. Vom Rezipienten wird eigentlich keine hermeneutische Leistung erwartet, sondern die intuitive Fähigkeit, im Kunstwerk die Mitteilung einer übergeordneten Gestaltwerdung zu erkennen.4 Im Medium der lyrischen Kommunikation offenbart sich dieses Ideal einer bedingungslosen Bildlichkeit als komprimierte rhythmische Intensität. „Kunstverständnis“, liest man zu Eröffnung des vierten Jahrgangs der Blätter für die Kunst, „ist nur da zu finden, wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird.“5 Durch den Begriff Rhythmus sieht George das Wahrheitspotenzial lyrischer Aussagen am prägnantesten charakterisiert. Rhythmus erhält dabei insofern eine lebensphilosophische Bedeutung, als George ihm totalitätsstiftende Kraft zukommen lässt. Rhythmische Kohärenz verbindet die Person des Dichters und die geistigen Produkte, die der Dichter hervorbringt. Die Anschaulichkeit einer solchen Kohärenz kommt bei George einem wichtigen kulturfördernden Faktor gleich, denn ein „NEUER BILDUNGSGRAD (KULTUR) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird. Der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rythmus: die lehre machen die jünger.“6 Rhythmus als Ausdruck von ganzheitlicher Geschlossenheit steht im Frühwerk Georges mit einer Art ursprünglicher und nur zum Teil verbalisierbarer Klangfülle in Verbindung, die ganz offensichtlich auf holistischem Gedankengut beruht und sich in einem diffusen, semantisch unbestimmten Wohlklang erkenntlich macht. Diese musikalische Intensität erfährt bei George insofern eine anthropologische Prägung, als die menschliche Stimme ihr jene formale Evidenz verleiht, die literarischen Diskursweisen und insbesondere lyrischen Aussagen zugrundeliegt: Um einen gedanken auszudrücken, eine geschichte zu erklären: den thatsächlichen worten takte und reime einzupressen ist ein mittelmässiges handwerk. wäre das spiel mit takten und reimen überhaupt eines vernünftigen wesens würdig wenn diese sich nicht unwiderstehlich als sangesweise aufdrängten? oft dienen worte gedanken ja bilder nur zur körperlichen darstellung der sangesweise.7

Zusammenfassend gilt also Souveränität im Umgang mit Rhythmus für den Kulturkritiker George als sicheres Zeichen schöpferischer Lebendigkeit. Rhythmus steht in den einleitenden Abschnitten zu den Blättern für die Kunst für den höchsten und differenziertesten Formbegriff überhaupt, im Rhythmus kommt das zur Geltung, 3 4 5

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Ebd. S. 13. Zum kulturkritischen Gehalt des Gestalt-Begriffs bei George vgl. F. Rossi, Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis, Würzburg 2011. Blätter für die Kunst.(1899), S. 26. Vorausgegangen war im selben Merkspruch ein deutlicher Hinweis auf die Nebensächlichkeit der inhaltlichen Bestimmung bei Prozessen lyrischer Gestaltung: „Ein weiterer ring der gesellschaft ist für kunst noch nicht zu gewinnen solange man nicht zu scheiden vermag zwischen der wesentlichen wirkung des kunstwerkes und der gemeinen stofflichen anregung durch das erzählte (anekdotische)“. Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1898–1904, Berlin 1904, S. 14. Ebd. S. 17.

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was Max Kommerell als „Sprachgebärde“8 bezeichnen wird. Der Rhythmus liefert insofern einen untrüglichen Maßstab für das Urteil über den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes: „Hohe ausbildung vielfältige geschliffenheit ist nötig um den rythmus und die feinheit der geste zu erkennen: barbaren bleiben begriffs-ästhetiker.“9 II. Nun gilt es, in einer weiteren Arbeitsstufe nach der fiktionalen Umsetzung der bisher dargelegten Grundsätze zu fragen. Rhythmische Textgestaltung stellt den Lyriker Stefan George vor eine schwer zu bewältigende Aufgabe. Die formale Geschlossenheit im Textgefüge, die die lyrische Aussage aus jeder erdenklichen Gebundenheit loslösen soll, soll gesteigert werden, ohne dass dadurch das romantische Lied als musikalische Vorlage ins Spiel gebracht wird. Mit romantischem Wohlklang assoziiert George den Rückfall in einen subjektiven Bekenntniston, der in seiner Unverbindlichkeit den Absolutheitsanspruch, den Kunst erheben soll, nicht weniger gefährdet, als dies beim naturalistischen Objektivitätswahn der Fall ist. Um diesem Modell entgegenzuarbeiten, entwickelt George eine eigenartige Rhythmik, die durch ihre betonte Künstlichkeit dem Leser verdeutlichen soll, dass weder lyrisches Schaffen etwas mit erlebnisgebundener Unmittelbarkeit, noch Rezeption von Lyrik etwas mit subjektivem Einfühlungsvermögen zu tun hat.10 Georges Dichtung liegt eine ausgesprochen entnaturalisierte Rhythmik zugrunde, deren gebrochener Lauf die romantische Vorstellung in Frage stellen soll, freundlicher Gesang und durchsichtige Appellstruktur machten das Anziehende und Gewinnende poetischer Kommunikation aus.11 George plädiert im Gegenteil für eine beim bloßen Zuhören nicht zu erschließende, absichtlich schwierige und widerspenstige Rhythmik, die sich jedem kulinarischen Genuss (um ein berühmtes Wort Brechts zu verwenden) entziehen soll und – darauf kommt es eigentlich an – das Gedicht als Artefakt, als künstliches, autonomes Konstrukt vorstellen soll.12 Dies wirkt sich auf Leserwartungen und interpretatorische Konventionen der Rezipienten äußerst desillusionierend aus. Der Leser erhält keine besondere hermeneutische Unterstützung durch das klangliche Profil des Gedichtes, und muss sich, will er wenigstens die intendierte Bedeutung auf der bloßen Ebene der syntaktischen Korrelationen entschlüsseln, zunächst einmal eben als Lesender betätigen und die Textoberfläche in altvertrautem Lesegestus mit dem Zeigefinger in mehreren Anläufen nach den eigentlichen Sinn gebenden Verbindungen unter Satzteilen durchgehen. Betrachten wir Weihe, das Anfangsgedicht aus Georges erster Lyriksammlung, den 1890 veröffentlichten Hymnen: 8

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Um eine umfassende Rekonstruktion von Kommerells theoretischen und kritischen Positionen, die lyrisches Schreiben zum Gegenstand haben, hat sich M. Weichelt bemüht. Vgl. Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, Heidelberg 2006. Blätter für die Kunst (1904), S. 21. Dazu nach wie vor grundlegend: H. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, Köln / Graz 1967. Aufschlussreiches dazu bei S. E. Hauser, „Stefan George und die bildenden Künste. Malerei – Plastik – Bildnis“, George-Jahrbuch 4 (2002/2003), S. 79–111. Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des ausgeprägten künstlichen Charakters von Georges Poetik vor dem Hintergrund des französischen Symbolismus hat L. Lehnen geleistet: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme, Paris 2010.

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Maurizio Pirro Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre Im linden winde ihre fahnen schwingen Und wehren junger wellen schmeichelchore Zum ufermoose kosend vorzudringen. Im rasen rastend sollst du dich betäuben An starkem urduft · ohne denkerstörung · So dass die fremden hauche all zerstäuben. Das auge schauend harre der erhörung. Siehst du im takt des strauches laub schon zittern Und auf der glatten fluten dunkelglanz Die dünne nebelmauer sich zersplittern? Hörst du das elfenlied zum elfentanz? Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen Mit sternenstädten selige gefilde · Der zeiten flug verliert die alten namen Und raum und dasein bleiben nur im bilde. Nun bist du reif · nun schwebt die herrin nieder · Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen · Halboffen ihre traumesschweren lider Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen: Indem ihr mund auf deinem antlitz bebte Und sie dich rein und so geheiligt sah Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah.13

Die Initiationshandlung, die durch die traditionsreiche Musensymbolik dargeboten wird,14 wird durch die trübe, im Modus der sogenannten „harten Fügung“15 ausgeführte Rhetorik dieses Textes verstärkt, die den Leser zu einer ähnlichen Erfahrung wie derjenigen auffordert, die das von der rätselhaften „herrin“ besuchte Subjekt im Gedicht macht. Der Ästhetisierung des eigenen Daseins, die das in die erhabene Dimension der Gestaltwerdung eingeweihte „Du“ unternimmt, um sich des Musenkusses würdig zu erweisen, entspricht das Semantisierungsverfahren, das der Leser durchlaufen muss, um in die Tiefenschichten der Lyrik einzudringen. Bereits 1899 13 14 15

S. George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 2: Hymnen – Pilgerfahrten – Algabal, Stuttgart 1987, S. 10. Vgl. dazu B. Böschenstein, „Weihe“, in Im Zeichen von Stefan George. Lektüre seiner Dichtung, Amsterdam 2001, S. 7–15 sowie H. Henne, Sprachliche Spur der Moderne. In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern, Berlin / New York 2010, S. 63–86. Diese für das Rhythmus-Verständnis innerhalb des George-Kreises so wichtige Kategorie aus der klassischen Rhetorik thematisiert zuerst Norbert von Hellingrath in den Vorarbeiten zu seiner Hölderlin-Ausgabe. Vgl. im besonderen Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911, S. 1. J. Jacob hat einleuchtend gezeigt, wie sich diese Vorstellung bereits in den frühen Werken Georges auf stilistische Optionen auswirkt: Vgl. J. Jacob, „Stefan Georges ‚Hymnen‘. Experimente mit dem Schönen“, George-Jahrbuch 5 (2004–2005), S. 22–44.

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wies Karl Wolfskehl auf den intensiven Medialisierungsprozess hin, dem der stoffliche Inhalt des Gedichtes unterzogen wird. Wirksame Interpretationsakte sind bei Weihe erst dann möglich, wenn die Gestaltwerdung, die der Text als Totalität produzierende Auratisierung des subjektiven Erlebnisses zum Ausdruck bringen soll, in ihrem künstlichen Charakter als Gestaltung von Bildern rekonstruiert wird. „Nur im Bilde“, so Wolfskehl, „nur in einer Spiegelung wird das Erlebnis Seelenbesitz.“16 Dabei wirken die vielen phonetischen Beziehungen unter Textkomponenten (u. a. „linden winde“ in Z. 2, „rasen rastend“ in Z. 5 oder die gesamte Z. 13: „Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen“) auf den Leser weniger erhellend als vielmehr verwirrend. Sie weisen zwar auf ein harmonisches Zusammenspiel der Textelemente hin, dem wird aber im Gesamtverlauf des Gedichtes durch Stilmittel widersprochen, die geeignet sind, Ambivalenz und Zweideutigkeit zu generieren. Die zu Georges Rhetorik konstitutiv gehörende Antizipation des Genitivs vor das Bezugswort zum Beispiel schafft ständige Unsicherheit über syntaktische Zuweisungen. Die dabei nötige Verlangsamung des Lesevorgangs wird durch irritierende Bindungen, die aus der Überschneidung zwischen gleich klingenden Artikeln mit unterschiedlicher grammatikalischer Kasusfunktion entstehen, ins Extrem getrieben. In Z. 10 neigt der Leser dazu, das Paar „auf der“ aufeinander zu beziehen, wobei „der“ zunächst einmal als eine weibliche Form im Dativ wahrgenommen wird. Erst beim Weiterlesen wird klar, dass es sich um einen Genitiv Plural handelt. Der Leser wird stutzig, diese Irritation stellt aber aus Georges Sicht die hermeneutische Grundlage zum Textverständnis dar. Dem durch solche rhythmischen Brüche im Sinne antihermeneutischer Sprödigkeit geübten Widerstand des Textes gegen jedwede konsensfähige Interpretation entspricht die Schwierigkeit, das Gedicht semantisch mit der Motivtradition in Einklang zu bringen, auf die es zurückgreift. In Weihe scheint George das Inspirationspostulat, das der Musensymbolik zugrunde liegt, weniger zu bedienen als vielmehr zu konterkarieren. Der Zustand ästhetischer Vervollkommnung, in den das angesprochene „Du“ beim Eintreffen der Muse versetzt wird, wird eigentlich nicht erst durch den Besuch der „herrin“ eingeleitet, sondern diese taucht auf, als der Geküsste durch bewusste und geschärfte Wahrnehmung von Verbildlichungen der Realität die in Z. 13 heraufbeschworene Reife bereits erlangt hat. Aus der zufälligen Anhäufung von Zerstreutem und Fragmentarischem erwächst erst dann eine geschlossene Gestalt, wenn sich der Mensch zu einer Art intensivierter Beobachtung der Welt erhebt, die in Weihe als Medium eines Ästhetisierungsverfahrens vorgestellt wird, das bei George nicht ein angeborener Besitz von Auserkorenen ist, sondern im Grunde als Vollzug einer pädagogischen Tätigkeit anzusehen ist. In den ersten drei Strophen des Gedichts verleiht George einem poetologischen Grundsatz lyrische Form, der im Mittelpunkt seiner Kunstauffassung steht, so wie sie in den theoretisch-kritischen Sektionen der Blätter für die Kunst dargelegt wird. Der geübte Beobachter weiß sein geschultes Auge nur in der Auswahl der wirklich 16

„Stefan George. Zum Erscheinen der öffentlichen Ausgabe seiner Werke“, Pan 4 (1899), H. 4, S. 231–235, wiederabgedruckt in: J.-U. Fechner (Hrsg.), „L’âpre gloire du silence“. Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der „Blätter für die Kunst“ 1890–1898, Heidelberg 1998, S. 369–380, hier S. 373.

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wesenhaften Gegenstände einzusetzen und lässt sich durch massenweise angesammelte Details nicht verwirren, die für den Vorgang der Naturalisten und der Präraffaeliten typisch sind. Beiden Bewegungen wirft George die Unfähigkeit vor, in der Unmenge an Objekten, die sich der sinnlichen Aufnahme der Menschen anbieten, wertend einzugreifen. „Praerafaeliten und ähnliche“ stünden für George im Zeichen eines „gewollte[n] hervortretenlassen[s] gewisser wesentlicher eigentümlichkeiten für beschauer die das genaue sehen verlernt und für die man schon sehr stark auftragen muss um bemerkt zu werden.“17 Wie dies auch bei weiteren Schlüsselgedichten Georges im Verlauf seiner dichterischen Produktion der Fall sein wird (Komm in den totgesagten park und schau, der Anfangstext in Jahr der Seele, ist ein einschlägiges Beispiel dafür), kreist die Appellstruktur von Weihe darum, dass der Adressat zum Einsatz eines solchen „genauen sehens“ aufgefordert wird. Die optische Wahrnehmung der Realität erschöpft sich allerdings nicht in der morphologischen Betrachtung des jeweiligen Gegenstandes in seiner äußeren Gestaltung, sondern stellt sich vielmehr als ästhetischer Konstruktionsakt insofern dar, als das „Du“ aus den Beobachtungen, die er vornimmt, ein zusammenhängendes Kunstbild gewinnen soll. Das „genaue sehen“ gibt sich als ein Sehen durch einen Rahmen zu erkennen, der aus dem Disparaten, das sich dem Auge des Betrachters in üppiger Mannigfaltigkeit auftut, ein behutsam konturiertes Bild abtrennt, das keinesfalls als Abbildung der Wirklichkeit, sondern ausschließlich als künstliches, absichtliches Konstrukt zu deuten ist. Die Realität offenbart sich in ihrer ästhetischen Bedeutung nur im Vollzug ästhetisierender Operationen. Diese in Georges Poetik immer wieder vorkommende Tautologie wohnt u. a. dem Gestaltbegriff inne, auf dem Gundolfs Goethe-Monografie basiert. Darin ist der Historiker auf der Suche nach einem Leitsatz, der es ihm ermöglichen soll, den behandelten Autor und sich selbst fern von jeglichem Perspektivismus innerhalb desselben absoluten Referenzrahmens theoretisch zu begründen. Auf ein solches Prinzip stützt sich eigentlich auch die Dynamik des ästhetischen Schauens, so wie es in Weihe suggeriert wird. Denn einerseits wird das Gedicht in seiner Wirksamkeit durch diese Paradoxie zwar geschwächt, indem der Rezeptionsprozess im Leser von dessen Bereitschaft abhängig gemacht wird, sich durch den charismatisch bekundeten Willen des Aussagenden lenken zu lassen. Dabei stellt sich die sprechende Instanz von ihrer übergeordneten Position her ganz offensichtlich als alleiniger Inhaber und Künder der plastischen Kraft vor, die in der Praxis der dichterischen Proklamation ihr Gestaltungspotenzial ausbreitet. Andererseits aber verfolgt George gerade durch die Fokussierung auf eingerahmte, d. h. stark entnaturalisierte bzw. medialisierte Bilder das Ziel, Subjektivität zu entgrenzen. Vom ersten Vers an wird der Leser mit unübersichtlichem deiktischen Gestus dazu aufgefordert, die evozierten Bilder in einem Zustand restloser Extrovertiertheit wahrzunehmen. „Hinaus“ (Z. 1) konstituiert sich als programmatisches Stichwort, das ästhetisches Erlebnis mit einem Zustand des ‚Außer sich Seins‘ verbindet. Kunst wird somit von Innerlichkeit und subjektiver Befindlichkeit sowie von Bekenntnisdrang romantischer Prägung entkoppelt. Dass die von der Muse traditions17

Blätter für die Kunst. (1904), S. 17.

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gemäß erwartete Befruchtung am Ende eigentlich nicht stattfindet und die nachdenkliche Haltung der „herrin“, die sich ikonographisch aus mittelalterlichen Melancholie-Figurationen speist, durch den Umstand weniger aufgelöst als vielmehr bekräftigt wird, dass die menschliche Figur bereits vor ihrer Ankunft „rein“ und „geheiligt“ (Z. 22) aussieht, hebt den transzendenten Charakter des Inspirationsvorgangs auf und stellt die Semantisierung der Realität als menschlichen Akt der Selbstvervollkommnung in den Mittelpunkt des Gedichtes. Dass dies dem angesprochenen „Du“ letzten Endes nur unter der Bedingung möglich gemacht wird, dass es sich Anweisungen einer übergeordneten Instanz fügt, macht jene erhöhte Performativität im Zeichen charismatischer Herrschaftsausübung aus, die für Georges ästhetische Kommunikation schon in seinem Frühwerk typisch und auch im Hinblick auf die späteren Entwicklungen seiner Poetik absolut entscheidend ist. III. Dem Rhythmus kommt bei George rezeptionspragmatisch schließlich auch eine öffentliche Dimension zu. Diese soll hier kurz dargelegt werden. 1911 erscheint im zweiten Jahrgang vom Jahrbuch für die geistige Bewegung ein Aufsatz von Robert Boehringer, Über Hersagen von Gedichten. Somit wird eine der wichtigsten Beschäftigungen des George-Kreises in einen systematisch-theoretischen Kontext eingebettet. Der Vorleser, so Boehringer, soll sich vor jener Emphase hüten, die für die Manier der Schauspieler typisch ist, und von der Unfähigkeit zeugt, den inneren Kern des vorgelesenen Textes zu erfassen. Der wahre hersager geht vom wesen des gedichtes aus; er sieht nur die einheit, kann keine einzelheit selbständig begrifflich erfassen und darstellen wollen; vom gesetz ausgehend fügt er rhythmus und tonverhältnisse jedes verses mühelos in das ganze ein […] Der wahre hersager opfert sich selbst und wird zum gefäss des dichterischen geistes.18

Diese Vorstellung entspricht ganz offensichtlich den Anweisungen, die Stefan George seinen Schülern zum gegenseitigen Vorlesen erteilte, so wie sie der strategischen Bedeutung durchaus gerecht wird, die George dem Akt des Vorlesens zuschrieb. Nachdem er die Art und Weise, in der die prominenten Autoren der Zeit ihre Texte in der Öffentlichkeit darbieten, einleitend abfertigt,19 stellt Boehringer einen fundamentalen Gegensatz zwischen einem den hohen geistigen Anforderun18 19

R. Boehringer, „Über Hersagen von Gedichten“, Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 77–88, hier S. 86. „Über hersagen von gedichten weiss man in Deutschland nur durch deklamationen von gastierenden autoren, vortragskünstlern und schauspielern, die alle unrhythmisch akteurhaft nach der jeweiligen mode lesen und dadurch wirken, dass sie den ihnen unbekannten rhythmus durch stimmungen zu ersetzen suchen. Von den schriftstellern die einem weiteren publikum heute den dichter repräsentieren begleitet Hauptmann sein lesen mit gesten, und deklamiert Dehmel mit theatralischem pathos, obwohl gerade er sich gegen die schauspielerische vortragsweise gewendet hat. Selbst Hofmannsthal liest unter dem einfluss der alten wiener theaterschule schauspielerhaft, wenn er auch starke effekte diskret vermeidet. Kainz, der ‚anerkannt grösste deutsche sprecher‘ rasselte verse gleichsam um entschuldigung bittend herunter als ob sie prosa wären und liess ganze passagen unter den tisch fallen, um die ihm bedeutend scheinenden worte recht eindringlich zur wirkung kommen zu lassen. Andere spielen wie Possart jedes gedicht als vielstimmiges drama oder rezitieren gefühlvoll und zerfliessend“, ebd. S. 77.

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gen des dichterischen Wortes gerechten Vorlesestil und der musikalischen Kultur der Gegenwart fest: Das musikalische getriebe übertönt heute aufdringlich die edleren ansätze, lässt das chaotische gefühl als eine mächtige welle erscheinen und kein geistiges leben aufkommen. Musik ist dem dichterischen feind wie das dichterische ihr. Ursprünglich aus einem stamme scheinen sie sich entwickelt eher zu meiden als zu suchen, ja sich auszuschliessen wie verschiedene aggregatzustände derselben substanz. Das musikalische hat als konzessionierter gefühlsausdruck die macht gewonnen, weil die zerrissenheit unsres daseins seines verdeckenden mantels nicht entbehren kann, weil die scheinbare allgemeinheit seines ausdrucks jedem laien unterschlupf gewährt und sein gesellschaftlicher charakter keine forderungen an seine gefolgschaft stellt. Die dichtung ist ihres öffentlichen ausdrucks beraubt. Nach dem gesprochenen wort als der erscheinung eines dichterischen gebildes ist bei uns kein bedürfnis vorhanden, und selbst die zweckmässige prosarede, deren vortrag noch geübt wird, weil sie überzeugen oder kenntnisse vermitteln soll, ist ohne bildung.20

Musik als zivilisatorische Erscheinung, die als solche zu verwerfen ist, gehört zu denjenigen Postulaten, die die drei Jahrgänge des Jahrbuchs für die geistige Bewegung in mehrerer Hinsicht zu einem Kuriosum in der Geschichte der Kulturkritik um die Jahrhundertwende machen. Allerdings stimmt eine derart irritierende Stellung im Grunde mit dem Unverständnis überein, das George selbst gegenüber den meisten Hervorbringungen der Gegenwartskunst immer wieder zum Ausdruck bringt, angefangen von der Malerei und dabei mit der bedeutenden Ausnahme von Arnold Böcklin, dem ein Drang zur Monumentalität zugeschrieben wird, der sich im Grunde mit verschiedenen Aspekten von Georges Kunstauffassung deckt.21 Aus der Sicht der Mitglieder des Kreises dient Musik ausschließlich zu einer ephemeren Stimmungsproduktion, die rein sinnliche Bedürfnisse befriedigen soll. Musikalischer Semantik misstraut George insofern, als er darin einen Hang zur Formlosigkeit und Unbestimmtheit aufspüren zu können glaubt, der mit dem seiner Poetik zugrunde liegenden Autonomie-Gedanken keinesfalls in Einklang zu bringen ist. Gegen das Diffuse, das aus Boehringers Perspektive der Musik anhaftet, soll sich nun eine „junge generation“ stemmen, die „das formende dichterische element wieder spürt“ und in der „auch das verlangen nach seinem unentbehrlichen lauten ausdruck“ erwacht, sowie „das bestreben, dessen wesen und aufgaben kennen zu lernen.“22 Aus der Grundüberzeugung, dass „das hersagen nur von den dichtern geleitet werden kann“,23 gewinnt Boehringer eine bunt gemischte Systematik des Rezitierens von dichterischen Werken von der Antike bis zur Gegenwart. Diese im Hinblick auf den Vortragsstil kanonischer Autoren entwickelte Literaturgeschichte, die hauptsächlich um deutschsprachige Schriftsteller ab Herder kreist, mündet nach einem für die essayistische Produktion des George-Kreises charakteristischen argumentativen Verfahren in die Vorleseart, die im Kreis selbst praktiziert wird. Ausge20 21

22 23

Ebd. S. 77–78. Vgl. die gegenüber moderner Malerei feindlichen Aussagen, von denen B. Vallentin Auskunft gibt; vgl. Ders., Gespräche mit Stefan George 1902–1931, Amsterdam 1961, S. 92 und 107 (zu van Gogh). Bekanntlich widmet George 1901 Böcklin ein Gedicht, das 1907 in die Zeitgedichte des Siebenten Rings aufgenommen wird. R. Boehringer (1911), S. 78. Ebd. S. 79.

Klang und Rhythmus bei Stefan George

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hend von einer Aussage Albert Verweys bezeichnet Boehringer dichterisches Hersagen als diejenige art, die rhythmus und tonverhältnisse nach dem gesetz des gedichtes erfasst und wiedergibt. Dem einfältigen ist es natürlich; dem gebildeten laien macht es zuerst den eindruck einer ungeheuren künstlichkeit, es erscheint ihm als gesang, als abzählen von versfüssen, metrisch, skandierend, als liturgisch monoton. Alle diese bezeichnungen sagen vom dichterischen lesen etwas aus und doch sind alle unrichtig, weil sie nur teilhaftes besagen und weil sich ein gebilde durch die aufzählung von wahrnehmungen nicht einfangen lässt.24

So wie George in den Blättern für die Kunst zur ihm im übrigen fremden dramatischen Gattung im Sinne einer restlosen Identifikation zwischen dem auf der Bühne agierenden Schauspieler und dessen Rolle argumentiert hatte, und „eine neubelebung der Bühne“ von „ein[em] völlig[en] in-hintergrund-treten des schauspielers“ abhängig gemacht hatte,25 ordnet nun Boehringer alles Persönliche in der Tätigkeit des Vorlesers einem absoluten, überindividuellen Maß unter. Das Gesetzmäßige, das durch die Art des Vortrages ans Licht kommen soll, speist sich aus der Erhabenheit der dichterischen Aussage über eingrenzende subjektive Befindlichkeiten und teilt sich dem Zuhörer als strenge Enthaltung von jeder erkennbaren Teilnahme am Inhalt des vorgelesenen Textes. Durch diese Askese, die Boehringer der pathetischen Art der schauspielerischen Inszenierung entgegensetzt,26 reduziert sich der Rezitator auf eine Sprachrohr-Funktion im Dienste eines übergeordneten Willens zur Form, wobei die Betonung der Künstlichkeit des künstlerischen Gebildes diesem Drang nach Absolutheit und Wesenhaftigkeit mitnichten zuwider läuft, sondern ihn vielmehr begünstigt, denn „erst durch gesetzmässige bändigung hebt sich die natürliche rede in die sphäre, in der das gedicht sich ihrer als des eigentlichen ausdrucksmittels bedienen kann.“27 Von der Rolle, die der Besitz einer guten Vorlesetechnik bei der Aufnahme von jungen Mitgliedern in die Gruppe spielte, zeugt ein beeindruckender Bericht von Edgar Salin. Darin zeigt sich, wie sehr Prozesse der pädagogischen Einwirkung bei George in Praktiken der Machtausübung umschlagen, sobald sie sich in der Öffentlichkeit abspielen.28 Dabei bietet der der strengen Prüfung des Meisters unterzo-

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Ebd. S. 85–86. Blätter für die Kunst (1904), S. 13. Schauspielerisches Hineinversetzen des Rezitators in die Perspektive des vorgetragenen Gedichtes bringt für Boehringer nur Totalitätsverlust mit sich: „Dem deklamierenden schauspieler ist das gedicht material. Statt von dem gesetze auszugehen, sucht er jede vorstellung, jeden begriff und jede beziehung einzeln zu erfassen, psychologisch zu durchdringen und aus seinem leben heraus zu verstehen. Hat er jede einzelheit als naturereignis beobachtet, dann sezt er seine beobachtungen zu täuschend natürlichen nachahmungen und die nachgeahmten einzelheiten wieder mosaikartig zum gedicht zusammen. Er zerschlägt eine einheit, nimmt jeden teil als ein ganzes und demonstriert die beschaffenheit dieser zu eigenem leben aufgeblasenen teile im wahn, dadurch die einheit eines kunstwerks zusammenleimen zu können. Seine verblendung führt zur zerstörung des gedichtes, verse werden prosa, tonverhältnisse assonanzen, empfindung wird mimik, gestikulation und spiel“, R. Boehringer (1911), S. 87. Ebd. S. 86. „Neues, tieferes Erschrecken überkam uns Beide, als wir sagen sollten, ob wir Gedichte immer

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gene Akt des Vorlesens29 eine von George immer wieder mit strategischem Kalkül genutzte Gelegenheit, seine Beziehung zu den angehenden Kreis-Mitgliedern an regulative Grundprinzipien anzubinden, die den werdenden Jüngern die Hauptregeln des im Kreis als verbindlich betrachteten Umgangs mit Texten aufzwingen sollen.30 Friedrich Wolters bestätigt dies, indem er darauf hinweist, dass „das Hersagen von Gedichten […] für George eines der untrüglichen Zeichen für die Artung des Menschen“ war, „ein Mittel des Urteils vor dem kein Verstellen hilft und jeder Täuschungsversuch versagt: alles verrät sich an ihm, man muß hersagen, wie man ist – auch über die eigne Selbsterkenntnis hinaus – und kann es so wenig verschönern wie man den Blick seiner Augen willkürlich schöner machen kann.“31 Auch die Art und Weise, wie im George-Kreis vorgelesen wurde, und vor allem wie der Meister selbst vorlas, ist mehrfach geschildert worden. Ernst Glöckner und Edith Landmann liefern hinreichend Belege, die den kultischen Charakter solcher Veranstaltungen beleuchten. Glöckner merkt dabei „etwas Katholisches, Unbestimmbares, Verwehendes und Bildhaftes zugleich“,32 während Landmann die Vorleseart als „singend, manchmal mit leiser Kadenz am Schluss des Verses“ sowie die von George vorgetragenen Verse als „bannend wie Zaubersprüche“ bezeichnet.33 Das Monotone und Hypnotische an Georges Vorlesestil laufen darauf hinaus, der Produktion und Rezeption von Lyrik jenen religiösen, eucharistischen Zug zu verleihen, auf dem der Gedanke beruht, die Zugehörigkeit zum Kreis sei selbstloser Dienst an einer übergeordneten Herrschergestalt. Die Evozierung kirchlicher Rahmenbedingungen deutet auf suggestive, charismatisch begründete Kommunikation hin, bei der dem Rhythmus jedes erdenkliche interpretatorische Potenzial abhanden kommt.34 Schaffung von Rhythmus folgt hier einem streng normierten Ritual, dessen Hauptanliegen es ist, lyrische Aussagen als den unpersönlichen Ausdruck einer absoluten Ordnung darzustellen, die nur verinnerlicht und keinesfalls hinterfragt werden darf.

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laut lesen und warum“, E. Salin, Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München / Düsseldorf 1954, S. 17. „Georges Kritik war schonungslos – uns erschien sie noch zu milde gegenüber dem gemeinsamen beschämenden Gefühl restlosen Versagens“, ebd. S. 18. „George ging zum Sofa und von dort, halb sitzend, halb liegend, gab er uns mit gütiger Stimme Ratschläge für unsre Lesungen in den nächsten Monaten, bis er uns wieder zu sich kommen lasse. ‚Sich dem Rhythmus, sich den Fliessungen anvertrauen‘, ‚Mut Haben‘, ‚nicht nur im Zimmer, oft im Freien lesen‘, – mahnte er. ‚Haben Sie schon auf der Höhe des Königstuhls Gedichte gesprochen?‘, fragte er. ‚Lesen Sie oft im jahrhundert goethes! Sie kennen die Vielzahl der Stimmen und der Rhythmen noch nicht genug!‘“, ebd. F. Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 194. E. Glöckner, Begegnung mit Stefan George. Aus Briefen und Tagebüchern 1913–1934, Heidelberg 1972, S. 32. E. Landmann, Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf / München 1963, S. 115. Für eine Beschreibung des Vorleserituals im George-Kreis vgl. S. Lepsius, Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S. 22–23. Differenzierte Analysen auch im Hinblick auf Georges Rhythmus-Auffassung bei W. Braungart, (1997) S. 154 f. und F. Rossi (2011), S. 72 f.

LEBENSRHYTHMUS UND HARTE FÜGUNG: DER HÖLDERLIN-TON DER MODERNE Marco Castellari Wilhelm Diltheys epochemachende Hölderlin-Studie, die 1906 den Sammelband Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin abschloss, wird gemeinhin als Paradigmenwechsel innerhalb der Hölderlin-Rezeption betrachtet. Durch seine umfangreiche, lebensphilosophisch angehauchte Leben-undWerk-Schilderung brachte der 73-jährige Denker tatsächlich eine seit manchem Jahr zirkulierende Lektüre Hölderlins „in der Nachfolge Nietzsches“1 zu voller Wirkung, indem er vor allem durch die Aufwertung des mittleren, zu jener Zeit bekannteren Schaffens (Hyperion, Der Tod des Empedokles, Gedichte bis um 1800) Hölderlin zum Wegbereiter der Moderne stilisierte: „Ein Versuch, vorwärts zu gehen zu neuen Möglichkeiten, macht überall das Große in Hölderlin aus“, schreibt etwa Dilthey, „das[,] worin er die Moderne vorbereitet“ – weitere Belege wären anzuführen für die Herausbildung einer Hölderlin(-Nietzsche)-Moderne-Linie.2 Eine zentrale Rolle spielt in Diltheys Hölderlin-Interpretation der RhythmusGedanke, oft in Formeln wie „Rhythmus des Lebens“ oder „Lebensrhythmus“. Dabei war keine Begriffsschärfe angestrebt: Für Dilthey ist „Rhythmus“ sowohl sprachliche Form als auch philosophischer Inhalt von Hölderlins Dichtung, ja Grundweise eines ausgesprochen dichterisch-musikalischen Welterfahrungsmodus. Die Dilthey-Forschung kennt die Schlüsselstellung des Rhythmus-Begriffs (bzw. „Rhythmus des Lebens“) sowohl im Rahmen des Hölderlin-Aufsatzes als auch allgemeiner für die Ästhetik des späten Dilthey, wie u. a. eine kürzlich erschienene Dissertation zur Rolle der Musik in Diltheys reiferem Verständnis des Lebens unter dem Zeichen der Zeitlichkeit überzeugend gezeigt hat.3 Besonders berücksichtigt wurde dabei der Verweis auf Hegels Dialektik, den Dilthey selbst gerade auf dem Höhepunkt seiner Interpretation macht, um den „letzten und höchsten Begriff von [Hölderlins] Philosophie, den Rhythmus des Lebens selbst“ geistesgeschichtlich zu verorten: „In ihm sah der Dichter den Ausdruck für das Gesetz in der Bewegung des

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G. Martens, „Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches – Stationen der Aneignung eines Dichters“, Hölderlin-Jahrbuch 23 (1982/83), S. 54–78. W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Leipzig 1906, S. 398 f. Vgl. M. Batz, Der Rhythmus des Lebens. Zur Rolle der Musik im Werk Wilhelm Diltheys, Würzburg 2011. Zum Rhythmus-Begriff bei Dilthey und zur Hegel-Filiation vgl. bereits F. Rodi, „‚Der Rhythmus des Lebens selbst‘. Hegel und Hölderlin in der Sicht des späten Dilthey“, Reports on Philosophy 9 (1987), S. 3–13.

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Lebens, wie Hegel in dem dialektischen Fortschritt der Begriffe dies Gesetz gefunden hat.“4 Weniger oder kaum Beachtung fanden hingegen weitere Aspekte von Diltheys um den Rhythmus zentrierter Hölderlin-Interpretation. Von Bedeutung sind sie sowohl für eine Rekonstruktion der Rhythmus-Diskurse um 1900 als auch für eine längst fällige Neulektüre der komplexen Dynamik der Hölderlin-Rezeption zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert jenseits gängiger Vereinfachungen. Diltheys Konstellation des „Hölderlin-(Nietzsche)-Rhythmus“ erweist sich nämlich bei näherer Betrachtung als eine verwickelte, vielfach geschichtete Filiation aus meist unbeachteten Zwischenstationen der frühen Hölderlin-Rezeption, wie im ersten Teil meines Beitrags erörtert werden soll; sie verfehlt darüber hinaus ihre Wirkung auf das Herz der so genannten Hölderlin-Renaissance nicht, d. h. auf Norbert von Hellingraths förmliche Wiederentdeckung des Übersetzers und des späten Hymnikers. Diesem für eine ganze Dichter- und Denkergeneration entscheidenden Ereignis, das auch ein ‚rhythmisches‘ Ereignis war und keineswegs lediglich auf den Spuren Diltheys zu lesen ist, soll der zweite Teil meiner Überlegungen gewidmet werden. I Dilthey selbst nennt zweimal Hölderlins Tragödientheorie als Rahmen, in dem bereits der Dichter dem Rhythmus-Begriff poetologische Bedeutsamkeit verliehen hatte. Es handelt sich dabei um die beiden so genannten Sophokles-Anmerkungen, genauer gesagt um die Anfangsteile sowohl der Ödipus-, als auch der AntigonäAnmerkungen. Hier wird Rhythmus als Unterscheidungsmerkmal der poetischen Verfahrensweise verstanden: Im Gegensatz zur Philosophie behandle „die Poësie“, so Hölderlin, „die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß die Darstellung dieser verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht“. Dementsprechend ist Dichtung, hier vorrangig tragische Dichtung, durch eine „poetische Logik“ gekennzeichnet, die auf Totalität zielt statt auf Zergliederung. Solch eine totalisierende Darstellung, die von Hölderlin ausdrücklich als „lebendig“ verstanden wird, also als Komposition des Unterschiedlichen, hat den Rhythmus als Gesetz: So kann „das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden.“5

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W. Dilthey (1906), S. 404. F. Hölderlin, „Anmerkungen zur Antigonä“, in: Die Trauerspiele des Sophokles, übersetzt von F. Hölderlin, Frankfurt a. M. 1804, zitiert nach: F. Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von F. Beißner, A. Beck u. U. Oelmann, 8 Bände, Stuttgart 1943–1985, Bd. 5, S. 265. Für eine genaue Erörterung von Hölderlins „spekulative[r] Poetik des Tragischen“ mit Blick auf die „Überlegungen zu Rhythmus und Zäsur […] als Prozess ästhetischer Erfahrung“ vgl. P. Primavesi, „Das Reißen der Zeit. Rhythmus und Zäsur in Hölderlins ‚Anmerkungen‘“, in: P. Primavesi, S. Mahrenholz (Hgg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schlingen 2005, S. 205–220, hier S. 205.

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Man kann Diltheys Übernahme und Transformation des Rhythmus-Begriffs als Vereinfachung, sogar als Verkennung von Hölderlins Poetologie verstehen. Dies ist hier jedoch nicht der Punkt. Von Belang erscheint mir vielmehr die eigenwillige Art und Weise, auf die Dilthey seine Quellen behandelt, weil dies etwas über die untergründigen Wege der Hölderlin-Rezeption im 19. Jahrhundert verrät. Zuerst zu Hölderlin. Zunächst nennt Dilthey nur flüchtig, ja fast widerwillig den ursprünglichen Kontext von Hölderlins „tiefgedachte[r] Lehre von dem Rhythmus“: Der Leser des Erlebnis-Aufsatzes erfährt nur, dass es sich um eine im Verhältnis zum dort erörterten Hyperion später entworfene Theorie handelt, und dass sie die Tragödie betrifft: Der Rhythmus in der Sprache, in der Gliederung der Tragödie ist für ihn Symbol für den letzten und höchsten Begriff seiner Philosophie – den Rhythmus des Lebens selbst. […] Wenn Hölderlin diese tiefgedachte Lehre von dem Rhythmus, der Alles bis zur Verszeile eines Dichters durchwaltet, auch erst später veröffentlicht hat: das Gefühl für diesen Zusammenhang war schon in ihm wirksam als er den Hyperion abschloß, und er mochte sich auch schon Begriffe hierüber gebildet haben.6

Solche suspekte Zurückhaltung weicht wenige Seiten weiter einer zwar ausdrücklichen Nennung der Sophokles-Anmerkungen und einer knappen Paraphrase der entsprechenden „Rhythmus“-Stellen; der Leser wird jedoch auch davor gewarnt, dass Hölderlins poetologische Ausführungen „aus der Zeit seiner geistigen Zerrüttung“ stammen. Solch eine schwere Hypothek lässt den Gestus des (gesunden) Interpreten gleichzeitig als weise und pietätvoll erscheinen: Er rettet förmlich die „Ideen, die ohne Zweifel lange von ihm gehegt wurden und in seine gesunde Zeit zurückreichen“ und kann sie für die Erörterung früherer Texte ‚recyceln‘, hier die fragmentarische Tragödie Der Tod des Empedokles.7 Wenn dann der chronologisch vorgehende Dilthey auf Hölderlins SophoklesProjekt zu sprechen kommt, so gesteht er dem Übersetzer noch „rhythmisches Gefühl“ zu, jedoch nicht mehr „die Herrschaft über das Griechische.“8 Deutlicher vom Wahnsinn-Diskurs belastet ist Diltheys Urteil über die Sophokles-Anmerkungen, die er als Verwelken früherer Blüte, als Nachhall nunmehr entschwundener Harmonien liest: In den Anmerkungen liegt die Poetik seiner besseren Zeiten als ein Trümmerhaufen vor uns. Es reizt in sie ganz einzudringen, doch ermüdet und enttäuscht steht man dann davon ab, in Sinnlosem einem verborgenen Tiefsinn nachzugehen. Seine Unfähigkeit einen logischen Zusammenhang festzuhalten ist augenscheinlich.9

Rückblickend wird nun deutlicher, warum Dilthey auf dem Höhepunkt seiner Interpretation (d. h. am Schluss der Hyperion-Analyse) den Verweis auf die späteren Anmerkungen vermieden hatte: Die dort geübte Apotheose des „Rhythmus des Lebens“ war Kern einer Rehabilitierung des mittleren Hölderlin als Weggefährten Hegels einerseits und als Wegbereiter Nietzsches andererseits, die gestört hätte 6 7 8 9

W. Dilthey (1906), S. 414. Vgl. ebd. S. 430. Ebd. S. 456. Ebd.

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werden können durch eine explizite Verknüpfung mit den für Dilthey durch den Wahnsinn belasteten Sophokles-Anmerkungen. Solches Unverständnis dem späten Hölderlin gegenüber, vor allem dem Übersetzer und dem Tragödientheoretiker, teilt Dilthey mit vielen aus seiner und der nächsten Generation – besonders deutlich wird es beim Vergleich mit dem 55 Jahre jüngeren Norbert von Hellingrath und mit dessen enthusiastischer Wiederaufwertung der „geschichtliche[n] Stellung“ und „Bedeutung für die Gegenwart“ der Übertragungen sowie mit seiner Würdigung der Sophokles-Anmerkungen als „Denkmal jener Nüchternheit die er [Hölderlin; M. C.] das ‚Maass der Begeisterung nennt‘“, und als „Hölderlins bedeutendstes theoretisches Werk und wol das Wichtigste was über die Tragödie gesagt worden ist […] als Muster einer Erklärung.“10 Bei aller Aufwertung Hölderlins und bei aller starken Wirkung auf die so genannte Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert, die hier gar nicht widerlegt werden soll, erscheint Diltheys Hölderlin-Aufsatz in vieler Hinsicht als Produkt der früheren Hölderlin-Rezeption, die viel nuancierter war, als sie oft dargestellt wurde: Die Ablehnung des Sophokles-Projekts ist ein deutliches Beispiel dafür. Noch augenscheinlicher wird die Verwurzelung von Diltheys Hölderlin-Interpretation im 19. Jahrhundert, wenn man sich einen genaueren Einblick in die Genealogie seiner Rhythmus-Begrifflichkeit zu verschaffen versucht. Dilthey selbst arbeitet wohlgemerkt gegen eine solche Rückbindung, indem er auch manche seiner sekundären Quellen sowie die eigenen Vorarbeiten über Hölderlin verschweigt. Bereits 1867 hatte nämlich der 1833 geborene Dilthey einen Aufsatz über Hölderlin veröffentlicht, und zwar unter einem Pseudonym, wie es für seine frühen Arbeiten üblich war. Der Aufsatz Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns ist eine viel knappere Charakteristik des Dichters, die ausdrücklich vom „große[n] pathologische[n] Interesse“ geleitet war, das von Hölderlins Krankheitsfall ausgeht.11 In diesem Paradebeispiel für die „Gesundheitsideologie“, welche die Hölderlin-Forschung im späteren 19. Jahrhundert, in manchem die ganze HölderlinRezeption der Zeit kennzeichnete,12 fiel Diltheys Urteil über Hölderlins SophoklesAnmerkungen auffallend sanfter aus als im späteren Erlebnis-Aufsatz. Überra10

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So Hellingrath 1913 in der Vorrede zum 5. die Übersetzungen und Briefe beinhaltenden Band seiner Hölderlin-Ausgabe: Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von N. v. Hellingrath, fortgeführt von F. Seebaß u. L. v. Pigenot, München; Berlin 1913–1923, Bd. 5, S. XII. (Weitere Zitate im Text mit der Abkürzung Hell.) Von der zentralen Rolle des Rhythmus-Begriffs in der so genannten Hölderlin-Renaissance bezeugt mittelbar der Gegner Hellingraths, jener Frank Zinkernagel, der den späten Hölderlin unter dem „unverkennbaren Stempel der Katatonie“ spätpositivistisch verstand: In seiner einer Anprangerung ähnelnden Rezension zum erwähnten 5. Band führt er gerade die Aufwertung des „Rhythmus“ als einen der Hauptfehler des als GeorgeSchüler verpönten Hellingrath an. – Vgl. Euphorion 21 (1914), S. 357 f. Wilhelm Hoffner (=W. Dilthey), „Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns“, Westermanns Monatshefte 22 (1867), S. 155–165, zitiert aus: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 15 (Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert), hrsg. von U. Herrmann, Göttingen 1970, S. 102–116, hier S. 102. Vgl. u. a. H. Kaulen, „Rationale Exegese und nationale Mythologie. Die Hölderlin-Rezeption zwischen 1870 und 1945“, Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 554–577.

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schend erscheint eigentlich Diltheys Beschäftigung mit den späten Kommentaren an sich, wenn man bedenkt, dass Hölderlins Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen nach dem auflagenschwachen Erstdruck von 1804 nicht mehr veröffentlicht worden waren, nicht einmal in den Sammelausgaben, und somit aus dem vor allem auf den Hyperion und auf manche Gedichte konzentrierten kritischen Diskurs so gut wie verschwunden waren. Der junge Dilthey selbst bemerkte am Anfang des Aufsatzes, dass die beiden Sophokles-Bände „schon zu einer großen Seltenheit geworden“ waren. In der frühen Hölderlin-Arbeit Diltheys ist Rhythmus noch nicht die allgegenwärtige Formel, die den Interpreten durch Leben, Werk und Wahnsinn des Dichters führt. Der Begriff erscheint nur an gebotener Stelle, bei der Erörterung der Sophokles-Anmerkungen, und keineswegs mit der späteren lebensphilosophischen Nuancierung. Der „Rhythmus der Vorstellungen“ und dessen „Grundformen“ interessieren hier Dilthey als Begriffe, die Anmerkungen nicht als bereits geformte Argumentation, sondern vielmehr als möglicher Ansatzpunkt für weitere Überlegungen. Wie sind das Verhältnis zwischen den beiden Hölderlin-Arbeiten und die so unterschiedlich gewichtete Rolle, die der Rhythmus-Begriff darin spielt, zu lesen? In nuce könnte man in Diltheys vorsichtiger Erwähnung im früheren Zusammenhang das Anzeichen sehen für die viel spätere Rückanwendung des späten Hölderlin’schen Theorems auf die Werke der mittleren Phase; andererseits würde ein Versuch der Kontextualisierung solcher Überlegungen in Diltheys frühen Schriften wohl eher einen Zusammenhang mit seiner damaligen Auseinandersetzung mit dramentheoretischen Texten offenbaren. Man wäre außerdem versucht, die Entwicklung des Rhythmus-Begriffs in Diltheys Hölderlin-Arbeiten von einem immerhin sachlich behandelten, etwas marginalen Aspekt der späten Tragödientheorie in der früheren Studie zum hermeneutischen Leitmotiv der philosophisch dichten Gesamtinterpretation im späteren und wirkungsvollen Erlebnis-Aufsatz „auf den Spuren Nietzsches“ zu lesen, was übrigens mit der Dynamik der ganzen Interpretationslinie des späten Dilthey übereinstimmen würde. Auch ein textueller Beleg würde nicht fehlen, da der alte Dilthey im nunmehr mehrmals erwähnten Höhepunkt seiner Hyperion-Erörterung Nietzsches legendär gewordenen Schulaufsatz zu Hölderlin ausdrücklich zitiert.13 In der Arbeit des Gymnasiasten (19.10.1861) wurden bekanntlich die Dichtungen Hölderlins als sprachlich-musikalische Meisterstücke gerühmt, vom „erhabensten Odenschwung“ und von den „zartesten Klänge[n] der Wehmut“ war dort die Rede, von den „schwermüthigen Töne[n]“ des Empedokles, von der „wohlklingenden Bewegung seiner Prosa“ im Hyperion, die auf den Schüler „einen ähnlichen Eindruck macht[e], wie der Wellenschlag des erregten Meeres“. Obwohl der junge Nietzsche, der übrigens zu Hölderlins Sophokles keinen direkten Zugang hatte, das Wort „Rhythmus“ in Bezug auf Hölderlin nicht benutzt, könnte man trotzdem Diltheys explizit musikalisch arbeitende Hölderlin-Interpretation mit dem Aufsatz aus Nietzsches Pfortenser Jahren in Verbindung bringen. Als Motto von Diltheys Ausführungen könnte etwa Nietzsches begeistertes Resümee zum Hyperion stehen, wenn er schreibt: „In der That, diese 13

Vgl. W. Dilthey (1906), S. 414 f.

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Prosa ist Musik, weiche schmelzende Klänge, von schmerzlichen Dissonanzen unterbrochen, endlich verhauchend in düstren, unheimlichen Grabliedern.“14 Nietzsche erweist sich aber in diesem Zusammenhang als eine lediglich indirekte Quelle. Die beflügelten Ausführungen des gerade 17-Jährigen über Hölderlins Werk sind nämlich keineswegs ‚auf seinem Mist gewachsen‘, sondern von einer kommentierten Anthologie ‚inspiriert‘, ja abgeschrieben worden.15 Mittelbar stammen sie aus Alexander Jungs Monographie Friedrich Hölderlin und seine Werke, die 1848 als allererste Hölderlin-Studie in Buchform erschien, fünf Jahre nach dem Hinscheiden des Dichters im Tübinger Turm am 7. Juni 1843. Noch spannender wird es, wenn man nun Jungs Monographie mit Diltheys spätem Hölderlin-Aufsatz vergleicht. In einem Maße, die auf keinerlei Weise auf eine Vermittlung durch Nietzsches Schulaufsatz zurückzuführen ist, zeigt sich Dilthey stark abhängig vom Königsberger Hölderlin-Interpreten. In dessen Buch konnte er unter anderem folgendes finden: Überlegungen zum „Rhythmus, de[m] heiligen Kreislauf des Daseyns“ als Motiv von Hölderlins Gedichten; Vergleiche zwischen der „wohllautende[n] Monotonie des Hyperion“ und dem „Meere […], dessen Wogenschlag uns in seiner Erhabenheit, in seinem ewig gleichen Rhythmus auch Stunden lang fesselt“; allgemeine Charakterisierungen wie „Die Sprache in ihm ist überall Wohllaut, überall Rhythmus, überall Wellenschlag der aufgeregten Empfindung, überall Modulation“. In offensichtlicher Vorwegnahme von Diltheys Hyperion-Interpretation ist außerdem mehrmals von „rhythmische[r] Prosa“ die Rede; auch der Dilthey’sche Gestus kündigt sich an, wenn Alexander Jung den für den Roman charakteristischen „Rhythmus der Prosa“ als Interpretationsmuster für weitere Schriften Hölderlins verwendet.16

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F. Nietzsche, „Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle“ (1861), zitiert nach: F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, fortgeführt von V. Gerhardt, N. Miller, W. Müller-Lauter u. K. Pestalozzi, Berlin 1967 ff., Bd. 1/2 (Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1858 – Herbst 1862, hrsg. v. J. Figl, 2000), S. 339. Vgl. dazu H. Bothe, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1991 sowie Th. H. Brobjer, „A Discussion and Source of Hölderlin’s Influence on Nietzsche. Nietzsche’s Use of William Neumann’s Hölderlin“, Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 397–412. Zur Konstellation Hölderlin-Nietzsche vgl. zuletzt D. F. Krell, „Nietzsche’s Reminiscences“, in id., The Tragic Absolute. German Idealism and the Languishing of God. Bloomington; Indianapolis 2005, S. 391–432. Für eine kritische Hinterfragung derselben Konstellation vgl. hingegen neulich G. Stiening, „Vom Seher zum ‚falschen Idealisten‘. Nietzsches ambivalente Hölderlin-Rezeption und deren Auflösung im Nietzscheanismus“, in: F. Vollhardt (Hrsg.) Hölderlin in der Moderne. Kolloquium für Dieter Henrich zum 85. Geburtstag, Berlin 2014, 61–79. Auf den selben Band verweise ich für die Bilanz über Diltheys Hölderlin-Rezeption des Herausgebers F. Vollhardt („Biographisches Verfahren und kulturwissenschaftliche Erkenntnis. Das Hölderlin-Porträt Wilhelm Diltheys“, ebd. S. 42–59) und für die Überlegungen von Ch. Jamme über die sog. ‚Hölderlin-Renaissance‘ („‚Rufer des neuen Gottes‘. Zur Remythisierung Hölderlins im George-Kreis und ihren Heideggerianischen Folgen“, ebd. S. 80–91). Vgl. A. Jung, Friedrich Hölderlin und seine Werke. Mit besonderer Beziehung auf die Gegenwart, Stuttgart; Tübingen 1848, S. 41, 97 f., 191 et passim.

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Diltheys Abhängigkeit von Jung ist also unüberhörbar; gerade die RhythmusBegrifflichkeit gilt dabei als stärkstes Indiz. Nietzsche hat, wenn überhaupt, als Resonanzkasten gedient. Die rückläufige Verankerung der Begrifflichkeit auf Hölderlins späte Tragödientheorie ist, soweit ich es einschätzen kann und wie die Erwähnung im frühen Aufsatz Diltheys beweisen könnte, als zusätzliche Bestätigung der eigenen Interpretationslinie erst ex post und unabhängig von der Jung(Nietzsche)-Linie erfolgt. Man kann also bis dato annehmen, dass Dilthey Jungs Buch erst für die zweite Hölderlin-Arbeit zu Rate gezogen hat und dass diese anscheinend intensive Lektüre, die er aber unter seinen Quellen nicht anführt, ihn dazu gebracht hat, den ihm direkt aus Hölderlins Texten bereits bekannten Rhythmus-Begriff, dem er aber im früheren Zusammenhang keineswegs eine zentrale Rolle zuschrieb, mit der eigenen lebensphilosophischen und nietzscheschen Brille zu lesen und als Leitmotiv seiner neuen und resonanzreichen Hölderlin-Interpretation zugrunde zu legen. Die Spurensuche ist aber noch nicht zu Ende. Alexander Jung hatte nämlich seinerseits die Kategorie des Rhythmus für die Interpretation von Hölderlins mittlerem Schaffen, vor allem des Hyperion benutzt, ohne jeglichen Verweis auf die Sophokles-Anmerkungen aufzubringen, die in seiner Monographie so gut wie nicht erwähnt wurden. Noch extremer als Dilthey hatte er also den Rhythmus-Begriff von seinem tragödientheoretischen Kontext abstrahiert; es kann sogar vermutet werden, dass Jung nur eine ganz unklare Vorstellung von Hölderlins SophoklesProjekt hatte, nicht zuletzt weil sich Jung auf Christoph Schwabs auch in dieser Hinsicht stark selektive Hölderlin-Ausgabe stützte (1846). Den Rhythmus-Begriff als Herz von Hölderlins Dichtung und als Grundsatz für deren Interpretation hatte Jung nicht aus Hölderlins Texten, sondern aus einer ihm zeitlich viel näheren Quelle entnommen. Dabei handelt es sich weder um einen tragödientheoretischen Aufsatz noch um ein Stück Sekundärliteratur über Hölderlin, sondern um einen Fiktion und Dokument kühn vermischenden, literarischen Text: Bettina Brentanos 1840 erschienenen Roman Die Günderode. In dem faszinierenden, teils fingierten teils originellen Briefwechsel erzählt Bettina der älteren Freundin u. a. von ihrer Begegnung mit Isaak von Sinclair um 1806 und vor allem von dem, was der Dichterfreund „aus den Reden des Hölderlin aufgeschrieben“ habe, „in abgebrochenen Sätzen“, die Bettina als „Orakelsprüche, die [Hölderlin] als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft“, bezeichnet.17 Tatsächlich komponierte die alte Bettina aus einer beträchtlichen zeitlichen Entfernung womöglich Erinnerungen aus einem (nicht sicher attestierten) Gespräch mit Sinclair mit Überlegungen ihres inzwischen verstorbenen Mannes Achim von Arnim, der als erster Hölderlins Sophokles-Anmerkungen Aufmerksamkeit geschenkt hatte (Ausflüge mit Hölderlin, 1828). Sie tat das mit einer höchst eigenwilligen Transformation – in vieler Hinsicht Vereinfachung – von Hölderlins Sophokles-Anmerkungen selbst, die Bettina nachweisbar bei der Verfassung der Günderode vorlagen. Darüber hinaus drückt Bettina in den Hölderlin-Passagen des Briefromans die 17

Anonym [= B. Brentano von Arnim], Die Günderode. Den Studenten, Grünberg; Leipzig 1840, zitiert nach: F. Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von F. Beißner, A. Beck u. U. Oelmann, 8 Bände, Stuttgart 1943–1985, Bd. 7/4, S. 198 f.

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starke, sprachlich-rhythmische und dichterisch-mystische Faszination aus, welche die Lektüre von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, insbesondere des Ödipus, in ihr auslöste. In jenem Günderode-Teil, der Hölderlins „Orakelsprüchen“ gewidmet ist, spielen die Begeisterung für Hölderlins Sprache und insbesondere eine regelrechte Rhythmus-Obsession die Schlüsselrolle. Bettinas seitenlange, exaltierte Ausführungen kulminieren in der Hölderlin zugeschriebenen Gnome Alles ist Rhythmus.18 Bettinas Hölderlin-Verherrlichung im Zeichen des Rhythmus war nicht nur in ihrer Zeit wirkungsvoll. Einen unmittelbaren Einfluss auf Dilthey, also ohne die Vermittlung von Alexander Jung, kann man nur mühsam nachweisen, obwohl mir dies als durchaus wahrscheinlich erscheint. Um 1900 war aber Bettinas Buch unter Hölderlin-Kennern eine Art Geheimtipp: so etwa bei Karl Wolfskehl, dem in vieler Hinsicht geheimen Motor der Hölderlin-Rezeption in jenen Jahren, oder bei Norbert von Hellingrath, der das Buch der Romantikerin sogar zusammen mit neueren Studien von Borchardt und von Hildebrandt unter den „wichtigeren[n] Ausführungen über Hölderlins Sophoklesübertragung“ im Apparat seiner Hölderlin-Ausgabe auflistet (Hell. Bd. 5, S. 348; vgl. auch Anm. 15). Die Gnome Alles ist Rhythmus ist übrigens bis in unsere Zeit von nicht wenigen Forschern als authentisches Wort Hölderlins wiederaufgenommen worden. In der „Rhythmus“-Konjunktur, welche die Hölderlin-Rezeption nach 1900 kennzeichnet und in Diltheys Erlebnis-Aufsatz ihren stärksten Ausdruck findet, spielt also der (uneingestandene) Rückbezug auf den Hölderlin-Diskurs der 1840er Jahre eine bisher von der Forschung nicht erkannte Rolle. Spät- und nachromantische Vorstellungen, die übrigens, wie hier nur am Rande bemerkt werden kann, bei Bettina mit einer Verherrlichung von Hölderlins genialem Wahnsinn einhergingen, werden von Dilthey mittelbar oder unmittelbar, sicher aber stillschweigend übernommen und zusammen mit teilweise ebenfalls davon inspirierten nietzscheschen Elementen vermischt. Die Rhythmus-Begrifflichkeit, die Dilthey dem 20. Jahrhundert als Schlüssel zum Verständnis Hölderlins vererbt, ist eine Komposition aus poetologisch-tragödientheoretischen Ansätzen, sprachlich-musikalischen Vorstellungen und (lebens-)philosophischen Elementen. Ihren Ursprung hat sie, etwas überraschend, in einem vor 1900 in der Hölderlin-Forschung kaum zirkulierenden Werk, d. h. in den Sophokles-Anmerkungen. Ihre Nuancierungen bekam sie vor allem durch Formen produktiver-transformierender Rezeption (Bettina Brentano, Nietzsche). Die anfangs angemerkte Unschärfe von Diltheys „Rhythmus“-Begriff 18

Ebd. Einsichten ihres Mannes Achim von Arnim in die eigene Umschreibungen von Hölderlins Poetologie einarbeitend, setzt Bettina göttlich inspirierte Dichtung einem romantisch verklärten „Rhythmus“ gleich und gibt diese eigenen Auffassungen als Worte Hölderlins aus, der behauptet habe, „das sei Poesie: daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege.“, ebd., S. 195. Eine Neuinterpretation von Bettinas transformierender, teilweise produktiver Rezeption der Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen stellt ein Desiderat der Forschung dar, die ich im Rahmen einer umfassenden Studie zur Rezeption von Hölderlins Theaterprojekten bald zu erfüllen hoffe. Eine erste, notwendigerweise knappe Orientierung bietet U. Gaier, „Nachwirkungen in der Literatur“, in: J. Kreutzer (Hrsg.), Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2002, S. 468–488, zu Bettina S. 477 f.

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hat sich also als Ergebnis einer teils untergründigen Rezeptionsgeschichte Hölderlins im 19. Jahrhundert erwiesen, die anders als der Großteil der Literaturkritik und -Geschichtsschreibung dem sprachlich-musikalischen, antiklassizistischen Zug von Hölderlins Übersetzungen und Dichtungen durchaus geneigt war. II Bei der Suche nach den Wurzeln von Diltheys Rhythmus-Begrifflichkeit sind wir bereits, wie es so zu geschehen pflegt, auf Erscheinungen gestoßen, die als Filiation von Diltheys wirkungsmächtiger Hölderlin-Interpretation zu bezeichnen sind. Solch eine – teils kritische oder zumindest problematisierende – Filiation wäre auch in Bezug auf den Rhythmus zu verfolgen, was nicht verwundert bei der Schlüsselrolle, die der Begriff bei Dilthey spielt, sowie angesichts der Tatsache, dass Diltheys Buch noch vor seinem Tod 1911 zwei Neuauflagen erfuhr, dann mehrmals wiederaufgelegt wurde und zum Grundstein geistesgeschichtlicher Forschung wurde. Produktiv war vor allem, wie bereits erwähnt und wie Gunther Martens richtig festgestellt hat, die Herausbildung einer vitalistisch verstandenen Hölderlin-NietzscheLinie (es fehlt dabei auch eine biographische Annäherung beider Figuren nicht) sowie die „Reduktion des von Hölderlin vertretenen Geschichtskonzepts“, sprich eine Enthistorisierung seines Werkes.19 Die Faszination des oft durch Nietzsche potenzierten Hölderlin-Rhythmus, die eine ganze Dichter- und Denkerschar nach 1900 überwältigte, war jedoch weder nur über die Vermittlung (und in der Version) Diltheys auf sie gekommen, noch ging sie lediglich von denjenigen Werken Hölderlins aus, die Dilthey in den Mittelpunkt seiner Interpretation gerückt hatte. In das literarische Feld kamen solche neue Töne vielmehr durch die Entdeckung des Übersetzers aus dem Griechischen (Pindar und Sophokles) und v. a. des späten Lyrikers. Die Gedichte aus den Jahren 1800–1806, in Hellingraths bekannter Definition „das Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes, das eigentliche Vermächtnis“ (Hell., Bd. 4, S. XI), kamen in einem auflagenschwachen wie epochemachenden Sonderdruck des 4. Bandes der Hellingrath’schen Ausgabe bereits 1914 in die Hände von zirka hundert Empfängern – darunter natürlich Stefan George und Karl Wolfskehl, die an der Wiederaufwertung Hölderlins und an der Förderung von Hellingraths Entdeckungen seit manchem Jahr arbeiteten, aber auch Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und 19

Vgl. G. Martens (1983), S. 6. Speziell als Weiterführung von Diltheys Ansatz (eventuell durch Hellingraths Vermittlung) können rhythmisch-stilistische Studien aus der Hölderlin-Forschung der ersten Jahrhunderthälfte betrachtet werden wie Rudolf Krieger, Sprache und Rhythmus der späten Hymnen Hölderlins, Stuttgart 1928, H.-W. Bertallot, Hölderlin – Nietzsche. Untersuchungen zum hymnischen Stil in Prosa und Vers, Hamburg 1933 und D. Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus. Mit einer Einleitung über das Problem des Rhythmus und einer Bibliographie zur Rhythmus-Forschung, Leipzig 1937. Neuere Untersuchungen zeugen von einem wieder entfachten Interesse für die Konstellation Hölderlin-Rhythmus, jedoch unter anderen Prämissen – Vgl. K. H. Rosenfield, Antigone – de Sophocle à Hölderlin. La logique du „rythme“, Paris 2003 und B. Previšić, Hölderlins Rhythmus. Ein Handbuch, Frankfurt a. M.; Basel 2008. Vgl. aber auch die oben erwähnte Studie von P. Primavesi (2005).

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viele andere.20 Im besagten 4. Band hatte Hellingrath einige lyrische Texte Hölderlins zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht (ca. 1500 unbekannte Verse), und er konnte die zwar bereits zirkulierenden, jedoch noch nicht wirklich erschlossenen und vor allem meist pathologisierten bzw. verkannten Gedichte zusammenbringen. Die Geschichte ist bekannt, und ich verfolge sie nun nicht weiter. Mir geht es vielmehr darum, in diesem Schlussteil meiner Überlegungen zu zeigen, wie einerseits Hellingrath eine neue Sicht auf Hölderlins Spätwerk erst über die Übersetzungen aus dem Griechischen und ihre rhythmischen Besonderheiten entwickelte – damit eine Spur verfolgend, die bei aller Verschiedenheit zurück ins 19. Jahrhundert führt – und inwiefern andererseits seine im berühmten Begriff „harte Fügung“ zusammenzufassende Charakterisierung der Hölderlin’schen Sprache als kritische Filiation von Diltheys Ausführungen zum Rhythmus der Sprache zu verstehen ist. Hellingrath stößt während seines altphilologischen Studiums in München beinah zufällig auf Hölderlin, folgt dem Rat seines Lehrers Friedrich von der Leyen, fährt nach Stuttgart mit dem Plan, die Hölderlin-Handschriften im Hinblick auf eine Dissertation einzusehen und entdeckt dort die Pindar-Übersetzungen, über die er dann seine in München mit großen Vorbehalten angenommene Doktorarbeit schreibt. Durch Wolfskehl – der ihn wohl auf die richtige, ‚pindarische‘ Spur geführt und ihm womöglich auch die Lektüre von Bettinas Hölderlin-Ausführungen in der Günderode empfohlen hat –21 war Hellingrath mit Stefan George in Kontakt gekommen. 1910 gibt Hellingrath die Pindarübertragungen Hölderlins im Verlag der Blätter für die Kunst heraus, ein Jahr später folgt die Druckfassung der Dissertation. 1913 erscheint dann der 5. Band seiner Hölderlin-Ausgabe, der sämtliche Übersetzungen beinhaltet. Um die für Pindar und Hölderlin als charakteristisch ausgemachte „harte fügung“ zu beschreiben, greift Hellingrath auf einen Rhythmus-Diskurs zurück, den man als traditionell rhetorisch-literarisch bezeichnen kann. Anders als bei Dilthey ist hier vor allem eine formale Kategorie mobilisiert, die der Altphilologe gut kennt und für die eigenen Zwecke zu biegen weiß. „harte“ und „glatte fügung“ unterscheiden sich laut Hellingrath in der Art und Weise, auf die die „drei parallelen 20 21

Die offizielle Ausgabe wurde 1916 gedruckt und kam erst 1917 in den Buchhandel, bereits postum, da Hellingrath am 14. Dezember 1916 an der Kriegsfront gestorben war, nachdem er 1915 während eines Fronturlaubs zwei wichtige Hölderlin-Vorträge gehalten hatte. Am 3. Januar 1903 schrieb Karl Wolfskehl an den eine neue Hölderlin-Ausgabe planenden Paul Ernst:„Sehen Sie sich doch auch dessen Sophokles und die noch ganz unbekannten Pindar-Deutschungen an […]. Auch die unbedingt authentischen Aufzeichnungen welche die Bettine in der Günderode giebt, und die von außerordentlichster Bedeutung sind, sprachlich und materiell sollten Sie wenn möglich aufnehmen.“ Zitiert in: A. Kelletat, „Paul Ernst und Hölderlin. Briefe aus dem Umkreis der Hölderlin-Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags im Jahre 1905“, Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 261–276. Genannte Hölderlin-Ausgabe sollte dann Wilhelm Böhm besorgen, der aber lediglich die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen edierte (1905). Dass Wolfskehl dann eine Rolle in Hellingraths ‚Wiederentdeckung‘ spielte – sowohl was Pindar betrifft, als auch für die Kenntnis von Bettinas Ausführungen – bezeugen u. a. die von Bruno Pieger edierten Materialien, vgl. B. Pieger: „Edition und Weltentwurf. Dokumente zur historisch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths“, in: B. P., W. Volke, N. Kahlenfeldt, D. Burdorf (Hgg.), Hölderlin entdecken. Lesarten 1826–1993, Tübingen 1993, S. 57–114.

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rhythmen“, sprich das Verhältnis zwischen den Sprachelementen auf lexikalischer („rhythmus der worte“) und klanglich-musikalischer Ebene („des melos / der laute“),22 im dichterischen Text organisiert bzw. behandelt werden. Zentral erscheint in Hellingraths Erörterung, die ja auf die Sprache von Hölderlins Pindarübertragungen zielt, die Ebene des Wortes, da die in diesen Texten virulente „harte fügung“, wie er zweimal auf unterschiedliche Weise betont, rhythmisch isolierend auf das einzelne Wort wirkt: „in harter fügung [ist] möglichst das einzelne wort selbst taktische einheit“ oder anders nuanciert: „harte fügung dagegen tut alles das wort selbst zu betonen.“23 Selbstverständlich bleibt solche Zentriertheit auf das einzelne Wort keineswegs ohne Folgen für die syntaktische und prosodische Ebene. Der durch „harte fügung“ erzeugte Rhythmus, ein anti-melodischer und somit antiromantischer Rhythmus, betrifft die dichterische Sprache gänzlich, qua „organische Einheit“, und wirkt totalisierend: „In Hölderlins übertragungen aber ist wortwahl satzbau melos rhythmisches im engeren sinn.“24 Hellingraths Überlegungen zum Wort als Takteinheit und zu dem durch solche Gewichtung des einzelnen lexikalischen Elements erzeugten Rhythmus gelten auch für weitere Texte Hölderlins. Dies zeigt u. a. Hellingraths Fußnote, die gerade in Sachen Wortrhythmus auf Diltheys Erlebnis-Aufsatz verweist.25 Die dort angeführte Passage stammt aus Diltheys Charakteristik von „Hölderlins lyrische[r] Kunst“ und stellt nicht nur den Beweis dar für den kaum spektakulären Fund, dass Hellingrath Diltheys wenige Jahre zuvor erschienenen Aufsatz gelesen und in die eigene Arbeit bekräftigend eingearbeitet hat. Der Umstand erhellt auch die ganze Ambivalenz des Verhältnisses zwischen den zwei Schlüsselfiguren der HölderlinRezeption um 1910. Hellingrath erweitert einerseits Diltheys diffuse Überlegungen zum Rhythmus der Sprache bei Hölderlin auf Texte, die der Ältere überhaupt nicht kannte und sowieso (wie die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen) in die WahnsinnsZeit (und dies nicht nur chronologisch) gebannt hätte. Hellingrath korrigiert damit implizit Diltheys Interpretationsgestus, der Kategorien des späten Hölderlins stillschweigend – und auf nicht erwähnte Quellen aus dem 19. Jahrhundert zurückgreifend – auf das mittlere Schaffen appliziert hatte. Der jüngere Philologe kann sich dies nicht zuletzt deswegen leisten, weil er wie viele seiner Generation das lange währende Wahnsinn-Vorurteil über Hölderlins spätes Schaffen hinter sich gelassen hat – dies seinerseits ist, wie einschlägige Studien gezeigt haben, Ergebnis eines Paradigmenwechsels, zu dem auch Dilthey beigetragen hatte.26 22

23 24 25 26

N. v. Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911, S. 1. Dieses und folgende Zitate stammen bei Beibehaltung der eigentümlichen Orthographie aus dem ersten Abschnitt der Dissertation, betitelt „Kunstcharakter der Hölderlinischen übertragungen und ihre stellung in der geschichte der Pindarverdeutschung“, S 1–25. N. v. Hellingrath (1991), S. 2, 5. Ebd. S. 21. Ebd. S. 5. Vgl. G. Martens (1983) sowie H. Bothe (1991). Eine auf Hyperion zentrierte, umfassende Relektüre der kritischen Rezeptionsgeschichte Hölderlins bietet mein Buch: M. Castellari, Friedrich Hölderlin. „Hyperion“ nello specchio della critica, Milano 2002; zur genannten Zeit vgl. vor allem S. 128–179.

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Andererseits schränkt Hellingrath Diltheys Rhythmus-Begrifflichkeiten ein, indem er sich auf sprachlich-musikalische Fragen beschränkt. Darin, so könnte man diese Überlegungen weiterspinnen, bleibt der Hölderlin-Herausgeber (zumindest im Kontext seiner Studien zu Hölderlin als Übersetzer) dem Rhythmus-Begriff, den der schwäbische Dichter 1804 in den Sophokles-Anmerkungen anvisiert hatte, etwas näher als es bei Dilthey der Fall war. Außerdem arbeitet Hellingrath bei der Analyse von Hölderlins Pindarübertragungen eine Rhythmus- und Sprachauffassung heraus, mit der er bisher verkannte oder unbekannte Gedichte Hölderlins wenige Jahre später an die literarische Öffentlichkeit bringen kann – als Kunde von einem neuen lyrischen Rhythmus, dem Hölderlin-Ton der Moderne. Von Stefan George, bei dem Hölderlin „durch aufbrechung und zusammenballung […] der verjünger der sprache und damit der verjünger der seele … mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes“ ist,27 bis zu Gottfried Benn, der [Nietzsches und] Hölderlins „bruchstückartige Lyrik“ als „rein expressionistisch“ bezeichnete und insbesondere die „Beladung des Worts, weniger Worte, mit einer ungeheuren Ansammlung schöpferischer Spannung, eigentlich mehr ein Ergreifen von Worten aus Spannung“ hervorhob,28 um nur zwei Beispiele zu nennen, sollte der von Hellingrath wieder zutage geförderte späte Hölderlin den Takt der modernen Lyrik angeben. Ein ganz besonderer Zeuge jener „Gegenwärtigkeit Hölderlins“ war der junge Hans-Georg Gadamer, der Jahre danach als betagte Autorität vor den versammelten Mitgliedern der Hölderlin-Gesellschaft die Ursachen „von dieser Präsenz Hölderlins, des […] von der Sprache Geküßten“ rückblickend zu ergründen versuchen sollte.29 „Was ist es“, fragt er sich noch 1982, das ihn für die ganze deutsche, die ganze französische, englische, amerikanische und darüber hinaus italienische und spanische Sprachwelt auszeichnet – und ich weiß nicht, wie weit das jenseits der Sprachen reicht, die ich selber zu lesen vermag –, daß überall und wie überall Hölderlin als ein Dichter unseres Jahrhunderts erscheinen kann?30

Die Antwort hat mit einem „Geheimnis des Wortes“ zu tun, „was wir das Leiden am Suchen des Ausdrucks nennen könnten“, mit dem rhythmischen Wechsel von stammelndem Verlangen nach Worten und verzweifeltem Abbrechen der Suche angesichts „der Unfähigkeit, der Unmöglichkeit, das zu sagen, was zu sagen ihm

27 28 29

30

S. George, „Hölderlin“, Blätter für die Kunst 11–12 (1919), S. 11–13, zitiert aus: S. George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1998, Bd. 17, S. 58–60, hier S. 60. Zu George und dem Rhythmus vgl. Maurizio Pirros Beitrag in diesem Band. G. Benn, „Bekenntnis zum Expressionismus“, Deutsche Zukunft 5.11.1933, S.15–17, zitiert aus G. Benn, Gesammelte Werke, hrsg. von D. Wellershof, Wiesbaden 1959, Bd. 1, S. 240–256, hier S. 244. H.-G. Gadamer, „Die Gegenwärtigkeit Hölderlins“, Hölderlin-Jahrbuch 23 (1982/83), S. 178– 181. Gadamers Bild des von der Sprache Geküssten wandelt übrigens Bettina Brentanos berühmte Worte über den späten Hölderlin in der Günderode um: „So wahr! Er muß die Sprache geküßt haben.“ Ebd. S. 179.

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vorschwebte.“31 In Gadamers unheroischer Rekonstruktion trifft Hölderlins Rhythmus als Musik des Stammelns und Verstummens den Nerv der Moderne – der Vergleich bezieht sich auf zeitgenössische künstlerische Versuche („suchend, gepreßt, gesteigert, deformierend und doch immer wieder ganz besessen von dem eigenen Ausdrucksverlangen“), die ein George wohlgemerkt verworfen hätte. Die „universale Gegenwart“ des Dichters wird als eine zugleich generationsbedingte und epochale Erscheinung verstanden.32 „So mag es wohl damit zusammenhängen“, fährt Gadamer fort mit den Worten, die meine Überlegungen abschließen sollen, daß wir, lange bevor durch eine politische Instrumentalisierung dieser Hölderlinpflege die Dinge ins Zwielicht kamen, alle Hölderlin lasen, über Hölderlin nachdachten wie über einen, der über die Zeitenferne unserer klassischer Dichter weit hinaus zu uns selber gehörte. Sie wissen, daß es für Trakl, Rilke, für Gottfried Benn, für alle Kommenden – ich wage nicht, die jüngeren Namen überhaupt zu nennen – eine Selbstverständlichkeit war, dieser Dichtweise zuzuhören, dieser Weise eines Dichters, die keine Weise mehr ist, die keinen sozusagen ererbten und weiterentwickelten Ton aussang, sondern ihr eigenes gepreßtes Unvermögen mit immer neuen Visionen ins Wort zu bannen versuchte.33

31 32 33

Ebd. Ebd. Ebd. S. 180.

„RITMI FUTURISTI“: ZUM TRANSMEDIALEN KONZEPT DES RHYTHMUS IM ITALIENISCHEN FUTURISMUS* Giovanna Cordibella

Um 1900 erfährt das Konzept des Rhythmus eine Konjunktur. Dabei ist eine Vervielfältigung seines Bedeutungsspektrums sowie der Kontexte seiner Verwendung zu bemerken.1 Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf einem dieser Segmente, nämlich auf der Funktion, die das Konzept des Rhythmus im italienischen Futurismus hat. Einerseits geht es dabei um Programmschriften und Manifeste, also gewissermaßen um die explizite Poetologie des Futurismus; andererseits wird die Funktionalisierung des Rhythmus in den verschiedenen Künsten und Medien der italienischen Avantgarde in ihrer gesamten diachronischen Entwicklung in den Blick genommen, von der Gründung im Jahr 1909 bis zur Mitte der vierziger Jahre. Wenn der Rhythmus als Gegenstand einer interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Forschung behandelt wird, ist der italienische Futurismus sicherlich ein zentrales Beispiel für die Produktivität dieses Untersuchungsansatzes. Bekanntlich umfasst das avantgardistische Programm des Futurismus ein vielfältiges Spektrum von Künsten und medialen Formen – eine Tatsache, die auch deutlich wird, wenn man die Aktivitäten der Akteure des Futurismus verfolgt, die oft auf ganz verschiedenen Feldern medialer und künstlerischer Produktion tätig waren. In der ästhetischen Reflexion des Futurismus, die alle Künste betraf – Literatur, Theater, Malerei, Plastik, Architektur und Musik, sowie auch Fotografie, Tanz und Kino – erweist sich der Rhythmus als wiederkehrend zentrales, obwohl oft begrifflich unscharfes Konzept. Ein interdisziplinärer und intermedialer Ansatz ist für seine Erforschung also zwingend erforderlich. Dabei sind vorweg einige Präzisierungen zum Problem der Transmedialität des Rhythmus im italienischen Futurismus erforderlich (I.). Sodann werden die Spielarten und Formationen dieses transmedialen Rhythmus-Konzepts an einigen exemplarischen Beispielen und Fällen vorgestellt. *

1

Ich möchte an dieser Stelle Dr. Carla Gubert, Leiterin des Projekts CIRCE: Catalogo Informatico Riviste Culturali Europee, für die Möglichkeit danken, die drei Bilder aus Zeitschriften des Futurismus, die Online auf der Homepage von CIRCE (http://circe.lett.unitn.it) einsehbar sind, hier als Abbildungen zu veröffentlichen. Einen Versuch, diesen Bedeutungskomplex für das disziplinäre Feld der Kunstgeschichte um 1900 zu definieren, hat Georg Vasold unternommen; vgl. G. Vasold: „Optique ou haptique: le rhythme dans les études sur l’art au début du 20e siècle“, in: M. Cowan, L. Guido (Hgg.), Rhythmer, Montréal 2010 (Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 16), S. 35–55. Für musikgeschichtliche Kontexte vgl. H.-J. Hinrichsen, „Musikalische Rhythmustheorien um 1900“, in: B. Naumann (Hrsg.), Rhythmus: Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 141–156.

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Es geht also um einen ersten Versuch, das Feld der sehr vielseitigen und umfangreichen Diskurse um den Rhythmus und vor allem die künstlerischen Praktiken seiner Realisierung im italienischen Futurismus in einigen Bereichen ein Stück weit zu kartographieren. Dabei werden hier verschiedene Künste und Medien behandelt. Das Hauptaugenmerk gilt der Literatur, besonders der Lyrik und den sogenannten parole in libertà (II.), dem Theater und dem Hörspiel (IV.). Nur ansatzweise werden Malerei (III.) und Musik behandelt (I., II.). I. TRANSMEDIALITÄT DES RHYTHMUS IM ITALIENISCHEN FUTURISMUS UND KONTEXTUALISIERUNG DES FUTURISTISCHEN RHYTHMUS-KONZEPTS Der Rhythmus im italienischen Futurismus ist nur als transmediales Konzept zu verstehen. Der Begriff Transmedialität wird sowohl in kunst- als auch in kommunikationstheoretischen Diskursen verwendet, und zur Kennzeichnung – so Irina Rajewski – „medienunspezifischer Phänomene“ benützt, „die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums“2 eine entscheidende Rolle spielt. Einerseits ist der Rhythmus ein Leitbegriff in den verschiedenen Künsten des Futurismus. Andererseits gibt es keinen medialen und künstlerischen Bereich, in dem man eine grundlegende Definition des RhythmusKonzepts finden kann, die auch auf andere mediale Zusammenhänge übertragen werden könnte. Um die zentrale Position des Rhythmus im ästhetischen Selbstverständnis der italienischen Futuristen zu untersuchen, bedarf es einer Erweiterung der Perspektive. Das Konzept ist in engem Zusammenhang zu sehen mit der „industriellen Zivilisationsdynamik, die das tradierte Wahrnehmungspotenzial […] zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig umzugestalten begann.“3 Es genügt, Marinettis Manifesto del Futurismo aus dem Jahr 1909 sowie einige spätere Programmschriften und Manifeste zu lesen, wie z. B. Arte meccanica (Die mechanische Kunst) von Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi und Vinicio Paladini oder die zentrale Schrift Arte dei rumori (Geräuschkunst) vom Maler und Komponist Luigi Russolo. Man kann dabei feststellen, dass das Konzept Rhythmus aufgrund einer Art Diagnose bestimmter Charakteristika der als radikal verstandenen technischen, mechanischen und industriellen Modernisierung und ihrer Auswirkungen auf die Erfahrbarkeit und Wahrnehmung des kollektiven und individuellen Lebens eine zentrale Position gewinnt und in spezifischer Weise profiliert wird. So können im Jahr 1923 die Autoren des Arte meccanica die Maschine, mit „ihre[n] Kräfte[n]“ und „ihre[m] Rhythmus“ als „Inspirationsquelle“ auch für die bildende Kunst reklamieren und ihre Funktion so pointieren: La Macchina imprime oggi il ritmo della grande anima collettiva e dei vari individui creatori.

2 3

I. O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen / Basel 2002, S. 13. H. Schmidt-Bergmann, Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Hamburg 1993, S. 14.

Zum transmedialen Konzept des Rhythmus im italienischen Futurismus*

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La Macchina scande il Canto del Genio. La Macchina è la nuova divinità che illumina, domina, distribuisce i suoi doni e punisce in questo nostro tempo futurista, cioè devoto alla grande Religione del Nuovo.4

Sieben Jahre zuvor hatte Luigi Russolo, einer der prominentesten futuristischen Komponisten, in der Buchfassung des ursprünglich im Jahr 1913 erschienenen Manifests Arte dei rumori (Geräuschkunst) eine differenziertere Darstellung der Veränderungen des sensorischen Regimes der technisch-zivilisatorischen Moderne durchgeführt. Nach Wolfgang Reinhard handelt es sich dabei um einen Vorgang, bei dem Veränderungen im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung auch auf der Ebene der Anthropologie sichtbar werden und ein „neues Regime der Sinne“5 hervorbringen. In Russolos Schrift wird die Großstadt als Raum identifiziert, in dem eine neue akustische Dimension zu erkennen ist, bei der die Dominanz der Geräusche des modernen Lebens entscheidend ist. Deren integraler Bestandteil ist eine neue Rhythmik. La strada è una miniera infinita di rumori: gli andamenti ritmici dei vari trotti o passi dei cavalli, rispettivamente alle scale enamorniche dei tram e quelle degli automobili, le riprese violente dei motori di questi ultimi, quando altri motori hanno invece già raggiunto un tono acuto di velocità; i traballamenti ritmici di una vettura o di un carro dalle ruote cerchiate di ferro, contrapposti agli scivolamenti quasi liquidi dei pneumatici delle automobili […]6

An einem anderen Punkt bezieht sich Russolo, wie die Autoren des bereits zitierten Manifests Arte meccanica, gezielt auf die Maschine und bemerkt: „Kein Musiker kann den unermesslichen rhythmischen Reichtum einer Maschine erreichen.“7 Gerade in den typischen Geräuschen der Moderne erkennt Russolo eine „harmonische und rhythmische Komplexität“,8 die als Basis einer futuristischen Musikästhetik 4

5

6

7 8

E. Prampolini, I. Pannaggi, V. Paladini, „Arte meccanica: Manifesto futurista“, Noi 2 (1923) S. 1–2, hier zitiert aus E. Crispolti (Hrsg.), Prampolini: Dal Futurismo all’informale, Roma 1992, S. 203–204 („Die Maschine bestimmt heute den Rhythmus der großen Kollektivseele und der verschiedenen schöpferischen Einzelpersönlichkeiten. Die Maschine gibt den Takt für den Gesang des Genies an. Die Maschine ist die neue, erleuchtende, Gaben spendende und strafende Gottheit unserer Zeit, die futuristisch d. h. der neuen großen Religion des Neuen ergeben ist.“ E. Prampolini, I. Pannaggi, V. Paladini, „Die mechanische Kunst“, übers. von C. Baumgarth in: W. Asholt, W. Fähnders (Hgg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart / Weimar 1995, S. 291–292). W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2006, S. 100. Vgl. auch D. Morat, „Die Stadt und die Sinne. Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf Urbanisierung und Großstadterfahrung“, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2012), S. 23–28. L. Russolo, L’Arte dei rumori (1916), Roma 2009, S. 38 („Die Straße ist eine wahre Fundgrube an Geräuschen: die rhythmische Gangart der Pferde im Vergleich zu den enharmonischen Skalen der Straßenbahnen und Automobile, die starke Beschleunigung der Motoren, konfrontiert mit anderen Motoren, die bereits eine hohe Geschwindigkeit aufweisen; das rhythmische Wanken eines Waggons oder eines Wagens mit eisernen Rädern im Gegensatz zum flüssigen Gleiten der Autoreifen…“ Ders., Die Kunst der Geräusche, hrsg. von J. Ullmaier, Mainz 2000, S. 33). Ebd., S. 40 (Originaltext: „Nessun musicista ha la ricchezza ritmica sconfinata che hanno le macchine.“) Ebd., S. 67.

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dienen soll. Diesem Programm folgen bekanntlich Erfindung, Planung und Konstruktion von verschieden Geräuschintonatoren und später eines Rumorharmoniums – eines Instruments, das von Anfang an für die europaweite Verbreitung vorgesehen ist und das im Jahr 1921 in Deutschland, Frankreich und Italien patentiert wird.9 Die musikalischen Schriften Russolos müssen, wie auch die ästhetischen Schriften der anderen Futuristen, also in Beziehung mit jenem Prozess gesehen werden, der als „Technisierung des Auditiven“10 bezeichnet wurde und der sich u. a. im Maschinenlärm und im Großstadtverkehr der modernen Gesellschaften um 1900 manifestiert. Wenn man nicht nur die Musik, sondern auch die bildende Kunst in Betracht zieht, muss man auch die innovativen Aspekte berücksichtigen, die die visuelle Kultur der Moderne betreffen. Dabei ist vor allem an die kinematographische und an die rhythmische Zerlegung des Bildes zu denken, technisch ermöglicht durch die zeitgenössischen Bildmedien. Wie schon in einigen Untersuchungen betont wurde11 (und unten weiter ausgeführt wird), wurden die Experimente Étienne-Jules Mareys und anderer Zeitgenossen auf dem Feld der Chronophotographie von Malern und Fotografen des italienischen Futurismus produktiv rezipiert. Eben in Bezug auf solche anthropologisch fundierten Modifikationen und entscheidende Innovationen im medialen System muss man die Relevanz des Konzepts Rhythmus in den futuristischen Texten verorten. Wichtigster Ausgangspunkt des Futurismus für die Entwicklung eines Programms der ästhetischen Avantgarde ist also die Diagnose des Modernisierungsprozesses und der zeitgenössischen technologischen Zivilisation. Dabei wird gefordert, dass der diagnostizierten Veränderung der räumlichen, zeitlichen und sensorischen Wahrnehmung – so Marinetti und seine Anhänger – eine innovative moderne Ästhetik entsprechen müsse, die von einer radikalen Zäsur in Bezug auf jede traditionelle künstlerische Form begleitet sein muss. Jede Kunst des Futurismus entwickelt im Rahmen ihrer spezifischen medialen Möglichkeiten Techniken, den Rhythmus zu repräsentieren und/oder zu funktionalisieren. Von hier aus wird die Vorstellung der Transmedialität des Rhythmus umso nachvollziehbarer. Allerdings gibt es auch Überschneidungen und Berührungspunkte: Denn auf der Grundlage des allgemeinen und transmedialen RhythmusKonzepts versuchen die Exponenten des Futurismus sehr wohl, dieses an einzelne Medien und Künste zurückzubinden. Das geschieht, indem analoge Gestaltungsprinzipien gesucht werden, die für die Funktionalisierung der neu identifizierten modernen Rhythmen anschlussfähig sind. Im nächsten Abschnitt wird auf ein sehr konkretes Beispiel eingegangen, das erlaubt, offensichtliche Überschneidungen zwischen der Verwendung eines neuen Rhythmus-Begriffs – der des „freien“ 9 10 11

Vgl. G. Bellorini, „Nuovi studi su Luigi Russolo musicista“, in: G. Bellorini, A. Gasparotto, F. Tagliapietra (Hgg.), Luigi Russolo: la musica, la pittura, il pensiero. Nuove ricerche sugli scritti, Firenze 2011, S. 5–18, bes. S. 6. H. Knoch, „Die Aura des Empfangs: Modernität und Medialität der Weimarer Republik“, in: H. Knoch, D. Morat, (Hgg.), Kommunikation als Beobachtung: Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003, S. 133. Vgl. G. Lista, „La fotografia come modello iconografico“, in: Ders., Futurismo e fotografia, Milano 1979, S. 11–42.

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Rhythmus – in der Poetik der futuristischen Literatur und der futuristischen Musik zu verdeutlichen. II. FUTURISTISCHE LYRIK UND PAROLE IN LIBERTÀ Im bunten System der Künste des italienischen Futurismus nimmt die Literatur, besonders die Lyrik, eine Stellung ersten Ranges ein. Man muss vor allem daran erinnern, dass der Gründer der Avantgarde-Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti, noch bevor er mit dem Manifest aus dem Jahr 1909 die Grundlagen des ästhetischen Programms des Futurismus legte, als Dichter und als Publizist in italienischen und in französischen Literaturzeitschriften aktiv war. Noch wichtiger ist es, dass eines der ersten „technischen Manifeste“, also einer der ersten poetologischen und programmatischen Texte einer futuristischen Kunst, in allererster Linie das Manifest der futuristischen Literatur war. Der Text erschien erstmals 1912 als Einleitung zur Anthologie Poeti futuristi12 und leitet mit seinen programmatischen Hinweisen bereits eine neue Phase der literarischen Versuche des Futurismus ein, mit der die Autoren, die in der Anthologie aus dem Jahr 1912 enthalten sind, sich noch nicht auseinandersetzten. Wenn tatsächlich Marinettis Manifesto tecnico della letteratura futurista als wichtigstes Verfahren futuristischer Innovation die Technik der „parole in libertà“13 („befreiten Worte“) benennt, dann betraf andererseits bei den futuristischen Dichtern, die um 1912 aktiv waren, das formale Experiment hauptsächlich die metrische und rhythmische Ordnung des Verses: Der wichtigste Bereich der Suche nach formaler Erneuerung war für sie tatsächlich der des freien Verses, und einer der ersten Verfechter des freien Verses in Italien war eben Marinetti. Im Jahr 1912 lässt sich also eine Art Trennscheide zwischen den poetologischen Reflexionen des literarischen Futurismus und der Praxis futuristischer Literatur festhalten. Für eine Untersuchung der Innovationen im Zusammenhang mit dem Rhythmus-Konzept angesichts dieser literarischen Experimente sind also beide Phasen relevant, sowohl die erste vor 1912, als auch die darauffolgende, die vorwiegend im Zeichen des sogenannten paroliberismo steht. Zur ersten Phase: Schon vor der Gründung des Futurismus 1909, aber auch in den unmittelbar darauffolgenden Jahren, hat Marinetti öffentlich die Notwendigkeit des Einsatzes des freien Verses in der Lyrik gefordert. Ein zentraler Text in Bezug auf dieses programmatische Engagement ist die Prefazione futurista (Futuristisches Vorwort), die Marinetti 1909 für die lyrische Sammlung Revolverate von Gian Pietro Lucini schreibt. Hier charakterisiert Marinetti den freien Vers als „ca12

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Vgl. F. T. Marinetti, „Manifesto tecnico della letteratura futurista“, erschienen als Vorwort in: I poeti futuristi, Milano 1912, nun in: Ders., Teoria e invenzione futurista, hrsg. von L. De Maria, Milano 1968, S. 40–48. Siehe auch Ders., „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“, übers. von C. Baumgarth: W. Asholt, W. Fähnders (Hgg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), S. 24–27. F. T. Marinetti (1968), S. 47.

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none di ogni rivoluzione estetica per il futuro“,14 also als „Maßstab für jede ästhetische Revolution der Zukunft“ und fügt einige Bemerkungen hinzu, in denen die Idee eines neuen poetischen Rhythmus wie folgt formuliert wird: In Italia, nel paese di tutte le tirannidi intellettuali e morali, è sacro dovere combattere sempre e dovunque con l’arma della Poesia: di una Poesia libera, emancipata da tutti i vincoli tradizionali, ritmata alla sinfonia dei comizi, delle officine, degli aeroplani volanti.15

Auch in dieser Schrift findet sich also die Analogie zwischen dem Rhythmus, der artistisch reproduziert werden soll – in diesem Fall durch die Aufnahme des metrischen Verfahrens des freien Verses – und konkreten Manifestationen der bereits zitierten Technisierung des Auditiven, die die moderne Gesellschaft charakterisiert. In der Praxis markiert der Einsatz des freien Verses, der in diesen Jahren von italienischen Futuristen vollzogen wird, den endgültigen Abschied von den kanonischen Formen der metrischen Tradition und bezeichnet zugleich ein intensives Experimentieren in Rhythmus und Prosodie. Als Beispiel für diese Lyrik in freien Versen soll hier ein Auszug aus dem Canto dei prigionieri (Die Gefangene) von Paolo Buzzi dienen, ein Text, der auf das Jahr 1910 zurückgeht: Dai manicomi Noi siam gli astrali, i santi, i demoniaci: Siam le meteore vertiginose chiuse dell’atomo umano: ripetiamo, fra noi, le scosse degl’universi fuori dell’orbite, propaghiamo, fra noi, la specie dei cataclismi empireali! Venite fra noi, uomini, che vi sbraneremo!16

Dieses Gedicht wird 1912 als exemplarischer Text im Manifest der futuristischen Musik vorgestellt, in Francesco Balilla Pratellas La distruzione della quadratura (Die Zerstörung der Quadratur).17 In dieser programmatischen Schrift unternimmt Pratella den Versuch, das lyrikspezifische Konzept des freien Verses, dessen Charakteristika die Ungebundenheit und Variabilität rhythmischer Modelle sind, als Vorbild und Orientierungsmuster für die Begründung einer futuristischen Musikästhetik zu reklamieren. Ausgangspunkt von Pratellas Überlegungen ist der Anspruch, sich von der Tradition einer „bürgerlichen Musik“ zu emanzipieren. Er stellt sich dabei in einen Argumentationszusammenhang mit Wagners kunsttheoretischen 14 15

16

17

F. T. Marinetti, „Prefazione futurista a Revolverate di Gian Pietro Lucini“ (1909), in: Ders. (1968), S. 24–30, hier S. 26. Ebd., S. 25 („In Italien, dem Land aller intellektuellen und moralischen Tyranneien, ist es heilige Pflicht, immer und überall mit der Waffe der Poesie zu kämpfen: einer freien Poesie, emanzipiert von allen Fesseln der Tradition, rhythmisiert nach der Sinfonie der Versammlungen, der Werkstätten, der fliegenden Aeroplane.“ Meine Übersetzung. P. Buzzi, Il canto die reclusi, I (1910), in: G. Viazzi (Hrsg.), I poeti del Futurismo: 1909–1944, Milano 1978, S. 117 („Aus den Irrenhäusern / Wir sind die Sternengleichen, Heilige und Dämonen; / Wir sind gefangene, schwindelnde Meteore im Menschenatom; / In uns erleben erneut aus den Bahnen geschleuderte Welten, / in uns bereitet sich vor das Geschlecht des Weltuntergangs! / Kommt her zu uns, Menschen, wir wollen euch zerfleischen! […]“), übers. von C. Baumgarth, in Ders., Geschichte des Futurismus, Hamburg 1966, S. 267. Vgl. F. Balilla Pratella, „La distruzione della quadratura“ (1912), in: L. Scrivo, Sintesi del Futurismo: Storia e documenti, Roma 1968, S. 58–61.

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Schriften, in denen die Fixierung bestimmter rhythmischer Schemata im Lauf der Musikgeschichte mit dem Begriff der Quadratur gefasst wird,18 den Pratella programmatisch im Titel seines Manifests anführt. Seine Schrift proklamiert die Zerstörung der Quadratur. Sie soll erfolgen durch eine Revolutionierung des tonalen Systems sowie von Rhythmus und Takt, die vor allem in der Orientierung an freien Rhythmen und an der Taktierung der metrischen Formationen futuristischer Lyrik gesucht wird. In Pratellas „rhythmische[r] Analyse“ der oben zitierten Verse Buzzis werden besonders die alternierenden „binären“ und „ternären“ rhythmischen Strukturen hervorgehoben, was zu einem „gemischten Rhythmus“ und zu einer „vollkommen neuen rhythmischen Freiheit“ führt, ohne irgendeine Symmetrie zwischen den einzelnen Versen.19 Damit kommen wir zur erwähnten zweiten Phase: Im selben Jahr, in dem Pratellas Manifest erscheint, also 1912, kündigt Marinetti dennoch in seinem Manifesto tecnico della letteratura futurista eine entscheidende Überwindung des freien Verses und eine Orientierung der futuristischen Literatur an neuen Verfahrensweisen an. „Nach dem freien Vers, nun endlich DIE BEFREITEN WORTE!“20 So lautet der programmatische Imperativ Marinettis. Mit seinen „befreiten Worten“ setzte er nicht nur die Syntax und die Zeichensetzung außer Kraft; mit Buchstaben und Worten in unterschiedlicher Größe, unterschiedlichen Schriften und in unterschiedlicher Ausrichtung verwischt er die Grenzen zur Grafik. Das Experimentieren mit neuen Rhythmen hat nicht mehr mit der metrischen Struktur des Textes zu tun, die in den befreiten Worten nicht mehr präsent ist, betrifft aber in einigen Fällen die semantisch-thematische Dimension des Textes. Am wichtigsten ist aber die Ebene der Performanz. Als Beispiel für eine Verwendung des Rhythmus als Motiv auch auf Textebene kann man den Ritmospirale: Parole in libertà (Abb. 1) von Bruno Corra anführen.21 Der Rhythmus ist nicht nur im Titel präsent, sondern taucht auch in der rhythmisch und phonetisch assoziativ organisierten Aneinanderreihung der „freien Worte“ auf. Auffällig ist besonders der Anfang des Textes („RITMOSPIRALE CREPUSCOLO MIOSTUDIO RONDINATE ATTACCAPANNI […]“), der im Eingangsbild auf einen spiralförmigen Rhythmus anspielt, um dann kursorisch auf einen häuslichen Innenraum zur Zeit der Dämmerung sowie auf die wiederum Rhythmus-affinen Bewegungen der Schwalben zu verweisen. Am Ende, wie Corra in der in Klammer 18

19

20 21

Vgl. D. Kämper, „‚La distruzione della quadratura‘: Richard Wagners Kunstschriften und die Musikästhetik des Futurismus“, in: Ders. (Hrsg.), Der musikalische Futurismus, Laaber 1999, S. 81–93. Siehe auch E. Schmitz-Gundlach, Musikästhetische Konzepte des italienischen Futurismus und ihre Rezeption durch Komponisten des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 42–49. Vgl. F. Balilla Pratella (1912), in: L. Scrivo (1968), S. 60 (Originaltext: „[…] voglio dimostrare per mezzo dell’analisi ritmica di alcuni versi liberi del poeta Paolo Buzzi, come nei suddetti versi l’alternarsi dei ritmi binario e ternario e la formazione dei ritmi misti siano di una libertà ritmica assolutamente nuova e come fra verso e verso non esista alcun legame di simmetria.“) Siehe dazu auch das detaillierte rhythmische Schema der Verse Buzzis, das auf derselben Seite dem zitierten Abschnitt vorangeht. F. T. Marinetti (1912), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hgg.) (1995), S. 27 („Dopo il verso libero, ecco finalmente LE PAROLE IN LIBERTÀ!“ Vgl. F. T. Marinetti (1968), S. 47). B. Corra, „Ritmospirale: Parole in libertà“, in Vela latina 51 (1915), S. 23.

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Abbildung 1: Bruno Corra, Ritmospirale: Parole in libertà (1915)

gesetzten Schlussbemerkung hinzufügt, wird das Prinzip der Spirale wieder aufgenommen, um eine vom Autor unabhängige, gleichsam vitalistische Selbstproduktion des Textes in einer Reihe von Kommata, die sich spiralförmig ordnen, zu imaginieren. Was die Ebene der Performanz angeht, muss man daran erinnern, dass Marinetti und seine Anhänger von Anfang an futuristische Abende organisieren, bei denen Lesungen von Texten, Theatervorstellungen und Vorträge stattfinden. 1916 publiziert Marinetti das Manifest La declamazione dinamica e sinottica (Die dynamische und synoptische Deklamation), in dem er die Prinzipien einer futuristischen Deklamation definiert. Zumindest ein Punkt in diesem Manifest verdient hier Aufmerksamkeit: die Passage, in der Marinetti präzisiert, dass der futuristische Deklamator „im Ganzen und für das Ganze die Motoren und ihre Rhythmen“ imitieren

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müsse, „ohne sich dabei um die Verständlichkeit zu kümmern.“22 Besonders müsse er sich bei der Deklamation um diejenigen Stellen kümmern, in denen onomatopoetische Ketten präsent sind. Der performative Aspekt und die damit verbundene programmatische Reflexion über den Rhythmus der Deklamation haben also in der futuristischen Literatur besondere Relevanz. Auch in diesem Fall handelt es sich um Aspekte des ästhetischen Programms des Futurismus, die mit der Reflexion auditiver Phänomene in der Moderne zusammenhängen, wobei hier eindeutig eine mimetische Intention zu beobachten ist. Ein Beispiel für eine solche deklamatorische Performanz Marinettis ist die Lesung seines Werks Zang tumb tuuum: Parole in libertà; die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1924. Im Text wird die Belagerung der Stadt Adrianopolis während des bulgarisch-türkischen Kriegs thematisiert, an der Marinetti als Reporter teilgenommen hatte.23 Die Aufnahme dokumentiert, dass Marinetti nicht nur in programmatischen Manifesten, sondern auch in der performativen Praxis die Rhythmen und maschinellen Geräusche des Kriegs mimetisch wiederzugeben versuchte. Bislang wurden Aspekte angesprochen, die für die Untersuchung der Diskurse um den Rhythmus und vor allem der Praktiken seiner Realisierung in der futuristischen Literatur zentral sind: Die Verwendung des freien Verses, der Rhythmus als Motiv und seine Funktion bei der performativen Darbietung futuristischer Literatur. An diesem Punkt sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Rhythmus ein so zentraler Begriff für die futuristischen Dichter wird, dass er auch als Werkbezeichnung eingesetzt wird. Das ist zum Beispiel der Fall beim Band Ritmi futuristi24 von Salvo Sassi, der 1933 erschien. Es ist eine heute sehr seltene Lyriksammlung eines weniger bedeutenden Autors des italienischen Futurismus, an der sich sehr gut zeigen lässt, wie der Terminus Rhythmus die Begriffe „Versi“ oder „Poesie“ ersetzt, die in Italien gewöhnlich für die Titel von Lyriksammlungen gebräuchlich sind. Ein einflussreicher Vorläufer dieser Tendenz ist der Dichter Giosuè Carducci, dessen erklärter Verehrer Marinetti war. Carducci hatte 1899 den Band Rime e ritmi publiziert.25 Die zwei Substantive im Titel reflektieren eine interne Zweiteilung des Buches: Einerseits Gedichte in kanonischen metrischen Formen („rime“), andererseits Text in sogenannten „metri barbari“ („ritmi“), die in erster Linie durch die experimentelle Adaption antiker, also griechischer und lateinischer Metren charakterisiert sind. Vor allem handelt es sich für Carducci bei den „metri barbari“ (also den „ritmi“), um das Experimentieren mit neuen, reimlosen Vers-patterns von großer Variationsbreite, um den Beginn – wie Gianfranco Contini betont hat – einer „metrischen Freiheit“,26 die die italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts überhaupt erst 22 23 24 25 26

F. T. Marinetti, „La declamazione dinamica e sinottica“ (1916), in: Ders. (1968), S. 104–110, hier S. 108 (Originaltext: „[…] Imitando in tutto e per tutto i motori e i loro ritmi (senza preoccuparsi della comprensione) […]“). Vgl. F. T. Marinetti, „La battaglia di Adrianopoli“ (1924), in: Musica futurista: The art of Noises. Music and Words from the Italian Futurist Movement 1909–1935 including original Recordings by Marinetti / Russolo / Pratella, CD Audio, Lt (CMS) 2007. Vgl. S. Sassi, Ritmi futuristi, Napoli 1933. Vgl. G. Carducci, Rime e ritmi, Bologna 1899. G. Contini, „Innovazioni metriche italiane tra Otto e Novecento“, in: Ders., Varianti e altra

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ermöglicht und grundsätzlich charakterisiert hat. Man muss also diesen wichtigen Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert berücksichtigen, um die Funktionalisierung des Begriffs Rhythmus in den Titeln der lyrischen Werke des darauffolgenden Jahrhunderts zu verstehen. Im Fall der Lyriksammlung von Sassi handelt es sich tatsächlich um Gedichte in freien Versen. Zu den formalen Charakteristika dieser Art von Versen gehört die Möglichkeit verschiedener freier rhythmischer Variationen, die für Futuristen äußerst attraktiv sind – für Sassi jedenfalls so attraktiv, dass er den Titel Ritmi futuristi wählt. III. EXKURS: MALEREI Wie in der Literatur taucht der Begriff Rhythmus auch in der futuristischen Malerei häufig als Werkbezeichnung auf. Man kann dabei an Werke wie Ritmi di oggetti (1911) von Carlo Carrà, Ritmo + rumore + velocità d’automobile (1913) von Giacomo Balla oder Ritmo plastico del 14 luglio (1913) von Gino Severini denken. Diese Häufigkeit in den Titeln zeigt, dass der Rhythmus auch für die futuristische Malerei ein zentrales Konzept ist und darüber hinaus, wie intensiv die Experimente futuristischer Maler auf dem Feld der Visualisierung des Rhythmus sind. Es handelt sich um ein komplexes Forschungsfeld, zu dem eine umfassende kunsthistorische Forschung noch fehlt. Auf einige Aspekte sei hier exkursartig hingewiesen. Zunächst muss ein bereits weiter oben angesprochener Punkt betont werden: Die Relevanz des Rhythmus in der futuristischen Malerei ist mit Innovationen verbunden, die die visuelle Kultur der Moderne betreffen, wie etwa die kinematographische Zerlegung des Bildes, die technisch ermöglicht wird durch die zeitgenössischen Bildmedien. Man kann hier auf die Beziehungen zwischen Malerei und Fotografie im Futurismus hinweisen, die Giovanni Lista untersucht hat,27 besonders auf die Funktion einiger Ansätze auf dem Gebiet der Fotografie – vor allem auf die Chronophotographie von Marey und die kinetischen Serien von Eadweard Muybridge – für die visuelle Ästhetik futuristischer Malerei. Nach Lista findet sich in La pittura futurista. Manifesto tecnico (Die futuristische Malerei. Technisches Manifest) ein direkter Bezug auf Mareys Chronophotographie, wo die Autoren Boccioni, Carrà, Russolo, Balla und Severini bekräftigen: […] le cose in movimento si moltiplicano, si deformano, susseguendosi, come vibrazioni, nello spazio che percorrono. Così un cavallo in corsa non ha quattro gambe: ne ha venti, e i loro movimenti sono triangolari.28

27 28

linguistica. Una raccolta di saggi (1938–1968), Torino 1970, S. 587–599, bes. S. 593 (Originaltext: „libertà metrica“). Vgl. G. Lista (1979), S. 7–84. U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla, G. Severini, „La pittura futurista. Manifesto tecnico“ (1910), hier zitiert aus G. Lista (1979), S. 24 („[…] die in Bewegung befindlichen Dinge [vervielfältigen sich], ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen in Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig.“ Übers. von C. Baumgarth, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hgg.) (1995), S. 13–16, hier S. 14).

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Das galoppierende Pferd, das Marey in seinen Studien, etwa in Chronophotographie du cheval blanc sur fond noir (um 1886) porträtiert hat, wird auch für die futuristischen Maler ein Leitmotiv, das mehrmals variiert wurde (siehe z. B. Cavallo + cavaliere + caseggiato von Boccioni) und das Carrà im Werk Ritmo di cavallo + cavaliere (1909) ausdrücklich mit der Problematik der Visualisierung des Rhythmus verknüpft. Zweitens muss hier auf die Rolle hingewiesen werden, die die futuristischen Maler (und auch ihr Experimentieren mit dem Rhythmus) in den Zeitschriften der italienischen Avantgarde spielen. Die Zeitschriften sind gewissermaßen die ‚Werkstätten‘ der futuristischen Ästhetik, und eines ihrer Kennzeichen ist die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der verschiedenen Künste. Ein Beispiel ist Noi: rivista di arte futurista, die Zeitschrift, in der 1923 das bereits zitierte Manifest Arte meccanica von Prampolini, Pannaggi und Paladini erschien. In diesem Text wird die Notwendigkeit einer Ästhetisierung der Maschine (und ihrer Rhythmen) formuliert, worauf konkrete Beispiele dieses Anliegens im Bereich der bildenden Kunst des Futurismus folgen. In derselben Nummer der Zeitschrift Noi wurden tatsächlich die Reproduktionen zweier Bilder publiziert, in denen eine Darstellung des Rhythmus der Maschine versucht wird: Ritmi meccanici von Paladini (Abb. 2) e Ritmi spaziali meccanizzati von Prampolini (Abb. 3). Das zweite Bild war eine wichtige Inspirationsquelle für Exponenten anderer futuristischer Künste. Der Komponist Silvio

Abbildung 2: Vinicio Palladini, Ritmi meccanici (1923)

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Abbildung 3: Enrico Prampolini, Rtimi spaziali meccanizzati (1923)

Mix hat ein Stück für Harfe und Orchester komponiert – dessen Partitur leider verloren gegangen ist –, das eine „musikalische Realisierung“ des Gemäldes von Prampolini zu sein beansprucht.29 Das wäre ein Beispiel, an dem sich zeigen lässt, wie von der futuristischen Malerei, auch in ihrer Reflexion über den Rhythmus, Impulse für die Experimente in anderen künstlerischen Bereichen der italienischen Avantgarde ausgehen. IV. THEATER UND RADIOKUNST Vielseitig und innovativ war die poetologische Reflexion über das Theater und die theatralische Produktion im italienischen Futurismus. Aus diesem sehr weiten und facettenreichen Bereich des ästhetischen Programms des Futurismus wird am Ende dieser Überlegungen nur ein sehr begrenzter Ausschnitt genauer betrachtet. Für eine Untersuchung der Rolle, die der Rhythmus auch in den theatralischen Entwürfen und Experimenten des Futurismus spielt, ist die späte Phase des italienischen Theaters der Avantgarde bedeutsam: In dieser Phase Anfang der dreißiger Jahre geht es, neben verschiedenen anderen Projekten, auch um die programmatische Aufgabe der Bühne und um die Innovation des Theaters durch das neue Medium 29

Vgl. S. Bianchi, „Silvio Mix“, in: Ders., La musica futurista: Ricerche e documenti, Lucca 1995, S. 81–127, bes. S. 120.

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des Radios. Ausgangspunkt für dieses ästhetische Projekt ist die klare Diagnose der Krise des bürgerlichen Theaters. Wie andere europäische Autoren, u. a. wie Bertolt Brecht, ist Marinetti überzeugt, dass das Radio einen der vielversprechendsten Wege darstellte, um die Krise des traditionellen Theaters überwinden zu können. Zusammen mit Pino Masnada verfasst er 1933 das Manifest La radia. In diesem in seinen Aussagen äußerst radikalen Programm-Text versucht Marinetti „eine neue Kunst“ zu begründen, „die dort beginnt, wo das Theater und die Filmkunst und die Erzählung enden.“30 Charakteristische Aspekte der Radia – es handelt sich um einen Neologismus Marinettis, der die neue Kunst, die Radiokunst, umschreibt – werden in folgendem Zitat in einer Nominalreihe so vorgeführt: Captazione amplificazione e trasfigurazione di vibrazioni emesse da esseri viventi da spiriti viventi o morti drammi di stati d’animo rumoristi senza parole31

Marinetti theoretisiert im Manifest eine „Bühne“, die „universal und kosmisch“32 ist, und eine Kunst, die nunmehr vom Wort emanzipiert ist. Schwingungen, Schweigen, Geräusche und Rhythmen sind die Elemente dieser neuen Kunst des Futurismus. Zu Beginn der dreißiger Jahre, parallel zur Niederschrift dieses Manifests, unterzieht Marinetti dessen Leitgedanken einem Test und arbeitet fünf Sintesi radiofoniche33 („radiofonische Synthesen“) aus: „Synthese“ ist eine für die Futuristen typische Bezeichnung, um einen kurzen theatralischen Text zu umschreiben; jetzt wird der Begriff Synthese benutzt für ein neues Medium, das Radio. Zum Abschluss soll hier die vierte dieser Synthesen etwas genauer betrachtet werden, die Battaglia di ritmi (Schlacht der Rhythmen), die, wie man aus ihrem Titel ableiten kann, nach dem Prinzip der Konfrontation verschiedener Rhythmen gestaltet ist: Una lentezza prudente e paziente espressa con un tac tac tac di goccia d’acqua prima tagliata poi uccisa da Una elasticità volante e arpeggiante di note sul pianoforte prima tagliata poi uccisa da Una scampanellata di campanello elettrico prima tagliata poi uccisa da Un silenzio di tre minuti tagliato prima e poi ucciso da Una affanno di chiave in serratura ta trum ta trac seguito da Un silenzio di un minuto.34 30 31 32 33

34

F. T. Marinetti, P. Masnada, La radia (1933), in: F. T. Marinetti (1968), S. 176–180, hier S. 179 (Originaltext: „La radia sarà […] un’Arte nuova che comincia dove cessano il teatro e il cinematografo e la narrazione.“) Ebd. („Empfang Verstärkung und Transfiguration von Schwingungen ausgestrahlt von lebenden Wesen von lebenden oder toten Geistern Dramen von Seelenzuständen geräuschhaft ohne Worte“ Übers. vgl. http://www.kunstradio.at/2002A/27_01_02/laradia-d.html, Zugriff 08.02.2013). Ebd. (Originaltext: „la scena diventa universale e cosmica“). Vgl. F. T. Marinetti, „Sintesi radiofoniche“, in: Ders., Teatro, Bd. 2, hrsg. von J. T. Schnapp, Milano 2004, S. 629–637. Für eine Untersuchung der fünf Sintesi vgl. F. Luisetti, „A Vitalist Art: Filippo Tommaso Marinetti’s sintesi radiofoniche“, in: G. Buelens, H. Hendrix, M. Jansen (Hgg.), The History of Futurism: The Precursors, Protagonists, and Legacies, Lanham 2012, S. 283–294. Ebd., „Battaglia di ritmi“, Erstdruck in: Autori e scrittori 8 (1941), S. 7. Dann in: F. T. Marinetti (2004), S. 636 („A prudent and patient slowness expressed by means oft he tap tap tap of water drops first cut off then killed off by | A flying elasticity composed of arpeggios of piano notes first cut off the killed off by | A loud ringing of an electric doorbell first cut off and then killed

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Was an den Sintesi vor allem auffällt, ist, dass sich die bislang lärm- und kriegstrunkene Ästhetik des italienischen Futurismus nun deutlich den Geräuschen des zivilen Lebens, der Natur und der Stille öffnet. Die Battaglia di ritmi findet nicht mehr zwischen Flugzeugmotoren und Artilleriegeschützen, sondern zwischen Wassertropfen, Klavierarpeggien, einer elektrischen Klingel und dem Geräusch des Türöffnens statt. Jeffrey T. Schnapp, einer der besten Kenner des futuristischen Theaters, hat angemerkt, dass Marinettis Sintesi und insbesondere Battaglia di ritmi „an die spätesten Kompositionen von John Cage erinnern, indem sie die Arten erkunden, in denen Geräusche der Umwelt oder von Instrumenten Umrissen von Schweigen eine Form geben, die von unterschiedlicher Dauer sind.“35 Auch dieses späte Experiment Marinettis mit rhythmischen Serien, das sich von der mimetischen Ausrichtung des frühen Futurismus emanzipiert hat, muss also zum bemerkenswerten und vielseitigen Beitrag gezählt werden, den die italienische Avantgarde zur ästhetischen Reflexion über den Rhythmus und vor allem zu den diversen künstlerischen Praktiken seiner Realisierung geleistet hat. Ein Ansatz zur Kartographierung dieses Beitrags wurde hier versucht.

35

off by | A three minute long silence first cut off and then killed off by | A toiling key in lock tat rum ta trac followed by | A one minute long silence.“ Engl. Übers. von J. T. Schnapp, siehe: F. T. Marinetti, Radio Syntheses: Introduction and translation by Jeffrey T. Schnapp, in: Modernism / Modernity 2 (2009), S. 419. Für eine Aufführung von Battaglia di ritmi vgl. Cinque sintesi radiofoniche (Aufnahme aus dem Jahr 1978) in: F. T. Marinetti, L. Russolo, F. Pratella, CD Audio (2007). J. T. Schnapp, „Introduzione“, in: F. T. Marinetti, Teatro, Bd. 1, hrsg. von J. T. Schnapp, Milano 2004, S. XLII (Originaltext: „I silenzi parlano tra loro e Battaglia di ritmi richiamano alla mente le più tarde composizioni sperimentali di John Cage, esplorando i modi in cui suoni ambientali o strumentali danno forma ai contorni dei silenzi, essi stessi di una durata variabile.“)

KOSMISCHE APOKALYPSE UND WIEDERGEBURT, KONSTRUKTIVISTISCHER REDUKTIONISMUS UND DYNAMISCHE RHYTHMIK: EIN VERGLEICH ZWISCHEN AUGUST STRAMMS UND FRANZ RICHARD BEHRENS’ DICHTUNG ZUM ERSTEN WELTKRIEG* Andrea Benedetti I: SPRACHKRISE UND AVANTGARDE: GEDICHT UND RHYTHMUS. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Betrachtung des Begriffs der dynamischen Rhythmik im Hinblick auf die Werke zweier Hauptautoren der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm, die sich auf den Ersten Weltkrieg beziehen. Es handelt sich dabei um August Stramm (1874–1915) und den weniger bekannten Berliner Franz Richard Behrens (1895–1977). Letzterer war ausgebildeter Journalist und nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, nach 1918 war er als Verfasser zahlreicher Filmdrehbücher tätig. Innerhalb dieses allgemeinen Bezugsrahmens versucht der vorliegende Aufsatz einerseits zu zeigen, inwieweit und warum die Frühphase von Behrens’ künstlerischem Schaffen (1914–1917/18), das viele Ähnlichkeiten mit Stramms Schaffen aufweist, oft nur als ein „epigonales Phänomen“ abqualifiziert wurde. Unter Zuhilfenahme von biographischen Hinweisen, durch Vertiefung des kulturhistorischen Zusammenhangs und schließlich anhand einer formalen sowie thematischen Analyse von ausgewählten Texten beider Literaten1 wird mein Beitrag andererseits zeigen, wie sich der „lyrische Rhythmus“ des Kampfes als Verhältnis zwischen Stramms „apokalyptischem“, „kosmischem“ und „wiedergebürtigem“ Ton und dem „konstruktivistischen Reduktionismus“ Behrens’ entfaltet. Im Besonderen werde ich Stramms Gedicht Schlacht2 analysieren, um seine Eigenschaften dann mit denen von Behrens’ Dichtung Expressionist Artillerist vom Februar 1916 zu

* 1

2

Ich möchte mich ganz herzlich bei Gudrun Wiesel – Dipl. Päd. und Lektorin für deutsche Sprache an der Universität Kalabrien – und Andrea Hahn – M. A., Text & Presse, Marbach am Neckar – für ihre Hilfe bei der Übersetzung dieses Aufsatzes bedanken. Vgl. u. a.: A. Stramm, „Urtod“, in: A. Stramm. Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa, hrsg. von J. Adler, München / Zürich 1990 (1990a), S. 103–104. F. R. Behrens, „Preußisch“, Der Sturm 7 (1916), S. 27, und dann in: F. R. Behrens, Blutblüte. Die gesammelten Gedichte, hrsg. von G. Rühm (Frühe Texte der Moderne. Werkausgabe Bd. 1), München 1979, S. 14. Vgl. A. Stramm, „Schlacht“, Der Sturm 6 (1915), S. 14–15, und dann in: A. Stramm (1990a), S. 93–94.

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vergleichen.3 Mit dieser dichterischen Komposition beginnt u. a. Behrens’ Mitarbeit an der Zeitschrift Der Sturm, die mit dem Gedicht Mein Haus ist ein Bethaus vom März 19254 endet. Bevor auf einzelne Texte eingegangen wird, stelle ich einige Betrachtungen voran, die, wenn auch nicht erschöpfend, klären können, inwieweit die beiden Dichter von der Erkenntnis- und Sprachkrise, die im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert herrschte, betroffen waren und welche die zu jener Zeit für meine Untersuchung interessanten theoretischen und lyrischen Texte sind, wobei das Augenmerk besonders auf der Frage des Rhythmus liegen soll. Die Notwendigkeit einer Erneuerung der Lyrik, die in dieser Umbruchphase offenkundig wird, mündet in völlig unterschiedliche Formen, angefangen beim aristokratischen Charakter und elitären Ton der Dichtung des George-Kreises, bis hin zur offenen formalen und inhaltlichen Provokation avantgardistischer Strömungen, allen voran des Expressionismus. Gemeinsames Merkmal dieser literarischen Bewegungen ist die Entwicklung einer Bewältigungsstrategie, die in der Formulierung einer neuen Sprache besteht, was als Reaktion auf eine fragmentiert wahrgenommene Welt gewertet werden kann. Der Kern dieser neuen Sprache ist – vor allem bei der Avantgarde – von einem Rhythmus geprägt, der sich als reflexartige Antwort auf eine Realität präsentiert, die sich in kontinuierlicher Veränderung befindet. Der Rhythmus muss also eine dynamische und mobilisierende Kraft besitzen, die fähig ist, dem formlosen Chaos der Wirklichkeit seine Form zurückzugeben und so in letzter Instanz die Einordnung der Realität innerhalb einer höheren Universalität zu ermöglichen. Hierin besteht der Totalitätsanspruch, der das zweite Element darstellt, das den genannten künstlerischen Strömungen gemeinsam ist. In den zwei oben angeführten lyrischen Texten kommen diese allgemeinen rhythmischen Merkmale in erster Linie durch die formalen Eigenschaften zum Vorschein, deren sich die zwei Lyriker bedienen. In dieser Hinsicht gehe ich davon aus, dass beide Dichter zuallererst den Klang und den Rhythmus hervorheben möchten. Der von ihnen verwendete Rhythmus und die entsprechende Metrik zielen auf Folgendes ab: A) Die Art, Dichtungen vorzutragen, bedient sich der Hebung [/]. B) Was die Metrik anbelangt, erweist sich der Jambus als vorherrschend (U + –). C) In Einzelfällen wird diese dominierende Rolle des Jambus teilweise von einem Stil beschränkt, der sich auf den Gebrauch des Trochäus (– + U) stützt. D) Der deklamatorische, intensive und dynamische Stil der Lyrik Stramms und Behrens’‚ weist eine stark auf Lauten basierende Struktur auf und stützt sich auf die Kriegsthematik.5 Indem ich nun diese Betrachtungen besonders auf die avantgardistische Poesie beziehe, merke ich erstens an, dass das lyrische Subjekt den Augenblick in der per3 4 5

Vgl. F. R. Behrens, „Expressionist Artillerist“, Der Sturm 6 (1916), S. 130, und dann in: F. R. Behrens (1979), S. 43–44. Vgl. F. R. Behrens, „Mein Haus ist ein Bethaus“, Der Sturm 16 (1925), S. 40–41, und dann in: ebd., S. 229–236. Vgl. besonders M. Günther, B = Börse + Bordell, Franz Richard Behrens: Wortkunst, Konstruktivismus und das Verschwinden der Lyrik (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland Bd. 21), Frankfurt a. M. 1994, S. 213–237, hier vor allem S. 225.

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

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sönlichen Wahrnehmung nicht nur punktuell in zeitlicher Dimension und damit quasi als gleichzeitige Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt, sondern auch in einer räumlichen Dimension, nämlich im Sinne von Nähe und Distanz. Diese Verbindung der Kategorien von Raum und Zeit mittels des so wahrgenommenen Augenblicks schafft somit eine Gleichzeitigkeit der Erfahrungen und eine Ewigkeit im Raum, die mit deutlich romantischen und irrationalen Zügen in der Schrift des Philosophen Ludwig Klages (1872–1956) Vom Wesen des Rhythmus (1934)6 beschrieben werden: Laut Klages äußere sich darin eine kosmische „Seele“, eine „universelle Rhythmik“. Nicht zufällig ist er ein Anhänger des George-Kreises. Zweitens knüpfe ich an einige Themen an, die im vorliegenden Band Giovanna Cordibella in ihrem Beitrag zum Futurismus behandelt,7 und halte fest, dass die Zerstörung und Rekomposition der Syntax und die Resemantisierung der lyrischen Sprache über einen fortlaufenden Prozess des Experimentierens mit neuen Formen verläuft – dies sowohl auf morphologischer als auch auf sprachlicher Ebene. Dieses Experiment läuft jedoch Gefahr, den lyrischen Rhythmus in eine „Formel“ zu nötigen, deren Gültigkeit als „wissenschaftlich absolut“ definiert wird.8 Dies belegen unter anderem einige Ergebnisse des futuristischen Manifests La distruzione della quadratura (1912) von Francesco Balilla Pratella (1880–1955). Es offenbart sich hier nicht zuletzt die Tendenz, dem poetischen Text indirekt zum Wiedererwerb einer „Form“ zu verhelfen, der man sich ursprünglich entledigen wollte. Mit anderen Worten: Das, was sich am Horizont abzeichnet, ist die Ambiguität, die avantgardistischen lyrischen Texten häufig innewohnt – die Koexistenz von zwei entgegengesetzten Prinzipien: Unter formalen Gesichtspunkten ist eine Regelmäßigkeit, die sich unter anderem aus der Einhaltung eines konstanten Rhythmus und der Wiederholung präziser Wechselschemata ergibt, zu beobachten; in semantischer Hinsicht weist der Text durch die Rekomposition der Syntax eine erstaunlich innovative Vielfalt auf, da er neue, völlig unerwartete Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Dies sind Beobachtungen, die, in vielerlei Hinsicht auch für die hier analysierten Dichtungen von Stramm und Behrens gültig sind; und zwar im ersten Fall hauptsächlich im Hinblick auf die Akzentuierung der dichterischen Abstraktion, im zweiten Fall bezüglich der Betonung der assoziativen, unbewussten Merkmale der Texte. Drittens verläuft die Neugestaltung des Wirklichen über eine erzwungene und zwingend notwendige Anpassung des Menschen an die neue, von der Technik und 6 7 8

Vgl. L. Klages, Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt 1934, S. 7–64, s. besonders S. 33 und S. 59. Vgl. im Besonderen Cordibellas Analyse in dem vorliegenden Band zur futuristischen Technik der „parole in libertà“ („befreite Worte“) im Bereich der Lyrik und zum damit verbundenen Experimentieren mit der Syntax und der Zeichensetzung. Vgl. „Ora possediamo finalmente il principio scientificamente assoluto del ritmo nella formula: (1 × 2 e 3 e loro multipli) sta a (1 : 2 e 3 e loro multipli) e possediamo il mezzo pratico e malleabile onde fissarlo nelle sue più complicate, capricciose, lontane ed insospettate relazioni e combinazioni, che un artista di genio sappia scoprire.“, F. B. Pratella, „La distruzione della quadratura“ [„Die Zerstörung der Quadratur“] (1912), in: L. Scrivo (Hrsg.), Sintesi del futurismo. Storia e documenti, Rom 1968, S. 58–61, hier S. 59.

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den Maschinen beherrschte Wirklichkeit, die wiederum als Hinweis auf die Entstehung eines neuen Menschen zu verstehen ist. Genau diesen Gedanken durchdringt die Analyse der „rhythmischen Gestaltung der Arbeit“ im Text Arbeit und Rhythmus (1896) des Professors für Nationalökonomie Karl Wilhelm Bücher (1847– 1930). Im Rahmen dieses Beitrages ist es besonders interessant, die geschlossene Koordinierung der Produktionsprozesse und die mechanische Regelmäßigkeit der Bewegungen der Arbeiter in Büchers Schrift hervorzuheben; diese verweisen nach Ansicht des Autors direkt darauf, dass die taktischen Bewegungen der Soldaten im Rhythmus der Schlacht diszipliniert werden.9 Die Entscheidung, die analysierten Gedichte von Stramm und Behrens in diesem Beitrag sowohl in deutscher Fassung als auch in meiner Übersetzung ins Italienische vorzustellen, liegt darin begründet, dass Übersetzen – vor allem in vorliegendem Fall – Interpretieren bedeutet. II: AUGUST STRAMM: SPRACHLICH-FORMALE MERKMALE UND INTERPRETATIVE ZWEIDEUTIGKEIT DES KRIEGES ZWISCHEN APOKALYPSE UND KOSMISCHER WIEDERGEBURT. August Stramm wurde 1874 in Münster geboren und 1896 zum Postsekretär ernannt. Im Jahre 1909 wurde er zum Postinspektor befördert und 1913 zum Hauptmann der Reserve des deutschen Heeres ernannt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts widmete er sich gleichzeitig seiner Tätigkeit bei der Post und seinen künstlerischen Interessen. Um 1900 fing er zudem an, Dichtungen und Dramen zu schreiben. Am 22. März 1914 lernte er in der Galerie Der Sturm Herwarth Walden (1878–1941) kennen.10 Von jenem Augenblick an begann er, einen beträchtlichen Teil seiner Kriegslyrik in der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm zu veröffentlichen. Nach seinem Tod am 1. September 1916 an der Ostfront, genauer in Horodec, östlich von Kobyrin im heutigen Weißrussland, wurden seine Kriegsdichtungen unter dem Titel Tropfblut (1919) veröffentlicht.11 Das Gedicht Schlacht entstand ungefähr im Zeitraum von November bis Dezember 1914. Stramm, der am 2. August 1914 als Kompanieführer in Rastatt einberufen worden war, befand sich ab dem 10. August 1914 beim Badischen LandwehrInfanterie-Regiment Nr. 110 und war bis Mitte Januar 1915 bei den Deckungstruppen desselben Regiments in der Nähe der elsässischen Ortschaft Neubreisach stationiert. Im September und Oktober nahm er an ersten Gefechten teil. Infolge dieser traumatischen Erfahrungen geriet sein Schreiben zunächst ins Stocken, wie zahlreiche Briefe an seine Familie und an das Ehepaar Walden bezeugen.12 Erst ab Mitte 9 10 11 12

Vgl. K. W. Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig / Berlin 1909, S. 21–37, hier vor allem S. 22 und S. 30. Vgl. A. Stramm. Alles ist Gedicht. Briefe – Gedichte – Bilder – Dokumente, hrsg. von J. Adler (Arche-Editionen des Expressionismus), Zürich 1990 (1990b), S. 11 (22.03.1914) und S. 159. Vgl. A. Stramm, Tropfblut. Gedichte aus dem Krieg, Berlin 1919, und A. Stramm (1990b), S. 58 (27.06.[19]15) und S. 181. Vgl. A. Stramm (1990b), S. 22 (06.10.[19]14).

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

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November 1914, als er zum Gerichtsoffizier im Oberelsass befördert wurde, nahm er seine Schreibtätigkeit wieder auf.13 In den erwähnten Briefen bemerkt man eine gewisse Ambivalenz in Bezug auf das Wesen des Krieges:14 Einerseits geht es um den animalischen Überlebensinstinkt des Soldaten,15 andererseits um die entgegengesetzte Tendenz, dem Krieg ständig eine kosmische, fast „religiöse“ Bedeutung, eine Art Auflösung der Trennung zwischen Ich und Universum zu verleihen.16 Aus diesem Grund unterliegt der Soldat und Künstler Stramm häufig starken emotionalen Schwankungen, die von der zügellosen Verherrlichung der eigenen Tapferkeit,17 der patriotischen Pflicht18 und der zerstörerischen Kräfte im Menschen19 bis hin zur verzweifelten Kritik an der Absurdität und Tragik des Krieges reichen.20 Dies soll am folgenden Text untersucht werden. Schlacht

Battaglia

Aechzen ringt

Il gemito lotta

Stampfet in die Erde

Si conficca nel terreno

Und

5

13

14 15 16 17 18 19 20

Packen würgt Und

Windet wühlt und stemmt

E

5

L’assalto strangola E

Torce, scava e oppone resistenza

Vgl. A. Stramm (1990a), S. 384–387 und S. 398; A. Stramm (1990b), S. 24 (09.11.[19]14), S. 28 (14.12.[19]14), S. 166, S. 168 und S. 185–187; A. Stramm, „Fünfundzwanzig Briefe an seine Frau“, hrsg. von L. Jordan, in: J. Adler / J. J. White (Hgg.), August Stramm. Kritische Essays und unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Nachlass des Dichters (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London Bd. 25), London / Berlin 1979, S. 128–152, hier S. 132 (29.12.[19]14). Vgl. A. Stramm (1990b), S. 25 (19.11.[19]14) und S. 32–33 (12.01.[19]15). Vgl. ebd. S. 29 (16.12.[19]14), S. 30–31 (20.12.[19]14) und S. 36 (10.02.[19]15). Vgl. ebd. S. 42–43 (25.02.[19]15) und S. 56 (27.05.[19]15). Vgl. ebd. S. 20 (06.08.[19]14) und S. 55 (27.05.[19]15). Vgl. ebd. S. 26 (26.11.[19]14), S. 59 (30.06.[19]15) und S. 41 (23.02.[19]15). Vgl. ebd. S. 20–21 (20.08.[19]14) und S. 27 (Anfang Dezember 1914); A. Stramm (1979), S. 138–139 (05.03.[19]15). Vgl. A. Stramm (1990b), S. 22–23 (06.10.[19]14): „Es ist so unendlich viel Tod in mir Tod und Tod. In mir weints und außen bin ich hart und roh. […] Es ist alles so widersprüchig ich finde nicht durch das Rätsel. […] Ich kann überhaupt nicht mehr Lesen Es ist so viel Wunder um mich Wunder ringsumich kann überhaupt nicht mehr Lesen und denken Das Wort schon stock mir vor Grauen Ich fluch lieber, fluche, tobe. reite, saufe, schlafe und hab immer die Brust voll Weh. Weh, ich weiß nicht warum, nicht woher, wohin. Ich bin in Unglauben. Lebe gestorben. […] Ich verlange nach nichts. Ich möchte morden morden dann bin ich wenigstens eins mit dem ringsum dann habe ich wieder Grund und Boden dann bin ich nicht so furchtbar allein so in der Luft ohne Flügel. Wo ist der Prediger des Mordes der das Evangelium predigt des Mordes des Mußmordes. Morden ist Pflicht ist Himmel ist Gott. Rasen. […] Wo sind Worte für das Erleben. Stümper elendige. Ich dichte nicht mehr, alles ist Gedicht umher. […]“ (S. 22). Vgl. dazu auch S. 28 (14.12.[19]14).

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Schlacht

Battaglia

Und

E

Die Lüfte stehn

Gli spiriti [dei soldati] sono come sospesi

Klammern krampfzerrissen 10

Zerfetzen kracht Und

10

Schellet gell zu Boden

Schreien wächst empor

15

Das Leben

Wild

20

Krallt

25

Zum Himmel.

Das Taglicht stickt

25

Die Erde hüllt Und

Liebe spreizt den Schooß Die Sterne zittern

Fanno schizzare

Furiosamente [materiali e corpi sul campo di battaglia]

Si volgono

Verso il Cielo.

La luce diurna esala gli ultimi respiri La notte

Flort um 30

Le ultime conflagrazioni [della giornata di lotta]

[Di fronte allo scenario di] morte,

Die Nacht

Das Grabtuch

Si leva come fanno le urla [tutt’intorno]

[Le mani simili ad] artigli,

Das Sterben Auf

Il presagio di sangue

Prende fuoco come una fiamma

Die letzten Brände Sprühen

La speranza fa tremare e irrigidire [ognuno]

La vita [dei combattenti]

Flammt

20

E

La consapevolezza [della prossima deflagrazione] paralizza [tutti]

Die Hoffnung bebt und starrt Die Ahnung blutet

Corpi dilaniati dalle esplosioni

Detonazioni stridule delle granate si abbattono sul terreno

Das Wissen stockt

15

Ci si aggrappa a qualcosa, spasmodicamente lacerati

Copre [i morti] 30

Con un lenzuolo funebre La terra avvolge [tutto] E

L’amore ne dispiega il grembo

Le stelle vibrano [in trepidante attesa]

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

Schlacht

Battaglia

Strahlen brücket über 35

Die Zeit klimmt an

35

Und

E

Sammeln Lächeln

40

Und

Schreiten schwindet

Schwinden Lächeln Schreiten Und

Schwinden schreitet nach Dem sturen Raum.

Preparando così la giubilante e raccolta marcia [delle truppe verso il mondo ultraterreno] Mentre questa concentrazione avanza,

Lächeln Schreiten Schwinden 45

Questo favorisce il rilassamento [della coscienza di fronte a quella morte sempre in agguato che promette la redenzione]

[Ma,]

Sammeln schreitet

Und

La percezione del tempo riprende possesso [dei soldati] Il sorriso condensa le gocce [del sangue versato in battaglia]

Und

Lächeln Sammeln Schreiten

I raggi del sole [al tramonto] gettano un ponte [con le stelle]

E

Lächeln sammelt Tropfen

40

177

Si affievoliscono sorriso e andatura 45

E

Perde impeto l’incedere,

Diminuiscono i sorrisi e il [ritmo del] passo cadenzato E

L’affievolimento conduce il loro incedere verso

Uno spazio [ultramondano] sordo, indifferente [a qualsiasi istanza].

Auf Grundlage all dessen, was in der Einleitung zu diesem Kapitel erklärt wurde, erweist sich das Gedicht Schlacht sowohl vom Formalen und Sprachlichen als auch vom Thematischen her als signifikantes Beispiel dafür, wie gut Stramm mit Hilfe einer ausgeprägten Bildlichkeit die schockierende Wirkung von Kriegsgewalt und Tod auf das Innenleben des Soldaten darzustellen vermag und wie er somit versucht, der rasanten Zuspitzung des Kampfrhythmus psychologisch standzuhalten. 21 Darüber hinaus entsteht seine Lyrik aus den Kräften eines Unbewussten, dessen 21

Zu den typischen psychischen Abwehrstrategien gegenüber dem Kriegsgrauen vgl. vor allem ebd., S. 37–38 (14.02.[19]15) und S. 41 (23.02.[19]15).

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Strom ständig im Werden ist;22 sie nimmt jedoch eine „Form“ (Br, 51 (23.03. [19]15)) an, die sich als eine offensichtlich bewusste Inszenierung sprachlicher und formaler Ambivalenzen offenbart. Unter formalen Gesichtspunkten betrachtet, zeigt Stramm in diesem Text eine wohlbekannte Tendenz, sich von den grammatikalischen Strukturen sowie von der Syntax freizumachen, wie man an seiner Verwendung des Verbs im Infinitiv beobachten kann. Eine Technik, die Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) schon in seinem Technischen Manifest – dem Manifesto tecnico della letteratura futurista (1912)23 – angewandt hat. Diese Zersetzung der Syntax ergänzt Stramm um den Aufbau zunehmend strengerer formaler Ordnungsgefüge, in denen die Subjektivierung des Wortmaterials den Grad der dichterischen Abstraktion ad libitum erweitert. Dies ist der Grund, warum der vorliegende Text durch Variationen im Rahmen einer Struktur („Lächeln sammelt Tropfen“, V. 37; „Lächeln Sammeln Schreiten“, V. 40; „Lächeln Schreiten Schwinden“, V. 43; „Schwinden Lächeln Schreiten“, V. 46) geprägt ist; auffällig ist der häufige Gebrauch von Alliterationen („Windet wühlt“, V. 6; „Klammern krampfzerrissen“, V. 9; „Schreiten schwindet“, V. 45), während die Konjunktion „und“ unregelmäßig verwendet wird (V. 2; 5; 8; 11; 31; 36; 38; 41; 44; 47). Dies trägt dazu bei, dass atypische Symmetrien entstehen, was u. a. die Unregelmäßigkeit des inneren Rhythmus des Gedichtes im Ganzen widerspiegelt. Darüber hinaus wird der innere Rhythmus mittels einer fast völlig abwesenden Interpunktion immer weiter vorwärtsgetrieben. In diesem Zusammenhang könnte man aus den ersten Versen (V. 1–12) eventuell die Unvorhersehbarkeit der Einschläge des Geschützfeuers ableiten, während die Wiederholung der Konjunktion „und“ im zweiten Teil der Lyrik den Eindruck erweckt, das scheinbar majestätische Schreiten der Truppen in die überirdische Welt fördern und „begleiten“ zu wollen; dabei handelt es sich allerdings um das Schreiten in ein Jenseits, dem letzten Endes der Soldat gleichgültig bleibt. Thematisch ist das Gedicht in zwei Teile unterteilt: Der erste Abschnitt reicht bis Vers 25. Hier steht zunächst einmal die Nahkampfsituation („Aechzen ringt“, V. 1; „Packen würgt“, V. 4), im Besonderen aber die akustische Dimension des Gefechtes im Vordergrund. Diese wird durch das Einschlagen der Granaten („Schellet gell zu Boden“, V. 12) beschrieben. In den Versen 13 bis 15 („Das Wissen stockt“; „Die Hoffnung bebt und starrt“; „Die Ahnung blutet“) ist die maximale psychische Anspannung der Soldaten erreicht, welcher die Zufälligkeit und Beliebigkeit des Todes auf dem Kampfplatz gegenübersteht. Diese Anspannung macht sich zunächst durch eine absichtliche Unbestimmtheit der Bilder bemerkbar, in denen die grausame Wirklichkeit der zerrissenen Körper zwar angedeutet, niemals aber explizit beschrieben wird (V. 16–21). Schließlich löst sie sich im biblisch-apokalyptischen Bild der krampfenden Soldatenhände auf („Krallt / Das Sterben / Auf / Zum Himmel.“, V. 22–25): Wie Tiere mit ihren Krallen klammern sich die Soldaten mit ihren 22 23

Vgl. ebd. S. 49 (21.03.[19]15). Vgl. F. T. Marinetti, „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ (1912), in: F. T. Marinetti, Teoria e invenzione futurista, hrsg. von L. de Maria, Mailand 1968, S. 46–54, siehe besonders Punkt 2.

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Händen an das irdische Leben; gleichzeitig erheben sie sich zum Himmel und flehen um irdische Gnade und ewiges Heil in der höllischen Schlacht. Vers 25 stellt also sowohl von der Form als auch vom Thema her den eigentlichen Wendepunkt des Gedichts dar. Er markiert zum einen das Zentrum der Lyrik und ist zum anderen der einzige Vers – außer dem letzten – der überhaupt mit einem Satzzeichen endet. Der zweite Teil des Textes beschreibt das Schlachtfeld nach dem Kampf und impliziert damit die allmähliche, doch deutliche Verringerung des Kampfrhythmus bis hin zur Auflösung seiner Dynamik. Die Nacht bricht herein und umhüllt nicht nur barmherzig die Körper der verstorbenen Soldaten („Die Nacht / flort um / Das Grabtuch“, V. 27–29), sondern scheint eine Erlösung und Wiedergeburt des ganzen Universums zu versprechen (V. 33–34). Ein Versprechen, das erst durch die entscheidende Vermittlung der personifizierten Erde und ihre beinahe erotisch anmutende Liebe möglich wird („Die Erde hüllt / Und / Liebe spreizt den Schooß“, V. 30–32). In der Schlusspassage der Dichtung (V. 35–49) wird der Leser mit verschiedenen Interpretationsschwierigkeiten konfrontiert, die nicht zuletzt durch den Wechsel zwischen finiten, also konjugierten Verben (V. 37, 42, 45, 48) und infiniten, also nichtkonjugierten Verben (V. 39, 40, 43, 46) verursacht werden. Der Vers 35 („Die Zeit klimmt an“) scheint darauf hinzuweisen, dass die überlebenden Soldaten mit Ende des Kampfes und Einbruch der Nacht wieder ein rationales Zeitgefühl zurückgewinnen. Ihr „Lächeln“ (V. 37; 39) könnte auf die vorübergehende Entspannung ihrer Gemüter hindeuten, obwohl sie sich dessen bewusst sind, dass der Tod als ständige Bedrohung auf dem Kriegsschauplatz zu betrachten ist („Sammeln Lächeln“, V. 39). Genau dieses latente Bewusstsein, das wiederum fast als Ergebnis eines dem Text übergeordneten Ich erscheint, verleiht dem rhythmischen Marsch der Truppen („Schreiten“, V. 40) einen kosmisch-religiösen Charakter. Dieser Marsch versteht sich in der Tat nicht mehr als ein Schreiten auf dem Boden, sondern vielmehr als ein Schreiten in eine überirdische Dimension, also in den Tod. Aus diesem negativen Blickwinkel wird der Sinn des „Schwindens“ in der Tat plausibler; ein Schwinden, das allmählich sowohl das Lächeln der Soldaten als auch deren Marsch betrifft (V. 43, 45, 46, 48). Darüber hinaus ist somit ganz offensichtlich, warum der Marsch der Truppen nicht auf irgendein kosmisches Wohlwollen stoßen kann, da sich auch das Jenseits im Krieg den Menschen gegenüber gleichgültig verhält („Dem sturen Raum.“, V. 49). In der Schlusspassage werden also die Kriegsschrecken mit der Sinnlosigkeit der Welt und der menschlichen Existenz gleichgesetzt; eine Beobachtung die u. a. die oben zitierten Briefe Stramms bestätigen.24 24

Vgl. P. J. Vock, „Der Sturm muß brausen in dieser toten Welt“. Herwarth Waldens ‚Sturm‘ und die Lyriker des Sturm-Kreises in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Kunstprogrammatik und Kriegslyrik einer expressionistischen Zeitschrift im Kontext (Schriftenreihe Literaturwissenschaft Bd. 73), Trier 2006, S. 196–258, hier siehe vor allem: S. 221–223, S. 232–233, S. 237– 239, S. 242, S. 247–248 und S. 250; K. Möser, Literatur und die „Große Abstraktion“. Kunsttheorien, Poetik und „abstrakte Dichtung“ im „Sturm“ 1910–1930, Erlangen 1983. Über Stramm siehe S. 69–114, hier besonders S. 109–111; A. Stramm (1990b), S. 57–58 (27.06.

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III: FRANZ RICHARD BEHRENS: „REDUKTIONISTISCHER KONSTRUKTIVISMUS“ UND DYNAMISCHE RHYTHMIK Bei der Betrachtung von Behrens’ Werk konzentriere ich mich besonders auf die Beziehung zwischen lyrischer Sprache, Rhythmus und Bildern, die in ihrem Ineinandergreifen, die Kriegsmaschinerie evozieren. Die Analyse basiert vor allem auf der Rolle der Technik im Ersten Weltkrieg und ihrer Entwicklung zu spezifisch kriegerischen Zwecken sowie damit verbunden auf der Bedeutung des Rhythmus. In Bezug auf Behrens’ Verhältnis zum Sturm-Kreis muss hervorgehoben werden, dass sich in seiner Persönlichkeit künstlerische und visionäre Exzentrik mit selbstverherrlichenden Zügen mischte; zudem ließen seine nervöse Sensibilität und maßlose Wut eine notwendige Selbstkritik oft nicht zu. Dies trug entscheidend dazu bei, dass er zu einer „Randfigur“ im Kreis der Sturm-Mitarbeiter wurd25 und sich Spannungen mit der zeitgenössischen Literaturkritik aufbauten. Ebendiese Literaturkritik deklassiert sein Werk als bloße Nachahmung von August Stramms Œuvre und marginalisiert somit die Künstlerpersönlichkeit Behrens’. Dies vorausgeschickt, kann man festhalten, dass Behrens im Verlauf seiner Mitarbeit an der Berliner Zeitschrift Sturm zwischen Februar 1916 und März 1925 drei Produktionsphasen durchläuft: Die erste ist die „Wortkunst“-Phase (1914– 1917/18); eine sich anschließende Übergangsphase (1917/18–21) ist durch die Präsenz von „Mischformen“ charakterisiert; die dritte ist die „sachliche Phase“ (1921– 1925), in der das expressionistische poetische Wort durch das Prinzip und die Methode der „Montage“26 immer mehr in eine Art neue Literaturgattung, die zwischen Poesie und Prosa liegt, verwandelt wird. In thematischer Hinsicht konzentriert sich Behrens’ Werk bis 1918 hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Mensch, Natur, Krieg und Technik und nach dieser Zeitperiode auf die Diskussion des Kapitalismus, den er als moderne „Religion“27 sieht, und der Prostitution.28 In formaler Hinsicht zeichnet sich die erste Phase (1914–1917/18) durch einen starken Einfluss der poetischen Muster aus, die charakteristisch für August Stramm

25 26

27

28

[19]15), S. 59 (30.06.[19]15), und J. D. Adler, „‚Alles ist Gedicht‘ oder: Kunst und Krieg. Die Briefe von August Stramm an Nell und Herwarth Walden“, in: A. Stramm (1990b), S. 63–91. Dies waren die Eheleute Herwarth und Nell Roslund Walden (1887–1975), die Dichter Lothar Schreyer (1886–1966) und Rudolf Blümner (1873–1945) sowie der Regisseur und Theaterkritiker William Wauer (1866–1962). Vgl. folgende Dichtungen: „Schokoladene Ballade“ [„Ballata della cioccolata imbottita“] (1923), in: F. R. Behrens (1979), S. 71; „An meine Deutsch-Amerikanischen Freunde“ [„Ai miei amici tedesco-americani“] (1923), ebd. S. 205–211; schließlich s. auch M. Günther (1994), S. 13–22. Vgl. „Die Dollar-Arie“ [„L’aria del dollaro“] (1923): F. R. Behrens (1979), S. 69–70; „Chicago“ (1923), ebd. S. 74–76; „Selbstmörder“ [„Suicidi“], in: F. R. Behrens, Geflügelte Granaten. Gedichte, Gedanken, Sportstrophen, Kriegsberichte, Feldtagebücher, hrsg. von G. Rühm und M. Lichtenfeld (Frühe Texte der Moderne. Werkausgabe Bd. 2), München 1995, S. 55, und M. Günther (1994), S. 380–384. Vgl. „Die Schlafzimmertragödie“ [„La tragedia della stanza da letto“] (1922), in: F. R. Behrens (1979), S. 195–204; „Gymnasium besuchts Bordell“ [„Il ginnasio frequenta il bordello“] (1924): ebd. S. 219–228, und M. Günther (1994), S. 384–389.

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

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waren, erkennbar an der Vereinigung von übertrieben expressionistischen Ausdrucksweisen und der experimentellen und grotesken Bildung des poetischen Wortes; alles scheint darauf ausgerichtet zu sein, eine eigene künstlerische Legitimation zu entwickeln, die losgelöst vom konventionellen Sprachgebrauch ist. Analog zu den poetischen Kompositionen von Künstlern des Sturm-Kreises wie Kurt Schwitters (1887–1948) und Otto Wilhelm Ernst Nebel (1892–1973) zielen diese Elemente ihrerseits darauf ab, völlig neue Formen der Poesie zu entwickeln, die den besonderen Charakter der Lyrik anzweifeln und als Beispiele für „literarischen Konstruktivismus“ gelten können. Diese neuen Formen entstehen durch die Verbindung von schematischer Konstruktion des lyrischen Textes mit Zitatenspiel und unterschiedlichen Sprachregistern.29 Dazu tragen eine Reihe von Faktoren entscheidend bei, die nachfolgend aufgeführt werden: An erster Stelle steht die progressive Selbstauflösung der Syntax, an zweiter das fast völlige Verschwinden der Interpunktion nach dem Vorbild der Gedichte von Stramm und der futuristischen Theorie von Marinetti.30 Drittens kommt es zu einer extremen Reduktion von Satz und Zeile, die weiterhin als vorherrschende strukturelle und formale Einheiten erhalten bleiben, bei denen jedoch Wortarten eliminiert werden – etwa Artikel, Präpositionen, Konjunktionen, Modalwörter, Modalpartikeln –, woraus extrem kurze Sätze resultieren, die nur noch aus Subjekt und Prädikat bestehen. Viertens ist die Inversion der traditionellen Reihenfolge der Satzelemente (verdrehte Satzstellung) zu beobachten, verbunden mit der Veränderung von Groß- und Kleinschreibung als Identifikationsmerkmal von Substantiven und Verben; so entstehen Sätze, die zwar grammatikalisch korrekt sind, aber auf der semantischen Ebene auch nach mehrmaliger Lektüre keinen Sinn ergeben. Fünftens hebt die sorgfältige „Montage“ von syntaktisch-semantischen Sequenzen, die auf den Klang hin orientiert sind und präzise Wechselschemata, Symmetrien und Stabreime beinhalten, das doppelte Niveau der poetischen Vorgehensweise des Autors hervor. Damit wird deutlich, dass der konsequent rationale Ansatz, der in gewisser Hinsicht auf einen „Konstruktivismus“ verweist, welcher an die gleichnamige avantgardistische Bewegung russischer Autoren aus derselben Zeit gebunden ist, nicht mehr unterscheidbar ist von einem ebenso sicheren Bewusstsein in Bezug auf die assoziativen, unbewussten Eigenschaften des Textes, die eine ungewöhnliche Kombination von Klängen, Farben und Gedanken möglich machen. Letztlich wird die absolut zentrale Bedeutung des einzelnen „nackten“ und schlichten Wortes betont und ein relativ limitierter Wortschatz eingesetzt, der aber durch neue Wortkombinationen immer wieder ergänzt wird.31 29

30 31

Zum Vergleich zwischen der Lyrik Stramms und der von Behrens vgl. M. Günther (1994), S. 213–237. Im Besonderen sei hier auf die eingehende Analyse in: ebd. S. 227–229, verwiesen, innerhalb der folgende Dichtungen verglichen werden: A. Stramm, „Urtod“, in: A. Stramm (1990a), S. 103–104; F. R. Behrens, „Preußisch“, in: F. R. Behrens (1979), S. 14. Zur Definition des Konstruktivismusbegriffs im Verhältnis zu Behrens vgl. K. Möser (1983), S. 150 und S. 285, Fußnote 34. Vgl. F. T. Marinetti, „Fondazione e Manifesto del Futurismo“ (1909), in: F. T. Marinetti (1968), S. 7–14, besonders die Punkte 3, 4, 6 und 7. Vgl. vor allem M. Günther (1994), S. 144–156.

182

Andrea Benedetti

Um Behrens’ Weg, der ihn zur Entwicklung dieser ästhetischen Position führt, nachzuzeichnen, ist es besonders wichtig, seine zwei Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg einzubeziehen.32 Das erste dokumentiert die Zeit vom 24. März 1915 bis zum 31. Dezember 1915,33 das zweite die Zeit vom 25. Juni 1916 bis zum 25. September 1916.34 Beide Tagebücher enthalten wertvolle Aufzeichnungen über die Lektüre des Dichters während des Krieges und poetologische Anmerkungen, die hilfreich für die Rekonstruktion seiner ästhetischen Entwicklung sind.35 In diesem Sinne kann man sagen, dass sich Behrens’ ästhetisches Credo folgendermaßen zusammenfassen lässt: „Form ist alles! Schönheit ist alles!“ (GG II, S. 219). Weiter kann seine oben ausgeführte „reduktionistische Lyrikform“ in gewisser Weise auch als Resultat einer trümmerhaften Wahrnehmung der erschütternden Kriegsereignisse betrachtet werden, insofern die poetische Form sie augenscheinlich nicht mehr in einer zusammenhängenden Weise darzustellen vermag. Die Wahl dieser lyrischen Form, wie bei Stramm verbunden mit einer fast völlig fehlenden Interpunktion, die dem vorwärtstreibenden Rhythmus des Textes Einhalt gebieten könnte, dynamisiert aber auch den Satz. All das führt zu einem Stil, bei dem nüchterne und klare Aussagen überwiegen, wobei das Kriterium der extremen Bündigkeit der Lyrik zur Anwendung kommt, das von einem „Einwortprosaplan“ (GG II, S. 165) ausgeht. In diesen Aussagen katalogisiert der Autor aufeinanderfolgende „Einwortsätze“. Auf diese Weise entsteht eine „Einwortlyrik“, die Behrens’ damaligem Programm entspricht: „Konzentrierte Kürze. Telegramm. Dichten ist kürzen.“ (GG II, S. 183).36 32

33 34 35

36

In diesem Zusammenhang muss zunächst, zumindest auf Basis aktueller Recherchen, davon ausgegangen werden, dass die Urfassung der Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg, in welchem wiederum die zwei veröffentlichten Tagebücher ihren Ursprung haben, höchstwahrscheinlich in Folge der chaotischen Kriegsbegebenheiten des 20. Jahrhunderts und der zahlreichen Umzüge des Dichters verloren gegangen sind. Darüber hinaus wurden die zwei Tagebücher nach den an der Front erlebten Ereignissen, und zwar im Laufe der kurzen Heimaturlaubsperioden in Berlin, während des Ersten Weltkriegs redigiert. Im Verlauf dieser Aufenthalte arbeitete er mit großer Wahrscheinlichkeit all die Notizen aus, die er sich an der Front gemacht hatte; diese Notizen hatte er jedenfalls regelmäßig auch an Herwarth Walden gesandt, dem sie anvertraut wurden: vgl. dazu G. Rühm, „Zur Ausgabe der Gedichte“, in: F. R. Behrens (1979), S. 363–364, und „Nachwort“, in: F. R. Behrens (1995), S. 314–317. Vgl. „Feldtagebuch“, in: F. R. Behrens (1995), S. 151–205. Vgl. „Feldtagebuch Galizien“, in: ebd. S. 207–231. Siehe vor allem folgende Tagebucheintragungen: 29.03.[1915], 10.04.[1915], 23.04.[1915], 26.04.[1915], 18.06.[1915], „Feldtagebuch“, in: ebd. S. 154, S. 156, S. 157, S. 157 und 166; 11.07.1916, 06.08.1916, 25.08.1916 und 26.08.1916, „Feldtagebuch Galizien“, in: ebd. S. 213, S. 218, S. 222–223 und S. 223. Es geht um dieselbe Schlussfolgerung, die Lothar Schreyer 1918 in einem grundlegenden theoretischen Essay über die „Wortkunst“ in der Zeitschrift Der Sturm folgendermaßen definiert: „Dichten ist konzentrieren, auf die komprimierteste, einfachste Form bringen.“ Vgl. L. Schreyer, „Expressionistische Dichtung“ (I), in: Sturm-Bühne. Jahrbuch des Theaters der Expressionisten 4/5 (1918), S. 19–20, und L. Schreyer, „Expressionistische Dichtung“ (II), in: Sturm-Bühne 6 (1918/1919), S. 1–3; das Zitat bezieht sich auf S. 20. Vgl. auch M. Günther (1994), S. 79, Fußnote 60, und S. 107–117, sowie M. Löschnigg, Der Erste Weltkrieg in deutscher und englischer Dichtung, Heidelberg 1994, S. 19 und S. 347.

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

183

Seine Lektüre an der Front, die sowohl extrem umfangreich als auch unsystematisch ist, konzentriert sich vornehmlich auf expressionistische Zeitschriften wie Der Sturm, Die Aktion, Die Fackel und Schriften expressionistischer Künstler wie Arno Holz (1863–1929), Lothar Schreyer (1886–1966) und Wassily Kandinsky (1866–1944). Besonders wichtig ist hier die Figur von August Stramm. Auf Basis der bisher bekannten Archiv-Dokumente kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass beide als Freiwillige am Ersten Weltkrieg teilnahmen, sich höchstwahrscheinlich nie persönlich begegneten, aber die Schriften des jeweils anderen gut kannten – Letzteres infolge der Vermittlung durch Herwarth Walden.37 Es muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass Behrens mit der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804), Friedrich Nietzsches (1844–1900) und Henri Bergsons (1859–1941) vertraut war. Die Auffassung des Letzteren von der Dimension Zeit als „reiner Dauer“ und vor allem als Szenario simultaner Geschehnisse war für Behrens aller Wahrscheinlichkeit nach von besonderer Bedeutung. Ebenso war ihm der italienische Futurismus wohlbekannt, besonders die Schriften von „Marinetti“ (GG II, 191). Aus diesen übernimmt Behrens sowohl die theoretisch-formalen Voraussetzungen als auch den Kult der Maschine, nicht aber die nationalistische Ausrichtung der Kriegsbegeisterung. Seine zwei Kriegstagebücher zeigen sehr deutlich, wie der Dichter immer mehr in die unaufhaltsame innere Dynamik der Kriegsmaschinerie hineingezogen wird, was ihn davon abzuhalten scheint, den Sinn des Ganzen zu hinterfragen und sich von diesen Erfahrungen kritisch zu distanzieren.38 Deshalb ist er auch so fasziniert von „dem Klangsang der Maschinengewehre“ (GG II, 161) und den „blitzgeölten Kaffeemühlen der Maschinengewehre“ (GG II, 160),39 während er sich gleichzeitig der Rolle bewusst zu sein scheint, die er in der unmenschlichen „Materialschlacht“ an der Front einnimmt, in jener von der Technik dominierten todbringenden Kriegsführung, bei der das „Blut den Himmel überschwemmen will“ (GG II, 161). Eben diese Haltung zur Rolle der Technik in der Kriegsführung, insbesondere zum Takt, den die Technik vorgibt, wird im Folgenden untersucht. Zugrunde gelegt wird dabei das exemplarische Gedicht Expressionist Artillerist. Darin wird ein Flugzeugeinsatz sowohl „objektiv“ und chronologisch beschrieben als auch – in Form eines inneren Monologs – aus der Perspektive des Artilleristen. Durch den Gebrauch des inneren Monologs verbindet sich hier die Beschreibung des Flugzeugeinsatzes mit der lyrischen Form, die auf die Darstellung eines äußeren Ereignisses konzentriert ist und eine relativ logische Reihenfolge der Elemente zeigt. 37 38 39

Vgl. M. Günther (1994), S. 213–215, und F. R. Behrens (1995), S. 224 (01.09.1916: Stramm war exakt ein Jahr zuvor an der Front in Horodec, östlich von Kobyrin, heute Weißrussland, gefallen), S. 229 (18.09.1916), S. 299–301. Vgl. G. Rühm, „Die Kriegsgedichte von Franz Richard Behrens“, in: J. Drews (Hrsg.), Das Tempo dieser Zeit ist keine Kleinigkeit. Zur Literatur um 1918, München 1981, S. 95–111, hier S. 99 und S. 103–104. Es scheint in diesem Zusammenhang plausibel, einige verschlüsselte Formulierungen, die eine gewisse „Ästhetisierung des Krieges“ andeuten könnten, auf diese Faszination zurückzuführen; vgl. folgende Tagebucheinträge: 06.08.[1915], 16.12.[1915], „Feldtagebuch“, in: F. R. Behrens (1995), S. 180, S. 202, und der Eintrag vom 14.08.1916, „Feldtagebuch Galizien“, in: ebd. S. 221.

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Andrea Benedetti

Expressionist Artillerist

Espressionista artigliere

Bäh

Puh

als alle Vögel der Erde

più di qualsiasi uccello terreno

Für Jakob von Uexküll, auf dessen granatgegittertem Heimatboden einer Feldwache dies wuchs.

Per Jakob von Uexküll, sul cui suolo natale, trasformato in un reticolato di granate, si è sviluppata questa poesia durante un servizio di guardia

drüben fliegt ein Eisenvogel ab, kerzengrader

5

Ein-und-zwanzig

die Linie kennt die Natur nicht zwei-und-zwanzig

di là decolla un uccello di ferro, diritto come un fuso

5

der Organismus ist sie

10

Ob teuer Opfer schliesslich wert

10

Zweckblitz ducken droben die sieben Haubitzen.

Ventisei

15

Acht-und-zwanzig

Ventisette

I sette obici lassù in alto schivano [un] lampo diretto da uno scopo ben preciso. [Un] sentimento della vita dannatamente autentico dà origine

heissen Ausdruck. Neun-und-zwanzig

Il canto della mia anima si frange nella necessità

Ventotto

Verdammt echtes Lebensgefühl bornt verflucht

20

Forse che questo rilevante sacrificio non si dimostri in fin dei conti meritevole di tanto[?]

Schiumanti proiettili a frammentazione shrapnel si appiccicano al sole nostalgia

Sechs-und-zwanzig

Sieben-und-zwanzig

Non bisogna perderlo d’occhio

Venticinque

Schäumende Schrapnells kleben Sonne Sehnsucht

15

Ventidue Ventitre

Fünf-und-zwanzig

Mein Seelensingen brechen im Muss

La natura non conosce la linea essa è l’organismo

drei-und-zwanzig

den Blick nicht verlieren

Ventuno

20

a un’espressione tremendamente appassionata. Ventinove

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

Expressionist Artillerist

Espressionista artigliere

Blutabsinth

Assenzio rosso sangue

die Luft stinkt Millionen Schwefel, Kohle

L’aria scoppia di milioni [di particelle] di zolfo, carbone

die Luft ist Stahl und rein 25

Ein-und-dreissig

Die Granattrichter tüpfeln garnicht harmonisch

L’aria è d’acciaio e pura 25

Zwei-und-dreissig

Die Blüten weinen Licht unter Donnererschlagendem Krachen

propizio 30

Vier-und-dreissig

Trentacinque

Im Leichenblut schöne Farben sehen. Alte Jacke 35

Sieben-und-dreissig

Trentotto

Mein Geschütz steht in Wechselwirkung zum sechsten,

Keinen Meter mehr nach rechts darf es stehen, Ein-und-vierzig

[Non bisogna] essere schegge di ossa, impressionisti e naturalisti

Essere ed essere oltre ogni limite.

Acht-und-dreissig

Neun-und-dreissig

[Non occorre] scorgere bei colori nel sangue dei cadaveri. [Né ripresentare] vecchie storie trite e ritrite

Trentasette

Sein und Uebersein.

40

I fiori piangono luce tra scoppi tonanti La centralizzazione della volontà è la forza del comandante

Fünf-und-dreissig

Knochensplitter sein, Impressionisten und Naturalisten

Trentatre

Trentaquattro

Die Zentralisierung des Willens ist die Kraft des Kommandeurs

35

I crateri creati dalle esplosioni delle granate non si allineano affatto armonicamente con la loro disposizione a pois L’osservatore nemico trova tutto ciò straordinariamente

glücklich 30

Trentuno

Trentadue

der feindliche Beobachter findet das höchst Drei-und-dreissig

185

40

Il mio cannone si trova ad interagire con l’artiglieria del sesto, Trentanove

Esso non può restar posizionato neppure un metro in più verso destra, Quarantuno

186

Andrea Benedetti

Expressionist Artillerist

Espressionista artigliere

Granaten werden gemacht

Le granate vengono fabbricate

Kanonen macht man. 45

Zwei-und-vierzig

Kanonaden entstehen

Si producono cannoni. 45

drei-

50

Ich drücke mich hoch heilig -vierzig Aus

Fetzen Fratzen Platzen (GG I, 43–44)

Iniziano a partire colpi di cannone Quaranta-

Ich glaube aufzugehn -und

Quarantadue

Credo proprio che, dissolvendomi tutt’intorno, ascenderò anche verso l’Alto 50

-e

Mi esprimo davvero con somma sacralità -tre

Premo e … è finita

Brandelli ghigno esplosione

Das Gedicht, das dem Biologen, Zoologen und Philosophen Jakob von Uexküll (1864–1944), geboren in Keblaste, Estland, gewidmet ist, wurde 1915 verfasst und verweist, wie schon vorher dargelegt, autobiographisch auf Behrens selbst, der als „expressionistischer“ Artillerist an der Front dient. Im Kern beschreibt es den inneren Monolog eines Artilleristen einer Flugabwehreinheit, der zu Beginn ein feindliches Beobachtungsflugzeug aufsteigen sieht. Dieses Beobachtungsflugzeug nähert sich der Stellung des Artilleristen, dieser bringt sein Geschütz in Stellung, am Ende wird der Pilot von der Einheit des Artilleristen getroffen. Mit dem tragikomischen Einsatz des finalen Stabreims werden die drei Bilder „Fetzen“, „Fratzen“ und „Platzen“ verwendet. Die „Fetzen“ beziehen sich auf das wahrscheinliche Schicksal des feindlichen Beobachtungsflugzeugs, den Abschuss des Piloten. Die „Fratzen“ weisen vermutlich auf das dämonische Lächeln – der Flugabwehr oder des Piloten – hin, die Stelle bleibt zweideutig. Das „Platzen“, das den Piloten in der Luft zerreißt, beendet das Gedicht sowohl auf makabre als auch auf blitzartige Weise. Das Mitzählen der Sekunden des Schützen – vom Anvisieren („Ein-und-zwanzig“, V. 4) bis zum Schuss auf den Piloten („drei-und-vierzig“, V. 47, 49 u. 51) – gibt den zweigliedrigen Takt des Gedichts vor: Mit einer gewissen Regelmäßigkeit wechseln Verse mit Zeitangaben und Verse, die den „inneren Monolog“ des Artilleristen wiedergeben und auf psychologisch-narrativer Ebene auf dessen Zwiegespaltenheit verweisen, was auch schon der Titel „Expressionist Artillerist“ nahelegt, miteinander ab. Eine Zwiegespaltenheit, die sich vermutlich auch in dem Versuch des Artilleristen bestätigt findet, sich in die Gedanken des Piloten hineinzudenken. Auf formaler Ebene wird dieses zweigliedrige Schema durch das eben bereits genannte Mitzählen der Sekunden dominiert, das mit der Zersplitterung des Wortes

Ein Vergleich zwischen August Stramms und Franz Richard Behrens’ Dichtung

187

„dreiundvierzig“ und seiner Verteilung auf die Verse 47, 49 und 51 endet. Diese Verse verkörpern die „Simultaneität der Vorgänge im Bewußtsein des Sprechers.“40 Was die Wahl der Form und des Wortschatzes anbelangt, muss man bemerken, dass – im Gegensatz zu dem, was schon aufgeführt wurde – die poetische Komposition in diesem Text nicht synthetisch ist, auch weil die Syntax nahezu vollständig beibehalten wird. Ihre Verbindung mit einer vorwiegend fehlenden Zeichensetzung innerhalb eines Textes, der hauptsächlich auf einer unregelmäßigen Abfolge von monologischen Betrachtungen und Zeitangaben basiert, treibt den Leser außerdem unbewusst, doch unaufhaltsam zum Ende des Gedichts, und das passiert ausgerechnet, während das lyrische Tempo durch die psychologisch bedrängende Wirkung der zunehmenden Anhäufung von Zeitangaben sich erhöht – bis zum abrupten Schluss. Darüber hinaus transportiert die verwendete Sprache einen für den Expressionismus typischen metaphorischen und bildlichen Inhalt („Schäumende Schrapnells kleben Sonne Sehnsucht“, V. 12; „Die Blüten weinen Licht unter Donnererschlagendem Krachen“, V. 30); sarkastisch „spielerisch“ und zugleich bündig und reflektierend kontrastiert sie die grausame Kriegsrealität und den inneren Monolog des Artilleristen („die Granattrichter tüpfeln garnicht harmonisch“, V. 25). Was die Verwendung von Sprachregistern angeht, ist auf einige inter- und extratextuelle Anspielungen hinzuweisen, beispielsweise „Sein und Uebersein“ (V. 36), und intuitionistische Haltungen, die auf den Einfluss Nietzsches und Bergsons zurückzuführen sind. Des Weiteren beginnt der Text mit einem Bild des Flugzeuges als „ein[es] kerzengrade[n] Eisenvogel[s]“ (V. 2). Dieses Bild ist zwar von Marinetti übernommen, verweist aber zugleich auf Goethes Konzeption der organischen Natur und unterscheidet sich dadurch von dem futuristischen Raum-Zeit-Verständnis der „lyrischen Simultaneität“. Letztere bedeutet die Allgegenwart und die Gleichzeitigkeit im Augenblick („die Linie kennt die Natur nicht […] der Organismus ist sie“, V. 5; 7),41 die sich unter anderem in der Zerlegung eines Bewegungsablaufes in eine punktuelle Abfolge von Einzelmomenten zeigt, was auch in der futuristischen Malerei zu beobachten ist. Auch das lyrische Ich (der „Expressionist Artillerist“) macht eine Anspielung, die den Krieg in seiner Brutalität lapidar und zynisch darstellt und die antithetisch zur Position der kraftlosen blutleeren „Impressionisten und Naturalisten“ (V. 35) steht. Durch eine ironische Anspielung auf den französischen Pointillismus („die Granattrichter tüpfeln garnicht harmonisch“, V. 25) wird nämlich die Beziehung zwischen Krieg und Malerei thematisiert, die dann mit einem bewusst ästhetisierenden und zugleich sarkastischen Bild schließt („Im Leichenblut schöne Farben sehen“, V. 34). Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Bedeutung des Textes gerade in seiner Zweideutigkeit liegt. Diese schwankt zwischen dem Glorifizieren der Kriegstechnik, die sich in der schwärmerischen Phantasie des lyrischen Ich entfaltet, und der darauffolgenden unerwarteten Infragestellung („Ob teuer Opfer 40 41

Zit. nach M. Löschnigg (1994), S. 147. Vgl. F. T. Marinetti, „Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà.“ (1913), in: F. T. Marinetti (1968), S. 65–80.

188

Andrea Benedetti

schliesslich wert“, V. 10). Diese Infragestellung wird vor allem durch die Notwendigkeit bestätigt, sich – um in dem von Technik dominierten Krieg zu überleben – einem effizienten und funktionalen Willen zu unterwerfen, der zentralisierend und koordinierend wirkt („Die Zentralisierung des Willens ist die Kraft des Kommandeurs“, V. 32). Darüber hinaus wird sie durch die buchstäbliche „Auflösung“ des Individuums am Ende der Gedichts bekräftigt („Fetzen Fratzen Platzen“, V. 53).42 FAZIT Ausgehend vom Begriff der „dynamischen Rhythmik“ analysiert dieser Beitrag Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Gedichten August Stramms und Franz Richard Behrens’, denen das Thema Erster Weltkrieg zugrunde liegt. Eingeleitet wird die Untersuchung mit einer Reihe von Betrachtungen bezüglich der Erkenntnisund Sprachkrise, die im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vorherrschte. Im Anschluss fokussiert sie sich auf jene Konstellationen, die die zwei Dichter dazu veranlassen, zwei verschiedene Vorstellungen vom „lyrischen Rhythmus des Kampfes“ zu entwickeln, obwohl sie beide von einer intensiven Eigenschaft des deklamatorischen Stils ihrer Lyrik und deren Lautinhalt ausgehen. Bei Stramm stellt man einen ersten Versuch fest, eine syntaktische Zergliederung und den Wiederaufbau formaler Ordnungsgefüge durchzuführen. Thematisch entwickelt sich dieser Versuch im Sinne einer Lyrik, die „apokalyptische“ Züge und „kosmische“ Wiedergeburtsvorstellungen in sich trägt. Behrens nimmt das formale Konzept Stramms wieder auf und entwickelt es im Sinne eines noch abstrakteren „literarischen Konstruktivismus“, in dem der anfänglichen Reduktion der strukturellen und formalen Einheiten des Satzes eine Art spielerische „Re-Montage“ des Textes folgt.

42

Vgl. M. Günther (1994), S. 41–42, S. 179–182 und S. 184–185; K. Möser (1983), S. 155–156, und P. J. Vock (2006), S. 274–281.

RHYTHMUS IN MUSILS LITERAT UND LITERATUR Massimo Salgaro Wenn man in den veröffentlichten und unveröffentlichten Werken Musils1 nach dem Begriff des Rhythmus sucht, merkt man sofort, dass er den Rhythmusdiskurs seiner Zeit mitverfolgt hat. In den Tagebüchern äußert Musil sich mehrfach zum poetischen Denken Nietzsches und exzerpiert seine Texte zum Verhältnis von Rhythmus und lyrischer Inspiration.2 Nietzsches Begriff vom Rhythmus als rhetorisches Phänomen, das den Hörer/Leser körperlich affiziert, „im Tiefsten erschüttert und umwirft“ und seine Seele „reissen und überwältigen“ kann, hat Musils Verständnis nachhaltig beeinflusst. Seine Rezeption des Rhythmusdiskurses darf nicht verwundern, weil Musil nicht nur ein Nietzscheschüler, sondern direkt oder indirekt mit den Koryphäen der „Gründungsphase“ der deutschen Rhythmusforschung um 1900 verbunden war:3 Carl Stumpf war sein Doktorvater, er hatte seine Dissertation über Ernst Mach geschrieben, am Berliner Institut für Psychologie von Friedrich

1

2

3

Die Werke Robert Musils werden mit den folgenden Siglen abgekürzt: MoE = R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Adolf Frisé (Hrsg.), Gesammelte Werke I–V, Reinbek 1978; GW II = R. Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, in: Adolf Frisé (Hrsg.), Gesammelte Werke I–V, Reinbek 1978; Tb I + II = R. Musil, Tagebücher, hrsg. v. Adolf Frisé, Rowohlt, Reinbek 1975. KA = Robert Musil, Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino, Klagenfurt 2009 [DVD-ROM und 46-seitiges Beiheft]. Am 31. Mai 1902 zitiert Musil in seinem Tagebuch einen Passus aus Nietzsches Fröhliche Wissenschaft, in dem der Rhythmus als rhetorisches Mittel gelobt wird: „der Rhythmus drang in die Rede als eine Gewalt, die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heißt und den Gedanken neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht“ Tb I, S. 21. Am 13. Dezember 1911 zitiert er eine Passage aus Nietzsches Ecce homo, um seinen Inspirationsbegriff zu würdigen: „Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? […] Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern […] ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung“, ebd. S. 252. Musil ist am „Sthenisch-Manischen“ dieses Phänomens interessiert, das den Hörenden mit Leib und Seele erfasst. Vgl. dazu den Beitrag von Gabriella Pelloni in diesem Band. Vgl. A. Spitznagel, „Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung“, in: K. Müller, G. Aschersleben (Hgg.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern 2000, S. 3.

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Massimo Salgaro

Schumann studiert, die Arbeiten von Hugo Münsterberg und Kurt Koffka gelesen und exzerpiert.4 Mit Erich Moritz von Hornbostel war er zudem noch befreundet. Zwischen 1901 und 1903 schreibt Musil ein Gedicht, das um den Begriff des Rhythmus kreist, in dem es symptomatisch heißt: „der Rhythmus kam.“5 Sein Interesse wird aber am besten von einem essayistischen Fragment bezeugt, das Der Gelehrte. Der Rhythmus betitelt ist, in dem er kritisch die „Ablehnung der Wissenschaft durch die Dichter“ und „die Verachtung der Dichter durch die Wissenschaft“ beschreibt.6 Musil gibt sich mit dieser dichotomischen Aufteilung der Wissenszweige nicht zufrieden und sucht ein Drittes. Seines Erachtens ist auch die Kunst imstande, „Erklärungen“ zu liefern, „aber nicht um ein Ereignis durch seine sachliche Umgebung zu ersetzen“, sondern um ein „Ethos“, einen „Menschen“, „dieses Träumerische eines persönlichen Falls“ anzuregen. In diesem Zusammenhang wird die Virulenz und die Breite des Rhythmusbegriffes besonders deutlich: Wenn ein Professor und ein Dozent von Rhythmus sprechen: Der Professor sagt: Komplexqualität, Rhythmigomenon, phänomenale Repräsentation, Urteilstäuschung. Der Dozent sagt: Einheitsmoment, Gruppe, Perseveration, Bewußtseinslage, Akzent … Es ist noch lange nicht der lebendige Rhythmus, von dem sie sprechen, sondern ein abstraktes klopfgefingertes Etwas … aber sie haben damit Anschluß aneinander, auf das a des einen setzt der andere sein b und allmählich wird das ganze menschengebildähnlich. Eine geistige Sauberkeit herrscht dabei wie in einem Maschinenhaus. Und der Dichter steht beschämt in seinem eigenen Qualm, während sie den Rauch analysieren. Man muß nur einmal davon absehn, daß diese ganze Tätigkeit keinen Anschluß ans Leben hat, dann ist sie wundervoll. Schachmeisterschaft.7

Durch diesen Exkurs über den Rhythmus will Musil zugleich die Wissenschaftler und die Dichter kritisieren: Die Wissenschaftler hätten „Tatsachensinn“,8 seien aber nicht imstande, die Tatsachen zu verbinden und mit dem Leben und der Gefühlswelt in Kontakt zu bringen, während die Dichter ihre Begriffe in einem „dunklen Chaos“ generierten.9 Durch eine Kritik an den Experimenten zum Rhythmus von Kurt Koffka veranschaulicht er diese Sachlage.10 4 5

6 7 8 9

10

Vgl. KA, Mappe IV/3/49. „Die Lampe stinkt / an einem dünnen blauen Gürtel. / Es schweigt ein Atem/in dem steten Flackern / der Unbewegten. / Es stößt mich auf/im Rhythmus ungeborener Gedanken – / Halt ein! / An deinem blauen Gürtel! / Deinem so blauen Gürtel. / Da riß die erste seiner stinkenden Lampen … / Der Rhythmus kam. / Und seine blonden Haare / baten mich so beweglich / an ihrem blauen Gürtel“. Ebd. Heft 3/34. Ebd. Mappe IV/3/48. Musil stellt fest: „All u. Seele verträgt sich nicht mit Wage u. Rechenschieber“. Ebd. Ebd. Mappe IV/3/49. Musil entwirft hier ein poetologisches Programm: „Überlegen wir uns das Leben, bevor wir es schildern. Stellen wir intellektuell die höchsten Ansprüche daran“. Er zitiert u. a. Goethe, Hauptmann und Zola, die „Einzelfälle festgelegt – Tatsachen geschaffen“ haben und kommt zum Schluss: „Ziehen wir die Konklusionen aus ihnen, schaffen wir die Platform [sic!], indem wir zu diesen Einzelfällen die Generalisation suchen.“, ebd. Musil versucht in seinen Notizen die Kluft zwischen den subjektiven und gefühlhaften Bemerkungen der Versuchspersonen, die an Koffkas Experimenten teilgenommen haben und dem „objektive[n] Fundament der Rhythmisierung“ zu überbrücken. Es ist auch bemerkenswert, dass er an zwei Stellen versucht, die musikalischen Rhythmen graphisch zu transkribieren:

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Im Essayfragment Der Gelehrte. Der Rhythmus unterstreicht Musil auch die konzeptuelle Vagheit des Rhythmusbegriffes seiner Zeit. Deshalb hat er in seinen theoretischen Schriften versucht, einen präziseren Begriff des Rhythmus herauszukristallisieren, dessen Werdegang ich hier nachverfolgen möchte. Diese Begriffsbestimmung ist vor allem an Essays wie Form und Inhalt (1910), Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) und vor allem in Literat und Literatur (1931) nachvollziehbar. In diesen Schriften hat der Rhythmus die Funktion ästhetische Dichotomien, wie die zwischen Inhalt und Form oder Körper und Geist, zu sprengen, indem er dem Begriff der Gestalt gleichgestellt wird. In Literat und Literatur hat Musil außerdem Heinz Werners Studie Die Ursprünge der Lyrik (1924) behandelt, die eine Theorie zum Rhythmus in der primitiven Lyrik enthält. Form und Inhalt ist ein um 1910 entstandenes essayistisches Fragment, das als Vorarbeit zum Essay Literat und Literatur (1931) angesehen werden kann, da Musil hier dieselben Themen behandelt und einige Stellen wortwörtlich in der späteren Schrift wiederholt werden. Die Hauptthese dieses Aufsatzes ist, dass man Form und Inhalt nicht auseinanderhalten könne. Um diese These zu untermauern, zitiert Musil den Vers Goethes „Lichtlein schwimmen auf dem Strome, Kinder singen auf den Brücken“, zunächst in seiner ursprünglichen Fassung und dann in einer veränderten Variante: „Auf dem Strome schwimmen Lichtlein, auf den Brücken singen Kinder“. Laut Musil drücken beide Sätze den gleichen „Sachverhalt“ oder „intentionalen Gegenstand“ aus, suggerieren aber eine andere Vorstellung. In der Lyrik ist nämlich die Einheit von Form und Inhalt so eng, dass ihre Teilbarkeit nicht gerechtfertigt werden kann; beide sind „unselbstständige Gegenstände.“11 Im Kontext dieser Überlegungen treffen wir zum ersten Mal auf den Begriff des Rhythmus: Durch all die entsteht erst der „so geformte Gedanke“, den Blei den Gehalt schlechtweg nennt. Aber da unter ihm schon etwas liegt, das man in normaler Bedeutung Gedanke u Inhalt nennt, wird man für ihn einen andern Namen suchen müssen. Unschwer ist ferner zu bemerken, daß der „Gegenstand des Gedichts“ natürlich nicht der Sachverhalt ist, die Tatsache, daß Lichtlein auf dem Strome schwimmen und so weiter, sondern die „Stimmung“. Und dieser Gegenstand ist wirklich ein anderer nach der vorgenommenen Änderung. Die Einheit zwischen Gegenstand des Gedichts u Form ist also sehr eng, so daß auf eine Trennbarkeit aus diesem Beispiel kaum geschlossen werden kann. Ebenso ist es in dem Gedicht von Baudelaire, wo die Frau wirklich nur dadurch gekennzeichnet ist, daß man in diesem Rhythmus, mit dieser Bilderfolge usw. an sie denkt.12

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„Bemerkungen zu Koffka. Wenn man als Rhythmuserlebnis das akzeptiert, was die Versuchspersonen so bezeichnen, so untersucht man eigentlich nicht, was es ist. Das Urteil der Versuchsperson kann aus verschiedenen Gründen, verschieden fundiert abgegeben werden. Es wird hier ein ganz eigenartiges objektives Fundament der Rhythmisierung geboten. Nicht einfach /… / - …- Rhythmus und Musik, Rhythmus und Tanz hängen genetisch zusammen. Bei Zusammenhaltung mit dem Tanz wäre ein Einblick in die Gefühlsentstehung vielleicht möglich via: Eingebung und andere psychiatrische Feststellungen.“, ebd. GW II, S. 1303. Ebd. S. 1299. In einem späteren Briefentwurf an Franz Blei, der im Essay ausdrücklich zitiert wird, erklärt er wiederum diese Durchdringung von Form und Inhalt in der Lyrik, bei der auch der Rhythmus eine Rolle spielt: „Sie sagen: Dichtung ist ein Ineinander von Inhalt und Form. Das haben sie schon früher gesagt, als wenige daran dachten. Es ist eine beweisbare Wahrheit. Wenngleich man vielleicht mehr von der Form, als zunächst angenommen wird, durch Inhalt

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Die Form, zu der auch der Rhythmus gehört, fügt also dem Inhalt etwas Undefinierbares hinzu. Das Gedicht von Baudelaire, auf das Musil hier anspielt, kann nur mit dem eigenen Rhythmus bestehen, denn nur in dieser Form kann der Inhalt – d. h. die beschriebene Frau – gedacht werden. In der Kunst sind „Gedanken nicht rein Intellektuelles, sondern ein Intellektuelles verflochten mit Emotionalem.“13 Die literarische Sprache setzt sich somit auch von der wissenschaftlichen ab, weil in ersterer die Umschreibung, in letzterer die Beschreibung vorherrschend ist.14 Ein zweiter wichtiger Moment der Auseinandersetzung Musils mit dem Konzept des Rhythmus’ erfolgt im Aufsatz Ansätze zu neuer Ästhetik (1925), der mit einer Besprechung von Béla Balázs’ Filmtheorie ansetzt. Der Film sei wie jede Kunst eine Abspaltung des Lebens, d. h. eine Reduktion des Lebens in eine Form, die dennoch eine Illusion des Lebens erzeugt. Dieser für die Kunst typische Prozess ist eine Abstraktion, die in der Alltagssprache der Referent für eine kognitive Operation ist, bei der man sich in einem Ganzen nur auf einen Aspekt fokussiert.15 Durch Verdichtung und Verschiebung von Elementen der Wirklichkeit, die Musil in den Halluzinationsbildern, den primitiven Kulturen und der Magie beobachtet, werden Kunstobjekte mit einem hohen Affektwert aufgeladen.16 Dieser Prozess ist also zunächst eine Vereinfachung: Es liegt ja nahe, daß im allgemeinen, je eindrucksärmer ein der Wahrnehmung dargebotenes Material ist, desto deutlicher die darin enthaltenen Beziehungen hervortreten werden. Der Rhythmus wird am skandierten Vokal deutlicher, als am Wort und am deutlichsten am Klopfgeräusch, das zwar akustisch kompliziert, aber sozusagen seelisch einfach ist; ebenso treten an einer Statue die linearen und flächigen Zusammenhänge deutlicher hervor, als am lebenden Körper.17

Aber das ist nur der Anfang eines Prozesses, der durch eine Komplexitätssteigerung gekennzeichnet ist: Soweit Kunst Abstraktion ist, ist sie schon dadurch auch Zusammenfassung zu einem neuen Zusammenhang. Bleibt er auf die sinnliche Oberfläche des Lebens beschränkt, so entstehen jene Farb-, Flächen-, Klang-, Rhythmus- usw. Beziehungen, deren weitere Durchbildung dann im allgemeinen die formale Entwicklung einer Kunst bedeutet. Wieweit die entstehenden formalen Gebilde eigne Gefühle erregen (ein „Gefallen“ etwa), wieweit die vorhin angenom-

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superponieren könnte. Inhalt ist im Falle Rhythmus und Melos freilich nur gleich Wirkung. Assoziation. Darüber hinaus bleibt das, was am gesehenen Grün auf nichts mehr zurückführbar ist, das Lebendige, Spezifische (wie immer man es psychologisch genetisch oder historisch ableitet) und als drittes Element in aller Kunst eine gewisse Konvention. Ich werde davon noch sprechen müssen. Ich will nicht in die einigermaßen abgegrenzte Domäne der wissenschaftlichen Ästhetik einsteigen“, KA Mappe IV/3/87. GW II, S. 1301. Vgl. ebd. S. 1300. Vgl. ebd. S. 1139. In einer vorbereitenden Niederschrift zu Ansätze zu neuer Ästhetik unterstreicht Musil die Rolle des Rhythmus in der Reduktion, die neue formale Beziehungen hervorruft, z. B. der elementare optische Rhythmus (KA, Mappe IV/3/307). Der Rhythmus ist eine minimale formale Einheit, die Reaktionen auslöst: „z. B. der durch den Grad des Interesses oder andere Umstände mitbedingte Rhythmus einer Bilderfolge“; ebd. Diese minimalen ästhetischen Reaktionen sind weder subjektiv noch objektiv: „Eine bestimmte Gefühlstendenz haftet an einem Rhythmus“; ebd. GW II, S. 1139.

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menen Grunderlebnisse in sie einstrahlen oder beide Wirkungen sich untereinander und mit andren verbinden, mag beiseite bleiben: jedenfalls existiert die formale Seite, in der man so oft das Wesentliche der Kunst, das eigentliche Objekt der Ästhetik gesehen hat, niemals selbständig. Was von einem Gedicht nach Abzug der logischen Bedeutung übrig bleibt, ist bekanntlich ebenso ein Trümmerhaufen wie das, was von seinem Sinn übrig bleibt, wenn man den Vokalismus und Rhythmus mit einem alltäglichen vertauscht; ähnliches gilt in allen Künsten. Treten die formalen Beziehungen einer Kunst plötzlich isoliert hervor, so entsteht, wovon vorhin halb im Scherz die Rede war, jenes schreckhafte Staunen vor einer irrsinnigen Welt.18

Auch hier betont Musil wieder die Unteilbarkeit von Inhalt und Form. Der Rhythmus taucht zweimal als entscheidendes Element im Beziehungsgeflecht des Kunstobjektes auf. Erst die Kombinationen auf sinnlicher, formaler und logischer Ebene erregen die Gefühle und Emotionen der Kunstgenießenden. Einzig diese Verknüpfung erweckt die Magie der Kunst. Dieses Phänomen bewirkt, dass Elemente der Wirklichkeit im Kunstwerk zu einem unwirklichen Ganzen ergänzt werden, das Wirklichkeitswert usurpiert. Bekanntlich verdrängt die künstlerische Repräsentation die reale Wirklichkeit in der künstlerischen Rezeption. In der Kunst wird also eine „Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins“19 provoziert, das nur eine begrenzte Dauer hat. Dieser Prozess entwickelt sich wie folgt: Von Verdichtung und Verschiebung abgesehn, die beide einer vorzivilisatorischen Phase der Menschheit entspringen, zielen zum Beispiel Rhythmik und Monotonie, die eine so große Rolle spielen, auf eine Einengung des Bewußtseins, die der leichten Hypnose ähnlich ist, mit dem gleichen Ziel, die präsentierte Suggestion durch Herabdrücken der seelischen Umgebung überwertig zu machen. Ihre letzte Wurzel haben alle diese Mittel in sehr alten Kulturzuständen und insgesamt bedeuten sie eine außerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt und abnormale Mitbewegung, deren man übrigens in jedem Augenblick inne werden kann, wenn man, vertieft in ein Kunstwerk, plötzlich kontrollierendes Normalbewußtsein einschaltet.20

Die Mittel der Kunst, in denen der Rhythmus eine außerordentliche Rolle spielt, schaffen es also, den Menschen „in sehr alten Kulturzuständen“ von seinem Normalbewusstsein abzubringen und in den Zustand zu versetzen, den Musil „anderen Zustand“ nennt. Dieser andere Zustand bezeichnet ein anderes Verhalten zur Welt, das Musil dem Begriff der „Partizipation“ des Ethnologen Lévy-Bruhl gleichstellt. Während der Normalzustand vom mechanischen, kausalen und positiven Denken gekennzeichnet ist, erkennt man den anderen Zustand in der Liebe, der Religion und der Mystik, in dem Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und der anderen Menschen.21 Musil kritisiert Balázs und jene intellektuellen Bewegun18 19 20 21

Ebd. S. 1139–1140. Ebd. S. 1140. Ebd. S. 1141. Vgl. ebd. S. 1144. Vgl. auch die Beschreibung dazu: „Diesem Geisteszustand steht jedoch ein andrer gegenüber, der historisch nicht minder nachweisbar ist, wenn er sich auch unsrer Geschichte weniger stark aufgeprägt hat; er ist mit vielen Namen bezeichnet worden, die alle eine unklare Übereinstimmung tragen. Man hat ihn den Zustand der Liebe genannt, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist.“, ebd.

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gen seiner Zeit, die versuchen, den Menschen vom Verstand zu befreien, um ihm ein unmittelbares Verhältnis zur Schöpfung zu ermöglichen. Dieser Kampf gegen den Verstand ist unnütz, weil, laut Musil, nicht unser Verstand durch Begrifflichkeit vergittert ist, sondern schon unsere Sinne intellektuell sind.22 Damit bestreitet er allzu optimistische Befreiungsversuche von der „Formelhaftigkeit“ unserer Existenz. Für ihn ist nicht der Verstand, sondern der zur Erfahrung verkalkte Normalzustand der Widerpart des künstlerischen Erlebnisses.23 Somit erklärt er die Dichotomie zwischen Normal- und anderem Zustand als unauflöslich, obwohl der andere Zustand, außer in pathologischen Fällen, nie von Dauer ist. Musil glaubt auch nicht wie Balázs, dass das Medium des Films der Literatur überlegen sei, weil im visuellen Medium Form und Inhalt mehr verwoben seien als im begrifflich-schriftlichen Medium.24 Denn in dem von Musil besprochenen Buch schreibt Balázs: „Das ist auch etwas, wozu das Wort nicht fähig ist. Denn die Beschreibung eines Gefühlmoments hat immer eine andere Dauer als dieses selbst. Der Rhythmus unserer eigenen Bewegtheit muss in jeder literarischen Darstellung verlorengehen.“25 Hier berücksichtigt Balázs nicht, dass auch der Film nur eine Illusion der Kontinuität ist, und also nicht dem Originaltempo der Gefühle folgt. Musil überholt diese angeblichen Dichotomien, indem er durch den Begriff des Rhythmus eine Brücke zwischen Körper und Geist, Ratio und Emotion, sinnlichen und semantischen Aspekten des literarischen Werks bildet.26 Die Literatur ist für ihn nicht ein weniger sinnliches Medium als der Film, weil auch dort die begriffliche Ebene nur eine Ebene unter den anderen ist. 22 23

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Vgl. ebd. S. 1146. „Man kann im Gegensatz zu ihm noch weiter gehn und behaupten, daß jedes Kunstwerk nicht nur ein unmittelbares, sondern geradezu ein niemals gänzlich wiederholbares, nicht fixierbares, individuelles, ja anarchisches Erlebnis darbietet. Seine Einmaligkeit und Augenblicklichkeit nimmt es von allem bisher Gesagten aus, es hat überhaupt keine Tendenz, zur Erfahrung zu werden, es erstreckt sich in einer anderen Dimension“, ebd. S. 1151. Zu dieser Polemik siehe S. Werkmeister, Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900, München 2010, S. 331. B. Balázs, Der sichtbare Mensch, Frankfurt a. M. 2001, S. 46. In seinen Notizen bezeichnet Musil diese Dichotomien als „Scheinproblem“ und zählt sie auf: Wissenschaft – Religion / Ratio – Intuition / Materialismus – Geist“ (KA, Mappe IV/3/393). Im Gebrauch des Rhythmus in der primitiven Kunst findet er einen Ausweg aus diesen Kategorien: „Primitivste Art des Sicheinverleibens (durch das Gedächtnis). Man schluckt sie wie ein Wiederkäuer, baut sie gelegentlich ab. Man behält sie als ganzes, aus-wendig, das Seelische mit der Hülle. Romane behält man ganz anders. Hier ist das Erzählbare, die Handlung. Das einzige, was in dieser Richtung liegt. Rhythmus, Reim, Alliteration usw: Alte Medizinmänner und Zaubererlist. Ursprung des Wohlgefallens daran: Vielleicht Überraschung, seltsamer Schreck durch das plötzliche Hineingleiten eines Reimes. Das hat nun scheinbar mit einer ästhetischen Reaktion nichts zu tun. Aber Schönheit basiert gar nicht auf einer Zwangsreaktion, die immer eintritt. Auf einer spezifischen Reaktion nicht einmal. Schönheit ist ein freiwilliges Verhältnis wie Liebe; man muß suggestibel und disponiert sein. Und ebenso ist sie ein Sammelname für die verschiedenartigsten Reaktionen, die nur durch den äußeren Anlaß zusammengehalten werden. Das spezifisch Ästhetische liegt bloß in dem Charakter, der weder Wirklichkeit noch Täuschung ist. Der Schreck zum Beispiel vor einem vorgestellten Vorgang ist anders als vor einem wirklichen. Verhältnis des Aufnehmenden zum Werk als Kriterium […] Reim und Rhythmus als Atavismen.“, ebd.

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Literat und Literatur ist eine der letzten poetologischen Reflexionen von Robert Musil und erschien im September 1931 in der „Neuen Rundschau.“27 Sie war anfangs als eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Franz Blei gedacht, wird aber dann eine Verteidigungsschrift des Freundes, der von seinen Kritikern bezichtigt worden ist, ein Literat zu sein. Um seinen Freund zu verteidigen, dekonstruiert Musil den Originalitätsbegriff, indem er behauptet, dass der allgemeine und der persönliche Anteil eines Kunstwerks nicht zu trennen seien.28 Laut Musil wissen wir zu wenig von der Natur des Kunstwerkes: Dabei wissen wir jedoch nicht, was ein Gedicht überhaupt ist. Nicht einmal von der Außenzone der Wirkungen, die von den Begriffen Reim, Rhythmus und Strophe beherrscht wird, haben wir Kenntnisse, die unser Verhältnis zum Erlebnis erleichtern würden, geschweige daß wir viel von dessen innerem Wesen wüßten. 29

Noch mehr Ignoranz besteht Musil zufolge allerdings bezüglich der Wirkung der literarischen Werke, die u. a. vom Rhythmus beherrscht wird. Um erneut auf die Beziehung zwischen Form und Inhalt anzuspielen, bringt Musil an dieser Stelle wieder das Beispiel von Goethes Gedicht,30 das wir schon aus dem Essayfragment Inhalt und Form kennen: Eine bestimmte, von der gewöhnlichen abweichende Art der Vorstellungsverbindung: daß dies das Gedicht sei, es klingt nüchtern, aber es ist von allem, was uns augenblicklich weiterbringen könnte, vielleicht noch das Sicherste. Aus einer Vorstellung, die nicht schöner ist als Dutzende anderer, daß Kinder singend über eine Brücke gehn, unter der beleuchtete Boote und die Reflexe der Ufer schwimmen (ja noch in unermeßlichem Abstand von dem halbfertigen: Auf den Brücken singen Kinder, auf dem Strome schwimmen Lichtlein), formt Goethe durch einen umstellenden Griff zwei der zauberhaftesten Zeilen: „Lichtlein schwimmen auf dem Strome / Kinder singen auf den Brücken.“ Betrachtet man darin den Rhythmus, der sich ja auch mit den Fingern auf eine Tischplatte klopfen läßt, so hat er nicht viel mehr Bedeutung als eine untermalende Begleitung; das Lautbild, das auch fühlbar an dem veränderten Eindruck beteiligt ist, läßt sich trotzdem von diesem nicht loslösen und hat so wenig eine selbständige Qualität, wie eine Seite einer Figur eine hat.31

Die Durchdringung der verschiedenen Elemente des Gedichts, zu denen der Rhythmus gehört, bringen etwas hervor, ein Ganzes, das geheimnisvoll bleibt. Dieses Prinzip gilt nicht nur für das Kunstwerk, denn auch Worte gewinnen ihre Bedeutung aus dem Satz und auch der Satz aus dem Text, in dem er enthalten ist.

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Vgl. zur Genese dieses Aufsatzes S. Bonacchi Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils, Bern u. a. 1998, S. 261–274. Vgl. GW II, S. 1206: „[…] und die ganze schöne Literatur gleicht einem Zitatenteich“. Ebd. S. 1211. Musil unterstreicht in diesem Passus wiederum die ästhetische und qualitative Differenz zwischen einem Satz, der einen banalen Sachverhalt widergibt „Auf den Brücken singen Kinder, auf dem Strome schwimmen Lichtlein“ und Goethes Vers „Lichtlein schwimmen auf dem Strome / Kinder singen auf den Brücken.“ Musil nimmt hier einen „umstellenden Griff“ Goethes wahr, der nur schwer nachvollziehbar ist, weil im Grunde Goethes Vers, die SVO-Satzstellung respektiert. Er will damit nur den unlösbaren Zusammenhang zwischen Inhalt und Form im lyrischen Text unterstreichen. GW II, S. 1212.

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Massimo Salgaro Mit einer älteren Bezeichnung, die weiterhin mitgebraucht werden wird, läßt sich auch sagen, sie seien ein Ganzes, aber es muß hinzugefügt werden, daß sie kein summatives Ganzes sind, sondern in dem Augenblick, wo sie entstehen, eine besondere Qualität in die Welt setzen, die anders ist als die ihrer Elemente; und wahrscheinlich darf man dann sogar hinzufügen, was für die Folge wichtig wäre, daß das Ganze einen volleren geistigen Ausdruck vermittelt als die Elemente, die es begründen, denn eine Figur hat mehr Physiognomie als eine Linie, und eine Konfiguration von fünf Tönen sagt der Seele mehr als das amorphe Hintereinander dieser fünf. Dabei ist die wissenschaftliche Frage, wohin das Phänomen der Gestalt in der Stufung der psychologischen Begriffe gehöre, umstritten, und es stehen da sehr unterschiedliche Meinungen einander gegenüber; sicher ist jedoch, daß es dieses Phänomen gibt und daß wichtige Eigentümlichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, zum Beispiel Rhythmus und Sprachmelodie, den seinen ähnlich sind.32

Der wissenschaftliche Begriff, der diese Durchdringung von Elementen erklärt, ist der Begriff der Gestalt, der dafür zeugt, dass „aus dem Neben- oder Nacheinander sinnlich gegebener Elemente etwas entstehen kann, das sich nicht durch sie ausdrücken und ausmessen läßt.“33 Bekanntlich kam Musil schon während seiner Studienzeit in Berlin, zwischen 1903 und 1908, in Kontakt mit der Gestalttheorie und kannte deren wichtigste Vertreter persönlich. Laut dieser Theorie sind die Gestalten sowohl rational als irrational, weil sie sich klassifizieren lassen und vergleichbar sind, aber auch ein streng individuelles Element enthalten.34 Gestaltcharakter haben geometrische Formen, die Melodie, aber auch die Sprache und die Köpersprache. Für Musil hat auch die Kunst Gestaltcharakter und ist zum Teil „nichtratioïd“35, weil sie neben dem Inhalt und den herkömmlichen rhetorischen Mitteln, auch ungewisse und unbeschreibliche Elemente enthält, wie „den Rhythmus, die Gestalt, den Gang, das Physiognomische des Ganzen“; anhand des Beispiels eines Gedichts von Hugo von Hofmannsthal zeigt er, dass auch ein sinnloser Text schön sein kann.36 Ich möchte mich auf den letzten Paragraphen des Aufsatzes Literat und Literatur konzentrieren, den Musil „Abschluss“ betitelt hat.37 Hier betont Musil, dass die Studien der archaischen Riten gezeigt hätten, dass die Grundeigenschaften der Literatur seit jeher die gleichen geblieben sind.38 Diese archaischen Formen sind u. a. der Pleonasmus, die Wiederholung, die Aufteilung in Strophen und natürlich der Rhythmus. Das, was Musil an der antiken Lyrik interessiert, ist die Formversessenheit, durch die bestimmten Texten eine magische Funktion zugewiesen wurde. Die zeitlose Poesie drückt somit einen „Grundzusammenhang zwischen Form und 32 33 34 35 36

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Ebd. S. 1219. Ebd. S. 1218. Vgl. ebd. S. 1218. Ebd. S. 1214. Vgl. ebd. S. 1215. In Bücher und Literatur beschreibt Musil die Wirkung des literarischen Lesens und betont, wie das „Unbeschreibliche“ eines Werke auch vom Leser aufgenommen wird: „man bewahrt auch das Ungewisse und Unbeschreibliche der Werke – den Rhythmus, die Gestalt, den Gang, das Physiognomische des Ganzen – entweder eine Weile rein mimetisch, so wie man von eindrucksvollen Menschen nachahmend angesteckt wird, als innere Gebärde sozusagen, oder macht den Versuch es in Worte zu fassen“ Ebd. S. 1168. Vgl. ebd. S. 1222. Vgl. ebd. S. 1224.

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Inhalt“39 aus, der das Bewusstsein mit sich führt, dass jedes „Was ein Wie bedeutet“. Auch die moderne Poesie hat ein „Wie“ – d. h. die Formen, die seit weit entfernten Zeiten überliefert werden – und muss sich ein den Zeiten angemessenes „Was“ suchen.40 Wie zu den Zeiten von Orpheus müsste,41 laut Musil, ihr Ziel kein geringeres sein, als die Welt magisch zu verwandeln. Diese Art von „Urvers“ und „Urzauber“ erkennt Musil auch in der „rhythmischen Prosa“ Alfred Döblins, dessen Manas er rezensiert hat.42 Silvia Bonacchi43 dokumentiert sehr exakt die Quellen des anthropologischen Wissens, die Musil in diesem Schreiben verwertet. Eine Quelle ist das Manuskript eines Vortrags, das er von seinem Freund Erich von Hornbostel bekommen und zu dem er sich Notizen gemacht hat, die nun in Musils Nachlass unter der Signatur VI/3/6–10 aufbewahrt sind. In einer nicht veröffentlichten Version des Aufsatzes Literat und Literatur erkennt Musil diese Anleihen.44 Auch in der endgültigen Fassung steht „Ich verdanke es E. M. v. Hornbostel.“45 Aber die intellektuellen Schulden Musils sind nicht auf Hornbostel beschränkt. Auf der Seite VI/1/48 des Nachlasses verweist Musil auf eine Rezension von Hornbostel von Heinz Werners Text Die Ursprünge der Lyrik. Eine entwicklungspsychologische Untersuchung.46 Dies ist die einzige Stelle, wo Werner espressis verbis in den Schriften Musils vor-

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Ebd. S. 1224. Vgl. Ebd. S. 1225. Vgl. ebd. S. 1225. In der Rezension behauptet Musil: „Und da kann man, glaube ich wohl, daran erinnern, daß diese geheime Übereinstimmung zwischen Lautbild und bezeichnetem Gegenstand zum Urzauber der Sprache gehört, ebenso wie die Beeinflussung der Atemkurve und das Geheimnis der ungleichen Wiederholung zu Rhythmus und Reim gehören. Denn nebenbei bemerkt, wir achten etwas zu sehr auf den Gleichklang und das Gleichmaß in diesen; ihre Wirkung ruht aber ebenso sehr auf dem Ungleichen, dem nur ungefähr Übereinstimmenden, der nicht identischen, sondern bloß analogen akustischen Wiederholung, in merkwürdiger Übereinstimmung mit dem Umstand, daß die inhaltliche Analogie, der Vergleich, die Ineinssetzung nur teilweise gleicher Vorstellungen die Hauptmittel des bildhaften, gedichthaften und dichterischen Denkens sind, im Unterschied vom genauen Denken des Wissens. In unseren guten Versen ist das alles schon sehr abgeschliffen, aber was Döblin schreibt, ist eine Art Urvers, roh und leidenschaftlich, dabei eine ganz unstabile, fortwährende Mischung und Entmischung, und wieder wie zum erstenmal aus dem Gefüge der Prosa hervorgezaubert. Diese Leistung ist so gewagt wie gelungen, so außerordentlich wie überraschend.“, ebd. S. 1679–1680. Vgl. S. Bonacchi (1998), S. 292. Vgl. KA Mappe VI/3/116: „Es liegt dem ein Vortrag zugrunde, den E. v. Hornbostel in einer Berliner Gesellschaft gehalten hat; das Manuskript ist mir durch die Liebenswürdigkeit des Verfassers zugänglich gemacht worden, und die Übereinstimmung ist ebenso erwünscht wie ungewollt gewesen.“ GW II, S. 1224. Im Nachlaß finden wir auf Seite KA Mappe VI/1/148 eine Abschrift des Anfangs der Rezension von Hornbostel die in: Psychologische Forschung 7 (19269 erschienen war. Musil kommentiert anschließend: „Im gleichen Bd. eine instruktive Rezension von Hornbostel über Werner Heinz: Die Ursprünge der Lyrik, Eine entwicklungspsycholog. Untersuchung. München, Ernst Reinhardt 1924 (243 S.) Ist I Bd. einer Entwicklungspsychologie der Künste. Der Abschnitt Die Ursprünge der Metapher ist in erweiterter Form schon Lpzg. 1919 erschienen.“

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kommt.47 Silvia Bonacchi unterstreicht mehrmals den Einfluss von Heinz Werner auf Musils Aufsatz, ohne diese These mit Beweisen zu unterstützen.48 Es ist unmöglich zu erweisen, ob Musil das Buch von Werner gelesen hat, es könnte sich eher um eine Rezeption zweiten Grades handeln. Sicher wurde er von den Ideen Werners, die im Referat von Hornbostel enthalten sind, stimuliert, weil er sie in seinem eigenen Aufsatz verarbeitet hat. Werners Die Ursprünge der Lyrik ist eine evolutionsästhetische Studie, die eine eigene Theorie des Rhythmus’ enthält. Die Analogien zum Aufsatz von Musil sind mehrere; beide glauben nämlich, dass die Poesie durch eine Dominanz des emotionalen gefühlsmäßigen und subjektiven Inhalts gekennzeichnet sei.49 Dieses Vorherrschen der Gefühle und Emotionen gegenüber der Rationalität interessiert Musil, weil er versucht, das Denken gegenüber den Aposteln des Irrationellen zu schützen. Er glaubt nicht, dass die Gefühle und subjektiven Ereignisse in der primitiven Lyrik das total Andere sind, weil die Gesetze der Sinngebung im Gedicht: „von denen des realen Denkens abweichen, ohne die Berührung mit ihnen zu verlieren.“50 Die Sprache ist für den Primitiven nicht nur eine Gelegenheit, um die eigene Innenwelt auszudrücken, weil sie für ihn auch in der Lage ist, Geschehnisse zu fördern oder herbeizuführen. Der Primitive unterscheide nicht zwischen Wirklichkeit, Traum und Leben.51 Wie schon Lucien Lévy-Bruhl, den sowohl Musil als auch 47

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Musil hat also sicher die Rezension von Hornbostel gelesen, die in Psychologische Forschung enthalten ist. Darin lobt Hornbostel die Fülle an Material der Studie von Werner, der sowohl der Psychologie als auch der Kulturwissenschaft verpflichtet sein werde (S. 398). Aufgabe des ersten müsste es sein, die Konstanten der menschlichen Evolution zu analysieren, während der Historiker dessen Geschichte aufzeichnen müsste (S. 399). Hornbostel kommentiert einige Phänomene, die Werner in der primitiven Lyrik hervorhebt, wie das der „Brechung“, wonach das letzte Wort eines Verses im folgenden Vers wiederholt wird, nach dem Schema ab-bc-cd. Dieses Schema ist in antiken lyrischen Formen in China, Australien, Afrika und Indien nachgewiesen worden, kennzeichnet aber auch die europäische Volksdichtung. Hornbostel beobachtet, dass Werner ein antagonistisches Verhältnis zwischen Sinn und Reim behauptet (S. 400). Laut Hornbostel entsteht ein Gedicht mit Sinn, indem man in einem Gedicht ursprünglich ohne Sinn Wörter mit Sinn einschiebt oder indem man sinnvolle Gedichte mit Reim versieht. Nur diese zweite Hypothese ist für ihn nachgewiesen worden. Er kritisiert auch die Unterscheidung von Werner zwischen magisch und „Außer- oder Prämagisch“ (S. 401). Für die Primitiven sei alles Magie; die Lyrik sei ein Behelf zur Erlangung der ersehnten Wirklichkeit, man kann nicht unterscheiden, wo der Wunsch aufhört und wo der Vorbildzauber anfängt. Nur mit der Überwindung des primitiven Denkens könne man zwischen Heiligem und Profanem, Magischem und Außermagischem unterscheiden. Hornbostel beendet seine Rezension mit zwei technischen Desiderata: im Buch von Werner fehlt ein Inhaltsverzeichnis und in den Fussnoten fehlt der Verweis auf den Namen der Autoren, was die Lektüre erleichtern würde. S. Bonacchi (1998), S. 293 unterstreicht richtigerweise, dass die Rezension Hornbostels von Werners Die Ursprünge der Lyrik zum Ideenkomplex von Literat und Literatur beiträgt. Vgl. H. Werner, Die Ursprünge der Lyrik. Eine entwicklungspychologische Untersuchung, New York, London 1971, S. 7: „Ein weiteres, für die allerprimitivste Lyrik jedenfalls in hohem Grade geltendes Charakteristikum, ist die Vorherrschaft der zuständlichen oder subjektiven Momente im lyrischen Ausdruck. Diese Vorherrschaft äußert sich in einem bedeutenden motorischen und gefühlsmäßigen Inhalt, in einem Zurücktreten des Gegenständlich-Logischen“. GW II, S. 1215. Vgl. H. Werner (1971), S. 27.

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Werner rezipiert haben, behauptet hat, habe der Primitive ein anderes Verhältnis zu seiner Umwelt.52 Das Wort hat in der primitiven Kultur eine magische Wirkung, weil sie „ein auf Herstellung gerichteter Vorgang“53 ist. Auch in Musils Aufsatz finden wir das Beispiel der Formel, die den Regen herbeiführen soll und die im Text von Werner genannt wird,54 um die Wichtigkeit der Form in den magischen Riten hervorzuheben: Nun sind diese alten Tanzgesänge aber Anweisungen, um das Naturgeschehen in Gang zu halten und die Götter zu bewegen, und ihr Inhalt sagt das, was zu diesem Zweck gemacht werden muß, während ihre Form genau und der Reihenfolge nach bestimmt, wie es gemacht werden muß. Ihre Form ist also durch den Verlauf des Geschehens gegeben, das ihr Inhalt ist, und bekanntlich werden Formfehler heute noch wegen ihrer vermeintlichen Folgen ängstlich gescheut.55

Auch Werner unterstreicht den „Formalismus“56 der primitiven Völker, wonach die Bedeutung der Form die des Inhalts übertrifft. Im Fall der magischen Wunschformeln können die alten Formeln mit neuen Inhalten gefüllt werden.57 Die Angst vor Formfehlern der Primitiven beschreibt Werner wie folgt: So ist die strenge und bewußte Rücksichtsnahme auf das Formale innerhalb der zauberischen Praxis eine unumgänglich nötige: von der formalen Art der Wiedergabe der Zeremonien, der Gesänge, der Sprüche, von der genauen Einhaltung der übernommenen und erprobten Formeln hängt der Erfolg des Zaubers ab; jede Außerachtlassung kann die bösartigsten Folgen haben. Darum entwickelt sich in der Ausbildung der Formel die besondere Intention auf das Formale: in der Bewußtheit der Anwendung dieser oder jener Gestalt, dieses oder jenes Stiles liegt die Drehung des Lyrikers vom bloßen Gehalt zum bedeutenden Ausdruck begründet, wie sie später in der rein ästhetischen Einstellung nochmals und radikal als eine immanent künstlerische sich vollzieht.58

Diese Formeln haben Gestaltcharakter, in denen der Rhythmus eine besondere Facette der Gestalt ausmacht.59 Der Rhythmus ist für Heinz Werner sowohl eine „gegliederte Gestalt“, denn die betonten und unbetonten Teile seien noch erkennbar, als auch eine „zentrierte“, denn die betonten Teile überträfen die unbetonten. Der Rhythmus sei ein Ausfluss innerer Bewegtheit, in der man nicht zwischen Zustand und Ausdruck unterscheiden könne.60 In Werners Perspektive hat der Rhythmus in 52 53 54 55 56 57

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Vgl. „Ansätze zu neuer Ästhetik“, in: KA, Mappe IV/3/307. GW II, S.1224. Vgl. H. Werner (1971), S. 38. GW II, S.1224. KA, Mappe VI/3/6: „Formalismus der Urkulturen, Formfehler sind Sachfehler u. darum gefährlich“. Vgl. H. Werner (1971), S. 38. In KA, Mappe IV/3/6 zeichnet Musil auf: „Gedichte der alten Kulturvölker haben strengen Aufbau und Form. Sie werden gesungen u. getanzt. Man trennt gewöhnlich Inhalt u. Form, weil es feststehende überlieferte Formen gibt in die verschiedener Inhalt gegossen werden kann, u. vergißt, dann daß die leere Form gar nicht geschaffen werden kann. Gewöhnliche Anschauung: Man kann demselben Inhalt die verschiedensten Formen geben. Es ist Material die Form, mehr oder minder materialgerecht. Es wird in Form aufgebracht. Nur der Inhalt hat Sinn. Die Form ist Aufputz. Die Verbindung in weitem Maß beliebig“. Ebd. S. 37–38. Vgl. ebd. S. 114. Vgl. ebd. S. 120.

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der primitiven Kultur eine soziale Bedeutung, weil er die Bewegungen synchronisiert: Er diene dazu, starke Affekte zu dämmen, den Affekt in motorischer Form auszuleben und die „unrhythmischen“61 Affektäußerungen zu vermeiden. Diese Definition entspricht durchwegs den gegenwärtigen Rhythmusauffassungen.62 Im letzten Zitat schafft Werner selbst den Brückenschlag zwischen primitiver und moderner Lyrik, wie ihn später auch Musil vornehmen wird. Die primitive Lyrik ist für beide durch Affekt gekennzeichnet.63 Es handelt sich dabei um ein Denken, das dem rationalen zum Teil entgegengesetzt ist und in dem emotionale, spielerische, kindische Zustände und motorische Aktivität vorherrschend sind.64 Es ist dies der Fall bei Ritualtänzen oder der Lyrik ohne Sinn,65 wie Musil am Fall von Hofmannsthal aufgezeigt hat. Sogar das Problem der Originalität, von dem Musil ausgegangen war, wird in der primitiven Mentalität anders gehandhabt und findet in Werners Studie einen Stützpunkt. Die Kunst der Primitiven ist nämlich für Werner ein Gemeinschaftsprodukt:66 Die [primitiven poetischen Gestalten] sind durchweg an andere Wirklichkeiten gebunden, so an die Natur der Dingwelt, so an das Ich des Schaffenden. Poesie ist z. B. – wie in primitivster Sphäre der lyrische Ausbruch – Teil der Gemütsbewegung des Schöpfers. Oder sie ist andererseits, in höherer Sphäre, von einer durchaus dinglichen Konsistenz, sie hat ihre eigentümliche „scheinwirkliche“ Beschaffenheit noch nicht erreicht: das Lied kann wie ein Natur- oder Zweckprodukt dinglicher Art behandelt werden, es wird verkauft und gekauft wie ein Gegenstand, es hat seinen Besitzer.67

Werner beobachtet, dass für den Primitiven die Eigenschaften der Objekte nicht etwas Statisches und im Objekt eingeschlossen sind, sondern eine dynamische Kraft, die auf die Umgebung ausstrahlt. Diese unsichtbare Energie wird von Werner „Pneumatismus“ genannt.

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Ebd. S. 117. „Indem der Rhythmus Gemeinschaften durch Freisetzung, Übertragung, Zirkulation und Austausch von Energie entstehen lässt und nicht durch Verpflichtung auf gemeinsame Ideen, Ideologien, Glauben, Überzeugungen, Werte, Vorstellungen, Haltungen etc., ermöglicht er den Beteiligten, Gemeinschaften als geteilte Erfahrung in ihrer Dynamik leiblich zu spüren und zu erleben. Zugleich wird damit Gemeinschaft als ein Phänomen ausgewiesen, das seiner spezifischen Verfasstheit nach immer nur vorübergehend zu existieren vermag, dass andauernd und stabile Gemeinschaften kaum denkbar sind“. Erika Fischer-Lichte, „Rhythmus als Organisationsprinzip von Aufführungen“, in C. Brüstle, N. Ghattas, C. Risi, S. Schouten (Hgg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005, S. 246. Vgl. GW II, S.1213. Vgl. H. Werner (1971), S. 23. Vgl. ebd. S. 8. Vgl. GW II, S.1224: „Sogar die heikle Bedeutung der Originalität besitzt ihr Gegenstück, denn solche Gesänge und Tänze gehören oft einem einzelnen oder einer Gemeinschaft, werden als Geheimnis gehütet und teuer verkauft.“. Vgl. KA, Mappe VI/3/7: „Originalität: Der indische Raga […] ist Eigentum des Meisters u. seiner Schule. Tiergesänge, Indianergesänge, die einer Tiergesellschaft oder einem einzelnen gehören, dürfen nur von diesen gesungen werden oder werden auch teuer verkauft. Die Stammestänze der Papua werden als Geheimnis gehütet.“ H. Werner (1971), S. 8.

Rhythmus in Musils Literat und Literatur

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Im Aufsatz Literat und Literatur taucht abrupt der Terminus „Vorbildzauber“68 auf, ohne erklärt zu werden. Auch diesen Begriff hat Musil sozusagen aus zweiter Hand. Wahrscheinlich hat ihn Hornbostel in seinem Manuskript zitiert und sich dabei auf Werner gestützt, der ihn in Verbindung zum „Pneumatismus“ gesetzt hatte: Der Höhepunkt praktischer Ausnützung des Pneumatismus liegt im Vorbildzauber. Es ist besonders der Glaube an die Anziehungsfähigkeit verwandter Pneumen und an der Übertragbarkeit magischer Substanzen die Grundlage vorbildhafter Nachahmung. Zur Erlangung irgendeines Dinges oder Herbeiführung irgendeines Ereignisses ist es nur nötig, das in der Form ähnliche darzustellen, um damit das gewünschte Objekt magisch herbeizubeschwören. Die Jägervölker der ganzen Erde glauben so an die Wirkung des Zaubers, der darin besteht, daß durch die Vorführung von Tänzen, welche das Leben und Treiben der Jagdtiere behandeln, diese magisch beeinflußt werden.69

Das Pneuma ist nicht nur in Objekten enthalten, sondern auch in Worten. Deshalb weigern sich die Primitiven, den Namen von Verstorbenen auszusprechen, aus Angst vor deren Zauberwirkung. Heinz Werner spricht von einem Tabu des Eigennamens.70 Auch diesen Aspekt greift Musil in seinen Notizen zum Manuskript von Hornbostel auf.71 Um durch die Sprache auf die Umgebung einwirken zu können, müssen die Primitiven skrupulös auf die Form achten. Diese Unterscheidung von Musil entspricht wiederum der von Werner zwischen dem „Wie-etwas-sein“ und „So-sein“.72 Das „Wie“ entspricht für die Primitiven dem „Was“, d. h. dem Inhalt der Mitteilung, weil schon die Form das Pneuma enthält. Das „Sosein“ ist hingegen typisch für das konzeptuelle Denken, in der das analoge Denken der Primitiven verschwindet. Auch für Werner hat die Form gestalthaften Charakter.73 Sowohl Musil als auch Werner unterstreichen das performative Element der primitiven Lyrik: In Werners Darstellung hat der Rhythmus eine magische Bedeutung74 und ist als „Tabuform der Bewegung“ befähigt, besondere Gegebenheiten zu beschreiben oder anzusprechen. Er ist magisch, weil er ein privilegiertes Mittel ist um Suggestion auszulösen.75 Da die primitive Lyrik vor allem eine affektmotorische Grundlage hat, ist in ihr der Rhythmus besonders wichtig. Ihm zuliebe kann man mit dem Textmaterial äußerst willkürlich umgehen, z. B. Satzteile weglassen

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GW II, S.1224. H. Werner (1971), S. 46–47. Vgl. ebd. S. 57: „Da aber nach Auffassung der Primitiven im Namen bereits der Pneuma seines Trägers enthalten ist, scheut man sich auch, den Namen des Toten auszusprechen. Dieses Namentabu ist ebenfalls ein Schutz des Individuums gegenüber der gefährlichen Ausstrahlung des Toten […] kann es auch Schutz der Pneuma enthaltenden höheren Wesen selbst sein“. Vgl. KA, Mappe IV/3/7: „Name des Seher Sängers, früher der des Heilbringers oder der Gottheit die den Kult instituiert hat (nur die Gottheit der es gilt). Im Namen liegt die Kraft des ersten Schöpfers. Ist entwicklungsgeschichtlich der Kern u. Keim des Ganzen u. der Mittelpunkt der Zauberhandlung“. H. Werner (1971), S. 49. Vgl. ebd. S. 114; GW II, S. 1219. Vgl. ebd. S. 129. Vgl. ebd. S. 131.

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oder verändern.76 Man kann in der primitiven Lyrik beobachten, wie Rhythmus sich der Sprachbedeutung anpasst, etwa durch freie Rhythmen, oder umgekehrt.77 Rhythmus ist z. B. in der Brechung erkennbar, in der die letzten Silben eines Verses am Anfang des nächsten Verses wiederholt werden.78 Die Begriffe von Werner und Hornbostel verhelfen Musil dazu, seinen poetologischen Theorien eine anthropologische Verankerung zu geben. Wie wir gesehen haben, pendelt die künstlerische Gestalt , zu der auch der Rythmus gehört, zwischen Inhalt und Form, Subjekt und Objekt, aber auch zwischen Körper und Geist. Für Musil haben „Rhythmus und Musik etwas Leibliches“,79 wie wir auch im folgenden Zitat nachlesen können: Und gerade diese eigentümliche Stellung zwischen Körperlichkeit und Geist zeigen auch Gestalt und Form. Ob man ein paar ausdrucksvolle geometrische Linien ansieht oder die vieldeutige Ruhe eines alten ägyptischen Antlitzes: was da als Form aus dem stofflich Gegebenen gleichsam hervordrängt, ist nicht mehr bloß sinnlicher Eindruck, und es ist noch nicht Inhalt deutlicher Begriffe. Man möchte sagen: es ist nicht ganz geistig gewordenes Körperliches, und es scheint, daß eben dieses das Seelenerregende ist, denn sowohl die elementaren Erlebnisse der Empfindung und Wahrnehmung wie auch die abstrakten Erlebnisse des reinen Denkens schalten das Seelische durch ihre Bindung an die Außenwelt beinahe aus. In der gleichen Weise haben auch Rhythmus und Melodie zweifellos Anspruch, für etwas Geistiges zu gelten, aber sie haben daneben noch etwas unmittelbar den Körper Angreifendes.80

Es ist auffällig, dass der Rhythmus in der Sekundärliteratur zu Musil bisher unbeachtet geblieben ist: Er stellt nämlich eine Schnittstelle dar, eine Differenz, die die Hauptbegriffe seiner Poetik in ihren Grenzbereichen in Kontakt bringt. Genau diese Nahtstelle, aus der das Werk schon mit seinem Effekt auf den Rezipienten gedacht wird, macht die Flüchtigkeit und das Ätherische des Rhythmus’ aus.

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Vgl. ebd. S. 104. Vgl. ebd. S. 152. Vgl. ebd. S. 97. Vgl. KA, Mappe VI/3/18: Dort macht sich Musil Notizen zur Kunsttheorie, die dann in Literat und Literatur ausgedrückt wird. Dabei versucht er die Dichotomien von rational/irrational, Körperliches/Geistiges aufzuheben: „Der Schauspieler verleiblicht wieder das Wort. Sinn der Aufführung. Keine andere. Form ist: nicht ganz geistig gewordenes Körperliches. Mimetik Tanz, Gesang Schauspiel. Man versteht ein Gedicht, ohne das sagen zu können […] Es ist das, das man „Gefühl“ nennt. Rhythmus, Musik haben etwas Leibliches. Aber immer die Kontrolle durch das Diskursive nötig richtig ist, so die Gebiete zu scheiden, denn aus rein rationalen Gedanken kann man kein Gedicht machen oder es ist lächerlich. D. h. doch auch: Gedicht ist Gefühl. Gedicht ist geistig=sinnliches Erlebnis. Eine Einmaligkeit. Darum irrational. Das versteht man auch unter dem Erlebnischarakter der Schönheit. Erlebnisse sind irrational, sie lassen sich aber in Teilen rationalisieren“. GW II, S.1222.

UMBRUCHSRHYTHMEN JAZZMUSIK IN DEN ROMANEN DER WEIMARER REPUBLIK Michele Vangi Als Hans Janowitz in seinem 1927 erschienenen Roman Jazz Spekulationen aufstellt, worüber ein europäischer Chronist im Jahr 1999 über die Zeit um 1925 schreiben würde, beginnt er mit einer Aufzählung von Aspekten, die die 20er Jahre am besten charakterisieren: „Es war die Zeit des Bubikopfes“, es war die Zeit des „kurzen Rockes“, der „fleischfarbenen Strümpfe […] es war die Zeit, da die Radiowellen, in wachsendem Andrang, täglich dichter und dichter den Erdball umspülten“. Auch die geopolitische Kluft, die sich – etwa ein Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution – zwischen der sowjetischen Welt einerseits und dem verarmten Europa und dem „vergoldeten“ Amerika andererseits aufgetan hatte, wird als Markenzeichen dieser Epoche erwähnt. Diese Dissonanz zwischen Ost und West klang grell durch alles Leben der Erde, ja, es war die Zeit eben dieser grellen Dissonanz, aufgewühlter Kontraste, es war die Zeit der wilden Kindereien, Schattenentwürfe nur der tragischen Verwilderungen, die noch bevorstanden, es war die Zeit der wilden Freude an wilder Lausbüberei, an wildem Unfug im Ordnungsbereich, kurz: das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz […].1

Wie keine andere Musik scheint der Jazz ein Spiegelbild seiner Zeit zu sein; einer Zeit, die von den Zeitgenossen als eine Epoche der politischen Umbrüche, der sozialen Kontraste und der plötzlichen Sittenveränderungen erlebt wird. Janowitz’ Roman ist nicht der einzige, der Jazz als Hauptmotiv hat oder sich sogar im Titel auf Jazzmusik bezieht: Vicki Baums Stud. Chem. Helene Willfüer (1925), Hermann Hesses Steppenwolf (1927), Bruno Franks Politische Novelle (1928), René Schickeles Symphonie für Jazz (1929); Klaus Manns Mephisto (1936). Bis auf den von Klaus Mann stammen all diese beispielhaft gewählten Romane aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre, die als erste goldene Zeit der Jazzmusik im deutschsprachigen Raum gilt. In diesen Jahren avancierte Berlin durch die Auftritte amerikanischer Big-Bands in Cafés, Bars und Tanzpalästen zum Zentrum der deutschen Jazzszene.2 Die hybride Andersartigkeit des Jazz wird in den 20er Jahren zwar teils auf seine afrikanischen Wurzeln teils auf seine US-amerikanische Modernität zurückgeführt; diese Andersartigkeit – soweit die These, die meinen Überlegungen zugrunde liegt – ist jedoch Teil eines genuin europäischen Diskurses, der dem Rhyth1 2

H. Janowitz, Jazz, Bonn 1999, S. 6–7. Vgl. C. Bohländer, Jazz: Geschichte und Rhythmus, Mainz 1960, S. 63–67 und M. A. Weiner, „Urwaldmusik and the Borders of German Identity: Jazz in Literature of the Weimar Republic Author(s)“, The German Quarterly 64/4 (1991), S. 475–487.

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mus in der Literatur sowie in der Philosophie und den Sozialwissenschaften eine neue mythopoietische und gegen die Krise wirkende Funktion zuschreibt.3 Die neuartige Musik findet vor allem inhaltlich Niederschlag in den Jazzromanen der Zeit der Weimarer Republik: Jazz ist ein attraktives literarisches Motiv, weil er symbolisch für neue soziale Dynamiken und Umbrüche steht. Eine stilistische Adaption von Jazzharmonien und -rhythmen ist hingegen seltener festzustellen.4 In der vorliegenden Untersuchung wird die literarische Aneignung des Jazz anhand von Beispielen aus den erwähnten Romanen nachgezeichnet. Es soll sowohl auf die inhaltliche als auch auf die stilistische Funktion, die dem Jazz zukommt, eingegangen werden. Darüber hinaus wird die Hypothese formuliert, dass es einen dritten – genuin literarischen – Weg gibt, über den der Jazz Eingang in die Prosa findet. EXPERIMENTE Im anfangs zitierten – und in brillant avantgardistischem Stil geschriebenen – Roman Jazz behauptet Hans Janowitz „den Gesetzen der Jazzmusik“ gefolgt zu sein.5 Was konnte jedoch der deutsch-böhmische Co-Autor des Drehbuchs vom Cabinet des Dr. Caligari und Mitglied des Kabaretts Wilde Bühne (1921–1923) in Berlin der neuen Musik für seine „Romanpartitur“ abgewinnen?6 Jenseits der sich häufig wiederholenden Erklärungen des Autors, dass „dieses Buch kein Roman üblichen Schlags wird, und dass „andere Gesetze […] über diesem Buche, sowie über einer Jazzpièce andere Gesetze […] als über einer Sonate für Klavier und Geige“ walten,7 bleibt eine literarische Transposition von für Jazz typischen Darbietungsformen wie der Improvisation oder rhythmischen Kennzeichen wie der Synkope für den Leser schwer erkennbar. Janowitz’ Versuch scheint eher in einer rhythmischen Modulierung der Handlungsmotive zu bestehen: Er beansprucht zum Beispiel das Recht eines Jazz-Romans „mitten in der Wiederholung eines Motivs leise auszuklingen und einfach zu Ende zu sein.“8 Diese Schlussbildung, die der Autor für den Jazz als charakteristisch empfindet, besteht in einem „Nachspiel“ des Saxophons. Nach einer Passage, in der die Geschichte einer Jazzband durch einen mysteriösen Frauenmord in eine Katastrophe übergeht, wird beispielsweise dem Saxophon ein Abschlusssolo gewährt: Die Handlung wird aus der Perspektive des charismatischen Saxophonisten Henry 3 4 5 6 7 8

Zur mythopoetischen Funktion des Rhythmus um 1900 vgl. die Einführung zu diesem Band. Vgl. I. Breuer: „‚Make a jazz noise here‘. Jazzgeschichte(n) in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – eine Skizze“, in: Zagreber Germanistische Beiträge 20 (2011), S. 59–72. H. Janowitz (1999), S. 112. Janowitz kehrte bereits 1924 im Folge der Inflation nach Böhmen zurück. Vgl. ebd. S. 128– 129. Ebd. S. 25. Ebd. S. 112.

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nacherzählt und dies geschieht durch ein Gespräch zwischen Henry und dem Mörder. Der Dialog spielt sich in einer melancholischen und finsteren Atmosphäre ab, zu der die für den Autor typische Klangfarbe des Jazz-Instruments beiträgt: „Katzenjammer und Galgenhumor, die beiden Elemente der zeitgenössischen Geselligkeitsformen, teilte der Saxophonklang dem Tanzparkett mit.“9 Der narrative Rhythmuswechsel in dieser Romanpartie besteht im Übergang von einer in rasantem Tempo erzählten kollektiven Handlung, an der alle BandMitglieder beteiligt sind, zu einem Erzählstrang, der durch eine einzige Stimme unter Abschweifungen langsam fortschreitet: gleichsam vom wilden Big-BandSound zu einer einsamen Saxophonmelodie. Es ist ganz offensichtlich, dass Janowitz eine Parallelität zwischen der harmonischen und rhythmischen Struktur eines Jazzstücks und dem Verlauf der Handlungsmotive herzustellen versucht, wobei die Hauptfiguren die Jazz-Performer selbst sind, die auffälligerweise die gleichen Charaktereigenschaften wie ihre Instrumente aufweisen. Auch der elsässische Autor René Schickele, der aus dem literarischen Milieu des Expressionismus stammt – er war von 1915 bis 1919 Herausgeber der weißen Blätter –, setzt sich Ende der 20er Jahre literarisch mit dem Jazzmotiv auseinander, indem er das Hadern des Komponisten John van Maray mit dem Projekt einer Symphonie für Jazz beschreibt. Van Maray sucht in einer schwedischen Stadt am Meer einen kreativen Zufluchtsort, in dem er sich – weit entfernt von seiner in Berlin zurückgelassenen Geliebten, der Sängerin Johanna – auf seine Jazz-Symphonie konzentrieren kann. In den ersten Romankapiteln stellt die Nordsee mit ihrer Atmosphäre und mit ihrem zyklischen Rhythmus die Geräuschkulisse dar, die es musikalisch umzusetzen gilt. Die Schrift wagt, eine Verbindung zwischen Meer und Jazz herzustellen: Dabei mischt sich eine traditionelle Meereslandschaftsmetaphorik mit – avantgardistisch anmutenden – lautmalerischen Elementen: Die ganze Nacht hat es geregnet. Wie eine Mühle ging der Regen in der Finsternis, die Traufe macht dazu den rauhen, kurzpulsigen Lärm des Motors: raduwalu, raduwalu […] Sie machten mir Mut, die Möwen! Sie passten zu meiner Musik. Ich schrieb die ersten Seiten meiner Symphonie. Noch beim Abendkonzert sah ich sie fliegen, nämlich im Spiel der Jazzband, sah sie bei der purzelnden, stoßenden, wider einander drängenden Arbeit an ihrem Stück Seeglanz.10

Sowohl Metaphern als auch Lautmalereien tauchen in unterschiedlichen Variationen im Laufe des Romans auf, so dass der Eindruck entsteht, dass der Autor eine musikalische Prosa komponiert; es bleibt jedoch die Frage offen, worin das „Jazzige“ an dieser „Musik“ bestehen soll.

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Ebd. S. 108. R. Schickele, Symphonie für Jazz, Hamburg 2012, S. 7 und S. 41.

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Stilistische Transpositionsexperimente wie Hans Janowitz’ und René Schickeles Romane bleiben vereinzelte Fälle in der literarischen Landschaft der späten Weimarer Republik: Jazz gilt oft als unspezifisch konnotiertes musikalisches Ambiente des Andersseins, genauer des „anders sein Wollens“, in einem Jahrzehnt großer Krisen, weshalb Jazz in den Romanen und den Erzählungen der 20er Jahre als Projektionsfläche unterschiedlicher und sogar miteinander in Kontrast stehender Tendenzen dient.11 TANZERLEBNIS Die soziale Brisanz dieser neuen Musik liegt in ihrer leicht zugänglichen Natur. In den 20er Jahren wurde Jazz in Europa überwiegend als leicht konsumfähige Tanzmusik wahrgenommen: als Foxtrott, Charleston oder Shimmy. Sein kommerzieller Charakter darf aber nicht dazu führen, den Jazz als reine Unterhaltungsmusik herabzusetzen. Eben darin liegt beispielsweise die Ursache von Theodor Adornos Kritik am Jazz, die sich bereits in seinen Aufsätzen der 1930er Jahre abzeichnet.12 Gerade aufgrund ihrer Tanzbarkeit erlebte das Publikum die neuen Rhythmen als Ganzkörpererfahrung gleichsam hautnah: Diese neue Ganzkörpererfahrung verbreitete sich durch die Auftritte diverser musikalischer Gruppierungen in den verrauchten und überfüllten Tanzsalons Europas als eine Art kollektiver Rausch, der den Hype-Charakter der Discomusic oder gar der Techno-Raves des späten 20. Jahrhunderts zu antizipieren scheint: Ein neuer Tanz, ein Foxtrott, eroberte sich in jenem Winter die Welt, mit dem Titel „Yearning“. Diser Yearning wurde einmal ums andere gespielt und immer neu begehrt, alle waren wie von ihm durchtränkt und berauscht, alle summten wir seine Melodie mit. Ich tanzte ununterbrochen, mit jeder Frau, die mir eben in den Weg lief […]. Und als Pablo mich so strahlen sah, mich, den er immer als einen sehr beklagenswerten armen Teufel angesehen hatte, da blitzen seine Augen mich glückselig an, er stand begeistert von seinem Orchesterstuhl auf, stieß heftig in sein Horn, stieg auf den Stuhl, stand oben und blies mit vollen Backen und wiegte sich und sein Instrument dazu wild und selig im Takt des Yearning, und ich und meine Tänzerin warfen ihm Kußhände zu und sangen laut mit.13

Dieses Tanzerlebnis ist Teil der langen Beschreibung des Maskenballs in Hermann Hesses Steppenwolf: Wie bei einem Initiationsritual erlebt der fünfzigjährige Harry Haller zum ersten Mal in seinem Leben die Freude der Selbstvergessenheit durch das Eintauchen in eine tanzende Menschenmasse. Die Tanzmusik spielt zwar eine zentrale Rolle bei dem Lebenswandel des Protagonisten, wird jedoch in seiner mu11 12

13

Vgl. M. A. Weiner (1991), zum Begriff der „Otherness“ von Jazzmusik vgl. S. 482–483. Vgl. Th. W. Adorno, „Abschied vom Jazz“, in: Europäische Revue, 9 (1933), S. 313–16, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 15, S. 795–9; Ders., „Über Jazz“, [pseud. Hektor Rottweiler], Zeitschrift für Sozialforschung 5/2 (1937), in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1982, Bd. 18, S. 70–100. Von Adornos Argumentationsstrategie wird später noch die Rede sein. H. Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt a. M. 2012, S. 261–262.

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sikalischen Neuartigkeit kaum wahrgenommen: Bei diesem wilden Fest wird beispielsweise neben „Neger-“ auch „Bauernmusik“ gespielt. Der Jazztanz wird in Hesses Roman in erster Linie als erotisches Körpererlebnis dargestellt. Bereits beim ersten Treffen mit der sinnlichen Hermine, wird das Tanzen quasi zum Hauptinstrument einer Umerziehungstherapie, der sich der unglückliche Geistesmensch Harry anfangs widerwillig, dann mit immer wachsender Leidenschaft unterzieht, als er versteht, dass er zum Tanzen Fähigkeiten mitbringen muss, die er sein Leben lang vernachlässigt hat: „Fröhlichkeit, Unschuld, Leichtsinn, Schwung.“14 Zu dieser Education Sentimentale, die die vitalistische Wiederentdeckung seines Körpers in erster Linie durch die modernen afro-amerikanischen Tänze beinhaltet, bekennt sich Harry allerdings nicht durch eine bewusste Entscheidung, er wird vielmehr regelrecht in Hermines Bann gezogen. Die Nachahmung der Tanzschritte und -bewegungen, die sich beim Protagonisten des Steppenwolf durch Aussetzen der Willenskraft quasi automatisch vollzieht, ist symptomatisch für die Konjunktur, die der Begriff der „rhythmischen Ansteckung“ im deutschsprachigen Raum um 1900 hat. In seiner Studie Arbeit und Rhythmus erhellt beispielsweise der Arbeitssoziologe Karl Bücher den tiefen Zusammenhang, der bei „primitiven“ Gesellschaften zwischen Arbeit, Musik und Spiel bestehe und auf dem „gemeinsamen Merkmal des Rhythmus“ beruhe. Dieser Zusammenhang kommt am augenfälligsten beim Tanzen zum Vorschein, bei dem die „Naturvölker“ eine mühelose Ausführung der Arbeit gleichsam spielerisch üben. Sie fügen sich einem natürlichen Rhythmus der Bewegung, dem ein „automatischer Charakter“ zugrunde liege, der „an Stelle der vom Willen geleiteten […] Bewegung gesetzt wird“.15 Dieser als angenehm empfundene Automatismus treibt den Tanzenden zur lustvollen Wiederholung der Bewegung. Büchers Interesse an menschlichen Interaktionsprozessen führt ihn dazu, die modernen Arbeitsabläufe auf anthropologische Konstanten zurückzuführen, die die künstliche Differenzierung zwischen „Kultur“ und „Natur“ aufheben. Zu diesen Konstanten gehört die „Faszination und Irritation eines vorbegrifflichen Übertragungsgeschehen“16 beim Tanzen. Einen ähnlichen kulturkritischen Ansatz verfolgt auch Friedrich Nietzsche, für den bereits in der Antike ein Zusammenhang zwischen Musik, Tanz und Poesie besteht. In der Fröhlichen Wissenschaft erkennt Nietzsche in der rituellen Zusammenführung der musischen Künste auf der Basis einer einheitlichen rhythmischen Struktur eine heilsame Wirkung, die sich ähnlich wie bei Bücher nur durch das Aussetzen der Rationalität vollziehen kann.17 Vor dem Hintergrund dieses Drangs nach Emanzipierung vom vernunftgesteuerten zugunsten eines rhythmusgesteuerten Körpers wird die kulturkritische Prägnanz von Hesses Motiv des Jazztanzes im Steppenwolf besser verständlich. 14 15 16 17

Ebd. S. 188. K. Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig und Berlin 1909, S. 22. M. Neumann, „Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte“, Zeitschrift für Kulturphilosophie 7 (2013), S. 15–28, hier S. 17. F. Nietzsche, „Vom Ursprung der Poesie“, in: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd 2, München 1988, S. 441.

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Das Tanzen kehrt auf paradoxe Weise die abendländische Wertehierarchie um – Hermine hält den depressiven Harry für „viel zu wenig verrückt.“18 Letztlich entfaltet der Tanz eine heilsame Wirkung auf den Protagonisten. Mit seinem neuen Körpergefühl gelangt Harry zu der Erkenntnis, dass der „geistige Deutsche“ im Grunde „von einer Sprache ohne Worte träumt“,19 die eine Distanzierung von einer „logozentrischen“ Tradition ermöglicht. Die neue Musik fördert nicht nur die Umkehrung abendländischer Wertkategorien wie „krank“ und „gesund“ mittels der Semantik einer unaufhaltsamen Ansteckung; auch die Infragestellung traditioneller Vorstellungen im erotischen Spiel geschieht „zum Tanzschritt des Jazz.“ Bei Harrys Verhältnis zu Hermine geht das Aussetzen seiner Willenskraft mit der dominanten Rolle der Frau einher. Hermine präsentiert sich zuerst als mütterliche Instanz, die Harry befehlend und zugleich fürsorglich den Weg zu einer unbeschwerten Existenz zeigt, bei der er sich auf „ursprüngliche“ Handlungen wie Essen, Trinken und Tanzen zurückbesinnen soll.20 Obwohl diese einseitige Existenz selbst Hermine gar nicht heilsam, sondern als eskapistische Reaktion auf eine Krisenzeit vorkommt,21 bleibt sie in der erotischen Beziehung stets dominant, indem sie dazu neigt, die Männerrolle zu besetzen. Verkleidet als Harrys Jugendfreund Hermann strahlt sie beim Maskenball hermaphroditischen Zauber aus und, indem sie Harry an die vorpubertäre Liebe erinnert, verweist sie auf die totale Dimension einer erotischen Leidenschaft, welche die Verfestigung von Geschlechterrollen noch nicht kennt.22 Die Entfesselung einer hemmungslosen Erotik ist zweifelsohne mit der Sittenrevolution, die die Mode sowie die Jazztänze in den zwanziger Jahren in Europa provozierten, in Verbindung zu bringen. Plastisch beschreibt Janowitz die neue Sichtbarkeit des Frauenkörpers als ein Geschenk Gottes: Ich weiß […], dass die Röcke damals mit einem Male bis zur Kniegrenze emporzuckten, im Tanze sogar eine lüsterne Idee weit noch darüber, und bei Tag und Nacht strahlten die Mädchenbeine in der fleischfarbenen Illusion der Nacktheit, von hauchdünnen Strümpfen umspannt, die der liebe Gott eigens erfunden zu haben schien, um die Verluste des Weltkrieges die Menschheit endlich je eher je lieber einbringen zu lassen.23

Es bleibt aber nicht nur bei dieser optischen Steigerung des Frauenreizes aus der männlichen Perspektive; es setzt sich sogar eine aktive Rolle der Frau als Verführerin durch, so dass der Schritt von Jazz zu Sadomasochismus nicht mehr weit ist. Während Hesse das Enthemmtsein, das das Tanzen verkörpert, nur andeutet, wird der Jazz bei Klaus Manns Mephisto zur rhythmischen Kulisse eines sadomasochistischen Verhältnisses stilisiert, das auch aufgrund der halbafrikanischen Herkunft der weiblichen Figur zu einem makabren Urwaldritual überzeichnet wird: 18 19 20 21 22 23

H. Hesse (2012), 142. Ebd. S. 211. Vgl. ebd. S. 139 f. „Die Führer arbeiten stramm und erfolgreich auf den nächsten Krieg los, wir anderen tanzen unterdessen Foxtrott, verdienen Geld und essen Pralinés – in einer solchen Zeit muss ja die Welt recht bescheiden aussehen.“, ebd. S. 235. Ebd. S. 257–258. H. Janowitz (1999), S. 7.

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Die Schwarze [Juliette Martens] machte sich am Grammophon zu schaffen. In die Jazzmusik hinein, deren rhythmischer Lärm plötzlich einsetzte, sagte sie rau: „Fang schon an!“ Dabei fleischte sie die beiden Reihen ihrer gar zu weißen Zähne und bewegte grimmig die Augen […]. Ihr Gesicht stand vor ihm wie die schreckliche Maske eines fremden Gottes: Dieser thront mitten im Urwald, an verborgener Stelle, und was er fordert mit seinem Zähneblecken und Augenrollen, das sind Menschenopfer.24

„AFRO-JAZZ“ In Klaus Manns satirischem Fresko des NSDAP-Regimes fungiert die afro-amerikanische Musik als ambivalente Nebenerscheinung der morbiden Untergangstimmung, die über die Figurenkonstellation um den Schauspieler Hendrik Höfgen herrscht: Die farbige Stepp-Tänzerin Juliette Martens übt einen Reiz auf Höfgen aus, weil sie „stark und rein“ ist;25 Außerdem lässt die direkte Anspielung auf Jéanne Duval – die „schwarze Venus“ von Baudelaires Fleurs du Mal – das Jazzmotiv in der Tradition der europäischen Décadence verorten. Das Element der „Farbigkeit“, die in der damaligen Zeit magisch berauschend, körperlich anziehend und moralisch transgressiv wirkte, findet sich häufig in der literarischen Darstellung des Jazz in den Romanen der Weimarer Zeit. Im Gegensatz zum späteren Mephisto wirkt in ihnen das – meist erotisch konnotierte – afrikanische Faszinosum des Jazz zwar befremdend; es wird aber meistens als ein Gegenpol zur Dekadenz der europäischen Kultur empfunden. Im Steppenwolf bescheinigt Haller der „Urwaldmusik“ trotzt ihrer Rohheit eine Aufrichtigkeit, die der überformten europäischen Kultur fehlt: Natürlich war sie [die Jazzmusik], mit Bach und Mozart und wirklicher Musik verglichen, eine Schweinerei – aber das war all unsre Kunst, als unser Denken, all unsre Scheinkultur, sobald man sie mit wirklicher Kultur verglich. Und diese Musik hatte den Vorzug einer großen Aufrichtigkeit, einer liebenswerten unverlogenen Negerhaftigkeit.26

Das Aufprallen „neu-uralter“ Rhythmen auf die „gesittete“ alteuropäische Welt ist untrennbar von den Live-Performances charismatischer farbiger Musiker oder Tänzerinnen, die – oft trotz ihrer nicht genuin afrikanischen Herkunft – als afrikanisch wahrgenommen werden. Diese Begegnung mit der afrikanischen Alterität kann literarisch unterschiedlich inszeniert werden. In Vicki Baums Roman Stud. Chem. Helene Willfüer findet ein improvisiertes Jazzkonzert bei einer sommerlichen Studentenfeier ekstatischen Zuspruch der Jugendlichen: Ein schwarzer Teufel saß mit weißem Lachen am Klavier und zog brünstige Marionetten im Saale auf und ab; die Lichter kreisten, die Wände kreisten […] und dann war nur noch der Negerrhythmus da, der alles verhexte. […] Es war am Ende nur ein Urklang, der Umwege verschmähte und direkt zum Blut sprach […].27 24 25 26 27

K. Mann, Mephisto. Roman einer Karriere, Berlin 1956, S. 72. Ebd. S. 75. H. Hesse (2012), S. 60–61. V. Baum, Stud. Chem. Helene Willfüer, Berlin 1928, S. 86.

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Im Bruno Franks Politische Novelle verführt die Sängerin und Tänzerin Becky Floyd – deren Auftritt deutlich auf die schwarze weltberühmte Sex-Ikone der 20er Jahre Josephine Baker anspielt – ein Publikum ehrwürdiger Politiker und Millionäre in einem Lokal an der Côte d’Azur. Ihr funkschnell streifender Blick ersah sich untrüglich die Ältesten, Unmöglichsten, alle die durch ein Luxusleben im Gold und im Fleisch entstellten Greise. Keiner entzog sich; es war ein seltsames klassisch gewordenes Opfer der Würde […] Der Saal vibrierte und genoss. Alle die Blasierten, nicht zu Bewegenden, hier fanden sie die geheime Lust der Unterwerfung.28

In beiden Fällen wird der Reiz des „Schwarzen Geschlechts“ – wie es Frank bewusst zweideutig nennt – zelebriert: Wie beim bereits beschriebenen Tanzerlebnis steckt hier der Zauber des Rhythmus die Zuschauer an. In der Beschreibung der sadomasochistischen Unterwerfung des Publikums ist eine kulturkritische Note unüberhörbar: Bei Becky Floyds Darbietung unterliegt die weiße Gesellschaft sehnsuchtsvoll „dem scharfen Reiz der Rasse von übermorgen.“29 Auch in die Dichotomie zwischen der als kurz vor der Auflösung empfundenen europäischen Zivilisation und der als vital und jung empfundenen schwarzen Kultur fließen Kulturkonzepte, die um 1900 Zukunftsvisionen mit dem Mythos einer Rückkehr zu einem natürlicheren Lebensrhythmus verquicken. Bei Philosophen wie Ludwig Klages wird beispielsweise der Rhythmus zum Angelpunkt einer fortschrittskritischen Kulturtheorie, indem er den Rhythmus, im Gegensatz zum vom rationalen „Gesetz des Geistes“ erzwungenen Takt, mit dem „Puls des Weltgeschehens“ assoziiert, der sich in zyklischen Naturphänomenen wie Mondphasen oder Ebbe und Flut äußert. In Der Geist als Widersacher der Seele, das 1929 in seiner endgültigen Form erscheint, schildert Klages die Möglichkeit einer Harmonisierung von „Seele“ und „Welt“: „Soweit nun Seelen und Welt nicht Opposita, sondern Pole sind […] durchbricht der Rhythmus der Landschaft nicht, sondern krönt ihn mit Erinnerungsmale der Ewigkeit alles Wirken wie Unterlassen des Menschen.“30 Der „Rhythmus der Landschaft“ sei jedoch durch die „entsetzlichen Verheerungen“, die die Bewohner der Erde heutzutage verantworten, in großer Gefahr. Als Paradebeispiel wird „die völlige Vernichtung der Landschaft“ und die „Niedermetzelung nahezu aller Indianerstämme“31 durch die Amerikaner erwähnt. Obwohl Klages sich nie direkt auf die afro-amerikanischen Rhythmen bezieht, zeigt sein Plädoyer für eine nachhaltige rhythmische Harmonie zwischen Menschen und Natur und sein ausgeprägtes Interesse für die „Naturvölker“, wie der Primitivismus nicht nur in den bildenden Künsten und in der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften stark präsent war: Auch dadurch wird der Akzentuierung des afrikanischen Ur-Kerns der Jazzmusik im literarischen Diskurs der 20er Jahre ein „ideologisches“ Fundament geboten. 28 29 30 31

B. Frank, Politische Novelle, Stuttgart 1951, S. 37. Ebd. S. 34. L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Berlin 1981, S. 1209. Ebd. S. 1211.

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GROSSSTADTMUSIK UND AMERIKANISMUS Im literarischen Diskurs der 20er und der 30er Jahre wird nicht nur sein afrikanischer Charakter wahrgenommen: Nicht (oder nicht nur) der Naturrhythmus der Urwaldklänge, sondern auch der Sound einer hoch technisierten Gesellschaft ist in den Aufführungen der Bigbands wiederzuerkennen. Der Jazz gilt als US-amerikanisches Kulturartefakt und steht – wie Kurt Weill 1926 schreibt – sinnbildlich für „die Amerikanisierung unseres ganzen äußeren Lebens, die sich langsam aber sicher vollzieht […].“32 In Georg Simmels breit rezipierter Philosophie des Geldes liegt die Ursache eines kognitiv-sinnlichen Paradigmenwechsels in der rasant wachsenden Urbanisierung und Industrialisierung. Die Mechanisierung der Arbeitsprozesse und die Beschleunigung des Alltags beinhalten den Verlust des individuellen Rhythmus, der das Leben im vorindustriellen Zeitalter charakterisiert hatte; das daraus resultierende anonymisierte Tempo zwinge den Einzelnen zur Anpassung und führe zur „Abstumpfung des Gefühls für den Rhythmus.“33 Die Nivellierung eines individuellen Rhythmus bedeutet allerdings nicht unbedingt die Abwesenheit jeglichen Rhythmus, obwohl die Steigerung des Lärmpegels in den Großstädten auch zur Verfassung von Kampfschriften und sozialen Mobilisierungskampagnen gegen den Lärm führte.34 Neue rhythmische Patterns sind im Betrieb der technischen Apparate sowie in den urbanen Straßengeräuschen erkennbar und dies scheint für viele europäische Intellektuelle den Reiz des Amerikanischen im Jazz auszumachen: Die akustische Umwelt hat sich außerordentlich verändert. Man bedenke allein die Straßengeräusche der modernen Stadt. Ein amerikanischer Unterhaltungsfilm zeigte in einer Szene, wo der Tänzer Astaire zu den Geräuschen einer Maschinenhalle steppte, die verblüffende Verwandtschaft zwischen den neuen Geräuschen und dem Jazz mit seinem Stepprhythmus. Der Jazz bedeutete ein breites Einfließen volkstümlicher Elemente in die neuere Musik, was immer aus ihm in unserer Warenwelt dann gemacht wurde.35

Diese Überlegungen Bertolt Brechts datieren auf 1939 und reflektieren sein tiefes Interesse für das Medium Musik, das seine Poetik bereits in seinem ersten aufgeführten Stück Trommeln in der Nacht (1922) und in seinem jugendlichen lyrischen Schaffen kennzeichnet. Alexander Honold zeigt auf, wie aufgeschlossen Brecht – lange vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten – dem amerikanischen way of life gegenüber steht. Dabei beschreibt Honold, wie „zwischen dem experimentierfreudigen B. B. der zwanziger Jahre und der Jazzmusik […] eine Konjunktur im Wortsinne besteht, 32 33 34 35

K. Weill, „Tanzmusik“, in: Ders., Musik und Theater. Gesammelte Schriften. Mit einer Auswahl von Gesprächen und Interviews, hrsg. von S. Hinton und J. Schebera, Berlin 1990, S. 212–214. G. Simmel, Philosophie des Geldes, Reprint der Ausgabe von 1920, Köln 2001, S. 559. Dies zeigt sich bei der umtriebigen Tätigkeit des Philosophen Theodor Lessing, vgl. D. Morat, „Der Rhythmus der Großstadt um 1900“, Zeitschrift für Kulturphilosophie 7 (2013), S. 28–38, hier S. 34–35. B. Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst 2, in: Ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M. 1967, Bd 19, S. 402.

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eine beidseits produktive temporäre Verbindung.“36 Dies ist nicht nur durch Brechts umfangreiche Jazz-Plattensammlung, durch seinen Berliner Besuch der Revue Nègre oder selbst durch Songs wie Mac the Knife in der Dreigroschenoper belegbar: Techniken wie Improvisation und pastiche-artige Hybridisierung fremder Elemente in seinem Theater sowie rhythmische Zäsuren und Umstellungen in der metrischen Struktur seiner Lyrik sind symptomatisch für Brechts Affinität zur Medienästhetik der neuen Musik. Die „Konsumfähigkeit“ des Jazz hindert Brecht nicht daran, seinen innovativen Charakter („was immer aus ihm in unserer Warenwelt dann gemacht wurde“) und seinen Beitrag zur kulturellen Emanzipierung der Afroamerikaner zu erkennen. Brechts Einstellung steht Theodor W. Adornos beinahe zeitgleiche Kritik des Jazz gegenüber: Dem Musikwissenschaftler erscheint das aus Amerika importierte Musikgenre weder ästhetisch innovativ noch sozial emanzipatorisch. In seinen Essays der 30er Jahre wird das Innovative der Jazzmusik systematisch depotenziert.37 Jazz sei weder rhythmisch noch instrumentell ein Novum. Für den Jazz typische rhythmische Elemente – wie die Synkope und der „Scheintakt“ – betrachtet Adorno als nicht neuartig: Die Synkope komme schon in der Klassik (etwa bei Brahms) vor; der Scheintakt stelle die alte Symmetrie des Vierteltaktes nicht in Frage. In Bezug auf die Instrumente waren Innovationen wie die Dominanz des Saxophons schon bei Komponisten wie Bizet vorhanden. Auf Grund seines Tanzcharakters sei der Jazz außerdem absolut konsumfähig, obwohl er durch seine Dissonanzen zugleich als „fortgeschritten, modern und arriviert“ empfunden wird. In Wirklichkeit zeige sich das „Allerfremdeste“ beim Bürgertum als das „Allervertrauteste, solange es sich als unbewusst und ‚vital‘ gibt“;38 sein mondäner Charakter gebe zudem den unterdrückten Schichten die Illusion, sich mit dem kultivierten Publikum der Oberschicht solidarisieren zu können: In dieser pseudodemokratischen Attitüde sieht Adorno im Jazz Parallelen zu faschistischen Ideologien, die über in der Gesellschaft vorhandene Klassendifferenzen hinweg täuschen. In Wirklichkeit ist der Jazz laut Adorno in all seinen Facetten ein Massenprodukt der Musikindustrie: von Komposition über Arrangement bis hin zu Vertrieb und Rezeption: Wie immer es in einer kommenden Ordnung der Dinge mit Kunst sich verhalten mag; ob ihr Autonomie und Dinglichkeit wird erhalten bleiben oder nicht […] so viel jedenfalls ist gewiss, dass die Gebrauchsfähigkeit des Jazz die Entfremdung nicht aufhebt, sondern verstärkt.39 36 37 38 39

A. Honold, „Synkopen in der Nacht. Brecht und der Jazz“, in: J. Vogt, A. Stephan (Hgg.), Das Amerika der Autoren, München 2007, S. 133–148, hier S. 136. Vgl. J. Bradford Robinson, „The jazz essays of Theodor Adorno: some thoughts on jazz reception in Weimar Germany“, Popular Music 13/1 (1994), S. 1–25. Vgl. Th. W. Adorno (1984), 796 f. Th. W. Adorno (1982), S. 77. In den 50er Jahren gesteht Adorno den endgültigen „Siegeszug“ der Jazzmusik in der ganzen Welt ein. Dabei zeigt er im Vergleich zu den 30er Jahren eine differenziertere Kenntnis der Jazzmusik: Adorno ist sich nun der Komplexität und der Heterogenität dieser Musikform bewusst. Er bleibt jedoch bei seiner früheren Kritik: Der rebellische Charakter des Jazz, der auch die europäische Rezeption der Nachkriegszeit charakterisiert, sei verlogen. Jazz bleibt eine mystifizierende Kunst, ein reines Instrument der Unterhaltungsindustrie. Vgl. Ders., „Zeitlose Mode“, in: Prismen und Gesammelte Schriften, X/l, Frankfurt a. M.

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HYBRIDITÄT Diese zum Teil gegensätzlichen Wahrnehmungen des Jazz in der deutschen Literatur sind auf seine intrinsische Hybridität zurückzuführen, die auch Blues- und SoulMusik charakterisiert. In einer multiethnischen und durch Zwangsmigration geprägten Gesellschaft in den Südstaaten entstanden, wandert der Jazz nach Europa, in einer Zeit, die eine Welle der Re-Nationalisierung auch in der Musik erlebte. Er kann sich jedoch als eine sich stets im Wandel befindende globale Sprache behaupten.40 Als hybrid kann man jedoch auch die europäische Rezeption des Jazz bezeichnen: Jazz war in der geopolitisch isolierten Weimarer Republik ein Sammelbegriff, der nicht nur Foxtrott, Charleston, Shimmy sowie Big-Bang- oder Hot-Sound einschloss; als „jazzig“ oder jazzaffin galt auch das Repertoire der kontinentalen Tradition: wie die der Militär- und der Radaukapelle oder der Wiener Salonorchester, sodass es beispielsweise nicht überrascht, dass der Protagonist von Ernst Kreneks Jazzoper Jonny spielt auf ein Geiger ist.41 Diese Hybridität erklärt, warum Jazz zum Signum zum Teil gegensätzlicher kultureller Stimmungen und Empfindungen wird: Zum einen bringt das triebhaftafrikanische Element die blasierte europäische Sensibilität wieder mit einem Naturrhythmus, der je nach Darstellung als dekadent oder palingenetisch empfunden werden kann, in Verbindung. Zum anderen kann Jazz als Massenprodukt der Dissonanz bzw. des äußeren Taktes – wie Klages ihn bezeichnen würde – gelten, der das Leben in einer technisierten Gesellschaft wie der US-amerikanischen determiniert. Im Gegensatz zu vielen polarisierenden Rhythmus-Theorien um 1900, die den Jazz entweder der Natur oder der Kultur zuschreiben, stellt man häufig – wie am Beispiel Hermann Hesses gezeigt wurde – in den Romanen der 20er und der 30er Jahre eine Kopräsenz beider Aspekte, die mit der hybriden Natur dieser Musik zusammenhängt, fest. ZÄSUR UND RHYTHMUSWECHSEL In den literarischen Konkretionen des Jazz wird abwechselnd seine amerikanische und seine afrikanische Identität akzentuiert. In beiden Fällen scheint diese Musik eine post-europäische Ära einzuläuten. Obwohl wie gezeigt das Pathos des Fremden bzw. des Neuartigen zu Lasten einer Vertiefung des rhythmischen und harmonischen Spezifikum des Jazz geht, taucht die Darstellung eines radikalen Umbruchs in vielen der erwähnten Romanen aus der Zeit der Weimarer Republik auf.

40 41

1977, S. 123–37 und „Für und wider den Jazz“ in: Prismen und Gesammelte Schriften, X/2 Frankfurt a. M. 1977, S. 805–809. Vgl. A. Honold (2007), S. 136. Vgl. J. Bradford Robinson (1994), S. 4–7.

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Wenn auch die Musik in der Sprache nicht immer onomatopoetisch nachgeahmt wird, wird dieser Umbruch durch Zäsuren im Erzählrhythmus signalisiert, denen ein abrupter und überraschender Rhythmuswechsel folgt. Bei dem bereits erwähnten Studentenfest, das Vicki Baum in ihrem Stud. Chem. Helene Willfüer beschreibt, vollzieht sich ein solcher Umbruch durch den Auftritt eines farbigen Musikers, der im bürgerlichen Ambiente, in dem ein friedliches Amateurorchester Tango spielt, zunächst deplatziert wirkt: Himmel! Was begann nun diese schwarze Samson für eine Musik. Sofort schlug er einen Rhythmus aus dem alten Klimperkasten, der wie Pfeffer und Salz ins Blut ging. Es regnete Synkopen, es trommelte Bässe, es pfiff im Diskant, es schrie Urwaldlaute in die bürgerliche Glasveranda. Plötzlich dann schmolz alles hin, wurde ganz nackt, hatte Heimweh, stöhnte vor Liebe, lockerte den Frauen die Hüften und ließ sie die Augen niederschlagen.42

Bei Becky Floyds Performance in Bruno Franks Politische Novelle wird der abrupte Übergang von Walzer zu Jazz durch eine Persiflage der europäischen Tradition hervorgehoben: Sie (Becky Floyd) begann, in ihrem bescheidenen Stilkleidchen, einen Tanz, der beinahe altmodisch wirkte, eine Art schmachtenden Walzers. Sie tanzte ganz langsam, die schönen Arme ausgebreitet, so dass man ihre goldenen gefärbten Fingernägel unterscheiden konnte. […] Ganz selten einmal ging ein Zucken durch ihren Leib, und eine blitzschnelle, harte und bizarre Geste zerschnitt den züchtigen Tanz und schien ihn zu verhöhnen. Als er aber zu Ende war, sank sie mit holder Bescheidenheit tief ins Knie, wie die Elevin einer Ballettschule an einem thüringischen Hof. Kleine Pause. Mit einem Aufschrei fand die Negermusik zu sich selber zurück. Beckys Floydes Mund, der eben noch so töchterlich gelächelt, wölbte sich plötzlich zu dem afrikanischen Fleischtrichter, der er eigentlich war […].43

In Janowitz’ Jazz wirkt der verwirrende Einfluss des Saxophons, der ironisch als „Kochlöffel“ bezeichnet wird, auf die Figurenkostellation des Romans: Aber der Kochlöffel hatte gründliche Arbeit geleistet. Der Wirbel hatte alles durcheinander getan. Manches, das geglaubt hatte, zueinander zu gehören, war auseinandergerissen. Anderes lag beieinander. […]. Wir wollen die absurden Folgen, die der verrückte Jazzwirbel hier angestellt hatte, bald verlassen und uns den weiteren Konsequenzen zuwenden, deren Anblick alle Veränderungen erklären wird, die zum Schlusse jener Nacht eingetreten waren. Radikale Veränderungen, überraschender, als wir sie vermuten können.44

Der Umbruch wird zwar unterschiedlich markiert – durch Ausrufe „Himmel!“, Adverbien „plötzlich“ und Adjektive „radikal“ – seine Wirkung auf das verblüffte Publikum oder auf die Figurenkonstellation ist jedoch gewiss. Die Figur der Zäsur und des Rhythmuswechsels – gleichsam ein Zwischenweg zwischen stofflicher Aneignung und stilistischer Nachahmung – erweisen sich schließlich als Möglichkeiten der Jazzadaption durch genuin literarische Mittel, die raffinierter als eine bloße literarische Transposition der Jazz-Gesetze oder lautmalerische Mimikry wirken.

42 43 44

V. Baum (1928), S. 85–86. B. Frank (1951), S. 35–36. H. Janowitz (1999), S. 108.

AUTOREN Andrea Benedetti lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Urbino. Studium der Modernen Literaturwissenschaft und der Germanistik an den Universitäten Urbino, Freiburg i. Br. und Bayreuth. Promotion im Fach Komparatistik an den Universitäten Pisa und Freiburg i. Br. mit einer Dissertation zum Werk Ernst Jüngers. Stipendiat des DAAD, des DLA Marbach a. N. und der White-Stiftung. Publikationen (Auswahl): Rivoluzione conservatrice e fascino ambiguo della tecnica. Ernst Jünger nella Germania weimariana: 1920–1932 (Bologna 2008); W. H. Wackenroder (Mithrsg.): Opere e lettere (Milano, 2014); Zum Verhältnis zwischen H. G. Kessler, O. Spengler und dem Nietzsche-Archiv (Münster, 2015). Eske Bockelmann lehrt am Institut für Germanistik und Kommunikation und am Institut für Europäische Geschichte der TU Chemnitz. Studium der Klassischen und der Germanistischen Philologie an der Universität München. Promotion in Klassischer Philologie mit einer Dissertation zum frühen deutschen Humanismus. Habilitation mit der Schrift: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens (Springe 2004). Weitere Publikationen zum Thema Metrik: Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen (Tübingen 1991); „Der Rhythmus nach betont und unbetont: Antwort auf eine kopernikanische Frage“, in: C. Küper (Hrsg.): Meter, rhythm and performance (Frankfurt a. M. u. a. 2002), „Taktrhythmus und Arbeit“, in: I. Baxmann u. a. (Hgg.): Arbeit und Rhythmus (München 2009). Marco Castellari lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Mailand. Studium der Germanistik, Anglistik, Skandinavistik (Milano, Berlin). Mitherausgeber der Reihe „il quadrifoglio tedesco“ beim Mimesis Verlag; Mitglied des Beirats der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen. Publikationen (Auswahl): Friedrich Hölderlin. „Hyperion“ nello specchio della critica (Milano 2002); Studia Faustiana. Dal „Volksbuch“ al romanzo contemporaneo (Milano 2012), Formula e metafora. Figure di scienziati nelle letterature e culture contemporanee (Milano 2014); Studia hölderliniana I (Milano 2014); Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial (Bern 2015); ital. Editionen deutschsprachiger Literatur (G. Weil, 2007; P. Weiss, 2008; W. Kempowski, 2010; G. Tabori, 2014). Giovanna Cordibella ist wissenschaftliche Assistentin für Italienische Literaturwissenschaft am Institut für Italienische Sprache und Literatur der Universität Bern. Studium und Promotion im Fach Italianistik an der Universität Bologna. Lektorat an der Universität Kiel. Postdoc-Stipendiatin an den Universitäten Bologna und Freiburg i. Br. Publikationen (Auswahl): Hölderlin in Italia: La ricezione letteraria (Bologna 2009); A. Albrecht, G. Cordibella, V. R. Remmert (Hgg.), Tintenfass und

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Autoren

Teleskop. Galileo Galilei im Schnittpunkt wissenschaftlicher, literarischer und visueller Kulturen im 17. Jahrhundert (Berlin / Boston 2014). Olivier Hanse ist Maître de conférences an der Universität Metz und Mitglied des Forschungszentrums CEGIL. Studium der Germanistik an der Universität Sorbonne und an der Universität Bonn, Agrégation im Fach Deutsch, Promotion im Fach Germanistik an den Universitäten Siegen und Rennes mit einer Dissertation zum Thema Rythme et civilisation dans la pensée allemande autour de 1900. Publikationen (Auswahl): A l’école du rythme (Saint-Etienne 2010); A contre-courant. Résistances souterraines à l’autorité et construction de contrecultures dans les pays germanophones au XXe siècle / Gegen den Strom. Untergrundbewegungen und Gegenkulturen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts (Bern 2014). Anja Meyer promoviert an der der Universität Verona, Fakultät für moderne Sprachen, Literaturen und Kulturen – Fachrichtung Anglistik. Im Rahmen der Vorbereitung ihrer Dissertation absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt an der Philologischen Fakultät der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsgebiet ist schwerpunktmäßig ausgerichtet auf die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst, unter spezieller Einbeziehung der Fotografie. Gabriella Pelloni ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Verona. Studium der Germanistik und Anglistik an den Universitäten Padua und Tübingen. Promotion im Fach Germanistik an der Universität Padua (2006). Forschungsaufenthalte in Potsdam, Berlin, Jerusalem. Lehraufträge für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Potsdam, Padua und Verona. – Publikationen (Auswahl): Tra razza, medicina e estetica. Il concetto di degenerazione nella critica culturale della Fin de siècle (Padova 2008); Genealogia della cultura. Costruzione poetica del sé nello „Zarathustra“ di Nietzsche (Milano 2013); G. Pelloni, I. Schiffermüller (Hgg.): Pathos, Parodie, Kryptomnesie. Das Gedächtnis der Literatur in Nietzsches Also sprach Zarathustra (Heidelberg 2015). Andrea Pinotti ist Professore Associato für Ästhetik an der Universität Mailand. Studium der Philosophie und der Kunstwissenschaft an den Universitäten Mailand und München. Promotion im Fach Ästhetik an der Universität Padua mit einer Dissertation zum Thema: Stil und Apriori. Transzendentale Ästhetik und Kunstgeschichte in der deutschsprachigen Kultur um die Jahrhundertwende. Fellow der Italian Academy at Columbia University, des EHESS in Paris, des Warburg Institute in London, des ZfL in Berlin. Directeur de Programme am Collège International de Philosophie in Paris. Publikationen (Auswahl): Il corpo dello stile (Milano 2001); Estetica della pittura (Bologna 2007); Empatia (Roma / Bari 2011); Une ressemblance différente (Paris 2014). Maurizio Pirro ist als Ricercatore für Germanistik an der Universität Bari tätig. Promotion an der Universität Pavia mit einer Dissertation über Salomon Gessner.

Autoren

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Publikationen zur Literatur der Aufklärung, zur Kulturkritik in der Klassischen Moderne und zur Gegenwartsliteratur. Zuletzt: Come corda troppo tesa. Stile e ideologia in Stefan George (Macerata 2011); (Hrsg.), Bioestetiche/Biopoetiche, Sonderheft der Zeitschrift Prospero 19 (2014). Francesco Ronzon lehrt Kulturanthropologie an der Akademie der Schönen Künste in Verona und am Polytechnikum in Mailand. Forschungsaufenthalte in Haiti, New York und Italien. Publikationen (Auswahl): Antropologia dell’arte (Roma 2006); Sul Campo. Breve guida alla ricerca etnografica (Roma 2008); Presenze. Oggetti, pratiche e cognizione nel vodou degli immigrati haitiani a Brooklyn (Verona 2009); C. Grasseni (Mithrsg.): Pratiche e cognizione. Note di ecologia della cultura (Roma 2005). Massimo Salgaro ist seit 2005 als Ricercatore am „Dipartimento di Lingue e Letterature Straniere“ der Universität Verona tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Robert Musil, Literatur und Wissenschaft, Cognitive Poetics, Empirische Literaturwissenschaft. Zahlreiche Visiting Fellowships u. a. an Columbia University New York, University of Alberta, FU Berlin, University of Jerusalem. Publikationen (Auswahl): Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe. Bedingungen und Möglichkeiten einer digitalen Edition (München 2014); Verso una neuroestetica della letteratura (Roma 2009). Michele Vangi ist wissenschaftlicher Referent des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni. Er lehrt an der Fakultät Scienze della mediazione linguistica e di Studi Interculturali der Universität Mailand. Studium der modernen Literaturwissenschaft und der Germanistik an den Universitäten Bari und Saarbrücken. Promotion im Fach Komparatistik an der Universität Münster mit einer Dissertation zum Thema: Rezeption der Fotografie im literarischen Diskurs. Stipendiat des Stifterverbandes, der Goethe-Gesellschaft, der Klassik Stiftung Weimar und des LeibnizInstituts für Länderkunde Leipzig. Publikationen (Auswahl): Letteratura e fotografia. Roland Barthes – Rolf Dieter Brinkmann – Julio Cortázar – W. G. Sebald (Udine 2005); B. Kleiner, M. Vangi, A. Vigliani, Klassiker neu übersetzen. Zum Phänomen der Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker (Stuttgart 2014).

REGISTER Abel, Günter 100 Adler, Jeremy 171, 174–175, 180 Adorno, Theodor W. 115–116, 206, 212 Agamben, Giorgio 111 Albert, Karl 29 Allesch, Gustav Johannes von 15 Amann, Klaus 189 Apel, Johann August 131 Appia, Adolphe 36 Arbogast, Hubert 135 Arndt, Erwin 120 Arnim, Achim von 149, 150 Arp, Jean 62 Aschersleben, Gisa 12, 15, 189 Ash, Mitchell G. 15, 92 Asholt, Wolfgang 159, 161, 163, 166 Awramoff, Dobri 23, 91–92 Baker, Josephine 55, 210 Balázs, Béla 192–194 Ball, Hugo 62–63 Balla, Giacomo 79, 166 Bänsch, Dieter 15 Barbarossa, Friedrich 119 Barkan, Elazar 55, 59 Batz, Michael 143 Baudelaire, Charles 191–192, 209 Baum, Vicki 203, 209, 214 Baxmann, Inge 30, 35–36 Beck, Adolf 144, 149 Behrens, Franz Richard 25, 171–174, 180–183, 186, 188 Beißner, Friedrich 144, 149 Bellorini, Giuliano 160 Benjamin, Walter 17 Benn, Gottfried 154–155 Benne, Christian 100, 106 Benveniste, Émile 23, 106, 114–115 Berchtold, Alfred 35 Bergmann, Werner 34 Bergson, Henri 183, 187 Bertallot, Hans-Werner 151 Bianchi, Stefano 168 Blanche, Jacques-Émile 66 Blei, Franz 191, 195 Blümner, Rudolf 180 Boccioni, Umberto 79, 166–167

Böcklin, Arnold 140 Bode, Rudolf 14, 20, 22, 30, 37–38, 40 Boehringer, Robert 139–141 Bohländer, Carlo 203 Böhm, Wilhelm 152 Bollenbeck, Georg 30 Bolton, Thaddeus L. 97 Bonacchi, Silvia 195, 197–198 Bonds, Mark Evan 58 Böschenstein, Bernhard 136 Boschot, Adolphe 66 Bothe, Henning 148, 153 Braungart, Wolfgang 133, 142 Brecht, Bertolt 135, 169, 211–212 Brentano, Bettina 149–150, 154 Brentano, Franz 92 Breuer, Ingo 204 Bringmann, Wolfgang G. 88 Brobjer, Thomas H. 148 Brunner, Otto 30 Brusotti, Marco 100 Brüstle, Christa 12, 14, 19, 99, 200 Bücher, Karl Wilhelm 16, 18, 20–21, 36, 38–39, 84, 174, 207 Buchholz, Kai 30 Buelens, Geert 169 Bullard, Truman C. 66 Bünner, Gertrud 13, 19, 35 Busch, Walter 103 Bush, Ronald 55, 59 Buzzi, Paolo 162–163 Cage, John 170 Carducci, Giosuè 165 Carrà, Carlo 166–167 Christy, Henry 56 Claudel, Paul 36 Clifford, James 56 Cluet, Marc 29, 36 Colli, Giorgio 17, 99, 101, 148, 207 Contini, Gianfranco 165 Conze, Werner 30 Corino, Karl 189 Corra, Bruno 163–164 Cowan, Michael 41, 157 Craft, Robert 64 Creswell, Tim 72

220 Croce, Benedetto 43 Cummings, Edward Estlin 55 Czermak, Johann Nepomuk 84–85 D’Adamo, Ada 67 Dalcroze, Émile Jaques- 13, 19–20, 22, 30, 35–37 Darwin, Charles 15, 31 De Falla, Manuel 64 Dessoir, Max 41 Dilthey, Wilhelm 24, 143–154 Djagilew, Sergei 64, 67 Döblin, Alfred 197 Dohrn, Wolf 35, 37 Drews, Jörg 183 Drost, Willy 53 Duchamp, Marcel 78 Duncan, Isadora 13, 22, 58–61, 64, 68 Dupeux, Louis 37 Ebhardt, Kurt 84, 93 Emden, Christian J. 113 Estel, Volkmar 86–87 Fähnders, Walter 159, 161, 163, 166 Fanon, Franz 68 Fanta, Walter 189 Farber, Marvin 44 Fasshauer, Michael 36 Fechner, Gustav Theodor 86 Fechner, Jörg-Ullrich 137 Fieldhouse, David K. 56 Fischer-Lichte, Erika 19, 200 Foucault, Michel 55 Frank, Bruno 203, 210, 214 Frank, Manfred 26 Frauchinger, Ernst 37 Freud, Sigmund 57 Frey, Hans-Jost 99 Fricke, Harald 120 Frisé, Adolf 189 Fuchs, Carl 101, 104–105, 109 Fuchs, Georg 17 Gadamer, Hans-Georg 154–155 Gaier, Ulrich 150 Gangl, Manfred 37 Gantner, Joseph 47 Garafola, Lynn 64 Gasparotto, Anna 160 Gauguin, Paul 57 Gay, Marco 103 Genet, Jean 68 George, Stefan 24, 133–142, 146, 148, 151–152, 154–155, 172–173 Ghattas, Nadia 12, 14, 19, 99, 200 Giertz, Gernot 36

Register Glass, Richard 86–87 Gleiter, Jörg H. 113 Glöckner, Ernst 142 Goethe, Johann Wolfgang von 133, 138, 142–143, 187, 190–191, 195 Göschel, Sebastian 36 Granham, Martha 66 Grigoriev, Nikifor 66 Groddeck, Wolfram 112 Gruß, Melanie 36 Gubert, Carla 157 Guido, Laurent 41, 157 Guilbert, Laure 40 Gundolf, Friedrich 138 Günther, Friederike Felicitas 17, 100, 113 Günther, Helmut 13–14, 16, 35 Günther, Michael 172, 180–183, 188 Hager, Frithjof 107 Hamann, Richard 29 Hartmann, Annette 20 Hartmann, Kristiana 35 Hauptmann, Gerhart 139, 190 Hauser, Stephan E. 135 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25–26, 131, 143–145 Heinßen, Johannes 34 Heit, Helmut 100 Hellingrath, Norbert von 24, 136, 144, 146, 150–154 Hendrix, Harald 169 Henne, Helmut 136 Hennings, Emmy 62 Heraklit 106 Herbart, Johann Friedrich 83 Hermand, Jost 29 Hermann, Gottfried 131 Heusler, Andreas 120, 132 Hildebrand, Adolf 43, 46–47, 51–52, 150 Hildebrandt, Kurt Florentin 150 Hinrichsen, Hans-Joachim 157 Hobsbaum, Philip 120 Hölderlin, Friedrich 24, 136, 143–155 Hofmannsthal, Hugo von 17, 139, 151, 196, 200 Holz, Arno 15, 183 Hornbostel, Erich Moritz von 57, 92, 190, 197–198, 201–202 Howes, David 58 Hubert, Hans W. 42 Huelsenbeck, Richard 62–64 Humphrey, Doris 66 Husserl, Edmund 44, 92, 95 Ikonomou, Eleftherios 42, 44

Register Jacob, Joachim 136 Jahn, Rudolf 41 Janco, Marcel 62–63 Jansen, Monica 169 Janssen, Pierre J. C. 74–75 Jung, Alexander 148–150 Justi, Carl 41 Kahlenfeldt, Nils 152 Kämper, Dietrich 163 Kandinsky, Wassily 57, 183 Kant, Immanuel 183 Kaulen, Heinrich 146 Keiver Smith, Margaret 23, 90–91 Kelletat, Alfred 152 Kerbs, Diethart 29 King, D. Brett 92 Kirstein, Lincoln 66 Klages, Ludwig 13, 26, 37, 40, 173, 210, 213 Klee, Paul 57 Knoch, Habbo 160 Koehn, Barbara 36 Koffka, Kurt 23, 87, 92, 94–96, 190–191 Köhler, Wolfgang 92 Kollert, Julius 85–86 Kommerell, Max 135 Koselleck, Reinhart 30 Köstlin, Karl Reinhold von 83 Krabbe, Wolfgang R. 40 Kracauer, Siegfried 20 Kremer, Detlef 11 Krenek, Ernst 213 Krieger, Rudolf 151 Küper, Christoph 120, 130 Laban, Rudolf von 19, 22, 30, 38–40, 62–64 Lamprecht, Karl 42 Lanchner, Carlyn 62 Landmann, Edith 142 Langbehn, August Julius 29–30, 34, 37 Lauf, Vera 36 Lehnen, Ludwig 135 Lepsius, Sabine 142 Lévy-Bruhl, Lucien 16, 193, 198 Leyen, Friedrich von der 152 Lezetow, Karl Freiherr von 15 Linse, Ulrich 29 Lippard, Lucy 62 Lista, Giovanni 79, 160, 166 Lobe, Johann Christian 83 Lorenz, Karl 37 Löschnigg, Martin 182, 187 Lösener, Hans 106–107 Lotze, Rudolf Hermann 42, 46, 83, 92 Lubkoll, Christine 12, 18

221

Lucini, Gian Pietro 161–162 Lützeler, Paul Michael 15 Mach, Ernst 23, 84–85, 189 Magrini, Tullia 57 Magris, Claudio 11, 25 Maldiney, Henri 41, 53 Mallgrave, Harry Francis 44 Manganaro, Marc 56 Mann, Klaus 25, 203, 208–209 Marcus, George E. 56 Marey, Étienne Jules 23, 71–81, 92, 160, 166–167 Marinetti, Filippo Tommaso 24–25, 79, 158, 160–165, 169–170, 178, 181, 183, 187 Martens, Gunther 143, 151, 153 Martin, Wendy 55 Martus, Steffen 133 Masnada, Pino 169 Mattenklott, Gert 107 McCormick, Malcolm 62 Mehner, Max 86–87 Meinecke, Johann Heinrich Friedrich 131–132 Meschonnic, Henri 23, 106–107 Messina, Maria Grazia 57 Meumann, Ernst 23, 83, 87–90, 96 Minor, Jakob 132 Mix, Silvio 168 Montinari, Mazzino 17, 99, 101, 148, 207 Morat, Daniel 159–160, 211 Möser, Kurt 179, 181, 188 Motherwell, Robert 63 Müller, Jan-Dirk 120 Müller, Katharina 12, 15, 83, 189 Münsterberg, Hugo von 20–21, 23, 87, 190 Musil, Robert 25, 92, 189–202 Naumann, Barbara 99, 157 Nebel, Otto Wilhelm Ernst 181 Nietzsche, Friedrich 15, 17, 23, 57, 59–60, 99–116, 143–145, 147–151, 154, 183, 187, 189, 207 Nijinsky, Vaslav 22, 55, 64–68 Nitschke, Thomas 35 Oelmann, Ute 144, 149 Opitz, Martin 131 Osborne, Peter D. 78 Paladini, Vinicio 158–159, 167 Pallat, Ludwig 37 Pannaggi, Ivo 158–159, 167 Paracelsus 31, 33 Paul, Hermann 132 Payot, Daniel 114 Perrottet, Claude 63 Petersdorff, Dirk von 133

222

Register

Picard, Timothée 36 Picasso, Pablo 57 Pieger, Bruno 152 Pinder, Wilhelm 53 Platon 31, 106 Prampolini, Enrico 158–159, 167–168 Pratella, Francesco Balilla 162–163, 165, 170, 173 Previšić, Boris 151 Primavesi, Patrick 13, 114, 144, 151 Radkau, Joachim 29 Rajewski, Irina 158 Raulet, Gerard 37 Reinhard, Wolfgang 159 Reiss, Françoise 66 Reschke, Renate 113 Reulecke, Jürgen 29 Reynolds, Nancy 62 Richter, Hans 62 Riedel, Manfred 30 Riegl, Alois 41–43, 47 Riemann, Hugo 83–84, 109 Rilke, Rainer Maria 55, 151, 155 Ring, Reinhard 37 Risi, Clemens 12, 14, 19, 99, 200 Rodi, Frithjof 143 Roerich, Nikolaj 67 Rosenfield, Kathrin H. 151 Rossi, Francesco 134, 142 Rouget, Gilbert 67 Ruckmich, Christian A. 83 Rühm, Gerhard 171, 180, 182–183 Russack, Hans Hermann 52 Russolo, Luigi 158–160, 165–166, 170 Ruttmann, Walter 21 Sachs, Curt 58 Salin, Edgar 141–142 Salzman, Eric 65 Sanford, Edmund C. 97 Saran, Franz 132 Sartre, Jean Paul 68 Sassi, Salvo 165–166 Scharf, Aaron 79, 81 Schickele, René 203, 205–206 Schiffermüller, Isolde 103 Schleich, Carl Ludwig 22, 30–32, 34 Schlosser, Julius 43 Schmarsow, August 22, 41–53 Schmeckebier, Friedrich Rudolf Oskar 120, 132 Schmidt-Bergmann, Hansgeorg 158 Schmitz-Gundlach, Esther 163 Schnapp, Jeffrey T. 169–170

Schneider, Tobias 40 Schouten, Sabine 12, 14, 19, 99, 200 Schreyer, Lothar 180, 182–183 Schumann, Friedrich 87, 89, 92, 94, 96, 189–190 Schwab, Andreas 38 Schwab, Christoph 149 Schwitters, Kurt 181 Scrivo, Luigi 162–163, 173 Sears, Charles H. 97 Seckel, Dietrich 151 Seidel, Max 42 Seidel, Wilhelm 13, 84 Semper, Gottfried 41, 44 Seurat, Georges-Pierre 53, 78 Severini, Gino 166 Siegel, Maria 67 Sievers, Eduard 132 Sinclair, Isaak von 149 Spitznagel, Albert 12, 15, 83, 189 Steiner, Rudolf 22, 30, 32–34 Stocking, Jr., George W. 56 Stöhr, Adolph 96 Stramm, August 25, 171–175, 177–183, 188 Stravinsky, Igor 64, 67–68 Stumpf, Carl 92–96, 189 Tagliapietra, Franco 160 Todorov, Tzvetan 55 Torgovnick, Marianna 56 Taeuber-Arp, Sophie 62 Trautsch, Asmus 17 Triplett, Norman 97 Trombetta, Sergio 65 Turi, Anna-Maria 65 Tzara, Tristan 62–63 Uexküll, Jakob von 184, 186 Ullmaier, Johannes 159 Ungerer, Gustav A. 88 Valéry, Paul 55 Vallentin, Bertholt 140 Vangi, Michele 71, 79 Van Gogh, Vincent 140 Vasold, Georg 41, 157 Vechten, Carl Van 67 Verwey, Albert 141 Vierordt, Karl 85–87 Vincent, Lawrence M. 58 Vock, Petra Jenny 179, 188 Volke, Werner 152 Vondung, Klaus 29–30, 35 Wagenknecht, Christian 120 Wagner, Richard 36, 101–105, 109, 113 Walden, Herwarth 174, 182–183

Register Walden, Nell 174, 180 Walter, Claire 62 Walzel, Oskar 52 Waterman, Christopher 57 Wauer, William 180 Wedemeyer-Kolwe, Bernd 37 Weichelt, Matthias 135 Weimar, Klaus 120 Wellershof, Dieter 154 Werkmeister, Sven 194 Werner, Heinz 16–17, 21, 25, 191, 197–202 Wertheimer, Max 92, 96

Wertheimer, Michael 92 White, John James 175 White, Hayden 55 Wölfflin, Heinrich 41–42, 47, 51–52 Wolfskehl, Karl 137, 150–152 Wolters, Friedrich 142 Wundt, Wilhelm 85, 87–88, 96 Zander, Helmut 32 Zimmermann, Robert 50 Zinkernagel, Frank 146 Zola, Émile 190 Zollna, Isabel 12

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Mariacarla Gadebusch Bondio (ed.)

Medical Ethics Premodern Negotiations between Medicine and Philosophy Aurora. Schriften der Villa Vigoni – Band 2

Ethical issues are inherent in medicine. Morally appropriate forms of medical behaviour, the thorough communication of diagnosis and prognosis, and carefully evaluated treatment promising recovery have been among the standards of medical ethics down to the present day. The testimonies of a lively tradition, which since antiquity has contributed to the permanent critical reflection of medicine, constitute the cultural background of contemporary bioethics. They demonstrate how fertile the dialogue between medicine and philosophy on ethical questions can be. This also includes the critical examination of the objects, aims, methods and boundaries of the physicians profession and of medical research. These boundaries have had throughout history to be constantly renegotiated and defined, and not only in the 21st century. .............................................................................

Contents Mariacarla Gadebusch Bondio (ed.) Medical Ethics 2014. 239 pages. Hardback. & 978-3-515-09835-9 @ 978-3-515-10819-5

c. schulze: ‚Unterlassene Hilfeleistung‘ in der Antike | c. crisciani: Medicine and Philosophy in the Middle Ages. Sisters, Companions, Rivals | d. jacquart: Le médecin médiéval et les bonnes moeurs | k. bergdolt: Petrarca, Aristoteles und die Kritik an der scholastischen Medizin | m. mcvaugh: Medical Values and Behavior. A View from 1380s Montpellier | m. roick: Humanistische Ärztekritik im Spannungsfeld zwischen Ethik und Medizin | t. katinis: Praise and Practice of Medicine in Marsilio Ficino | j. ziegler: The Medieval Foundations of Renaissance Medical Ethics: The Case of Gabriele Zerbi’s De cautelis medicorum | k. p. jankrift: Das Bild des häretischen Arztes in Gabriele Zerbis De cautelis medicorum | c. muratori: Medical and Ethical Aspects of Vegetarianism: On the Reception of Porphyry’s De abstinentia in the Renaissance | r. poma: La médecine morale de Luigi Luisini. Le premier traitement médico-philosophique des passions de l’âme | w. schleiner: Early Modern Medical Ethics and Medical Humor | k. vanek: Der bonus chirurgus und die Fehlervermeidung. Zum Berufsethos der Chirurgie in der frühen Neuzeit | v. nutton: The Doctor and the Magistrate. A Lawyer’s View of Medical Ethics | m. gadebusch bondio: Truth and Lies at the Sick-Bed

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Um 1900 wird Rhythmus in der Wissenschaft sowie in Kunst und Literatur zu einem relevanten Phänomen: Nietzsche erhebt ihn zum wirkungsvollsten künstlerischen Mittel, bei den Untersuchungen über den Zeitsinn im Umfeld der Gestaltpsychologie spielt Rhythmuswahrnehmung eine zentrale Rolle und bei den auratischen Darbietungen des GeorgeKreises wurde ein besonderer Leserhythmus gepflegt. Der Mythos um das Phänomen »Rhythmus« entwickelte sich in der Zeit um die Jahrhundertwende – insbesondere im deutschsprachigen Raum – über Disziplingrenzen hinaus weiter: Rhythmus wurde nicht nur als literatur-

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ISBN 978-3-515-10357-2

oder musikwissenschaftliches Konzept verstanden, sondern als Forschungsgegenstand, der aus diversen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen untersucht wurde. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, bringt dieser Band Beiträge zur Rhythmusforschung aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachrichtungen zusammen. Das Werk besteht aus zwei aufeinander Bezug nehmenden Teilen: »Der Mythos Rhythmus in den Geistes- und Sozialwissenschaften« und »Der Mythos Rhythmus in der Literatur«.