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German Pages 472 Year 2017
Michael Novian MYTHOS – NEOMYTHOS – RETROMYTHOS
Michael Novian
MYTHOS – NEOMYTHOS – RETROMYTHOS Verhältnisbestimmungen im Kontext des Klimawandels
Ferdinand Schöningh
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78794-1
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort .......................................................................................................... 13 EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG I. II. 1. 2. III
Der anthropogene Klimawandel und seine Bestreitung – Erkundung eines ideologisch durchsetzten Diskursfeldes .................. 14 Der Klimawandel als unbequeme Herausforderung für gewohnte Deutungskonzepte ............................................................................... 19 Greenhouse vs. Whitehouse ................................................................ 19 „Drive the change“ .............................................................................. 21 Der Klimawandel als Thema und Motor neuer Mythen ...................... 23
§1
Der Klimawandel im Spiegel neuer Mythen – Eine Sondierung des zu bestreitenden Problemfeldes .................................................... 25
I. II. III
Verortung der Untersuchung ............................................................... 25 Eingenommene Standpunkte und Perspektiven .................................. 27 Fernsicht in der Spannung von Eurozentrismus, Universalgeschichte und anthropologischer Grundbestimmung .......................................... 29 Der zu beschreitende Weg .................................................................. 31
IV.
GRUNDLAGEN DER MODERNEN ANSCHAUUNGEN VON WELT UND KLIMA §2
Anthropologische Grundlagen einer Diskontinuitätserfahrung: Weltanschauung .................................................................................. 33
I. 1. 2.
Existentiale Voraussetzungen des Weltanschauungsbegriffs .............. 33 Menschliche Existenz unter den Bedingungen des Seins .................... 33 Die Auseinandersetzung mit der Ineinsheit von Tatsache und Entwurf am Beispiel der philosophischen Anthropologie ................... 35 Das Sehnen, dem weißen Kaninchen zu folgen – Philosophische Annäherungen an den Begriff Wirklichkeit ........................................ 38 Die Begegnung mit der Welt unter dem Eindruck von Absolutismus der Wirklichkeit ........................................................... 39 Zum Weltanschauungsbegriff ............................................................. 42 Selbst- und Weltverständnis als ineins Feststellung von Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit ................ 45 Bewusst ergriffene Lebensorientierung und Längeres Gedankenspiel ..................................................................................... 46 Weltanschauung in Einfachheit und Komplexität ............................... 50
3. 4. II. III. IV. V.
6
INHALTSVERZEICHNIS
§3
Klimawandel und Weltanschauungskonstitution ................................. 54
I.
IV.
Eingenommene Perspektive auf die Phänomene von Kontinuität und Diskontinuität ...................................................................................... 54 Menschsein unter dem Eindruck von Kontinuität und Diskontinuität ...................................................................................... 55 Der anthropogene Klimawandel, eine Naturkatastrophe!? – Problemhorizonte der begrifflichen Einordnung ................................. 57 Klimawandel und Diskontinuität ......................................................... 60
§4
Wissenschaft (und Weltanschauung) ................................................... 67
II. III.
I II 1 2 2.1 2.2 2.3
Auf dem Weg zu einem Wissenschaftlichen Weltbild ........................ 67 Vollzugsweisen in der Wissenschaftlichen Weltbildung ..................... 71 Experten und Laien .............................................................................. 71 Die Bildung eines Systems von der (Um-)welt .................................... 76 Weltanschauung als System ................................................................. 77 Erschließung von Welt im System ....................................................... 79 Von der Formalität von Systemen zur Anwendung in populärwissenschaftlichen Bezügen .................................................... 80 2.4 Die Deutung formaler Systeme als Vollzug eines paradigmatischen Systemdeuters ......................................................... 83 2.5 Das System als Weltanschauung ......................................................... 88 3 Prognosen, Modelle und Simulationen ................................................ 91 3.1 Zeit und Modalität im Prognostizieren, Modellieren und Simulieren ............................................................................................ 91 3.2 Prognostizieren .................................................................................... 94 3.3 Modellieren .......................................................................................... 95 3.4 Simulation der Realität und dieselbe ................................................... 98 3.4.1 Simulieren mit Automaten: Ouvertüre eines wirkungsträchtigen Versuchs .............................................................................................. 98 3.4.2 Simulieren in der Klimatologie ............................................................ 99 3.5 Wissenschaft im Übergang von Science zu Fiction ........................... 103 4. Persuasive Definitionen und Wissenschaftsförmigkeit ...................... 105 4.1 Persuasive Definitionen ..................................................................... 106 4.2 Persuasive Definitionen in der Alltagssprache .................................. 109 4.3 Persuasive Definitionen in der Wissenschaftssprache ....................... 111 4.4 Wissenschaftsförmigkeit .................................................................... 113 §5
Klimatologische Wissenschaft ........................................................... 115
I.
Inter- und transdisziplinärer Wissenschaftsvollzug in der Klimaforschung ................................................................................. 115 Das Komplexe in der Klimatologie .................................................... 120 Klimaforschung durch das IPCC – Gesellschaftsrelevanz als Aufgabe und Stigma .......................................................................... 124
II. III.
INHALTSVERZEICHNIS
7
§6
Die Wissenschaftlichkeit moderner Weltanschauung: Der Szientismus und die Grenzen der Wissenschaft .................................................... 129
I. II. 1. 2.
Die Wissenschaftliche Weltanschauung ........................................... 129 Grenzen der Wissenschaft ................................................................. 132 Meta-wissenschaftliche Theorien der Wissenschaftsgrenzen ........... 133 Versuch wider den postmodernen Relativismus: Grenzen des „Und-so-weiter der Problemerzeugung“ in der Paradigmatischen Systemdeutung ..................................................... 139 Wissenschaftliche Weltanschauung an ihren Grenzen ...................... 142 Der sich selbst vollbringende Skeptizismus ...................................... 142 Wahrheitsbewusstsein in den Kontroversen um die Grenzen des Wissens ....................................................................................... 144 Postmodernes Zweifeln am Wissen und den Wissenschaften ........... 147 Der moderne discourse of ignorance ................................................. 151 Grenzenloser Fortschritt vs. Grenzen des Fortschritts. Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit der Zukunft ............. 157 Technik im Blickfeld der Auseinandersetzung um Grenzen des Wissens ....................................................................................... 161
III. 1. 2. 2.1 2.2 3. 4. §7
Technikentwicklungen als Orientierungsaufgabe der Moderne ........ 163
I.
Wissenschaftsfundierte Technik in ihrer Bedeutung für das Epochengesicht der Moderne ............................................................ 163 Von der Erfahrungstechnik zur wissenschaftsfundierten Technik ............................................................................................. 163 Ubiquität von Technik in der Technosphäre ..................................... 168 Metaphysische Orientierungssuche im Angesicht der Technikfolgen ................................................................................... 170 Geschichte der Technikfolgen als Geschichte der Ökologie? – Perspektiven und Abgrenzungen im Anfang der Industrialisierung .............................................................................. 170 Im Zeitalter von Nebenfolgen und Ökologiekrisen ........................... 180 Die technoökologische Orientierungsaufgabe als metaphysische Orientierungsaufgabe der Moderne ................................................... 191
1. 2. II. 1. 2. 3. §8
Mythen der wissenschaftlich-technischen Moderne .......................... 198
I.
Anthropologische Grundlagen und Verhältnisbestimmung von Mythos und Logos ............................................................................ 198 Das Moment der Überraschung im Ausgang von Mythos und Logos .......................................................................................... 198 Die Dynamik mythischen und logischen Denkens ............................ 199 Entfaltungsmomente von Mythos und Logos ................................... 204 Mythisches Denken und seine Problemgeschichte ........................... 205 Komplexes und einfaches mythisches Denken ................................. 205
1. 2. 3. II. 1.
8
INHALTSVERZEICHNIS
2. 3. III. 1. 2. 3.
Problemgeschichte des Mythos .......................................................... 210 Brauchtum des Bildes und Bildmissbrauch im mythischen Denken ............................................................................................... 211 Mythische Artikulationsformen in der Moderne ................................ 215 Neomythos ......................................................................................... 215 Kritik des Neomythischen im Retromythischen ................................ 220 Diskontinuitätserfahrungen im Ausgang retromythischen Denkens ............................................................................................. 224 NEO- UND RETROMYTHISCHE GEDANKENSPIELE AM VORABEND DER ÖKOLOGISCHEN REVOLUTION
§9
Technoökologische Panoramen im Spannungsfeld beruhigter Endlichkeit und unendlicher Unruhe ................................................. 226
§10
Gottes Werk und Teufels Beitrag – Vorspiel der ökologischen Revolution im Widerstreit von technoökologischer Utopie und Dystopie .......................................................................... 229
I.
Julian und Aldous Huxley – Wirken und Werke dystopischer Technokraten unter den Vorzeichen ökologischer Herausforderungen ............................................................................. 230 Aldous Huxley – Von der Dystopie der Brave New World zum utopischen Island ............................................................................... 230 Die dystopische Zukunftsgesellschaft einer Brave New World ......... 230 Kritik am Fortschritt und Gegenentwürfe .......................................... 234 „…Und das alles, weil der kleine Adolf nie Ökologie gelernt hatte.“ Die unerreichbare Utopie des Island ...................................... 238 Julian Huxley – Religionsförmige Suche nach den künftigen Menschen in den Wissenschaften des Lebens ............. 242 Julian Huxley: „A Twentieth Century Man“ ..................................... 242 Auf der Suche nach einem übergeordneten Ideensystem ................... 243 Die Erde im Zeitalter des Geistes – Neomythische Facetten des Evolutionären Humanismus ............................................................... 245 Ökologie als Weg wissenschaftlicher Einsicht in die mystische „All-Einheit“ ...................................................................................... 249 Huxleys Gegenentwurf einer neuen Religiosität ................................ 254 Mittels der Eugenik die „märchenhaften Möglichkeiten“ des Menschen entfalten ...................................................................... 259 Entlarvung des Technik- und Fortschrittsglaubens als Tanz mit dem Teufel ........................................................................... 263
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 II. §11
Vom Privatleben in die Mitte der Gesellschaft – Die Kollektivierung ökologischer Gedankenspiele ............................ 268
INHALTSVERZEICHNIS
I. 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 II. 1. 2.
9
Rachel Carsons Silent Spring – Stummer Impuls der ökologischen Bewegung ................................................................... 269 Eine wissenschaftliche Privatdetektivin als Geburtshelferin der Ökologiebewegung? .......................................................................... 269 Der stumme Frühling als Roman für eine ökologische Erneuerung der Gesellschaft ............................................................. 275 Offenbarung der Apokalypse des Realen .......................................... 275 Die Errichtung eines unerschütterlichen Fundaments ....................... 278 Ökologisches Denken als Grundfeste des wissenschaftlichen Fundaments ....................................................................................... 282 Kritik am Denken der wissenschaftstechnischen Moderne ............... 288 Ein Panorama an Subkulturen wird zum kulturellen Leitbild ........... 291 „Bibeln“ und „Ikonen“ der Ökologischen Bewegung ....................... 291 Ökologisches Handeln als fortwährendes Verantwortungsprinzip der Weltbevölkerung ................................... 296
DIE ETABLIERUNG NEO- UND RETROMYTHISCHER DENKFIGUREN IM KOLLEKTIVEN BEWUSSTSEIN EINER TECHNOÖKOLOGISCH BEUNRUHIGTEN GESELLSCHAFT §12
Ökologisches Herausgefordertsein in einer beunruhigten Gesellschaft ................................................................. 299
I.
Ökologische Herausforderungen als epochaltypisches Schlüsselproblem .............................................................................. 299 Kehrtwendeparolen hin zu einer erneuerten Gesellschaft ................. 300 Krisenerleben und Krisenbewältigung .............................................. 301 Wende hin zu einem New Age .......................................................... 303 Zur „Wende“ in der deutschen Energieversorgung ........................... 307 Wendezeiterwartungen und skeptische Erwiderungen in einer „beunruhigten“ Gesellschaft ............................................................. 314 David Foster Wallace Unendlicher Spaß als Roman einer beunruhigten Gesellschaft ................................................................. 316 Das Vergnügen der Leser am Unendlichen Spaß .............................. 316 Schattenseiten des Strebens nach Unendlichem Spaß ....................... 317
II. 1. 2. 3. 4. II. 1. 2. §13
Möglichkeiten des religiösen Erlebens in einem wissenschaftsförmigen Ökologiediskurs ........................................... 322
I. 1.
Gaia als Leitmotiv der Hoch- und Populärkultur .............................. 322 Lovelocks Gaia-Hypothese – eine wissenschaftsförmige Schöpfungsgeschichte ....................................................................... 325 Am Anfang war das Gänseblümchen… – Übersiedelung von der fiebrigen Gaia auf einen blühenden Mars ................................... 330 Gaia-Bewusstsein im Kontext religiöser Weltanschauung ............... 334 Gaia und New Age ............................................................................ 335
2. II. 1.
10
INHALTSVERZEICHNIS
2. 2.1 2.2 II. 1. 2. III. 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Gaia-These und Gottesrede ................................................................ 339 Gaia-Bewusstsein im Ausgang der Forderungen nach neuen Formen der („christlichen“) Religiosität ............................................ 339 Komplexität Gaias und die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes ................................................................................................. 351 Ökologie als Weg der äußeren und inneren Erneuerung .................... 353 Wo Alles mit Allem zusammenhängt, gibt es kein Nirgendwo ......... 354 Die integrative Heilung des aus dem Zentrum gerückten Ich ............ 361 Religiöse Erlebnismöglichkeiten ökologischer Gedankenspielerkollektive ................................................................. 370 Lesarten und Ausleseprozesse in der Grünen Parteiwerdung ............ 371 Fluchtpunkt grün in einer weltanschauungsoffenen Sammlungspartei ............................................................................... 371 Grüne Politik in der Lesart des New-Age .......................................... 373 Vagabundierende Spiritualität im neomythischen Denken Rudolf Bahros .................................................................................... 378 Orthodoxiefreiheit des realpolitischen Grünen Ökologiebewusstseins ........................................................................ 384 MOBILISIERUNG EINER GESELLSCHAFT VOR ÖKOLOGISCHEN HERAUSFORDERUNGEN
§14
Gesellschaft am Scheideweg? – Das ökopolitische Programm Al Gores ............................................................................................. 391
I.
Scheitern als Erfolgsprinzip? Vom designierten Präsidenten zum charismatischen Nobelpreisträger – Biographische Wegmarken ........................................................................................ 391 Blitzlichter einer Karriere im Rampenlicht ........................................ 393 Ökologisches Engagement und politisches Alltagsgeschäft – Die Jahre auf der Hinterbank ............................................................. 395 Aufstieg zur großen grünen Hoffnung ............................................... 398 „Ich war einmal der nächste Präsident der Vereinigten Staaten“ – Gores politischer Knockdown und sein Comeback als gefeiertes Ökoidol .............................................................................. 403 Stimmen des ökofeindlichen Widerstands ......................................... 405 Wissenschaftsförmigkeit als Grundprinzip Gores ökologischer Mobilisierung ..................................................................................... 409 Fundamentale (Un-)Gewissheiten der Klimatologie ......................... 410 Argumentationsfiguren der paradigmatisch-dogmatischen Selbstvergewisserung ......................................................................... 413 „Worte reichen nicht aus…“ – Die bildhafte Darstellung des Abstrakten, Komplexen und Unaussprechlichen ............................... 419 In der Welt verhält es sich wie… ....................................................... 421
1. 2. 3. 4. 5. II. 1. 2. 3. 4.
INHALTSVERZEICHNIS
5. III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. §15
11
Der Mensch als Gefahr für das fragile Gleichgewicht der Erde ........ 426 Irrwege und Heilswege auf dem Weg zu einer Gesellschaft im Gleichgewicht ................................................................................... 428 Ideologische Leitdimensionen im Goreschen Denken ...................... 428 Von der technischen Ermöglichung und Überwindung der Krise .................................................................................................. 429 Gore als skeptischer Technokrat ....................................................... 430 Entfesselte Intelligenz im Informationszeitalter ................................ 432 Sich gegen sich selbst wendendes neomythisches Bewusstsein ....... 434 Die Notwendigkeit zum Wandel auf dem Weg zur Heilung der Welt ................................................................................................... 437 Die apokalyptische Tönung des widerfahrenen Krisenerlebens ........ 442 „Wir haben die Wahl“ – Die Alternativlosigkeit zum ökologischen Heilshandeln ............................................................... 444 Der Aufschwung des Menschen zu neuen alten Wegen ................... 447 Ausblick: Begegnung aktueller ökologischer Herausforderungen im Spiegel der retromythischen Vernunft ......... 451
Literaturverzeichnis ...................................................................................... 455 Internetquellen .............................................................................................. 468 Filme
.......................................................................................................... 472
Vorwort Die folgende Untersuchung ist die nur geringfügig geänderte Fassung meiner Dissertation, die im Jahre 2017 an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) zum Abschluss gekommen ist. Meine systematisch-theologische Studien an der JLU durchzuführen, hat sich als ein Umstand erwiesen, für den ich in vielfacher Hinsicht dankbar bin. Ich wurde dadurch Teil eines wissenschaftlichen Umfelds, in dem sich verschiedene Theologien als gleichberechtigte Gesprächspartner auf Augenhöhe begegnen und wiederum als gleichberechtigte Gesprächspartner an einem breiten und produktiven geschichts- und kulturwissenschaftlichen Diskurs partizipieren. Für meine Untersuchungen zu Mythen der Gegenwartskultur war dies stets ein Segen. Des Weiteren bin ich dankbar für die Personen, die mir in diesem wissenschaftlichen Umfeld begegnet sind. Von Herzen danken möchte ich meinem Lehrer, Doktorvater und Freund Prof. Dr. Linus K. Hauser, der mich auf den Weg der Erforschung mythischer Formen in der Gegenwartskultur gesetzt hat und mit mir diesen Weg fortan in all seinen Höhen und Tiefen abgeschritten ist. Ein ebenso herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Franz-Josef Bäumer für seine stets konstruktive und freundschaftliche Begleitung auf diesem Weg und für seine Anerkennungen und Anmerkungen zu meiner Untersuchung. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner: den Lehrenden, die mich während meiner Studien gefördert und inspiriert haben; den Kommilitoninnen und Kommilitonen, insbesondere im Doktorandenkolloquium, die sich mit mir ausgetauscht und mich dadurch weitergebildet haben; den Studierenden, die mit mir ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Meinungen geteilt und dadurch meine Perspektiven erweitert haben; den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ein kollegiales Umfeld haben entstehen lassen, in das ich stets mit Freude zurückkehre. Ein herzlicher Dank gilt dem Schöningh-Verlag, der sich auch in dieser Zusammenarbeit als ebenso verlässlicher wie kompetenter Ansprechpartner erwiesen hat. Für die wertvolle und kenntnisreiche Unterstützung bei den abschließenden Formatierungsarbeiten danke ich Edeltraud Kuhl in besonderer Weise. Ein letzter Dank gilt dem Bistum Mainz für die großzügig gewährte Druckkostenbezuschussung. Gewidmet ist das Buch denen, die mir am Nächsten stehen, und derjenigen, die zu einem Teil von mir geworden ist. Gießen, im Juli 2017
Michael Novian
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG I.
Der anthropogene Klimawandel und seine Bestreitung – Erkundung eines ideologisch durchsetzten Diskursfeldes
Linus Hauser beschreibt in Anlehnung an den Religionssoziologen Martin Riesebrodt in der Einführung zum zweiten Band seiner Kritik der neomythischen Vernunft, dass der Mensch der Moderne sich „in einem Prozess der ‚Entzauberung‘ und ‚(Wieder-)Verzauberung der Welt‘“ 1 befinde. Mit der Behauptung einer sich vollziehenden (Wieder-)Verzauberung der Welt erhält die seit Max Weber immer wieder aufgegriffenen These von der Entzauberung eine Gegengröße, welche die spannungsreiche weltanschauliche Gemengelage abzustecken versucht, die sich aufgrund des sich wandelnden Verhältnisses des Menschen zu mythisch-religiösen Vorstellungswelten unter dem Eindruck naturwissenschaftlich-technischer Errungenschaften und Erkenntnisleistungen ergibt. Hauser stellt mit Blick auf den vermeintlich durch diese Gegengrößen bestimmten Prozess fest, dass er nicht als „Alternativradikalismus“ zu denken sei, „der zwei unterschiedliche Bewegungen hervorbring(e)“, „sondern er fundier(e) einen spannungsreichen Standpunkt in den einzelnen Personen“ 2. In vielen der aktuellen Diskurse zum Thema anthropogener Klimawandel, in denen neben den naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen auch mythisch-religiöse Deutungen eine Rolle spielen, scheint hingegen der Prozess der Entzauberung und Wiederverzauberung von Welt – als der spannungsreiche, Standpunkte hervorbringende Grund, von dem ausgehend sich der Mensch der Moderne weltanschaulich entwirft – aufgrund der, mitunter politisch motivierten, Inszenierung eines Alternativradikalismus in unterschiedliche Bewegungen aufgelöst 3. Der sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufende Diskursteilnehmer vermeint in seiner Haltung zum Klimawandel nicht selten eine aufgeklärte Position einzunehmen, von der ausgehend entgegengesetzte Entwürfe als wissenschaftlich unzureichende Ideologismen bewertet werden. Dieser Haltung korrespondiert wiederum zumeist ein Anspruch auf Alternativlosigkeit, der sich moralisch wie wissenschaftlich absolut wähnt.
1 2 3
Hauser, 2009, 15. Hauser, 2009, 15, im Anschluss an Riesebrodt, 2007, 249. Mit Ulrich Beck ließe sich entsprechend hinsichtlich moderner Lebenswelten konstatieren: „Wir leben in einer anderen Welt als in der, in der wir denken. Wir leben in der Welt des und, denken in Kategorien des entweder-oder.“ [Beck, 1993, 61] Und mit Blick auf die drängenden ökologischen Fragestellungen führt Beck im Weiteren aus: „Doch in der Konkurrenz, Überlagerung, zwischen und und entweder-oder dominiert nicht und, sondern entweder-oder. Reflexive Modernisierung kann Weiterentwicklung oder Gegenmoderne zur Folge haben: Neofaschismus oder ökologische Demokratie; Ökodiktatur, Gewalt, Fundamentalismus oder eine Weiterentwicklung von Demokratie und Aufklärung über die Verkrustungen und Bornierungen der Industriezivilisation hinweg.“ [Beck, 1993, 64].
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
15
So sieht z.B. der im vergangenen Jahrzehnt bisweilen von der Presse zur „Ikone des Umweltaktivismus“ 4 stilisierte frühere US-Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger Al(bert) Gore (*1948) die heutige Generation vor eine Wahl gestellt, „die ehrfurchtgebietend und potenziell für die Ewigkeit“ 5 sei. In dieser Wahl entscheide der Mensch nach Gore über seine Zukunft und weiß sie zugleich hinsichtlich seiner eigenen Existenz als „alternativlos“ 6, folgt er der Auffassung 7, „dass es außer dem Tod noch eine unbestreitbare Tatsache gibt: die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung existiert nicht nur, sie nimmt mit so hoher Geschwindigkeit zu, dass sie zu einer Bedrohung globalen Ausmaßes geworden ist“ 8. In diesem appellarisch persuasiven Duktus, der ausgehend von wissenschaftlichen Ausführungen nicht selten mit religiösen und biblischen Bildmotiven angereichert ist, formuliert der US-Politiker einen Alternativradikalismus, der sowohl Entscheidungsträger als auch die breite Bevölkerung (und über diese wieder die Entscheidungsträger) politisch mobilisieren und in ihren Handlungen beeinflussen soll und beeinflusst hat. Der aus einer solchen Position argumentierende Umweltaktivist macht jedoch seine Darstellungen wie auch das von ihm vertretene ökologische Anliegen – einschließlich jene von ihm vertretene wissenschaftliche Autorengruppe – angreifbar für den Vorwurf des Ideologismus 9. Gerade, wenn Gore vom Klimawandel als unbestreitbare Tatsache spricht, ist die Möglichkeit einer Bestreitung unausgesprochen vorausgesetzt 10. Die Charakterisierung des Klimawandels als unbestreitbare Tatsache lässt sich mit Tadeusz Pawlowski – wie später noch genauer zu zeigen sein wird – als „Signal für ein persuasives Verfahren“ verstehen, das darauf abzielt, „im Adressaten eine positive Einstellung zu dieser Definition zu bewirken, ihn zum Akzeptieren dieser Definition und zur eventuellen Ablehnung des bekämpften Standpunktes zu bewegen.“ 11
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9 10
11
http://diepresse.com/home/panorama/klimawandel/348333/Nobelpreis_Al-Gores-Strafpredigt-fuer-USA-und-China. Gore, 2009, 405. Gore, 2006, 296. Folgt man Pawlowskis These von der persuasiven Funktion von Sprache [vgl. §4 II.4] wurde nicht zu Unrecht im Jahre 2010 das Wort „alternativlos“ zum Unwort des Jahres gewählt. (vgl. hierzu etwa: http://www.tagesschau.de/inland/unwortdesjahres110.html). Gore, 2006, 8. Ein ähnliches Wahlszenario findet sich in der sog. Erdcharta von 2001: „Wir haben die Wahl; Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten.“ [Erdcharta, 2001, 7-8]. Vgl. hierzu auch Boff, 2010, 119. Ein Vorwurf, den lautstark etwa der ehemalige tschechische Staatspräsident Klaus erhebt. Vgl. Klaus, 2007, 28f. Vgl. hierzu Pawlowski: „Sehr häufig aber wird der bekämpfte Standpunkt gar nicht erwähnt, und die Aufgabe der Definition wie der Argumentation, in der sie auftritt, ist es, eine Einstellung zu bewirken, die dem nicht näher präzisierten Standpunkt abgeneigt ist. Diese negative Einstellung kann später, nach dem Wunsch des Urhebers, gegen den einen oder den anderen Standpunkt mobilisiert werden.“ [Pawlowski, 1980, 264]. Pawlowski, 1980, 265.
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EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
In seinem Artikel The UNEP That We Want sinniert der Europäische Direktor des INTERNATIONAL INSTITUTE OF SUSTAINABLE DEVELOPMENT (IISD) Mark Halle freimütig über mög-
licherweise notwendige Sprachmodi, die zum Erfolg der Anliegen des Umweltprogramms der UN (UNEP) beitragen könnten. „UNEP has an important – indeed a critical – message, but it is delivering it in the wrong language to the wrong audience. It is attached to the wrong narrative. It will never position itself to do what is needed until it finds the right language and narrative. The force of this message cannot be over-emphasized. UNEP’s success depends on getting this right. The environment should compete with religion as the only compelling, value-based narrative available to humanity. To do that, however, it will have to make itself relevant well beyond the world of those already concerned with the environment, including very prominently its own formal constituency. Indeed, unless UNEP succeeds in recasting the debate, it is highly likely that the economic community will do it – badly, and on its own terms. It is already happening in the field of climate change.“ 12 Halle entwickelt in diesem Artikel schließlich auch die Schlagwörter, mittels derer die „richtige“ Sprache für die Umweltbewegung fortgeschrieben werden könne und lehnt sich hierbei an die Ideome der Französischen Revolution an: „Influencing economic policy means messaging in its language, and stating the case in terms that carry with the economic policy community and the business community that it serves. We believe that the environment argument should be recast in terms of its importance for and potential contribution to Prosperity, Stability and Equity.“ 13
Die Ansicht, die Haltung zum anthropogenen Klimawandel entspreche einer Entscheidung zwischen zwei radikal unterschiedenen Alternativen, die sich wiederum alternativlos gegenüberstehen, scheint gegenwärtig in weiten Teilen der Bevölkerung vorzuherrschen. Sie wirkt, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird, insbesondere auch in die Bildungs- und Wissenschaftseliten hinein und fördert eine ideologische Zergliederung der Gesellschaft in die selbstzugewiesenen Lager der Klimawandelbefürworter und Klimawandelleugner, die sich bisweilen in einer Art „Glaubenskrieg“ 14 wähnen. Die wissenschaftliche Hypothese eines anthropogenen Einflusses auf das Klima wird beiderseitig plakativ zur (Un-)Wahrheit 15 stilisiert. Der wissenschaftliche Diskurs wird bewusst an den politischen Diskurs herangetragen bzw. von diesem aufgegriffen und gerät so in das Spektrum eines breiten gesamtgesellschaftlichen Diskurses, in dem sich Hoch- und Populärkultur weit über wissenschaftliche Auseinandersetzungen hinaus zunehmend verschränken und darüber zugleich zu einer Herausforderung für die je-eigene Weltanschau-
12 13 14
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Halle, 2007, 4, abrufbar unter: http://www.foxnews.com/projects/pdf/113009_IISDreport.pdf. Halle, 2007, 4, abrufbar unter: http://www.foxnews.com/projects/pdf/113009_IISDreport.pdf. Die Beitragsverfasser auf der Seite des EUROPÄISCHEN INSTITUTS FÜR KLIMA UND ENERGIE [EIKE], wähnen in ihren klimawissenschaftlichen Opponenten wie etwa dem IPCC „Glaubenskrieger“. Vgl. hierzu Lüdecke, 2009, 33 abrufbar unter: http://www.eike-klima-energie.eu/uploads/media/Medien_Enten_Nov09_01.pdf. So erfährt Gores Unbequeme Wahrheit dokumentarfilmische Erwiderungen in The trouth about climate change [2008] vom erfolgreichen Natur-und Dokumentarfilmer Sir David Attenborough und im propagandistischen The Great Global Warming Swindle [2007] von Martin Durkin, den in deutscher Bearbeitung am 11.06.2007 auch 1,39 Millionen Zuschauer im Hauptabendprogramm von RTL verfolgen [zur Quotenangabe: http://www.dwdl.de/zahlenzentrale/11218/rtl_maue_quoten_fr_den_klimaschwindel/].
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
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ung werden. In dieser spannungsreichen Konstellation bieten sich dem Klimadiskursinteressierten Absprungspunkte in ideologische wie auch religiöse Deutungskonzepte, die aufzuarbeiten im Fokus dieser Untersuchung steht – nicht als naturwissenschaftliche Abarbeitung an empirischen Sätzen sondern als Darstellung der zum Teil in Methodik und Vorgehensweise der klimatologischen Forschung begründeten Momente, an denen der Boden des wissenschaftlichen Diskurses in jeindividuellen Anschauungen, von denen hier vor allem die mythischen von Interesse sind, verlassen werden kann. Dort, wo die Anschauung zum anthropogenen Klimawandel zu einem über den Sachverhalt hinausreichenden Alternativradikalismus gerät, kann sie vom Menschen der Moderne als weltanschauliche Ideologie vollzogen werden und damit fern wissenschaftlicher Grundhaltungen alternativradikale Dogmen hervorbringen, die noch in der wissenschaftlichen Analyse ökologischer Problemstellungen in der Form scheinbar unhintergehbarer Paradigmen Theoriebildungen und Deutungskonzepte prägen und nicht selten einengen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen einen ideologisch lebbaren Klimawandeldiskurs, wenngleich die zunehmende Dogmatisierung immer auch vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Weltanschauung metatheoretisch als Entartung reflektiert werden kann und wird. Im Mai 2007 sorgte der vermeintliche Fauxpas bei einer Hoteleröffnung in Kalifornien für ein reges Rauschen im amerikanischen Blätterwald 16, das verspätet auch das Online-Portal einer deutschen Wochenzeitung erfasste 17. Napa Valley’s first environmentallysustainable hotel & spa 18 mit dem klingenden Namen GAIA – wir werden im weiteren Verlauf der Arbeit sehen, dass dieser mythische Namensverweis keinen zufälligen marketingstrategischen Sonderweg darstellt – geriet in die Schlagzeilen, weil man in den Nachttischen die in den amerikanischen Breitengraden nahezu obligatorische Gideon-Bibel vergeblich suchte, wohingegen die Gasträume mit Al Gores An Unconvenient Truth ausgestattet waren. Den satirischen Seitenhieben und der Empörung christlicher Vertreter folgte die schnelle Richtigstellung durch den Hotelbesitzer Wen-I Chang. Man habe lediglich in der Hektik der Eröffnungsvorbereitung übersehen, die Bibel in die Nachttische zu legen und entschuldige sich bei Christen, die sich dadurch angegriffen fühlten 19. Er habe unverzüglich nach Bekanntwerden des Missgeschicks veranlasst, dass die Bibeln an ihren angestammten Platz gelangen – zusammen mit grundlegenden buddhistischen Schriften. Gores An Unconvenient Truth werde auch weiterhin in den Gasträumen zu finden sein 20. Die Stilisierung eines ideologischen Konkurrenzkampfes zwischen Heiligen Schriften und ökologischen Standardwerken macht sich aber auch über die Grenzen von Napa Valley hinaus bemerkbar: etwa in der zynischen Verunglimpfung von Gores Abhandlungen durch Webuser als The Holy Goran 21
16 17 18 19 20 21
Vgl. http://www.hotelchatter.com/story/2007/5/3/92726/79917/hotels/Al_Gore_s_In-convenient_Truth_Replac-es_Bibles_in_Green_Hotel. Joffe, 2007, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2007/43/U-Klimatismus. Vgl. http://www.gaianapavalleyhotel.com/. Vgl. http://www.hotelchatter.com/tag/Napa%20Valley%20Hotel%20Reviews. Vgl. http://www.hotelchatter.com/tag/Napa%20Valley%20Hotel%20Reviews. http://radicalgreenwatch.com/castlemaine/wp-content/uploads/2008/06/goran-vi.jpg.
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EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
aber auch in der Herausgabe einer, eigens entsprechende Passagen der New Revised Standard Version hervorhebenden, Green Bible 22. Folgt man dem Urteil von Richter Michael Burton, der 2007 bereits Aufmerksamkeit auf sich zog, als er gerichtlich neun Fehler in Gores Oscar-prämierter Dokumentation An Unconvenient Truth feststellen ließ 23, so ist die Haltung zum anthropogenen Klimawandel längst mehr als eine wissenschaftliche Anfrage: Sie ist auch rechtlich (r)eine Glaubenssache: „A belief in man-made climate change, and the alleged resulting moral imperatives, is capable, if genuinely held, of being a philosophical belief for the purpose of [the 2003 law].”24 Mit diesem Urteilsspruch vom November 2009 schuf Burton in Großbritannien einen Präzedenzfall und gab zugleich dem Kläger Michael Nicholson Recht, der seine Entlassung als Leiter der Abteilung für Nachhaltigkeit der Firma GRAINGER als Verstoß gegen das 2003 in Großbritannien erlassene Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund religiöser und philosophischer Überzeugungen sah 25. Nicholson selbst merkte zum Urteilsspruch an: „I believe man-made climate change is the most important issue of our time and nothing should stand in the way of diverting this catastrophe […] This philosophical belief that is based on scientific evidence has now been given the same protection in law as faith-based religious belief.“ 26
In der Interpretation der eigenen Haltung zum anthropogenen Klimawandel als wissenschaftlich basierte philosophische Überzeugung blitzt der spannungsreiche Standpunkt im Ausgang eines zunehmend ideologisch aufgeladenen Diskurses auf. Ein spannungsreicher Standpunkt, der weniger im Miteinander der hier als im paradoxalen Spannungsverhältnis gedachten Kategorien von „Wissenschaftlichkeit“ und „philosophischer Überzeugung“ begründet liegt, denn in dem bereits angesprochenen und in der Folge näher zu erläuternden Prozess der Entzauberung und Wiederverzauberung von Welt. Wir wollen uns daher im Weiteren auf die Suche nach dem spannungsreichen Standpunkt hinter den oftmals als Alternativradikalismen erscheinenden Deutungen des Klimawandels begeben. Eine Suche, die gerade um der ökologischen Anliegen willen mit dem Prozess der Entzauberung und Wiederverzauberung notwendig auch mythische Ausdrucksformen innerhalb einer sich wissenschaftlich vollziehenden Weltanschauung in den Blick nehmen muss. Dieser Blick schärft das Bewusstsein für das unsachliche Spiel mit apokalyptisch anmutenden Schreckensszenarien, hilft Allmachtsfantasien in technologisch angereicherten Gedankenspielen über Lösbarkeit und Nutzbarkeit des Klimawandels zu erkennen und bereitet darin den Weg,
22 23 24 25
26
Vgl. http://www.greenletterbible.com/about.php. Vgl. Eben, 2009, abrufbar unter: http://www.time.com/time/business/article/0,8599,1936074,00.html. Eben, 2009, abrufbar unter: http://www.time.com/time/business/article/0,8599,1936074,00.html. Vgl. Adams/Gray, 2009, abrufbar unter: http://www.telegraph.co.uk/earth/earthnews/6494213/Climate-change-belief-given-same-legal-status-as-religion.html. Adams/Gray, 2009, abrufbar unter: http://www.telegraph.co.uk/earth/earthnews/6494213/Climate-change-belief-given-same-legal-status-as-religion.html.
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eine kritische Haltung zu etablieren, die sich der (auch historischen) Tragweite gegenwärtiger ökologischer Problemstellungen gewiss ist. Betrachten wir zu Beginn unserer Suche exemplarisch zwei deutlich unterscheidbare Umgangsweisen mit dem Problem des Klimawandels: Den beiden folgenden Beispielen ist gemein, dass die Begegnung mit dem Klimawandel, ähnlich der Haltung Nicholsons, zunächst als Auseinandersetzung mit einem wissenschaftlichen Theorem gedacht ist. Der Bezug auf dieses Theorem erfolgt jedoch außerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses als Legitimation für die je-eigene Deutung einer zu vollziehenden Pragmatik 27. Diese je-eigenen Deutungen ereignen sich vor dem Hintergrund tradierter Konzepte, innerhalb derer eine Begegnung mit dem Problem des anthropogenen Klimawandels erfolgt, die aber auch durch dieses Problem herausgefordert sind. Zu diesen tradierten Deutungskonzepten zählen u.a. Mytheme. Diese Mytheme können vor dem Hintergrund des die Moderne bestimmenden Prozesses von Entzauberung und Wiederverzauberung zunehmend in einem spannungsreichen Spektrum artikuliert werden, das sich in den im Folgenden näher zu erläuternden spezifischen mythischen Reden von Neomythen und Retromythen vollzieht. Die anschließende Untersuchung wird zeigen, dass diese mythischen Entwürfe sich nicht abgegrenzt von einem technisch-wissenschaftlichen Diskurs vollziehen, sondern im Gegenteil gerade im Diskurs um einen anthropogenen Klimawandel, wie Hauser bereits für die Neomythen anmerkt, „häufig vertretene und damit kulturgestaltende Standpunkte markieren“ 28. In dieser praktischen Relevanz liegt die Notwendigkeit einer analytischen Aufarbeitung mythischer Entwürfe im ökologischen Diskurs begründet, die selbstverständlich eine begriffliche Auseinandersetzung einschließt.
II.
Der Klimawandel als unbequeme Herausforderung für gewohnte Deutungskonzepte
1.
Greenhouse vs. Whitehouse
1988 – lange vor Erscheinen des ersten Sachstandsberichts des IPCC (INTERGOVERNMENTAL PANEL ON CLIMATE CHANGE) (1990) – diskutierte man in der breiten Öffentlichkeit bereits lebhaft die auch heute noch für das übergreifende Theorem des anthropogenen Klimawandels bestimmenden Parameter des Treibhauseffekts (engl. greenhouse effect) und der Globalen Erwärmung. Der anthropogene Einfluss hinter diesen klimatischen Akzidenzien belief sich in der Wahrnehmung vieler in der industriellen Aussonderung der Schadstoffchemikalie FCKW, deren
27
28
Hier deutet sich bereits die später näher zu erläuternde These an, dass die Verwendung von Wissenschaftssprache in nicht-wissenschaftlichen Diskursen als „persuasives Verfahren“ im Sinne Pawlowski verstanden werden kann. Hauser, 2009, 13.
20
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
ozonschädigender Einfluss erstmals 1974 von den Chemikern Molina und Rowland 29 beschrieben wurde. Ähnlich dem Einfluss des für den Klimawandeldiskurs prägenden IPCC erfährt auch der Diskurs um durch FCKW entstandene Schäden in der Ozonschicht ebenso wertvolle wie richtungsweisende Impulse durch einen internationalen Wissenschaftsverbund, der von der NASA gefördert in Kooperation von UARO (UPPER ATMOSPHERE RESEARCH OFFICE) und WMO (WORLD METEOROLOGICAL ORGANIZATION) zu Stande kam und dessen 1986 dem US-Kongress vorgelegter Sachstandsreport Present State of Knowledge of the Upper Atmosphere: An Assessment Report als „ein Statement des wissenschaftlichen Konsens“ wahrgenommen wurde 30. Der wissenschaftliche Boden ist also bereitet, von dem ausgehend die Politik ihre pragmatischen Implikationen fortan entwickelt. In US-Politik-Kreisen misst man den wissenschaftlichen Beobachtungen eine große Bedeutung zu, erst recht, als 1988 James Hansen der damalige Direktor des NASA GODDARD INSTITUT FOR SPACE STUDIES vor den Senat tritt und aussagt, dass er „zu 99% sicher sei, [dass, B.C.] der [durch den Menschen verursachte, B.C.] Treibhauseffekt nachgewiesen worden sei, und dass dieser das Klima bereits jetzt verändert“ 31. „Über seine Aussage, die auf Computermodellen und Temperaturmessungen beruhte, wurde ausführlich in den Medien berichtet, und in kürzester Zeit gelangte der Begriff [des] ‚Treibhauseffektes‘ in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.“ 32 Am 2. Januar 1989 schließlich erklärt die NEW YORK TIMES die „geschundene Erde“ medienwirksam zum „Planeten des Jahres“ 33. Weniger die Analogien der Debatte um einen anthropogenen Treibhauseffekt zu der um den anthropogenen Klimawandel sollen uns hier interessieren – wenngleich sie, wie Beverly Crawford in ihrem bemerkenswerten Aufsatz zeigt, Rückschlüsse auf gegenwärtige Diskursentwicklungen erlauben 34 bzw. mit in die gegenwärtigen Diskurse einfließen. Vielmehr lässt sich an der Ankündigung George H. W. Bushs im Präsidentschaftswahlkampf 1988 illustrativ das Grundmuster eines möglichen Umgangs mit durch Menschen verursachten schädigenden Umweltveränderungen aufzeigen. In Michigan erklärt der spätere Präsident der USA angesichts der Ozonkrise einprägsam: „Those who think we're powerless to do anything about the ‚greenhouse effect’ are forgetting about the ‚White House effect’. As President, I intend to do something about it. In my first year in office, I will convene a global conference on the environment at the White House. It will include the Soviets, the Chinese, the developing world as well as the developed. All nations will be welcome – and indeed, all nations will be needed. The agenda will be clear. We will talk
29 30 31 32 33 34
Molina/Rowland, 1974, 810-812. Vgl. Crawford, 2009, 234f. Crawford, 2009, 240. Crawford, 2009, 240. http://www.time.com/time/covers/0,16641,19890102,00.html [Übersetzung: M.N.]. Vgl. Crawford, 2009, 226-249.
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
21
about global warming. We will talk about acid rain. We will talk about saving our oceans, and preventing the loss of tropical forests. And we will act.“ 35 Der Machtlosigkeit gegenüber Umwelteinflüssen begegnet Bush durch eigene (politische) Handlungsstärke, indem er dem „Greenhouse“- den „White-Houseeffect“ gegenüberstellt. Wir werden in der folgenden Untersuchung sehen, dass sich in dieser Denkweise eine auch für den Neomyhtiker grundlegende Positionalität in der Begegnung mit dem anthropogenen Klimawandel widerspiegelt. Umwelteinflüsse und Naturkatastrophen werden im konkreten Gestaltungsraum des Menschen verortet, der als in der Lage gesehen wird, diese (un)bewusst hervorzurufen, aber entsprechend auch wieder abwenden zu können. Eine anthropologische Grundstruktur suchend, mag für das Denken von George H.W. Bush gelten, was Norbert Lossau hinsichtlich ähnlicher Bewältigungsstrategien im Umfeld der Tsunamikatastrophe 2004 in der WELT schreibt. „Hinter der Suche nach solchen Erklärungsmustern [bzw. Bewältigungsmustern] verbirgt sich die Urhoffnung auf eine durch den Menschen beherrschbare Welt.“ 36 Eine solche Umgangsweise werden wir auch in dem nun folgenden Beispiel wiederentdecken, wenngleich in diesem Fall eine weitere, im Klimawandeldiskurs immer wieder auffindbare Grundposition hinzutritt und so das vom Prozess der Entzauberung und Wiederverzauberung grundgelegte Spannungsfeld zum Vorschein gelangt.
2.
„Drive the change“
Mit „Drive the change“ stellt RENAULT im IAA-Herbst 2009 seinen neuen Markenclaim vor, der den bis 2007 verwandten, klanghaften Slogan „Créateur d’Automobiles“ ablöst 37. Der Automobilhersteller versucht dabei mit der „Neuausrichtung seiner Markenidentität“ 38 die Relevanz ökologischer Themen im Bereich der Produktentwicklung 39 zu unterstreichen – vor allem aber auch im Bereich der Marketingstrategie. Dem marketingstrategischen Konzept entspreche, wie der Vorstandsvorsitzende der RENAULT DEUTSCHLAND AG, Achim Schaible zur deutschen Fernsehpremiere des Markenfilms im August 2010 mitteilt, ein „echte[r] Bewusstseinswandel hin zu einem neuen Mobilitätsansatz“ 40: „Der neue Markenclaim steht für die Visionen und Ziele von RENAULT, zukünftig noch mehr als heute erschwingliche und umweltfreundliche Fahrzeuge anzubieten, die die Belange der Umwelt berücksichtigen, und die konsequent auf die Bedürfnisse des Menschen abgestimmt sind“ 41. 35 36 37 38 39 40 41
The New York Times, 1988, 27. Lossau, 2004, 1. Vgl. http://www.wuv.de/nachrichten/unternehmen/renault_mit_neuem_markenclaim. http://automotivelounge.de/2010/08/30/drive-the-change/. Vgl. http://www.renault.de/renault-welt/magazin/wissenswertes/renault-markenclaim-drivethe-change/. http://automotivelounge.de/2010/08/30/drive-the-change/. http://automotivelounge.de/2010/08/30/drive-the-change/.
22
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
Entfaltet wird diese Vision im Werbetext des TV-Spots zum Markenclaim, den wir nachfolgend genauer betrachten wollen: „Gibt es eine schönere Erfindung als das Automobil? Es hat die Menschen glücklich gemacht und war der Motor großer sozialer Veränderungen. Aber, hält es heute noch mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt? Darf es sein, dass einige von uns längst fahren, während andere nicht wissen, wie sie vorankommen? Muss das Vergnügen der einen auf die Kosten der anderen gehen? Beinträchtigen wir, indem wir heute gut leben, die Lebensqualität von morgen? Wir bei Renault sind davon überzeugt, dass es an der Zeit ist, einiges zu ändern. Für uns zählt nicht nur das Vergnügen des Fahrers, sondern das aller Menschen. Für uns geht es beim Thema Sicherheit nicht darum, Crashtestdummies wiederverwenden zu können, es geht um das Leben von Menschen. Für uns zählt in Sachen Erderwärmung weit mehr, als nur das zu reduzieren, was aus dem Auspuff kommt. Diese Frage stellen wir uns von der Herstellung, über die Laufzeit bis hin zur Entsorgung. Für uns ist es an der Zeit, Elektroautos für alle auf den Markt zu bringen, das Automobil wieder in Richtung des Menschen zu bewegen und die des Lebens. Renault. Drive the change.“ 42
Auf den ersten Blick scheint im vorliegenden Werbetext dieselbe Denkposition vorzuliegen, wie sie im vorherigen Kapitel in der Umgangsweise George H. W. Bushs mit dem Problem des Treibhauseffekts aufgewiesen wurde. Die Herausforderungen des Klimawandels werden als technisch lösbar interpretiert. Die Automobilentwicklung hin zum markeneigenen Elektroauto bietet dabei zugleich auch die Lösung für andere epochale Herausforderungen in den Bereichen „globale Gerechtigkeit“ und „Generationengerechtigkeit“, die in rhetorischen Fragen mit dem Problem der Erderwärmung verbunden werden. Auf dem Höhepunkt der vorgelegten Vision wird schließlich die existentielle Bedeutung des technischen Vollzugs hervorgehoben: Elektroauto und Lebensgrundlage miteinander verflochten. Die vor dem Hintergrund der nachfolgenden Darstellungen als neomythische Allmachtsfantasie identifizierbare Vision der eigenen Markenentwicklung weist aber noch weitere Motive als die der technischen Lösbarkeit epochaler und existentieller Herausforderungen auf: Zu Beginn des Werbetextes werden neben der überspannten Bedeutung des Automobils für die soziale und kulturelle Entwicklung des Menschen auch die Grenzen des sich daran bindenden technischen als auch gesellschaftlichen Fortschritts bedacht. Die epochalen Herausforderungen erscheinen vor dem Hintergrund dieser stilisiert-verkürzten (Automobil-)Entwicklungsgeschichte als Konsequenzen des technisch-kulturellen Fortschrittsstrebens und konkurrieren so mit einem ungebremsten Fortschrittsoptimismus. Die hier erkennbare Retardierung des Fortschrittgedankens klingt auch in der weiteren Werbebotschaft nach, wenn mit der Wendung „das Automobil wieder in
42
http://www.renault-me.com/discover/drive.html [hier im englischen Original; Übersetzung nach der deutschen Fassung des Werbevideos, das abrufbar ist unter: https://www.youtube.com/watch?v=EUKrFbM2yys].
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
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Richtung des Menschen bewegen“ eine Retrospektive eingenommen wird. Das zukünftige Ideal wird als Rückbezug auf einen einst zu Beginn der Automobilentwicklung vorfindbaren Zustand gedacht. Diese ins Futuristische projizierte Retrospektive, wir können hiervon mit einem Terminus von Wolfgang Pauser als von einem Retrofuturismus 43 sprechen, wird jedoch im Werbetext größtenteils durch die visionäre Darstellung des technischen Fortschreitens verdeckt, mit dessen Hilfe der frühere Idealzustand erreicht werden soll. Die Stilisierung des Elektroautos als Zeichen dieses technischen Fortschrittvollzugs überstrahlt die im Werbetext spürbare Spannung zwischen Fortschrittsdenken und Retrospektive und löst diese im abschließenden Markenclaim in einer neomythischen Denkposition auf. Mit der „Retardierung des Fortschrittdenkens“ und einer grundlegenden, mitunter ins Futuristische übertragenen „Rückwärtsgewandtheit“ klingen dennoch im Werbetext des Automobilherstellers zwei Motive an, die Grundvollzüge einer mit dem Neomythischen konkurrierenden Denkposition bilden. Im Vorgriff auf die noch zu vollziehende begriffliche Aufarbeitung können wir diese in Mythen gekleidete kritische Denkposition als retromythisch beschreiben.
III
Der Klimawandel als Thema und Motor neuer Mythen
Neo- und retromythische Denkfiguren stellen, wie in der weiteren Untersuchung zu zeigen sein wird, keine marketing- oder politstrategischen Sonderwege dar, sondern bilden grundlegende Vollzugsweisen des sich weltanschaulich entwerfenden Menschen der Moderne, die insbesondere auch in ökologischen Diskursen, wie dem des anthropogenen Klimawandels, hervortreten. Ob ihrer anthropologischen Fundiertheit verspricht die Identifikation dieser Denkfiguren eine bessere Systematisierung und damit ein tieferes Verstehen moderner gesellschaftlicher Entwicklungen und Diskurse. Wenn aber, wie behauptet, retro- und neomythischen Denkfiguren grundlegende Vollzugsweisen des sich weltanschaulich entwerfenden Menschen der Moderne sind, müssen sie sich zugleich in unterschiedlichen Diskursebenen der Klimawandeldebatte wiederfinden lassen. Die bereits angedeutete Verschränkung von Hochund Populärkultur und die zunehmenden Grenzüberschreitungen zwischen wissenschaftlichen und politischen Diskursen deuten an, dass im weiteren Verlauf der Untersuchung sowohl populäre Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel in den Blick zu nehmen sind, da die in diesem Stil vorgetragenen Denkfiguren auf die Arbeiten in wissenschaftlichen Eliten Einfluss nehmen können 44. Daneben ist aber auch die Popularisierung der Elitewissenschaft, die zunehmend auch im Bereich der Politik stattfindet, beispielhaft zu thematisieren, die wiederum in die Breite gesamtgesellschaftlicher Diskurse zurückwirkt und ökologische Bewegungen hervorruft.
43 44
Vgl. Pauser, W., 1999, abrufbar unter: http://www.zeit.de/1999/34/Raumflug_rueckwaerts. Auf die Wechselwirkung von Elitenwissenschaft und populärwissenschaftlicher Rezeption im Bereich der Neomythen weist Hauser in seiner Kritik der neomythischen Vernunft ausführlich hin. Vgl. u.a. Hauser, 2004, 23.
24
EINFÜHRUNG IN DIE UNTERSUCHUNG
Im Vorfeld der Klimawandeldebatte werden wir so auf die sich aus populärwissenschaftlichen Darstellungen etwa eines Fritjof Capra speisenden Vorstellungen einer belebten Erde stoßen, die unter dem Begriff Gaia-Hypothese auch in den Wissenschaftseliten salonfähig werden und im Klimawandeldiskurs in den deutenden Sprechweisen vom System Erde u. ä. widerhallen. Darüber hinaus sind die Instrumente wissenschaftlicher Darstellung, von denen Modelle und Simulationen im Bereich der Klimatologie maßgeblich sind, in ihrer Bedeutung für populärwissenschaftliche und auch mythische Vollzugsweisen zu bestimmen. Die Popularisierung wissenschaftlicher Theorienbildung in den von hochrangigen Vertretern ihres Faches angestoßenen politischen Diskursen wollen wir schließlich exemplarisch in den Werken Gores nachzeichnen. Begeben wir uns also auf den Weg, den Diskurs um den anthropogenen Klimawandel unter der zunächst ungewöhnlichen Perspektive neuer mythischen Kategorien zu betrachten. Ein Weg, der auf der Grundlage methodischer Vorüberlegungen zunächst hinreichend bestimmt und gangbar gemacht werden muss. Erst unter diesen Voraussetzungen kann der weltanschauliche Grund des modernen Menschen bedacht werden, von dem ausgehend sich retro- und neomythische Denkweisen schließlich entfalten und gleichsam näher betrachten lassen.
§1
Der Klimawandel im Spiegel neuer Mythen – Eine Sondierung des zu bestreitenden Problemfeldes
I.
Verortung der Untersuchung
Deutungen des Klimawandels ereignen sich meist nicht im begrenzten Raum fachwissenschaftlicher Disziplinen sondern vollziehen sich vor dem Hintergrund je-individueller Erfahrungen in einem breiten kulturellen Kontext, den zu erschließen wir uns im Weiteren bemühen wollen. Sie sind daher auch nur unzureichend in den je-spezifischen Heuristiken von Fachwissenschaften beschreibbar. An die folgende Untersuchung ist vielmehr ein Anliegen geknüpft, das sich transdisziplinär fassen lässt. Die Schwerpunktsetzung der darzustellenden Denkfiguren in den jeweiligen Deutungen ist gebunden an die Hypothese, dass die vermittelten Erfahrungen in einen lebensweltlichen Kontext situiert sind, der sich mit dem 18. Jahrhundert weg von einer mythischen hin zu einer (natur-)wissenschaftlichen Weltanschauung transformiert 45. Mit dem Kontext wandeln sich zugleich die Interpretationen der widerfahrenen, naturkatastrophal bedingten Diskontinuitätserfahrungen. Dabei bleiben die Artikulationen dieser notwendig spannungsreich – wie auch der gelebte weltanschauliche Grund – und es kommt, auf die gegenwärtige weltanschauliche Situation bezogen, zu Randunschärfen zwischen naturwissenschaftlich aufgearbeiteten empirischen Sätzen und deren beginnender ebenso weltanschaulich relevanter Interpretation in nicht-naturwissenschaftlichen Kontexten. Diese Randunschärfen zu ergründen, begeben wir uns in der Folge in einen Diskurs, der notwendig naturwissenschaftliche Theorienbildungen zum Thema hat, in diesen aber mit einem wissenschaftsphilosophischen Blick Absprungpunkte aufarbeitet, an denen aufgrund mangelnder lebensweltlicher Konkretheit Orientierungsmomente aus religiösen und religionsförmigen 46 Bereichen wie etwa denen der (Neo-)Mythologie oder Apokalyptik gesucht werden 47. Als religionsförmig wollen wir dabei in einer ersten begrifflichen Annäherung solche Phänomene fassen, bei denen zwar „die öffentlich wahrnehmbare ‚Außenseite‚ von Religion (hauptsächlich eine bestimmte Organisation mit religiösem Anspruch, bestimmte Rituale und Lebensregeln) erhalten bleibt“ 48, die aber wesentliche anthropologische Voraussetzungen von Religion nicht länger teilen. Unter dieser Voraussetzung werden an späterer Stelle Phänomene aus den Bereichen New Age und ganzheitlicher Medizin kontextualisiert und aufgearbeitet.
45 46 47 48
Vgl. Hauser, 2004, 24. Diesen Terminus entwickelt Hauser in Anlehnung an Schrödter in seiner Kritik der Neomythischen Vernunft. Vgl. Hauser, 2004, 55. Vgl. zu dieser Vorgehensweise: Hauser, 2004, 24. Schrödter/Ebeling, 2013, 163.
26
§1 DER KLIMAWANDEL IM SPIEGEL NEUER MYTHEN
Wenn wir auf dieser Suche nach Absprungpunkten in religiöse und religionsförmige Denkfiguren im Klimawandeldiskurs eine Systematisierung im Spannungsfeld von Neo- und Retromythischem vornehmen, so ergeben sich aus diesem methodischen Vorgehen, klare Grenzen hinsichtlich der daraus resultierenden Aussagemöglichkeiten: a) Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht um eine fachwissenschaftliche Beurteilung der Hypothesen zum anthropogenen Klimawandel gehen. Vielmehr gilt es, zum Teil in der Methodik und Vorgehensweise der klimatologischen Forschung begründete, Momente aufzuzeigen, an denen in je-individuellen Deutungen die hypothesenbasierte, wissenschaftliche Erkenntnisse hin zu mythischen Denkfiguren überschritten werden. Der Aufweis solcher Denkfiguren weiß sich zugleich abgegrenzt von soziologischen wie feuilletonistisch-populärsoziologischen Entwürfen, die in den polit-ökologischen Bewegungen im Umfeld des anthropogenen Klimawandels eine „Ersatzreligion“ ausmachen. Mit satirischem Unterton sprechen etwa Journalisten der Onlineportale von ZEIT und WELT von der Klimaschutzbewegung der vergangenen Jahre als vom „Klimatismus als neue weltliche Religion“ 49 oder als der am „schnellsten wachsende[n] Weltreligion“ 50 des 21. Jahrhunderts. Das österreichische Fernsehformat KULTURZEIT strahlt am 19.01.2010 einen Beitrag aus, der ebenfalls von der „Klimareligion“ spricht, die im Klimawandel ihr grundlegendes Glaubensmoment und „Dogma“ findet 51. In dem Beitrag kommt auch der Soziologe Norbert Bolz zu Wort, der in einem späteren Interview näher ausführt: „Wenn also die traditionellen, sprich christlichen Religionen, die Menschen nicht mehr ansprechen, suchen sie nach Ersatzreligionen. Und die mächtigste der gegenwärtigen Ersatzreligionen ist mit Sicherheit die grüne Bewegung, das Umweltbewusstsein, was sich heute konkretisiert in der Sorge um das Weltklima.“ 52
Die Abgrenzung zu solch mitunter abstrakt abwertenden Entwürfen erfolgt zu allererst über ein grundlegend divergierendes Verständnis sowohl von Religion als auch von Religiösem, das sich über die konkreten Objektivationen hinaus an anthropologischen Grundstrukturen orientiert 53. b) So gilt der vornehmliche Blick der folgenden Arbeit weniger möglichen konkreten Parallelen zwischen Religionen und zu Ersatzreligionen stilisierten Erscheinungsformen als vielmehr dem Aufweis darüber, wie Hauser bereits hinsichtlich des Neomythos ausführt, „einen zu einer breiten Strömungen [sic!] der Moderne gehörigen neuen, eine Postokzidentale Metaphysik entwickelnden Denkstil [und dessen Reflexion in retromythischen Denkfiguren, M.N.] zu markieren“ 54. Der Bedeutungsverlust klassischer Metaphysik in der Moderne zieht eine Orientierungssu-
49 50 51 52 53 54
Joffe, 2007, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2007/43/U-Klimatismus. http://www.welt.de/satire/article1025037/Die_am_schnellsten_wachsende_Weltreligion.html. Vgl. Kulturzeit, 9.01.2010 (ausgestrahlt auf 3Sat). http://alles-schallundrauch.blogspot.com/2010/02/interview-mit-professor-norbert-bolz.html. Vgl. hierzu auch §8, III.1. Hauser, 2004, 55.
§1 DER KLIMAWANDEL IM SPIEGEL NEUER MYTHEN
27
che nach sich, die sich unter den Voraussetzungen wissenschaftlicher Weltanschauung vollzieht und im Unbehagen gegenüber religiösen Absolutheitsansprüchen menschliche Selbstgestaltungsprozesse in den Vordergrund rückt, wobei die Grenzen dieses Prozesses im Widerstreit von Überschreitung und Anerkennung beständig in je-spezifischen Deutungen austariert werden. Dieser Denkstil wird nicht erst durch eine mögliche konkrete „Ersatzreligion“ hervorgebracht, sondern er ist der Grund, von dem her sich Längere Gedankenspiele als auch „Bewusst ergriffene Lebensorientierung[en]“ 55 und die eben auch in unserem Zusammenhang in den Mittelpunkt gestellten Deutungen des anthropogenen Klimawandels ausgestalten. c) Liegt hierin auch das Hauptaugenmerk der Arbeit, so erfordert die Auseinandersetzung mit dem anthropogenen Klimawandeldiskurs eine transdisziplinäre Weite, mit der die wissenschaftlichen Grundannahmen in den Blick genommen werden. „Der“ fachwissenschaftliche Diskurs, der sich wiederum notwendig in einzelne Teilgebiete der Klimatologie zergliedert, erfolgt gerade im Bereich des Klimawandels nicht gesondert von den politpragmatischen Diskursen, wie auch anhand soziologischer Untersuchungen zu zeigen sein wird. Die gerade in der Politik, aber zunehmend auch im Wissenschaftsbetrieb selbst, entwickelten Handlungskonzepte sind daher exemplarisch zu diskutieren. d) Letztlich verspricht der religionsphilosophische Blick auf gegenwärtige insbesondere naturwissenschaftlich geprägte Deutungskonzepte zum Klimawandel und die kritische Suche nach darin aufscheinenden metaphysikhaltigen, neo- und retromythischen Tendenzen auch neue Perspektiven für einen verantwortungsbewussten, gesellschaftspolitischen Umgang mit fachwissenschaftlichen Erkenntnissen, der wertvolle Impulse für die aktuellen Diskurse in Umweltethik und Schöpfungstheologie bereithält. Denn erst, wo man sich der eigenen Denkfiguren bewusst wird, öffnet sich auch der Raum, diese weitergehend zu reflektieren.
II.
Eingenommene Standpunkte und Perspektiven
Die Analyse mythischer Artikulationen im Umfeld des Klimawandeldiskurses, die im weiteren Verlauf der Untersuchung vollzogen wird, verlangt nach einer Perspektive, die den weltanschaulichen Grund in einer rekonstruierenden Erörterung mitbetrachtet, der den grundsätzlich heterogenen, je-eigenen Zugang zur Wirklichkeit bestimmt. Naturwissenschaftliche und mythische Weltaneignung werden bei dieser Analyse als die vorrangigen Zugangsweisen dargestellt. Damit ist jedoch weder ausgesagt, dass die Deutungen des Klimawandels und damit als im Zusammenhang stehend gedachter naturkatastrophaler Entwicklungen sich allein in den Bahnen naturwissenschaftlicher und mythischer Interpretationen ereignen, noch dass naturwissenschaftliche und mythische Interpretationen abgegrenzt voneinander begegnen – oder vielleicht sogar begegnen könnten. Es handelt sich vielmehr um ein notwendig
55
Hauser, 2004, 55.
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zu bestimmendes Begriffspaar, das zwei komplementäre Zugangsweisen im Spektrum möglicher heterogener Zugänge umreißt, die in einem spannungsreich wechselseitigen Verhältnis vor dem Hintergrund an sich spannungsreicher Weltanschauung zueinander stehen 56. Eine Perspektive, die sich dem angemessen nähern will, muss zunächst – wenn auch im Bewusstsein ihrer notwendigen Bezogenheit aufeinander – unterschiedene Zugänge im reflektierenden Zugriff definieren und offenlegen. Eine solche Offenlegung kann gelingen, wenn man den Standpunkt des zu betrachtenden Zugangs annimmt, sich, einen Terminus von Franz-Josef Bäumer bedienend, eine analytische Arbeitsweise in der Form von Bifokalität aneignet. Bifokalität lässt sich auffassen als „ein Oszillieren, ein In-der-Schwebe-Halten und Transformieren von verschiedenen Polaritäten“ 57. In unserem Fall geht es um die Offenlegung von Polaritäten in mitgeteilten Deutungen des Klimawandels. Polaritäten wie die zwischen naturwissenschaftlicher und mythischer Weltaneignung, zwischen neo- und retromythischen Deutungsfiguren, zwischen Bewusst ergriffener Lebensorientierung und Längerem Gedankenspiel, zwischen den im Entscheidungsakt vermeintlich differenzierten Handlungsalternativen. Eine für die folgende Arbeit vorgeschlagene bifokale Betrachtung vollzieht sich somit in der Einnahme eines „zweiten Blick[s]“ 58, der sich von „der Nahsicht der ‚problematischen Situation‚“ 59 löst, die in unserem Fall zu benennen ist als die konkret mitgeteilte, je-individuell vorgetragene Deutung des Klimawandels, und diese in Beziehung setzt zu den in der Fernsicht wahrgenommenen Zusammenhängen – zu gegenwärtigen weltanschaulichen Perspektiven, zu vorangegangenen tradierten Entwicklungen, zu Genese und Begriffslogik verwendeter Terminologie aber auch zur eigenen autorenspezifischen Beteiligung. Bifokalität stellt im Grunde genommen einen Versuch dar, Diskontinuitätserfahrungen im großen Rahmen der je eigenen Lebenswirklichkeit und vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit zu betrachten, mit dem Ziel, Entwirrung zu ermöglichen, um klare Perspektiven für die Zukunft zu schaffen. Diese Offenlegung von Perspektiven vollzieht sich im Rahmen eines analytischen Verfahrens, das sich einer als Philosophie des Zeigens beschreibbaren Denkweise verpflichtet weiß. Im Zeigen vollzieht sich eine Offenlegung, die Letztbegründungen allenfalls als metaphysische Anfragen formuliert und dabei komplexe
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57
58 59
Schon gar nicht kann, wie u.a. Fetz in seinen religionspädagogisch-philosophischen Anschauungen zur Weltbildentwicklung von Kindern und Jugendlichen aufzeigt, von einem linearen Entwicklungsprozess von einer primitiven mythischen hin zu einer höheren naturwissenschaftlichen Weltanschauung ausgegangen werden. [Vgl. Fetz, 2001, 337f]. Zwiebel, 2007, 11, abrufbar unter: http://internationalpsychoanalysis.net/wp-content/uploads/2007/09/zweibelberlin.pdf und vergleichend dazu die Darlegungen von Thomä, 2001, 187-201. Baranger, zitiert nach Zwiebel, 2007, 19. Baranger, zitiert nach Zwiebel, 2007, 19.
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und einfache Deutungsvollzüge in ihrem letztlich unlösbaren und darin zugleich produktiven Spannungsverhältnis gegenüberstellt. Im Sinne eines „methodologischen Interaktionismus“ 60 sind, wie Stefan Böschen und Peter Wehling mit Blick auf die Dichotomie von Realismus und Konstruktivismus ausführen, wechselseitige Irritationen und Anregungen jeweils fallund problemspezifisch zu konkretisieren, um schließlich auf diese Weise „situationsbezogene Handlungsalternativen“ sichtbar zu machen und schließlich „die zu treffenden Entscheidungen in all ihrer Vorläufigkeit“ plausibilisieren und begründen zu können 61.
III
Fernsicht in der Spannung von Eurozentrismus, Universalgeschichte und anthropologischer Grundbestimmung
Wenngleich Bifokalität nach Fernsicht verlangt, so bleibt doch die Frage nach notwendigen Zentrierungen aus der Bedingtheit lebensweltlicher Kontextualität. Den Klimawandeldiskurs in all seinen gesellschaftlichen Dimensionen zu bedenken, kann daher hier nicht angestrebt werden. Vielmehr erfolgt eine Zentrierung auf einen wissenschaftsphilosophischen Zugriff, der sich aus der Auseinandersetzung mit dem Bereich der Neomythen nahelegt. Bereits angedeutet wurde, dass sich die folgende Untersuchung zwar auch mit politischen, soziologischen, medialen oder ökologischen Prozessen und Verflochtenheiten befasst, die je eigene Perspektiven auf Entwicklungen der Interpretationen von Deutungen des Klimawandels ermöglichen. Vordringlich gilt jedoch die Untersuchung der Offenlegung eines spannungsreichen Verhältnisses von mythischer und naturwissenschaftlicher Weltaneignung. Ebenso kann im Folgenden nur unzureichend auf mögliche ethische Perspektiven bzw. ökologische Handlungsalternativen eingegangen werden, wenngleich es ein Anliegen dieser Arbeit bildet, mit der Entwirrung divergierender Standpunkte aufmerksam zu machen sowohl auf notwendige Bescheidungen im naturwissenschaftlichen Fortschrittsdenken als auch auf die Gefahren fundamentalistischer Propaganda vor dem Hintergrund metaphysischer Orientierungslosigkeit. Eine letzte Zentrierung soll hier näher erörtert werden: Die Verortung der Untersuchung in der Kontroverse von Universalgeschichte und Eurozentrismus bzw. Global History und western civilisation curse 62. Reden wir von naturwissenschaftlicher Weltanschauung und dem Aufzeigen von Entwicklungslinien hin zu dieser, so beziehen sich die aus diesen Reden gewonnen Erkenntnisse zunächst einmal auf die westlich zivilisierte Welt. Um der Komplexität eines dynamischen Weltanschauungsbegriffs gerade in seiner historischen Dimension gerecht zu werden, scheint mir eine Zentrierung auf einen begrenzten geographischen Raum und auf bestimmte markante Wendepunkte in der historischen Entwicklung unabdingbar. 60 61 62
Vgl. Böschen/Wehling, 2004, 27. Böschen/Wehling, 2004, 27. Vgl. Frömming, 2006, 2006, 198.
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Im Folgenden erfolgt eine weitestgehende Zentrierung auf den abendländischen Kulturraum 63. Zugleich aber bildet die Erfahrung von Kontinuität und Diskontinuität ein verbindendes Grundmoment menschlicher Wahrnehmungsweisen, so dass deren stets biographisch vermittelte Analyse zugleich eine verallgemeinerbare „Mikrostudie über die menschliche Imagination und Konzeption von Veränderung innerhalb der eigenen Geschichte, die immer auch Globalgeschichte ist“ 64, darstellt. Die Suche nach anthropologischen Konstanten als „Grund kultureller Phänomene“ 65 weitet somit den Fernblick über die Grenzen etwa eines starren Eurozentrismus hinaus. Daneben stellt sich der anthropogene Klimawandel insbesondere auch vor dem Hintergrund gewachsener globaler Kommunikationsstrukturen als ein globales Phänomen dar. Auch regionale Ausprägungen und naturkatastrophale Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem anthropogenen Klimawandel gesehen werden, erscheinen in einem weltumspannenden Diskurs. Dabei ist die Universalisierung naturkatastrophaler Phänomene in der Moderne kein auf in ihrem Ausmaß als global erachtete Naturereignisse begrenztes Phänomen, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: „Haben Sie von dem Erdbeben in Lissabon gehört?“ Mit dieser Frage Settembrinis aus Thomas Manns Der Zauberberg reflektiert Ulrich Löffler in seinen Darlegungen zum Erdbeben von Lissabon die beginnende Universalisierung einer Katastrophe, die sich in der breiten Rezeption über geistige Vorreiter wie Goethe, Kant und Voltaire hinweg etwa in den Homilien des deutschen Protestantismus des 18. Jahrhunderts artikuliert 66. Olaf Briest spricht mit Blick auf die mediale „Berichterstattung mit ihrem Gleichzeitigkeitsmechanismus von Distanzaufhebung und Distanzbildung“ von der modernen Katastrophe als der „Globastrophe“, die in den Bahnen globalisierter Vermitteltheit wahrgenommen wird und gleichsam den individuellen Erfahrungsgrund hin zu einem kollektiven Weltgedächtnis globalisierter Prägung transformiert 67. Auch das naturkatastrophale Ereignis an den Westküsten Sumatras, das sich unter dem Schlagwort „Tsunami 2004“ ins Gedächtnis vieler einbrannte, stellt ein Ereignis dar, das weltweit Reaktionen herausforderte und das Phänomen des „global village“ 68 zeitgeschichtlich manifestiert. 63
64 65 66 67
68
Eine bemerkenswerte Studie, die sich in einem universalgeschichtlichen Ansatz von Feldstudien in Flores ausgehend kulturellen Deutungen von Naturkatastrophen zuwendet, liegt in dem zuvor zitierten Werk von Frömming vor. Frömming, 2006, 215. Frömming, 2006, 200. Vgl. Löffler, 1999, 616. Briest, 2005, 186, Wenngleich sich im globalisierten Weltgeschehen regionale Ereignisse ins kollektive Gedächtnis drängen, bedeutet dies jedoch keinesfalls eine geteilte Betroffenheit oder Interessenlage. Hier gilt weiterhin, was Kuhn auch über wissenschaftliche Revolutionen sagt: „Wissenschaftliche Revolutionen [müssen] nur denen als revolutionär erscheinen, deren Paradigmata davon berührt werden. Den Außenstehenden mögen sie, wie die Balkanrevolutionen im frühen zwanzigsten Jahrhundert, als normaler Bestandteil eines Entwicklungsprozesses vorkommen.“ [Kuhn, 1990, 105]. Simon Winchester schreibt schon über den Krakatau-Ausbruch 1883: „Es war der Tag, an dem das Phänomen der Moderne – bekannt als global village – geboren wurde.“ [Winchester, 2005, 243].
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Der zunächst auf den abendländischen Kulturkreis fokussierte Blick auf die Deutungen des Klimawandels ist also in zweifacher Hinsicht geweitet: Einmal, da die im begrenzten Raum wahrgenommenen Muster der Deutungen im Klimawandeldiskurs Aufschluss geben über Strukturen anthropologischer Grundbestimmtheit. Weiterhin wird der anthropogene Klimawandel vielfach als globale Herausforderung erachtet. Und schließlich spiegeln sich im Zuge einer gewachsenen globalisierten Welt Katastrophen auch außerhalb unseres eigentlichen Lebensraums (wobei der Tourismus ohnehin zumindest den gesamten Globus 69 als prinzipiellen Lebensraum erschließbar macht) als Globastrophen im kulturellen Gedächtnis der westlichen Zivilisation wider.
IV.
Der zu beschreitende Weg
Der zu beschreitende Weg hin zu einem besseren Verständnis des gegenwärtigen Diskurses um den anthropogenen Klimawandel verlangt vor dem Hintergrund seines weltanschaulichen Zusammenhangs auf den ersten Metern nach einer terminologischen Aufarbeitung, einer begrifflichen Durchdringung der Bausteine meist bildhafter, eindringlicher Interpretationsweisen. Zunächst ist hier der Blick auf den Begriff der Weltanschauung zu richten, welcher der Erschließung des „Universe of Discourse menschlichen Erlebens“ 70 dienen soll. Wir wollen klären, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen sich weltanschauliches Sprechen in der Moderne ereignet und welche Bedeutung hierbei mythische, wissenschaftliche und gegenwärtig auch ökologische Denkfiguren haben. Die spannungsreiche, wechselseitige Bezogenheit dieser Denkstile ist zugleich auch terminologisch in der Unterscheidung von Komplexität und Einfachheit, als auch in der Unterscheidung von Bewusst ergriffener Lebensorientierung und Längerem Gedankenspiel zu fundieren. Weitergehend ist dann zu betrachten wie vor dem Hintergrund der je-eigenen Weltanschauung die Bezugnahme auf den Klimawandel erfolgen kann. Die Deutungen naturkatastrophaler Ereignisse werden hierbei in ihrer anthropologischen Fundierung zunächst als Kontinuitäts- und Diskontinuitätserfahrungen bestimmbar. Ein Hauptaugenmerk der Untersuchung gilt schließlich der Frage, wie das Phänomen des anthropogenen Klimawandels auf der Hintergrundfolie einer wissenschaftlichen Weltanschauung mythisch vollzogen wird und welche Rolle neo- und retromythische Denkfiguren hierbei spielen. Dieser Fragestellung schließen sich exemplarische Auseinandersetzungen mit jenen den lebensweltlichen Kontext prägenden, aktuellen Interpretationen des anthropogenen Klimawandels an. Hier gilt unsere Aufmerksamkeit zuerst den naturwissenschaftlichen Rezeptionen, die in ihrer Abstraktheit umrissen werden sollen, um die Absprungspunkte herauszuarbeiten, von denen aus in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen in sich 69 70
Unter dem Stichwort Weltraumtourismus sei auf sich abzeichnende den Globus noch übergreifende Perspektiven aufmerksam gemacht. Hauser, 2004, 29.
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spannungsreiche, pseudowissenschaftliche Interpretationen im Rahmen der je eigenen Weltanschauung getätigt werden. Diese Interpretationen wollen wir in den Anfängen des ökologischen Diskurses nachzeichnen und ihnen über ihre Popularisierung in breiten ökologischen Bewegungen und auch in der Bewegung des New Age bis hin in die Gegenwart folgen, wo schließlich die Begegnung mit den klimapolitischen Abhandlungen Gores den aktuellen ökologischen Diskurs exemplarisch beleuchten soll. Der Weg will auf die Pluralität von an sich mannigfaltigen, komplementären Erlebnis- und Zugangsweisen aufmerksam machen, die sich vor dem Hintergrund der je eigenen, spannungsreichen Weltanschauung gestalten und in divergierende Entscheidungsakte münden. Ein Weg, der sorgsam abgeschritten, eben auch wegführt von den ausgetretenen Sackgassen überholter Dichotomien hin zu neuen Perspektiven auf ethische, ökologische und wissenschaftliche Handlungsalternativen, denen der Leser dann auf neuen weiterführenden Abzweigungen des Weges eigenständig folgen kann.
GRUNDLAGEN DER MODERNEN ANSCHAUUNGEN VON WELT UND KLIMA §2
Anthropologische Grundlagen einer Diskontinuitätserfahrung: Weltanschauung
Wir werden sehen, beim Klimabegreifen spielen Prämissen eine Rolle, welche u.a. den Bereichen des Mythischen wie der Weltanschauung zugeordnet werden können, weshalb sich eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesen Begriffsfeldern lohnt. So ist z.B. die sich in Klimatheoremen und -modellen vollziehende Annäherung an einen Gegenstandsbereich ein Zugriff, der sich seiner Vorläufigkeit bewusst sein muss, will er nicht Gefahr laufen als Wirklichkeitsbeschreibung missdeutet und verabsolutiert zu werden. Der Modus der Vorläufigkeit kann somit in einer Aufarbeitung der existentialen Voraussetzungen von Weltanschauung als Prämisse herausgearbeitet werden, die hilft Ordnung in unsere Rede von Welt und Klima zu bringen.
I.
Existentiale Voraussetzungen des Weltanschauungsbegriffs
1.
Menschliche Existenz unter den Bedingungen des Seins „Es war weder ‚Sein‘, noch war ‚Nichts‘. So könnte man erzählen. ‚Sein‘ und ‚Nichts‘. Beide sind Bestimmtes, das sich gegeneinander bestimmt. Es war das reine Unbestimmte, das wir uns nicht vorstellen können. Es war weiterhin das unvordenklich Göttliche, das wir uns ebenfalls nicht vorstellen können. Das reine Unbestimmte und das unvordenklich Göttliche sind dabei vielleicht dasselbe gewesen.“ 71
Das reine Unbestimmte, das am Anfang der Darstellung der die Untersuchung leitenden Grundbegriffe stehen soll, ist die dem Denken unzugängliche Kategorie des Vorexistentiellen, ist die in sprachlichen Bildern nicht zureichend erfassbare (Un-)Gleichzeitigkeit von Gleichgültigkeit und absoluter Gültigkeit. So sich aber in der Existenz das Seiende im je-Seienden prozesshaft ausdifferenziert, ist die unhintergehbare Differenz von Sein und Nichts aufgeworfen, eine Differenz, die wie Jean-Paul Sartre es in Der Ekel beschreibt, nur in der Form des Seins lebbar ist 72. „Da ist zum Beispiel dieses ewig-schmerzliche ‚ ich existiere‚ – und ich bin es selbst, der es hervorbringt. Ich selbst. Der Körper, der lebt von allein, wenn er einmal angefangen hat zu leben. Den Gedanken aber spinne ich, entwickle ich weiter. Ich existiere. Ich denke, dass ich existiere. …. wenn ich mich hindern könnte zu denken! Ich versuche es, es glückt: ich habe 71 72
Hauser, 2004, 82. Vgl. hierzu auch Hegels diesbezügliche Einlassungen in seiner Phänomenologie des Geistes: „Das Nichts ist aber nur genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt.“ [Hegel, 1999, 74].
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den Eindruck, dass sich mein Kopf mit Rauch füllt …. aber ist das ja schon wieder: ‚Rauch‘ …. nicht denken … ich will nicht denken …. ich denke, ich will nicht denken. Mein Denken, das bin ich; deswegen kann ich nicht aufhören. Ich existiere, denn ich denke … und kann mich nicht hindern zu denken. Und selbst in diesem Augenblick – es ist grässlich: wenn ich existiere, dann deshalb, weil ich einen Schrecken empfinde zu existieren. Ich selbst, ich selbst ziehe mich aus dem Nichts heraus.“ 73
An die einzig lebbare Kategorie des Seins wiederum scheint die Notwendigkeit gebunden, dass der Mensch „sich [nicht] im Modus der Beliebigkeit zu sich selbst verhalten“ 74 kann; der Mensch ist immer schon in seiner Existenz bezugnehmend auf sich selbst, indem er, sich als Existenz begreifend, sich selbst bereits umgreift. Georg Wilhelm Friedrich Hegel deutet dieses Moment des Umgreifens wiederum als ein Moment des Leidens und der Verzweiflung 75 des „natürlichen Bewußtseins“: „Das Bewußtsein aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst; […] Das Bewußtsein leidet als diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst.“ 76
Hieran erweist sich weiterhin: Der Mensch „ist zugleich der Entwurf, den er sich von sich macht, und die hier und jetzt seiende Tatsache in der (seiner) Welt.“ 77 So ist denn gleichsam der Modus der Beliebigkeit zu sich selbst wie auch zur Welt nur ein Entwurf im unabschließbaren Horizont „möglicher Gestaltungen“ 78, eine im reflektierenden Zugriff und damit aus der Positionalität wahrgenommener Differenz, die den Menschen als differenziertes und wiederum differenzierendes Wesen auszeichnet, gewählte Weise, die das faktische Gewordensein relativiert im „kontinuierliche[n] Prozeß des Sich-über-sich-selbst-Erhebens“ 79. Das Verhältnis zur Welt in den Blick nehmend kann schließlich auch Klima ausgesagt werden als vorgegebene Größe im faktischen Gewordenseien. Es lässt sich aber auch in seiner Wechselbeziehung zum Menschen wahrnehmen, der in dieser Beziehung hinter das Moment des faktischen Gewordenseins zurücktritt und Einflüsse und Gestaltwerdung des Klimas eruiert bis er schließlich unter dem Eindruck der Naturwissenschaften und moderner technischer Errungenschaften mit Paul Crutzen das Anthropozän ausrufen kann. Albert Camus zeichnet in seinem existenzialistischen Roman Der Fremde in trister Poesie das Bild seines Protagonisten Meursault, der sich im literarisch konzipierten Modus der Beliebigkeit verhält – zu sich, seiner Welt und den Menschen in seiner Umgebung: „Abends hatte Marie mich abgeholt und mich gefragt, ob ich sie heiraten wollte. Ich habe gesagt, das wäre mir egal, und wir könnten es tun, wenn sie es wollte. Sie hat dann wissen
73 74 75 76 77 78 79
Sartre, 1963, 108. Wenzel, 2008, 311. Wenngleich die Unmöglichkeit des Modus der Beliebigkeit zu sich selbst unbedingt die Modi von Selbsthass und gestörter Selbstwahrnehmung zulässt. Hegel, 1999, 72. Vgl. hierzu auch Heinrichs, 1974, 14f. Hegel, 1999, 74. Vgl. hierzu Heinrichs, 1974, 16. Hauser, 2004, 31. Hauser, 2004, 31. Simmel, zitiert nach Herold, 1976, 1055.
§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
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wollen, ob ich sie liebte. Ich habe geantwortet wie schon einmal, daß das nichts heißen wollte, daß ich sie aber zweifellos nicht liebte. ‚Warum willst du mich dann heiraten?‘ hat sie gesagt. Ich habe ihr erklärt, daß das völlig belanglos wäre und daß wir, wenn sie es wünschte, heiraten könnten. […] Sie wollte nur wissen, ob ich den gleichen Vorschlag auch von einer anderen Frau angenommen hätte, mit der ich auf die gleiche Weise verbunden wäre. Ich habe ‚Natürlich‘ gesagt.“ Schließlich steht am Ende dieses im Modus der Beliebigkeit geführten Heiratsantrags die Beschreibung der französischen Hauptstadt, deren Hartzeichnung im Spiegel existenzialistischer Leidenschaftslosigkeit bloß noch folgende Erkenntnis zu lässt: „Es ist schmutzig. Es gibt Tauben und finstere Höfe. Die Leute sind ganz blaß.“ 80 Meursault bleibt sich und seiner Welt fremd, ein Fremdkörper, von dem sich die Gesellschaft schließlich aus der leidenschaftlichen Position moralischer Überlegenheit in einem flammenden Plädoyer trennt, trennen muss: „Zumal, wenn die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mann zu beobachten ist, ein Abgrund wird, in dem die Gesellschaft umkommen kann.“ 81 „Er [der Anwalt, M.N.] hat schließlich gesagt, seine Pflicht wäre schmerzlich, aber er würde sie unerschütterlich erfüllen. Er hat erklärt, ich hätte nichts mit einer Gesellschaft gemein, deren grundlegende Regeln ich nicht anerkennen wollte, und ich könnte nicht an das menschliche Herz appellieren, dessen elementarste Regungen mir unbekannt wären. ‚Ich fordere von Ihnen den Kopf dieses Mannes‘, hat er gesagt, ‚und ich fordere ihn leichten Herzens von Ihnen. Denn wenn es im Laufe meiner schon langen beruflichen Tätigkeit vorgekommen ist, daß ich die Todesstrafe forderte, habe ich diese unerquickliche Pflicht niemals so sehr wie heute vom Bewußtsein eines unabweislichen, heiligen Gebots und von dem Grauen, das ich vor dem Gesicht eines Menschen empfinde, in dem ich nichts als Abscheuliches lese, ausgeglichen, aufgewogen und überstrahlt gefühlt‘.“ 82 Angesichts seines bevorstehenden Todes entdeckt Meursault die Gleichgültigkeit auch als dialogisches Prinzip. Der Kosmos erschließt sich ihm als ein sinnlos angerichtetes Gegenüber, das sich in der Begegnung entfernt. Diese Einsicht bindet den Fremden wiederum an die Welt, bricht mit seiner eigenen Indifferenz in einem Gefühl des Glücks. Die Ambivalenz des gewählten Modus der Beliebigkeit scheint auf, weist Meursaults Lebensentwurf als Versuch aus, sich in einer als gleichgültig und absurd wahrgenommenen Welt einzurichten: Ein Einrichten, in dem letztlich wiederum der Wunsch steht, zum eigens entworfenen Bild des Fremdkörpers zu werden, dem man im Abstoßen eine Existenzberechtigung gibt, dem man sich im Hass letztgültig zuwendet: „Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum erstenmal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Als ich spürte, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, daß ich glücklich gewesen war und daß ich es noch war. Damit sich alles erfüllte, damit ich mich weniger allein fühlte, brauchte ich nur zu wünschen, daß am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer dasein würden und daß sie mich mit Schreien des Hasses empfangen.“ 83
2.
Die Auseinandersetzung mit der Ineinsheit von Tatsache und Entwurf am Beispiel der philosophischen Anthropologie
Die philosophische Anthropologie fasst unter dem Eindruck des Darwinismus die Erfahrung der menschlichen Ineinsheit von Tatsache und Entwurf in ein stringentes 80 81 82 83
Camus, 1999, 52. Camus, 1999, 120. Camus, 1999, 121. Camus, 1999, 142f.
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Theoriensystem und weist damit den Weg heraus aus ersten in der durch Faszination und Schrecken geprägten Begegnung mit der Evolutionsbiologie formulierten Begrenztheiten, die den Menschen dämonisierend oder rettend in einen der Begriffe von Tatsache und Entwurf einengen wollen. Georg Büchner repräsentiert in verschiedenen Figuren seines fragmentarischen Dramas Woyzeck je-eigene Positionierungen in der evolutiven Frage: „Der Budenbesitzer (ein Pferd vorführend): ‚Zeig dein Talent! Zeig deine viehische Vernünftigkeit! Beschäme die menschliche Sozietät! Meine Herren, dies Tier, was Sie da sehn, ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät, ist Professor an unsre Universität, wo die Studenten bei ihm reiten und schlagen lernen […] Das ist Viehsionomik. Ja, das ist kein viehdummes Individuum, das ist eine Person, ein Mensch, ein tierischer Mensch – und doch ein Vieh, ein Bête. (Das Pferd führt sich ungebührlich auf.) So beschäme die Société. Sehn Sie, das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lernen Sie bei ihm.‘“ 84 Während die einfachen Vagabunden Faszination und Angst der Menschen vor der eigenen tierischen Abstammung ausnutzen und die als fließend angenommenen Grenzen zwischen Tier und Mensch in der Betonung beider Natürlichkeit zur Schau stellen, sucht Büchners Figur des Doktors emphatisch, den Menschen aus den Zwängen seiner Natur zu befreien: „Die Natur kommt, die Natur kommt! Aberglaube, abscheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! Es ist Betrug, Woyzeck!“ 85 In Woyzecks Antwort schließlich begegnet uns die zunächst ungehört bleibende philosophierende Ratio des einfachen Mannes, die die anthropologische Verfasstheit des Menschen in den schlichten Kategorien von Charakter und Natur benennt: „Sehn Sie´, Herr Doktor, manchmal hat einer so ‚en Charakter‘ so ‚ne Struktur‘. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie […]“ 86.
Max Scheler macht, wie Joachim Fischer in einem kurzen Essay zur Philosophische[n] Anthropologie im evolutionsbiologischen Zeitalter aufzeigt, in der sich an die Theorien Darwins anschließenden Diskussion eine tendenzielle denkpositionalistische Bewegung vom „Anthropomorphismus der Gottesidee“ zum „Biomorphismus des Menschen“ aus: „Musste man früher darauf bedacht sein, ‚den Menschen von Gott zu unterscheiden und von all den Zwischendingen, die man zwischen ihn und die Götter gestellt hatte, z.B. von dem Engel […], musste sein Eigendasein noch ‚retten‚ und darauf sehen, dass er nicht automatisch in irgendeinen Himmel hineinfliege‘, so hat sich das Verhältnis umgekehrt: Der Mensch scheint in die Tierheit, in die untere Natur zu verfließen, und es gilt gerade noch einen Unterschied zu finden, der ihn ‚rettet‘, ganz in sie zu versinken.“ 87 Die Rettung gelingt Scheler, indem
84 85 86 87
Büchner, 2001, 13. Büchner, 2001, 10. Büchner, 2001, 10. Fischer, 10. Gleichwohl liegt in der Auseinandersetzung mit der evolutiven Frage, die zu den großen metaphysischen Orientierungsaufgaben (vgl. Hauser, 2004, 115f) gehört, wiederum der Ausgangspunkt für kompensatorische neomythische Gedankenspiele, die den Menschen zum Herrscher über die Natur, zu den „Götter[n] dieser Erde“ werden lassen. [Hauser, 2004].
§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
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er den Menschen als „Neinsagen-könner“ exemplifiziert 88. Der Akt der Negation eigne dem Menschen ob seiner Geistbegabtheit 89, die ihn dadurch auszeichne, dass er die ihm begegnende Erfahrung von „Diskontinuität im Leben“ 90, im Leben selbst überbrücken kann. Im Nein-Sagen vollzieht sich so die faktisch mögliche Distanzierung zu den unausweichlichen Naturzwängen 91, wenngleich das Prinzip des Geistes in seinen Realisierungsweisen unbedingt an das „Potential des Prinzips des Lebens“ 92 gebunden bleibt. Der Mensch kann seine Kreatürlichkeit nicht abstreifen und sich etwa beliebig den vorgegebenen klimatischen Bedingungen anpassen, ist vielmehr gebunden an die körperlichen Realisierungsweisen seines geistigen Prinzips. Helmuth Plessner markiert hierfür geistesgeschichtlich wirksam den Begriff der „Exzentrischen Positionalität“ 93. „Mit diesem Begriff drückt Plessner die Unterbrochenheit des Lebens im menschlichen Lebewesen aus, das als Lebewesen zugleich auf neue Formen der Überbrückung dieser Diskontinuität angewiesen ist, um am Leben zu bleiben. Exzentrizität meint: Die Naturgeschichte ist im Menschen eine Abstandnahme von der natürlichen Umwelt und der Körperlichkeit, der Positionalität, aber eine Abstandnahme in der Natur, die in der Natur gelebt oder ‚verkörpert‘ werden muss.“ 94 Plessner betont dabei noch stärker als bereits Scheler das auch für unsere weiteren Darlegungen zentrale Moment der Diskontinuität, der Unterbrochenheit des Lebens, und das Moment der Kompensation, die gleichsam notwendig durch den Menschen in „künstlich vermittelten Lebenskreisläufen“ 95 erfolgen muss. Kompensation gelingt nach Plessner nur unter der Annahme „natürlicher Künstlichkeit“, in der die Unruhe und Nichtfestgestelltheit, die im Erleben von Diskontinuitätserfahrungen, der Erfahrung radikaler Endlichkeit, der Reflexion auf den Urgrund mannigfaltiger Lebensmöglichkeiten aufscheint, in eine lebendige Position künstlicher Konstruktion mündet. Pragmatische Erwiderungen und Anpassungen unter dem Eindruck von Katastrophenerfahrungen liefern für diese Position künstlicher Konstruktion ebenso ein vielfach vorzufindendes Beispiel, wie auch eine beharrende Fortschrittsgläubigkeit hinsichtlich der technischen Anpassungsfähigkeiten der Menschen angesichts klimatischer Veränderungen. Von dieser zeugen die Großprojekte des Geoengeneering wie auch die auf den Menschen zielenden Überlegungen über die Möglichkeiten des Bodyengeneering, die der Biophilosoph Matthew Liao in den Klimadiskurs einbringt 96. 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Vgl. Fischer, 2009, 48. Hier klingt dabei deutlich die Bedeutung der Negation nach, wie sie bereits in der Hegelschen Dialektik um- und vollständig erfassend dargelegt wurde. Vgl. Kaulbach, 1972, 214f. Fischer, 2009, 48. Vgl. Fischer, 2009, 48. Fischer, 2009, 48. Vgl. Fischer, 2009, 50. Fischer, 2009, 50. Fischer, 2009, 50. Vgl. Andersen, 2012, abrufbar unter: http://www.theatlantic.com/technology/archive/2012/03/how-engineering-the-human-body-could-combat-climate-change/253981/.
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Diesem Bereich künstlicher Konstruktionen wollen wir uns im Folgenden ausgehend von einer fundierenden Verständigung über den Begriff Weltanschauung nähern und den Konkreta möglicher „Kompensationsversuche“ im Bereich des anthropogenen Klimawandels anhand der Begriffe von Mythos und Logos folgen 97. Zuvor ist allerdings noch ein vertiefender Blick auf das zu werfen, was dem Entwurf bzw. der künstlichen Konstruktion des Menschen zugrunde liegt, ist die Bezugnahme auf den Begriff der Wirklichkeit erforderlich und dessen Einbettung in die auf den Begriff zurückwirkenden Prinzipen von Kontinuität und Diskontinuität.
3.
Das Sehnen, dem weißen Kaninchen zu folgen – Philosophische Annäherungen an den Begriff Wirklichkeit „Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland, und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.“ 98
Vor diese Wahl sieht sich Neo, Held des Neunziger Jahre Hollywood-Blockbusters Matrix, gestellt: Es ist die Wahl die Matrix, ein Computer generiertes Konstrukt virtueller Realität, zu durchbrechen und ein Leben in der „eigentlichen“ Wirklichkeit zu führen. Philosophiegeschichtlicher Hintergrund dieser von den Gebrüder Wachowski cineastisch umgesetzten Idee ist die unter den Begriff des Solipsismus gefasste Annahme, dass außerhalb des Ichs Befindliche stelle letztlich bloß eine vom Sein abhängige Illusion dar, die in der Postmoderne insbesondere bedingt durch informationstechnologische Fortentwicklungen zum Gegenstandsbereich bemerkenswerter philosophischer Theorien wurde: Der österreichische Populärphilosoph Peter Strasser führt im Spiegel der gegenwärtigen Diskussion um die Tragweite neurologischer Befunde in seiner Erzählung Genie und Wahnsinn den Gedanken eines radikalen solipsistischen Konstruktivismus von Mitwelt humoristisch fort: „‚Dass der Himmel blau ist, die Rose duftet, die Glocke läutet, der Boden unter unseren Füßen nicht schwankt. Das alles sind Konstrukte unseres Gehirns, nichts weiter. Die Frage, was da draußen sei, jenseits unseres Gehirns, hat keinen Sinn, ist falsch gestellt, Ergebnis einer Täuschung, die unser Gehirn erzeugt – erzeugt, um was zu optimieren, meine Damen und Herren? Jawohl, die Überlebenschancen unserer Gene, deren Überlebensmaschinen wir sind.‚ An dieser Stelle steht im Vortragstext des weltberühmten Gehirnforschers, und es steht schon seit Jahrzehnten an dieser Stelle, am Rand, penibel notiert: Pause machen, Kopf heben, Blick voll ins Publikum! Warum? Weil jetzt die Pointe kommt; sie lautet: Da die Außenwelt ein Konstrukt unseres Gehirns ist und unser Gehirn ein Teil der Außenwelt ist, ist unser Gehirn ein Konstrukt unseres Gehirns. Es ist daher seinerseits – Pause, ausatmen, einatmen, Blick halten! – eine Illusion. ‚Ich nenne das‘, sagt der weltberühmte Gehirnforscher, ‚die gehirnneurologische Kränkung‘.“ 99 97
98 99
Die auch im folgenden Rekonstruktionsprozess dargelegten Weltbildentwicklungen lassen die im „Alltag unmittelbar wirksamen Orientierungssysteme“ lediglich als Grenzbegriff annähernd erfahrbar machen. [Vgl. Habermas, 1999, 272]. Matrix, [00:25:42]. Strasser, 2006, 39.
§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
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Dass „die Welt da draußen“ bloß eine durch den Menschen konstruierte Täuschung ist und mit ihr zugleich das eigene Ich-Konzept, bleibt freilich eine Annahme, die selbst unter dem Prädikat des in der Annahme Präjudizierten steht. Sie verliert gleichsam ihren erkenntnistheoretischen Gewinn oder letztgültigen Wahrheitsgehalt, da sie nicht in der Position eines Standes außerhalb des eignen konstruktivistischen Prozesses vertreten wird. Versuche, aus den weltlichen Vorgegebenheiten herauszutreten, auf der Suche nach einem übergeordneten Stand, der uns der eigentlichen oder erhofften Wirklichkeit näher bringt, lassen sich mannigfach auch in den Diskursen um Klima und Welt finden. In mitunter auch spielerich gepflegten Klimasimulationen können mögliche Weltzustände vorgeahmt werden, die uns nicht nur Einblick in die Welt von morgen geben sollen, sondern nach Möglichkeit auch Rückschlüsse auf das Hier und Jetzt erlauben. Im sogenannten Backcasting werden methodisch Idealzustände ersonnen und die zu deren Erlangung notwendigen Schrittabfolgen bis hin zu den gegenwärtigen Verhaltensweisen rekonstruiert. Greifen diese Szenariogestaltungen auf Wünschenswertes aus liefert uns Alan Weisman in seinem 2007 erschienenen Bestseller Die Welt ohne uns 100 ein entgegengesetztes Spiel mit künstlichen Konstruktionen. Die Suche nach Orten und Grundmustern einer menschenverlassenen Welt lassen die Gegenwartserscheinungen als Abgesang einer sterbenden Zivilisation erfahren und enthüllen so die wenig beachteten, schaurigen Schattenseiten des Anthropozäns.
Welche Erkenntnis aber bleibt uns, die wir nicht in der Lage sind, wie Neo mit Einnahme einer Pille einen übergeordneten Standpunkt einzunehmen, der uns ermöglicht, dem weißen Kaninchen zu folgen und die hinter der nur scheinbaren Wirklichkeit liegende Wirklichkeit zu entdecken?
4.
Die Begegnung mit der Welt unter dem Eindruck von Absolutismus der Wirklichkeit
Wenden wir den Blick von dem Konkretum einer solipsistischen Wirklichkeitsdeutung hin auf den gemeinsamen Grund anthropologischer Weltbegegnung, so stoßen wir mit Hans Blumenberg auf den Grenzbegriff vom Absolutismus der Wirklichkeit. „Er bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte.“ 101 Dieser Mangel an Verfügungsgewalt über die Bedingungen seiner eigenen Wirklichkeit, oder mit Martin Heidegger gesprochen die „Geworfenheit“ 102, zeichnet den Menschen aus, entwirft ihn als ein Wesen, das seiner eigenen Umgebung Bestimmtheit zu verleihen sucht im Bewusstsein, dass er „aufgrund dessen, dass er nicht über das Menschsein hinaus kommt, nur [sich] selber als die einzige nichtbedingte Wirklichkeit vor[findet]“ 103, im Bewusstsein der eigenen Unbestimmtheit 104. Unter diesem Eindruck kann eine Annäherung an Wirklichkeit nur im Modus der 100 101 102 103 104
Vgl. Weisman, 2007. Blumenberg, 1990, 9. Heidegger, 1972, 233. Kolakowski, 1974, 26. Vgl. hierzu auch Huppenbauer, 1992, 138 im Anschluss an Bultmann, 1965, 150.
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Vorläufigkeit geschehen, vorläufig, da ich es nicht selbst bin auch ob meines originären Zugangs zu dem mir Begegnenden, der es hervorruft. Bedeutet Vorläufigkeit in Bezug auf das Selbst ein negatives Potential, insofern es „nicht nur Negieren als Abwerfen von etwas Fremden, was vom Bewußtsein unmittelbar positiv erfahren werden könnte“ 105, umfasst, sondern sich mit Johannes Heinrichs im Anschluss an Hegel gesprochen im „Fortgang des Bewußtseins“ als eine „ständige Selbstnegation, Selbst-Abtötung“ 106 erweist, beinhaltet es jedoch auch die Möglichkeit, „sich von allen vorläufigen Wahrheitsgehalten zu distanzieren“, was auf die „Positivität des Vorläufigen für die Wissenschaft“ 107 schließen lässt. Wirklichkeit ist somit ineins das sich mir im originären Zugriff Mitteilende als auch eine unabhängig meiner Selbst bestehende Existenz, ist „subjektive Behauptung und Inbegriff der objektiven Dinge zugleich“ 108. Der „unmittelbare Zugang zur Wirklichkeit“, von dem Niklas Luhmann treffend konstatiert, dass es ihn nicht geben kann 109, ereignet sich folglich im Modus der Vorläufigkeit als unabschließbar dialogischer Prozess, der im Oszillieren zwischen konstruierendem Zugriff und transformierendem Ergriffensein auf Vermittlungsformen angewiesen ist, in denen die Bedeutung des Erfassten als vorläufig markiert wird 110. In der Semiotik wird diese Vorläufigkeit seit de Saussure mit der Arbitrarität von Bezeichnetem und Bezeichnendem in Zusammenhang gebracht 111. Insofern der Mensch die Zeichen schafft, um sich in der Wirklichkeit, deren Bestandteil die Zeichen wiederum sind, zu orientieren, erliegt er immer wieder auch dem Trugschluss, zumal in Anbetracht der Epochalität der jeweiligen Vermittlungsformen, den notwendig arbiträren Zusammenhang als letztgültig-gesetzten hinzunehmen, die vom jesuitischen Theologen Edward Schillebeeckx im Anweg zu seinem Offenbarungsverständnis umrissenen „realen Entfernungen […] zwischen Wirklichkeit, Erfahrung und Sprache“ 112 zu negieren. Die sich in den Zeichen ermöglichende kartographische Annäherung an Wirklichkeit wird als Entsprechung
105 106 107 108 109 110
111 112
Heinrichs, 1974, 16. Heinrichs, 1974, 16. Heinrichs, 1974, 17. Kaulbach, 1972, 115. Luhmann, 1990b, 33. Vgl. hierzu auch: Wehling, 2006, 226. Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung an Wirklichkeit weist aus theologischer Perspektive u.a. aktuell auch Vogelsang in seiner titelprägenden Darstellung einer offenen Wirklichkeit auf. Vogelsang, 2011. Vgl. hierzu auch: Frömming, 2006, 157. Schillebeeckx, 1990, 41.
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missdeutet 113, eine „vermeintliche Autorität“, „ein Wahn“ 114 zur Geltung gebracht wie auch das angebliche Fragment Von der Strenge der Wissenschaft, das der argentinische Schriftsteller Jorge Louis Borges bei Miranda Suaréz gefunden haben will, lehrt: „ ... In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geographischen Lehrwissenschaft.“ 115 Mit Blick auf die als sich von jedweder Transzendenz verabschiedend interpretierte Gegenwart 116 baut der französische Philosoph Jean Baudrillard hierauf, erstmals in seinem Werk Agonie des Realen dargelegt, die Idee der Simulakra auf und erfasst in der Dimension des Hyperrealen eine Form der Simulation, die sich nicht länger auf ein referentielles Substrat bezieht 117: „Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch überlebt es sie nicht mehr. Von nun an ist es umgekehrt: (PRÄZESSION DER SIMULAKRA:) Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor. Um auf die Fabel zurückzukommen, müßte man sagen, daß die Überreste des Territoriums allmählich Ausdehnung und Umfang der Karte annehmen. Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des Reiches, sondern in unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst.“ 118
So denn der in der Geschichte stehende Mensch niemals die tradierten Vermittlungsformen, die seinen Stand als „vermittelte Unmittelbarkeit“ bedingen 119, wird abstreifen können, ist die Bezugnahme auf Wirklichkeit nur als bereits transformierte und wiederum transformierende Annäherung denkbar, eine Annäherung im Modus der Vorläufigkeit 120. 113
114 115 116 117 118 119 120
Wehling weist im Anschluss an Luhmann zu Recht daraufhin, dass es Entsprechung im Sinne einer „Isomorphie von Außenweltfakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen“ nicht geben kann [Luhmann, zitiert nach Wehling, 2006, 218]. Doch ist – etwa in persuasiven Sprechakten – mit Wehling gerade die „Rede von der Entsprechung (Isomorphie) zwischen Erkenntnis und Realität […] vor diesem Hintergrund selbst als Element einer diskursiven Strategie“ analysierbar, „mit der Wissenschaftler ihre jeweiligen Erkenntnisse als die „wahre“ und „einzig mögliche“ Repräsentation der Realität zu etablieren und zugleich ihrer kontingenten Entstehungskontexte zu marginalisieren versuchen.“ [Wehling, 2006, 219]. Schillebeeckx, 1990, 41. Baudrillard, 1978, 7. Vgl. Baudrillard, 2006, 21. Baudrillard, 1978, 7. Baudrillard, 1978, 7. Kaulbach, 1972, 115. Als Unterstützung der Rede vom Modus der Vorläufigkeit mag die von Hübner mit Blick auf die Wissenschaftstheorie generalisierte These genügen: „So vermeiden die Wissenschaftler
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II.
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Zum Weltanschauungsbegriff
Der die Annäherung an Wirklichkeit bestimmende Modus der Vorläufigkeit lässt sich zusammenfassend kennzeichnen als vermittelte Unmittelbarkeit vor dem Hintergrund des Nichtverfügens über: a) die Bedingungen der eigenen Existenz und die eigene Geschichtlichkeit b) die Bedingungen der Existenz der Mitwelt und deren Geschichtlichkeit c) einen übergeordneten Standpunkt, aus dem heraus die mannigfaltig-heterogenen Perspektiven auf Welt sowie die eigene Perspektive relativierbar und schließlich verabsolutierbar würden. „Der Mensch kann die Erkenntnis nicht in einem vormenschlichen Startpunkt zünden, der einen Nullwert besäße, er ist für sich sich ein unausweichlicher endgültiger Ausgangspunkt […] Der Mensch besitzt keinen außermenschlichen Boden, auf dem er stehen könnte und zugleich wüßte, daß er auf ihm steht. Er muß mit sich beginnen, jeder andere Ausgangspunkt ist das Produkt einer sekundären Abstraktion, die sich nicht ohne Rekurs auf die menschliche Situation legitimieren lässt“ 121. Dies gilt, wie Kurt Hübner es in Die Wahrheit des Mythos zusammenfassend darlegt, (gerade) auch für die von der Wissenschaft erfasste Wirklichkeit: „Die von der Wissenschaft erfaßte Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirklichkeit an sich, sondern sie ist stets eine auf bestimmte Weise gedeutete. Die Antworten, die sie uns gibt, hängen von den Fragen ab.“ 122 Gleichsam gründen die für die wissenschaftliche Erfahrung konstitutiven apriorischen Elemente wiederum in solchen, die sich aus der Perspektive historischer Bedingtheit betrachten lassen: „Nun ist es unmöglich, apriorische Festsetzungen, wie es die ontologischen sind, auf Tatsachen zu stützen, weil sie ja im Gegenteil erst die Rahmenbedingungen liefern, in denen Tatsachen überhaupt auftreten können. Also kann ihre Begründung nur darin bestehen, daß sie von anderen apriorischen Annahmen abgeleitet werden. Da man damit ins Unendliche fortfahren kann, muß man schließlich bei irgendwelchen Annahmen enden, die hinreichende Überzeugungskraft ausstrahlen. Das können aber nur solche sein, die, aus welchen Gründen immer, geschichtlich etabliert sind und damit dem allgemeinen Vorstellungshorizont entstammen, der eine Epoche kennzeichnet […] Der Vorgang der Begründung apriorischer Voraussetzungen aus dem historischen Hintergrund ist in jedem Fall notwendig, weil deren bloß willkürliche Annahme ohne jene visionäre und heuristische Faszination bliebe, die den Forscher und seine Mitmenschen durch Überzeugung mitreißen und das Feuer fortschreitender Tätigkeit entfachen könnte“ 123. Der historische Hintergrund erfährt seine Relativierung wiederum in der durch ihn begründeten und zugleich ihn wiederum hinterfragenden „Intersubjektvität“ 124, die als empirische, semantische, logische, operative und normative Weise die Rationalität möglicher Weltanschauungen mangels eines übergeordneten Standpunktes fortschreitend bemisst 125.
121 122 123 124 125
heute oft den Ausdruck ‚Wahrheit‘ oder ‚Verifikation‘ und sprechen lieber von ‚vorläufiger Bestätigung‘“ [Hübner, 1985, 251]. Kolakowski, 1974, 25. Hübner, 1985, 252. Hübner, 1985, 253f. Vgl. Hübner, 1985, 239f. Oder wie Huppenbauer mit Blick auf Bultmann konstatiert: „Die Unverfügbarkeit menschlicher Existenz ist dieser jederzeit erfahrbare Sachverhalt.“ [Huppenbauer, 1992, 147].
§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
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Folglich muss auch ein Begriff von Weltanschauung 126 durch diese Vorläufigkeit gekennzeichnet werden, insofern dieser Begriff den Verstehenshorizont beschreiben hilft, vor dem sich die Annäherung an Wirklichkeit als transformierte und wiederum transformierende vollzieht, wie auch die Stellungnahme zu dieser Annäherung in Form eines Selbst- und Weltverständnisses, das die je-individuelle Aneignung tradierter Vermittlungsformen lebensorientierend aufgreift. Ein Weltanschauungsbegriff, der dies leistet, findet sich in der Kritik der neomythischen Vernunft von Hauser 127: Die Weltanschauung eines Menschen ist sein nie ganz bewusst gestalteter und auch nie ganz in sich schlüssiger, also prinzipiell spannungsreicher Verstehenshorizont von Wirklichkeit, der durch eine je-individuelle Aneignung von Tradition in persönlichen Erfahrungen das Verhalten eines Menschen ausrichtet. In diesem Verstehenshorizont liegt sein Selbst- und Weltverständnis als ineins Feststellung von Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit. 128 Weltanschauung ist hier zunächst einmal erfasst als der vor dem Hintergrund der Tatsächlichkeit des Menschen grundgelegte „leibliche Standpunkt des ‚Ich bin hier‚“ 129, „von dem aus ich mich räumlich in ‚meiner‚ Welt bewege und orientiere.“ 130 Diese Orientierung wiederum ereignet sich eben in Hinsicht auf den ersten, die eigene Existenz umfassenden weltanschaulichen Entwurf, der als Schritt heraus aus dem Modus der Beliebigkeit das Bewusstsein eines Ichs in Differenz zur umgebenden Mitwelt bestimmt. Somit ist Weltanschauung zu verstehen als die lebensorientierende, absolute Perspektive 131, „eine totale Haltung zur Welt“ 132, aus der heraus schließlich das eigene Selbst- und Weltverständnis gesetzt wird. Diese Setzung ereignet sich in der je-individuellen Aneignung tradierter Vermittlungsformen als ein die Erfahrung bestimmender „Interpretationsrahmen“ 133, orientiert den
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Vgl. zur Legitimation und Geschichtlichkeit des Weltanschauungsbegriffs und zur Abgrenzung vom Begriff des Weltbildes Hauser, 2004, 31-45 und Hauser 2009, 20-28. Für die weiteren Zusammenhänge scheint eine weitere begriffsgeschichtliche und theoretische Auseinandersetzung mit dem Weltanschauungsbegriff unzweckmäßig. Eine hervorragend Studie hierzu liegt in der Arbeit von Helmut Meier vor: Meier, 1967. Hauser, 2004, 37. Kaulbach, 1968, 466. Hauser, 2004, 32. Sie ist gleichsam, wie Hauser in der Begründung seiner Terminologie anführt, nicht an Vorentscheidungen gebunden [vgl. Hauser, 2004, 38], sondern ist, wie Kaulbach es im Hinblick auf den Stand des Menschen formuliert, „meine Welt, als die ich existiere“. [Kaulbach, 1972, 115]. Vgl. Kaulbach 1972, 115. Hutten, 1941, 1391f. Vgl. hierzu auch: Hauser, 2004, 39. Schillebeeckx, 1990, 39.
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Menschen in seinem Zugriff auf Wirklichkeit und macht diesen Zugriff thematisierbar für weitere transformierende Vermittlungsprozesse 134, innerhalb derer die „Triftigkeit“ der eigenen Anschauung in der Begegnung von Mitwelt geprüft wird 135. In der Setzung von Selbst- und Weltverständnis erweist sich Weltanschauung somit notwendig als ineins kontinuitätsstiftendes und vorläufiges Prinzip: So die Weltanschauung das Verhalten des Menschen ausrichtet, bleibt sie gleichsam ungerichtet, erschließt sie dem Menschen notwendig seine Welt und bleibt doch unschlüssig – „im Hinblick auf ihre Verstehensleistung immer unvollständig und lückenhaft, nie ganz konsistent und immer auch teilweise unreflektiert“ 136. Oder wie Heidegger es formulierte: Weltanschauung „ist setzendes Erkennen von Seiendem und setzende Stellungnahme zu Seiendem, – nicht ontologisch, sondern ontisch“ 137. Insofern das Verstehen von Klima die Bezugnahme auf ein komplexes Kompositum voraussetzt, in dessen Beschreibung vielfach unthematisch weltanschauliche Prämissen eingehen, scheint es geboten, sich auf dem Feld des Klimawandeldiskurses der Absolutheitsansprüche zu erwehren und dem Gegenüber das Vorläufige zu markieren. Mit Blick auf die kognitive Struktur menschlicher Erfahrungen führt Schillebeeckx den Begriff der „Erfahrungstradition“ ein, den er als ineins „vorgegebenen Interpretationsrahmen“ und „als die kumulative, sich anhäufende persönliche Erfahrung von zuvor“ fasst 138. In der konkreten Erfahrung erweist sich somit der von der Setzung von Welt- und Selbstverständnis behauptete Spannungsreichtum als Faktum: „Die Erfahrung und ihren Interpretationsrahmen – wir können jetzt sagen: Erfahrung und Tradition (=Erfahrungstradition) – kann man deshalb nicht einfach einander gegenüberstellen, andererseits ebensowenig als einander ohne weiteres bestätigende Faktoren ansehen. Denn es geschehen Dinge, und es entstehen neue Erfahrungen, die innerhalb des Ganzen unserer zunehmenden Erfahrungstradition kaum einen geeigneten Platz finden: [Es wird sich in der Folge erweisen, dass diese Erfahrungen meist Längere Gedankenspiele initiieren, die auf unterschiedlichem Niveau mit der Erfahrungstradition in Form bewusst ergriffener Lebensorientierung dialogisieren, M.N.] Sie erweisen sich als fremde Elemente in unserem vertrauten Erfahrungshorizont.“ 139 Der von Schillebeeckx angedeutete Umgang mit diesen fremden Elementen wird sich im weiteren Verlauf als notwendiges Differenzierungsmerkmal in der Rede von Kontinuitäts- und Diskontinuitätserfahrung erweisen: „Bei solchen Widerständen [der Zusammenprall von fremden Elementen und vertrautem Erfahrungshorizont] wird man anfangs den Interpretationsrahmen etwas anpassen oder umbiegen. Erst wenn alle Versuche zur Anpassung scheitern, werden wir mit der heiklen und kritischen Frage nach einer Art kopernikanischer Wende in
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Hauser bindet daher den Begriff der Weltanschauung in seiner Hinführung auf diesen unbedingt an den Begriff von Kultur [Hauser, 2004, 32f.] und erweitert ihn dahingehend, wie folgt: „Die Weltanschauung ist die Versammlung aller menschlichen Erlebnisweisen, die sich auf das Verstehen von Welt und Selbst auswirken.“ [Hauser, 2004, 37]. Vgl. Hauser, 2004, 33. Hauser, 2004, 37. Heidegger, 175, 15. Vgl. hierzu: Hauser, 2004, 39. Schillebeeckx, 1990, 39. Schillebeeckx, 1990, 39.
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unserem tatsächlich vorgegebenen, sinngebenden Interpretationsrahmen konfrontiert, zumindest wenn man aufrichtig gegenüber sich selbst sein will.“ 140 Letztlich weist auch Schillebeeckx die spannungsreiche Aufeinanderbezogenheit von Erfahrung und Erfahrungstradition als die „condition humaine“ kennzeichnende Aspekte aus: „Die sinngebende Beleuchtung aller persönlichen Erfahrungen durch eine bestimmte Erfahrungstradition, als Interpretationsrahmen oder Erfahrungshorizont, hat einerseits eine positive Seite: Sie macht das Verstehen neuer, singulärer Erfahrungen möglich [und damit das Verstehen von Erfahrung überhaupt]; andererseits hat sie einen negativen Aspekt: Sie begrenzt unser Verstehen, macht die Interpretation neuer Erfahrungen selektiv und lenkt schon im voraus kommende neue Erfahrungstraditionen. Aber beide Aspekte kennzeichnen unsere condition humaine; außerhalb dieses Perspektivismus ist jeder Versuch zu Verstehen menschlicher Größenwahn; etwas Unmögliches.“ 141
Auf den Weltanschauungsbegriffs Hausers zurückkommend, ist von Bedeutung, dass dieser darüber hinaus an das im Verstehenshorizont des Menschen liegende Selbst- und Weltverständnis als ineins Feststellung von Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit gebunden ist. Die in der Folge vorzunehmenden Erläuterungen hierzu sollen zugleich Anlass sein, den Weltanschauungsbegriff für einen weiterführenden Diskurs über die Erfahrungen von Diskontinuität zu öffnen.
III.
Selbst- und Weltverständnis als ineins Feststellung von Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit
Die Vergänglichkeit des Lebens, die der indonesische Dichter Saut Situmorang als Grunderfahrung angesichts der Katastrophe vom 26.12.2004 poetisch schildert, bildet den der Erlebniswelt des Menschen entnommenen Ausgangspunkt für das, was mit dem im weiteren Verlauf noch näher zu explizierenden Begriff der Diskontinuitätserfahrung umrissen ist: Das Leben ist so vergänglich. Der Tod so endgültig und Worte? Was können schon die Worte eines Dichters ausrichten außer Trauerlieder zu singen von stolzen zerrissenen Segeln, wiegenden Palmblättern am Strand dem das Schnattern der Möwen und die stolzen zerrissenen Segel der Fischer, der Herren der Morgengischt abhanden gekommen ist? 142
In Naturkatastrophen, wie der des Tsunami 2004, kann die Endlichkeit für den Menschen als Sterblichkeit erfahrbar werden – auch für den im weit entfernten Westen Lebenden, dem Dank der globalen Vernetzung mittels der modernen Datenwege die Schreckensbilder aus den betroffenen Regionen vor Augen geführt werden. Der Mensch ist hier mit der eigenen Verwundbarkeit konfrontiert, doch bedarf es nicht erst dieser Bewusstwerdung, um festzustellen, dass Annäherung an Wirklichkeit sich immer in der Bestimmtheit durch Endlichkeit ereignet. „Alles, was wir tun, ist
140 141 142
Schillebeeckx, 1990, 39. Schillebeeckx, 1990, 40. Situmorang, zitiert nach Frömming, 2006, 150.
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geprägt durch Endlichkeit.“ 143 Im unabschließbaren Horizont möglicher Weltanschauungen sind wir in der Existenz auf die eine eigene festgelegt und erleben gleichsam unsere Handlungen als im Bewusstsein der Endlichkeit gewählte Möglichkeit unter dem notwendigen Ausschluss zahlreicher anderer; erleben diese Handlungen wiederum als unvollkommen, ereignet nicht selten in den Bahnen des Paulinischen Paradoxons und letztgültig unverfügbar durch die Grenze des eigenen Grabes. Leben vollzieht sich notwendig in Begrenztheit, Endlichkeit zeichnet das Ich und seine Entwicklung, da wir nur in der Setzung von Differenz letztlich orientierungs- und handlungsfähig werden. Zugleich ist dieses Leben selbst aber immer auch Ausdruck des Strebens nach Aufhebung von Endlichkeit. Es vollzieht sich in Abgrenzung von Tod und Freitod sowohl in den kleinsten Bahnen vegetativer Funktionen 144 als auch in den Lebensund Tagesplanungen, in denen wir unser „Sein auf Zukunft hin ausrichten“ 145 in der Annahme eigener Fortexistenz. „Die Offenheit gegenüber der Zukunft [ist] ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Existenz“ 146. Das Streben nach Aufhebung von Endlichkeit, wir erfahren es in jedem Moment, in dem wir um deren Linderung bemüht sind, wenn wir natürlichen Bedürfnissen folgen, wenn wir es uns bequem machen, um möglichen Schmerzen zu entgehen, wenn wir uns in einen Zustand der Entspannung begeben, um möglicher Verspannungen Herr zu werden. „Wenn wir dies tun, stoßen wir auf die Idee einer vollkommenen psychischen und körperlichen Wohlexistenz. Doch auch wenn dies gegeben wäre, so würden wir immer noch das Alter und das Grab bereits im Hintergrund warten. Auf diese Weise sind wir bei der Idee einer vollkommenen Aufhebung von Endlichkeit angekommen. Theologisch kann man hier von Erlösung oder Heil sprechen.“ 147 Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit sind somit notwendig als Prägungen des eigenen Verstehenshorizonts und unabstreifbare Wesensmerkmale des Menschen zu erfassen. In seiner Weltanschauung liegt nun wiederum ineins die Bezugnahme zu dieser Gestaltetheit in Antinomie. Das Faktum einer Theorie des Klimawandels konfrontiert uns mit Endlichkeit und ruft zugleich zu Entscheidungen und Lösungsperspektiven hinsichtlich des Theorems auf, die auch in der Resignation über die vermeinte Unausweichlichkeit von Klimaveränderungen Ausdruck eines Strebens nach Aufhebung von Endlichkeit bleiben.
IV.
Bewusst ergriffene Lebensorientierung und Längeres Gedankenspiel
Antinomie als ein für die Existenz des Menschen charakteristisches Merkmal bedingt auch zweierlei Weisen, in denen die Weltanschauung gelebt wird: „Bewusst
143 144 145 146 147
Hauser, 2004, 35. Vgl. Hauser, 2004, 36. Hauser, 2004, 36. Bultmann, zitiert nach Huppenbauer, 1992, 138. Hauser, 2004, 36.
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ergriffene Lebensorientierung“ und „Längeres Gedankenspiel“ 148. So Weltanschauung als „totale Haltung zur Welt“ der Annäherung an Wirklichkeit vorgegeben ist, erfolgt immer auch eine Reflexion auf diese Vorgegebenheit durch den Menschen 149. In dieser Bezugnahme wird die Weltanschauung bewusst und als lebensorientierende Gerichtetheit erfasst, ist sie Bewusst ergriffene Lebensorientierung, die sich in der Ausdeutung bestimmter hinreichender Maxime vollzieht, deren Befolgung Lebensstil und gesellschaftliche Verortung des Individuums kennzeichnet. Man erfährt sich beispielsweise als Christen, der sich bestimmten Dogmen gegenüber verpflichtet weiß, als Umweltaktivisten, dem ökologische Prinzipien als normative Handlungsmuster gelten, oder auch als radikalen Freidenker, der sich von gesellschaftlichen Konventionen löst.
Der Lebensstil ist interpretative Bezugnahme auf die weltanschauliche Vorgegebenheit, wobei diese Interpretation nur bestimmte Aspekte des Verstehenshorizontes erfasst, selektiv wirksam ist, und damit andere Gesichtspunkte der eigenen Weltanschauung unterminiert, die wiederum das eigene Selbstkonzept auf Schlüssigkeit und Stimmigkeit hinterfragen. Zugleich erweist sich die Bewusst ergriffene Lebensorientierung als partikular auf dem großen Markt postmoderner Lebensläufe und muss gegenüber anderen Images konkurrieren, die sie gleichsam korrektiv-relativierend beeinflussen. Jenen Einflüssen und weltanschaulichen Nebenaspekten gewährt der Mensch in Längeren Gedankenspielen seinen Freiraum. Hier eröffnet sich die fiktive Welt des „Was-Wäre-Wenn“, die eine subjektive Realität neben der alltäglich-objektiven schafft und dabei die Begrenztheit vollziehbarer Handlungen gedanklich aufhebt. Christian Kölzer führt als Beispiel für die kollektiv zugängliche Möglichkeit eines Längeren Gedankenspiels das von der Firma LINDEN LAB konzipierte Projekt Second Life an. Dem interessierten Internetuser wird hier offeriert, ein Zweites Leben in einem parallelen Universum virtueller Realität zu beginnen, ein Leben, in dem die eigenen Unzulänglichkeiten und Begrenztheiten aufgehoben scheinen, Endlichkeit technologisch überwunden wird in der „quasi göttliche(n) Macht, die Welt zu konstruieren“ 150. In der kritischen Kommentierung dieses Angebots durch den Medientheoretiker Peter Weibel wird dabei die Gefahr der Überlagerung der alltäglich-objektiven Realität durch die selbst geschaffene subjektive Scheinwelt deutlich: „Das zweite Leben erwartet uns den christlichen Vorstellungen gemäß nach dem Tod. Nun können wir uns während des Lebens in ein Paralleluniversum begeben. Die Hoffnung auf ein zweites, neues Leben ist die wichtigste Heilserwartung der Christen. Sie wird nun, zugespitzt gesagt, technologisch eingelöst.“ 151 Klaus Müller weist in seiner Untersuchung Endlich unsterblich. Zwischen Körperkult und Cyberworld auf den im weiteren als neomythisch bezeichenbaren Charakter des Virtuellen hin: „Zum Zentrum der medialen Durchformung der Lebenswelten gehört der Begriff der Virtualität längst mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht mehr lange nach seinem genauen 148 149 150 151
Hauser, 2004, 40. Die folgende Darstellung folgt Hauser, 2004, 40f. Vgl. Hauser, 2004, 40. Barloewen, 1998, 84. Vgl. hierzu auch: Müller, 2011, 113. Kölzer, 2008, 68.
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Gehalt fragen muss. Dass medial vorgegebene Bilder bearbeitet oder hochkomplexe Bildwelten, in denen durchaus auch deren Schöpfer selbst nochmals in einer Selbstrepräsentation auftreten kann, neu geschaffen werden können, dass die Demarkationslinie zwischen Sein und Schein, Faktum und Fiktum fließend wird, bildet in etwa den Kernbegriff des Virtuellen.“ 152 Der neomythische Charakter der informationstechnologisch geschaffenen Virtualität, die Wirklichkeit als „Spiel von Interpretationen“ 153 zur Geltung bringt, zeigt sich dabei in der von Müller angeführten Interpretation Vattimos von Virtualität als Heilsgeschichte: „Die Schwächung des Seins, auf die hin meiner Hypothese zufolge die Geschichte unserer Zivilisation ausgerichtet ist, lässt sich anscheinend als Heilsgeschichte vorstellen, insofern sie ein Geschehen ist, das die Verschiebung des Realen auf die Ebene der sekundären Qualitäten, des geistigen, des ornamentalen – wie könnten vielleicht sogar hinzufügen, des Virtuellen – vorbereitet.“ 154
Längere Gedankenspiele dialogisieren auf unterschiedlichem Niveau mit der Bewusst ergriffenen Lebensorientierung vor dem Hintergrund der je eigenen Weltanschauung. Sie sind zum einen der notwendig konträre Raum, der aus dem gewählten Selbstkonzept erwächst, in dem die unterminierten weltanschaulichen Aspekte bewusst werden. Erst vor dem Hintergrund der Längeren Gedankenspiele wird folglich die eigene Weltanschauung als vorläufige, unabgeschlossene erfahrbar. Darüber hinaus interagieren Längere Gedankenspiele und Bewusst ergriffene Lebensorientierung und bedingen sich wechselseitig. In dieser Dialogizität wird zugleich Raum gegeben, über das Längere Gedankenspiel andere Perspektiven auf Welt korrektiv in die eigene Anschauung zu integrieren. Schließlich kann das Längere Gedankenspiel aber auch die als objektiv wahrgenommene Realität überlagern, kann den Menschen zur Welt(anschauungs)flucht bewegen und damit die vermeintlich stärkere Ontologie der Bewusst ergriffenen Lebensorientierung abschwächen. „Man kann – bildlich und postmodern gesprochen – das Längere Gedankenspiel als so etwas wie eine Subwelt verstehen, die bewusst eine schwächere Ontologie hat als die Welt erster Ordnung, in die sie eingelassen ist. In solchen Musementwelten 155 lässt sich vieles, wenn auch unverbindlich oder auch nur zum Schein, realisieren, was in der härteren und massiveren Realität der Welt erster Ordnung nicht möglich ist. Solche Subwelten oder Musementwelten sind traditionell Kunstwerke, Filme, Romane, Theaterstücke, aber auch gespielte Welten wie sie in den für die Jugendkultur so typischen Peergroups, im Indianerspiel, in Rockerbanden und in Subkulturen wie den Punks und den Skinheads begegnen, können als solche Subwelten interpretiert werden. Die fiktionale Qualität und damit die ontologische Valenz [sind] unterschiedlich. Ein Roman hat andere Folgen als eine Skinheadgruppe, die sich auf die Jagd nach Ausländern macht. Hier wird die Grenze zwischen der ersten Welt und der Subwelt durchlässig bzw. kann ganz verschwinden.“ 156 In nicht selten apokalyptisch anmutenden Bebilderungen gehen eine Vielzahl Längerer Gedankenspiele dem ökologischen Diskurs einher und widmen sich u.a. der Frage, was auf die drohenden klimabedingten Globastrophen folgen mag oder wie diesen zu entrinnen sei. Weltraumaventuren wie James Camerons Avatar oder auch der 2014 erschienene Hollywood-Blockbuster Interstellar von Christopher Nolan offerieren einem Massenpublikum 152 153 154 155 156
Müller, 2011, 88. Vattimo, 2004, 71. Vgl. hierzu auch: Müller, 2011, 87. Vattimo, 2004, 74. Vgl. hierzu auch: Müller, 2011, 87f. Diesen Begriff entlehnt Hauser Peirce, 1995, 118f. [Vgl. Hauser, 2004, 42]. Hauser, 2004, 43.
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eine auch fern des Kinosaals nachwirkende Bildwelt, die als Parabel auf gegenwärtige Gesellschaftsentwicklung gelesen werden kann, und wirken so auf den ökologischen Diskurs zurück. Längere Gedankenspiele finden sich aber auch mannigfach in den populärwissenschaftlichen Aufbereitungen ökologischer Fragestellungen und haben ihren Anteil an der jeweiligen Rezeptionsgeschichte. So ist es gerade die den Abhandlungen Rachel Carsons in Stummer Frühling vorausgestellte Dystopie einer von Pestiziden zerstörten Natur, die als Mahnruf für die gesamtgesellschaftlich wirkende Umweltbewegung in ihren Anfängen wirksam wird.
Die ontologische Valenz bindet sich dabei weniger an die Ausdrucksform des Mediums als an die subjektive Qualität des im Medium repräsentierten Gedankenspiels, wenngleich Abbildungsqualität und Rezeptivität in einem korrelativen Zusammenhang stehen. Hinzu kommt eben die bloß individuell bestimmbare ontologische Wertigkeit der Bewusst ergriffenen Lebensorientierung, von der die Empfänglichkeit für die Integration fiktiver Elemente in die objektive Realität abhängt. Die Komplexität dieses Zusammenwirkens wird beispielweise in den breiten gesellschaftlichen Diskussionen um das Verbot von Gewaltspielen evident. Hieran zeigt sich wiederum deutlich, dass Längere Gedankenspiele zu kollektiven Ausdrucksformen erwachsen können, die, wie Hauser es terminologisch fasst, eine lange „kulturelle Inkubationszeit“ 157 aufweisen und die „unabhängig vom biografischen Ende des Gedankenspielers“ 158 fortexistieren. So stellt auch die wissenschaftliche Hypothese vom Klimawandel zunächst ein Längeres Gedankenspiel dar, das auf dem Boden einer noch durch das ökologische Bewusstsein der 60er Jahre geprägten Gesellschaft massenwirksam werden konnte. Längere Gedankenspiele können die eigene Endlichkeit und die der Mitwelt als zu überwindende Größe bebildern, wie sie uns auch die Radikalität der eigenen Begrenztheit vor Augen führen. Während Superheldenblockbuster wie Spiderman, Superman und Co mit dem Gedanken übermenschlicher Fähigkeiten kokettieren, rezitieren beispielsweise Katastrophenfilme beinahe unaufhörlich apokalyptische Szenarien und erweisen sich als das cineastische Äquivalent zum mittelalterlichen „Memento mori“ 159. Das Längere Gedankenspiel, das sich erst aus der Möglichkeit der Entgrenzung hin zur fiktiven Ausgestaltung paralleler Handlungsentwürfe generiert, trägt gleichsam die Spannung der ineins Feststellung von radikaler Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit fort. Beispielhaft ließe sich hierfür auf die weltanschauliche Lage des beginnenden 19. Jahrhunderts verweisen. Das sich im Aufgreifen rassischer Dekadenztheorie verbreitende „Fin-deSiècle-Gefühl“ 160 ist der Boden, auf dem zugleich resignative Untergangsängste wie auch die Hoffnung auf die geniale Führergestalt nietzschescher Couleur erwachsen 161.
157 158 159 160 161
Hauser, 2004, 40. Hauser, 2004, 40. Man denke hier etwa an die Horrorfilmreihe Final destination. Nagel, 1972, 92. Vgl. hierzu auch: Novian, 2013, 105f.
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§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
So sind Längere Gedankenspiele unverbindlich freiflanierend strukturiert und lassen Todesangst und Unsterblichkeitshoffnung spannungsreich im „Ernst des Spiels“ 162 koexistieren.
V.
Weltanschauung in Einfachheit und Komplexität
Die Weltanschauung des Menschen als „prinzipiell spannungsreicher Verstehenshorizont von Wirklichkeit“ bringt unterschiedliche Standpunkte hervor, in denen (Aspekte von) Welt und Selbst thematisiert werden. In diesen unterschiedlichen weltanschaulichen Standpunkten kann Annäherung an Wirklichkeit als Wirklichkeit gedeutet werden, werden die Standpunkte selbst als einfache und komplexe Standpunkte beschreibbar. In populärwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den klimatologischen Untersuchungen begegnet man häufig der Aussage, dass die wissenschaftlichen Modellierungen einen „komplexen“ Gegenstandsbereich beschreibbar machen wollen. Trotz dieser vermeinten Komplexität werden sodann aber vielfach die in – als vereinfachende Operatoren umgedeuteten – Modellen und Simulationen sich vollziehenden Annäherungen an den Gegenstandsbereich „Klima“ als Beschreibungen von gegenwärtiger wie künftiger Wirklichkeit missdeutet. Gore etwa bringt in Eine unbequeme Wahrheit den für den Diskurs um einen anthropogenen Einfluss auf das Klima so bedeutsamen Zusammenhang zwischen wachsendem CO²Ausstoß und Temperaturanstieg unter Bezugnahme auf verkürzt wiedergegebenes Datenmaterial auf die einfach Formel: „Die Zusammenhänge sind ziemlich kompliziert, aber das Entscheidende ist: Wenn die Atmosphäre mehr CO² enthält, dann steigt die Temperatur, weil mehr Sonnenenergie absorbiert wird.“ 163
Mit den Beiworten einfach und komplex sind keine Prädikate zur Bemessung der hinter den je-individuellen Standpunkten liegenden Denkvorgänge zu sehen. Einfache weltanschauliche Standpunkte sind vielmehr solche, in denen Annäherung an Wirklichkeit und Wirklichkeit gleichsetzt werden. Das im Standpunkt Mitgeteilte wird als umfassende Stellungnahme zu dem Erfahrenen aufgegriffen, der eigene Zugang als hinreichend-objektive Perspektive gedacht, die Arbiträrität im Vermittlungsprozess auflösend. Die Bedeutung des Erfassten wird nicht länger als vorläufig markiert und das Erfahrene wird somit zu einer kategorisierbaren empirischen Größe und die Relation des Erfahrenen zu anderen Objektivationen und zu mir Selbst beschreibbar in verstandesgemäßen Kausalzusammenhängen oder wie Rudolf Bultmann es beschreibt in der „Sphäre des Sichtbaren, des Vorhandenen, Verfügbaren, Meßbaren.“ 164. In der Begegnung mit Welt und Selbst sind solche einfachen weltanschaulichen Standpunkte schlechthin notwendig, ermöglichen erst eine grundlegende Orientierung in der Welt, bleiben jedoch immer auf den durch Vorläufigkeit geprägten weltanschaulichen Grund bezogen.
162 163 164
Hauser, 2004, 42. Gore, Wahrheit, 67. Bultmann, zitiert nach Huppenbauer, 1992 138f.
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Hans-Peter Dürr erfasst die Notwendigkeit einfacher weltanschaulicher Standpunkte in naturwissenschaftlicher Perspektive mit dem scientistischen Begriff der intuitiven Betrachtungsweise der Welt: „Damit wir in der Vielfalt nicht blind werden, sollten wir auf die uns wohl mögliche, intuitive Betrachtungsweise der Welt nicht verzichten, durch die es leichter fällt, Gestalten zu erkennen und Bewertungen vorzunehmen.“ 165 Erfasst diese wissenschaftslogische Betrachtung auch richtig die Notwendigkeit eines einfachen Selbst- und Weltverständnisses als Voraussetzung für Orientierung in der Welt, wird zugleich in der hier grundgelegten Gegenüberstellung von intuitiver und diskursiver Betrachtungsweise ein möglicher Fehlschluss thematisierbar. Einfache weltanschauliche Standpunkte sind gerade nicht als intuitive Betrachtungsweisen von Welt zu verstehen, sondern können vielmehr auch aus diskursiven Erschließungsbemühungen erwachsen. Die zuvor genannte solipsistische Weltauffassung stellt einen solchen aus diskursiver Erschließungsbemühung erwachsenen Standpunkt dar. Auch in der zu Beginn angeführten wissenschaftlich fundierten Umgangsweise George H.W. Bushs mit dem anthropogenen Treibhauseffekt ist ein einfacher weltanschaulicher Standpunkt vorausgesetzt, der Wirklichkeit als fassbare, beschreibbare und letztlich beherrschbare Größe annimmt.
In komplexen weltanschaulichen Standpunkten hingegen erfasst der Mensch das Widerfahrene als relativiert durch die Vorläufigkeit der Weltanschauung und durch die Vielzahl anderer Perspektiven auf Welt 166. Von einem solchen Standpunkt ausgehend kann man über die im ökologischen Diskurs vorfindbaren Absolutheitsansprüche und Alternativradikalsimen hinausgreifen, ohne damit die hohe Plausibilität der Theorie eines sich vollziehenden anthropogenen Klimawandels dem Relativismus preisgeben zu müssen. Einfache und komplexe weltanschauliche Standpunkte zu Widerfahrenem schließen sich in der Aussage durch das je-Selbst nicht gegenseitig aus. Der Mensch kann das Erlebte in unterschiedlichen weltanschaulichen Standpunkten artikulieren und reflektieren, die unterdes in einem Spannungs- und Gegensatzverhältnis stehen. Dieses Spannungsverhältnis ist lebbar auch außerhalb in der Reflexion wahrgenommener Selbstwidersprüchlichkeit, indem der Mensch den gegensätzlichen Standpunkten auf unterschiedenem Niveau in Längeren Gedankenspielen oder der bewusst ergriffenen Lebensorientierung Raum gibt. In der Diskussion um die Möglichkeit eines vom Menschen verursachten Klimawandels kann etwa der komplexe Standpunkt eingenommen werden, dass die seit der Industrialisierung gewachsenen technischen Fortschritte unbewusst das Klima auf eine negative Weise beeinflusst haben. Werden somit die Folgen des technologischen Fortschreitens in der These von einem anthropogenen Klimawandel kritisch bedacht, besteht dennoch die Möglichkeit im unverbindlichen Gedankenspiel über mögliche technologische Lösungen der Klimakrise nachzudenken, die das Denkmuster einer technisch beherrschbaren Welt weiterspinnen.
Wie meist in der Etablierung eines komplementären Begriffspaares so ist auch in der Differenzierung von einfachen und komplexen weltanschaulichen Standpunk-
165 166
Dürr, 1989, 46. Die Fähigkeit, komplexe weltanschauliche Standpunkte auszubilden, scheint dabei an kognitive Entwicklungsvollzüge gebunden, die sich mit Reto Luzius Fetz als Übergang von der Objekt- zur Mittelreflexion charakterisieren lassen. Vgl. hierzu auch: Fetz, 2001, 343f.
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§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
ten von Randunschärfen an den Definitionsgrenzen auszugehen. Diese Randunschärfen lassen sich exemplarisch an der in vielen zielorientierten Standardisierungen geforderten Kompetenz der Problemlösungs(un)fähigkeit aufweisen. Problemlösungsfähigkeit verlangt gerade die Auseinandersetzung mit Phänomenen, die sich aufgrund ihrer Komplexität einfachen Zugängen bzw. der normalen Problemlösungstätigkeit 167 verschließen. Anhand induktiver bzw. deduktiver Schlussverfahren, die auf einer festgeschrieben Axiomatik basieren, nähert man sich der Komplexität in Strukturen und Modellierungen an, die dem Anschauungsraum des Menschen entlehnt sind. Im Grenzbereich dieser Annäherungen entstehen nun die eben benannten Randunschärfen, insofern es zu (un)bewussten Vertauschungen kommen kann, in deren Folge die hypothetische Annäherung als wirklichkeitsimmanent, als real Gegebenes erfahren wird und so die in der Komplexität des Phänomens liegende Spannung des Unfasslichen verloren geht. In oftmals unthematischen und nonverbalen Gedankenspielen der in die Zukunft projizierenden Noch-Nicht-Aber-Bald-Erklärungen 168 kann Problemlösungstätigkeit gleichsam als ein zu vervollständigendes Projekt angesehen werden. Dem homo futurus wird zugetraut, einen übergeordneten Standpunkt einzunehmen, von dem aus die Erklärungsbedürftigkeit von Welt aufgehoben wird. Die Denkfigur des „Noch-Nicht-Aber-Bald“ wird sich als zentral in der später vorzunehmenden Differenzierung von Neo- und Retromythos darstellen. Sie erfasst dabei auch jenes Moment der Wissenschaftsentwicklung, das sich nach Böschen/Wehling in der Differenz von dem wissenschaftsoptimistischen „Noch-Nicht-Wissen“ 169 hin zu der skeptischen Variante des „Nicht-Wissen-Könnens“ vollzieht 170. Nicht selten melden sich im populären Klimawandeldiskurs Stimmen zu Wort, die den durchaus bedenklich stimmenden Prognosen der Sachstandsberichte des IPCC mit einer unerschütterten Fortschrittsgläubigkeit begegnen. Dem homo futurus trauen sie zu, einen technologischen Fortschritt zu erzielen, mittels dessen der Klimawandelprozess positiv gestalten werden kann. Problematisch werden diese Positionen, wo sie im Diskurs um (möglicherweise auch unbequeme) politische Weichenstellungen zu anhaltenden Verharrungstendenzen führen.
Daneben erweist sich die Weltanschauung selbst, die den Verstehenshorizont für die einzelnen Standpunkte konstituiert, als nie nach einer der beiden Seiten aufge-
167
168 169 170
Dieser Terminus erweist sich bewusst eng an die Terminologie Kuhns angelehnt, dessen Theorie zur „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ in der Auseinandersetzung mit der Form logischen Denkens noch kritisch reflektiert werden soll. Dieser Begriff versteht sich als Weiterentwicklung des von Hauser aufgestellten Begriffspaares „Schon und Noch-nicht“. [Vgl. Hauser, 2004, 35]. Böschen/Wehling, 2004, 15. Böschen/Wehling, 2004, 15.
§2 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDLAGEN EINER DISKONTINUITÄTSERFAHRUNG
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löst, stellt sich in ihrer Vorläufigkeit als notwendig komplex und in ihrer den Menschen orientierenden Ausrichtung als hinreichend einfach dar 171. Einfache Standpunkte sind gerade auch im kulturellen Austausch immer wieder auf dem Prüfstand, wohingegen komplexe Standpunkte sich in der praktischen Lebensführung als Orientierungsmaßstäbe bewähren müssen. So denn sich Menschen also immer wieder in mitunter einseitig komplexen und einfachen weltanschaulichen Standpunkten äußern, hierin ihr Welt- und Selbstverständnis artikulieren, bleibt Weltanschauung doch ineins notwendig komplex und hinreichend einfach, „eine offene Menge von Verständnisweisen in der Hinsicht, dass es keinen lebbaren, systematisch-stimmigen Zusammenhang [der] Verstehensfiguren gibt, sondern nur das jeweilige Leben in dieser Weltanschauung sowie dessen (nachträgliche) immer nur ansatzweise begriffliche Verstehensbemühungen.“ 172 Ein weltanschaulich bedeutsames „Noch-Nicht-Aber-Bald“ betrifft die Erwartungen an die Wirkungen des Klimawandels, die ein – wie auch immer vorstellbares und/oder unvorstellbares – Neues, eine (Dis-)kontinuitätserfahrung bringen ‚sollen‘/‚könnten‘.
171
172
Bultmann umschreibt diese Differenzierung in der Dichotomie von eigentlicher und uneigentlicher Existenz: „In der uneigentlichen Existenz versteht sich der Mensch aus der verfügbaren Welt […] [in] der eigentlichen Existenz versteht er sich aus der unverfügbaren Zukunft“. [Bultmann, zitiert nach Huppenbauer, 1992, 139]. Hauser, 2004, 39.
§3
Klimawandel und Weltanschauungskonstitution
Urte Undine Frömming führt in ihrer empirisch-basierten kulturanthropologischen Untersuchung zu Naturkatastrophen an, dass Naturphänomene immer an das Moment der Diskontinuität gebunden seien 173 und erörtert somit das Phänomen von Kontinuität und Diskontinuität im Kontext einer „krisenhaften Erfahrung von Welt“ 174. Die von Frömming vorgenommene Kontextualisierung naturkatastrophaler Ereignisse weitet den Blick und weist auf die Bedeutung der Untersuchung von Standpunkten im Umgang mit konkreten krisenhaften Ereignissen, wie dem des anthropogenen Klimawandels, hin als einem exemplarischen Zugang zur Suche nach gegenwärtigen menschlichen Ausdrucksformen im Erleben von Krisen 175. Diesem Weg wollen wir folgen, und im Weiteren schauen, ob und wie sich der Begriff der Diskontinuität, der wiederum zunächst auf der Grundlage seiner eigenen langen Begriffsgeschichte zu bedenken ist, für einen Diskurs um den anthropogenen Klimawandel nutzbar machen lässt.
I.
Eingenommene Perspektive auf die Phänomene von Kontinuität und Diskontinuität
Natura non facit saltus 176. Dieser von Gottfried Wilhelm Leibniz aus dem mittelalterlichen Aristotelismus entlehnte, programmatische Satz hilft, einen fachübergreifenden Diskurs zu beschreiben, der von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Im Blickfeld dieses Diskurses steht die Frage nach der Kontinuität alles Seienden, die je nach epochaler Prägung und in der Bestimmtheit methodologisch-kritischer Perspektivität in Positivismus, Heuristik und Dialektik 177 unterschiedlich beantwortet wurde und in jüngerer Zeit neue Impulse etwa durch die naturwissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Quantenphysik und der Evolutionsbiologie (Stichwort: Mutationen) erfahren hat 178. Anliegen der vorliegenden Arbeit soll nicht sein, Kontinuität bzw. Diskontinuität der Natur(abläufe) zu erweisen. Das zuvor Gesagte sollte genügen, um zu zeigen, dass ein Wirklichkeitsverständnis, das sich unter dem Modus der Vorläufigkeit immer nur als Annäherung begreifen kann, keine satzhaft-objektivierbare Aussage
173 174 175
176 177 178
Vgl. Frömming, 2006, 214. Frömming, 2006, 8. Vgl. hierzu auch Frömming, 2006, 8 und 214, wo es heißt: „Da die Naturkatastrophe immer an das Phänomen der Diskontinuität gebunden ist und Gesellschaft unmittelbar betrifft und bedroht, eignen sich Wahrnehmungsweisen von Naturkatastrophen darüber hinaus als Mikrostudie über die menschliche Imagination und Konzeption von Veränderung innerhalb der eigenen Geschichte, die immer auch Globalgeschichte ist.“ Vgl. Leibniz, 1993, 13f. Vgl. Baumgartner, 1972, 47. Zur Betrachtung dieses Diskurses vgl. Baumgartner, 1972 und Frömming, 2006, 206f.
§3 KLIMAWANDEL UND WELTANSCHAUUNGSKONSTITUTION
55
über die Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer (Dis-)Kontinuität erlaubt bzw. jedwede Aussage im Horizont der je- eigenen individuellen Vorgegebenheit spiegeln muss. Dies gilt insbesondere auch für den in seiner Unanschaulichkeit zu interpretativen Analogien einladenden Bereich der Quantenphysik. Mithin wird hier ob der Modellierungen beispielsweise in „Wellen-Teilchen-Theorie“ oder „Doppelspaltversuch“ nahegelegt, Kontinuität als projizierte „Erwartungs-Struktur“ 179 zu begreifen. Vor dem Hintergrund einer theologischen Interpretation einer Schöpfung, die nicht abgeschlossen ist, lässt sich dann sogar die These des Neu-Ereignens in jedem Augenblick als falsifiziert erachten 180. Dem entgegen bleibt mit Werner Heisenberg letztlich die einzig zulässige Aussage: „Wir besitzen ein mathematisches Schema der Quantentheorie, das allen Experimenten der Atomphysik gerecht wird. Will man trotzdem von der Mathematik zur anschaulichen Beschreibung der Vorgänge übergehen, so muß man sich mit unvollständigen Analogien begnügen […]“ 181. Dahingegen wollen wir in heuristischer Wendung auf das Individuum selbst in den Blick nehmen, wie der Mensch Erfahrenes begreift und gleichsam, ob dieses Erfahrene sich ihm vor dem Hintergrund seiner eigenen Weltanschauung als (dis)kontinuierlich prinzipiell erschließen kann. Daran anknüpfend soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Klimawandel als (Dis)kontinuität erfahren werden kann.
II.
Menschsein unter dem Eindruck von Kontinuität und Diskontinuität
An Existenz bindet sich unmittelbar der weltanschauliche Horizont, der ‚Welt‚ in der Perspektive des je eigenen Verständnisses entwirft und erfahrbar macht, eine Ordnungsstruktur bildend, zu deren grundlegenden Gestaltungsmustern die Kontinuität von Zeit und Raum gehört 182. Als Ordnungsstruktur steht der Begriff Kontinuität damit aber spätestens seit dem französischen Strukturalismus unter dem berechtigten Verdacht eine Abstraktion zu sein, konstruiert „unter der Drohung eines unendlichen Regressus“ 183. Der Schluss „die Geschichte restituiere dank ihrer zeitlichen Dimension ‚den Übergang von einem Zustand in einen anderen in kontinuierlicher Form‚“ wird als Irrtum abgelehnt 184. „Auch wenn sich die Idee der K. der geschichtlichen Welt [somit] weder apriorisch fixieren noch als ganze empirisch bestätigen läßt, erhebt sie doch Wahrheitsanspruch, weil ihr ein grundlegendes Interesse des Menschen zugrunde liegt. Wir haben ‚das Bedürfnis ... , uns solcher K. bewußt zu sein und immer mehr bewußt zu werden‚ „weil sich Wert und Bedeutung 179 180 181 182 183 184
Vgl. Dürr, 1989, 40. Vgl. Dürr, 1989, 30. Heisenberg, 1930, 7. Vgl. Dürr, 1989, 40f. Lévi-Strauss, zitiert nach Herold, 1986, 1041. Herold, 1986, 1041.
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des Einzelnen erst in diesem umfassenden Prozeß von Bildung und Weiterarbeit erweisen.“ 185 Stiftung von Kontinuität ist unablässige Aufgabe des sich weltanschaulich orientierenden Menschen 186, die als Ausdruck des Strebens nach Aufhebung von Endlichkeit gedeutet werden kann. Sie bleibt jedoch in der Reflexion auf die eigene Vorläufigkeit immer unbestimmt. Die Orientierung in klimatologischen Diskursen beispielsweise greift im ‚Klima‚ auf eine theoriebasierte Ordnungsstruktur zurück, die zeitlich und räumlich voneinander losgelöst sich ereignende klimatische Phänomene, wie temporäre Wetterlagen, in einen gemeinsamen Kontext zusammenbindet. Erst unter dieser Voraussetzungen werden die gegenwärtig diskutierten klimatologischen Entwicklungen diskutierbar. Vereinzelt wenden sich Klimaskeptiker gerade gegen diese Voraussetzung, wenn sie persuasiv vom Klima als einer beliebige Wettervorgänge zusammenfassende Größe ausgehen 187.
Bestimmtheit kann die These der Kontinuität nur in metaphysischer Wendung, die sich „außerhalb der Reichweite unserer Sinne“ 188 begibt, erlangen 189. Die „lex continui“ 190 geraten Leibniz zum Grundsatz des Denkens und der Wirklichkeit 191 und bilden „den roten Faden, an dem sich die Einzeldisziplinen unseres Denkens emporranken zu einem Systembau, der sich durch Geschlossenheit seines Gesamteindruckes und unentrinnbare Konsequenz seiner Ziele auszeichnet.“ 192 Diesen Gedanken fortführend merkt Friedrich Kaulbach an, dass „[d]ie konkrete Kontinuität […] die qualitativen Unterschiede in der Natur des Individuums zur Geltung kommen [läßt], statt sie einzuebnen. Sie bedeutet den unteilbaren Zusammenhang in der Vielheit unendlich heterogener Augenblicke“ 193 und erweist somit Gegensätzlichkeiten als verschiedenartige Modi des einen Grundphänomens 194, das mit Gerhard Schneider etwa als „Weltformel“ 195 oder „Leitmotiv des Weltganzen“ 196 aufgefasst werden kann. „Das Allgemeine als der Begriff ist es selbst und sein Gegenteil, was wieder es selbst als seine gesetzte Bestimmtheit ist; es greift über dasselbe über und ist in ihm bei sich.“ 197 Leibniz weist in seinen Abhandlungen aber auch auf die problematische Aneignung des Kontinuitätsbegriffs in zeitgeschichtlichen Strömungen der exakten Wissenschaften hin, in ihren Versuchen, ohne Metaphysik auszukommen: „Es wird deutlich, daß die radikale Behauptung des Gesetzes der Kontinuität die unendliche Heterogenität und Individualität der Wesen in der Natur preisgibt. Das Kontinuitätsgesetz unterstellt eine Natur, so wie sie der
185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197
Herold, 1986, 1039. Vgl. Baumgartner, 1972, 29. Vgl. Thüne, 2002, 82f. Schneider, 1953, 58. Zur Bedeutung der Metaphysik für das Leibnizsche Denken, vgl. Schneider, 1953, 69. Schneider, 1953, 58. Schneider, 1953, 59. Schneider, 1953, 63f. Kaulbach, 1970, 14. Vgl. Schneider, 1953, 64. Schneider, 1953, 70. Schneider, 1953, 78. Hegel, 1969, 264.
§3 KLIMAWANDEL UND WELTANSCHAUUNGSKONSTITUTION
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exakte Verstand will, aber entspricht nicht der ‚Natur selbst‘“ 198. Wirklichkeit und „Wahrnehmung von Wirklichkeit“ 199 geraten damit in einen unzulässigen Äquivalenz-Zusammenhang, der die transformierende Realität des Menschen in einfachen Strukturen ausblendet 200.
Diese Konkretisierungen erlauben es, im Welt- und Selbstverständnis des Menschen letztlich eine ineins Feststellung von Kontinuität und Diskontinuität 201 zu beschreiben, so denn „mit jedem Erlebnis immer schon die Welt als der universale Horizont aller Vermeintheiten in den Blick“ genommen wird 202, ohne dass eine rekonstruierende Komposition 203 möglich wird. Kontinuität ist als notwendiges praktisches Deutungsprinzip der eigenen Weltanschauung immer zugleich relativiert in der ständigen Reflexion auf den die Weltanschauung prägenden Modus der Vorläufigkeit, der Kontinuität als individuell gesetzt erweist und das Selbstbild in diese Setzung einbezieht. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Rede von Diskontinuitätserfahrungen näher bestimmen, dass diese als solche Erfahrungen beschrieben werden können, die sich nicht in kontinuitätsstiftende Strukturen einpassen lassen und von daher eine Reflexion auf die weltanschauliche Vorgegebenheit initiieren. So kann etwa das Widerfahrnis einer Katastrophe je-individuell erwachsene Deutungskonzepte durchkreuzen und bis hin zur Anerkennung neuer Deutungskonzepte führen, indem etwa durch das wahrgenommene Leid der Glaube an eine von einem personalen Gott durchwirkte Schöpfung in Frage gestellt wird oder indem bspw. ein Extremwetterereignis zum Aufweis für die wissenschaftliche Theorie des Klimawandels gerät.
III.
Der anthropogene Klimawandel, eine Naturkatastrophe!? – Problemhorizonte der begrifflichen Einordnung
Gemäß dem auch in der medialen Berichterstattung immer wieder kolportierten Gros der klimatologischen Darlegungen erscheint es plausibel, den Klimawandel als Prozess zu begreifen, in dessen Folge naturkatastrophale Ereignisse entstanden sind und weiterhin entstehen werden. In der Differenzierung von prozessualer Ursache und katastrophaler Konsequenz wird dabei zum ersten Mal die Frage aufge-
198 199 200
201
202 203
Leibniz, zitiert nach Kaulbach, 1970, 12. Dürr, 1989, 28. Mit der Quantenphysik etabliert sich aber letztlich die Wissenschaftsauffassung von der transformierenden Realität des Menschen und der Wirklichkeit als Möglichkeitsraum. [Vgl. Dürr, 1989, 35]. Auch nach Kant trägt die Antiethik von Kontinuität und Diskontinuität den Charakter einer Antinomie [Vgl. hierzu: Schneider, 1953, 1] oder wie C. F. v. Weizsäcker es fasst: „Kontinuierlich ist die Erstreckung einer farbigen Fläche im Raum, der Fluß der Bewegung in der Zeit, ja das Strömen unserer eigenen Gedanken und Gefühle, solange wir nicht auf eine Einzelheit das Augenmerk richten. Jeder Akt der Aufmerksamkeit aber ist einmalig und unteilbar und schafft eine Diskontinuität.“ [Vorwort in: Broglie, 1944, 9]. Herold, 1986, 1055. Vgl. zum Begriff des Compositums Kaulbach, 1970, 13.
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worfen, inwiefern der Klimawandel selbst begrifflich eine „Naturkatastrophe“ darstellt. Diese Frage stellt sich dabei unabhängig der in vielen klimatologischen Abhandlungen zugleich wahrgenommenen „positiven“ Effekte des Klimawandels auf bestimmte, in Grenzen ausweisbare Regionen und Bereiche. Die für eine Begriffsbestimmung notwendig vorzunehmende Differenzierung von Ursache und Wirkung legt womöglich nahe, den anthropogenen Klimawandel als Naturgeschehen zu begreifen, das wiederum Naturkatastrophen bedingt. Aber auch fern dieser spitzfindigen Differenzierung fällt eine begriffliche Einordnung schwer. Inwiefern ist ein auf den Menschen zurückgeführter Klimawandel noch ein Naturgeschehen? Und inwiefern ist nicht das Naturgeschehen, was für den einen diskontinuierliche Katastrophe ist, für den anderen bloß ein beschreibbar-kontinuierlicher Prozess? Widmen wir uns zunächst diesen Fragestellungen, deren Untersuchung die Entdeckung von Gemeinsamkeiten und Eigenheiten von Klimawandel und anderen Naturphänomenen verspricht. Zugleich macht die Thematisierung dieses Problemhorizontes auf die Notwendigkeit eines begrifflich-systematischen Überbaus aufmerksam, in den sich Begriffe wie „Naturphänomen“, „Naturkatastrophe“, „Naturgeschehen“ als in ihrer Unterschiedenheit wahrgenommene Zuschreibungen aussagen lassen und in dem sie dennoch in ihrer gemeinsamen Bezogenheit auf Welt und Selbst thematisierbar werden. Der vom Gros der Naturwissenschaftler angenommene anthropogene Einfluss des Menschen auf das Klima ist zunächst beschreibbar als ein Aspekt der grundlegenden Interdependenz von Mensch und Natur, die in ihrem Gestaltungszusammenhang spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts einen epochalen Wandel erfährt. Der moderne Mensch kann sich, wie im Hinblick auf das spezifische Epochengesicht der Moderne noch zu zeigen sein wird, als Natur in ihren Grundlagen gestaltende Größe wahrnehmen. Diese Gestaltungsmöglichkeit rückt die Dependenz von Naturprozessen in das menschliche Potential wissenschaftsfundierter Technik, lässt den alten Traum, „den Menschen zu befreien von den Unberechenbarkeiten der Natur und ihm damit Ängste und Nöte hinsichtlich der Primärkräfte der Natur zu nehmen“ 204, in neomythischen Gedankenspielen neu aufleben, ohne ihn (bislang) vollständig wahr werden zu lassen. Das gewandelte Interdependenzverhältnis bringt es mit sich, dass Naturereignisse oft auch im Hinblick auf mögliche Einflussnahmen durch den Menschen zumindest aber im Hinblick auf die naturwissenschaftliche Erklärungsbedürftigkeit des Naturereignisses durch den Menschen ausgesagt werden. Die Begriffe „Naturphänomene“, „Naturgeschehen“, „Naturereignis“, „Naturkatastrophe“ erfahren so im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals eine Bedeutungserweiterung, über die gegensätzliche Intentionen vereint werden. Das Erdbeben von Lissabon lässt sich, wie viele diesbezügliche Untersuchungen aufweisen, als historischer Eckpunkt verstehen, an dem sich ein gewandeltes und sich im Konkretum
204
Frömming, 2006, 7.
§3 KLIMAWANDEL UND WELTANSCHAUUNGSKONSTITUTION
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des Erdbebens selbst weiter wandelndes Verständnis von Naturkatastrophe nachzeichnen lässt 205. Die unterschiedlichen Deutungen der Ereignisse von 1755 zeigen auf, wie Briest es in seinem Aufsatz beschreibt, dass „das Bild davon, was Katastrophen sind, […] wesentlich historischen Wandlungen [unterliegt]“ 206. Dominieren im 16. und 17. Jahrhundert Bezeichnungen von Naturkatastrophen als „erschreckliche Wunderzeichen Gottes“ oder „Newe Zeytung“ die illustrierten Flugblätter 207, kennzeichnen katastrophale Naturereignisse als Geschick von außen – oder vielmehr ‚oben‘ –, so wird in den Deutungen der Katastrophe von 1755 auch menschliche Ursächlichkeit und menschlich-technisches Präventions(un)vermögen thematisch. Dies führt Rüdiger Suchsland exemplarisch anhand des „Katastrophenmanagements“ von Sebastião José de Carvalho e Melo (1699 – 1782), dem späteren Marquês de Pombal, auf: „Kühl, entschlossen und schnell nahm er mit praktischer Vernunft und gemäß der von ihm überlieferten Maxime ‚Die Toten begraben, für die Lebenden sorgen‘ die technokratische Bewältigung der Krise in Angriff. Pombals Regierung praktizierte das erste Katastrophenmanagement in einem modernen Sinne. […] Bald kritisierte er – unbeeindruckt von der Kritik konservativer Kreise, den Drohungen der in Portugal allgegenwärtigen katholischen Inquisition und der längst entbrannten Philosophen-Debatte um die ‚metaphysische‚ Bedeutung des Erdbebens – die Hauptursachen für die gewaltigen Auswirkungen der Katastrophe. Sie waren zum einen in Baufehlern zu suchen, zugleich aber auch im Versagen der Organisation, im Schlendrian des Beamtenapparats und in der falschen Verwendung des Reichtums von Kirche und Adel. Indem er den König José I. überzeugte, Lissabon – nicht wieder so wie es vor dem Beben gewesen war – sondern sicher aufzubauen, wurde Pombal zum Initiator des modernen Lissabon. […] Pombals persönliches Glanzstück wurde die ‚Baixa‘, die unter dem verantwortlichen Architekten Eugénio dos Santos e Carvalho erdbebensicher nach aufklärerischen Prinzipien – in Portugal spricht man vom pombalinischen Stil – neu erbaute Unterstadt Lissabons. Die seinerzeit angelegten breiten schnurgeraden Straßen, die sich im rechten Winkel kreuzen, die weiten Plätze und die Prachtbauten mit begrenzter Geschosshöhe stehen noch heute und prägen die Schönheit Lissabons. Zugleich ist diese Bauweise, die in nichts den von manchen Aufklärern gefeierten Gesetzen der Natur folgt, ein Triumph der technokratischen Vernunft.“ 208
Der Begriff der „Naturkatastrophe“, der sich, nach Christian Pfister, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum auszubilden beginnt 209, wird schließlich spätestens in den Diskursen um die sogenannte „Risikogesellschaft“ in den 70er Jahren in Frage gestellt, da viele der mit diesem Begriff umschriebenen Ereignisse, als „gesellschaftlich mitverursacht gelten“ 210. Im Bewusstsein dieser Problemlage beginnt sich eine neue Differenzierung auszubilden, in deren Folge bald der Terminus der menschengemachten Naturkatastrophe in zahlreichen sprachlichen Nuancen kolportiert wird 211. Der Terminus der „menschengemachten Naturkatastrophe“ wiederum führt das Problem mit sich, das er in der begrifflichen Differenzierung von „Naturkatastrophe“ und „menschengemachter Naturkatastrophe“ suggeriert, der Mensch könne 205 206 207 208 209 210 211
Vgl. hierzu auch: Briest, 2005, Suchsland, 2005, Löffler, 1999, Pfister, 2002. Briest, 2005, 178. Vgl. Pfister, 2002, 15. Suchsland, 2005. Vgl. Pfister, 2002, 15. Pfister, 2002, 15. Vgl. Pfister, 2002, 15.
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auch die damit bezeichneten Phänomene hinsichtlich ihrer Dependenz vom menschlich-technischen Vollzugsgeschehen unterscheiden. Gerade die Kontroverse um eine mögliche Anthropogenität des Klimawandels und dessen Folgen führt jedoch vor Augen, dass die Naturwissenschaften eine solche Differenzierung bisher allenfalls bruchstückhaft vorzunehmen in der Lage sind. Mit dem anthropogenen Klimawandel sehen wir uns folglich mit einem Phänomen konfrontiert, das sich begrifflich weder mit den natur-haltigen Termini noch mit solchen Hilfskonstruktionen, die das anthropogene Moment an die natur-haltigen Termini angliedern hinreichend erfassen lässt. Das zuvor angeführte Beispiel des Katastrophenmanagements durch den Marquês de Pombal zeigt jedoch noch mehr. Naturkatastrophen sind als „kulturelle Konstruktionen“ 212 immer auch im Horizont der je-eigenen Weltanschauung individuell deutbar. „Pombal deutete die Katastrophe in einen Motor des Fortschritts um, sah statt Zerstörung und Gottesstrafe die Chance auf Erneuerung“ 213. Dass „Katastrophe nicht Katastrophe“ ist 214, zeigt sich auch in den unterschiedlichen individuellen Wahrnehmungen ein und desselben Ereignisses 215. „Die Natur selbst (im weitesten Verstande) ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt“ 216, resümiert Hegel mit Blick auf die „Präformation“ 217 der Wahrnehmung von Natur durch Ideen und Vorstellungen, die als aus der Weltanschauung begründet zu denken sind. Naturereignisse sind somit strukturell mehrdeutig und die sie umgebenden Naturräume wie Frömming im Anschluss an Martin Seel darlegt, „ein ‚korrespondierender Ort‘ zur Vergegenwärtigung der eigenen Lebenssituation und gleichzeitig Ort ‚der imaginativen Deutung des Seins in der Welt‘“ 218. Die Deutungen von Naturereignissen thematisieren gleichsam den eigenen Verstehenshorizont von Welt und Selbst als ineins Feststellung von radikaler Endlichkeit und Streben nach Aufhebung von Endlichkeit und die wahrgenommene Interdependenz von Natur und Mensch. Mit der „Diskontinuitätserfahrung in der Natur“ soll nun ein Begriff vorgestellt werden, dessen Definition den umrissenen Problemhorizont produktiv bedenkt und auf eine mögliche systematisch-theoretische Einordnung des Phänomens anthropogener Klimawandel hin anwendbar macht.
IV.
Klimawandel und Diskontinuität
„Vorgänge in der Natur laufen üblicherweise ab, ohne dass die Gesellschaft Notiz davon nimmt. Nur wenn sie tägliche Routine stören oder unterbrechen […] finden 212 213 214 215 216 217 218
Frömming, 2006, 8. Suchsland, 2005. Briest, 2005, 178. Vgl. hierzu auch: Novian, 2009. Hegel, zitiert nach Groh, 1991, 94. Vgl. Groh, 1991, 95. Frömming, 2006, 215.
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sie Resonanz.“ 219 Was Pfister mit Blick auf Luhmann 220 ausführt, weist auf den engen Zusammenhang von Naturwahrnehmung und Diskontinuitätserfahrung hin. Naturereignisse – positive wie negative – können zu Unterbrechungen und Störungen der täglichen Routine, des Alltags führen. Dieser Zusammenhang beschreibt eine Interdependenz von je-individueller Weltanschauung und Naturereignis, die als „primärer Elementarzusammenhang zwischen Mensch und ‚Umwelt‘ allein dadurch gegeben ist, dass „der Mensch ein biologischer Organismus ist“ 221. In der Betonung dieser Modalität wird das Augenmerk weggeführt vom auslösenden Ereignis hin zum nur individuell rekonstruierbaren Moment der Störung, der Unterbrechung, der „Anomalie“ 222, der „Erschütterung“ 223, des „Unverfügbaren“ 224, der „Überraschung“ 225, als dem, wie Charles Sanders Peirce es beschreibt, „wichtigsten Impuls des Denkens“ 226. Dieses Moment bzw. das Abhandensein eines solchen Moments bestimmt die Kennzeichnung des Ereignisses als „Naturkatastrophe“, als „Naturgeschehen“, als „Naturphänomen“ etc. maßgeblich mit. Der widerfahrene Impuls der „Erschütterung“ macht vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungstradition das diesen Impuls initiierende Ereignis beispielsweise als „Naturkatastrophe“ beschreibbar. Dass die Natur in ihrer Wahrnehmung durch den Menschen in den Blick zu nehmen ist, spiegelt sich letztlich auch in den Kontroversen um umwelthistorische Beschreibungen wider, wie Joachim Radkau in seinem Versuch einer „Weltgeschichte der Umwelt“ 227 darlegt. „Ein arger Stolperstein der Umwelthistorie ist auch die Forderung der Öko-Fundamentalisten nach einer Art von Geschichte, in der nicht der Mensch, sondern die Natur im Mittelpunkt steht und nicht aus dem Blickwinkel menschlicher Interessen ins Visier genommen wird.“ 228 Die These Radkaus, dass „ein ‚Nichtanthropozentrisches‘ Konzept von Umweltgeschichte droht, die realen Zusammenhänge zu verschleiern“ 229, die Radkau titelgebend in der Einheit von „Natur und Macht“ unterlegt, bestimmt auch die vorliegende Auswahl der im Weiteren herangezogenen Umwelthistorien und -theorien.
In der Durchbrechung des Alltags wiederum kann eine Reflexion des Naturereignisses in der Bedeutung für das je-Selbst gründen. Der Mensch kann seine als aspektisch wie auch als ganzheitlich-systematisch wahrgenommene (Un)endlichkeit
219 220 221 222 223 224 225
226 227 228 229
Pfister, 2002, 15. Vgl. Pfister, 2002, 15. Radkau, 2000, 16. Kuhn, zitiert nach Frömming, 2006, 181. Adorno, zitiert nach Frömming, 2006, 163. Lau, 2005. Schütz und Luckmann sprechen in ihrer wissenschaftssoziologischen Abhandlung Strukturen der Lebenswelt von der Möglichkeit „radikaler Überraschungen“, welche, wie es auch für Diskontinuitätserfahrungen gelten wird, „eindringlich auf die grundsätzliche Undurchschaubarkeit der Lebenswelt“ verweisen. [Zitiert nach: Wehling, 2006, 74]. Vgl. Frömming, 2006, 181. So der Untertitel zu Radkau, 2000. Radkau, 2000, 13. Radkau, 2000, 17.
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thematisch machen. Er kann, mit Blick auf katastrophale Naturereignisse gesprochen, seine (Un)verwundbarkeit erfahren, die Interdependenz von Natur und Mensch überdenken. Was Theodor W. Adorno über das Moment der Erschütterung in Bezug auf die moderne Ästhetik der Kunst aussagt, erweist sich auch in diesem Zusammenhang als zutreffend: „Es zeigt sich als Durchbruch des Außen oder Objektiven ins subjektive Bewusstsein, das hierdurch die eigene Beschränktheit und Endlichkeit erfährt, gleichsam aber auch mit seiner Wildheit, Unendlichkeit und Freiheit konfrontiert wird.“ 230 An dieser Stelle lässt sich erneut auf das Gedicht von Situmorang 231 verweisen, in dem die eigene Verwundbarkeit in der Reflexion der widerfahrenen Naturkatastrophe thematisch wird. Aber auch in anderen Deutungen der Katastrophe wird die Kategorie der Verwundbarkeit 232 als aus der Erschütterung resultierende Erfahrung thematisch, bspw. in folgendem Artikel von Jörg Lau aus der ZEIT: „Wer verstehen will, wie der Tsunami unser Lebensgefühl verändert hat, kommt an Klaus Scharioth nicht vorbei. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt tritt täglich vor die Presse, um die neuen Vermisstenzahlen vorzutragen und über die Lage in den Notgebieten zu berichten. Die schrecklichen Fakten allein garantieren ihm zwar schon die Aufmerksamkeit von Millionen. Aber da ist noch etwas mehr. Man ist regelrecht dankbar, wenn der uncharismatische 58-jährige Beamte auf dem Bildschirm auftaucht. Das hat sicher mit der Professionalität zu tun, die Scharioth ausstrahlt. Er weicht keiner Frage aus und gesteht Fehler und Pannen ein, ohne herumzueiern. Und er spielt nicht mit den Gefühlen der Leute, auch nicht für einen guten Zweck. Man beginnt unwillkürlich nach altmodischen Worten zu greifen – irgendetwas in der Art von Herzensbildung oder Taktgefühl –, wenn man den sachlichen Stil seiner Auftritte beschreiben will. Das Geheimnis der erstaunlichen Beliebtheit von Klaus Scharioth ist vielleicht, dass er ein Gefühl für die Verletzlichkeit ausstrahlt, die wir durch den Tsunami erfahren haben. Der wohltuend nüchterne und zugleich erschütterte Scharioth ist das aktuelle Gesicht unserer Verwundbarkeit [Hervorhebung, M.N.].“ 233 Robert Leicht bringt dies in seinen Darlegungen zum Tsunami 2004 auf den Punkt: „Es drängt uns, der Heimsuchung einen Sinn zu geben – und wir entdecken doch nur unsere Verwundbarkeit.“ 234 Lau selbst weist in seinen weiteren Darlegungen darauf hin, dass das Gefühl der Verwundbarkeit auf jene Störung der täglichen Routine zurückzuführen ist, das er als das „Unverfügbare“ bezeichnet: „Das heute um sich greifende Gefühl der Verwundbarkeit kann man nicht verstehen, ohne irgendeinen Begriff, der den Blick für existenzielle Nöte öffnet, ohne gleich schon Reparaturvorschläge und Deutungsangebote zu machen. Man braucht einen Sinn für das Unverfügbare [Hervorhebung, M.N.], für das unheimliche Gefühl, dass etwas Dunkles und Unauflösbares in der Welt bestehen bleibt, das sich unserer Kontrolle und Sinngebung entzieht.“ 235
230 231 232 233 234 235
Frömming, 2006, 164f. Vgl. §2, III. Verwundbarkeit stellt dabei eine auch im gegenwärtigen Katastrophendiskurs auffindbare Größe da, wie u.a. Frömming aufführt. [Vgl. Frömming, 2006, 13]. Lau, 2005. Leicht, 2005. Lau, 2005.
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Begreifen Lau und Leicht Verwundbarkeit als bleibende Kategorie, kann in der Reflexion auf das Selbst die Störung als vorübergehend und Verwundbarkeit als durch den Menschen heilbar erfahren werden. Die Worte aus der Ansprache zur Eröffnung der ersten EUROPÄISCHEN KONFERENZ ÜBER ERDBEBENINGENIEURWESEN UND SEISMOLOGIE manifestieren die Hoffnung auf Linderung und letztlich Beherrschung von Katastrophen, das Sehnen nach prometheischen Fähigkeiten: „Unsere gemeinsame wissenschaftliche und politische Arbeit gibt Katastrophen ganz sicher keinen Sinn. Doch unsere Arbeit hat einen Sinn, denn sie dient dazu, menschliches Leben zu schützen. Tun wir also das, was wir können und wofür wir zuständig sind, um die Risiken einzudämmen und die Folgen von Erdbeben zu mindern, um das zu lindern, was manche als das Werk Gottes bezeichnen.“ 236 Dem naturwissenschaftlich-technisch unbegabten Menschen, der nicht in der politischen Verantwortung steht, Krisenräte einzuberufen, bleibt schließlich noch die Möglichkeit in der Teilhabe an der „Spendenflut“ am Neuaufbau der Westküste Sumatras mitzuwirken. Die Katastrophe kann so wie von Briest beschrieben zum Aufweis „humanistisch-demokratischer Überlegenheit“ umgedeutet werden und gerät entsprechend „in den Zug menschlicher Machbarkeit“ 237, der dem diffusen Verwundbarkeitsgefühl gegenüber einen produktiven Ausweg verschafft 238.
Die Verwundbarkeit des Menschen bildet den Ausgangspunkt der Erfahrung von Diskontinuität in der Natur, zeigt das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit und die daraus resultierende Verletzlichkeit an. Wir können nun mit dieser Verwundung unterschiedlich umgehen: können zum einen dem in der Ineinsheit von Tatsache und Entwurf begründeten Streben nach Unendlichkeit folgen, die Wunde durch Weltflucht heilen; oder können die eigene radikale Begrenztheit zum Anlass nehmen, um die Endlichkeit unseres gesamten Daseins zu fürchten, den Weltuntergang prophezeiend; oder können auch die eigene Verwundbarkeit hinnehmen, sie zum Thema einer Auseinandersetzung machen, in der wir unser Menschsein näher erfassen und mit dem Menschsein den menschlichen Bezug zur Welt, nicht nur der Welt unserer eigenen Anschauungen und Projektionen, sondern zur Welt als Welt 239 in ihrem Eigenstand und Widerstand. Erst in dieser letztgenannten Perspektive erweist sich das Widerfahrene nicht länger als der Befriedigung des Kontinuitätsbedürfnisses unterlegen, als Befriedigung des Bedürfnisses, ontologische Fragen zu beantworten und einen sinnvollen und selbsterlösenden Umgang mit krisenhaften Erfahrungen zu finden, 240 sondern eben als Diskontinuitätserfahrung, wird die Verwundung ausgehalten in Anerkennung der Vorläufigkeit alles Seienden, in Anerkennung der bloß möglichen Annäherung an Welt. Der Begriff der Diskontinuität scheint ob seiner verschiedenen historischen Konnotationen und Auslegungen geeignet, sowohl das Moment der Erschütterung, als auch die Reflexion des Widerfahrenen in seiner Bedeutung für das je-Selbst zu beschreiben. Ich möchte auf dem Hintergrund des genannten Problemhorizontes
236 237 238 239 240
https://www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msg-id=7037. Briest, 2005, 184. Vgl. Lau, 2005. Vgl. zum Begriff Welt als Welt die Darstellungen bei Schopenhauer, 1987, Kapitel 50. Vgl. Frömming, 2006, 168
64
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Diskontinuitätserfahrungen in der Natur bestimmen als Erfahrungen, die auf ereignishaften Mitteilungen gründen, die ein Moment der Störung, der Unterbrechung, der Anomalie, der Erschütterung, des Unverfügbaren, der Überraschung, der Durchbrechung des Alltags hervorrufen und in der Reflexion auf das Selbst, die Interdependenz von Mensch und Natur als unhintergehbares, bleibendes Abhängigkeitsverhältnis des radikal endlichen Menschen erfassen. Die vorgestellte begriffliche Bestimmung von Diskontinuitätserfahrungen in der Natur zeichnet sich durch eine Offenheit im Hinblick auf das diesen Erfahrungen zugrunde liegende Naturereignis aus. Die ereignishafte Mitteilung bleibt nicht auf das Widerfahrnis einer Naturkatastrophe beschränkt, sondern kann gleichsam im spektakulären Naturschauspiel, im komplentativen Naturerleben oder im forschenden Zugriff auf wahrgenommene Anomalien bestehen. Die angeführte Darstellung von Diskontinuitätserfahrung in der Natur scheint dabei auch in theologischen Diskursen etwa im Bereich der Theodizee anwendbar. Die Frage, „Warum Gott Leid zulässt“ mag sich gerade Menschen stellen, die sich in Naturkatastrophen der Endlichkeit von Welt und Selbst neu bewusst werden. Wenn Hauser Religiosität als die „Geneigtheit des Menschen, nicht endlich sein zu wollen“ 241, fasst, wird erkennbar, dass Diskontinuitätserfahrungen religiöse Herausforderungen darstellen, die in einem religionsförmigen Kontext thematisierbar sind. Sie können beispielsweise, wie ein Blick auf den systematischen Entwurf Schillebeeckx verrät, Offenbarungserfahrungen und „im Licht und aufgrund der bestimmten religiösen Tradition, in der man steht und die als sinngebender Interpretationsrahmen dient“ 242, als Offenbarung ausgesagt werden. In Religionen trägt sich dabei die Bewusstwerdung der eigenen Endlichkeit und die Geneigtheit nicht endlich sein zu wollen fort, wie Hermann Schrödter in seiner Definition von Religion, welche die Grundlage für die Verwendung des Religionsbegriffs im Weiteren bildet, offenlegt: „‚Religion‚ ist die Gesamtheit der Erscheinungen (Objektivationen), in denen Menschen das Bewusstsein der radikalen Endlichkeit ihrer Existenz und deren reale Überwindung (Religiosität) ausdrücklich machen“ 243. Religion ist grundlegend an das Moment der Erschütterung und des daraus resultierenden Bewusstseins der radikalen Endlichkeit gebunden, macht daher auch Diskontinuitätserfahrung thematisierbar und im Hinblick auf ein metaphysisches Versprechen 244 – in christlicher Theologie das Versprechen der unverfügbaren 245 Zuwendung in der Gnade Gottes – bewältigbar, indem sie diese bleibend offenhält und gerade nicht, wie es sich in vielen grundlegenden atheistischen Einwänden von Feuerbach bis Dawkins finden lässt, auflöst oder darüber hinwegtröstet 246.
241 242 243 244
245 246
Hauser, 2004, 50f. Schillebeeckx, 1980, 86. Schrödter, 1979, 298. Nach Riesebrodt stellt Religion generell zunächst „die Herausbildung einer Interessensphäre dar, nämlich des Heilsinteresses. Was sich im Zuge gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen wandelt, sind die Definitionen des ‚Heils‘ sowie die Mittel und Weg zur Erlangung des Heilsziels.“ [Riesebrodt, 2007, 101]. Gerade diese Unverfügbarkeit kennzeichnet den christlichen Glauben m.E. als komplexe weltanschauliche Interpretation. Die mögliche Bewältigung von Naturkatastrophen in religionsförmigen Kontexten erlaubt gleichsam nicht den Rückschluss, Katastrophen seien der Ursprung von Religionen, wie es der britische Astronom und Mathematiker Fred Hoyle Mitte der 90er behauptete. [Vgl. Hoyle, 1997].
§3 KLIMAWANDEL UND WELTANSCHAUUNGSKONSTITUTION
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Der Diskontinuitätsbegriff erfährt in seiner Auslegung auf das Interdependenzverhältnis von Natur und Mensch eine hinreichende Bestimmtheit, die zugleich offen ist hinsichtlich des gewandelten Interdependenzverständnisses der Moderne, das den Menschen als (mitunter unbewusst) gestaltende Größe entdeckt. Auch der anthropogene Klimawandel ist vor diesem Hintergrund als Diskontinuität erfahrbar. Das Widerfahrnis von Extremwetterereignissen und deren Deutung unter dem Theorem eines sich vollziehenden Wandel des Klimas kann Ausgangspunkt einer Reflexion über die Interdependenz von Natur und Mensch sein, die entdeckt, dass der Mensch (oftmals unbewusst) Einfluss auf die Natur nimmt, ohne dass er hierüber als in die Lage gesehen wird, sich fortan unabhängig von der Natur zu entfalten. Der Einfluss des Menschen auf die Natur wird dann erfahren als das stets aspekthaft, unvollkommene, in den Naturraum eingebundene Handeln eines radikal endlichen Wesens. Die Ortung des Begriffs des anthropogenen Klimawandels als (Dis-)kontinuitätserfahrung zeigt an, dass sich der anthropogene Klimawandel nur schwer als empirisches Einzeldatum begreifen lässt, insofern immer auch Interpretationen der Interdependenz von Mensch und Natur und der Endlichkeit von Selbst und Welt in den Diskurs mit einfließen, zu deren Neubestimmung der Diskurs gleichsam anregt. Wir wollen in der Folge untersuchen, welche Aussageformen der Mensch im Klimawandeldiskurs hinsichtlich der Interdependenz von Natur und Mensch als (Un)abhängigkeitsverhältnis des Menschen findet, auf welchen Erfahrungstraditionen diese gründen und wie diese wiederum den Erfahrungsraum aufs Neue transformieren. Dabei führt der Blick notwendig über naturwissenschaftliche Aussagen als Darlegungen empirischer Einzeldaten hinaus auf mythische Artikulationen, in denen die wissenschaftsförmigen Erkenntnisse vor dem Hintergrund der je eigenen Weltanschauung als Aspekte der Kontinuität und Diskontinuität erfahren werden können. Der Diskurs um einen anthropogenen Klimawandel ist sowohl Ausgangspunkt als auch Resultat von Diskontinuitätserfahrungen, an deren Ende der Mensch seiner eigenen Endlichkeit gewahr wird. Darüber hinaus ist dieser Diskurs zugleich Ausdruck von Längeren Gedankenspielen wie er auch Längere Gedankenspiele zum Ausdruck bringt, in denen der Mensch seine Träume von der Überwindung seiner Abhängigkeit von der Natur ausfabuliert. Längere Gedankenspiele, die mitunter „kollektive Ausdrucksformen“ 247 einer „metaphysischen Orientierungsnot“ 248 sind, die aufgrund der als im Wandel begriffenen Interdependenz von Mensch und Natur entstehen. Der Klimawandeldiskurs ist dabei wiederum Teil eines historisch gewachsenen ökologischen Diskurses, der massenmedial aufbereitet Lebensformen anschaulich
247 248
Hauser, 2004, 43. Hauser, 2004, 42. Vgl. hierzu auch Hausers Ausführungen zu den metaphysischen Orientierungsaufgaben der Moderne. [Hauser, 2004, 110f].
66
§3 KLIMAWANDEL UND WELTANSCHAUUNGSKONSTITUTION
macht, „in die sich die Fantasie eines Gedankenspielerkollektivs eintragen kann“ 249. Dies führt im Falle des ökologischen Diskurses zur Bildung ökologischer Bewegungen und Gruppierungen, wie sie schließlich im 20. Jahrhundert entstehen. Wenden wir uns in den nun folgenden Kapiteln den konkreten weltanschaulichen Kontexten zu, welche Rede und Redeweise über den anthropogenen Klimawandel maßgeblich bestimmen. Dabei ist zunächst die Wissenschaftlichkeit moderner Weltanschauung zu erörtern, die grundlegend Sprache und Artikulation von Verstehensbemühungen des modernen Menschen kennzeichnet und zugleich zum Gegenstand eines kritischen wissenschaftslogischen Diskurses gerät. Die Grenzen wissenschaftlicher Anstrengungen und daraus hervorgehender wissenschaftsfundierter Techniken werden thematisch und im vergangenen 20. Jahrhundert zunehmend in ökologischen Diskursen veranschaulicht, die sich schließlich zu ökologischen Weltbildern ausgestalten. Die Verwissenschaftlichung von Weltanschauung unterminiert dabei gerade nicht, wie in dem diesen Arbeitsteil abschließenden Kapitel zu zeigen sein wird, die mythischen Zugänge zur Welt, sondern evozieren veränderte mythische Redeweisen in den Formen von Neo- und Retromythos.
249
Hauser, 2004, 42. Was Hauser für Längere Gedankenspiele in Bezug auf religionsförmige Neomythen ausführt, scheint dabei auf den ökologischen Diskurs übertragbar.
§4
Wissenschaft (und Weltanschauung)
I
Auf dem Weg zu einem Wissenschaftlichen Weltbild
Über die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit für die moderne Weltanschauung nachdenkend kann die Auseinandersetzung mit der nachfolgenden These aus der Feder Peter Hünermanns hilfreich sein: „Neuzeitliches Denken hat sich in die weltumspannende Gestalt der Wissenschaft und der technischen Beherrschung und Steuerung menschlichen Daseins entfaltet“ 250. Dass neuzeitliches Denken sich in die weltumspannende Gestalt der Wissenschaft entfaltet, erweist sich auch in den verschiedenen Diskursebenen, auf denen die Diskussion um einen anthropogenen Klimawandel geführt wird. Die Hypothese des Klimawandels findet öffentliche Anerkennung gerade ob der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die der Hypothese zugrunde liegt. Dabei ist Wissenschaftlichkeit längst keine sich auf einen elitären Zirkel beschränkende hermeneutische Perspektive mehr. Die massenmedial geförderte Popularisierung wissenschaftlicher Bemühungen prägt die gegenwärtige „Wissensgesellschaft“ 251. Die Wissenschaftler tragen dabei nicht selten selbst zur Popularisierung ihrer Erkenntnisse bei. Zu den Sachstandsberichten des IPCC beispielsweise erscheinen die medial breit kolportierten 252 summarys for policymakers, die als popularisierte, vereinfachte Zusammenfassungen auch politische Handlungsoptionen enthalten. Für die Sachstandsberichte und das IPCC wiederum bedeutet das von den Medien bereitete Forum öffentlicher Aufmerksamkeit, dass sie zugleich mit Argusaugen bewacht und so zum gängigen Diskurselement des sich über den Klimawandel äußernden Laien werden. Crawford führt in ihrer soziologischen Untersuchung von sogenannten assessment groups wie dem IPCC die Möglichkeit an, dass ein „bestimmendes Monopol von Wissenschaftlern“, die unter einem „big tent“ zusammenkommend den wissenschaftlichen Konsens repräsentieren 253, „Kultstatus“ erlangen kann 254. Den vermeintlichen Kultstatus des IPCC hat der Erhalt des Friedensnobelpreises im Jahr 2007 sowohl dokumentiert als auch weiter gefördert. Die Entscheidung, dem IPCC und Gore diese Auszeichnung zu verleihen, deutet zugleich die Verschränkung von Wissenschaft und deren Popularisierung für politische aber auch gesamtgesellschaftliche Diskurse an, wie auch das Komitee in seiner Erklärung darlegt:
250 251
252 253 254
Hünermann, 1994, 363. Eine ausführliche soziologische Studie über gegenwärtige Ausformungen der Wissensgesellschaft und deren Angewiesenheit auf die Popularisierung der Wissenschaften findet sich bei Eichholz, 2008. Zur Bedeutung der Kolportage als Methode der Wissenschaftlichen Weltanschauung vgl. auch Hauser, 2009, 29. Crawford, 2009, 233. Dass der Kultstatus auch seine Kehrseite hat, wird im Jahre 2010 offenbar, als anhaltende Kritik an der fehlerhaften Berechnung des Abschmelzens der Himalaya-Gletscher im vierten IPCC-Sachstandsbericht laut wird.
68
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
„The Norwegian Nobel Committee has decided that the Nobel Peace Prize for 2007 is to be shared, in two equal parts, between the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) and Albert Arnold (Al) Gore Jr. for their efforts to build up and disseminate greater knowledge about man-made climate change [Hervorhebung, M.N.], and to lay the foundations for the measures that are needed to counteract such change. […]Through the scientific reports it has issued over the past two decades, the IPCC has created an ever-broader informed consensus about the connection between human activities and global warming. Thousands of scientists and officials from over one hundred countries have collaborated to achieve greater certainty as to the scale of the warming. Whereas in the 1980s global warming seemed to be merely an interesting hypothesis, the 1990s produced firmer evidence in its support. In the last few years, the connections have become even clearer and the consequences still more apparent. Al Gore has for a long time been one of the world’s leading environmentalist politicians. He became aware at an early stage of the climatic challenges the world is facing. His strong commitment, reflected in political activity, lectures, films and books, has strengthened the struggle against climate change. He is probably the single individual who has done most to create greater worldwide understanding of the measures that need to be adopted.“ 255
Die Konfrontation mit Wissenschaftlichkeit erweist sich in der Auseinandersetzung mit dem anthropogenen Klimawandel auch auf populärökologischem Niveau als unvermeidbar. Zugleich ist in dieser Auseinandersetzung das eigene Bild von Wissenschaftlichkeit und von den Wissenschaftlichkeit repräsentierenden Agenden auf den Prüfstand gestellt. Die von Hünermann aufgegriffene These einer weltumspannenden Gestalt der Wissenschaft setzt ferner voraus, dass sich in der Neuzeit ein wissenschaftlicher „Denkstil“ herausbildet, der einem breiten „Denkkollektiv“ zugänglich gemacht und von diesem geteilt wird 256. Dieser wissenschaftliche Denkstil ist in seinem Ausgang durch die im 17. Jahrhundert von Vertretern wie Francis Bacon und René Descartes etablierten philosophischen Schulen des Empirismus und Rationalismus geprägt 257, in deren Folge die Naturwissenschaften und ihre Methodik ihren bis heute anhaltenden Aufschwung erfahren. Wehling arbeitet in Anlehnung an Wolfgang Krohn drei wesentliche Elemente der „neue[n] Praxis des Erkennens als ‚Forschung‘“ heraus 258: „erstens die Entdeckung der Zeitdimension und Zeitlichkeit des Wissens, zweitens die Erweiterung des sozialen Horizonts durch Kooperation sowie drittens neue kognitive Strukturen des Erkennens, wie etwa die Trennung der Wissenschaft von Religion und Moral. Damit wird nicht nur die Idee des Fortschritts und des kumulativen Wachstums in den Wissenserwerb eingeführt. 259 Darüber hinaus wird – von Bacon und anderen Autoren wie Hobbes, Galilei oder Descartes – die im Mittelalter als ‚eitel’
255 256 257 258 259
http://nobelpeaceprize.org/en_GB/laureates/laureates-2007/announce-2007/. Terminologisch und in der inhaltlichen Bestimmung der Begriffe orientiere ich mich hier an Fleck, 1980, 129f. Vgl. Ehlers, 2008, 116f. Wehling, 2006, 37. Vgl. hierzu auch: Wehling, 2006, 38.
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
69
und ‚nichtig‘, wenn nicht gar ‚krankhaft‘ verpönte Neugier (couriositas) rehabilitiert, während gleichzeitig alle religiös motivierten Vorstellungen eines ‚verbotenen Wissens‘ entwertet werden.“ 260
Um 1830 261 beginnt dieser wissenschaftliche Denkstil sich schließlich selbst als der eines zu bildenden Denkkollektivs bewusst zu werden. Die „durch Philosophen verfasste spekulative Naturphilosophie [wird] durch Schriften über ein Wissenschaftliches Weltbild bzw. eine Wissenschaftliche Weltanschauung abgelöst, […] die durch Wissenschaftspopularisatoren oder auch zum Teil durch hoch anerkannte Wissenschaftler verfasst werden“ 262. Sich auf das „Laienpublikum“ ausrichtende Formen der „Wissensvermittlung und -präsentation“ 263 werden in Zeitschriften und Büchern ebenso entfaltet wie in mündlichen Unterweisungen durch „Wanderlehrer“ und Vortragende 264. Auch über die sich im 19. Jahrhundert zunehmend ausweitenden Vereinsstrukturen werden „populäre wissenschaftliche Vorträge“ für ein breites Publikum aufbereitet 265. Daniela Eichholz macht letztlich vier Stränge der Popularisierung 266 aus, welche die „Angebotsvervielfachung im 19. Jahrhundert“ beschreiben helfen: „Erstens die Veröffentlichung allgemeinverständlicher Schriften durch namhafte Wissenschaftler, in denen gleichermaßen philosophische Fragen erörtert wurden wie auch der Versuch einer ‚Bekehrung’ der Leserschaft zur wissenschaftlichen Weltsicht unternommen wurde. Zweitens führte die Kritik an einer weitreichenden Unterinformiertheit der Öffentlichkeit im Hinblick auf wissenschaftliche Themen zu einer Gründung von Instituten, Magazinen und anderen Medien mittels derer auch die unteren Schichten mit den Vorzeichen eines wissenschaftlichen Zeitalters vertraut gemacht bzw. in die Ideologie einer wissenschaftsbasierten Welt eingewiesen werden sollten. Drittens setzen sich im 19. Jahrhundert öffentliche Vorführungen und Lesungen zunehmend durch, in denen auf eine massenwirksame, ‚bedürfnisgerechte’ Verbindung von Unterhaltung und Bildung gesetzt wurde. Und viertens versuchten sich die Museen an einer modernen Überarbeitung ihrer Strategien zur Anziehung möglichst vielfältiger Bevölkerungsgruppen, indem sie sich als Forschungseinrichtungen aber auch als Kuriositätenkabinette darstellten. Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Popularisierung institutionell verfestigt.“ 267
260 261 262 263 264 265 266
267
Wehling, 2006, 38. Neben Hauser weist auch Hof auf die Zeit um 1830 als Entstehungszeit der Wissenschaftspopularisierung hin. Vgl. Hof, 2002, 36. Hauser, 2009, 25. Daum, 1998, 25. Vgl. Hof, 2002, 36. Vgl. Hof, 2002, 36. Vgl. Hof, 2002, 36. Eine inhaltliche Bestimmung populärer Wissenschaft in Abgrenzung zur medialen Vermittlung von Wissen in fachspezifischen Zeitschriften und Handbüchern findet sich bei Fleck, 1980, 146f. Eichholz, 2008, 123.
70
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
Die Popularisierung der Wissenschaft dient dabei weniger dem Zweck, das Wissen als „Festung, auf die wir uns jeder Zeit wieder zurückziehen können“268, zu fundamentieren, als dass sie einem – auch kommerziell nutzbaren – wachsenden Bildungsinteresse 269 entspricht und einem dieses wiederum mitbedingendem, wie anhand der Geschichte der Geschwister Humboldt repräsentativ darstellbaren, Interesse an der Ausbildung der Bevölkerung. So führt Christiane Hof in ihrer kurzen Darlegung der Popularisierung von Wissenschaft als Form des Wissenstransfers die Worte des Herausgebers der Zeitschrift Die Natur. Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntniß und Naturanschauung für Leser aller Stände an, welche die hehren Ziele der Popularisierung der Wissenschaften veranschaulichen helfen: „Menschenbildung im edelsten Sinne des Wortes, Vernichtung des Aberglaubens und aller Vorurtheile durch das Licht der Wissenschaft, Erhebung des Volkslebens, auch in seinen niedrigsten und verachteten Kreisen, durch die Erkenntniß des Großen im Kleinen, Heiligung der Natur durch die Weihe geistiger Anschauung, das ward als die Aufgabe dieser Zeitung bezeichnet, das ist die Aufgabe der Naturwissenschaft selbst“ 270.
Auf dem Weg von der sich institutionell festigenden Popularisierung von Wissenschaften hin zur Proklamation von Wissenschaft als „eine Art Schlüssel zum Weltverstehen“ 271 nehmen die informationstechnologischen Entwicklungen im Aufkommen der sogenannten „Massenmedien“ Mitte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung ein. Die – insbesondere durch den sich in diesem Zeitraum etablierenden Bereich des Wissenschaftsjournalismus 272 – popularisierten Informationen über wissenschaftliche Erkenntnisse werden einem „Massenpublikum“ zugänglich 273. Aber auch fern der Popularisierung von Wissenschaften in Büchern und Massenmedien ist der Mensch der Moderne mit Wissenschaft als notwendigem Verstehenshorizont für die von ihm verfügte Technik konfrontiert. Hauser expliziert hierzu den im Folgenden in seiner inhaltlichen Bestimmung noch näher zu erörternden Begriff der „wissenschaftsfundierten Technik“ 274. In der Verfügung über diese Technik entwerfe der Mensch unbewusst oder bewusst immer auch ein Bild von Wissenschaft, so dass letztlich „[a]lle Menschen, die irgend mit wissenschaftsfundierter Technik, mit zumindest popularisierten Informationen über wissenschaftliche Erkenntnisse und mit Wissenschaftsgläubigkeit konfrontiert werden, […] sich ein Wissenschaftliches Weltbild [erarbeiten]. Ein Wissenschaftliches Weltbild zu haben ist kein Privileg gebildeter Schichten – es ist nur unterschiedlich fundiert und differenziert und unterschiedlich explizit thematisch. Ein Wissenschaftliches Weltbild hat ein Mensch auch dann, wenn er sich keine thematischen Gedanken über Gehalte und Lebensbedeutung der Wissenschaften macht.“ 275 268 269
270 271 272 273 274 275
Schapp, zitiert nach Hauser, 2009, 25. Hof weist in ihrem Aufsatz die Progression der Alphabetisierung in Deutschland von 25% im Jahre 1800 auf 75% im Jahre 1875 auf, die wiederum mit einer Verdreifachung des Zeitschriftenangebots im Zeitraum von 1785 bis 1875 korreliert. Vgl. Hof, 2002, 36. Ule, zitiert nach Daum, 1998, 347f. Horx, zitiert nach Eichholz, 2008, 128. Vgl. Eichholz, 2008, 124. Vgl. Eichholz, 2008, 128. Hauser, 2004, 90f. Hauser, 2009, 25.
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
71
Die Konfrontation des Menschen mit der Popularisierung von Wissenschaften und der Begegnung mit wissenschaftsfundierter Technik begründet nach Hauser letztlich Wissenschaftlichkeit als hermeneutisches Grundprinzip in der Weltbildung des modernen Menschen: „Das Wissenschaftliche Weltbild eines Menschen ist sein als standpunktunabhängiges vermeintes Wissen über die Wissenschaften im Allgemeinen, einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse und eine Beurteilung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung“ 276. An diesem hermeneutischen Grundprinzip partizipierend, eignet sich der Mensch zugleich grundlegende Vollzugsweisen des wissenschaftlichen Denkstils an, übernimmt Elemente der Wissenschaftssprache und der wissenschaftlichen Methodik, ohne diese auf ein wissenschaftlich kohärentes Fundament stützen zu müssen. Es spielt, wie Hauser in seinen Erläuterungen ausführt, „keine Rolle, ob die Wissenschaften und deren Erkenntnisse sachgemäß eingeschätzt oder ob zweifehlhafte, parawissenschaftliche Erkenntnisse als wissenschaftlich gesicherte Wissensbestände betrachtet werden. Das Wissenschaftliche Weltbild ist, weil unsere Kultur wesentlich durch die wissenschaftsfundierte Technik bestimmt wird, ein unhintergehbares Element der Weltanschauung des Menschen der Moderne und deshalb nie ganz explizit gestaltet und auch nie ganz in sich schlüssig.“ 277 Die graduell unterscheidbaren Möglichkeiten der Partizipation am hermeneutischen Grundprinzip der Wissenschaftlichkeit erlauben schließlich unterschiedliche Vertiefungs- und Denkniveaus im Umgang mit der den Denkstil prägenden Wissenschaftssprache und -methodik in populären oder fachwissenschaftlichen Diskursen und lassen Interpretationen in wissenschaftlichen Weltanschauungen, in neound retromythischen Gedankenspielen zu.
II
Vollzugsweisen in der Wissenschaftlichen Weltbildung
1
Experten und Laien
In gegenwärtigen wissenschaftssoziologischen Untersuchungen im Umfeld des Klimawandeldiskurses wird immer wieder ein zunehmender „Autoritätsverlust der [Fach-, M.N.]Wissenschaft [ausgemacht], weil in der Wissensgesellschaft eine Pluralisierung des Wissens beobachtet wird, die das Expertenurteil in der wissenschaftlichen Politikberatung zu relativieren scheint“ 278. Dieser Autoritätsverlust konter-
276 277 278
Hauser, 2009, 26. Hauser, 2009, 26. Hiller, 2009, 146.
72
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
kariert dabei nicht nur die „Deutungshoheit und Orientierungsfunktion von Experten“ bzw. unterläuft ihre Rolle als „unangefochtene Schiedsrichter“ 279 in der Politikberatung, sondern bedeutet eine zunehmende „Erosion“ 280 der in jenen diskursprägenden wissenschaftssoziologischen Entwürfen eines Ludwig Fleck oder Thomas Kuhn noch zutreffend ausgewiesenen Grenze zwischen Fachmännern und „allgemein gebildeten Dilettanten“ 281, jener Grenze, die sich im 18. Jahrhundert dadurch ausbildete, dass die „Wissenschaft institutionelle Konturen und eine personelle Identität [prägte], womit eine zunehmende Trennung in Experten und Laien bzw. Popularisatoren und Publikum bedingt wurde“ 282. Peter L. Berger und Thomas Luckmann machen in ihrer phänomenologisch ausgerichteten Wissenschaftssoziologie aus dem Jahre 1966 The Social Construction of Reality bereits auf Probleme der „gesellschaftlichen Distribution von Wissen“ aufmerksam, die „bei der schlichten Tatsache, daß ich nicht alles weiß, was meine Mitmenschen wissen, [beginnt,] und sie kulminiert in höchst komplizierten und geheimnisvollen Zusammenhängen der Expertenschaft“ 283. Doch wird die sich in der Charakterisierung von Expertenschaft als „höchst kompliziert und geheimnisvoll“ andeutende Diffusion in der disziplinären Zuschreibung von Expertise „im Horizont einer vertrauten, gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit überwiegend als unproblematisch“ 284 erachtet, wie Wehling darlegt. „Ich weiß in der Alltagswelt mit einiger Gewißheit, was ich vor wem geheimhalte, an wen ich mich wenden muß, um zu erfahren, was ich nicht weiß. Und ich weiß auch im allgemeinen, welche Typen von Menschen über welche Typen von Wissen verfügen sollten.“ 285
Böschen/Wehling zeichnen in ihren soziologischen Untersuchungen zur Struktur von Wissen und Nichtwissen auf, dass eine Grenzziehung zwischen Experten und Laien infolge des Bewusstwerdens des im Wissenschaftsdiskurs hervorgebrachten Risikowissens und Nichtwissens 286 zunehmend schwieriger wird 287: „Wenn die Wissenschaft nicht nur Wissen, sondern auch Nichtwissen hervorbringt, kann und wird dies – wie vor allem Brian Wynne in einer Reihe von Arbeiten gezeigt hat – mit einem Bedeutungsgewinn und einer Aufwertung lokalen Kontext- und Erfahrungswissens einhergehen. Als Konsequenz daraus ist der Begriff des ‚Experten‚ in einem Teil der neueren Wissenschaftsforschung auch auf nicht-wissenschaftliche Akteure, also – traditionell gesprochen – auf ‚Laien‘, ausgeweitet worden.“ 288
279 280 281 282 283 284 285 286 287 288
Beck, 2009, 123. Böschen/Wehling, 2004, 16. Fleck, 1980, 148. Eichholz, 2008, 122. Zitiert nach Wehling, 2006, 73. Wehling, 2006, 73. Wehling, 2006, 73. Zur Bedeutung von Nichtwissen im Wissenschaftsdiskurs siehe §6, II.3. Beck bringt dies in seiner Analyse der Risikogesellschaft auf die einfache Feststellung: „In Risikofragen ist niemand Experte, oder alle sind Experten“. [Beck, 1993, 48]. Böschen/Wehling, 2004, 16.
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
73
Betrachten wir an dieser Stelle zwei aus dem zurückliegenden Politikdiskurs entnommene Beispiele für eine sich vollziehende – in Wissenschaftsforschung und -politik kontrovers diskutierte – „Demokratisierung von Expertise“ 289: Am 22.03.2011 erklärte die Bundesregierung in der Frage um einen vorzeitigen Atomausstieg und die Leistungsfähigkeit erneuerbarer Energien neben den Ergebnissen aus den technischen Überprüfungen der Reaktorsicherheitskommission auch die Ergebnisse einer unter den Vorsitz des Bundesumweltministers a.D. Klaus Töpfer und des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft Matthias Kleiner gestellten Ethikkommission in die zu fassende Planung mit einzubeziehen. Bundeskanzlerin Merkel erklärte hierzu: „Das heißt, sie [die Ethikkommission] wird sich auf der einen Seite mit den Fragen der Sicherheit der Kernenergie beschäftigen, aber auf der anderen Seite auch mit der Schlüssigkeit der Frage: Wie kann ich den Ausstieg mit Augenmaß so vollziehen, dass der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ein praktikabler, ein vernünftiger ist?“ 290 Der Ethikkommission gehören neben wissenschaftlichen Vertretern „Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kirchen [an], Persönlichkeiten, die früher auch im politischen Bereich engagiert waren, jetzt aber eher außerhalb des klassischen, operativen politischen Geschäfts stehen, Persönlichkeiten, die sich durch ihre Arbeit auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung, im Bereich der Umweltpolitik oder auch im Bereich der Philosophie einen Namen gemacht haben, sowie auch Persönlichkeiten, die sich speziell mit Risikoforschung beschäftigen“ 291. Die Einschätzung der Risiken wissenschaftsfundierter Energietechnologien wird somit infolge einer Katastrophe, die Restrisiken und Unvorhersehbarkeiten als Markierungen von Nichtwissen im lebensweltlichen Kontext hat breitenwirksam erfahrbar werden lassen, zum Teil an eine Gruppe delegiert, deren Expertise, wie von Böschen und Wehling kritisch beschrieben, gerade nicht „unter Verweis auf den [hier: energie-]wissenschaftlichen, professionellen Status der Betreffenden festgelegt werden“ 292 kann. In einem solch interdisziplinären Gremium kann der „Laie“ seinen eigenen Standpunkt leichter als gleichrangig und gleichbedeutend mit dem einzelner Gremienmitglieder bzw. dem Gremium in seiner Gesamtheit eintragen. So etwa, wenn Umweltschutzgruppen, Ökonomen und Kirchenkritiker die Zusammensetzung der Kommission wie beispielhaft in den folgenden Forenbeiträgen zu einem Artikel der Wirtschaftswoche diskutieren 293: Web-User „schon-wieder-ich“ hält als rhetorische Frage fest: „[W]arum sitzen in der Kommission nicht auch gerade Vertreter von Umweltschutzgruppen ???“, wohingegen „der lupenreine Demokrat“ am 24.03.2011 das vermeintlich qualitative Urteil der „‚Experten‘“ als „Kasperletheater“ verunglimpft. User „hans“ schließt daran sarkastisch an: „Endlich kann ich mich wieder sicher fühlen. Die geniale Entscheidung eine Kommision [sic!], ich glaube mit Vertretern aus Kirche, Zweitliga Vereinen, Hobbyastrologen, Naddel, Lena und Jürgen Drews, gibt mir das Vertrauen in meine Regierung wieder zurück“ 294. Böschen und Wehling sprechen in ihren Erläuterungen zur Erosion der Grenzziehung zwischen Experten und Laien einen weiteren, gegenwärtig für politische und gesellschaftliche Kontroversen sorgenden, Diskurs an, in dem allein fachwissenschaftliche Erkenntnisse – in 289 290 291 292 293 294
Böschen/Wehling, 2004, 16. Zitiert nach Blanke, 2011, abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/das-politische-ringen-um-den-atomausstieg.724.de.html?dram:article_id=100213. Zitiert nach Eckl, 2011, abrufbar unter: http://www.wochenblatt.de/nachrichten/regensburg/regionales/Atom;art1172,39972,PRINT?_FRAME=33. Böschen/Wehling, 2004, 16. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/die-ergebnisse-der-atom-ethikkommission460904/comments/. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/die-ergebnisse-der-atom-ethikkommission460904/comments/.
74
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
diesem Fall solche aus der Biomedizin – als nicht hinreichend für ein fundiertes politisches wie gesellschaftliches Meinungsbild erachtet werden. In der Debatte um Präimplantationsdiagnostik wird wiederum ein Gremium unter Verweis auf deren ethische Kompetenz in die Politikberatung einbezogen. Die Stellungnahme des DEUTSCHEN ETHIKRATES, der sich aus Fachvertretern kirchlicher, biomedizinischer, naturwissenschaftlicher, politischer und philosophischer Bereiche zusammensetzt, wird in der politischen, juristischen als auch gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsfindung herangezogen und zugleich – vor allem auch in der Auslegung des in der Stellungnahme formulierten Dissens 295 – von Laien wie auch Betroffenen hinterfragt. „Weshalb und inwiefern sind ein Molekularbiologe, ein Humangenetiker oder eine philosophische Ethikerin in höherem Maße ‚Experten‚ als Eltern eines behinderten Kindes, wenn es um die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und die Bewertung ihrer möglichen Folgen geht?“ 296
Wo, wie in den angeführten interdisziplinär und gesamtgesellschaftlich geführten Debatten, eine Grenzziehung zwischen Experten und Laien – oftmals ob der Komplexität und der ethischen Implikationen in den jeweiligen Zusammenhängen – aufgehoben wird, erhält auch der an solchen Gremien unbeteiligte Laie in höherem Maße die Möglichkeit, seinen Standpunkt als dem des umstritten gewähnten Experten gleichwertig zu erfahren 297. Das bedeutet nicht, dass er in der Lage wäre, „hochwissenschaftliche“ Diskurse vollziehen zu können 298. Hierzu fehlt ihm weiterhin die bereits von Fleck kriteriologisch als für den Experten notwendig erachtete Einführung durch Lehrbücher 299. Es entstehen vielmehr als wissenschaftsförmig 300 bzw. szientistisch bezeichenbare Anschauungen, in denen die über populäre Darstellungen 301 erworbenen Erkenntnisse als wissenschaftlich-gesicherte bzw. den Expertenmeinungen gleichrangige Erkenntnisse geäußert werden können. Dabei werden die in den populären Darstellungen vollzogenen Charakteristika übernommen, die Fleck folgendermaßen umreißt: „Charakteristisch für eine populäre Darstellung ist der Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitbaren Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte. Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft – das sind die wichtigsten Merkmale 295 296 297
298 299 300
301
Deutscher Ethikrat, 2011, 7-10, abrufbar unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-praeimplantationsdiagnostik.pdf. Böschen/Wehling, 2004, 16. In diesem Zusammenhang sind auch die von Weingart aufgewiesenen „enger werdenden Kopplungen“ der Wissenschaften vor allem mit Ökonomie, Politik und Medien mit Wehling als Intensivierung und Beschleunigung der Alltagsrelevanz von Wissenschaften und der Diffusion von (Experten-)wissen in andere Funktionssysteme näher betrachtbar. [Vgl. Wehling, 2006, 212]. Dies dürfte vor allem auch in den nomologischen Wissenschaften der Fall sein. Vgl. hierzu Fleck, 1980, 148f. Hierbei greife ich einen Terminus von Hauser auf, den er in Anschluss an Matthias Werner in seinem noch ausstehenden 3. Band seiner Kritik der neomythischen Vernunft konsequent weiterentwickelt. Zur näheren Bestimmung der Unterschiedenheit von populären und fachwissenschaftlichen Darstellungen vgl. Fleck, 1980, 148f.
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
75
exoterischen Wissens. An Stelle des spezifischen Denkzwanges der Beweise, der erst in mühsamer Arbeit herauszufinden ist, entsteht durch Vereinfachung und Wertung ein anschauliches Bild.“ 302 Der populäre ökologische Diskurs weist in seinen Anfängen, wie Hannes Bergthaller in seiner Untersuchung zur Ökologie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung aufzeigt, in den Schriften seiner Vertreter wie Aldo Leopold und Carson auf die Krise der autoritativen Wissenschaften hin und setzt dieser bewusst die zu fundamentalen Einsichten fähige wissenschaftliche Vorgehensweise des Amateurs und Laien entgegen. So schreibt Leopold im Anschluss an den Aufweis substantieller Beiträge von Amateurforschern für den wissenschaftlichen Diskurs 303 in A Sand County Almanach: „The amateur student is no longer confined to pleasant ambles in the country resulting merely in lists of species, lists of migration dates, and lists of ratites. Bird banding, feather-marking, censusing, and the experimental manipulations of behavior and environment are techniques available to all, and they are quantitative science. The amateur can, if he has imagination and persistence, select and solve actual scientific natural-history problems as virgin as the sun.“ 304 Carson führt „anläßlich der Verleihung des National Book Award für ihr zweites Buch, The Sea Around Us, mit dem ihr 1952 der literarische Durchbruch gelang“ 305, eine ähnliche Kritik an der wissenschaftlichen Deutungshoheit der als „Priesterkaste“ deklarierten Expertenwissenschaften aus, und fordert hingegen die Teilhabe aller am wissenschaftlichen ökologischen Diskurs: „Many people have commented with surprise on the fact that a work of science should have a large popular sale. But this notion that ‚science‘ is something that belongs in a separate compartment of its own, apart from everyday life, is one that I should like to challenge. We live in a scientific age; yet we assume that knowledge of science is the prerogative of only a small number of human beings, isolated and priestlike in their laboratories. It cannot be true. The materials of science are the materials of life itself.“ 306
Wo im populären Wissen „Gewißheit, Einfachheit und Anschaulichkeit“ 307 entstehen, kann, wie Fleck bereits andeutet, wenn er von der Weltanschauung als dem „besondere[n] Gebilde, gefühlsbetonter Auswahl populären Wissens“ und als dem „Ziel populären Wissens“ spricht 308, sich schließlich eine wissenschaftliche Weltanschauung im Sinne Hausers entfalten. Hier ist aber auch mit jenen bereits zu Beginn dieser Arbeit angeführten Alternativradikalismen zu rechnen, die aus der populären Darstellung apodiktischer Wissenschaft resultieren und eine exoterische Wissenschaft zeitigen, die offen im Hinblick auf mythische und religionsförmige Anschauungsmomente oder, wie Fleck es bereits festhält, „noch sehr wenig vom esoterischen Zentrum entfernt ist“ 309.
302 303 304 305 306 307 308 309
Fleck, 1980, 149. Vgl. Bergthaller, 2004, 60f. Leopold, zitiert nach Bergthaller, 2004, 61. Bergthaller, 2004, 61. Carson, zitiert nach Berghaller, 2004, 61. Fleck, 1980, 152. Fleck, 1980, 149f. Fleck, 1980, 152,
76
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
Insofern – nicht erst mit der Erosion der Grenzziehung zwischen Experten und Laien – der populäre wissenschaftliche Diskus auch auf den hochwissenschaftlichen rückwirkt, ist mit der Ausprägung wissenschaftlicher Weltanschauung auch die Grenzziehung zwischen „wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen“ 310 tangiert, gehen in interdisziplinären, komplexen Forschungsfeldern vermehrt wissenschaftsförmige Anschauungen auch in Expertengremien und hochwissenschaftliche Diskurse ein. Die von Fleck als wesentliches Moment populärer Darstellung benannte Anschaulichkeit gewinnt somit auch in der wissenschaftlichen Theorienbildung mehr Bedeutung. Wir wollen solche Momente von Wissenschaftssprache und -methodik aufzuarbeiten beginnen, die sich bequem in wissenschaftsförmige Anschauungen über das Klima und die Ökologie adaptieren lassen und an denen sich der Übergang im Sinne einer leicht möglichen Vertauschung zwischen hochwissenschaftlicher Hypothesenbildung und wissenschaftsförmiger Propagierung vollzieht. Solche Momente sollen mit der exemplarischen Untersuchung des Systembegriffs, mit der Analyse von Simulationen und Modellen als methodischen Grundvollzügen der Wissenschaft eruiert werden, bevor schließlich die hier bereits genannten Begriffe Wissenschaftsförmigkeit und Wissenschaftliche Weltanschauung hinreichend zu bestimmen sind.
2
Die Bildung eines Systems von der (Um-)welt
Innerhalb der Wissenschaftlichen Weltbildung ist nicht erst seit dem Aufkommen der Systemtheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder die Rede vom System. An die Entwicklung, Ergründung und Formalisierung von Systemen bindet sich der Anspruch auf eine Darstellung mehr oder minder komplexer Relationen in einem geordneten Gefüge, die helfen soll sich über einen empirischen Wissensgegenstand zu orientieren. Die Rede vom System ist dabei auch zu einem grundlegenden Vollzugsmoment des sich über Ökologie und Klima äußernden Diskursteilnehmers geworden, in dessen Jargon Ökosysteme, Klimasysteme und das System Erde zum fortwährend genutzten Begriffsinventar gehören. Ludwig Trepl etwa merkt in seiner Geschichte der Ökologie an, dass der ökologische Diskurs im „Ökosystemansatz“ eine maßgebliche Prägung erhält 311. Insofern widmen sich die nachfolgenden Überlegungen zum Systembegriff einem nicht unwesentlichen Baustein in der (wissenschaftlich-)ökologischen Weltbildung. Unter den extensional weit offenen Begriff des Systems 312 lassen sich dabei – nicht nur in der Ökologie – konträre Denkpositionen, wie die des Holismus und Szientismus, vollziehen 310 311 312
Böschen/Wehling, 2004, 17. Vgl. Trepl, 1987, 177f. So wird die Erklärung des Begriffs System im Thesaurus der exakten Wissenschaften mit der Bemerkung eingeleitet, dass „der Ausdruck ‚System‘ […] so viele Bedeutungen [hat], dass wir uns hier auf solche Zusammenhänge beschränken wollen, in denen er auf die Ordnung von Dingen verweist“ [[Artikel] „System“, 954]. Und auch Trepl führt hinsichtlich des Begriff
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
77
und mitunter zusammenführen. Trepl schreibt hierzu: „Der Anhänger des klassischen Holismus wird die Aufforderung, ein Objekt ‚in der Gesamtheit seiner Beziehungen‘ zu untersuchen, ‚ganzheitlich‘ interpretieren in dem Sinn, daß ein wissenschaftlicher Zugang zum ‚Ganzen‘ […] gefunden werden müßte. Ein am methodischen Ideal empirisch-analytischer Wissenschaft, d.h. de facto an der Physik orientierter Ökologe wird bestreiten, daß das möglich sei, und auf dem selektiven Charakter des wissenschaftlichen Zugriffs insistieren. ‚Gesamtheit der Beziehungen‘ wird er nicht auf ein ‚objektiv‘ gegebenes ‚Konkretes‘ beziehen, sondern auf den von ihm definierten Gegenstand, der damit ‚künstlich‘ aus der unendlichen, immer unzugänglichen Mannigfaltigkeit des Wirklichen herausgegrenzt wurde, und er wird die ‚Gesamtheit‘ vielleicht pragmatisch auffassen als das, was zum Verständnis oder zur Erklärung ‚hinreicht‘“ 313.
In seiner extensionalen und denkpositionalistischen Offenheit findet der Systembegriff dabei in wissenschaftlichen wie wissenschaftsförmigen Betrachtungen Anwendung, kann unter Bezugnahme auf mathematische Operationalisierungen in formalen Systemen das im persuasiven Zugriff als System Gedachte, mitunter auch religionsförmige und mythische Element aufweisende, in paradigmatischer Systemdeutung als gesicherte Erkenntnis weltanschaulich vollziehen. Um auf mögliche Ausdeutungen wissenschaftlich-mathematischer Theorienbildung in wissenschaftsförmigen Anschauungen aufmerksam zu werden, ist in der Folge der Systembegriff wissenschaftstheoretisch zu bedenken. Absprungspunkte innerhalb theoretischer Betrachtungsweisen sollen aufgezeigt und exemplifiziert, über eine dem System notwendig aneignende Offenheit hinsichtlich übergeordneter Systeme und der Anwendung auf empirische Prozesse der Begriff des Paradigmas und jener der paradigmatischen Systemdeutung hergeleitet werden.
2.1
Weltanschauung als System
Pierre Simon de Laplace betitelt seine 1796 erschienene Abhandlung über den „Aufbau der damals bekannten Welt auf der Grundlage der Newtonschen Mechanik“ 314 mit „Exposition du système du monde“ 315. Das von ihm betrachtete Weltsystem lässt sich als Schnittmenge des Gros an wissenschaftlichen Weltbildern im ausgehenden 18. Jahrhundert verstehen. Wissenschaftliches Weltbild und Laplacesches Weltsystem erweisen sich in dieser Hinsicht als austauschbare Begriffe, da im Weltsystem die als Gesamtheit erscheinenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Blick genommen werden. Der Systembegriff ermöglicht in der Deutung als Weltsystem einen Interpretationshorizont, in den neben fachwissenschaftlichen Erkenntnissen im Rahmen einer Gesamtschau zugleich Meinbares eingefügt werden kann. Meinbares, das die Struktur des Wissenschaftlichen im Wissenschaftsförmigen fortträgt, aber auch offen ist hinsichtlich mythischer und religionsförmiger Anschauungen.
313 314 315
Ökosystem zunächst aus: „Es dürfte schwer fallen, eine Definition zu finden, die all das deckt, was heute unter ‚Ökosystemforschung‘ betrieben wird.“ [Trepl, 1987, 180]. Trepl, 1987, 181. [Artikel] „System“, 954. Laplace, 1813.
78
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
Der südamerikanische Befreiungstheologe Leonardo Boff etwa führt in seiner Ethik für eine neue Welt hinsichtlich des Systems Erde aus: „Das System Erde ist mit seinen ökologischen Subsystemen seinerseits die Frucht der Geschichte des Weltalls. Das Leben erweist sich […] als Materie, die sich selbst organisiert. Menschliches Leben [ist] etwas, das aus der Geschichte des Lebens hervorbricht. Nichts von Bruch, alles gehört zusammen. Alles bildet einen einzigen komplexen Prozess“ 316. Von diesem noch als wissenschaftsförmig beschreibbaren Verständnis des Systems Erde als „Frucht der Geschichte des Weltalls“ und als einem „lebende[n], komplexen Prozess“ ausgehend, kann Boff schließlich 2010 in Die Erde ist uns anvertraut religiöse und spirituelle Anschauungen 317 eintragen, das „Prinzip Erde“ proklamieren, welches wiederum das System Erde als „Gaia“, als „Gemeinsames Haus“, als „Gekreuzigte Erde“ verstehen lässt 318.
Endlich kann auch die eigene Weltanschauung als System ausgesagt werden, kann etwa die marxistisch-leninistische Philosophie „Weltanschauung“ als „die zu einem System gebrachte Gesamtauffassung von Natur und Gesellschaft, einschließlich der Formulierung von Regeln für das Verhalten von Menschen in der gesellschaftlichen Praxis“ 319 auffassen. Meier zeigt in seiner Theorie über den Begriff der Weltanschauung diese vielleicht größtmögliche extensionale Offenheit des Systembegriffs auf, wenn er jene Darlegungen anführt, die „Weltanschauung als Wissenssynthese, in die auch Vermutungen einfliessen […] [als] ein System [begreifen], in dem sowohl die Ergebnisse der wissenschaftlichen Weltforschungen als auch subjektive Meinungen über die Welt enthalten sind. Es ist eine Frage für sich, in welcher Weise die beiden konstituierenden Elemente ein Ganzes bilden. Das Weltanschauungssystem nimmt in jedem Fall die je eigenen Weltmeinungen des Systemträgers in sich auf, auch wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse integrale Bestandteile sind. Sie werden dies nur insoweit sein, als sie in das Feld des meta-wissenschaftlichen Meinens hineinpassen. Im günstigsten Fall [wie etwa bei Laplace] etabliert sich das private Weltsystem als ein Versuch, unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Forschungsresultate einen möglichst widerspruchsfreien Gesamtzusammenhang aller die Welt erkennenden und ihr Wesen deutenden Sachverhalte herzustellen.“ 320 Wo ein System weltanschaulich vollzogen wird, wird der jeder Systembildung zugrunde liegende ontologische Charakter diskursiver Erschließungsbemühung ausdrücklich, der den Systemträger immer auch über die Grenzen eines rein formalen fachwissenschaftlichen Systemvollzugs hinausdrängt. Das weltanschaulich vollzogene System bindet somit das Wissen über einen empirischen Gegenstandsbereich in einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit den Vermutungen und Ahnungen.
316 317 318 319 320
Boff, 2000, 22. Etwa in der Entwicklung einer planetarischen Ethik und Spiritualität [vgl. Boff, 2010, 187f]. Das lässt sich bereits an der inhaltlichen Gliederung des Buches ablesen. [Vgl. Boff, 2010]. Meier, 1967, 54. Meier, 1967, 53.
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
2.2
79
Erschließung von Welt im System
Fragen wir jetzt für unseren Kontext nach einer möglichst allgemeinen Definition von System, so ist es zunächst einmal bestimmbar als „Ansammlung von Elementen und deren Eigenschaften, die durch Wechselbeziehung miteinander verbunden sind“ 321. Als Geflecht aus Wechselbeziehungen stellt es sich schließlich dem etymologischen Wortsinn nach als „geordnetes Ganzes“ 322 dar 323. Das im System näher bestimmte, das aus anthropologischer Perspektive als das fundamental Fremde ausgesagt werden kann, es wird im logisch-diskursiven Zugriff zergliedert, in einem relationalen Gefüge zusammengesetzt und zum ideal oder real aufgefasstem geordneten Ganzen transformiert, das wiederum als Element anderer Systeme fungieren kann; es ist gleichsam ineins Ausgangspunkt und Ziel des systemischen Vollzugs, ohne dass es in diesem je vollständig aufgeht oder erfasst wird. In ein erstelltes System können schließlich neue Elemente, die man als wechselwirkend zu anderen Elementen oder zu dem System als Ganzem erfährt, integriert – als auch desintegriert – werden, oder anders gesagt: Jede neue Erfahrung ereignet sich als durch bestehende immer zum Teil auch historisch tradierte Systeme vermittelt und durch diese transformiert. Dabei wird sie im Erschließungsprozess zum systemischen Vermittlungsgegenstand und wirkt wiederum darin transformativ: also systemupdatend oder auch systemkonfigurierend. Als analytisches Anwendungsmuster können Systeme auf alle Gegenstandsbereiche hin erschlossen werden. „Was als ein System anzusehen ist, wird vom Betrachter entschieden, es ist keine dem System innewohnende Eigenschaft, die es zu einem System macht.“ 324 Auch das vom logisch-diskursiven Zugriff zu unterscheidende anschauliche Aneignen kann schließlich als systemisch ausgebildet aufgefasst werden, insofern Anschauung im Moment der Konkretisierung zum systemisch vermittelbaren Reflexionsgegenstand wird. Zugleich ist bereits im Moment der Konkretisierung Anschauung etwa als mythisches Denken logisch durchwirkt, da sie sich notwendig verallgemeinerbar äußern muss, um anderen wie auch dem Sprecher selbst vermittelbar
321 322 323
324
Matthies, 2003, 2 [Hervorhebung, M.N.]. Matthies, 2003, 2. Diese einfache Definition trägt zugleich der Bedeutungsvielfalt des Systembegriffs Rechnung, die bereits ein kurzer Blick auf den Systembegriff innerhalb der Exakten Wissenschaften anzeigt. [Vgl. [Artikel] „System“, 954f]. Matthies, 2003, 10. So ist etwa auch mythisches Denken deutbar als systemisch verorteter Gegenstand der Mythologie oder das Bild als Gegenstand der Bild- und Kunsttheorie. „Bilder können durchaus als Systeme aufgefasst und beschrieben werden. Wenn man dies tut, dann bestehen sie aus Einheiten, zwischen denen wechselseitige Interaktionen beobachtet werden können. Was als eine Einheit in einem Bildsystem unterschieden und bezeichnet wird, ist Resultat der Unterscheidung und Bezeichnung eines wissenschaftlichen Beobachtens. Eine Einheit ist nur dann eine Einheit in einem Bildsystem, wenn ihre interne Zusammensetzung nicht von Interesse ist, sondern ihre Beziehung zu anderen Einheiten des Systems“. [Huber, 2008, 30f].
80
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
zu werden 325. Wiederum ist jedes System als Vollzugsmoment logischen Denkens notwendig anschaulich, da es in seiner Bezogenheit auf das fundamental Fremde gleichsam subjektiv geäußerte verallgemeinernde Form ist, die als Begriff immer auch den Begriffsbilder in seinem Bezug zur Welt mit einschließt 326.
2.3
Von der Formalität von Systemen zur Anwendung in populärwissenschaftlichen Bezügen
Die Rede vom „Ökosystem“ folgt in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen nur selten strengen Formalismen und lässt darüber oftmals übersehen, dass der Ökosystemtheorie eine mathematische Logik zugrunde liegt, die in der Ausbildung formaler Systeme einen stringent reflektierten und wiederum reflektierbaren Standpunkt auszubilden sucht. Dem Umstand, dass die Verwendung des Systembegriffs wissenschaftlich durchaus voraussetzungsreich ist, wird man im ökologischen Diskurs oftmals nur dadurch gewahr, dass die Rede vom System mit einem wissenschaftsförmigen Anspruch besetzt wird, der in der Begriffsverwendung die Schlüssigkeit der daraus abgeleiteten Argumentation bereits als gegeben ansieht. Der mit dem Systembegriff verbundene Anspruch auf eine wissenschaftlich ausweisbare Formalität und die zugleich beobachtbare Offenheit des Begriffs für Verwendungen im Rahmen populärer ökologischer Weltanschauung lassen es ratsam erscheinen, noch einen Moment bei dem Begriff des Systems zu verweilen und zu betrachten, wie sich die Formalität von Systemen ausbildet und wie in deren Anwendung ihr weltanschauliches Potential zum Tragen kommt. Werfen wir hierzu zunächst einen Blick auf die Struktur formaler Systeme: Unter formalen Systemen begreift man in der mathematischen Logik, die sich der formalisierten „Erforschung logischen Denkens mit mathematischen Mitteln“ 327 widmet, die Beschreibung logischer Argumentationsweisen oder Beweisführungen. Das heißt, mit formalen Systemen operiert man hier zur Formalisierung der Sprache und der Beweisführung in „deren Reduktion auf einen Satz Regeln für die Umwandlung von Symbolfolgen“ 328. Diese formalen Systeme stellen zugleich eine Art Minimalsystem dar 329, das selbst systemisch ausgebildet jedes System methodologisch
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An den Rändern von Begriffsbildung und Anschauung bilden sich Artikulationen aus, in denen beispielsweise Mythen nach einem zuvor mythologisch erarbeiteten Muster geschrieben werden oder Bilder, die einem strengen systemischen Entwurf folgen. So ist auch die Überführung logischen Denkens in ein formales Zeichensystem ein Anschauungsprozess, über den größtmögliche Verallgemeinerungen erreicht werden sollen. [Artikel] „Logik“, 573. [Artikel] „Logik“, 574. Die Auffassung von formalen Systemen als Minimalsystemen entspricht dabei gerade der mit Kurt Gödel namhaft gewordenen Erkenntnis, dass „die Suche nach einem einzigen formalen System, in dem sämtliche Beweise formuliert werden könnten, allerdings fruchtlos [wäre], denn dieses System gehört zu den wenigen mathematischen Unmöglichkeiten, die sich streng beweisen lassen.“ [[Artikel] „formales System“, 281].
§4 WISSENSCHAFT (UND WELTANSCHAUUNG)
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bestimmt und deshalb formal aussagbar macht. Die Elemente dieser formalen Systeme begegnen uns folglich als Elemente logischer Artikulation in anderen Systemen wieder bzw. können diese Systeme formal darstellen. „Formale Systeme bestehen aus drei Grundbestandteilen: aus einer formalen Sprache, aus Axiomen und aus Schlussregeln.“ 330 Neben diesen drei enzyklopädisch vermittelten Standards nennt Hubertus Schleichert weiterhin einen Begriff der „formalen Wahrheit oder Falschheit“ als zu einem formalen System gehörig 331. Die in der formalen Sprache als Ausdrücke oder Formeln definierten Zeichenfolgen können als Axiome ausgesagt werden. Formal betrachtet bedeuten Axiome zunächst nur nicht aus anderen Formeln deduzierbare Größen 332. In der Forderung nach „Nicht-Deduzierbarkeit“ liegt allerdings bereits ein ordnender Anspruch, den Rudolf Carnap in seiner Definition des Axiomensystems ausformuliert: „Unter einem Axiomensystem versteht man die Darstellung einer Theorie in der Weise, dass gewisse Sätze dieser Theorie, die Axiome, an den Anfang gestellt werden und weitere Sätze durch logische Deduktion aus ihnen abgeleitet werden. Die Axiome müssen so ausgewählt werden, dass alle übrigen Sätze der Theorie, die Theoreme, aus ihnen ableitbar sind.“ 333 In der Axiomenwahl erhält das formale System so ein hierarchisierendes Ordnungsprinzip, das zumindest nicht ohne den von Schleichert beschriebenen Begriff der formalen Wahrheit oder Falschheit auskommt – sei es, dass man diesen Begriff nun als Grundbestandteil des formalen Systems fasst oder nicht. „Für jede Formel soll rein formal entscheidbar sein, ob ihr die formale Wahrheit zukommt oder nicht. (Ein Ideal, das freilich nicht immer erfüllt ist, M.N.) Gültige Formeln sind z.B. ‚0=0‘, 1