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German Pages 310 [312] Year 1995
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Markus Winkler
Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Der Verfasser dankt dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für ein dreijähriges Stipendium, das die vorliegende Studie ermöglich hat. Gedruckt wurde sie mit Unterstützung der Pennsylvania State University. Herr Dr. Wolfgang Klien leistete ebenfalls einen Beitrag zur Drucklegung.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Winkler,
Markus:
Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus : zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines / Markus Winkler. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 138) N E : GT ISBN 3-484-18138-9
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
ι. Voraussetzungen a) Mythisches Denken als fremdes Denken b) Verdrängung und Reduktion. Ansichten vom >Volksglauben< in Aufklärung, Idealismus und Romantik c) >Poetische Wiederbelebungc August Wilhelm Schlegels Grundlegung einer Theorie der Mythenrezeption 2. Grundzüge und Probleme von Heines Umgang mit Mythos und Mythologie a) >AberglaubeNationalerinnerungenFabeleienVolk< in der Harzreise, der Romantischen Schule und der »Préface« zu De l'Allemagne b) Mythos und Revolution: Die Konstruktion des >Nationalglaubens< in dem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland c) Mythos und Terror: Elementargeister
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4. Mythoskritik und >Mythen< vom Ende des Mythischen a) >Der große Pan ist tot!< Heines Variationen über Plutarchs Sage . . b) Zum Stellenwert von Mythos und Mythologie im Zerwürfnis zwischen Heine und Börne c) Deutsche Mythologie als >Teutomanismus< d) Der schwierige Abschied von Barbarossa e) Gefesselter Messias und Götterdämmerung. Diagnosen der >Wunde unserer Zeit
Ausdifferenzierung< und zweckrationale Organisation dieser Sphären gehorche, bemerkt Habermas, dem Imperativ der Selbsterhaltung durch verdinglichende Naturbeherrschung. Sie sei aber auch Voraussetzung »einer dem kommunikativen Handeln innewohnenden Rationalität«, die sich »gegen die Denaturierung des Selbst um der Selbsterhaltung willen« sperre und die »utopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit« eröffne. 2 Rationalisierung als Differenzierung wird heute indes kaum noch, wie es Habermas wünscht, als Voraussetzung von Emanzipation und Utopie verstanden; sie wird vielmehr in zunehmendem Maße als Versagung, ja sogar Bedrohung erfahren: Man sieht, schreibt Luhmann, »im Ausgriff auf die Natur und in der Regulierung des täglichen Lebens, im Entstehen künstlicher, nicht mehr ö k o logisch abgesicherter Interdependenzen nicht nur bedauerliche Veränderungen, sondern Steigerungsphänomene, die sich selbst unmöglich machen.« 3
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Vgl. seine Studie: »Gott an bat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt/M. 1991. Jamme versteht es, die zahlreichen neueren Publikationen zum Thema >Mythos< zu sichten, zu gruppieren und im Hinblick auf die noch ungelösten Aufgaben einer philosophischen Mythostheorie kritisch zu würdigen. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1988 (zuerst 1981), Bd. I, S. 333,532, 533. Habermas gewinnt seinen Begriff der kommunikativen Vernunft u.a. durch eine Metakritik von Horkheimers und Adornos Kritik der instrumenteilen Vernunft, deren Aporien er darauf zurückführt, daß sie den Bedingungen der Subjektphilosophie verhaftet bleibe (vgl. ebd., Bd.I, S. 489ff.). Niklas Luhmann, »Brauchen wir einen neuen Mythos?«, in: Luhmann: Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 254-274, Zitat S. 267. ι
In dieser Krisensituation kann der Mythos zur Chiffre werden für die vermeintlich verlorene Einfachheit und Totalität der Lebenswelt und darüber hinaus für alles, was aus dem vorherrschenden Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit ausgeschlossen scheint: Viele berufen sich auf ihn, um die Reduktion der Vernunft auf Zweckrationalität zu kritisieren; darin konvergieren höchst heterogene Mythos-Deutungen wie z.B. Mircea Eliades ontologische, Manfred Franks hermeneutisch fundierte und Habermas' kommunikationstheoretische. 4 Andere rehabilitieren die »Umständlichkeit* des Mythos, um jede Form von geistigem Absolutismus, etwa den der monotheistischen Dogmatik oder den der Geschichtsphilosophie, zu diskreditieren; Hans Blumenberg und O d o Marquard stimmen in diesem Sinn das Lob des Polytheismus an.5 Und man weist den Mythos nicht nur in der modernen und >postmodernen< Kunst nach - in Dichtung, bildender Kunst, Musik und Film - , sondern auch in Naturwissenschaft und Technologie, denen doch eine maßgebliche Rolle in der Genese des modernen, angeblich entmythologisierten Weltbildes zukam. Die Rede ist schon von einer >neomythischen Kehre< in der zeitgenössischen Kultur; 6 vereinzelt wird sogar eine >Wiederverzauberung der WeltHierophanie< (in: Eliade: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954, bes. S. 3 i f f . , 48/ff.); Manfred Frank (Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. I. Teil, Frankfurt/M. 1981) begründet seinerseits die Aktualität der Dionysos-Renaissance in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit dem Hinweis auf die gegenwärtig zu beobachtende Sinnkrise. Habermas stellt im Schlußteil seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. II, S. 588) fest: »Der Testfall für eine Theorie der Rationalität, mit der sich das moderne Weltverständnis seiner Universalität versichern möchte, träte allerdings erst dann ein, wenn sich die opaken Gestalten des mythischen Denkens lichten, die bizarren Äußerungen fremder Kulturen aufklären, und zwar so aufklären ließen, daß wir nicht nur die Lernprozesse begriffen, die >uns< von >ihnen< trennen, sondern daß wir uns auch dessen innewürden, was wir im Zuge unserer Lernprozesse verlernt haben« (Hervorh. im Text).
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Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 4 i986, S. 43ff.; Odo Marquard, »Lob des Polytheismus. Uber Monomythie und Polymythie«, in: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, hrsg. v. Hans Poser, Berlin/New Y o r k 1979,5.4058. Vgl. den Band Die neomythische Kehre. Aktuelle Zugänge zum Mythischen in Wissenschaft und Kunst, hrsg. v. Hermann Schrödter, Würzburg 1991. Vgl. Morris Berman: The Reenchantment of the World, Ithaca/London 1981; deutsche Übersetzung: Wiederverzauberung der Welt. Am Ende des Newton'schen [sie] Zeitalters, München 1983. Hans Poser, »Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und M y thos«, in: Philosophie und Mythos, S. V - X I , Zitat S. V. Hervorh. im Text.
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Einen Konsens darüber, was der Mythos ist und was er vermag, gibt es indes nach wie vor nicht. Das tangiert eine problemgeschichtliche Untersuchung zu Heines Umgang mit Mythos und Mythologie nicht unmittelbar. Denn ihre mythostheoretischen Prämissen müssen nur heuristisch, auf den Gegenstand abgestimmt sein. Titel und Untertitel der Untersuchung implizieren jedoch die keineswegs unumstrittene philosophische These, daß es mythisches Denken als eine eigenständige, von den etablierten Formen moderner Rationalität verschiedene und bezogen auf sie fremde Form der Bearbeitung und zeichenhaften Darstellung von Wirklichkeit gibt. Zwar ist der Mythos bei Heine Zitat: nicht unmittelbar gelebt, sondern >poetisch wiederbelebt< (A.W. Schlegel), nicht unreflektiertes Bewußtsein, sondern Gegenstand oder Medium kulturkritischer Reflexion, nicht gesamtgesellschaftliches Weltbild, sondern allenfalls Konstruktion eines solchen Weltbilds. Von Heines >mythischem< Denken oder dem anderer Autoren seiner Zeit kann man also nur sprechen, wenn man den Begriff >mythisch< als Zitat kennzeichnet. 9 Die Anführungszeichen signali9
Durch die im folgenden zu belegende These, daß es berechtigt ist, von Heines >mythischem< Denken in dem genannten Sinn zu sprechen, und durch den Versuch, den historischen Horizont dieses Denkens zu rekonstruieren, aber auch durch die Auswahl der eingehender interpretierten Texte unterscheidet sich die vorliegende Studie grundlegend von Markus Küppers' Dissertation: Heinrich Heines Arbeit am Mythos, Münster/New York 1994. Küppers kommt zu dem Ergebnis, daß Heines Rekurs auf den Mythos immer Rezeption von Mythologie sei und »nie >mythisches DenkenNeuen Mythologie«« (ebd., S. 310; vgl. S. 91 f.). Dieses m.E. kaum zutreffende Ergebnis ist das Resultat einer anfechtbaren methodischen Vorentscheidung: Küppers orientiert sich, wie der Titel seiner Arbeit signalisiert, einseitig an Blumenbergs Mythostheorie und verzichtet darauf, sich mit der Phänomenologie und Strukturanalyse des Mythos als autonomer >Denkform< (Cassirer u.a.) und mit der Kulturgeschichte des Mythos als synkretistischer >Denkgewohnheit< (Graevenitz) auseinanderzusetzen. Deshalb geht er weder den Spuren der Fremdheit des Mythos in Heines Werk nach, obwohl Heine für diese Fremdheit durchaus sensibel ist und daraus mythoskritische Konsequenzen zieht, noch den Spuren der >Denktraditionenneuedeutsche< Mythologie und ihre nationalistische Vereinnahmung. Das romantische und idealistische Nachdenken über den Mythos, insbesondere über den >Volksglauben< - ein zentraler, wenn nicht der zentrale Begriff von Heines Umgang mit Mythos und Mythologe - wird von Küppers nicht berücksichtigt, obwohl Heines > Arbeit am Mythos< erst vor diesem Hintergrund an Profil gewinnt und verständlich wird. Das Neuartige von Küppers' Untersuchung besteht vor allem in dem Versuch, Heines späte Hinwendung zum persönlichen Gott als Konsequenz der Anwendung »merkantil-ökonomischer Denkstrukturen auf einen sakral-religiösen Bereich« (ebd., S. 95) und den Gott selbst als »Reflex einer geänderten religiösen Bedarfslage« (ebd., S. 103) zu interpretieren. Dieses Thema tangiert indes nicht den Zusammenhang zwischen Mythos und kultureller Fremderfahrung, um den es hier geht, und es kann daher im folgenden außer Betracht bleiben. - Küppers' Arbeit er3
sieren den Abstand, den die Mimesis des Mythos in nachmythischer Zeit nicht vertuscht oder nicht vertuschen kann. Doch mit dieser Signalisierung ist der mögliche Verdacht, vom mythischem Denken zwischen Romantik und Realismus zu reden, sei eint petitio principii, noch nicht aus dem Weg geräumt. Denn in der Epoche zwischen Romantik und Realismus bleiben die vorherrschenden Auffassungen von dem, was der Mythos ist, Denktraditionen verpflichtet, die dem phänomenologischen Begriff des mythischen Denkens nicht entsprechen. Der Interpret muß also diesen Begriff als eine philosophische Kategorie definieren, die seinem eigenen Verstehenshorizont entnommen ist, und ihre Verwendung im Kontext der vorliegenden Untersuchung rechtfertigen.10 Das ist um so dringlicher, als gegen die Selbstverständlichkeit, mit der man die Begriffe >Mythos< und >mythisches Denken< in der gegenwärtigen Diskussion gebraucht, und gegen die Objektivität der mit diesen Begriffen bezeichneten Denkform Einwände erhoben worden sind. Anlaß dazu bot unter anderem die Funktionalisierung des Mythos. »Gemeinhin«, konstatiert Jamme, »nutzt man die Berufung auf den Mythos zur Kritik einer auf Zweckrationalität geschrumpften, im Subjekt zentrierten Vernunft«; er fungiert als »diagnostisches Instrument zur Auslotung des Raumes unserer Rationalität«.11 Wenn derart der Begriff >Mythos< Bedürfnisse und Interessen derer ausdrückt, die ihn gebrauchen, stellt sich die Frage, ob der Mythos überhaupt eine Wahrheit sui generis hat. Ist er mehr als das Bild, das man sich von ihm macht? Spiegelt sich in diesem Bild nicht der Denkzwang zur Vereinheitlichung wider, gegen den man sich unter Berufung auf den Mythos zur Wehr setzt? Manche der neueren Mythos-Theorien sagen wenig über ihren vermeintlichen Gegenstand aus, hingegen viel über ihre Autoren, deren mehr oder weniger verdeckte Denkschemata und die Erwartungen des Lesepublikums.12 Daraus hat Gerhart von Graevenitz die radikale Konsequenz gezogen, die Frage nach Wesen und Wahrheit des Mythos auszuklammern; statt einmal mehr dieser Frage nachzugehen, untersucht er, »wodurch unsere Auffassungen von dieser Realität >Mythos< geformt worden sind im Verlaufe der europäischen Kulturgeschichte.« Die Untersuchung führt auf die »als heuristisch motivierte Reduk-
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schien nach der Fertigstellung des Manuskripts der vorliegenden Arbeit. Worin beide Arbeiten sich voneinander unterscheiden, konnte jedoch nachträglich deutlich gemacht werden: Vgl. unten, Anm. 16 u. 73 in diesem Kapitel; ferner Kap. 2, Anm. 77, 109, 1 1 3 , S. 99 und Anm. 1 1 9 ; Kap. 3 b), Anm. 1 1 7 , 156, 160; Kap. 5, Anm. 7, 17, 45, 54. Zum Stand der im vorliegenden Zusammenhang relevanten Heine-Forschung s. unten, bes. Kap. 2 c), S. 97 ff. Daß die klare Bestimmung des Begriffs auch für die Literaturwissenschaft von Bedeutung ist, unterstreicht schon in den sechziger Jahren Robert Weimann: Literaturgeschichte und Mythologie. Methodologische und historische Studien. Mit einer neuen Einführung, Frankfurt/M. 1977, bes. S.3o6ff. Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S.226, 15. Vgl. auch ebd., S. 45ff-, zum Problem der Fremderfahrung in der Ethnologie. Vgl. ebd., S.87.
tion« zu verstehende, aber gleichwohl provozierende These, »daß das, was wir für >Mythos< halten, eine große kulturgeschichtliche Fiktion ist«, nämlich das »Produkt von europäischen Wahrnehmungs-und Denktraditionen, die allein mit Methoden der Kulturgeschichtsschreibung zu erschließen sind.« 13 Graevenitz ermittelt vier solcher Traditionen, die für die Denkgewohnheit >Mythos< konstitutiv, aber heterogen seien: Die »symbolische« der »neue[n] Mythologie« Giordano Brunos, die dem Mythos »gesteigerte >EvidenzGermanistik< und Richard Wagners Musikdramen nachzuweisen sucht, in die drei anderen Überlieferungen auflösen lasse.' 4 Graevenitz demonstriert die Konstanz der vier heterogenen, in sich synkretistischen und sich auch miteinander vermischenden Uberlieferungen, indem er Vergleiche zieht zwischen Repräsentanten des jeweiligen Überlieferungsstrangs, die zeitlich weit auseinanderliegenden Epochen angehören oder anscheinend konträre Positionen vertreten. Dieses >exempelkasuistische< Vergleichsverfahren, mit dem er der aktuellen Rede vom Rhetorisch-Narrativen der Historie zu genügen sucht, sei selbst die »modifizierte Variante« eines Teilbereichs der »Denkgewohnheit >MythosMythos< eröffnet eine Fülle neuer und überraschender Einblicke in die Traditionen, die bestimmte historische und zeitgenössische Auffassungen vom Mythos geprägt haben - jene Auffassungen nämlich, die darauf zielen, ihn im Verstehensund Interessenhorizont des jeweiligen Interpreten aufgehen zu lassen. Die von Graevenitz ermittelten Traditionen sind auch bei Heine wirksam, insbesondere in seiner programmatischen Allegorese von Zeugnissen des deutschen >VolksglaubensGründen< und >Folgen< auseinanderlegen.« 46 Diese N o r m gilt Cassirer zufolge in der Welt unserer alltäglichen Wahrnehmung ebenso wie in derjenigen der empirischen Wissenschaft. Ihr lebenspraktisches Äquivalent ist die Zweckrationalität: Handeln orientiert sich an der Norm, die Kant den hypothetischen Imperativ< nennt. 47 Dem mythi» PHSF, Bd. II, S. 18. PHSF, Bd.I, S.2I. 41 Ebd., S. 13. 42 Ebd., S.25. 45 Ernst Cassirer: Zur modernen Physik, Darmstadt '1980, S. 376. 44 Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S.41; Hervorh. im Text. 4 ! Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 76, 299. 46 PHSF, Bd. II, S.93. Vgl. ebd., S. off. 4 47 Vgl. Immanuel Kant: Akademie-Textausgahe, 9 Bde., Berlin 1968, Bd.V, S. 20 (Kritik der praktischen Vernunft)·, Bd. III, S. 414ÍÍ. {Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). 40
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sehen Bewußtsein hingegen ist, wie Cassirer darlegt, eine analytische »Scheidung und Schichtung« in Gründe und Folgen, Mittel und Zwecke zunächst »völlig fremd«. 4 8 E s differenziert, synthetisiert und objektiviert, indem es »alles Sein und Geschehen auf den einen Grundgegensatz des >Heiligen< und >Profanen< projiziert«. 4 9 Diese Differenzierung und Gliederung durchdringt nach und nach das gesamte Dasein, wie sich z . B . an den Systemen des Totemismus oder der Astrologie beobachten läßt. Cassirer sucht also die mythische >Prägung zum Sein< zu erfassen, indem er sie von der wissenschaftlich-empirischen abgrenzt. Beide unterscheiden sich nicht durch die Qualität, sondern die Modalität der Kategorien und Anschauungsformen, mit denen sie die ihnen je eigene >Gestaltung zur W i r k l i c h k e i t vornehmen. D e n n beide D e n k f o r m e n operieren mit den Kategorien der Substanz, Kausalität, Quantität usw. und mit den Anschauungsformen des Raumes, der Zeit und der Zahl, aber sie operieren mit ihnen auf eine je verschiedene Weise.' 0 D i e Operationen des mythischen Denkens gehorchen dem ihm eigentümlichen »Gesetz der K o n k r e s z e n z
oder Koinzidenz
der
Re-
l a t i o n s g l i e d e r « : Während die Relationen, die das empirisch-wissenschaftliche D e n k e n setze, gedankliche Bindungen seien, durch die das, was in sie eingehe, zugleich gesondert und verknüpft werde, seien die vom mythischen Denken gesetzten Relationen »eine Art von Kitt, der auch das Ungleichartigste noch irgendwie zusammenzuleimen« vermöge.' 1 Als Beispiel für die m y thische Modalität der Kausalitätskategorie führt Cassirer u.a. die Vorstellung an, »daß die Tiere, die in einer bestimmten Jahreszeit auftreten, die Bringer, die U r h e b e r derselben sind: für die mythische Ansicht ist es tatsächlich die Schwalbe, die den Sommer m a c h t . « ' 2 Das mythische D e n k e n kenne auch nicht die einer allgemeinen Regel folgende Veränderung, von der das empirisch-kausale D e n k e n spreche, sondern die Metamorphose, die der Bericht »über den Fortgang von einer individuellen und konkreten Ding- und D a seinsform zu einer anderen [ist]. Die Welt wird aus der Tiefe des Meeres herausgefischt oder aus einer Schildkröte gebildet; - die Erde wird aus dem K ö r per eines großen Tieres oder aus einer auf dem Wasser schwimmenden L o t o s -
PHSF, Bd. II, S.93. Nach Cassirer ist Werkzeuggebrauch Voraussetzung für eine Entwicklung des mythischen Denkens, die schließlich zur Erkenntnis der Relationen von Mittel und Zweck, Wirkung und Ursache führt (vgl. ebd., S. 253ff., bes. S.256). 49 Ebd., S. 96. Cassirer knüpft hier an die Bestimmung des Heiligen durch Rudolf Otto (Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917) an, auf die sich auch Blumenberg (Arbeit am Mythos, S. 72 u. öfter) noch beruft. Vgl. PHSF, Bd. I, S. 2 9 ff.; Bd. II, S. 7 8ff. ' ' PHSF, Bd. II, S. 82. Hervor, im Text. 52 Ebd., S.60. Hervorh. im Text. Wie Jamme (»Gott an hat ein Gewand«, S. 170) notiert, gebraucht Lévi-Strauss z.T. dieselben Beispiele.
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blume geformt; die Sonne entsteht aus einem Stein, die Menschen aus Felsen oder Bäumen.« 53 Es ist zu vermuten, daß in dieser Konzentration auf das Individuelle, >Bedeutsame< des Geschehens in Raum und Zeit ein weiterer Grund für die Attraktivität des mythischen Denkens liegt; denn das Einmalige und Besondere ist, wie Cassirer darlegt, die Sphäre, die der wissenschaftlich-empirische Begriff der Kausalität unbestimmt läßt. Das mythische Denken hingegen »erklärt das individuelle Geschehen durch die Setzung und Annahme individueller Willensakte«; »alle >Kräfte< der Natur sind ihm nichts anderes als dämonische oder göttliche Willensäußerungen.« 54 Cassirer weist diese für die Phänomenologie des Mythos grundlegende Manifestation des Gesetzes der Konkreszenz, das er auch als Gesetz der »Partizipation« bezeichnet, nicht nur in der Magie nach, sondern auch in komplexen Formen der mythischen Raumanschauung wie der Astrologie oder im Schicksalsglauben als Form der mythischen Zeitordnung, die im jüdischen Monotheismus und der griechischen Philosophie überwunden worden sei, sowie im Totemismus als mythischer Klassenbildung, die den scharfen Schnitt zwischen dem Menschen und der Gesamtheit des Lebendigen nicht kenne. 55 Darauf aufbauend untersucht er, wie durch eine Entwicklung im Kreise des Mythos, »die dazu bestimmt ist, über seine Grenzen hinauszuführen«,' 6 das Ich sich aus der Gebundenheit an das Gesetz der Konkreszenz löst und als Subjekt des theoretischen und ethischen Bewußtseins der Welt der Objekte entgegensetzt. Cassirers These lautet, daß dieser Prozeß, in dem das Selbstbewußtsein und das Objektbewußtsein sich bilden, zugleich der theogonische Prozeß ist, der von der >untersten Schicht< des mythischen Denkens - dem Glauben an Naturdämonen - zur obersten - dem monotheistischen Glauben an einen Schöpfergott - führe. »Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene, fertig-ausgestaltete Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: sondern die G e stalt seiner Götter ist es, an der er dieses Sebstbewußtsein erst f i n d e t . « 5 7 Zu den Faktoren dieses Prozesses zählen die Kunst und vor allem die Arbeit als Mittel zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse. (Besonders hier wird deutlich, daß Cassirer den Mythos als Denk- und Lebensform verstanden wissen will, obwohl er ihn zunächst als Denkform definiert. 58 ) Indem der Mensch die Natur in den Kreis seiner Arbeit hineinzieht, wandeln sich die elementaren 53 P H S F , Bd. II, S. 62. 54 Ebd., S.63, 64. Zur >Bedeutsamkeit< als Qualität dessen, was der Mythos zu bieten hat, und zur Indifferenz als Ideal der theoretischen Einstellung zum Gegenstand vgl. auch Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 68ff. 55 Vgl. P H S F , Bd.II, S. n i f f . , i 3 8ff., 2 i j f f . 56 Ebd., S.204. 57 58
Ebd., S. 253. Hervorh. im Text. Das betont John Michael Krois, »Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer«, in: Philosophie und Mythos, S. 1 9 9 - 2 1 7 . 13
Naturdämonen oder >Augenblicksgötter< zunächst in Schutzgeister und dann in Tätigkeits- oder Sondergötter, die einer späteren Schicht des mythischen Denkens und Fühlens entstammen. Aus der Masse der Sondergötter erheben sich wiederum die persönlichen Götter, wenn die Form der mythischen Kausalität zur Erklärung der Entstehung nicht mehr der Natur, sondern der Kultur dient. U n d in dem Maße, in dem das Ich sich »als konkrete, mit sich identische Einheit« weiß, »die alle verschiedenen Richtungen des Tuns miteinander verknüpft und zusammenhält«, »hebt sich schließlich aus dem Kreis der bloßen Sondergötter und aus der Menge der polytheistischen Einzelgötter die Gestalt eines höchsten S c h ö p f e r g o t t e s heraus«. 59 Mag auch der Schematismus dieser religionsphänomenologischen Schichtentheorie inzwischen fragwürdig scheinen - neuere Forschungen bestätigen, daß die »Etappen der mythischen Symbolisierung« mit den »Etappen der Naturbeherrschung« zusammenhängen und der Polytheismus als Glaube an >Hochgötter< die Evolution der Stadt voraussetzt, also jüngeren Datums ist als der Glaube an Naturdämonen. 6 0 Daß Cassirer diesen zur Sprache bringt, zeugt exemplarisch von dem gegenständlichen Weitblick seiner Theorie, den jüngere Theorien wegen ihrer einseitigen Orientierung am griechischen Polytheismus vermissen lassen, so daß Jamme noch festhalten muß: »[...] es gibt viele Mythen ohne Götter, in denen nur (dämonische) Mächte und Wesenheiten eine Rolle spielen.« 6 ' Daß der Begriff des Dämons im heutigen Sprachgebrauch pejorativ konnotiert ist und - in metaphorischer oder nichtmetaphorischer, z.B. theologischer Verwendung - >böser Geist< bedeutet, ist, wie man weiß, eine Folge des kulturgeschichtlichen Wandels, den die Verdrängung der vorchristlichen polytheistischen Religionen durch das Christentum auslöste. In den kirchlichen Dämonologien ist dieser Sprachgebrauch nach wie vor gültig oder sogar dogmatisch festgelegt. 62 Dort sind die Dämonen gefallene Engel, Werkzeuge oder Inkor59
Vgl. PHSF, Bd. II, S. 238ff., Zitate S. 246^ Hervorh. im Text. Cassirer folgt hier z.T.
Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896; vgl. dort bes. S. 323, 33off. 6 ° Vgl. Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S. 175!., 19$ und bes. 139: »Die bisherigen Theorien zur Herkunft der Götter gehen [...] übereinstimmend davon aus, daß die Herausbildung von Göttern (theistische Stufe) erst relativ spät erfolgte. Alter als die persönlichen Götter sind Tier- und Pflanzendämonen.« 61 Ebd., S. 138; dort weitere Literatur. 62 Vgl. vor allem die materialreichen Artikel »Elementum« und »Geister (Dämonen)« im Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. v. Theodor Klauser, Bd. IV, Stuttgart 1959, Sp. 1 0 7 3 - 1 1 0 0 bzw. Bd. IX, Stuttgart 1976, Sp. $46-797, bes. Sp. 692ff.; aus kulturgeschichtlicher Perspektive auch Jean Seznec: The Survival of the Pagan
Gods. The Mythological Tradition and Its Place in Renaissance Humanism and Art, Princeton 1972, S.44Í., 48f., u. öfter. Die dogmatische Festlegung des Sprachgebrauchs in der katholischen Kirche dokumentiert François Vandenbrouckes Artikel
»Démon«, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et Histoire, Bd.III, Paris 1957, Sp. 1 4 1 - 2 3 8 , bes. Sp. 234ff. Vgl. auch H.M. Nobis, »Dämonolo14
porationen des Teufels, der den Menschen zum Abfall von G o t t verführen will. Im mythischen Denken und dem daran anknüpfenden philosophischen hingegen sind Dämonen Mittlerwesen zwischen den Menschen und den G ö t tern. In Piatos Symposion gibt Diotima auf die Frage des Sokrates nach dem Wesen des Eros die Antwort, er sei ein großer Dämon, und sie fügt erläuternd hinzu: και γάρ π α ν τό δαιμόνιον μεταξύ έστι θεοί) τε και θνητοί). Die Rolle der Dämonen definiert sie als Έ ρ μ η ν ε ΰ ο ν και διαπορθμεϋον θεοΐς τά παρ' ά ν θ ρ ώ π ω ν και άνθρώποι,ς τά παρά θεών. 6 ' Beide Bestimmungen der Dämonen und des Dämonischen, sowohl die auf Plato und den Piatonismus zurückgehende, die sich an das mythische Denken anlehnt, als auch die den christlichen Dämonologien verpflichtete, sind im >mythischen< Denken Heines und seiner Zeitgenossen lebendig, und der Konflikt dieser Bestimmungen ist, wie sich zeigen wird, Symptom eines tiefgreifenden kulturellen Konflikts. Wenn Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie die »unversiegliche heiterkeit« der Geister evoziert, die »zwischen der götter erhabenheit und dem ernst der sterblichen« stehe, muß er gleich anschließend auf den »Untergang des heidenthums« zu sprechen kommen, der »vieles in dem hergebrachten Verhältnis« geändert habe/ 4 A u s phänomenologischer Perspektive sind Dämonen, »ungeachtet ihrer Glaubenswirklichkeit in frühen Kulturen, psychische Realitäten, Projektionen menschlicher Erfahrung, Ängste und Hoffnungen«. 6 ' Was Cassirer zu den Naturdämonen zu sagen hat, ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse, da eben sie es sind, auf die sich Heines >mythisches< Denken (wie auch dasjenige Mörikes, Storms und anderer Nachromantiker und Realisten) primär konzentriert. Cassirer zufolge entstehen diese mythischen Gebilde als Ausdruck einer einmaligen Bewußtseinslage. A u f der ersten Stufe des mythisch-religiösen Bewußtseins seien die Dinge nur dadurch für das Ich vorhanden, daß sie in ihm affektiv wirksam werden. »Schon hieran scheitern alle Theorien, die als den A n f a n g des mythischen Bewußtseins die Personifik a t i o n und die Verehrung bestimmter Naturgegenstände und bestimmter N a -
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gie«, in: H W P H , Sp. 5-9. Zu Heines Deutung dieses kulturgeschichtlichen Befundes s. unten, Kap. 3 b). Plato, Symposion, 202 d-e; zitiert nach: Piaton: Œuvres complètes, t. IV, 2e partie: Le Banquet, texte établi et traduit par Léon Robin, Paris 1949, S. 53. Schleiermacher übersetzt wie folgt: » [...] alles Dämonische ist zwischen G o t t und dem Sterblichen. U n d was für eine Verrichtung, sprach ich, hat es? - Z u verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den G ö t tern kommt« (Piaton: Sämtliche Werke. In der Ubersetzung von Friedrich Schleiermacher [...] hrsg. v. Walter F. O t t o [u.a.], 6 Bde., Hamburg 1957—1959, Bd.II, S. 232). Z u r Wirkungsgeschichte dieser Definition vgl. F.P. Hager, »Dämonen«, in: H W P H , Bd. II, S p . 1 - 4 . Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bde., Berlin +1875—1878, B d . I , S.427. Leander Petzoldt: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München 1990, S.5. 15
turkräfte ansehen.« 66 Die Dinge und Kräfte sind nicht von vornherein gegeben, sondern in ihnen stellt sich ein schon fortgeschrittener Prozeß der Objektivierung dar. Wir müssen uns auch die Naturgottheiten und Naturdämonen »statt in der Personifikation allgemeiner Naturkräfte oder allgemeiner Naturprozesse vielmehr als mythische Objektivationen einzelner Eindrücke entstanden denken.« Der »Volksglaube« zeige, »wie noch heute diese Urkraft des mythischen Vorstellens unmittelbar lebendig und unmittelbar wirksam ist«: Hier wurzelt der Glaube an die unübersehbare Fülle der Naturdämonen, die das Feld und die Flur, die den Busch und den Wald bewohnen. Im Rauschen der Blätter, im Wehen und Brausen der Luft, in tausend unbestimmbaren Stimmen und Tönen, im Spielen und Flimmern des Lichtes: in alledem wird für das mythische Bewußtsein das Leben des Waldes zuerst vernehmbar - vernehmbar als die unmittelbare Äußerung der zahllosen Elementargeister, die den Wald bevölkern, der Waldmänner und Waldfrauen, der Alben und Elbinnen, der Baum- und Windgeister.67 Mit dieser quasi poetischen Evokation der Naturdämonen relativiert Cassirer ihre entwicklungsschematische Einordnung und veranschaulicht ihre irreduzible Präsenz. Wenn die Naturdämonen als Objektivationen einzelner Eindrücke entstehen, eignet ihnen eine ursprüngliche, nicht abgeleitete und ableitbare Gegenständlichkeit; sie lassen sich ohne Gewalt weder auf hinter ihnen liegende Gegenstände oder Ideen reduzieren noch ins Historische abschieben. In ihrer irreduziblen Präsenz aber gründet ihre provozierende Fremdheit. Sie sind Zeichen, deren Wahl durch das Bewußtsein ebenso unerklärlich ist wie die Wahl der Phoneme, die in das Gefüge einer Sprache eingehen. 68 Auch und vor allem an dieser >Schicht< des mythischen Denkens entzünden sich also die eingangs aufgeworfenen Fragen. Warum interessiert uns ein Denken, das sich in >abergläubischen< Vorstellungen wie Naturdämonen manifestiert? Entspricht es Bedürfnissen, »die durch die Idee einer epistemischen Weltdeutung nur partiell oder überhaupt nicht abgedeckt bzw. ersetzt werden können«? 69 Wenn es, wie angedeutet, zur Wirklichkeit gehört - wie können wir es dann in unseren Wirklichkeitsbegriff integrieren? Welche »kryptische Existenzform« 7 0 nimmt es nach seiner Verdrängung aus dem herrschenden Wirklichkeitsverständnis an? Und wie ist das Verhältnis zwischen ihm und seiner literarischen Rezeption zu bestimmen? Diese Fragen sind nach wie vor offen. Daher rührt das Interesse an Epochen, in denen ähnliche Fragen bereits aufgeworfen wurden, insbesondere an den rationalitätskritischen Bewegungen, die mit der Aufklärung einsetzten und Mythos und Mythologie ins Spiel brachten. Ins Blickfeld interdisziplinärer Forschung rückten vornehmlich das von Romantik und Idealismus aufge66 67 68 69 70
16
PHSF, Bd. II, S.239. Hervorh. im Text. Ebd., S.240. Vgl. Claude Lévi-Strauss: La potière jalouse, Paris 1985, S. 228. Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S. 11. Ebd.
stellte Programm der >neuen Mythologie< und die Impulse, die unter anderem Nietzsche, Wagner, George, Rilke, Musil und Thomas Mann, aber auch Autoren wie Alfred Rosenberg davon empfingen, ferner der >Mythos vom Reich< im 19. und 20. Jahrhundert, der wie die >neue Mythologie< ein sozialutopischeschatologisches Moment aufweist, sowie >Mythen der Weiblichkeit in Romantik, Realismus, Naturalismus und der Literatur der Jahrhundertwende. 71 Während das Modell der »neuen Mythologie< die klassische war, speisten sich der >Mythos vom Reich< und die >Mythen der Weiblichkeit auch aus den Traditionen, die von den Romantikern unter die Begriffe »Mythologie des Mittelalters< (A.W. Schlegel) oder »deutsche Mythologie< (Jacob Grimm) subsumiert wurden und zum Teil mit Motiven der klassischen Mythologie verschmolzen. Der wirkungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen der programmatischen »neuen Mythologie< und der Renaissance des Volksglaubens seit der romantischen Begründung der »Mythologie des Mittelalters< oder »deutschen Mythologie< wurde bislang kaum erforscht. 72 Auch hat die Forschung bislang zwar das Faktum der geschlechterideologischen und politischen Vereinnahmung des Volksglaubens zur Kenntnis genommen, aber sie ist kaum den literarischen Spuren der Spannung zwischen solchen Versuchen, den Volksglauben zu aktualisieren, und seiner Fremdheit als lebendigem mythischem Denken nachgegangen. Die vorliegende Untersuchung soll eine dieser Spuren verfolgen. Sie geht von den folgenden Hypothesen aus: Die Beschäftigung mit Heines »mythischem< Denken kann einen Beitrag dazu leisten, das gegenwärtig diskutierte Problem »Mythos und Moderne< und seine Geschichte besser zu verstehen. Auch Heine empfing Impulse vom Programm der »neuen Mythologie< und partizipierte offenbar deshalb an der Renaissance des Volksglaubens in der »deutschen Mythologien In dem Maße jedoch, in dem er zur Einsicht gelangte, daß der Mythos andere Gesetze hat als die moderne Kultur und ein destrukti71
Das Interesse an diesen drei (und anderen) Themenbereichen dokumentieren die Sammelbände Mythos und Mythologie
in der Literatur
H e l m u t Koopmann, Frankfurt/M. 1 9 7 9 ; Mythos einer Rekonstruktion,
des 19. Jahrhunderts,
und Moderne.
Begriff
hrsg. v. und
hrsg. v. Karl H e i n z Bohrer, Frankfurt/M. 1 9 8 3 , und
des Mythos - Ohnmacht
der Vernunft?,
Bild Macht
hrsg. v. Peter Kemper, Frankfurt/M. 1989.
Z u m »Mythos v o m Reich< vgl. auch W u l f Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr: Historische Mythologie
der Deutschen.
1/98-1918,
München 1 9 9 1 ; zur Wirkungsge-
schichte der »neuen Mythologie< s. bes. Frank, Der kommende im Exil. Vorlesungen
über die Neue Mythologie.
Gott, und ders.: Gott
II. Teil, Frankfurt/M. 1988; zu den
M y t h e n der Weiblichkeit unter anderem: Weiblichkeit
und Tod in der
hrsg. v. Renate Berger und Inge Stephan, K ö l n / W i e n 1987; Sehnsucht Vierzehn
Abhandlungen
zu Wasserphantasien,
weiler 1992; A n n a Maria Stuby: Liebe, in der Literatur, Gesellschaft 72
Literatur,
und
Sirene.
hrsg. v. Irmgard Roebling, Pfaffen-
Tod und Wasserfrau. Mythen
des
Opladen 1 9 9 2 (dazu meine Besprechung in: Jahrbuch
Weiblichen der
Raabe-
1 9 9 3 , S. 1 5 9 - 1 6 3 ; dort weitere Literatur).
Einige Hypothesen dazu formuliert Graevenitz, Mythos, S. 2 59f.
17
ves Potential entfaltet, wenn er in der Moderne für politische Zwecke in Anspruch genommen wird, distanzierte er sich von solchen Inanspruchnahmen, insbesondere von seinem eigenen Versuch, den Volksglauben in das revolutionäre Programm der utopischen Wiederversöhnung von >Geist< und >Materie< einzubeziehen. Der Wandel in Heines Auseinandersetzung mit Mythos und Mythologie ist noch nicht erkannt worden, weil man bislang verkannt hat, daß diese Auseinandersetzung weniger bestimmten mythologischen Inhalten als dem Weltbild gilt, das sich mit dem phänomenologischen Begriff des mythischen Denkens beschreiben läßt. Damit ist der historische Horizont der Untersuchung skizziert. Bevor versucht wird, ihn genauer zu bestimmen, seien die mythostheoretischen Überlegungen, die im vorangehenden angestellt wurden, thesenhaft zusammengefaßt und in einigen Punkten ergänzt; denn diese Prämissen sind Teil dessen, was man den >Gegenwartshorizont< der Untersuchung nennen kann, den es von ihrem historischen Horizont abzuheben gilt:73 - Der Mythos ist wie die Sprache, die Kunst und die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis eine eigengesetzliche >Gestaltung zur Welt< (Cassirer), d.i. eine intersubjektive Denkform, die der zeichenhaften Ordnung und Bewältigung erfahrener Wirklichkeit dient. (Zur Vermeidung von Mißverständnissen wird hier und im folgenden an Stelle des Cassirerschen Symbolbegriffs der Begriff >Zeichen< verwendet. 74 ) Der Mythos ist daher eine Form des Logos oder, will man mit dem Wort >Logos< allein die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis bezeichnen, eine Form der Kultur. Legt man den Akzent auf den Abbau von Daseinsangst, den die mythische >Gestaltung zur Welt< leistet, dann liegt es nahe, von der >Arbeit< des Mythos zu sprechen: Der Mythos ist bereits »Manifestation einer Uberwindung, eines Distanzgewinns, einer Ab-
73
74
18
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 289^ Dieses hermeneutische Postulat läßt Küppers außer acht: Er spricht davon, daß »Blumenbergs Mythos-Theorie sich so gut mit Heines mythologischen Diskursen verträgt« (Heinrich Heines Arbeit am Mythos, S. 31 y). Hier besteht die Gefahr der Nivellierung von Unterschieden und der Subsumtion des Gegenstandes der Untersuchung unter eine Theorie, die, wie bereits deutlich wurde, allenfalls bestimmte Aspekte des Gegenstandes erschließen kann. Vgl. die Kritik, die Paul Ricoeur (De l'interprétation. Essai sur Freud, Paris 1975, S. ι ^ff.) gegen Cassirers Ausdehnung des Symbolbegriffs geltend macht: Was Cassirer mit dem Begriff des Symbols bezeichne, könne besser mit dem Begriff des Zeichens oder der Bezeichnungsfunktion charakterisiert werden. Cassirers Ausdehnung des Symbolbegriffes lasse keinen Raum mehr für die Unterscheidung zwischen eindeutigen und mehrdeutigen Ausdrücken. »Vouloir dire autre chose que ce que l'on dit, voilà la fonction symbolique« (ebd., S. 21). - Auch dieser Symbolbegriff erweist sich im Kontext einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung als zu weit, weil er es nicht erlaubt, zwischen Symbol und Allegorie zu unterscheiden; vgl. dazu Gerhard Kurz: Metapher - Allegorie - Symbol, Göttingen 1982.
milderung des bitteren Ernstes«. 75 Er ist also nichts Ursprüngliches und bietet keinen Beleg für eine vermeintlich archaische Harmonie von Mensch und Natur. - Als Denkform ist der Mythos eine Form der Differenzierung zwischen Mensch und Welt, aber er kennt nicht die von der theoretischen Erkenntnis und der ihr eigenen Art der Analyse gesetzten scharfen Grenzen, z.B. zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, bloß Wahrgenommenem und objektiv Seiendem, Innenwelt und Außenwelt, Bild und Sache, Ursache und Wirkung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft usw. Mythisches und nichtmythisches Denken verfügen zwar über dieselben Kategorien der Welterfassung, aber sie verwenden sie in je verschiedener Weise. - Die vom mythischen Denken bestimmte Wirklichkeit ist narrativ, durch traditionelle >Geschichten< strukturiert; durch Erzählen von Geschichten macht der Mythos die Rätselhaftigkeit der Welt erträglich.76 »Mythisches Denken herrscht, sofern traditionelle Erzählungen die hauptsächliche oder einzige Form allgemeiner Aussagen, allgemeiner Kommunikation und Spekulation vorschreiben«. 77 Darüber darf nicht vergessen werden, daß mythische Erzählungen zunächst Teil kultischer Praxis sind und sich davon erst im Verlaufe ihrer ästhetischen Rezeption lösen/ 8 - Das mythische Denken kann ein natürlich oder kulturell Existierendes in narrativer Form auf einen >heiligen< Ursprung zurückführen und dadurch dieses Existierende in seinem Gewordensein rechtfertigen, beglaubigen und mit Bedeutsamkeit ausstatten.79 Mythisches Sein ist dann Sein des Ursprungs: »Die Vergangenheit selbst h a t kein >Warum< mehr: sie ist das Warum der Dinge.« 8 " Mit dieser Legitimationsfunktion des Mythos eng verknüpft ist seine soziale: Indem der Mythos kulturell Existierendes in der angedeuteten Weise rechtfertigt, erweist er sich »als einer der wichtigsten F a k t o r e n des Gemeinschaftsgefühls und des Gemeinschaftslebens«. 8 ' Mythen dieser Art vermitteln eine zyklische Zeitauffassung und sind insofern dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis des in sich offenen Kontextes entgegengesetzt:82 Mit ihnen wiederholt das mythische Bewußtsein Handlungen, die in der Ur75
76 77
78 79 80 81 81
Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 23; vgl. S. 133 u. öfter, bes. S. 597, wo Blumenberg von der »Entängstigung des Menschen vor allen ihm unbegreiflichen Gewalten« spricht. Vgl. Jamme, »Gott an hat ein Gewand«, S. 270. Walter Burkert, »Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes«, in: Philosophie und Mythos, S. 16-39, Zitat S. 3 if. Zur ästhetischen Rezeption s. unten in diesem Kapitel, Teil c). Vgl. Frank, Der kommende Gott, S. γγίί. PHSF, Bd. II, S. 130. Hervorh. im Text. Ebd., S . 2 1 2 (Hervorh. im Text); vgl. Frank, Der kommende Gott, S. i n . Vgl. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von Manfred Fuhrmann, München 1971, S. 1 1 - 6 6 , hier S. 36f. 19
zeit stattgefunden haben. 83 Die These von der zyklischen Zeitauffassung des Mythos läßt sich jedoch nicht generalisieren. 84 - Die Fremdheit des mythischen Denkens rührt daher, daß es aus dem Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis der modernen Kultur ausgeschlossen ist. Daher rühren aber offenbar auch seine Attraktivität und der kulturelle Konflikt zwischen ihm und der Moderne. Es scheint, daß die moderne Kultur nicht die Bedürfnisse deckt oder ersetzt, denen das mythische Denken entspricht. Trifft diese Hypothese zu, dann stellt sich die (nach wie vor ungelöste) Aufgabe, den Mythos in das moderne Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis zu integrieren und dieses dadurch zu erweitern. »La tâche est donc d'élargir notre raison, pour la rendre capable de comprendre ce qui en nous et dans les autres précède et excède la raison.« 8 ' Bei der Lösung des Problems der Fremdwahrnehmung, das sich hier auftut, kann der poetischen Mythenrezeption eine besondere Aufgabe zukommen. 86 - Die Phänomenologie des mythischen Denkens muß daher durch eine Theorie der Mythenrezeption ergänzt werden. 87 Denn der Mythos als Denkform erlangt nur durch die Rezeption mythologischer Stoffe und Motive »Geltung in der Geschichte«. Die Rezeption von Mythen zählt zu den Faktoren der Intersubjektivität des Mythos: »Erst die Arbeit am Mythos [...] macht die Arbeit des Mythos unverkennlich.« 88 Der Mythos kann jedoch durchaus Widerstand leisten gegen die >Arbeit< an ihm. Und die Rezeption einzelner Mythen wird erst verständlich vor dem Hintergrund der Denktraditionen, die bestimmenden Einfluß haben auf die Auffassungen von dem, was der Mythos ist; die Theorie der Mythenrezeption und die Geschichte der Rezeption einzelner Mythen sind zu verankern in der Kulturgeschichte des Mythos als einer >Denkgewohnheit< (Graevenitz).
83 84
85
86 87 88
20
Vgl. PHSF, Bd. II, S. i34ff., 224; Jamme, "Gott an bat ein Gewand«, S. 149Í. Dies wird indes immer wieder versucht: Vgl. z.B. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 70, 80, 27iff. u. öfter; Mircea Eliade: Myth and Reality, New York 1975, S. i8f., und ders., Die Religionen und das Heilige, S. 48/ff.; daran anknüpfend Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. I97Í.; dazu kritisch Jamme, «Gott an hat ein Gewand«, S. 144. Maurice Merleau-Ponty, »De Mauss à Claude Lévi-Strauss«, in: Merleau-Ponty: Signes, Paris i960, S. 143-157, Zitat S. 154. Vgl. auch Cassirers Bemerkung, das - von ihm nicht mehr ausgeführte - System der symbolischen Formen könne kein einfaches sein, in dem sich die Formen einer einzigen, fortschreitenden Reihe einordnen ließen, sondern nur ein komplexes (PHSF, Bd. I, S. 29). S. dazu unten, Abschnitt c). Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 18 jf. u. öfter. Das folgende Zitat ebd., S. 185. Ebd., S.133.
b) Verdrängung und Reduktion. Ansichten vom >Volksglauben< in Aufklärung, Idealismus und Romantik Das Problem, den Mythos als fremdes Denken zu verstehen, wurde in der Religions- und Mythenwissenschaft der Aufklärung akut, als es galt, sich mit Formen primitiver Religiosität wie dem Glauben an Naturdämonen, der später so genannten >niederen Mythologies auseinanderzusetzen.89 Denn dieser Glaube war anders als der Polytheismus Hesiods und Homers kein prinzipiell vergangenes und längst in Stoff für die Künste verwandeltes Phänomen, über das man sich in mythologischen Lexika informieren konnte, sondern er war in den unteren Bevölkerungsschichten der Alten Welt, dem sogenannten >VolkWilden< der Neuen Welt noch lebendig, mit kultischen Praktiken verknüpft. Die entstehende Ethnographie zwang sogar zu einer Revision der antiken Mythologie: Aus der »conformité étonnante entre les fables des Américains et celles des Grecs« schließt Fontenelle, »que les Grecs furent pendant un temps des sauvages aussi-bien que les Américains«. 90 Charles de Brosses prägt im Jahre 1760 den Begriff des Fetischismus zur Bezeichnung primitiver Vergötterung von Tieren und unbelebten Gegenständen; diese Religionsform sei allen gebildeten Völkern in ihren »siècles [sic] d'enfance« eigen gewesen, und sie lasse sich gegenwärtig bei primitiven Völkern wie den >Negern< Afrikas beobachten, die den Fortschritt zu den »siècles de raison« noch vor sich hätten.91 Wesentlich größere Mühe mußte es der Aufklärung bereiten, den ein89
Zu den Begriffen >Naturmythologie< und »niedere Mythologie< vgl. de Vries, Forschungsgeschichte, S. 20iff.; Axel Horstmann, »Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, XXIII/1979, S. 7-54, 197-245, hier S.44; Leander Petzoldt: Dämonenfurcht und Gottvertrauen. Zur Geschichte der Erforschung unserer Volkssagen, Darmstadt 1989, S.42. Der Begriff >niedere Mythologie< wurde von F.L.W. Schwartz (Der Ursprung der Mythologie, Berlin i860) zur Bezeichnung eines » C h a o s g l ä u b i g e r N a t u r a n s c h a u u n g e n « (ebd., S. 5; Hervorh. im Text), aus dem sich die Götterlehre erst entwickelt habe, verwendet; Jan de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte, 2 Bde., Berlin 3 1970, Bd. I, S. 209) übernimmt ihn zur Bezeichnung jenes Teilgebiets der heidnischen Religion, »das nicht zur Höhe des öffentlichen Kultes der Götter heranreicht«. Dieser Begriff eignet sich wegen der von ihm implizierten, aus heutiger Sicht problematischen Evolutionstheorie des mythischen Denkens im vorliegenden Zusammenhang nicht als analytische Kategorie. Stattdessen soll heuristisch der kulturanthropologische Begriff >Volksglaube< verwendet werden, obwohl er ebenfalls problematisch ist (s. dazu unten). Mit ihm läßt sich jedoch die relative kulturelle Fremdheit des mythischen Denkens bezeichnen.
90
[Bernard Le Bovier de] Fontenelle: Œuvres complètes, hrsg. ν. G.-Β. Depping, 3 Bde., Genève 1968 (repr. Nachdruck der Ausgabe Paris 1818), Bd. II, S. 39 5 (De l'origine des fahles). Vgl. dazu Horstmann, »Der Mythosbegriff«, S. i6ff. Vgl. [Charles de Brosses:] Du Culte des Dieux Fétiches, ou Parallèle de l'ancienne Religion de l'Egypte avec la Religion actuelle de Nigritie, Farnborough 1972 (repr. Nachdruck der Ausgabe o.O. 1760), S. 5ff., i9off., Zitat S. 193.
91
21
heimischen >Volksglauben< - das, was vom Heidentum in den unaufgeklärten, vor allem ländlichen Bevölkerungsschichten Übriggeblieben war 92 - unter dieses entwicklungsgeschichtliche Schema zu subsumieren. Die christliche Interpretation heidnischer Glaubensvorstellungen war unter anderem in den Hexenwahn eingegangen, gegen den die Aufklärung erfolgreich zu Felde zog. 93 Doch mit diesem Wahn verschwanden nicht die Reste vorchristlicher Glaubensvorstellungen selbst. Konstruierte man aus ihnen das Weltbild des >Volksdeutscher< Mythologie. Es ist der Volksglaube als deutsche Mythologie, für den sich Heine primär interessiert. Er selbst spricht jedoch noch nicht von deutscher Mythologie, weil er unter Mythologie die griechisch-römische Götterlehre als einen von der Kunst bearbeiteten Traditionszusammenhang versteht: So konfrontiert er z.B. die »heiteren, durch die Kunst verschönerten Gebilde der griechischen Mythologie« mit den »germanischen Göttergestalten, woran [...] kein besonderer Kunstsinn gemodelt hatte«.95 Erst spät erweitert sich die Bedeutung, die er mit den Wörtern Mythos und Mythologie verbindet: In der im September 1851 verfaßten »Einleitende[n] Bemerkung« zu seiner Ballettpantomime Der Doktor Faust ist die Rede vom »mythischen Faust« im Unterschied zum »hi92
D e m D W B (Bd. X I I , I I , Sp. 4 8 2 ) zufolge bedeutet das N o m e n Volksglaube ren sinne die Vorstellungen, vom rationalismus
die aus alter, gröszentheils
als aberglaube bezeichnet
werden«;
»im
enge-
heidnischer zeit stammen
und
die pejorative Konnotation
wird akzentuiert mit dem im übrigen synonymen, ebenfalls schon im 18. Jahrhundert belegten N o m e n Volksaberglaube:
»die ihrem kern nach aus dem
und primitiven
zuständen
im volke erhaltenen
den menschen
umgebenden
stammenden,
u. auf ihn einwirkenden
kräfte«
heidenthum
Vorstellungen
über die
(ebd., S p . 4 7 1 ) . H e r -
vorh. im Text. 93
A u s der Fülle der neueren Publikationen zur Geschichte des Hexenwahns und seiner Bekämpfung durch die Aufklärung sei hier nur die folgende Dokumentation angeführt: Hexen
und Hexenprozesse
in Deutschland,
hrsg. v. W o l f g a n g Behringer,
München 1988. 94
Vgl. D W B , Bd. X I I , II, S p . 4 é i f f . D a z u unten, S. 3 6 f . in diesem Kapitel.
95
D H A V I I I / 1 , S. 20 {Zur Geschichte
der Religion
und Philosophie
in Deutschland.
-
Zitate nach D H A werden im folgenden üblicherweise im T e x t ohne die A b k ü r z u n g » D H A « nachgewiesen; dabei bezeichnet römische Ziffer Band- und arabische Seitenzahl. Nachweisen im Anmerkungsteil werden der Übersichtlichkeit halber die A b k ü r z u n g e n » D H A « und »S.« hinzugefügt.) A u c h in Die romantische
Schule be-
zeichnet Heine die »klassische Mythologie« als »schöne Religion« ( D H A V I I I / i , S. 242), und in der Vision der Wilden Jagd, von der in Atta Troll berichtet wird, reiten »schöne N y m p h e n « »Mythologisch splitternackt« ( D H A I V , S. 55). Vgl. ferner in Ideen. Das Buch Le Grand
die Bemerkung zur Mythologie als Unterrichtsfach
am Düsseldorfer L y c e u m ( D H A V I , S. 1 8 9 ) sowie das Gedicht »Mythologie« im Romanzerò ( D H A I I I / 1 , S. 99) und die folgenden Stellen: D H A I X , S. 4 7 (Elementargeister), S. 94 (Der Doktor Faust) u. S. 1 3 0 ( D i e Götter im Exil)·, D H A X , S. 1 3 2 (Shakespeares Mädchen
22
und Frauen)·, D H A X I I I / 1 , S . 7 8 (Lutezia, X V ) .
storischen« (IX, 80). Es muß also erneut zwischen dem gegenwärtigen Sprachgebrauch und dem fast durchgängig klassizistischen Heines und der Mehrzahl seiner Zeitgenossen unterschieden werden. Aus heutiger Perspektive sind M y thologien die - sei es wissenschaftlich erforschten, sei es künstlerisch rezipierten - Traditionszusammenhänge, in welche die Mythen als konkrete Objektivationen des mythischen Denkens eingegangen sind.96 Der Begriff >Mythologie< wird immer dann äquivok, wenn er zugleich - und etymologisch korrekt zur Bezeichnung der Mythenwissenschaft selbst dient.97 Während sich diese Aquivokation des Begriffs im damaligen und stellenweise auch noch im gegenwärtigen Sprachgebrauch nachweisen läßt, ist der Begriffsumfang heute erheblich weiter als zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vor Jacob Grimms Begründung einer >deutschen Mythologie< war der deutsche Volksglaube nicht Gegenstand der Mythologie als Wissenschaft und wurde folglich auch nicht als Mythologie im oben definierten Sinne eines wissenschaftlich erforschten Traditionszusammenhangs anerkannt. Grimms Erweiterung des Begriffs >Mythologie< stieß deshalb zunächst auf Widerstand,9® obwohl sich der Traditionszusammenhang >deutsche Mythologie< längst als mythographischer und poetischer konstituiert hatte. Und auch von der Mythen- und Religionswissenschaft und der philosophischen Ästhetik wurden der einheimische Volksglaube und seine Äquivalente bei den >wilden< und den >alten< Völkern keineswegs ignoriert, aber sie wurden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als primitiver Aberglaube qualifiziert, als gesunkenes Kulturgut oder entstellte Urreligion allegorisch interpretiert oder aber kategorisch aus den Begriffen >Religion< und >Mythologie< ausgeschlossen. Die Umrisse und den ideengeschichtlichen Kontext solcher Versuche, mit dem Volksglauben als einer Form des fremden mythischen Denkens fertigzuwerden, gilt es hier zu skizzieren. Denn die Ansichten vom Volksglauben in Aufklärung, Idealismus und Romantik sind wichtige, bislang kaum beachtete Faktoren des theoretischen Horizonts von Heines Auseinandersetzung mit Mythos und Mythologie. Von
96
J a m m e (»Gott an hat ein Gewand«,
S. iy^ff.) unterscheidet hingegen zwischen dem
>Mythischen< der schriftlosen Kulturen, dem die Erfindung der Schrift voraussetzenden >Mythos< als »bereits gestaltete^], in Ubersicht und in Übersichtlichkeit gebrachtefr] Traditionsfülle« (ebd., S. 199) und der >Mythologie< als »Gegenstand der Dichtung« (ebd., S.207). Diese Unterscheidung ist im Rahmen seiner Untersuchung, in der es um eine Erweiterung des Mythosbegriffs durch die Einbeziehung u.a. von U r - und Frühgeschichte geht, durchaus sinnvoll, würde jedoch im vorliegenden Zusammenhang, in dem es darauf ankommt, eindeutig zwischen dem M y t h o s als phänomenologischem Konstrukt, den erzählbaren M y t h e n und der Mythologie als Traditionszusammenhang zu unterscheiden, Verwirrung stiften. 97
V g l . Horstmann, » D e r Mythosbegriff«, S. 30. Horstmann führt Äußerungen von G . Hermann, F . Creuzer und J . C h . A d e l u n g an. Ä q u i v o k ist der Begriff auch noch bei Lévi-Strauss: V g l . z . B . Mythologiques
98
I, S. i^f.
V g l . Horstmann, » D e r Mythosbegriff«, S. 35.
23
Aspekten des im engeren Sinne literarischen Horizonts dieser Auseinandersetzung ist bereits in anderem Zusammenhang die Rede gewesen." Als Beispiel für die aufklärerische Einschätzung und religionskritische Auswertung des Volksglaubens sei David Humes Essay The Natural History of Religion aus dem Jahre 1757 angeführt. Denn Humes empiristischer Herleitung der Religion aus der Kombination von Daten der äußeren und inneren Erfahrung kommt paradigmatische Bedeutung zu; sie wird von Autoren wie August Wilhelm Schlegel, Creuzer und Schelling wiederholt polemisch zitiert und wirkt bis in die Ethnologie und Anthropologie des 20. Jahrhunderts fort. 100 Hume stellt fest, der menschliche Geist entwickele sich stufenweise vom Tieferen zum Höheren und abstrahiere vom Unvollkommenen das Vollkommene; nicht Monotheismus, sondern Götzendienst (»idolatry«) und Polytheismus, d.i. die auf Unwissenheit zurückgehende Personifikation einzelner Naturphänomene, sei also die erste Religion des Menschengeschlechts gewesen, und von dieser führe eine kontinuierliche Entwicklung zum Monotheismus. Diese Entwicklung sei durchaus umkehrbar - »the principles of religion have a kind of flux and reflux in the human mind« 101 - , da der Begriff des allmächtigen Schöpfergottes nicht alle religiösen Bedürfnisse des ungebildeten Volks (»the vulgar«, »the ignorant multitude«102) befriedigen könne, vielmehr der Unterstützung durch die Vorstellung dämonischer Zwischenwesen bedürfe.105 Die ersten religiösen Vorstellungen der meisten Menschen gingen nämlich auf ihre Lebenssorgen zurück, auf die »incessant hopes and fears, which actuate the human mind«104 - eine These, die bei Herder, Hegel sowie in allen relevanten Mythostheorien des 19. und in vielen des 20. Jahrhunderts wiederkehrt.105 Permanenter Gegenstand menschlicher Hoffnungen und Befürchtungen seien die unbekannten Ursachen unserer wechselnden Lebensge99
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101
Ioi 103
104 105
M
Vgl. Verf., »>Ja, die Sage ist wahr° Ebd. Darauf weist schon Gockel hin (Mythos und Poesie, S. 263, Anm. 27), der zum Vergleich einen Passus aus Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception zitiert. 2 2 ' A W S V O , Bd. I, S. 393. Hervorh. im Text. 253 Ebd., S. 396, 400; vgl. S. 186. Auf Entsprechungen in der Sprachphilosophie Vicos und W.v. Humboldts kann hier nicht näher eingegangen werden. 2 4 ' Ebd., S.402Í. Vgl. Vorlesungen über das akademische Studium, S. 85: »Allgemeinheit des Anthropomorphismus. Die Bestandtheile der Göttlichen Natur dieselben, wie die der menschlichen — nur Überlegenheit an Macht und Dauer. [...] Unvermeidlichkeit des Anthropomorphismus auch bey der reinsten Religionslehre. Der Mensch kann nicht aus seinem eignen Wesen herausgehen — zieht in Gedanken die 2,1
2
Thiere zu sich herauf, die Gottheit zu sich herunter.« » A W S V O , Bd. I, S.50.
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gen, z.B. akustischen und visuellen oder akustischen und taktilen, so daß die akustischen Zeichen visuelle oder taktile Wahrnehmungen bezeichnen können. Diese sich fortsetzende poiesis ist besonders sinnfällig im metaphorischen Transfer der Zeichen. Durch ihn werden die Worte zu Signifikanten abstrakter Vorstellungen: »Es baut sich nun also in der Sprache über der ersten Darstellung der Sinnenwelt eine zweyte unsrer unsinnlichen Anschauungen, und das Band zwischen beyden ist die Metapher.« Indem die Sprache den Abgrund zwischen der sinnlich wahrnehmbaren und der geistigen Welt überbrückt, wird sie eine allegorische Darstellung der Identität beider Welten.2'6 Aus der Theorie der Sprache geht die Theorie der Mythologie hervor, denn Mythologie ist »Bindung und Zusammenfassung der poetischen Elemente«, die der Ursprache eigen sind, »zu einer Ansicht des Weltganzen«. Derart bildet sie »eine höhere Potenz der poetischen Anlage in der Ursprache, eine zweyte Symbolik des Universums über jener ersten in der Sprachbezeichnung enthaltenen«-1'7 Mythos und Sprache sind analog: Die »rohen Menschen« können sich die Veränderungen, die sie erfahren, nur »unter dem Bilde ihrer eigenen Wirkungsart« vorstellen und bevölkern daher die äußere und innere Natur mit Wesen, die ihnen ähnlich, aber mächtiger als sie sind.2'8 Diese Absenz fester Grenzen zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven entspricht nicht nur den Gesetzen der Phantasie, sondern auch praktischen Bedürfnissen, etwa dem, die Zukunft zu kennen und sie zu beeinflussen (hier folgt Schlegel durchaus Humes Theorie). Ursprache und Mythologie sind zwei »Stufen oder Bildungsepochen« der »Naturpoesie«, die unfreiwillig ist und vitalen Bedürfnissen dient. Die »Kunstpoesie« hingegen verwandelt die poiesis in eine »freye schaffende Wirksamkeit der Phantasie«, indem sie »willkührlichen absichtlichen Gebrauch« von der Naturpoesie macht. Die Kunstpoesie ist also »Poesie der Poesie«.2'9 Schlegel versucht, den genetischen Zusammenhang zwischen Natur- und Kunstpoesie, d.i. die Verwandlung des Mythos von einer Form des Wirklichkeitsverständnisses in ästhetischen Schein, nicht nur empirisch zu belegen, sondern auch transzendental aus dem höchsten Prinzip von Schellings Identitätsphilosophie, der intellektuellen Anschauung, zu deduzieren. Die intellektuelle Anschauung ist gemeint, wenn er von dem »ursprünglichste[n] Akt der Fantasie« spricht, »wodurch unsre eigne Existenz und die ganze Außenwelt für uns Realität gewinnt.« Extremer Gegensatz dieses Akts ist die ihrer selbst bewußte »künstlerische Wirksamkeit der Fantasie«, die für ihre Produkte »keine Ansprüche auf Wirklichkeit« macht.260 Zwischen beiden liegt die my2,6
Vgl. ebd., S.4oif., Zitate S.401, 402. Ebd., S. 393; vgl. S.388. 2 8 ' Vgl. ebd., S. jof., Zitat S. 50. 2 " Ebd., S. 393 (Hervorh. im Text), 186, 402 (vgl. 404), 388. 260 Ebd., S.441. 257
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thenbildende Phantasie, denn Mythen »sind Dichtungen, die ihrer Natur nach auf Realität Anspruch machten.« 261 Dies deutet auf eine »Epoche des menschlichen Geistes«, in der die Phantasie herrscht, aber noch nicht zum vollen Bewußtsein ihrer Herrschaft gekommen ist, weil noch keine Scheidung zwischen ihr und dem Verstand stattgefunden hat. Schlegel vergleicht diese Epoche mit dem Zustand des Träumens und fährt fort: Der Zeitpunkt, wo der mythische Glaube aufhört und eine prosaische Ansicht der Dinge an seine Stelle tritt, würde demnach dem Erwachen zu vergleichen seyn, welches die Herrschaft der Fantasie durch Sorgen und Geschäfte, wobey der Verstand die Oberhand hat, aufhebt. Die Poesie ist eine künstliche Herstellung jenes mythischen Zustandes, ein freywilliges und waches Träumen. 262
Aus der Deduktion der Mythologie als einer im »Gange der menschlichen Cultur« notwendigen »Schöpfung der Fantasie« folgert Schlegel, ihr müsse »Wahrheit zugrunde liegen«; die aufklärerische Gleichsetzung von Mythos und Fabel sei also zu revidieren: Das Fabelhafte ist also nicht bloß für wahrhaft gehalten worden, sondern es ist in einem gewissen Sinne wahr; ja man kann sagen, daß in dem Geiste ächter Dichtungen alle Wahrheit beschlossen liegt. Denn die verstandesgemäße Kenntniß und Beschreibung der Welt ist keine Darstellung mehr, keine Ansicht aus dem Ganzen des menschlichen Gemüths, sondern vermittelst einer vereinzelten Kraft desselben, mit möglichstem Abzug derjenigen, welche allein Realität verleiht, der Fantasie. Wenn also der Glaube an Mythologie verlorengeht, so ist es aus Mangel an Sinn dafür, und jede poetische Wiederbelebung ist eine Anerkennung des in ihr liegenden wahren Gehalts. 2 ^
Die >mythische Bezeichnung«, fügt Schlegel hinzu, ist wie die der Ursprache metaphorisch; durch sie wird Sinnliches auf Geistiges übertragen. Deshalb ist sie selbst wiederum übertragbar. »Wie die Mythologie eine Umschaffung der Natur ist, so ist sie selbst ins unendliche poetischer Umschaffungen empfänglich.«264 Blumenberg fügt dem nichts grundsätzlich Neues hinzu, wenn er das Rezeptionsmoment des Mythos, das Bedingung seiner »intersubjektive[n] >UbertragbarkeitArbeit am Mythos« zu bestimmen sucht und festhält, der Mythos sei wegen »der Verformbarkeit seiner Elemente« »stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich«. 26 ' Mit dem Begriff der >poetischen Wiederbelebung« lassen sich aus historischer, mit dem der >Arbeit am Mythos« aus gegenwärtiger Perspektive Aspekte von Heines Mythenrezeption beschreiben, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird.
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265
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S.440. S.441. S.441. Hervorh. von mir. S.446.
Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 185, 240.
Die Geschichte schreibt jedoch der Mythenrezeption bestimmte Grenzen vor, wie Schlegel unterstreicht: Anspielungen auf Mythen setzen voraus, daß diese dem Publikum verständlich sind. Die »große allgemeine Antinomie des antiken und modernen Geschmacks«, der »klassischen* und der >romantischen< Poesie, wirkt sich auch auf die Mythologie aus: Nach dem Sieg des Christentums ist die klassische Mythologie als religiöses und auch ästhetisches Phänomen dazu verurteilt, aus unserer Kultur zu verschwinden; wir glauben nicht mehr an sie und verstehen sie immer weniger.266 Indem Schlegel derart die klassische Mythologie historisiert, stellt sich ihm das Problem neu, das schon seine Kritik an Moritz' verkürzendem Mythosbegriff aufwarf. Es läßt sich nun wie folgt formulieren: Das mythische Denken ist zwar nicht mehr allein bestimmend für unser Weltbild, aber es hat eine relative Wahrheit und entspricht irreduziblen Bedürfnissen, muß also >anerkannt< werden; eine historische Gesetzlichkeit läßt indes die klassische Mythologie als Produkt des mythischen Denkens aus unserer Kultur verschwinden. Welche Mythologie kann nun die klassische ersetzen und Medium unserer >Anerkennung< des mythischen Denkens werden? Schlegel glaubt nicht wie Herder, daß die Edda als Ersatz fungieren kann; denn als polytheistische Religion gehorche die germanische >Götterlehre< denselben Gesetzen wie die griechische, und folglich sei sie ebenfalls durch die christliche »Revolution des menschlichen Geistes« besiegt worden.267 Im Unterschied zu Friedrich Schlegel, dem frühen Schelling und dem Autor des >ältesten Systemprogramms* glaubt er auch nicht an eine »neue Mythologie«; schon in den Jenaer Vorlesungen bemerkt er, eine Mythologie könne »ebensowenig die willkürliche Erfindung eines einzelnen sein als eine Sprache. [...] Der Nationalmythus ist eine gemeinschaftliche Ansicht der Natur und der Welt, die ein gesamtes Volk hat.«2á8 Deshalb seien alle Versuche, auch die politischen, eine neue Mythologie zu stiften - Schlegel verweist auf entsprechende Bemühungen der französischen Republikaner - , zum Scheitern verurteilt gewesen.269 In Schlegels Augen hat indes das Mittelalter mit dem Rittertum 166 267
V g l . A W S V O , B d . I , S. 195, 45 jff-, Zitat S. 1 9 $ . Ebd., S . 4 5 5 . V g l . A W S Lohner, B d . I V , S.88: [...] jene polytheistischen Religionen waren eins im Prinzip, der Unterschied lag nur in nationalen und klimatischen M o d i fikationen, ihre Götterversammlungen waren nur verschieden projektierte Bilder der Naturkräfte« (vgl. auch ebd., S. 142).
268
A W S V O , B d . I , S . 5 8 f . Vgl. A W S Lohner, B d . I V , S. 1 2 7 und vor allem S. 1 2 2 : »So weit ich die französischen Ritterromane kenne, darf ich versichern, daß sie sämtlich [...] etwas von der mythologischen K r a f t in sich haben, eine Realität der Fiktion, welche keine Erfindsamkeit des isolierten Dichters zu geben vermag, sondern die nur aus dem gemeinsamen Streben eines Zeitalters hervorgeht«.
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Vgl. A W S V O , B d . I , S . 3 5 6 : » D e r tolle neulich in Frankreich gemachte Versuch, plötzlich eine neue republikanische Mythologie zu stiften, mußte außer der G e w a l t samkeit der Urheber (da sich Mythologie nur durch den stillen G a n g der N a t u r im Lauf der Zeiten erzeugen kann) auch aus dem simpeln G r u n d e mislingen, weil es den 57
eine der antiken Mythologie äquivalente gemeinschaftliche Ansicht der N a tur und der Welt< hervorgebracht. D e n n das Rittertum stehe nicht in offenem Widerspruch zur Verachtung der sinnlich wahrnehmbaren Welt und genüge zugleich dem mythischen Bedürfnis nach >Umschaffung< dieser Welt. 2 7 0 E s gehe also aus der Mischung heterogener Elemente hervor, nämlich des C h r i stentums und der germanischen »Stammesart«, als deren wichtigstes Merkmal Schlegel die »Tapferkeit« bestimmt. 2 7 ' Folglich unterscheide sich die moderne Kultur, die auf der mittelalterlich-ritterlichen basiere, von der >einfachen< antiken durch den Konflikt zwischen N a t u r und Geist, der wiederum Perfektibilität ermögliche. 2 7 2 Schlegel akzentuiert diese Antithetik, indem er den Gegensatz zwischen der antiken und der mittelalterlich-christlichen Mythologie, die er auch als die >romantische< bezeichnet, 2 7 3 auf die Gegensätze zwischen Endlichem und Unendlichem, H a r m o n i e und Melancholie bezieht. 2 7 4 Geschichte wird derart in Philosophie der Geschichte übersetzt - eine Tendenz der idealistischen Ästhetik, die Peter Szondi beschrieben hat. 2 7 5 D i e Antithese von >einfacher< antiker und konflikthaltiger moderner Kultur mündet in ihre dialektische Aufhebung. Schlegel stellt fest, daß die Idee des Schicksals, die das Erhabenste und Furchterregendste des mythischen Denkens der Griechen und Kern ihrer Tragödiendichtung sei, von einer U b e r schreitung jener >Einfachheit< zeuge: D e r Mensch, der mit dem Zufall, der in der N a t u r regiere, unzufrieden und getrieben sei, das Absolute zu suchen, entdecke in sich das Vermögen sittlicher Selbstbestimmung und setze ihm das Schicksal entgegen, das er in die Außenwelt projiziere; das Schicksal fungiere als »Prüfstein der Sittlichkeit«. 2 7 6 D i e Tragik des Konflikts zwischen Schick-
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Franzosen an Fantasie fehlt, und sie von lauter allegorisirten Verstandesbegriffen ausgingen.« Dieser Satz findet sich in den Jenaer Vorlesungen von 1798 und ist daher vermutlich auf den 1794 von Robespierre initiierten »culte de l'Etre suprême« oder auf die 1796 ins Leben gerufene, von Bonaparte 1801 unterdrückte »théophilanthropie« zu beziehen, zu deren Anhängern u.a. M.-J. Chénier und B. de Saint-Pierre gehörten. Vgl. ebd., S. J7f., 4j6f. Vgl. A W S Lohner, Bd. IV, S. 83; A W S Lohner, Bd.V, S.ziff. Vgl. A W S V O , Bd.I, S.456; A W S Lohner, Bd.IV, S. Sii., 9 9 f.; A W S Lohner, Bd.V, S. 24ff. bes. S. 26. - Schlegel unterstreicht, daß die »Foderung« [sie] oder »Idee« »eines unendlichen Fortschrittes im Menschengeschlechte« eine Hypothese und kein Faktum ist (vgl. A W S V O , Bd. I, S. 188f.). >Christliche Mythologie^ >Mythologie des Mittelalters< und >romantische Mythologie< sind in Schlegels Sprachgebrauch synonyme Termini: Vgl. z.B. A W S Lohner, Bd.IV, S. 80, 100, iozff., 152. Vgl. A W S Lohner, Bd.V, S.2iff. Vgl. Peter Szondi, »Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«, in: Euphorien L X V I / 1 9 7 2 , S. 174-206. S. auch Schlegels luzide Ausführungen zum Verhältnis von Geschichte und Theorie ( A W S V O , Bd. I, S.i8 7 ff.). Vgl. ebd., S.454Í., Zitat S.455. Vgl. A W S Lohner, Bd.V, S.éiff.
sal und Sittlichkeit rühre daher, daß beide absolut seien. Auch die Götter hätten sich dem Schicksal unterworfen oder sich gegen es aufgelehnt; Schlegel führt die Revolte des Prometheus als bedeutendstes Beispiel dafür an. Der große Wendepunkt in der Religionsgeschichte sei die Uberwindung der Schicksalsidee durch die Idee der Vorsehung: »Es gibt kein andres Mittel sich der Gewalt des Schicksals zu entziehen, als sich in die Arme der Vorsehung zu werfen.«277 Daß diese Antithetik dialektisch ist, wird deutlich, wenn Schlegel hervorhebt, worin die beiden Mythologien sich berühren: Obwohl die antike >einfach< ist, mündet sie in einen Konflikt; und obwohl die moderne - d.i. die aus dem Mittelalter hervorgegangene - konflikthaltig ist, strebt sie nach der »Verschmelzung« der heterogenen Elemente, die sie konstituieren.278 Und wie der griechische Polytheismus gründet auch das Rittertum in traditionellen Erzählungen, die es beglaubigen, indem sie es auf eine Sphäre des Heiligen beziehen. Als Mythologie, folgert Schlegel, konnte das Christentum »Grundprinzip der Einheit Europas« werden.279 Schlegel spricht daher auch von einer »gemeinsame[n] Nationalität des neueren Europa«280. Warum sie eine gemeinsame ist, wird deutlicher, wenn er in den Berliner Vorlesungen die literarischen Quellen der »Mythologie des Mittelalters« aufführt: Zu ihnen zählt er unter anderem das deutsche heroische Epos - Nibelungenlied und Heldenbuch - , die Artusdichtung und den höfischen Roman, ferner die Heiligenlegenden, die Fabliaux, die spanische Romanzendichtung und Volksbücher wie das von Melusine. Schlegel spricht vom »dunkeln und eher abschreckenden Charakter« des MelusineStoffs, 28 ' schließt ihn und andere Zeugnisse des Volksglaubens an Naturdämonen jedoch nicht aus dem Begriff der Mythologie aus. Er gibt vielmehr, einen Gedanken Herders entwickelnd, zu verstehen, daß eine Erneuerung der »Nationalmythologie« aus allen Quellen der >Mythologie des Mittelalters< schöpfen müßte.282 Und wie bei Herder ist auch bei ihm das wichtigste Argument für eine solche >Erneuerung< ein poetologisches: 277
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Ebd., S.455; vgl. S.456. Schlegels Ausführungen zur Schicksalsidee in der griechischen Tragödie lesen sich wie eine Vorwegnahme entsprechender Gedanken Cassir e r (vgl. P H S F , Bd. II, S. 2J4ff.). Vgl. A W S Lohner, Bd. IV, S. 99t.; A W S Lohner, Bd. V , S. 26. Schlegel definiert schon in den Berliner Vorlesungen die Dialektik als universelles Gesetz: »Die Dreyeinigkeit. Die Dreyheit gleichsam die geheimnißvolle Einheit. Ahndung des allgemeinen Natur und Intelligenz Gesetzes: These, Antithese und Synthese« ( A W S V O , Bd. I, S-4Í7)· Vgl. A W S Lohner, Bd. IV, S. 82. Schlegel verwendet mehrfach die Termini christliche Mythologie< oder christlicher Mythus*; vgl. A W S V O , Bd. I, S.458f., 461. A W S Lohner, Bd. IV, S. 80. Vgl. ebd., S. 13 iff., Zitat S. 1 3 1 . Vgl. A W S Lohner, Bd. IV, S. 114. Schlegel bezieht dieses Postulat hier explizit nur auf das Nibelungenlied und an anderer Stelle (vgl. ebd., S. 127) auf den höfischen Roman. Aus dem Gang seiner Überlegungen läßt sich jedoch folgern, daß auch die ande59
Da alle Poesie ein mythologisches Fundament haben muß, um selbständig auf sich zu ruhen, so wird es vor allen Dingen wichtig sein zu untersuchen, inwiefern sich noch eine deutsche Mythologie, oder Reste derselben, oder überhaupt eine romantische erhalten. 28 '
Im Unterschied zu Schlegel hat Heine zwar keine Mythostheorie formuliert. Schlegels Begriffe der >poetischen WiederbelebungMythologie des Mittelalters< und der - sei es europäischen, sei es deutschen - >Nationalmythologie< lassen sich jedoch in Heines >mythischem< Denken nachweisen. Heine interpretiert diese Begriffe religions- und sozialphilosophisch um, so daß sie neue Bedeutungen erlangen, die Schlegels Intentionen zum Teil entgegengesetzt sind. Auch die aufklärerische Gleichsetzung von Volksglauben und Aberglauben, das frühromantische Programm der >neuen Mythologies die goethezeitliche Deutung der Mythologie als autonomer Kunstwelt, die spätromantische >Entstellungstheorie< und der Hegeische Satz vom Ende der Mythologie sind als Impulse in Heines >mythischem< Denken wirksam. Dessen Ziel ist zunächst die Erneuerung und kulturkritische, ja revolutionäre Umwertung des verachteten Volksglaubens, seine Restitution als gesamtgesellschaftliches Weltbild. Doch indem Heine das Ziel verfolgt, sieht er sich gezwungen, es zu revidieren. Formale Voraussetzung dieser Dynamik seines >mythischen< Denkens ist ein kompliziertes Ineinander von Mimesis des Mythos und Mythoskritik, mythosartiger Rede und Rede über den Mythos, das es nun zu beschreiben gilt.
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ren literarischen Faktoren der >Mythologie des Mittelalters< poetisch >wiederbelebt< werden sollen. Der Begriff >national< ist in diesem Zusammenhang noch nicht dem Begriff >europäischklassisch< oder >antik< entgegengesetzt. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Schlegels Mythenwissenschaft einerseits und derjenigen Jacob Grimms sowie Heines mythologischer Essayistik andererseits. A WS Lohner, Bd. IV, S. 80.
2. Grundzüge und Probleme von Heines Umgang mit Mythos und Mythologie
a) >AberglaubeNationalerinnerungenFabeleieneinfachen< Volks, für die auch Heines Schriften Belege bieten,1 durch seine Nüchternheit ab. Die große Armut der Inselbewohner, die vom Fischfang leben oder als M a trosen dienen, und die Gefahren, die sie täglich zu bestehen haben, kommen zur Sprache, ohne beschönigt zu werden. Auch ihre Verbundenheit mit der kargen »Sandinsel«, die nicht den Rahmen für eine Idylle abgibt, und ihr G e meinschaftsgefühl werden nicht idealisiert, sondern als Aspekte einer primitiven Form von Vergesellschaftung beschrieben: Was diese Menschen so fest und genügsam zusammenhält, ist nicht so sehr das innig mystische Gefühl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche Unmittelbarkeit. Gleiche Geisteshöhe, oder, besser gesagt, Geistesniedrigkeit, daher gleiche Bedürfnisse und gleiches Streben; gleiche Erfahrungen und Gesinnungen, daher leichtes Verständniß unter einander; und sie sitzen verträglich am Feuer in den kleinen Hütten, rücken zusammen, wenn es kalt wird, an den Augen sehen sie sich ab, was sie denken, die Worte lesen sie sich von den Lippen, ehe sie gesprochen worden, alle gemeinsamen Lebensbeziehungen sind ihnen im Gedächtnisse, und durch einen einzigen Laut, eine einzige Miene, eine einzige stumme Bewegung erregen sie unter einander so viel Lachen, oder Weinen, oder Andacht, wie wir bey unseres Gleichen erst durch lange Exposizionen, Expektorazionen und Deklamazionen hervorbringen können. [VI, 141] Der Schreibende weiß also, daß er und seinesgleichen an der Form kollektiver Wirklichkeitsauffassung und -gestaltung, die er bei den Insulanern findet, nicht Teil haben können: [...] wir leben im Grunde geistig einsam, durch eine besondere Erziehungsmethode oder zufällig gewählte, besondere Lektüre hat jeder von uns eine verschiedene Charakterrichtung empfangen, jeder von uns, geistig verlarvt, denkt, fühlt und strebt anders als die Andern [...]. [VI, 141 f.]
Vgl. unten, Kap. 3 a). 61
Fremd sind sich nicht nur die Gebildeten untereinander, fremd ist ihnen auch die Form von Kultur, die sich bei den >Eingeborenen< findet. Wie kann diese dann von den Gebildeten überhaupt erfaßt werden? Begrifflich offenbar nur als Negation der eigenen. Daher rührt die Antithetik, die Heines Porträt strukturiert. Besonders auffallend sind die Gegensätze zwischen der »gemeinschaftlichein] Unmittelbarkeit« der Inselbewohner, deren Selbstgefühl mit ihrem Gemeinschaftsgefühl verschmilzt,2 und der Mittelbarkeit und Vereinzelung, die den gebildeten Städter von seinesgleichen entfremden; zwischen einer auf mündlicher Kommunikation basierenden Kultur, deren Traditionen »im Gedächtnisse« aufbewahrt werden, und einer auf Schrift und »Lektüre« basierenden; zwischen der Insel als Zentrum von Weltbild und Lebenswelt derer, die auf ihr leben, und der >Dezentrierung< von Weltbild und Lebenswelt bei dem schreibenden Insel-Touristen und seinesgleichen.3 Diese Antithetik scheint schließlich doch in Verklärung der verlorenen Unmittelbarkeit zu münden. Das Porträt der Inselbewohner führt auf die kulturhistorische Reflexion, daß in dem bei ihnen zu beobachtenden »Zustande der Gedanken- und Gefühlsgleichheit« »oft ganze Völker und [...] oft ganze Zeitalter« gelebt hätten wie z.B. das Mittelalter unter der Herrschaft der katholischen Kirche, wodurch »viel ruhiges Glück [...] gegründet ward« (VI, 142). Heine verfällt indes nicht in den Ton von Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur, obwohl ihr sein Reisebild viel verdankt 4 Die Evokation des Mittelalters gerät unversehens zur Verteidigung der Reformation, mit der die mittelalterliche »Geistesknechtschaft« beendet worden sei; die beklagte Differenzierung erweist sich als Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation. Der Redende wird sich des Selbstwiderspruchs bewußt und interpretiert auch ihn kulturhistorisch: »[...] eben dieser Meinungszwiespalt in mir selbst giebt mir wieder ein Bild von der Zerrissenheit der Denkweise unserer Zeit« (VI, 143). Rückblickend zeigt sich nun, daß der eingangs porträtierten Kultur der Inselbewohner in Wahrheit das Ab- und Ausgegrenzte und die Statik feh-
* Zur Verschmelzung von Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl im mythischen Denken vgl. Cassirer, PHSF, Bd. II, S. 209. Cassirer spricht seinerseits vom Hervorgehen der Wissenschaft aus der >mythischen Unmittelbarkeit< (vgl. ebd., S. XI), aber er macht klar, daß der Eindruck der >Unmittelbarkeit< des Mythos auf einer perspektivischen Täuschung beruht, da auch seine Objektivität eine vom Bewußtsein vermittelte ist (vgl. z.B. P H S F , Bd. I, S. 6ff.). 3 Zum Begriff der Dezentrierung vgl. Habermas, Theene des kommunikativen Handelns, Bd.I, S. io6ff., 275 u. öfter. Habermas übernimmt den Begriff von Piaget. 4
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Vgl. Hermands Nachweise in D H A V I , S. 76off. und unten, Anm. 16. Vgl. die unzweideutige Absage an die retrospektive Ganzheits-Nostalgie der Romantik in Cap. IV der Bäder von Lukka: »Einst war die Welt ganz, im Alterthum und im Mittelalter, trotz der äußeren Kämpfe gabs doch noch immer eine Welteinheit, und es gab ganze Dichter. Wir wollen diese Dichter ehren und uns an ihnen erfreuen; aber jede Nachahmung ihrer Ganzheit ist eine Lüge« ( D H A V I I / i , S.95).
len, die von der Antithetik des Porträts suggeriert wurden: Auch die >Eingeborenen< »stehen an der Grenze einer solchen neuen Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird gestört durch das Gedeihen des hiesigen Seebades, indem sie dessen Gästen täglich etwas Neues ablauschen, was sie nicht mit ihrer altherkömmlichen Lebensweise zu vereinen wissen« (VI, 143).5 Heine macht im folgenden vor allem ökonomische und psychohistorische Faktoren für den sich anbahnenden Wandel von Lebenswelt und Weltbild der >Eingeborenen< verantwortlich. Der Konflikt zwischen einfacher und differenzierter, relativ primitiver und moderner Kultur erweist sich also als Problem nicht nur der Gebildeten, sondern auch der >Eingeborenen< selbst; die Distanz zwischen beiden ist relativ, nicht absolut. Wenn aber der Schreibende bei den fremden Eingeborenem das eigene Problem wiederfindet, muß er dann nicht auch im eigenen Bewußtsein das eingangs porträtierte fremde wiederzufinden suchen? Diese Frage zu bejahen, drängt sich auf, wenn man einen besonders irritierenden Zug des Reisebilds ins Auge faßt: die Kombination der Rede über das fremde Bewußtsein mit der Nachahmung dieses Bewußtseins. Heine kommt im Anschluß an Betrachtungen über Goethe, dessen >Gesundheit< er der >Krankheit< seiner Zeit gegenüberstellt, ausführlich auf die »seemännischen Wundersagen« (VI, 149) zu sprechen, die ihm, wie er berichtet, von den Seeleuten erzählt werden oder ihm bei seinen Spaziergängen am Strand der Insel einfallen. Offenbar interessiert er sich für die Sagen, weil sie ein Faktor des eingangs evozierten, bedrohten Gemeinschaftsgefühls, der >Gleichheit der Erfahrungen und Gesinnungen< sind; sie bilden ein Mittel sozialer Kommunikation. Heine begnügt sich nun aber nicht damit, von diesen Sagen zu sprechen; er ahmt außerdem die ihnen zugrunde liegende Denkweise nach: Es geht ein starker Nordostwind, und die Hexen haben wieder viel Unheil im Sinne. Man hegt hier nämlich wunderliche Sagen von Hexen, die den Sturm zu beschwören wissen; wie es denn überhaupt auf allen nordischen Meeren viel Aberglauben giebt. [VI, 148]
Mit diesen Sätzen malt Heine ein kleines Vexierbild. Zunächst scheint er zu einer >poetischen WiederbelebungWundersagen< ein Denken, das mit dem herrschenden >modernenebenerdigenZitatmythologie< vgl. Renate Böschenstein, »Mythologie zur Bürgerzeit. Raabe - Wagner - Fontane«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1986, S.7-34, bes. S. 21. Zur hermeneutischen Aufgabe, das Andere als das Andere unserer selbst und die Anderen als die Anderen unserer selbst zu erfahren, vgl. Hans-Georg Gadamer: Das Erbe Europas, Frankfurt/M. 1983, S. 28ff. Zu den Parallelen zwischen Heines Begriff des Unheimlichen und demjenigen Freuds s. unten, Kap. 3 c), S. i48ff.
reduziert wird; es rebelliert aber gegen diese Reduktion, weil es irreduziblen Bedürfnissen gehorcht, deren Befriedigung das >moderne< Denken versagt. Daher rührt die Attraktivität der seemännischen WundersagenNationalerinnerungenfigürliche< Rede von den Blumen als >nichtfigürliche< präsentiert, verleiht nicht nur diesem Bericht und dem berichteten Vorgang Bedeutung, sondern sie taucht auch die zuvor zerstreut wiedergegebenen oder erinnerten s e e m ä n nischen Wundersagen< und Heines eigenes Interesse an ihnen in ein neues Licht. D i e Rede von den Blumen knüpft motivisch an den Vineta-Passus an. D i e Reflexion selbst geht aber nicht aus der poetisch-reinszenierenden, sondern aus der >modernAberglaube< subsumiert, und ihre poetische Reinszenierung wird auch nicht mehr - wie durch das Zitatverfahren - als vermittelte gekennzeichnet. Die Reflexion stiftet vielmehr einen diskursiven >BezugsrahmenErscheinungen< des sozialen und kulturellen Lebens Gemeinsames das sie zu historisch bedeutsamen macht; 2. die Bedeutung selbst, d.i. den von den Erscheinungen veranschaulichten >GedankenIdee< 3. die >Wechselwirkung< zwischen beiden. Trotz dieser Aquivokation des Begriffs fungiert er bei Wiese und Preisendanz (Heinrich Heine, S.43Í-, 49, 53, 56 u. öfter) als Kategorie, mit der sie Heines >Schreibweise< interpretieren. Interpretationen, die von dem zu interpretierenden Gegenstand äquivoke Begriffe übernehmen, laufen jedoch Gefahr, die Äquivokationen zu reproduzieren, anstatt sie zu analysieren. Der Begriff der Signatur kommt daher im folgenden nicht als interpretative Kategorie in Betracht. 19
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Im Kontext der zitierten Reflexion wird die brisante Verknüpfung des Nationalen mit dem Heidnischen freilich noch entschärft (vgl. D H A VI, S. 161); in Heines Schriften über Deutschland (vgl. Kap. 3) erfährt sie hingegen eine aggressiv-kulturkritische Zuspitzung.
in den Sagen, die nun auf individuelle Vermittlung nicht angewiesen, sondern notwendig präsent zu sein scheinen. Und wenn die Sagen als Zeugnisse des kollektiven >alten Glaubens< aufgefaßt werden, sind sie Gegenstände dessen, was Jacob Grimm >deutsche Mythologie< nennt.20 Das Bild der Pflanzen, das Heine im Vineta-Passus verwendet, läßt also auch an die Pflanzenmetaphorik denken, mit der die Brüder Grimm die Unvermeidlichkeit dessen, was sie >Natur-National-< oder >Volkspoesie< nennen, zu bezeichnen suchen.21 Heine bleibt, wie bereits erwähnt,22 dem klassizistischen Gebrauch des Terminus >Mythologie< verpflichtet; den Terminus >deutsche Mythologie< gebraucht er nicht explizit. Auch bei ihm kann aber der >Volksglaube< eine der zentralen Funktionen übernehmen, die der Mythologie im Zuge ihrer idealistischen und romantischen Wiederannäherung an die Wahrheit zugesprochen werden: Autoren wie Jacob Grimm, Creuzer und der späte Schelling lehren, daß die Mythologie einer Nation die sie konstitutierende Tiefenschicht ihres Seins ist.23 Auf diesem ontologischen Verständnis der Mythologie und der Denkform, die sich in ihr objektiviert, fußt die systematisierende Allegorese der Zeugnisse des deutschen Volksglaubens, die Heine in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland versucht.24 Und sie liegt schon der Reflexion über die >Nationalerinnerungen< zugrunde. Diese steht quer zu dem perspektivierenden Zitatverfahren, durch das sich der Vineta-Passus auszeichnet, denn sie impliziert die Überzeugung, daß der Zusammenhang von Sage und Nation, der die Sage zu einem Stück nationaler Mythologie macht, nicht Ergebnis subjektiver Vermittlung ist, sondern objektiv vorgegeben. Deshalb, so scheint es nun, sind die >Wundersagen< bei den >Seeleuten< lebendig, und deshalb werden ihre Inhalte vom Erzähler in der Gegenwart wiedererkannt, poetisch reinszeniert; der Gebildete und das >Volk< haben eine letztlich identische Sprache. Und auf die Hervorkehrung dieses objektiven, kollektiven Seins zielt Heines Uberführung seiner zunächst >figürlichen< Sprache in den Bericht von einer Handlung, die rituell ist, weil sie als unmittelbare Teilhabe an jener verborgenen Tiefenschicht aufgefaßt wird. Gegen die einseitige Orientierung an den literarisch überlieferten griechischen Mythen macht Heine die Einheit von erzählerischer Erinnerung und religiöser Handlung, Mythos und Ritus geltend.25 Aber indem er sie ontologisch interpretiert, setzt er seine eigene Perspektivierung des Mythischen außer Kraft. Der Begriff des Nationalen nimmt hier keine chauvinistische Färbung an, sondern zielt im Sinne Herders, dem Heine in der Romantischen Schule enthu20
S. dazu oben, Kap. 1 b), sowie S. 66, Anm. 1 1 . Vgl. Bausinger, Formen der »Volkspoesie«, S. 24. 22 S. oben, Kap. 1 b), S. 22. 25 S. dazu oben, Kap. 1 b) bes. S. 3 5ff24 S. dazu unten, Kap. 3 b). 2 ' Zur Diskussion über das Verhältnis von Mythos und Kultus s. oben, Kap. 1 a), S. 7; zum Thema auch unten, Kap. 5, S. 281. 21
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siastisches L o b spendet, auf Erkenntnis und Anerkennung des einem >Volk< Eigentümlichen. 26 Im Nordsee-Essay
distanziert sich Heine sogar von seiner
studentischen Begeisterung für die »deutschefn] Antiquitäten aus der blauesten Zeit« (VI, 153), die in den von ihm besuchten Bonner Vorlesungen A.W. Schlegels, Arndts und anderer behandelt worden seien: »[...] auf keinen Fall hätte ich damals geglaubt, daß ich einst am Strande der Nordsee wandeln würde, ohne an die alte Göttinn« - gemeint ist Hertha - »mit patriotischer Begeisterung zu denken« (VI, 15 4). 27 Später, in Teilen der Deutschland-Essays, setzt sich solche »Begeisterung« fürs Altdeutsch-Germanische erneut durch. Die kritisch-distanzierte Einstellung dazu ist keineswegs, wie kürzlich behauptet worden ist, ein eindeutiges und fortan unumstößliches Ergebnis des Nordsee-Essays,28
sondern sie gewinnt erst nach dem Bundestagsbeschluß ge-
gen das Junge Deutschland vom Dezember 1835 ein klares Ubergewicht; Heine sieht sich nun konfrontiert mit der Durchschlagskraft der chauvinistischen und antisemitischen Vereinnahmung dessen, was als nationale deutsche M y thologie und >alter Glaube< klassifiziert worden ist. 29 Angesichts dieser Durchschlagskraft wird das ontologische Mythosverständnis zunehmend fraglich und weicht dem >modernenNa26
27
28
29
70
Vgl. D H A VIII/i, S. 168: »[...] Herder saß nicht wie ein literarischer Großinquisitor zu Gericht über die verschiedenen Nazionen [...]. Nein, Herder betrachtete die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters, jedes Volk dünkte ihm eine besonders gestimmte Saite dieser Riesenharfe, und er begriff die Universal-Harmonie ihrer verschiedenen Klänge.« Zur Begriffsgeschichte vgl. DWB, Bd. VII, Sp.425, s.v. »national«; U. Dierse und H. Rath, »Nation, Nationalismus, Nationalität«, in: HWPH, Bd. VI, Sp.406-414, bes. Sp.410. Zum Thema s. auch oben, Kap. 1 b), und unten, Kap. 3. Vgl. ähnlich spöttische Äußerungen im »Ilsenburg«-Bruchstück der Harzreise (DHA VI, S.231). Vgl. Maria Carolina Foi: Heine e la vecchia Germania. Le radici della questione tedesca tra poesia e diritto, Milano 1990, bes. S. 164, wo Foi den entscheidenden, eine »svolta dello scrittore« markierenden Unterschied zwischen der Harzreise und dem Nordsee-Essay darin erblickt, daß Heine in diesem die romantischen Vorstellungen vom alten Deutschland und dem Volksglauben, in dem Poesie und Recht ursprünglich identisch seien, eindeutig und endgültig überwinde: »II distacco dal volk, l'abbandono della tradizione popolare tedesca, diventa il presupposto necessario per une letteratura che [...] vuole contribuire all'emancipazione sociale e politica della Germania.« Fois These ist m.E. nicht haltbar, da sich im Nordsee-Essay die von ihr beschriebene progressistische Tendenz und jene entgegengesetzte, retrospektive überlagern, die oben in dem Passus über die >Nationalerinnerungen< nachgewiesen wurde, und da auch die Napoleon-Darstellung in diesem Essay mythisierend und folglich retrospektiv ist (s. dazu unten in diesem Kapitel). Das tangiert jedoch nicht das Verdienst von Fois gründlicher Studie, in der Heines Auseinandersetzung mit zentralen Positionen der historischen Rechtsschule genau nachgezeichnet wird (s. auch unten, Kap. 3 a). S. unten, Kap. 4 c).
tionalerinnerungen< der Deutschen sich von >teutomanischer< Ideologie instrumentalisieren lassen, sind sie widervernünftiger > Aberglaube* und als solcher zu entlarven. Dessen unerachtet suchen die >Nationalerinnerungen< Heine bis zuletzt heim, wie sein Spätwerk eindrucksvoll bezeugt. Zur Einsicht in die Fragwürdigkeit des ontologischen Mythosverständnisses gelangt Heine auch, indem er selbst sich die Dynamik seines Umgangs mit Mythos und Mythologie und den Perspektivismus seines Mythosbegriffs vergegenwärtigt. 30 Der Sinn und mögliche Wahrheitsgehalt von Mythen kann nicht, wie es das ontologische Mythosverständnis postuliert, objektiv vorgegeben, ihnen immanent sein, wenn er von der Perspektive des Interpreten abhängt, die wiederum von historischen Prozessen beeinflußt wird. Dem trägt Heine Rechnung, wenn er im zweiten Teil des Essays Elementargeister (1837) sein Verfahren, Sagen als Zeugnisse des Volksglaubens in einen diskursiven Bezugsrahmen zu projizieren und dadurch zu deuten, mit der folgenden Bemerkung erläutert: Nur einige banale Thatsachen sind mir vielleicht vergönnt hier anzuführen, um den Fabeleyen, die ich kompilire, einige Vernünftigkeit oder wenigstens den Schein derselben einzuweben. Jene Thatsachen beziehen sich nemlich auf den Sieg des Christenthums über das Heidenthum. [IX, 46]
Mit der metaphorischen Verwendung des Verbs >einweben< akzentuiert Heine die aktive und kreative Funktion, die ihm bei der Interpretation der mythologischen »Fabeleyen« zukommt, und den Abstand zwischen diesen und der >VernünftigkeitFabel< hervor. Dieser dient im Zeitalter der Aufklärung dazu, die Mythologie einerseits als Zeugnis der »erreurs de l'esprit humain«' 1 und andererseits als nicht nur legitimen, sondern auch obligaten Bil30
31
Norbert Altenhofer(»Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest. Vorformen tiefenhermeneutischer und intertextueller Interpretation im Werk Heines«, in: Tiefenhermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, hrsg. v. Ulrich Nassen, Paderborn 1979, S. 149-193, hier S. 159) spricht im Hinblick auf das Doppelporträt Goethes und Schillers in der.Romantischen Schule von Heines »konsequentefm] Perspektivismus, in dem die hermeneutischen Voraussetzungen der Urteilsbildung ständig mitreflektiert werden«. Fontenelle, Œuvres complètes, Bd. II, S. 398 (De l'origine des fahles); dazu Jean Starobinski, »Le mythe au XVIII e siècle«, in: Critique 366/ Novembre 1977, S. 975-997, hier S. 99 if.; vgl. auch ebd., S. 976,98of. Zahlreiche weitere Belege für die Gleichsetzung von Mythos und Fabel im 18. Jahrhundert finden sich bei Gockel, Mythos und Poesie, S. 27ff. Vgl. auch Klaus Ziegler, »Mythos und Dichtung«, in: Reallexikon der
71
dungsstoff des honnête homme zu qualifizieren: Die Bibel, schreibt Benjamin Hederich 1724 in der Vorrede zu seinem Gründlichen mythologischen Lexikon, fordere nicht, daß man die heidnischen »Fabeln« - mit diesem Substantiv wird das griechische μΰθοι übersetzt - »schlechterdings nicht achten, und also auch nicht einmal lesen und untersuchen solle; sondern nur, daß man sie nicht soll für Wahrheiten ansehen«. Nachdem Hederich dies »willig und gern« zugestanden hat, sucht er zu beweisen, »daß nicht nur Gelehrte, sondern auch viele Künstler und alle polite Leute, einige Kenntniß« von der Mythologie »fassen« sollten.32 Als Argument dafür dient ihm vor allem die Präsenz der Mythologie in den Künsten, aber auch in der wissenschaftlichen Terminologie und vor allem im gesellschaftlichen Leben.33 Die Bezeichnung der Mythologie als Fabel ist, wie sich dieser für das Mythoskonzept des 18. Jahrhunderts repräsentativen Vorrede entnehmen läßt, zwar mythoskritischer Provenienz, aber sie lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf die ästhetische und soziale Funktion der Mythologie: Daß diese ohne alle Wahrheit und pure Fiktion ist, macht sie wiederum dafür geeignet, Stoff der Künste, allegorisches Ornament der Rede, Mittel mondäner Konversation zu sein. Wird sie derart Teil der Rhetorik, tangiert sie die Wahrheit nicht - weder die geoffenbarte Wahrheit noch die Vernunftwahrheit. Die Stärke der Tradition mythologischer Rhetorik ist im Zeitalter der Metternichschen Restauration ungebrochen; davon zeugt auch Heines Gesamtwerk, insbesondere seine Publizistik.34 Durchaus konventionell ist sein Ver-
deutschen
Literaturgeschichte,
hrsg. v. Werner Kohlschmidt und W o l f g a n g M o h r ,
5 Bde. Berlin 2 i 9 j 8 - i 9 8 8 , B d . I I , S. 5 6 9 - 5 8 4 , bes. S. 570f.; Hans Poser, » M y t h o s und Vernunft. Z u m Mythenverständnis der A u f k l ä r u n g « , in: Philosophie
und
Mythos,
S. 1 3 0 - 1 5 3 , bes. S. i 3 2 f f . , ferner D W B , B d . I I I , Sp. i 2 i 3 f . 32
Benjamin Hederich: Gründliches
mythologisches
Lexikon,
Darmstadt 1986 (repr.
N a c h d r u c k der Ausgabe Leipzig 1770), S. X I f. 33
V g l . ebd., S. X I I I . Entsprechende französische Belege führt Starobinski an, der dazu bemerkt: »[...] la connaissance de la fable est la condition même de la lisibilité du monde culturel tout entier. Elle est, à ce titre, l'un des préalables d'une participation aux >entretiens< dans lesquels un homme éduqué est appelé à jouer son rôle« ( » L e mythe au X V I I I e siècle«, S. 977). Diesem Z w e c k diene die Reduktion der M y t h o l o gie aufs Lexikon: Dadurch werde sie ein »code sémiologique« (ebd., S. 978), »le vocabulaire d'un seul et même état de langue« (ebd., S. 979).
34
V g l . Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. schen Restauration
und Revolution,
Deutsche 1815-1848,
Literatur
im Spannungsfeld
zwi-
3 Bde., Stuttgart 1 9 7 1 - 1 9 8 3 , Bd. I,
S . 3 J I . 3 J 9 U . öfter.; zu Heines mythologischer Rhetorik s. ebd., B d . III, S. 502f. Z u r Präsenz und Funktion der klassischen Mythologie in der >Biedermeierzeit< vgl. die zahlreichen Belege ebd., Bd., I, S. 3 5 3ff. Sengle stellt zusammenfassend fest, daß die klassische Mythologie im Biedermeier »überall gesellschaftliche Bedeutung« (ebd., S. 3 54) hatte, daß sie »das gesellschaftliche und literarische Leben der Biedermeierzeit innig [durchdrang]« (ebd., S. 356), und er führt dies u.a. auf den » A b b a u des von Goethe vorgelebten und vorgedichteten Individualismus, de[n] neue[n] Sinn für das Kollektive,
72
Generelle
und Metaphysische«
zurück (ebd., S. 3 58; Hervorh. im Text).
fahren mythologischer Einkleidung, die eine Variante der mythosartigen Rede ist. Im Nordsee-Essay z.B. bezeichnet er Goethe als »Wolfgang Apollo« (VI, 146); in den Französischen Zuständen macht er Talleyrand zum »zweite[n] Hephaistos« (XII/i, 104) und den Président du Conseil und Minister Casimir Périer zum »Atlas, der die Börse und das Haus Orleans und das ganze europäische Staatengebäude auf seinen Schultern trägt« (XII/1, 109); in Lutezia berichtet er, wie er in einer Rede des Historikers François Mignet »die Stimme des Geschichtschreibers, des wirklichen Chefs von Clios Archiven« (XIII/1, 135) vernahm. Die solchen Einkleidungen eigene Form aktualisierender >Wiederbelebung< von Mythologie wurzelt in jener Konstituente der Denkgewohnheit >Mythosöffentliche< Uberlieferung bezeichnet und u.a. in den Triumphzügen der Renaissance in Frankreich, in den Herrscheradventen der Französischen Revolution und in der Presse des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nachweist. Triumphzug, Herrscheradvent und Presse sind Medien, in denen Öffentlichkeit mit Hilfe von Beispielen aus der antiken Geschichte und vor allem der klassischen oder auch volkstümlichen Mythologie hergestellt wird. 35 Die mythologische >Fabel< bestimmt die Form der Wahrnehmung von Zeitgeschichtlichem: So fungieren in den zuletzt zitierten Äußerungen die Gottheiten Apollo, Hephaistos, Atlas und Klio als mythologische Allgemeinplätze, loci communes, unter die - allein nach den Regeln des topisch-rhetorischen Vergleichs^ und ohne jede Rücksicht auf die Regeln historischer Kontextbildung - Figuren oder Ereignisse der Zeitgeschichte subsumiert werden. Solche Subsumptionen sind das für die >öffentliche< Überlieferung wichtigste Mittel, »übergeordnete historische Zusammenhänge zu gestalten«. Dabei wird freilich Geschichte eskamotiert. Sie setzt sich nun nur noch in der Weise fort, daß die »Exempelgeraera« der alten Historie und Mythologie »sich mit species der neueren Vorkommnisse anreichern«.37 Heine verfaßte die Artikel der Französischen Zustände und der Lutezia, die eine auffallend große Zahl mythologischer Einkleidungen bieten, zunächst für Cottas Allgemeine Zeitung, in der sich nach Graevenitz die mythologische Sehgewohnheit< der Presse in einer für Europa exemplarischen Form manifestierte. Die Entstehungs- und Druckgeschichte von Heines Artikeln kann folglich als ein weiteres Indiz dafür gewertet werden, daß er mit Einkleidungen wie den genannten an einem Stück europäischer »Mediengeschichte der Mythologie« partizipierte. Die Presse, dieses neue »Offentlichkeitsinstrument«,38 bemächtigte sich der Herrschertheatralik und »Triumphal- und Deifikations-Mythologie« von Renaissance und Barock, wie Graevenitz überzeuM 36
37 38
Vgl. Graevenitz, Mythos, S. 12iff., hier bes. S. 1 3 1 . Z u diesem konstitutiven Moment der >Denkgewohnheit< Mythos vgl. Graevenitz, Mythos, S. 96ff. und unten, Kap. 3 b), S. 136. Graevenitz, Mythos, S. 190. Hervorh. im Text. Ebd., S . 1 7 1 . 73
gend veranschaulicht, indem er die Darstellung von Bonapartes Ägyptenfeldzug in der Allgemeinen Zeitung und in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden analysiert. Instrument dieser Darstellung blieb »der historisch-mythologische, der topische Vergleich: Buonaparte-Scipio, Buonaparte-Alexander, Buonaparte-Dionysos, Buonaparte-Christus. Diese Vergleiche, gerade auch in ihrer Bindung an den jeweiligen geographischen Ort des mythologisch-historischen Bezugs, sind das hervorstechendste Symptom der neuen Art von Pressedarstellung.«39 Topisch sind die Vergleiche in geographischer und in rhetorischer Hinsicht: Der bonapartische Dionysos z.B. war attraktiv, »weil ein allgemeiner Wahrnehmungsstil um 1800 von der geographischen Rubrik >Agypten< fast zwangsläufig auf das topisch-mythologische Exempel-Inventar Ägyptens geführt wurde und so die >Landung in Alexandria< über die medii termini >AlexanderIndienBacchus< bei Dionysos endete, gelegentlich auch bei Dionysos-Christus. [...] ohne jede historisch-hermeneutische Perspektive wird auf den aktuellen Helden das mythologische Repertoire eines Lokals gehäuft.«40 Das propagandistische Moment dieser Art von synkretistischer mythologischer Sehgewohnheit< ist noch wirksam, wenn Heine in seiner Darstellung von Napoleons Einzug in Düsseldorf den Kaiser als Christus, römischen Imperator und antike Gottheit wahrnimmt,4' oder wenn die Erinnerung an Napoleons Vorliebe für Mailand und den Mailänder Dom ihm Anlaß zu der Vermutung gibt, des Kaisers »ungeheure Geschichte« werde »endlich ein Mythos«, und »nach Jahrtausenden« werde »ein spitzfindiger Schulmeister, in einer grundgelehrten Dissertazion, unumstößlich beweisen: daß der Napoleon Bonaparte ganz identisch sey mit jenem andern Titane, der den Göttern das Licht raubte und für dieses Vergehen auf einem einsamen Felsen, mitten im Meere, angeschmiedet wurde, preisgegeben einem Geyer, der täglich sein Herz zerfleischte« (VII/1, Hier wird die Wahrnehmung von Napoleon " Ebd., S. 177. Hervorh. im Text. Ebd., S. 191. Hervorh. im Text. 41 Vgl. Kapitel VIII und IX von Ideen. Das Buch Le Grand ( D H A VI, S. i 9 3 ff.). 42 Zu diesem Passus aus Kap. X X V I I I der Reise von München nach Genua vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 646t.; zur Mythisierung Napoleons bei Heine zusammenfassend Höhn, Heine-Handbuch, S. i/6ff.; dort zahlreiche Literaturangaben und Verzeichnis der für Heines Napoleon-Mythos zentralen Stellen aus seinen Werken. Zusätzlich zu den von Höhn angeführten Arbeiten über Heines Napoleon-Mythos vgl. außer Blumenberg (Arbeit am Mythos, S. 644ff.) vor allem Würffei, Der produktive Widerspruch, S. 3off. Würffei legt den Akzent auf die utopische Qualität von Heines Napoleon-Bild und relativiert dessen mythisierende Tendenz, indem er die gegenläufigen kritischen Äußerungen Heines über den NapoleonKult anführt. Diese kommen nur am Rande zur Sprache bei Wülfing, Bruns und Parr, Historische Mythologie der Deutschen, S. 3 3ff. Vgl. ferner Walter Grab: Heinrich Heine als politischer Dichter, Frankfurt/M. 1992 (zuerst Heidelberg 1982), S. 35Íf.; Rolf Geißler, »Heines Napoleon als Herausforderung unseres Denkens«, 40
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als Prometheus zwar reflektiert, aber nicht historisiert, sondern mit einer in die Zukunft projizierten Geschichte gerechtfertigt. Die mythologische Einkleidung schlägt in Mythisierung um: Was Heine prophezeit, ist das Verschwinden der Differenz und Distanz zwischen mythologischem Zeichen und bezeichneter Person. Das antike Kostüm und sein Träger werden schließlich identisch. »Napoleon«, heißt es in einer nachgelassenen Aufzeichnung, »war nicht von jenem Holz woraus man die Könige macht - er war von jenem Marmor woraus man Götter macht -« (XV, 174).43 Hingegen benutzt Heine die Mythologie als ein Verzeichnis von rhetorischen loci communes, wenn er Goethe als Apollo, Talleyrand als Hephaistos, Casimir Périer als Atlas und Mignet als >Chef von Klios Archiven< imaginiert. Gemeinsam ist mythologischer Einkleidung und Mythisierung, daß sie die Fremdheit des Mythos vergessen lassen. Wofern die mythologische Einkleidung nicht als kulturkritische Travestie intendiert ist oder als solche aufgefaßt wird, blendet sie die Fremdheit des Mythos aus, und deshalb kann sie in Mythisierung umschlagen. Die Ubergänge zwischen der mythisierenden und der kulturkritisch-travestierenden Tendenz der mythologischen Einkleidung sind bei Heine fließend. Das läßt sich an einem Passus beobachten, in dem nicht nur die klassische, sondern auch die im Grimmschen Sinne >deutsche< Mythologie die Weise bestimmt, in der Aktuelles wahrgenommen wird. Im achten, auf den 27. Mai 1832 datierten Artikel der Französischen Zustände berichtet Heine, daß er sich unmittelbar nach dem Tode Périers, der trotz seiner dem »Eigennutze« (XII/1, 161) der »Börsenspekulanten« (XII/1, 163) verpflichteten Politik »ein großer Mann« gewesen sei (XII/1, 161), zur Börse begeben habe: Da stand der große Marmortempel, w o Perier wie ein Gott und sein Wort wie ein Orakel verehrt worden, und ich fühlte an die Säulen, die hundert kolossalen Säulen, die draußen ragen, und sie waren alle unbewegt und kalt, wie die Herzen jener Menschen, für welche Perier so viel gethan hat. O der trübseligen Zwerge! Nie wird wieder ein Riese sich für sie aufopfern, und um ihre Zwerginteressen zu fördern, seine großen Brüder verlassen. Diese Kleinen mögen immerhin spotten über die Riesen, die, arm und ungeschlacht, auf den Bergen sitzen, während sie, die Kleinen, begün-
43
in: Heine-Jahrbuch X X I X / 1 9 9 0 , S. 9 2 - 1 1 0 , sowie Küppers, Heinrich Heines Arbeit am Mythos, S. 242ff. In der Romantischen Schule ist es Napoleons und Goethes fester Blick, der sie beide als Götter ausweist (vgl. D H A V I I I / 1 , S. 163). - Die strukturalistische und diskursanalytische Definition von Mythos und Mythisierung, die Wülfing, Bruns und Parr (Historische Mythologie der Deutschen, S. 3ff.) vornehmen, läßt eine Differenzierung zwischen mythologischer Einkleidung und Mythisierung vermissen - vermutlich, weil die Kulturgeschichte des Mythos als >Denkgewohnheit< (Graevenitz) und die Phänomenologie des mythischen Denkens (Cassirer) in dieser Definition nicht berücksichtigt wurden. Die Differenzierung erfolgt ebenfalls nicht im theoretischen Schlußteil von Wülfings Aufsatz »Zum Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts«, in: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 8 1 - 1 0 8 , hier S. ioéff. 75
stígt durch ihre Statur, in die engen Gruben der Berge hineinkriechen, und dort die edlen Metalle hervorklopfen, oder den noch kleineren Gnomen, den Metallariis, abgewinnen können. Steigt nur immer hinab in Eure Gruben, haltet Euch nur fest an der Leiter, und kümmert Euch nicht darum, daß die Sprossen immer schmutziger werden, je tiefer Ihr hinabsteigt zu den kostbarsten Stollen des Reichthums! [XII/i, 162] In dieser Evokation des entfesselten bourgeoisen >Eigennutzesöffentlichen< Wahrnehmung von Wirklichkeit sub specie fabularum angeführt werden. Der mythologische locus communis der Wilden Jagd, den vor allem Carl Maria von Webers Freischütz zu einem solchen gemacht hatte, 44 wird wiederum in ein teils kulturkritisches, teils mythisierendes Bild überführt, aber der zugrunde liegende Synkretismus wird zugleich parodiert. Aus dem bunten Gemisch von mythologischen und historischen Figuren, die vorüberreiten, >ragen< Diana-Artemis, die keltische Fee Abunde und Salome-Herodias hervor. Der medius terminus, der diese Figuren topisch vergleichbar macht, ist >das verdrängte Heidentums das hier als Chiffre für >verdrängte oder unerfüllte, gefährliche Erotik< fungiert, wie sich der Darstellung der drei Wiedergängerinnen als femmes fatales ent44
76
Heine selbst bezeugt die Popularität der Oper im auf den 16. März 1822 datierten zweiten der Briefe aus Berlin (vgl. DHA VI, S. i9ff.).
nehmen läßt.45 Während Heine die synkretistische Zusammenstellung des mythologischen Personals vermutlich von Dobeneck und Jacob Grimm übernahm, 4é steuerte er selbst den Synkretismus aus Wilder Jagd und zeitgenössischer Geschlechterideologie bei. Es bleibt offen, ob diese Variante der damals modischen Mythisierung der Frau ironisch ist oder nicht. Hingegen gewinnt Heine der mythologischen Travestie von historischen oder zeitgeschichtlichen Figuren und Phänomenen nun eindeutig satirische, insbesondere literatursatirische Effekte ab; in der Wilden Jagd müssen auch Karl X. von Frankreich, der offenbar für seinen Verfassungsbruch zu büßen hat, Goethe, den Heine an anderer Stelle den »großen Heiden« (VI, 146) nennt,47 Shakespeare, »Den die Puritaner gleichfalls / Einst verflucht« (IV, 54), und der frömmelnde Shakespeare-Kommentator Franz Horn mitreiten. Im komischen Kontrast zwischen dem mythologischen Zeichen und den nichtmythischen Figuren und Phänomenen, auf die es übertragen wird, macht sich wiederum die Fremdheit des Mythos geltend. Als mythologische Variante eines öffentlichen Umzugs ist die Wilde Jagd darüber hinaus eine parodistische Replik auf Zeremonielle wie den monarchischen Einzug oder den stadtbürgerlichen Umzug, in denen, wie bereits angedeutet, »Öffentlichkeit hergestellt, Mythologie aktualisiert und Topik als allgemeine Wahrnehmungsform praktiziert wurde.«48 Während in Heines Äußerung über das >Einweben< von >Vernünftigkeit< in die >Fabeleyen< die mythoskritische Konnotation des Begriffs >Fabel< dominiert, setzen mythologische Einkleidungen wie die genannten voraus, daß die >Fabel< als Bildungsstoff präsent und daher als profanes rhetorisches Ornament verfügbar ist. Das Ornament kann, wie deutlich wurde, Mythisierungen Vorschub leisten. Wo es hingegen noch Spuren der Fremdheit des Mythos bewahrt, kann es - und das ist schon im 18. Jahrhundert der Fall - zum subversiven Mittel werden, vom Christentum verpönte, von der Aufklärung verdrängte Wünsche, aber auch verborgene Ängste auszudrücken und Zweifel an Chri45
Vgl. Winfried Woeslers Kommentar in D H A I V , S. 767^ und Woesler: Heines Tanzbär. Historisch-literarische Untersuchungen zum >Atta Troll·, Hamburg 1978, S.23 4 ff. * 6 Vgl. Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobeneck: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Jean Paul, 2 Bde., Berlin 1815, Bd. I, S. 56ff.; Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. II, S. 76jff., bes. S. 778; zu Herodias auch ebd., Bd. I, S. 23 4 ff. 47 Heine spricht Goethe diese Attribut, das auf eine Selbstbezeichnung des Dichters zurückgeht (vgl. Windfuhr in D H A VIII/2, S.909), auch in den folgenden Texten zu: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (DHA VIII/1, S. 100), Die romantische Schule (DHA VIII/i, S. 155) und Ludwig Börne. Eine Denkschrift (DHA XI, S.45). Vgl. ferner in der Börn^-Denkschrift die Interpretation von Börnes Widerwillen gegen Goethe: »[...] der kleine Nazarener haßte den großen Griechen, der noch dazu ein griechischer Gott war« (DHA XI, S. 18). 48 Graevenitz, Mythos, S. 131.
77
stentum, Aufklärung und Perfektibilität zu artikulieren.49 Die Kontroverse um Schillers Gedicht »Die Götter Griechenlandes« ist ein epochales Zeugnis solcher Emanzipation der Mythologie von ihrer Reduktion aufs Ornament. Obwohl Schiller schon in der ersten Strophe die Götter als »Schöne Wesen aus dem Fabelland« bezeichnet,50 nahm das zeitgenössische Publikum das Gedicht nicht als ein Stück literarischer Rhetorik auf, von dem die Aufklärung und das Christentum nicht tangiert würden, sondern als Parteinahme für das Heidentum als anderes, >fremdes< Denken und gegen die von Christentum und Aufklärung zu verantwortende >Entgötterung< der Natur; deshalb brachten die »Götter Griechenlandes« Schiller sowohl den theologischen Vorwurf des Atheismus ein als auch den aufklärerischen des Verrats am Auftrag der Dichtung, die Wahrheit zu sagen.51 Diese Kontroverse zählte vermutlich zu den Faktoren, die August Wilhelm Schlegel bewogen, die Gleichsetzung von Mythos und Fabel zu revidieren.52 Wenn Heine im Jahre 1827 ein freirhythmisches >NordseeDie Götter GriechenlandesFabeleien< verweist auf die heterogene Form des poetischen oder rhetorisch-öffentlichen, publizistischen Umgangs. Da sich bei Heine meist beide Pole und beide Formen geltend machen, zeichnet sich sein Umgang mit Mythos und Mythologie durch eine historisch aufschlußreiche Widersprüchlichkeit aus, die sich in Stilmerkmalen wie Travestie, Parodie und Ironie manifestiert. Bei der Interpretation der Werke, die in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen sollen, ist also zunächst zu fragen, welchem der beiden mythostheoretischen Pole sich Heine jeweils nähert und von welchem er sich entfernt, welche Form des Umgangs - die Rede über den Mythos oder die mythosartige Rede - er wählt und ob und wie er beide Formen miteinander verbindet.
b) Mythologische Allegorik Heines Kombination von Sage und Reflexion, von mythosartiger Rede und Rede über den Mythos ist eine spezifische Ausprägung seines Prosastils, den Wolfgang Preisendanz charakterisiert hat als »Wechselwirkung von ideologischer Erfahrungsstruktur und imaginativer Schreibart« oder »Funktionsübergang von poetischer Heuristik und ideologischer Hermeneutik«, »angesichts dessen die übliche Scheidung von Dichtung und Publizistik, von Dichter und Schriftsteller hinfällig wird.« 55 Preisendanz unterstreicht den Zusammenhang zwischen diesem stilistischen Merkmal, das auch Heines Zeitgenossen als neuartig empfanden, 56 und Heines wiederholter, von Hegel beeinflußter »Prophezeyung vom Ende der Kunstperiode, die bey der Wiege Goethes anfing und bey seinem Sarg aufhören wird«. Die »jetzige Kunst« müsse »zu Grunde gehen, weil ihr Prinzip noch im abgelebten alten Regime« wurzele und sie folglich »im unerquicklichsten Widerspruch mit der Gegenwart« stehe (XII/i, 47). 57 " Preisendanz, Heinrich Heine, S. 54, 66. Preisendanz knüpft (ebd., S. 39) an Überlegungen Barker Fairleys (Heinrich Heine. An Interpretation, Oxford 1954, S. i6of.) an. Er verwendet den Begriff ideologisch« »unter Abzug der pejorativen Konnotationen« (Heinrich Heine, S. 40, Anm. 28). Aus pragmatischen Gründen werden stattdessen im folgenden die Termini >diskursiv< oder >begrifflich< verwendet. 56
57
80
Vgl. Heinrich Heine, S. 2iff., w o Preisendanz Äußerungen von Arnold Ruge, Georg Herwegh, Johannes Scherr und Ludolf Wienbarg anführt. Dieser Passus findet sich in Französische Maler (1831); Heine knüpft hier an entsprechende Äußerungen in seiner 1828 erschienenen Rezension von Wolfgang Menzels literaturkritischem Werk Die deutsche Literatur an (vgl. D H A X , S.228ff.). In der Romantischen Schule setzt Heine die Auseinandersetzung mit der >Kunstperiode< fort (vgl. D H A V I I I / i , S. i j î f f . ) . Wie Derré in seinem Kommentar zu dem Passus aus Französische Maler betont, gewinnt bei Heine auch die Gegenthese später wieder an Boden (vgl. D H A XII/2, S. 592). - H a n s Robert Jauß (»Das Ende der Kunstpe-
Die Scheidung von Dichtung und Publizistik, betont Preisendanz, sei ein Erbe der goethezeitlichen >KunstperiodeProphezeiung< aus komparatistischer Perspektive. 58 Preisendanz, Heinrich Heine, S.66. " Ebd., S.30. 60 Vgl. ebd., S. 57. 61 Vgl. Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 279, 314, 1 1 1 2 , 1 1 1 3 (BA, Bd. XVIII, S. 516, 520, 638). 61 Vgl. z.B. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 6 j(f.; Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S. j zff.; zusammenfassend jetzt Wiebke Freytag, »Allegorie, Allegorese«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. I, Tübingen 1992, Sp. 330-392, hier Sp. 3 75 ff. 63 Vgl. Sengle, Biedermeierzeit, Bd.I, S. 30iff., 323ff. u. öfter, Zitat S. 302. Hervorh. im Text. 64 Preisendanz, Heinrich Heine, S.39, 52. Vgl. Blumenbergs Argument gegen die M y thenallegorese (»Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 36). 81
Dem vermag jedoch eine hermeneutische Konzeption von Allegorie und Allegorese Rechnung zu tragen. Allegorie sei im folgenden verstanden als bildsprachliche Interpretation der Wirklichkeit, die durch die Parallelität von zwei analogen, miteinander nicht identischen Zeichenebenen konstituiert wird, und Allegorese als die einem so konstituierten Text adäquate Interpretation, zu der der Text selbst auffordert oder aufzufordern scheint. Die Instanz des allegorischen Sprechens und Interpretierens ist in der Moderne ein sich als Individuum verstehendes Subjekt, »das sich nicht mehr an einer allgemeinverbindlichen Zeichenordnung orientieren kann.«6' Deshalb ist aus heutiger Sicht auch keine ontologische Fundierung der Allegorie mehr möglich, wie sie noch Benjamin anstrebt.66 »Das allegorische Sprechen erweist sich insofern gerade als besonders geeignet für den Ausdruck einer modernen Weltsicht, als es die Differenz zwischen den verschiedenen sprachlichen Interpretationsebenen im Text selbst betont«.67 Im Lichte dieser Überlegungen ist Heines oben zitierte Bemerkung, er wolle einige Tatsachen anführen, »um den Fabeleyen, die ich kompilire, einige Vernünftigkeit oder wenigstens den Schein derselben einzuweben«, als Umschreibung allegorischer Textinterpretation und -Produktion in einem hermeneutischen Sinne zu verstehen. Denn mit der diskursiven Vermittlung der >Tatsachen< verfolgt der Autor das Ziel, den >Fabeleien< eine semantische Tiefenschicht zu verleihen, die von ihrer >abergläubischen< Oberflächenschicht verschieden ist. Beide Schichten sind zwei voneinander verschiedene Zeichenebenen, deren Analogie der Autor produziert (allegoria in verbis68); es ist das produktive Moment allegorischen Sprechens und Interpretierens, das Heine metaphorisch als >Einweben von Vernünftigkeit< bezeichnet. Damit ist zugleich der Leser aufgefordert, die Analogie zu reproduzieren. 65
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82
Renate Böschenstein, »Hölderlins allegorische Ausdrucksform, untersucht an der Hymne >An die MadonnaEinwebens< von rational erfaßbarem Sinn in die Sagen an ein hermeneutisches Allegoriekonzept denken läßt, bleibt die Deutung der Sagen als >NationalerinnerungenNationalerinnerungen< werden die Sagen als allegorische Texte lesbar: Sie sind nicht nur Berichte von >wunderbaren< Begebenheiten, wie es zunächst scheint, sondern auch Zeugnisse des verborgenen Seins der Nation, das Heine nun als ihren kanonischen Praetext erscheinen läßt.69 Daß er diese Relation zwischen Sagentext und Praetext hier als kollektiv verbindlichen Zeichenzusammenhang ausgibt, während sie, wie sich oben zeigte, Ergebnis subjektiver Spekulation ist, daß also sein Mythosund Allegoriekonzept hier ein anderes ist als in dem Vineta-Passus desselben Essays und als in dem Elementargeister-Essay, ist ein weiteres Indiz für die Widersprüchlichkeit seines Umgangs mit Mythos und Mythologie. 70 Signifikante Merkmale von Heines mythologischer Allegorik lassen sich aus einem Text erschließen, den Preisendanz als repräsentatives Zeugnis von Heines neuartigem Prosastil interpretiert. Es handelt sich um den Beginn des sechsten Kapitels aus dem Reisebild Die Stadt Lukka. Ihm geht die Beschreibung einer nächtlichen Prozession in Lucca am »Schindungstag irgend eines geduldigen Märtyrers« (VII/i, 169) voran; 71 die Prozession wird dem Autor zum Symptom »einer schrecklichen, unheilbaren Krankheit« (VII/i, 171), so daß er die Welt schließlich als »große[s] Lazareth« (VII/i, 172) sieht. Davon hebt sich scharf die Evokation olympischer Heiterkeit ab, mit der das sechste Kapitel einsetzt: Jener schenkte nunmehr auch der übrigen Götterversammlung, Rechtshin, lieblichen N e k t a r dem Mischkrug emsig entschöpfend. D o c h unermeßliches Lachen erscholl den seeligen Göttern, A l s sie sahn, wie Hefästos im Saal so gewandt umherging. A l s o den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne Schmausten sie; und nicht mangelt ihr H e r z des gemeinsamen Mahles,
69
Z u r Unterscheidung zwischen initialem T e x t und allegorischem Praetext vgl. ebd., S.4off., bes. S . 4 1 : »Gilt für den initialen T e x t stets ein kanonischer Praetext, dann w i r d die Allegorie ontologisch definiert« (Hervorh. im Text). Ontologisch seien z . B . die Allegoriekonzeption des Mittelalters (die Bibel als Praetext) und diejenige mancher marxistischer Literaturanalysen (die Warenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft als Praetext).
7
° Altenhofer (»Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest«) geht dem Zusammenhang von A l legorie und Geschichtskonzeption bei Heine nach, nicht jedoch demjenigen von A l legorie und M y t h o s , und er kehrt nicht hervor, daß bei Heine hermeneutische und ontologische Allegoriekonzeptionen miteinander konkurrieren.
71
Heine sah am 1 3 . September 1 8 2 8 die Prozession des V o l t o Santo, wie A l f r e d O p i t z in seinem Stellenkommentar festhält ( D H A V I I / 2 , S. 1589).
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Nicht des Saitengetöns von der lieblichen Leyer Apollons, Noch des Gesangs der Musen mit holdantwortender Stimme. ( V u l g a t a ) [VII/i, i 7 2 f . ] 7 2
Indem Heine dieses Zitat aus dem ersten Buch der Ilias in Vossens Ubersetzung mit der Quellenangabe >Vulgata< versieht, »stellt er Homer als Bibel des Hellenismus hin; ein Vorklang der Antinomie von Hellenismus und Spiritualismus«, 73 die er in den Essays über Deutschland und in der Börne-De»&schrift entwickelt. Vor allem aber akzentuiert er mit dieser Quellenangabe den italienischen Kontext des Zitats: Er gibt zu verstehen, daß die klassische M y thologie im südeuropäischen >Volk< noch lebendig ist, so wie die >Wundersagen< von Hexen und anderen Dämonen es im Norden Europas sind - ein Vergleich, den er später vertieft. 74 Mit dem Zitat will Heine also primär nicht klassische Bildung demonstrieren oder verlorene Lebensfreude bezeichnen schon im übernächsten Abschnitt stellt er treffend fest, daß die Menschen der klassischen Antike nicht am heiteren Lebenswandel ihrer Götter partizipierten - , sondern eine italienische >Nationalerinnerung< an Glaubensinhalte evozieren, die durch die Christianisierung verdrängt worden sind. Die Quellenangabe dient der Deutung des mythologischen Motivs, sie ist ein Stück Rede über den Mythos.
Der Kontrast zwischen dem Tableau der Götterversammlung und demjenigen der Prozession wirft nun die Frage auf, wie Heine das historische Verhältnis von autochthonem Heidentum und katholischem Christentum, nationaler Besonderheit und >Allgemeinheit neuerer KulturDialektik des religiösen Bewußtseins< beschrieben hat/ 6 Schicksalhafte Göttergeschichten statt der einen Heilsgeschichte: Dem Anspruch der monotheistischen Dogmatik »auf homogene Geltung im Weltraum und in der Weltzeit« wird die Grundlage entzogen, mythisches Profil gegen eben jene Denkform geltend gemacht, die auf seine Nivellierung angelegt ist.77 Mit dieser subversiven Strategie artikuliert Heine Kritik am Selbstverständnis der >DelinquentenreligionGötterdämmerung< verschmilzt. Dieses Motiv ist bei ihm seit dem gleichnamigen Gedicht aus dem »Heimkehr«-Zyklus des Buchs der Lieder belegt und dient ebenfalls schon in seiner Version der »Götter Griechenlands« dazu, den Untergang der Olympier zu evozieren: Hier werden sie als verblassende und >schwindende< Wolkengestalten wahrgenommen.78 Im sechsten Kapitel der Stadt Lukka unterlegt er das eddische Motiv dem der klassischen Mythologie entnommenen und dem biblischen als >Leit-
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77
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setzt« (»Mythos als Bricolage und zwei Endstufen des Prometheusmythos«, in: Terror und Spiel, S.455-472, Zitat S.465). Vgl. PHSF, Bd. II, S. 301: »In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst.« In diesem Prozeß lokalisiert Cassirer auch die allegorische Bildtheologie des Mittelalters (vgl. ebd., S. 305!.). Zum Unterschied zwischen Mythos und Dogma vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. iioff., 148, 239ff. u. öfter; Zitat S. 110. - Ausgehend von Blumenberg beschreibt auch Küppers (Heinrich Heines Arbeit am Mythos, S. 54) die religionskritische Intention des zuletzt zitierten Passus und gelangt zu ähnlichen Schlußfolgerungen; er untersucht indes nicht die allegorische Struktur des Passus, auf die es hier ankommt. Vgl. oben, Abschnitt a) in diesem Kapitel, S. 79.
85
vorstellungSieg des Christentums über das HeidentumKrankheit< der Moderne. Ihr entspricht im fünften Kapitel die Vision der profanen und im sechsten Kapitel die der olympischen Welt als Lazarett. Der Dichter, der die Krankheit der Welt erkennt, weil sein »Herz [...] der Mittelpunkt der Welt ist«, empfindet den »Weltriß« (VII/i, 95) und »Weltschmerz« (XII/i, 39; XV, 12) - ein Thema, das Heine in allen Phasen seiner schriftstellerischen Laufbahn behandelt;80 parallel dazu variiert er das mythologische Motiv der >GötterdämmerungKrankheit< und des sie begleitenden Schmerzes. Die Allegorie, als die sich der mythosartige Beginn des sechsten Kapitels der Stadt Lukka lesen läßt, ist explikativ,8' denn Heine fragt im Anschluß an die Bezeichnung der neuen Religion als >Delinquentenreligion< nach den Gründen für ihren Sieg: War sie vielleicht nöthig für die erkrankte und zertretene Menschheit? Wer seinen Gott leiden sieht, trägt leichter die eignen Schmerzen. Die vorigen heiteren Götter, die selbst keine Schmerzen fühlten, wußten auch nicht wie armen gequälten Menschen zu Muthe ist, und ein armer gequälter Mensch könnte auch, in seiner Noth, kein rechtes Herz zu ihnen fassen. Es waren Festtagsgötter, um die man lustig herum tanzte, und denen man nur danken konnte. Sie wurden deßhalb auch nie so ganz von ganzem Herzen geliebt. U m so ganz von ganzem Herzen geliebt zu werden - muß man leidend seyn. Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst. Von allen Göttern, die jemals gelebt haben, ist daher Christus derjenige Gott, der am meisten geliebt worden. Besonders von den Frauen - [VII/1, 1 7 3 ]
Diese religionspsychologische Reflexion bildet das diskursive Analogon der zuvor erzählten Göttergeschichte; die Rede über den Mythos ergänzt und deutet wiederum die mythosartige Rede. Sie dient hier zugleich der Relativierung 79
80
Zur Definition dieses Begriffs vgl. Hans Blumenberg, »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte VI/1962, S. 7 - 1 4 2 , hier S.éjff. Die zuletzt zitierten Stellen finden sich in Die Bäder von Lukka, Französische Maler
und Gestandnisse; zu den Belegen in Die Nordsee. Dritte Abtheilung s. oben. Die Behandlung der >Weltschmerzimplikativer< und >explikativer< Allegorie vgl. Kurz,
Metapher, Allegorie, Symbol, S. 39L 86
der Deutung, die Heirie mit der Bezeichnung der Ilias als Vulgata vorgenommen hat: Ist die >ErkrankungVolks< von seiner Vulgata, oder ist sie ihre Voraussetzung? Die Rede über den Mythos gilt nun dem Bedürfnis, in dem der religionsgeschichtliche Wandel wurzelt, so wie zuvor die mythosartige Rede Bedürfnisse signalisiert, denen nicht dieser Wandel, aber der Mythos entspricht. Die beiden analogen, aber verschiedenen Formen der Bezugnahme auf den religionsgeschichtlichen Wandel leisten erst in ihrem komplizierten Zusammenspiel dessen Interpretation, oder vielmehr: ihr Zusammenspiel eröffnet einen Interpretationshorizont. Und dieses Zusammenspiel ist kein objektiv vorgegebenenes, sondern ein im sprechenden Individuum verankertes, wie Heine nun deutlich macht: Dem Menschengewühl entfliehend, habe ich mich in eine einsame Kirche verloren, und was du, lieber Leser, eben gelesen hast, sind nicht so sehr meine eignen Gedanken, als vielmehr einige unwillkürliche Worte, die in mir laut geworden, während ich, dahingestreckt auf einer der alten Betbänke, die Töne einer Orgel durch meine Brust ziehen ließ. Da liege ich, mit phantasierender Seele, der seltsamen Musik noch seltsamere Texte unterdichtend; dann und wann schweifen meine Blicke durch die dämmernden Bogengänge, und suchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehören. Wer ist die Verschleyerte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna? Die Ampel, die davor hängt, beleuchtet grauenhaft süß die schöne Schmerzensmutter einer gekreuzigten Liebe, die Venus dolorosa [...]. [VII/1, 173]
Wie Preisendanz treffend feststellt, erfährt der Leser hier, »daß das eben Imaginierte und Meditierte nicht mehr Replik auf den Eindruck der Prozession ist, sondern innere Resonanz der Orgelklänge in der einsamen dunklen Kirche«. Allerdings gelte genau so gut umgekehrt, daß das Imaginierte und Meditierte die »Matrix des Wahrnehmungs- und Stimmungsmusters« der KirchenraumSzenerie sei.®2 Preisendanz weist diese Wechselwirkung minutiös nach: Wenn der Blick des Autors - zutreffender ist es, hier von einem Ich-Erzähler zu sprechen - auf das Bild der Madonna falle und er diese als »Venus dolorosa« bezeichne, beziehe er wie mit der Bezeichnung der Ilias als Vulgata die beiden antagonistischen Welten »[ü]bers Kreuz« aufeinander: Es werde »je eine Komponente der einen Welt durch einen der anderen Welt entnommenen Namen bezeichnet«.83 Dieses Verfahren mache sich nun in der Darstellung all dessen geltend, was bis zum Verlassen der Kirche zur Sprache komme. Das Verfahren, das Preisendanz beschreibt, erweist sich aus der Perspektive des hermeneutischen Allegorieverständnisses als eine Art Typologie, die subversiv auf die Verklammerung der neuen Religion mit der verdrängten, aber kryptisch präsenten mythischen aufmerksam machen soll. Die christliche Typologie deutete »Dinge, Gestalten, Geschehnisse und Einrichtungen des Alten Testa82 83
Preisendanz, Heinrich Heine, S.49Í. Ebd., S. 50.
87
ments«, aber auch Naturphänomene oder Gestalten der Mythologie wie O r pheus, Herakles, Odysseus, Appollo und Dionysos »als präfigurierende T y pen [...], die in Dingen, Gestalten, Geschehnissen und Einrichtungen des N e u en Testaments als ihren Antitypen ihre gesteigerte Wiederkehr im Sinne überhöhender Erfüllungen gefunden hätten.« 84 Heine imitiert dieses Verfahren und kehrt es zugleich gegen seinen christlichen Zweck, wenn er die Göttin der Schönheit und geschlechtlichen Liebe zum Typus Marias, der Unbefleckten, macht. 8 ' Mit den Begriffen des >Unterdichtens< und >Phantasierens< und mit der Darstellung seiner eigenen Sprechsituation läßt er den Erzähler nun aber das momentane, subjektive und produktive, ja spielerische Moment dieser T y pologie akzentuieren, ihren Status als allegoria in verbis, während die ebenfalls typologische Bezeichnung der Ilias als Vulgata einer allegoria in factis nahekam, da sie darauf zielte, Homer als >Nationalerinnerung< auszugeben, d.i. als Teil einer für das ganze >Volk< Italiens noch verbindlichen Zeichenordnung. Wann immer Heine typologische Relationen, die zu den Konstituenten seiner mythologischen Allegorik zählen, ontologische Züge annehmen läßt, gehorcht er >Denkgewohnheiten< seiner Zeit. Das gilt z.B. für den typologischen Aspekt seiner Mythisierung Napoleons. Im Nordsee-Essay
bezeichnet er ein
vielgelesenes Werk des Comte de Ségur, die Histoire de Napoléon 84
8s
88
et de la
Vgl. Friedrich Ohly, »Typologische Figuren aus Natur und Mythus«, in: Formen und Funktionen der Allegorie, S. 126-166, Zitat S. 126. Ohly geht hier vor allem der Orpheus-Christustypologie nach. Zur Definition des Begiffs >Typologie< vgl. auch Kurz, Metapher, Allegorie, Symobol, S. 42Í.; ferner den Band Typologie, hrsg. v. Volker Bohn, Frankfurt/M. 1988. - Aus theoriegeschichtlicher Perspektive gelangt bereits Norbert Altenhofer (»Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest«, S. 150) zur Einsicht in die »Faszination«, »die für Heine von den vorreformatorischen Modellen der allegorischen und typologischen Interpretation ausgeht«, aber er untersucht nicht den Zusammenhang zwischen dieser Faszination und der Denkgewohnheit >MythosNatur-< und >Volkspoesieneuen Mythologie« ausgingen, nicht nur in der individuellen ästhetischen Praxis, sondern auch im politischen Denken der nachromantischen Generation weiterwirkten.92 Im sechsten Kapitel der Stadt Lukka - das sei rückblickend festgehalten lassen sich exemplarisch die beiden heterogenen Formen des Umgangs mit Mythos und Mythologie, von denen oben die Rede war, und darüber hinaus bestimmte Funktionen nachweisen, die ihnen als Faktoren von Heines mythologischer Allegorik zukommen. Offenbar erlaubt es der poetisch-reinszenierende Umgang mit Mythos und Mythologie, deren diskursive Allegorese zu relativieren oder in Frage zu stellen, das konstruktive Moment der vermeintlichen Rekonstruktion ihrer semantischen Tiefenschichten deutlich werden zu lassen sowie den Blick zu schärfen für die Differenz zwischen dem mythischen oder mythosartigen Bild und der ihm zugesprochenen Bedeutung. Wenn Heine mit dieser Differenz konfrontiert wird, macht sich bei ihm die Fremdheit des Mythos und seiner Objektivationen wieder geltend: Die Dämonen und Götter emanzipieren sich von der ihnen zugemuteten Aufgabe, der allegorisch-bildsprachlichen oder rhetorisch-topischen Interpretation von Wirklichkeit zu dienen.93
c) Dämonisierung der Götter, Gottwerdung der Dämonen Mythos und Mythologie sind bei Heine in die Darstellung und Deutung kultureller Konflikte einbezogen, die sich im Innern des Dichters als »Zerrissenheit« und >Weltschmerz< äußern können.94 Was aber qualifiziert den Mythos zur Darstellung und Deutung solcher Konflikte? Primär die Tatsache, daß er selbst ein Konfliktfaktor ist, wofern sich seine Objektivationen nicht als totes museales Bildungsgut oder rhetorische loa communes, sondern als lebendige 91 92
Vgl. Sengle, Biedermeierzeit, Bd.I, S.33of., 3jof. Sengle (ebd., S. 348) äußert die Vermutung, »daß die von der Romantik ins Werk ge-
setzte Erneuerung des Mythos bei der jüngeren, naiveren Generation auf eine manchmal noch lebendige mythische Substanz stieß« (Hervorh. im Text). Er bezieht
93 94
Heine in diese Vermutung ein (vgl. ebd., S. 348f.), kommt indes nicht auf politische Mythen wie den von Barbarossa zu sprechen. Daß er die nachromantische Generation als >naivere< bezeichnet, ist nicht nachvollziehbar. Vgl. zu Heines vermeintlicher >Naivität< Biedermeierzeit, Bd. III, S.473Í., 483, 498f. S. dazu unten, Kap. 4 a), und vor allem Kap. 5. Damit ist einer der Faktoren dessen, was Heine > Weltschmerz« nennt, bezeichnet; ein anderer ist der Identitätskonflikt, in den die Emanzipation die Juden im Zeitalter der deutschen Nationalbewegung stürzte. Dieser Faktor von Heines »Weltschmerz« kann in der vorliegenden Arbeit nur am Rande zur Sprache kommen; vgl. dazu Wal-
ter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus, Frankfurt/M. '1991·
90
Zeugnisse einer verdrängten, aber virulenten Denk- und Lebensform erweisen. In der christlichen Dogmatik, der aufklärerischen Rationalität und im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Wirtschaftsordnung erblickt Heine Faktoren der zu seiner Zeit vorherrschenden Denk- und Lebensform, von der die mythische verdrängt worden ist. Es kommt ihm darauf an, die kulturellen Konflikte zwischen beiden zu zeigen. Davon wird, wie nun darzulegen ist, seine Auswahl und Verarbeitung mythologischer Stoffe und Motive bestimmt. Das diskursive Verstehen der Konflikte - es sei an die Reflexion über die >Nationalerinnerungen< und an diejenige über die >Delinquentenreligion< erinnert - genügt Heine nicht; er kombiniert es mit der poetisch-reinszenierenden Darstellung, weil diese - wie August Wilhelm Schlegel in seiner Theorie erläutert95 - mit dem Mythos genetisch zusammenhängt und folglich allein imstande ist, seine Lebendigkeit wiederzugeben. Die Wiedergabe erschöpft sich nicht im Wiedererzählen von Sagen oder Zitieren von mythologischen Motiven; Heine reinszeniert den Mythos auch als Form des Erzählens, und er macht bestimmte mythologische Motive zu Mitteln der Darstellung, wie die Überlegungen zum mythosartigen Beginn des sechsten Kapitels der Stadt Lukka oben deutlich werden ließen. In diesem Passus fungiert das Motiv der Götterdämmerung als Subtext. Es wird Bedingung der Möglichkeit, den Sieg des Christentums über das Heidentum mythosartig darzustellen, ihn subversiv in eine Göttergeschichte zu übersetzen. Während dieses Motiv es Heine hier erlaubt, das Verschwinden der alten Götter und die Metamorphose ihres Raums erzählerisch zu evozieren, bestimmt es in seinem Essay Elementargeister die Darstellung der »Transformazion der altheidnischen Götter« und ihres kryptischen Weiterlebens als Dämonen: [...] in den Ruinen der alten Tempel wohnen, nach der Meinung des Volkes, noch immer die altgriechischen Gottheiten, aber sie haben durch den Sieg Christi all ihre Macht verloren, sie sind arge Teufel, die sich am Tage, unter Eulen und Kröten, in den dunkeln Trümmern ihrer ehemaligen Herrlichkeit versteckt halten, des N a c h t s aber in liebreitzender Gestalt emporsteigen, um irgend einen arglosen Wandrer oder verwegenen Gesellen zu bethören und zu verlocken. [ I X , 4 7 ]
Hier ist es unter anderem der Begriff der Dunkelheit, der an das Motiv der Götterdämmerung erinnert. Zugleich zeichnet sich Heines narrative Ergänzung des Motivs durch dasjenige der >Götter im Exil< ab. Damit kommt Heine der Lösung des Problems näher, das er, wie oben erwähnt, bereits in dem Gedicht »Die Götter Griechenlands« formuliert: Es gilt, die Götter aus der absoluten Kunstsphäre herauszuholen und sie dem kulturhistorischen Wandel auszusetzen. Doch in dem Gedicht werden die Olympier als »verdrängt und verstorben« bezeichnet und daher als »ungeheure Gespenster« wahrgenommen.
95
S. oben, Kap. 1 c). 91
Im Unterschied dazu betont Heine nun, sie seien »keine Gespenster«, denn sie seien »nicht todt«: [...] sie sind unerschaffene, unsterbliche Wesen, die nach dem Siege Christi, sich zurückziehen mußten in die unterirdische Verborgenheit, wo sie mit den übrigen Elementargeistern zusammenhausend, ihre dämonische Wirthschaft treiben. [IX, J2] 9 6
Die >übrigen Elementargeister< sind die Naturdämonen, von denen z.B. im Nordsee-Essay, aber auch im ersten Teil des Elementargeister überschriebenen Essays die Rede ist. In diesem Essay subsumiert Heine also alle mythischen Gestalten unter den Begriff >Elementargeister< - ein Systematisierungsversuch, den er sogleich wieder in Frage stellt,97 der aber Zeugnis ablegt von seinem zentralen Anliegen, das mythische Denken in der kulturhistorischen Konfliktsituation zu zeigen, in der es nicht mehr vom gesamtgesellschaftlichen Konsens getragen, sondern zum >Aberglauben< des >Volks< abgesunken oder zur >Fabelei< degradiert, nicht jedoch zu Ende gebracht worden ist. Denn die Dämonisierung der Götter, ihre >Transformation< in Elementargeister des Volksglaubens, ist Voraussetzung ihres Uberlebens in der Moderne. Es ist gerade der defiziente und daher auch komische Modus ihrer Existenz als Dämonen, der ihre Lebendigkeit verbürgt. Die Venus im Berg, die in Heines »Bearbeitung« (IX, 57) des Tannhäuserliedes ihrem zurückgekehrten Ritter eine Suppe kocht, Barbarossa im Kyffhäuser, der in Deutschland. Ein Wintermäbrchen als betulicher Antiquar auftritt, und die anderen >Götter im Exil·, von denen Heine in der gleichnamigen Prosaschrift erzählt, sind komische Figuren, insofern als ihre überlieferte Größe mit ihrer gegenwärtigen Misere kontrastiert.98 Die Anerkennung und poetische Inszenierung dieses Kontrasts, der, wie sich bereits gezeigt hat und im folgenden wieder zeigen wird, auch die Form des Unheimlichen annehmen kann, ist Heines Alternative zur Deutung der Mythologie als absoluter ästhetischer Symbolik, wie sie Moritz und Schelling in der >Kunstperiode< versuchen,99 und zur depotenzierenden Verwandlung der klassischen Mythologie in musealen Bildungsstoff, wie sie Hegel in der Phänomenologie des Geistes skizziert.100 Keineswegs ist, wie A.I. Sandor behauptet, das Motiv der >Götter im Exil< ein Paradox, da Götter ihrem Wesen nach absolut seien;101 mit dieser Behauptung projiziert Sandor das monotheistische Dogma von der Allmacht Gottes 96
97 98 99 100 101
92
Auf ähnlich klingende Äußerungen in Paragraph 23 von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik macht Weinberg (»Die Entsublimierung des Unheimlichen«, S. 94, Anm. j ) aufmerksam. S. unten, Kap. 4 c). S. unten, bes. Kap. 4 d) und e) sowie Kap. 5. S. oben, Kap. 1 b), S. 2SÍ. S. oben, Kap. 1 c), S. 51. Vgl. A.I. Sandor: The Exile of Gods. Interpretation of a Theme, a Theory anda Technique in the Work of Heinrich Heine, The Hague/Paris 1967, S. 11.
in das mythische Denken. Das Motiv ist vielmehr Heines poetische Variation über eine alte, genuin mythische Denkfigur, die einer bestimmten Stufe des religiösen Realitätsbewußtseins entspricht, wie Cassirer erläutert: »Die mythischen Gebilde haben auch nach ihrer Uberwindung keineswegs allen Gehalt und alle Kraft verloren. Sie bleiben vielmehr bestehen - als niedere dämonische Mächte, die dem Göttlichen gegenüber als nichtig erscheinen und die dennoch, auch nachdem sie in diesem Sinne als >Schein< erkannt sind, noch als substantieller, im gewissen Sinne wesenhafter Schein gefürchtet werden.« So könne man z.B. am Bedeutungswandel, den in der Sprache des Awesta der alte Name für die arischen Licht- und Himmelsgötter erfahre, erkennen, »wie dadurch, daß der religiöse Gedanke sich über die elementare Schicht der mythischen Naturvergötterung erhebt, alles, was dieser Schicht angehört, gewissermaßen ein umgekehrtes Vorzeichen erhält.« 102 Cassirer deutet die Verdrängung der mythischen Gebilde phänomenologisch; Heine versteht sie als einen Faktor der abendländischen Kulturgeschichte, und er stellt sie mythosartig dar. Aus dem mythologischen Motiv der Götterdämmerung, das im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ein rhetorischer Topos wird, 1 0 3 entwickelt er das Motiv der Götter im Exil, mit dem er die aus der Dämonisierung der Götter resultierende Situation bezeichnet. 104 Diese ist aber nicht stabil; die Dämonen sind Wiedergänger, wie sich den oben zitierten Stellen aus dem Elementargeister-YLssa.y entnehmen läßt: sie >steigen des nachts emporGötterdämmerungGötter und Dämonen im Exil< und >Götter und Dämonen als rebellische WiedergängerGöttlichkeit< menschlichen Lebens«; »[...] die heidnischen Götter der mittleren Phase waren [...] vielleicht sogar nur allegorische Repräsentanten einer sensualistischen menschlichen Seinsweise.« 1 1 7 Dagegen muß, wie im folgenden zu zeigen ist, zweierlei geltend gemacht werden: erstens der Widerstand, den bei Heine das mythische als fremdes Denken gegen seine Allegorese leistet, und die daraus resultierende Widersprüchlichkeit von Heines U m gang mit Mythos und Mythologie; zweitens Heines Mimesis des mythischen Denkens und die sich darin abzeichnende Affinität zwischen seiner Schreibweise und dieser Denkform. Der Zweck des Versuchs, die Grundzüge von Heines Umgang mit Mythos und Mythologie zu skizzieren, war es, den Gegenstand der Untersuchung einzugrenzen und den Zugang zu ihm zu eröffnen. Es gilt nun, durch die Interpretation ausgewählter Werke das bislang Skizzierte zu ergänzen und die Thesen zu erproben, die oben ausgehend von Beobachtungen zu einzelnen Textstellen formuliert wurden. Die Aufgabe kann jedoch nicht darin bestehen, das Thema »Mythos und Mythologie bei Heine« erschöpfend zu behandeln. Die Fragestellung der Untersuchung ist eine speziellere: Sie impliziert, wie schon gesagt, die primäre Konzentration auf Texte, in denen der Mythos und seine Objektivationen ihre Fremdheit geltend machen und daher als Faktoren von
116
117
Vgl. Strich, Die Mythologie in der deutschen Literatur, Bd.II, bes. S.418: »Ein Thema von wissenschaftlichem und poetischem Interesse wird zum Ausdruck eines praktischen Materialismus. Aber die Götter sind nur Symbole [i.e. allegorische Einkleidungen, M.W.]. Heine wollte im Grunde überhaupt keine Mythologie haben. Sein Lebenswerk ist die Vernichtung der Mythologie.« Wiese (»Mythos und Mythentravestie«, S. 128) widerspricht dieser These; sein Gegenargument ist indes vage: »Märchen und Mythen, obwohl nicht mehr geglaubt, behalten für Heine stets ihren Wahrheitskern, und diese Wahrheit hängt aufs engste mit seinen Vorstellungen vom Universum zusammen« (ebd., S. 133). Küppers, Heinrich Heines Arbeit am Mythos, S.68 und 311. Vgl. auch z.B. S.66: »Heine macht die antiken Götter [...] zu Chiffren erfüllter menschlicher Existenz«; ferner ebd., S. 5 5: »Die Biographie der Götter ist [...] nur mythologische Oberfläche eines hinter ihr liegenden anthropologischen Prozesses«, und S. 120: Heine verwende die Götter »als poetisch reflektierte, quasi allegorische Symbole eines befreiteren Lebens«. In diese von Strich eingeschlagene Richtung weisen auch die in Anm. 113 genannten Arbeiten von Sternberger und Holub. Vgl. ferner Rüdiger von Tiedemann, »Der Tod des großen Pan. Bemerkungen zu einem Thema bei Heinrich Heine und Gérard de Nerval«, in: arcadia. Sonderheft 1978, S.41-55, bes. S. 54: Bei Heine seien die Götter »Symbolgestalten eines glücklichen diesseitigen Lebens«. Diese Communis opinio der Forschung resümierend, bemerkt Volkmar Hansen im HeineArtikel des Literaturlexikons (Bd.V, S. 135): »Säkularisierte Aktualität gewinnt die unterdrückte antike, germanfische] u[nd] mexikanische] Mythologie in der Repräsentanz sensualistischer Lebensformen«. 99
kulturellen Konflikten dargestellt und erörtert werden. Bei Heine ist die Fremdheit des Mythos vornehmlich in Texten spürbar, die jenes oben beschriebene Stilmerkmal aufweisen: die Kombination von Darstellung und Erörterung, Imaginativem und Diskursivem, >fiktionaler< mythosartiger Rede und >nichtfiktionaler< Rede über den Mythos. Mit der Kombination, für die sich offene Prosaformen wie das Reisebild, der literatur- und kulturkritische Essay und die zwischen Memoiren und mémoire
oszillierende >Denkschrift< beson-
ders eigneten," 8 wird es Heine möglich, die kategoriale Entgegensetzung von mythischer Täuschung und monotheistischer Wahrheit oder von abergläubischem Schein und empirischer Realität zu thematisieren und zu problematisieren. Hingegen sind sowohl in seinen Versdichtungen, insbesondere in der Traumlyrik und in den Romanzen und Balladen, als auch in seinen Ballettpantomimen die Spuren der kulturellen Konflikte, die von der Fremdheit des M y thischen herrühren, meist weniger deutlich, da in diesen Gattungen Mythologisches als Form des Wunderbaren traditionell zulässig oder gar zu erwarten war. Die mythologische Rhetorik der Heineschen Publizistik wiederum ist von Ausnahmen abgesehen - eine für die Zeit typische Form >öffentlichermythisches< Denken auf kulturelle Konflikte seiner Zeit antwortet, ist eine der Annahmen, von denen die Untersuchung ausgeht; dieses Denken und seinen Wandel zu verstehen, ist ihr Ziel. Der Wandel ist offenbar in den widersprüchlichen Tendenzen begründet, durch die, wie oben deutlich wurde, Heines Umgang mit Mythos und Mythologie charakterisiert ist. In der Harzreise 118
und in den Deutschland-Essays, die im dritten Kapitel zur Spra-
Zur Form des Essays bei Heine vgl. Peter Bürger: Der Essay bei Heinrich Heine, Diss. München 1959; Martin Bollacher, »Aufgeklärter Pantheismus. Die Deutung
der Geschichte in Heines Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie
in
Deutschland«, in: Heinrich Heine. Artistik und Engagement, hrsg. v. Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart 1977, S. 1 4 4 - 1 8 6 , bes. S. 15 7f.; zur Form des Reisebilds die A u s -
führungen von Brummack in: Heinrich Heine. Epoche - Werk - Wirkung, S. 118ff.; zur Gattungszugehörigkeit von Heines Denkschrift über Ludwig Börne vgl. Koopmann in D H A X I , S.405f. und Höhn, Heine-Handbuch, S. 343. 119
100
Ausführlicher soll von Deutschland. Ein Wintermährchen und »Bimini« die Rede sein; s. dazu unten, Kap. 4 d). - Die Versdichtungen, insbesondere die Lyrik, und die Ballettpantomimen, vor allem Der Doktor Faust, zählen zu den Texten, die im Zentrum von Küppers' Dissertation stehen; hingegen erwähnt Küppers die Texte, die im folgenden interpretiert werden sollen (s. unten), nicht oder nur am Rande (mit Ausnahme der Götter im Exil). Der Unterschied rührt daher, daß Küppers' Interesse nicht den Texten Heines gilt, in denen der Mythos und seine Objektivationen ihre Fremdheit geltend machen, und daß er eines der zentralen Themen der vorliegenden Untersuchung ausklammert: Heines Auseinandersetzung mit der >neuen< und vor allem der >deutschen< Mythologie und ihrer politischen Vereinnahmung; auch von der in Kap. 4 behandelten Mythoskritik Heines ist deshalb bei Küppers nicht die Rede.
che kommen, dominieren die Impulse, die von den romantischen Programmen der >neuen< und der >deutschen< Mythologie ausgehen, doch zugleich macht sich die Fremdheit des Mythos als Widerstand gegen diese Programme geltend. In der Börne-Denkschrift,
die im Zentrum des vierten Kapitels steht,
zieht Heine aus der Einsicht in die Fremdheit des Mythos und in seine Instrumentalisierung durch die >Teutomanen< radikal mythoskritische Konsequenzen, doch dagegen macht sich wiederum der Mythos als eine Form der Gestaltung zur Welt< (Cassirer) geltend, die irreduziblen Bedürfnissen entspricht. Das letzte Kapitel ist Rückblick und Ausblick: Es zieht Bilanz und konzentriert sich im Anschluß daran auf die späte Prosaschrift Die Götter im Exil, die Heine offenbar fortsetzen wollte. Das Kapitel geht der Frage nach, inwiefern Heine in dieser Schrift mit dem Motiv der >Götter im Exil< die einander widersprechenden Tendenzen seines >mythischen< Denkens zwar nicht miteinander versöhnt - diese Versöhnung bleibt utopisch - , aber ihre Koexistenz denkbar macht. Im Zentrum jedes der folgenden Kapitel steht also ein Text oder Textkomplex, der bestimmte Aspekte und Probleme von Heines >mythischem< Denken exemplarisch repräsentieren soll. Die Folge der Kapitel wiederum soll der Folge von Fragen und Antworten entsprechen, die den Wandel dieses Denkens bedingt. 120
120
Zur literarischen Hermeneutik von Frage und Antwort vgl. vor allem Hans Roben Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1991, S. 3 6 3 ff. ΙΟΙ
3· Deutsche Mythologie
a) Mythos und Idylle: Evokationen des romantischen Wunschbilds vom >Volk< in der Harzreise, der Romantischen Schule und der »Préface« zu De l'Allemagne Schon in der Harzreise, die 1826, ein Jahr vor dem Nordsee-Essay, erschien, wird die >Volkspoesie< im Sinne jener >deutschen Mythologie^ die Jacob Grimm postulierte, als Manifestation des noch lebendigen Volksglaubens interpretiert: »Das Volk hat noch immer den tradizionell fabelhaften Ideengang, der sich so lieblich ausspricht in seinem >Herzog ErnstMondnachtMärchenbildern< des Mädchens und ihrer Allegorese durch den Reisenden. Die Verbindung zwischen den heterogenen Zeichenreihen, zwischen revolutionärer und märchenhafter Wiederherstellung der Ordnung, zwischen dem >heiligen Geist< der Französischen Revolution und dem Denken des Volks - sei es auch ein durch das Wunschbild vom Volk gefiltertes Denken - hat eine merkwürdige Konsequenz: Das >rechte Worts das im Munde des Reisenden zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wird, nimmt am Ende selbst märchenhafte Züge an.42 Doch ist nicht gerade dies das Ziel, das Heine mit der dreiteiligen »BergIdylle« verfolgt? Im Unterschied zur Bergarbeiter-Idylle, w o der Volksglaube im Sinne der Spätromantik ontologisch als Spur des ursprünglichen Ganzen aufgefaßt wird, ist die volksliedhafte »Berg-Idylle« der Versuch, jene M y t h o logie der Vernunft< zu skizzieren, die das >älteste Systemprogramm< postulierte, dabei aber - anders als dieses - den traditionellen Glaubensvorstellungen des Volks Rechnung zu tragen. Der Volksglaube und seine poetischen Manifestationen sollen philosophisch und die moderne Rechts- und Geschichtsphilosophie soll Volksglaube werden. Teil dieser Utopie ist die Versöhnung von Gebildeten und Ungebildeten, von >Philosophen< und >Volkältesten Systemprogramm< mit Schlagworten der Französischen Revolution postuliert wird: »Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!« 43 In der »Berg-Idylle« soll das Märchenmotiv der Hochzeit von Ritter und Prinzessin zum Bild dieser Versöhnung werden. Doch für die revolutionäre philosophische Rede von den Menschen- und Bürgerrechten ist in dem märchenhaften Bild kein Platz; der Ritter weist sich nicht erneut als Ritter vom Heiligen Geist aus. Die intendierte allegorische Bedeutung des Bildes kann deshalb nur mit Mühe rekonstruiert werden. Darin kommt ein Dilemma zum Ausdruck, das, wie Klaus P. Hansen betont hat, für jede »retrospektive Artikulation eines Veränderungswillens« kennzeichnend ist: Das »gewollte Neue [ist] nur als etwas Altes erfahrbar und darstellbar [...]. Das Medium der Intention greift hier [...] gestaltend in die Intention ein.«44 Am Ende der Berg-Idylle siegt das Märchen über die Moderne, die Idylle über die Utopie, die Magie über den revolutionären historischen Wandel. Wie sich Idylle und Märchen gegen ihre Verwandlung in Utopie sperren, so bleiben die mythischen Phänomene, von denen das Mädchen spricht, der Idylle und dem Märchen fremd. Das Mädchen versucht nicht, die >bösen Bergesgeisten, vor denen es sich fürchtet, und das mit den Zwergen identische 42 43
44
Vgl. Foi, Heine e la vecchia Germania, S. 155. Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, S. 1 1 2 . Vgl. oben, Kap. 1 b), S.2/f. Hansen, Die retrospektive Mentalität, S. 279. 117
>kleine Volk< der diebischen > Wichtelmännchen^ 5 in seine Märchenvision von der Erlösung des verwünschten Schlosses einzubeziehen. Und die Naturdämonen passen auch nicht in den idyllischen Raum, den der Reisende in der Hütte des Mädchens zu finden wünscht; vielmehr stören sie das Wunschbild. Dennoch bezieht der Ritter vom Heiligen Geist, wie bereits erwähnt, das mythische Volk der Zwerge in seine Neufassung der Märchenvision ein und assoziiert es mit dem Idyllenrequisit der Lieder, die von der Zither begleitet werden: »Zitterklang und Zwergenlieder / Tönen aus des Berges Spalt« (VI, 112). Die musizierenden Berggeister kommen überdies dem Wunsch nach einer neuen Naturreligion entgegen, den Heine schon im Jahre 1828 formuliert: »[...] und Mystiker werden es seyn, die uns wieder vom neueren Wortdienst erlösen und wieder eine Naturreligion begründen, eine Religion, wo wieder freudige Götter aus Wäldern und Steinen hervorwachsen und auch die Menschen sich göttlich freuen« (X, 244).46 In diesem Glücksbild ist ebensowenig Platz für dem Menschen fremde Naturdämonen wie in dem Glücksbild, mit dem die »Berg-Idylle« schließt. Hier spielt das >kleine Volk< zur Hochzeit auf, es soll zum Bild des großen Menschenvolks werden, das dem Prediger des Natur- und Fortschrittsevangeliums huldigt. Dieser läßt das Mädchen, dessen Ängste sich in den mythischen Phänomenen objektivieren, nicht mehr zu Wort kommen. Die romantische Kindheits-Idylle, die »den Momenten der Geborgenheit und des frischen Weltkontakts bewußt das Ubergewicht gibt gegenüber den kindlichen Erfahrungen von Frustration, Angst und Aggression«, 47 soll gegen die realen Ängste des »Kindchen[s]« (VI, 112) recht behalten. Der Abstand zwischen dem Bild der fremden, feindlichen und beängstigenden Naturdämonen, von denen das Mädchen redet, und dem teils idyllischen, teils naturmystischen Bild der musizierenden Zwerge, das der Reisende malt, ist also auch der Bruch zwischen Realität und Wunschbild, zwischen dem mythischen Denken des Volks, das von dem Mädchen repräsentiert wird, und der Vereinnahmung dieses Denkens durch den Ritter vom Heiligen Geist. 48
4!
In dem Elementargeister-Essay
bemerkt Heine, man nenne die Erdgeister, die meist
in den Bergen wohnten, »Wichtelmänner, G n o m e n , Metallarii, kleines V o l k , Z w e r ge« ( D H A I X , S. 13). N e u h a u s - K o c h weist (ebd., S . 4 6 4 ) nach, daß zu den Quellen dieses Sprachgebrauchs die Sammlungen der Brüder G r i m m und Paracelsus'
Liber
de nymphis (s. dazu unten, Kap. 3 c) zählen. 46
A u s Heines 1 8 2 8 publizierter Rezension v o n W o l f g a n g Menzel: Die deutsche
Litera-
tur. D a z u auch unten, Kap. 4 c), S. I93Í. 47
R . Böschenstein, » D i e Lotosesser«, S. 169.
48
Diese Brüche scheint E d w a r d A . Z l o t k o w s k i (Heinrich Heines Reisebilder.
The
Ten-
dency of the Text and the Identity of the Age, Bonn 19 80, S. 47Í.) zu übersehen, wenn er die Verbindung von Märchenmaterial und Fortschrittsdenken im dritten Teil der »Berg-Idylle« als gelungen betrachtet. 118
Am Ende des Reisebilds, in der idyllischen und mythosartigen Evokation der Flußnixe und »Prinzessinn« Ilse (VI, 132), manifestiert sich erneut die Inkongruenz von Mythos und Idylle. 4 ' Hier wird noch einmal das Motiv der Hochzeit von Prinzessin und Ritter, zu der die Zwerge aufspielen, variiert; es kehrt nun als Hochzeit zwischen Mensch und weiblichem Elementargeist wieder. Mit »flötensüße[r] Stimme« lockt die Nixe den Reisenden »herunter« in ihr »kristallenes Schloß«, wo die »Fräulein und Ritter« »tanzen«, der »Knappentroß« »jubelt« und die Zwerge »trompeten und pauken,/ Und fiedeln und blasen das Horn« (VI, 132). Der Preis für dieses Eheglück wäre jedoch die zwanghafte Abschirmung des menschlichen Partners von der Außenwelt; in dem Wunschbild, das im >Volksglauben< wurzelt, aus dem nun aber das Volk verschwunden ist, verbirgt sich ein Schreckbild, wie die Nixe selbst am Ende ihres Liedes zu verstehen gibt: »Doch dich«, singt sie dem Reisenden zu, »soll mein Arm umschlingen,/ Wie er Kaiser Heinrich umschlang;/ Ich hielt ihm zu die Ohren,/ Wenn die Trompet' erklang« (VI, 133). Versteht man die Trompete als Schlachttrompete und ihren Ruf als Appell zur Auseinandersetzung mit der politischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit, so nimmt der Aufenthalt am Idyllenort Züge narzißtischer Regression an. Auch hier kommt das, was die Idylle bedroht, von innen: Bedrohlich sind die psychischen Energien, die sich in einem mythischen Phänomen wie der verführerischen Dämonin objektivieren. Und die von innen bedrohte Idylle ist nun kein Wunschbild vom deutschen Volk als idealer Ordnung der gesamten Gesellschaft mehr. Damit aber wird deutlich, daß die Idylle nicht das Modell der utopischen Versöhnung von Einzelnem und Allgemeinem durch Restitution eines mythischen, mit dem >Volksglauben< identifizierten Weltbilds sein kann; auch aus diesem Grund bricht das Reisebild hier ab: Die »Harzreise« ist und bleibt Fragment, und die bunten Fäden, die so hübsch hineingesponnen sind, um sich im Ganzen harmonisch zu verschlingen, werden plötzlich, wie von der Scheere der unerbittlichen Parze, abgeschnitten. [VI, 134]
Läßt sich eine andere Form der >Verschlingung< von Volksglauben und Utopie denken als die idyllische? Erst in dem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland sucht Heine die von der Romantik formulierte Aufgabe, die verlorene >Unmittelbarkeit< und Totalität der Lebenswelt durch die Stiftung einer neuen oder die Restitution der nationalen alten Mythologie wiederzugewinnen, einer neuen Lösung zuzuführen. In diesem Essay sind es gerade die Fremdheit, Häßlichkeit oder Bösartigkeit der mythischen Phänomene, die zum Ausweis ihres revolutionären Potentials und ihrer verborgenen utopischen, >pantheistischen< Qualität werden sollen. Heine erneuert hier nicht den Versuch, den Volksglauben durch die Idylle mit der Utopie zu ver49
In dem bereits zitierten Artikel des Verf., »>Ja, die Sage ist wahrNatur-Volks-< oder >Nationalpoesie< nicht. Vielmehr hält er an diesem Konstrukt, dem zentralen Inhalt des romantischen Wunschbilds vom Volk, sogar in seiner kritischen Abrechnung mit der von ihm so genannten >romantischen Schule< fest.50 Von seiner Polemik gegen diese Schule hebt sich scharf seine Begeisterung für Des Knaben Wunderhorn ab; die Volksliedsammlung gilt ihm wie Arnim als ein Stück nationaler Volkspoesie: Dieses Buch kann ich nicht genug rühmen; es enthält die holdseligsten Blüthen des deutschen Geistes und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennen lernen will, der lese diese Volkslieder. [VIII/1, 201]' 1
Sie seien »Naturerzeugnisse«, die von den »Kunstpoeten« nur um den Preis einer gleichsam chemischen Analyse nachgeahmt werden könnten; dabei gehe »doch die Hauptsache, die unzersetzbare sympathetische Naturkraft«, verloren (VIII/1, 202). Heine zitiert ganz oder auszugsweise sechs der WunderhornLieder, um diese These zu erhärten; er illustriert sie außerdem mit einem verklärenden Porträt wandernder Handwerksburschen, in denen er typische Repräsentanten des unbewußt dichtenden deutschen >Volks< erblickt.'2 Doch es geht ihm nicht nur darum, die Grimmsche Opposition von Natur- und Kunstpoesie als bleibendes >Erbe< der Romantik zu bewahren und auszuschmükken, sondern auch darum, die Lieder als Abbilder archetypischen deutschen Wesens zu präsentieren:
s
° Zur Bedeutung Heines in der Geschichte der Verwendung des Begriffs >Romantik< zu polemischen Zwecken vgl. Ernst Behler: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn 1988, S. 98ff., bes. S. ioof. 51 Zu Arnim s. oben, Kap. 1 b), S. 38ff. 52 Vgl dazu Herbert Ciasen: Heinrich Heines Romantikkritik. Tradition - Produktion Rezeption, Hamburg 1979 (Heine-Studien), S. i27ff. Goethe hingegen gibt in seiner Wunderhom-Rezension zu verstehen, daß nicht die Entstehung, sondern die Aufnahme eines Lieds dieses zu einem Volkslied macht (vgl. BA, Bd. XVII, S.403).
120
In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks. Hier offenbart sich all seine düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier trommelt der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe. Hier perlt der acht deutsche Wein und die acht deutsche Thräne. Letztere ist manchmal doch noch köstlicher als ersterer; es ist viel Eisen und Salz darinn. Welche Naivität in der Treue! In der Untreue welche Ehrlichkeit! [VIII/1, 202]
Es ist aufschlußreich, daß Heine hier wie Görres in der Vorrede zu den Teutschen Volksbüchern53 mit dem Begriff der Naivität operiert, um einen Wesenszug des >Volks< zu bezeichnen. Dieser Gebrauch des Begriffs basiert auf der Diskussion über Naivität, die in der französischen und deutschen Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführt wurde: Rousseaus kulturkritischer Opposition von >simplicité< und >réflexionétat de nature< und >état civil· entsprechend, setzte sich gegen die pejorative Konnotation des Begriffs, die im Französischen des 17. Jahrhunderts noch neben einer positiven bestand und im heutigen Sprachgebrauch dominiert, die Wertvorstellung einer ursprünglich gegebenen, der Kunst und der Reflexion entgegengesetzten und ihnen vorangehenden Naivität durch; das Deutsche, das den Terminus >Naivität< im 18. Jahrhundert dem Französischen entlehnt, kennt seine pejorative Konnotation zunächst nicht (Madame de Staël spricht kritisch vom übertriebenen Geschmack, den die Deutschen am Naiven finden 54 ). Als ästhetische Qualität des Ausdrucks, derer sich besonders die Idylle bedient, ist Naivität zugleich eine wünschenswerte moralische Qualität, nämlich Unverstelltheit, wie Kants Definition des Begriffs exemplarisch belegt." Und als nostalgisch beschworene, aber ideale Ursprünglichkeit ist sie bei Schiller ein Attribut von »Kindern und kindlichen Völkern«.' 6 Bei Görres wird sie zum Attribut der »ersten Zeiten«, und diese werden vom >Idealcharakter< jedes Volks, den er ontologisch als soziales Urbild versteht, repräsentiert. Auf die urbildliche Realität und unentstellte Totalität des Nationalcharakters zielt der Begriff auch in Heines Bemerkung über Des Knaben Wunderhorn. Doch diese Gemeinsamkeit darf fundamentale Unterschiede nicht übersehen lassen. Görres zufolge zeichnet sich der Nationalcharakter des »teutschen Volkes« durch Eigenschaften wie Einfachkeit, Zurückgezogenheit, Ruhe, Ehrbarkeit, Verachtung sinnlicher und Hochschätzung geistiger Genüsse aus (Ma-
53 54
S. oben, Kap. i b), S. 38. Vgl. Verf., »Quelques remarques de Madame de Staël et de Benjamin Constant sur le >genre naïf< dans la littérature allemande«, in: Cahiers Staëliens, nouvelle série, N o . 37/198 5-1986: Le Groupe de Coppet et l'Europe. Actes du Colloque au Goethe Institut (10 et i l mai 1985), S . 2 3 - 4 4 . Die Absenz der pejorativen Konnotation des Begriffs >Naivität< im Sprachgebrauch der Goethezeit dokumentiert Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. III, Sp. 426.
" Vgl. Kant, Akademie-Textausgahe, B d . V , S. 335 (Kritik der Urteilskraft, § 54). ,6 Schiller, Sämtliche Werke, B d . V , S.696 (Über naive und sentimentalische Dichtung).
121
dame de Staël äußert sich etwa gleichzeitig begeistert über die »spiritualité de l'âme« bei den >Nationen< Nordeuropas, insbesondere der deutschen). 57 Demgegenüber erblickt Heine in seiner Wunderhorn-Ch&rakieristik
den National-
charakter der Deutschen in einer geistig-sinnlichen Totalität des Seins, die zwar wie bei Görres >naiv< im Sinne von >einfach< und >ursprünglich< ist,' 8 sich aber gegen die etablierten Normen von Ehre, Recht und Ordnung stellt und deshalb den Rahmen des Idyllischen sprengt. Das gibt Heine mit Oxymora wie »düstere Heiterkeit« und »närrische Vernunft« und mit den ersten drei der von ihm zitierten Wunderhorn-Lieder
zu verstehen: Diese sind das Lied
vom Schweizer Landsknecht, der aus unbezwingbarem Heimweh desertiert und dafür erschossen werden soll; das Lied vom armen Schwartenhals, einem humorvollen Landstreicher, der die Zeche prellt und Straßenraub treibt, aber von Heine als dennoch »ehrlicher Kerl« (VIII/i, 202), ja sogar als »der deutscheste Charakter den ich kenne« (VIII/1, 204) gerühmt wird; und das Lied vom Hänslein, der sein Gretlein von daheim fortführt, in einem Wirtshaus ihre Kleider verpfändet und sie schließlich in einem »Gärtlein« verführt, woraufhin Gretlein weint, aber nicht, weil sie ihr »freyer Muth« oder ihre »Ehr« »[r]euet«, sondern allein wegen des Verlusts ihrer Kleider (VIII/1, 204Ï.). Gemeinsames Motiv dieser Lieder ist der Verstoß gegen herkömmliche Vorstellungen von Ordnung und Moral. Und der Verstoß ist Zeichen von Außenseitertum: Der Schweizer Landsknecht dient in der Fremde, der arme Schwartenhals ist heimatlos, und das Lied von Hänslein und Gretlein ist ebenfalls ein Lied »[i]m Vagabundensinn«, wie Goethe in seiner
Wunderborn-Rtzension
anmerkt. 59 Fremdheit und Außenseitertum werden hier wie in Arnims Vergleich der ausziehenden Zwerge mit den vertriebenen Zigeunern zum Ausweis der Teilhabe an etwas Ursprünglichem, das aus der herrschenden Kultur verdrängt worden ist. éo Doch dieses Ursprüngliche ist bei Heine anders als bei Arnim kein verschwommenes Allgemeines, sondern das Streben nach dem Glück, das sich der Befriedigung vitaler psychischer und physischer Bedürfnisse verdankt und den Rahmen des Idyllischen sprengt, weil es handelnd eingefordert, gegen Widerstände durchgesetzt werden muß. Was Heine an den drei Wunderhorn-Liedern
als archetypisch deutsch empfindet, ist offenbar die Un-
geniertheit und Radikalität, die »bewußte Kraft« (VIII/1, 204), mit der die darin auftretenden Personen ihrem Streben nach Glück gehorchen. In seinen Augen handeln sie als ganze Personen, ohne Rücksicht auf Konventionen; das Ge57
58
60
122
Vgl. Görres, Gesammelte Schriften, Bd.III, S. i7$f·; Germaine de Staël: De l'Allemagne. Chronologie et introduction par Simone Balayé, 2 Bde., Paris 1968, Bd. II, S. 120. Zu Görres' entsprechender Äußerung s. oben, S. 121. BA, Bd.XVII, S.392. S. oben, Kap. 1 b), S. 39Í.
waltsame und latent Martialische dieser Rücksichtslosigkeit deutet er an, wenn er bemerkt, in der »ächt deutschen Thräne« sei »viel Eisen und Salz«. 6 ' Was die Lieder zu >Naturerzeugnissen< macht, ist also nicht nur die Art ihrer Entstehung, sondern auch ihr kulturkritisches Thema: die Revolte gegen die herrschende Entfremdung von der vermeintlich ursprünglichen, >natürlichen< Ganzheit des Menschen. Naivität und Vagabundentum werden noch in Heines Vorwort zur Neuauflage seines Buches De l'Allemagne,
die im Jahre 1855 erschien, mit dem urbild-
lichen deutschen Nationalcharakter assoziiert und als Merkmale der deutschen >Naturpoesie< bestimmt. Eine Bemerkung zu den Texten, um die das Buch erweitert wurde, 62 bietet dem Autor Gelegenheit, noch einmal das romantische Wunschbild vom Volk zu evozieren und in seinem eigenen Sinne zu variieren: Dans plusieurs parties nouvelles que j'ai ajoutées, [...] je me suis imposé la tâche de dévoiler aux yeux du public français ce que le peuple allemand possède de plus intime et de plus national, et en quoi s'exprime pour ainsi dire toute son âme rêveuse et forte à la fois. Je parle de ces traditions et légendes qui vivent dans la bouche des pauvres gens, et dont les meilleures et les plus originales n'ont jamais été écrites. J'en communique ici plus d'une que j'ai moi-même recueillies au foyer d'humbles cabanes, où les racontaient quelque gueux vagabond, quelque grand'-mère vieille et aveugle; mais les reflets singuliers et mystérieux que les branchages flambants jetaient parfois sur le visage du narrateur, et les battements de cœur de l'auditoire qui écoutait avec un silence religieux, il m'était impossible de les rendre, et ces récits rustiques et presque barbares restent donc privés de leur charme natif le plus merveilleux. [VIII/1, *55]
61
Man mag darin sogar einen Nachklang von Ernst Moritz Arndts »Vaterlandslied« hören (»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,/ Der wollte keine Knechte«), zumal auch in ihm von deutscher Liebe und Treue und (kriegerischem) deutschem Trommeln die Rede ist. In der Romantischen Schule geißelt Heine zwar den chauvinistischen Patriotismus der Befreiungskriege (vgl. D H A VIII/i, S. 141), erwähnt aber Arndt lobend, als er auf Uhlands patriotische Gedichte zu sprechen kommt (vgl. ebd., S. 236). In der Harzreise zitiert der Erzähler das »Vaterlandslied« als eines der »herrliche[n] Lieder«, die auf dem Brocken gesungen worden seien, macht jedoch zugleich auf die Lächerlichkeit der damaligen >altdeutschen< Mode aufmerksam (vgl. D H A VI, S. 123Í.). In den Französischen Zuständen zählt er Arndt und Görres zu den ideologischen »Kläffer[n]« (DHA X I I / i , S. 179) der Befreiungskriege, und in den Geständnissen bezeichnet er Arndt, Görres und Jahn als »die drey berühmtesten Franzosenfresser, eine drollige Gattung Bluthunde« (DHA X V , S.20). Vgl. auch unten, Kap. 4 c), Anm. 136. - Jost Hermand (»Eine Jugend in Deutschland. Heinrich Heine und die Burschenschaft«, in: Hermand: Mehr als ein Liberaler. Uber Heinrich Heine, Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1991, S. 1 1 - 2 8 , hier S. 25) stellt fest, daß sich bis 1831 »in Heines Schriften kein schmähendes Wort gegen Arndt oder andere führende >Demagogen«< finde.
61
Vgl. dazu Windfuhrs Kommentar zum deutschsprachigen Entwurf des Vorworts (DHA VIII/2, S. 1618), der nicht veröffentlicht wurde und von der gedruckten französischen Fassung abweicht.
123
Daß Heine sich noch im Jahre 1855 zu dieser Variante des romantischen Wunschbilds vom Volk und von der >Volks-Natur-< oder >Nationalpoesie< bekennt, indem er sich nun sogar selbst als Sagensammler, Volkskundler und Volksrepräsentanten porträtiert, muß auf den ersten Blick überraschen. Denn schon in der 1840 publizierten Börne-Denkschrift distanziert er sich ausdrücklich von der deutschen Mythologie. 63 Und das späte Selbstporträt als Sagensammler und Volkskundler überrascht nicht nur; es kann vom heutigen Leser sogar als Scherz empfunden werden, da es den Tatsachen Hohn spricht. Heines Erforschung der Quellen des deutschen Volksglaubens war sekundär auswertend, wie inzwischen detailliert nachgewiesen worden ist; der Traditions populaires überschriebene Abschnitt von De l'Allemagne, das französische Pendant zum ersten Teil des Essays Elementargeister, stützt sich vornehmlich auf die Sammlungen der Brüder Grimm und das Werk von Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobeneck: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen.6'' Wer bedenkt, wie groß der Anteil von Projektion und allegorischer Konstruktion an den spätromantischen Begriffen des >Volks< und der vermeintlich mündlich überlieferten >Natur-< oder >Volkspoesie< ist, könnte vermuten, das Selbstporträt als Sagensammler ziele parodistisch oder gar satirisch auf den Grimmschen Kult der >einfachen< und ungekünstelten, organisch gewachsenem Naturpoesie, auf die nostalgische Lust an ihrem »charme natif«. Vergleicht man das Selbstporträt mit der bereits zitierten Vorrede der Brüder Grimm zu den Deutschen Sagen, so fällt auf, daß Heine zentrale Begriffe dieses Kults noch steigert: Dem >Vaterländischen< bei den Brüdern Grimm entspricht bei ihm das >Innerlichste< und >NationalsteAndacht< das »religiöse Schweigens Während die Brüder Grimm einräumen, neben den »mündliche[n], lebendige[n] Erzählungen« auch »schriftliche Quellen« 6 ' für ihre Sagensammlung ausgewertet zu haben, verschärft Heine das Kriterium der Mündlichkeit: Die besten und ursprünglichsten Sagen seien nie aufgeschrieben worden (daher auch ihr »fast barbarischer« Zug). Er illustriert diesen Satz, den sein eigenes >Aufschreiben< der Sagen desavouiert, so daß die strikte Trennung von Natur- und Kunstpoesie hinfällig wird, mit einer mythisierenden Skizze vom armen, dichtenden Volk, die man als ironische Überbietung der idyllischen Bilder lesen möchte, mit denen die Brüder Grimm Märchen und Sage zu charakterisieren suchen. Ubertrieben klingt auch die Verwendung des 6> 64
65
124
S. dazu unten, Kap. 4 c). Vgl. zur sekundären Quellenverarbeitung bei Heine Neuhaus-Koch in D H A IX, S. 329ff. und 533; auch die Bemerkungen von Windfuhr in D H A VIII/2, S. 826f. und den Heine-Artikel von Volker Kaukoreit in: Enzyklopädie des Märebens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hrsg. v. Kurt Ranke [u.a.], Berlin/New York i97jff., Bd.VI, Sp.713-716, hier bes. Sp.715. Deutsche Sagen, Bd.I, S. 18.
Adjektivs natif statt des daraus abgeleiteten, mit ihm zunächst synonymen naïf; es ist, als wolle Heine die postulierte Wesensidentität von >Naivität< und >Nation< in einem ironischen Licht zeigen, indem er nun auch noch ihren etymologischen Zusammenhang hervorkehrt.66 Das französische Lesepublikum hätte indes Heines Äußerung über die deutschen Sagen und das Sagensammeln nicht als Literatursatire verstehen können; dazu war es weder mit den Sammlungen der Brüder Grimm noch mit dem obsoleten Streit über Natur- und Kunstpoesie hinreichend vertraut.67 Gegen die Annahme einer satirischen Intention spricht auch, daß Heine über die Brüder Grimm und ihr Werk nur Gutes zu sagen weiß.68 Zwar hat er sich, als er das Vorwort zur Neuauflage von De l'Allemagne schreibt, längst distanziert von seiner Begeisterung für die im Grimmschen Sinne deutsche Mythologie und von dem pantheistischen Credo, das er damit in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland verbindet; doch auch nach seiner späten Rückkehr »zu dem alten Aberglauben, zu einem persönlichen Gotte« (III/i, 180), sucht er nicht die Spuren seiner früheren Parteinahme und Sympathie für das vorchristliche Heidentum zu tilgen.69 Die zentralen Begriffe des eingangs zitierten Passus - >nationalreligieux< und >natif< werden offenbar aus der Perspektive dieser Parteinahme für das Heidentum verwendet. Das Selbstporträt als Sagensammler ist demnach weder Scherz noch Satire, sondern, nimmt man das Gesagte als Tatsachenbericht, eine Mystifikation. Heine zitiert eines der Deutschland-Klischees, die von Madame de Staëls De l'Allemagne geprägt worden waren und an denen das französische Lesepublikum auch während des Second Empire festhielt: Man sah die Deutschen gerne als die verträumten »>bons sauvages< de l'Europe«. 70 Will das Gesagte aber überhaupt als Tatsachenbericht gelesen werden? Offenbar gehorcht es einer Denkform, die einem anderen Bedürfnis entspricht als dem nach empirischer Verifizierbarkeit. Heine erzählt vom Sagenerzählen, er imitiert, worüber er schreibt. Er erzählt eine Geschichte zu den mythologischen Teilen seines 66
Das Adjektiv natif ist aus lateinisch nativus abgeleitet, das >durch die Geburt entstanden und >von Natur entstanden« im Gegensatz zu >künstlich< bedeutet und wie das Nomen natio verwandt ist mit nasci, »geboren werden«, und natura, >GeburtInnerlichstenNationalstenUrsprünglichstenVolk< besitze; er entzieht sie zugleich der Folge ihrer individuellen schriftstellerischen Entstehungsbedingungen,71 die mit den mythischen Inhalten nur zufällig zusammenhängen. Heine verfährt hier also selbst mythosartig, insofern als es eine wesentliche Leistung des Mythos ist, Bestehendes in narrativer Form auf einen Ursprung zurückzuführen, durch den es in seinem Gewordensein gerechtfertigt, beglaubigt und mit Bedeutsamkeit ausgestattet wird - eine Leistung, die auf das mythische Gesetz der Partizipation* zurückgeht.72 Wie Arnim und die Brüder Grimm mythisiert er seine schriftstellerische Tätigkeit, indem er sie auf bloße >Mitteilung< reduziert und sich zum Sprecher und Repräsentanten des >Volks< stilisiert. Doch solche Mythisierung ist bei Heine Ausnahme. In seinen wichtigsten Texten zur deutschen Kultur verbirgt er nicht, daß er auch ein Erzieher des Volks sein will. Wie sich gezeigt hat, ist die Beziehung zwischen dem Erzähler der »Berg-Idylle« und seiner Gesprächspartnerin, dem Mädchen aus dem Volk, eine pädagogische. Und auch in dem Essay über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ist die Identifikation mit dem Volk nicht wie bei den Brüdern Grimm Verleugnung von Bildung, sondern sie soll die Absicht legitimieren, das Volk zu bilden: Zu Beginn des Essays begründet Heine mit den Worten »ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk«, warum er anders als die deutschen Philosophen nicht davor zurückschrecke, »über Religion und Philosophie sich populär auszusprechen« (VIII/1, 13). Wie bereits angedeutet, will Heine - ganz im Sinne des >ältesten Systemprogramms« - die Philosophen und das Volk, Gebildete und Ungebildete miteinander versöhnen, und Medium der Versöhnung soll sein, was im >ältesten Systemprogramm< >Mythologie< genannt wird: eine »sinnliche Religion«, derer nicht nur »d[e]r große Hauffen«, sondern auch »der Phil[osoph]« bedürfe.73 Doch diese Religion kann in Heines Augen nicht, wie es der Autor des >ältesten Systemprogramms< zu postulieren scheint, gänzlich >neunational< sein, weil andernfalls das, was das Volk tatsächlich glaubt oder zu glauben scheint, aus ihr verdrängt würde. Der Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland läßt sich als radikaler Versuch interpretieren, die Probleme, die von der utopischen >neuen< und von der retrospektiven >deutschen< Mythologie aufgeworfen, aber nicht gelöst wurden, durch die Verbindung beider Mythologie-Konzepte zu lösen. Mit dem Essay verfolgt Hei71
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Über diese geben Windfuhr und Neuhaus-Koch präzise Auskunft: vgl. die entsprechenden Abschnitte in D H A VIII/2 und IX. Vgl. oben, Kap. 1 a), S. 13, 18. Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, S. 1 1 1 . Hervorh. im Text.
ne daher das Ziel, im Volksglauben >Nationalerinnerungen< wiederzuerkennen und diese mit der idealistischen Philosophie zu verbinden; der Volksglaube soll idealistische Philosophie, die Philosophie soll Volksglaube werden. Die Verwirklichung dieser Utopie wird nach Heines Überzeugung das Ergebnis eines revolutionären Prozesses sein, der in der deutschen Kulturgeschichte angelegt ist.
b) Mythos und Revolution: Die Konstruktion des >Nationalglaubens< in dem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Heine teilt die Uberzeugung der Spätromantik, daß sich die Kultur einer Nation vor allem in ihrem Glauben manifestiert und daß dieser es ist, der eine Nation zu einer Nation macht.74 Im ersten Teil des 1835 publizierten Essays Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland unternimmt er daher den Versuch, die Religion der Deutschen zu charakterisieren. Sein zentrales Anliegen besteht darin, nachzuweisen, daß die herrschende Religion, das Christentum, den Deutschen nicht ursprünglich und wesensgemäß sei: Der Nazionalglaube in Europa, im Norden noch viel mehr als im Süden, war pantheistisch, seine Mysterien und Symbole bezogen sich auf einen Naturdienst, in jedem Elemente verehrte man wunderbare Wesen, in jedem Baume athmete eine Gottheit, die ganze Erscheinungswelt war durchgöttert; das Christenthum verkehrte diese Ansicht, und an die Stelle einer durchgötterten Natur trat eine durchteufelte. [VIII/i, 20]
So seien die Greuel der Hexenverfolgungen letztlich dadurch entstanden, daß die christliche Kirche die »altgermanische Nazionalreligion so tückisch verkehrt, daß sie die pantheistische Weltansicht der Deutschen in eine pandämonische umgebildet, daß sie die früheren Heiligthümer des Volks in häßliche Teufeley verwandelt hatte« (VIII/1, 26). Und doch, fährt Heine fort, klammern sich die Empfindungen des Menschen »heimlich« an seinen traditionellen Glaubensvorstellungen fest, selbst wenn man sie »verderbt und entstellt« habe (VIII/1,26). Diese These, die in dem Essay leitmotivisch wiederkehrt, impliziert die Aufforderung zur Allegorese dessen, was vom ursprünglichen Nationalglauben noch übrig ist: Es gilt, im >EntstelltenVerderbten< und >Verkehrten< des Volksaberglaubens das Bild dessen, was der Nation ursprünglich ist, zu erkennen. Die platonisierende Unterscheidung zwischen Bild und Wesen ist, wie bereits deutlich wurde, das semiotische Prinzip der spätromantischen Mythenwissenschaft. Dieses Prinzip, das auf die mittelalterliche Bildtheologie zurück74
S. auch oben, Kap. 1 b) und 2 a).
127
geht, 75 liegt den Versuchen von Autoren wie Creuzer, Görres und Jacob Grimm zugrunde, mythologische Vielheit durch Allegorese und Symboldeutung auf eine ursprüngliche Einheit zu reduzieren - eine sei es monotheistische, sei es pantheistische, >unentstellte< Ur-Religion/ 6 Wie Görres in seiner Mythengeschichte
bekennt sich Heine zum Gott des Pantheismus als dem
Sein des Ursprungs; er vertritt plakativ die verketzerte Lehre, die Friedrich Schlegel nach seiner Konversion verwirft, vor der Creuzer zurückschreckt und von der Jacob Grimm in seiner Deutschen
Mythologie
wieder abrückt. 77
U n d Heine interessiert sich nicht für irgendeinen, sondern für den >altgermanischen Pantheismusinterpretatio christiana< des Heidentums. 80 Aus dieser Perspektive, die Goethe schon in seiner Ballade »Die erste Walpurgisnacht« einnimmt, 8 ' erweist sich das ge75 76 77 78
79
80
81
128
S. oben, Kap. ι b), S. 33. S. oben, Kap. 1 b), S. 32. S. oben, Kap. 1 b), S. 43 f. Der Begriff wird in dem Essay wiederholt verwendet: Vgl. D H A VIII/i, bes. S. 26, 64, ioif., 1 1 5 , 118. Neuhaus-Koch stellt im Anschluß an Jan de Vries (Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. I, S. 220) fest: »Religionsgeschichtlich ist die Annahme eines germanischen Naturdienstes in vorchristlicher Zeit unbestritten, doch ist die Gleichsetzung von Naturdienst mit Pantheismus problematisch« (DHA IX, S. 575). Neuhaus-Koch verweist in diesem Zusammenhang auf die Einleitung zur zweiten Auflage der Kinder- und Haus-Märchen, wo die Brüder Grimm die Ansicht vertreten, daß sich im Märchen Uberreste pantheistischen heidnischen Glaubens finden ließen; s. dazu oben, Kap. 1 b), S. 42Í. Mit dieser Formel charakterisiert Graevenitz (Mythos, S. 248) das Prinzip von Grimms Deutscher Mythologie. »Nicht mehr das Heidentum«, fährt Graevenitz (ebd.) fort, »war verzerrter Spiegel der wahren christlichen Offenbarung, [...] vielmehr war die wahre oder doch ursprünglichere Offenbarung den Germanen im Heidentum ergangen, das Christentum war als das Fremde und Entstellende über sie gekommen wie das fremde römische Recht.« Zu Herders und F. Schlegels diesbezüglichen Äußerungen vgl. oben, Kap. 1 b), S. 3of. Zum Begriff der >interpretatio christiana< vgl. Petzoldt, Dämonenfurcht und Gottvertrauen, S. 1 3 1 , 138f. Petzoldt folgt Herbert Achterberg: Interpretatio Christiana. Verkleidete Glaubensgestalten der Germanen auf deutschem Boden, Leipzig 1930. Hier fragt ein Mann aus dem »Volke« der germanischen Heiden, nachdem der Priester dazu aufgerufen hat, »den alten heil'gen Brauch« zu begehen: »Kennet ihr nicht die Gesetze / Unsrer harten Uberwinder?/ Rings gestellt sind ihre Netze / Auf die Heiden, auf die Sünder./ Ach, sie schlachten auf dem Walle / Unsre Weiber, unsre
genwärtig Vertraute als das in Wahrheit kulturell Fremde: »Das christenthum«, schreibt Grimm in der Einleitung zu seiner Deutschen Mythologie, »war nicht volksmäßig, es kam aus der fremde, und wollte althergebrachte einheimische götter verdrängen, die das land ehrte und liebte.«82 Grimm definiert seine Mythologie als Sammlung und Sichtung dessen, was vom deutschen Heidentum noch übrig ist. In diesem Sinne betreibt auch Heine deutsche Mythologie. Er ist jedoch im Unterschied zu Grimm an dem Übriggebliebenen zunächst nur interessiert, insoweit es seine Grundthese vom >altgermanischen Pantheismus< zu belegen scheint. Denn es geht ihm nicht um Inventarisierung des Vergangenen und dessen >Rückstrahlung< auf die Gegenwart, sondern um Prognose des Künftigen. Der »verkehrte Volksglaube«, prophezeit er, werde sich »vielleicht noch länger« als das Christentum erhalten, da dieses nicht wie jener »in der Nazionalität« wurzele (VIII/i, 26). Deshalb führt die deutsche Kulturgeschichte bei ihm vom >altgermanischen Pantheismus» über dessen >Entstellung< durch die Christianisierung zu einem erneuerten, modernisierten Pantheismus. Ihn haben die Reformation und die deutsche Philosophie seit Kant vorbereitet und vertieft,83 und ihn wird die künftige politische Revolution der Deutschen, diese »große Tochter der Reformazion« (VIII/1, 160), schließlich in gesellschaftliche Realität umsetzen. Für Heine schlummert also in der >pandämonischen Weltansicht< die revolutionäre Energie, die es gegen die dekadente »kranke alte Welt« (VIII/1, 80), die >spiritualistische< christliche Kultur, zu mobilisieren gilt; der entstellte >altgermanische Pantheismus» bietet sich der utopischen Reflexion als willkommenes Unterpfand der Möglichkeit dar, künftig den »Friede[n] zwischen Leib und Seele« (VIII/i, 17) wiederherzustellen und »eine Demokrazie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter« (VIII/1, 61) zu stiften.84 Hier machen sich Impulse der aufklärerischen Idee der Perfektibilität8' und des frühromantischen Programms der >neuen Mythologie» gegen die ontologische Mythologie der Spätromantik geltend: Mythologie ist in Heines Essay wieder Teil einer Sozialutopie, die als solche kenntlich gemacht und nicht retrospektiv als Ursprung ausgegeben, sondern dialektisch, im Dreischritt der idealistiKinder./ U n d wir alle / N a h e n uns gewissem Falle« ( B A , B d . I , S. 147Í·)· Die Ballade entstand 1 7 9 9 und erschien 1800. 82
G r i m m , Deutsche Mythologie,
83
Z u r Bedeutung Kants, mit dessen Kritik der reinen Vernunft
Bd. I, S. 3; vgl. S. 10. der inzwischen abge-
schlossene philosophische Kreislauf begonnen habe, vgl. D H A V I I I / 1 , S. 1 1 1 . 84
V g l . auch D H A V I I I / i , S. 5 9 ί . und D H A I X , S . 4 6 f . (Elementargeister).
Diese Posi-
tion wird wiederum in der Börne-Denkschrift revidiert (s. unten, Kap. 4 c ) . Z u H e i nes Utopie von der Gottwerdung des Menschen vgl. Sternberger, Heinrich bes. S. 2 1 9 f f . ; zu Heines Kritik dieser Utopie auch Walter Weiss: Enttäuschter theismus. Zur Weltgestaltung
der Dichtung
in der Restaurationszeit,
Heine, Pan-
Dornbirn 1 9 6 2 ,
S. 186f. 85
D a z u und zur Geschichtskonzeption der Schrift vgl. die bereits zitierte Arbeit von Bollacher, »Aufgeklärter Pantheismus«.
129
sehen Geschichtsphilosophie, begründet wird. Als Kulturhistoriker ist Heine »ein rückwärts gekehrter Prophet«. 86 Er betont wiederholt, daß ihm jedes antiquarische Gelehrteninteresse an den Gegenständen, von denen er spricht, fremd ist und es ihm allein um die »sociale Wichtigkeit« (VIII/i, 13) 87 dieser Gegenstände geht. Der Volksglaube ist »sozial wichtig< nur insofern, als sich in ihm Spuren des revolutionär zu erneuernden >altgermanischen Pantheismus« nachweisen lassen. Instrument dieses Nachweises können nach dem Gesagten allein die platonisierende Symboldeutung und Allegorese sein. O b w o h l Heine wie August Wilhelm Schlegel das Kontraproduktive philosophischer Mythenallegorese hervorhebt - »[d]as Heidenthum endigt sobald die Götter von den Philosophen als Mythen rehabilitirt werden« (IX, 2Ó4)88 - , nimmt er selbst gleich zu Beginn seines Essays eine platonisierende Allegorese vor, indem er zwischen dem »sterblichen Leib des Christenthums« und seiner »Idee« unterscheidet. Voltaire habe nur »den Leib des Christenthums verletzen können«, das Christentum als Idee sei »unzerstörbar und unsterblich, wie jede Idee« (VIII/i, 14). Als Inhalt der Idee des Christentums bestimmt Heine den Antagonismus von >Geist< und >Materie< und die Verherrlichung des Geistes auf Kosten der Materie. Er subsumiert im zweiten Buch des Essays auch das Judentum und die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts, als deren Repräsentanten er Rousseau nennt, unter diese Idee, deren theologischen Aspekt, die Annahme eines »außerweltlichen oder überweltlichen Gottfes]« (VIII/1, 58) er fortan mit
86
K F S A , Bd. II, S. 176. Dieses vielzitierte Athenäum-¥Ta%mtax. Friedrich Schlegels lautet vollständig: »Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.«
87
Vgl. D H A V I I I / i , S . 4 7 , 4 9 , 56, 58, 76, 92; ferner ebd., S.zii le).
88
Bruchstück Ρ 17 z u Elementargeister, vgl. D H A V I I I / i , S.67: » V o n dem A u g e n blick an w o eine Religion bey der Philosophie H ü l f e begehrt, ist ihr Untergang unabwendlich.« V g l . auch den Passus über den Neuplatonismus im zweiten Teil der Elementargeister·. »Es galt nemlich nicht die tiefere Bedeutung der M y t h o l o g i e durch neoplatonische Spitzfündigkeiten z u beweisen [...]« ( D H A I X , 47), ferner Die romantische Schule, D H A V I I I / i , S. 191: »Ja, w i e einst die alexandrinischen Philosophen allen ihren Scharfsinn aufgeboten, um, durch allegorische Auslegungen, die sinkende Religion des Jupiter v o r dem gänzlichen Untergang z u bewahren: so versuchen unsere deutschen Philosophen [gemeint sind Schelling und Hegel, M . W . ] etwas Aehnliches für die Religion Christi.« Heine bezieht seine Informationen über die neuplatonische Mythenallegorese v o r allem aus H . G . Tzschirners W e r k Der Fall des Heidenthums (Leipzig 1829), w i e die K o m m e n t a t o r e n der D H A betonen; vgl. D H A VIII/1,45of., Bruchstücke Ρ 2 bis Ρ 5 und den K o m m e n t a r dazu in D H A V I I I / 2, 96iff., bes. 967 z u 4 j I , 28; ferner die A u s f ü h r u n g e n z u r Entstehungsgeschichte der Elementargeister und den K o m m e n t a r dazu in D H A I X , bes. S. 34jf., }48f., 5o6f., 509^, 516, 6o$f., 6o8f. D e m ist h i n z u z u f ü g e n , daß - w i e erwähnt - auch A . W . Schlegel in seinen Bonner Vorlesungen über das akademische Studium, die Heine vermutlich hörte, die philosophische Mythenallegorese kritisch charakterisiert; s. oben, Kap. 1 b) und c).
130
(Die romantische
Schu-
dem Begriff >Deismus< bezeichnet. Ihm setzt Heine also nicht mehr den Begriff der Offenbarungsreligion entgegen, wie es die Aufklärung tat, 89 sondern die Annahme eines innerweltlichen Gottes, den >PantheismusPantheismus< bezeichne. E s kommt ihm also darauf an, den Pantheismus und sein Gegenteil, den Deismus, kulturanthropologisch zu definieren. Deismus und Pantheismus sind Weltbild-Typen, deren ethische und soziale Aspekte Heine mit den -Begriffen >Spiritualismus< und >Sensualismus< bezeichnet. Darunter versteht er »Denkweisen, w o v o n die eine den Geist dadurch verherrlichen will, daß sie die Materie zu zerstören 89
90
Zu Heines Begriff der Aufklärung und zur Entwicklung dieses Begriffs vgl. Pongs, Heinrich Heine: Sein Bild der Aufklärung und dessen romantische Quellen, S. 4 i f f . Windfuhr weist in seinem Kommentar ( D H A VIII/2, S. 86of.) nach, daß der als Zitat gekennzeichnete Satz auf Prosper Enfantins Umkehrung des 29. Lehrsatzes aus dem ersten Teil von Spinozas Ethik (»Quicquid est, in Deo est«) zurückgeht. Zu Heines Verwendung der Begriffe >Deismus< und >Pantheismus< vgl. ebd., S. 859^; zur Charakterisitik und historischen Stellung von Heines Spinozismus vgl. Yirmiyahu Y o vel: Spinoza and Other Heretics, 2 Bde., Princeton 1989, Bd. II, S. j sff- - Michel Espagne (Federstriche. Die Konstruktion des Pantheismus in Heines Arbeitshandschriften, Hamburg/Lüneburg 1991) stellt die These auf, Heines Pantheismus lasse sich nicht auf Heines Definitionen des Pantheismus reduzieren, denn er gehe »in den Schreibgestus über« und umfasse »eine Mehrzahl sukzessiver Denkfiguren« (ebd., S. 15). So sei Heines späte Rückkehr zum Theismus in Wahrheit keine Verabschiedung des Pantheismus, sondern sie entspreche dem Bemühen, »das religiöse Moment des Pantheismus in ein entferntes Jenseits zu versetzen und sich mit einer nunmehr unversöhnten und unversöhnbaren Wirklichkeit zu konfrontieren« (ebd., S. 226). Damit setzt sich Espagne über Heines Sprachgebrauch hinweg und praktiziert eine Art Allegorese der Heineschen écriture. Zu den Voraussetzungen dieser Allegorese zählen die weitgehende Gleichsetzung von Geschichte des Pantheismus im 19. Jahrhundert und Spinoza-Rezeption (vgl. ebd., S. 1 iff.) und die Ausklammerung des Zusammenhangs der Pantheismus-Debatte mit der Mythologie-Debatte. Im vorliegenden Zusammenhang kann die Frage, wie Heines Pantheismus zu definieren sei, nicht erschöpfend, sondern nur im Hinblick auf das Problem behandelt werden, das Espagne ausklammert (wie vor ihm z.B. Günter Oesterle: Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche, Stuttgart 1972, S. ι I2ff.): Heines systematische Konstruktion der deutschen Mythologie als Pantheismus und die Preisgabe der Konstruktion in der Börne-Denkschrift. Auch Weiss (Enttäuschter Pantheismus, S. 1 jff., 1 J9ff.), geht nicht auf diese Konstruktion ein, aber er hält im Unterschied zu Espagne fest, daß der Pantheismus der Goethezeit sich u.a. auch aus neuplatonischen und gnostischen Quellen speist - aus jener >Denkgewohnheit< also, die Graevenitz die >symbolische< Überlieferung des Mythos nennt (vgl. dazu auch oben, Kap. i, passim). Γ31
strebt, während die andere die natürlichen Rechte der Materie gegen die Usurpazionen des Geistes zu vindiziren sucht« (VIII/1, 29). Mit diesen Begriffen sind, wie Heine erneut zur Vermeidung von Mißverständnissen hervorhebt, nicht erkenntnistheoretische, sondern »jene zwei sociale[n] Systeme« gemeint, »die sich in allen Manifestazionen des Lebens geltend machen« (VIII/ ι, 49). Er gibt indes zu verstehen, daß die Bedeutungsfelder der Begriffe >Spiritualismus< und >Sensualismus< sich nicht mit denen der Begriffe >Deismus< bzw. >Pantheismus< decken. So könne der Sensualismus aus dem Materialismus oder aber aus dem Pantheismus resultieren, und nur im zweiten Fall sei »seine Erscheinung schön und herrlich« (VIII/1, 5ο).91 Heine nutzt die Gelegenheit, gleichsam im Vorübergehen das alte Problem der Theodizee zu erledigen: Das >Ubel< in der Welt werde von den Pantheisten nicht geleugnet, wie die Spiritualisten behaupteten, sondern es sei im Gegenteil »ein Resultat der spiritualistischen Welteinrichtung«, der gewaltsamen Trennung von Geist und Materie - eine Argumentation, die darauf beruht, daß Heine das >Ubel< mit dieser Trennung, der »große[n] Weltzerrissenheit« (VIII/1, 60), zusammenfallen läßt. Dementsprechend muß er, wie bereits angedeutet, nachweisen, daß alles, was an den Phänomenen des deutschen Volksglaubens häßlich, abstoßend und >böse< wirkt, eine Bedeutungsschicht ist, die aus christlicher Entstellung resultiert und sich durch rekonstruierende Allegorese abtragen läßt. Unter dieser Schicht als entstelltem Abbild muß die unentstellte Identität von Gott und Welt als eigentlicher Glaubensinhalt verborgen sein. Der Nachweis ist im Rahmen von Heines Argumentation auch darum unerläßlich, weil nur durch ihn sich der philosophisch-theologische Begriff des Pantheismus, der aus der Negation seines Gegenteils gewonnen wurde, mit konkretem Inhalt füllen läßt. Beim Versuch, den Nachweis zu führen, stößt Heine indes sofort auf die Frage, ob die häßlichen und bösen Züge jener Phänomene tatsächlich der christlichen Kultur oder nicht vielmehr der Natur des Nordens, insbesondere seinem Klima, anzulasten sind. Zu dieser Frage gibt der Unterschied zwischen romanischer und germanischer, französischer und deutscher Mythologie Anlaß:
91
Z u Heines V e r w e n d u n g dieser Begriffe vgl. auch Windfuhrs Kommentar in D H A V I I I / 2 , S. 832ÍÍ. W i n d f u h r legt den Dualismus als dialektischen Gegensatz aus, der im Pantheismus aufgehoben werde. Im Lichte von Cassirers Kulturphilosophie liegt die A n n a h m e nahe, daß Heine mit den Begriffen >Sensualismus< und >Spiritualismus< typische und einander entgegengesetzte Tendenzen des mythisch-religiösen D e n kens meint, das wie die anderen Grundfunktionen des Bewußtseins eine F o r m der U m w a n d l u n g von Sinnesdaten in Zeichen ist. D e r Antagonismus der beiden Tendenzen rührt daher, daß durch die eine die sinnliche, durch die andere die nichtsinnliche Qualität der Zeichen mit dem Wertakzent des Heiligen versehen wird; dabei bleiben beide Tendenzen aber immer dialektisch aufeinander bezogen (zur Dialektik des religiösen Bewußtseins s. Kap. 2 b, S. 8 5 und A n m . 76).
132
Die heiteren, durch die Kunst verschönerten Gebilde der griechischen Mythologie, die mit der römischen Civilisazion im Süden herrschte, hat man jedoch nicht so leicht in häßliche, schauerliche Satanslarven verwandeln können, wie die germanischen Göttergestalten, woran freylich kein besonderer Kunstsinn gemodelt hatte, und die schon vorher so mißmüthig und trübe waren, wie der Norden selbst. Daher hat sich bey Euch, in Frankreich, kein so finsterschreckliches Teufelsthum bilden können wie bey uns, und das Geister- und Zauberwesen selber erhielt bey Euch eine heitere Gestalt. Wie schön, klar und farbenreich sind Eure Volkssagen in Vergleichung mit den unsrigen, diesen Mißgeburten, die aus Blut und Nebel bestehen und uns so grau und grausam angrinsen. [VIII/1, l o i . p 1
Diese Unterscheidung zwischen dem französischen und dem deutschen Typ des Volksglaubens dient der Definition der deutschen >NationalreligionGrauenhafte< und >Unheimliche< der Dämonen nicht Resultat christlicher Entstellung, sondern im Gegenteil Attribut ihres archaischen Seins; es ist gegenüber dem >IdealischenVerschönerung< durch die Kunst, das Frühere - ein Gedanke, den bereits August Wilhelm Schlegel, Creuzer und Schelling im Hinblick auf die Mythologie als >Götterlehre< äußern und der noch Blumenbergs Begriff der >Arbeit am Mythos< zugrunde liegt.93 Sollte Heine in seinem Zwischenkommentar das Christentum implizit zu den Faktoren zählen, durch die das >Idealische< von den Dämonen >abgestreift< wurde, dann wäre seine Wirkung auf den deutschen Volksglauben nicht als entstellende, sondern 32
Hervorh. von mir. « Vgl. A WS V O , Bd. I, S.447; Creuzer, Symbolik und Mythologie, 3. Aufl., Bd.I, S. 83ff.; Schelling, Philosophie der Mythologie, Bd. I, S. iéff., bes. S. 24: »Das poetisch Verklärte der griechischen Götter im Vergleich mit den indischen ist nicht etwas schlechthin Ursprüngliches, sondern nur die Frucht der tieferen, ja der völligen Ueberwindung einer Macht, die über die indische Poesie noch immer ihre Gewalt ausübt«; ferner Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 57, und Arbeit am Mythos, passim.
133
im Gegenteil als freilegende oder bewahrende zu beschreiben. Das wiederum liefe auf die oben zitierte Meinung Jacob Grimms hinaus, die deutsche Mythologie sei gegenüber der griechisch-römischen die ursprünglichere, da sie wegen der Christianisierung »in der Wurzel abgeschnitten« worden sei.94 Dafür, daß Heine zu dieser Meinung tendiert, spricht der Renommierton der folgenden, an die Adresse der Franzosen gerichteten Bemerkung: »[...] in unseren Nazionaldichtungen und in unseren mündlichen Volkssagen, blieb jener düster nordische Geist, von dem Ihr kaum eine Ahnung habt« (VIII/i, 2 1 ) . " So verwundert es nicht, daß Heine die angeblich christliche Entstellung der Phänomene des deutschen Volksglaubens und den unentstellten >altgermanischen PantheismusVerkehrtheit< ist nicht mehr die Rede. Erst die Feststellung, er habe sich »vielleicht zu lange bey diesen kleinen Dämonen aufgehalten« (VIII/1, 26), und eine weitere Bemerkung über das Hexenwesen leiten über zu der bereits zitierten Bekräftigung seiner Grundthese: Die christliche Kirche habe »die altgermanische Nazionalreligion so tückisch verkehrt« (VIII/1, 26). Der Widerspruch zwischen dieser These und derjenigen, die sich in dem Zwischenkommentar abzeichnet, wird in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ebensowenig gelöst wie der Widerspruch zwischen dem außenperspektivischen und dem innenperspektivischen Blick auf die Dämonen des Volksglaubens, zwischen der mythosartigen Evokation ihrer Bösartigkeit und der Klage über die >Durchteufelung< der Natur. Heine verweist allerdings an zwei Stellen auf ein späteres Buch, in dem er, »zum Verständniß der neuromantischen Literatur, den deutschen Volksglauben gründlich besprechen« (VIII/1,19) müsse.96 Gemeint ist der im Jahre 1837 publizierte Essay Elementargeister. Bevor er zur Sprache kommen kann, ist zu fragen, wie Heine die Linie vom angeblichen >altgermanischen< zum programmatisch aufgegebenen Pantheismus, vom Volksglauben zur deutschen Philosophie zieht.
94 9!
96
134
Vgl. Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. I, S. X X X V f.; dazu oben, Kap. 1 b), S. 44f. Hervorh. von mir. Vom »Zug des emotiven Renommierens« spricht Briegleb (B VIII, S.969) in seinem Kommentar zu Heines >Zeitgedicht< »Deutschland«; s. dazu unten, Kap. 4 c), S. 203 f. Vgl. D H A VIII/i, S. 102: »Doch darüber werde ich später sprechen.«
Die Linie führt zunächst zu Luther, dem Schöpfer der »Denkfreyheit« in Deutschland, zu deren »weltwichtige[n] Blüthefn]« die deutsche Philosophie zähle (VIII/1, 3 6).97 Heine stellt fest, daß im Zuge der Reformation sich »das judäisch deistische Element« (VIII/1, 34) im Christentum wieder erhebe; die damit einhergehende Reinigung der Religion vom Wunderglauben sei zwar der Poesie abträglich gewesen, diesen Nachteil wögen jedoch Vorteile wie die Läuterung der Sitten auf. Angesichts solcher nüchternen Feststellungen muß es erstaunen, daß die Person Luthers, dieses »deutscheste[n] Mann[s] unserer Geschichte« ( V I I I / i , 33), 98 in Heines Augen offenbar jenen >altgermanischen Pantheismus< repräsentiert, auf den auch die entstellten Phänomene des Volksglaubens bildlich verweisen sollen: Er war ein kompleter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher eben so irrig als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprungliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bey allen providenziellen Männern finden, etwas schauerlich Naives, etwas tölpelhaft Kluges, etwas erhaben Bornirtes, etwas unbezwingbar Dämonisches. [VIII/i, 33Í.J Die Oxymora dieses Passus, denen Heine wenig später noch das der »göttlichefn] Brutalität des Bruder Martin« ( V I I I / i , 34) hinzufügt, erinnern an die Evokation des archetypisch >Deutschen< im Wunderhorn-Passus
der Romanti-
schen Schule·, sie haben hier wie dort die Funktion, eine geistig-sinnliche Totalität des Seins zu suggerieren," der eine revolutionäre Kraft innewohnt und die 97
98
99
Vgl. Johann M. Schmidt: »Heine und Luther. Heines Lutherrezeption in der Spannung zwischen den Daten 1483 und 1933«, in: Heine-Jahrbuch 24/1985, S.9-79. Schmidt macht zwar nicht auf die Brüche in Heines Luther-Porträt, um die es im folgenden geht, aber auf andere Spannungen und Widersprüche in Heines Verhältnis zu Luther aufmerksam. So lasse Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Luthers unrühmliches Verhältnis zu Müntzer aus, da es ihm hier »um den positiven geschichtlichen Zusammenhang zwischen der Reformation Luthers und der erwarteten politischen Revolution« gehe (ebd., S. 39). Damit und mit der mythisierenden Tendenz von Heines Luther-Porträt, von der im folgenden die Rede sein soll, kontrastiert scharf Börnes negatives Urteil über Luther und die Reformation. Vgl. Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und hrsg. v. Inge u. Peter Rippmann, 5 Bde., Bd. I—III Düsseldorf 1964, Bd. IV-V Darmstadt 1968, hier Bd.II, S.872ff., 894; ferner Bd. III, S-924ff., bes. S.924f.: »Die Reformation war die Schwindsucht, an der die deutsche Freiheit starb, und Luther war ihr Totengräber.« Vgl. Germaine de Staël, De l'Allemagne, Bd. II, S. 244: »Luther est, de tous les grands hommes que l'Allemagne a produits, celui dont le caractère était le plus allemand«. Eine in diese Richtung weisende, aber vergleichsweise farblose Charakterisierung des Reformators gibt auch Ludolf Wienbarg in seinen 1834 erschienenen Ästhetischen Feldzügen (vgl. S. 23ff. u. 79ff. in der von Walter Dietze besorgten Ausgabe, Berlin und Weimar 1964). Wienbarg zitiert hier (ebd., S. 8of.) den Passus aus Heines Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (der Vorfassung der Romantischen Schule), in dem Fausts Teufelspakt gedeutet wird als das legitime Ver-
!35
von Heine mit dem >DeutschenDeutschesten< assoziiert wird: Er spricht dieses superlativische Attribut sowohl dem Helden des Wunderhorn-Lieds vom armen Schwartenhals als auch dem Helden der Reformation zu. 100 In beiden Fällen hat der rhetorische Gestus des Porträts eine persuasive Funktion, und er soll die Distanz zwischen Porträt und Porträtiertem verschwinden lassen; von Luther ist sogar die Rede, als würde ein Elementargeist beschworen. Heine bringt den Reformator gleich anschließend tatsächlich mit dem Reich der Elementargeister in Verbindung, indem er die romantische Bergwerks-Topik bemüht: Luthers Vater war Bergmann zu Mansfeld, und da war der Knabe oft bey ihm in der unterirdischen Werkstatt, wo die mächtigen Metalle wachsen und die starken Urquellen rieseln, und das junge Herz hatte vielleicht unbewußt die geheimsten Naturkräfte in sich eingesogen, oder wurde gar gefeyt von den Berggeistern. [VIII/i, 34]
Allegorischer Subtext des mythisierenden Luther-Porträts ist der >altgermanische Pantheismus«, und deshalb wird der >Deist< Luther den Elementargeistern als entstellten Repräsentanten dieser Art von Heidentum assimiliert. Dergleichen Synkretismus hat eine lange Tradition, die Graevenitz als das topische Vergleichsverfahren der Mythographen von Varrò über Vossius und Vico bis hin zu Lévi-Strauss bezeichnet; diese Tradition habe innerhalb der Tradition der bildtheologischen Symboldeutung und Allegorese gewirkt und zähle wie sie zu den Konstituenten unserer >Denkgewohnheit MythosIdentität< zweier Vergleichsglieder, indem sie mindestens ein Merkmalpaar als homolog setzen und diese Korrelation oder Identität im Teil auf die Ganzheit der Vergleichsglieder ausdehnen.«101 Wichtigster médius terminus des Synkretismus aus heidnischer Elementargeister-Welt und christlichem Reformator ist das Signifikat selbst, auf das beide, jene explizit, dieser implizit, zeichenhaft verweisen sollen: der >altgermanische Pantheismus«. Das Bergwerk als metonymischer médius terminus ist rhetorisches Ornament.
100 101
136
langen nach »Rehabilitazion des Fleisches« (DHA VIII/i, S. 160). Wolfgang Menzel, der >Denunziant< (vgl. unten, Kap. 4 c), merkt dazu in seiner Rezension der Ästhetischen Feldzüge an: »Herr Wienbarg stellt unsern ehrlichen, derben, aber gewiß durch und durch christlichen und sittlichen Luther, als einen Ritter dar, welcher den alten Drachen (das Christenthum) bloß bekämpft habe, um die gefangene schöne Prinzessin Sinnlichkeit zu befreien« (abgedruckt in: Politische Avantgarde 18301840. Eine Dokumentation zum »Jungen Deutschland«, hrsg. v. Alfred Estermann, 2 Bde., Frankfurt/M. 1972, Bd. I, S. 56-64, Zitat S. 57; Hervorh. im Text). Vgl. oben, Abschnitt a) in diesem Kapitel, S. 122. Graevenitz, Mythos, S. 96.
Die paradoxe und heterodoxe Umdeutung des >Deisten< Luther zum Krypto-Pantheisten ist exemplarisch für Heines Allegorese der deutschen Kulturgeschichte. Diese Allegorese und das damit verknüpfte topische Vergleichsverfahren praktiziert er dort, wo er den Pantheismus nicht direkt als die Idee nachweisen kann, die den kulturgeschichtlichen Phänomenen zugrunde liegt. Die deutschen Romantiker etwa hätten »aus einem pantheistischen Instinkt« gehandelt, »den sie selbst nicht begriffen«: Das Gefühl, das sie für Heimweh nach der katholischen Mutterkirche hielten, war tieferen Ursprungs als sie selbst ahnten, und ihre Verehrung und Vorliebe für die Ueberlieferungen des Mittelalters, für dessen Volksglauben, Teufelthum, Zauberwesen, Hexerey ... Alles das war eine bey ihnen plötzlich erwachte aber unbegriffene Zurückneigung nach dem Pantheismus der alten Germanen, und in der schnöde beschmutzten und boßhaft verstümmelten Gestalt liebten sie eigentlich nur die vorkristliche Religion ihrer Väter. [VIII/i, ι ο ί ] 1 0 2
Friedrich Schlegel löste das Problem, wie aus dezidiert christlich-katholischer Perspektive das vorchristliche Heidentum als Element der europäischen Bildung gewürdigt werden könne, indem er es allegorisch als entstellten Monotheismus deutete. 103 Heine wiederum wendet die Methode der Allegorese auf die Literaturgeschichtsschreibung der Romantik an und setzt das >pantheistische< Heidentum an die Stelle des Monotheismus. Seine provokative These vom Krypto-Pantheismus der Romantiker zielt nicht nur auf Friedrich Schlegels Geschichte
der alten und neuen Literatur,
sondern auch auf August Wil-
helm Schlegels >Mythologie des Mittelaltersmodernenaltgermanischen< Heidentum; 1 0 6 beide sind wie bei Schlegel dem Christentum antithetisch entgegengesetzt, aber das >altgermanische< ist bei Heine nicht in demselben Maße vergangen wie das antike. Vielmehr erweist es sich als die eigentliche >Mythologie des 102
Hervorh. von mir. Auf ähnliche Weise >entschuldigt< Heine die Mittelalter-Sehnsucht der Romantiker im gestrichenen Anfangspassus der Elementargeister (vgl. D H A I X , S. 258, Bruchstück Α 1, und den entsprechenden Passus in den Traditions
populaires·, ebd., S. 151). 103
S. oben, Kap. 1 b), S. 32 und Anm. 139. A W S Lohner, Bd. IV, S. 99; dazu oben, Kap. 1 c). ,CI > A W S Lohner, Bd. IV, S.82.
104
Ioi
Vgl. A W S Lohner, Bd. IV, S. 88: »[..] jene polytheistischen Religionen waren eins im Prinzip«. I
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Mittelalters< und der Moderne, denn - so lautet Heines Argument - das, was von ihm übrig blieb, hat sich im mittelalterlichen Volksglauben erhalten; und dieser ist nicht vergangen, sondern omnipräsent: Als entstellter Pantheismus ist er das kryptische Signifikat der gesamten deutschen Kulturgeschichte. Erneut wird deutlich, daß es Heine darauf ankommt, nicht die antike Mythologie, sondern das >fremde< Christentum zu historisieren und aus dem Begriff der Nationalität - der europäischen und der deutschen - auszuschließen. A.W. Schlegel hingegen übersieht zwar nicht die relative »Fremdartigkeit« des Christentums, aber sie wird in seinen Augen aufgewogen durch die »biedere Herzlichkeit, womit die altdeutschen Völkerschaften das Christentum aufnahmen«.107 Heines Absicht, die deutsche Kulturgeschichte umzuschreiben und ihre romantische Interpretation gegen den Strich zu lesen, zählt auch zu den Motiven seiner scharfen Polemik gegen jene Teile von Madame de Staëls De l'Allemagne, die an die Schlegelsche »Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters« (VIII/1, 126) erinnern, sich jedoch in einem wesentlichen Punkt davon unterscheiden. Madame de Staël vereinfacht August Wilhelm Schlegels Behauptung, das Christentum sei von den germanischen Stämmen positiv aufgenommen worden, indem sie leugnet, daß überhaupt ein fundamentaler Gegensatz zwischen der Mythologie des Nordens und dem Christentum bestanden habe: »L'esprit de la mythologie du nord avait beaucoup plus de rapport que le paganisme des anciens Gaulois avec le christianisme«.108 Die vorchristliche Religion der Völker Nordeuropas (»leur antique religion«), in der die Prinzipien des christlichen Rittertums schon enthalten gewesen seien, gleiche in nichts dem Heidentum des Südens.109 Diese Ansicht, die dem politischen Zweck des Buches entspricht - Madame de Staël will den Franzosen die >spiritualistische< Kultur der Deutschen als Gegenbild zur materialistischen Kultur des Napoleonischen Zwangsstaates präsentieren - , ließ sich nicht mehr mit dem Instrument der Allegorese als Krypto-Pantheismus interpretieren. Das ist ein wesentlicher Grund für Heines Behauptung, Madame de Staël habe weder die Eigenart der deutschen Kultur noch die tiefere Bedeutung der >romantischen Schule< begriffen. 110 Präsenz und Permanenz des Pantheismus in der deutschen Kulturgeschichte zu demonstrieren oder zu suggerieren, ist das zentrale Anliegen von Heines Schrift über die Religion und Philosophie in Deutschland, und es ist aufschluß107 108 109 110
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A WS Lohner, Bd. IV, S. 84; Bd. V, S. 24. De l'Allemagne, Bd. I, S. 70. Vgl. ebd., Bd. II, S. i i 9 f „ Zitat S. 119. Vgl. bes. D H A VIII/i, S. 125L {Die romantische Schule)·, ebd., S.262 (»Préface« zur ersten Auflage von De l'Allemagne); D H A XV, S. 1 jff. (Geständnisse) und die Bruchstücke dazu (ebd., S. iöyff.). Zum Konflikt zwischen Madame de Staëls Deutschland-Bild und dem Heines vgl. Eve Sourian: Madame de Staël et Henri Heine: Les deux Allemagnes, Paris 1974. Sourian behandelt freilich das Thema der Religion nur am Rande.
reich, daß er den Exkurs zum Pantheismus, aus dem oben bereits zitiert wurde, in der Mitte der Schrift unterbringt. Deutschland, heißt es im Anschluß an die Definition des pantheistischen Gottesverständnisses, sei der »gedeihlichste Boden des Pantheismus« (VIII/i, 6i); der Deismus sei in Deutschland längst in der Theorie gestürzt. 111 Dieser Umsturz ist in Heines Augen Kants und Fichtes Werk; ihre Philosophien, die er als atheistische interpretiert, dienen also ebenfalls der Wiederherstellung des Pantheismus. 112 »Man sagt es nicht, aber jeder weiß es; der Pantheismus ist das öffentliche Geheimniß in Deutschland«, er »ist die verborgene Religion Deutschlands« (VIII/1, 6if.). Der >sensualistisch< umgedeutete Substanzbegriff Spinozas stellt das theoretische Substrat des Pantheismus bereit, auch des postulierten >altgermanischenneuen Religion» und dem Programm der >neuen M y -
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glaube an den Fortschritt« ( V I I I / 1 , 17), beteuert Heine schon zu Beginn seiner Schrift. U m so erstaunlicher scheint es zunächst, daß die künftige deutsche Revolution, die er als dramatisches Finale seiner Schrift inszeniert - der gesamte Passus wurde von der Zensur gestrichen 1 1 6 - , auf eine destruktive Regression katastrophalen Ausmaßes hinausläuft. U n d doch resultiert dieses Finale aus dem Synkretismus heterogener Zeichenordnungen, der für die Schrift charakteristisch ist. Heine läßt nun Kantianer, Fichteaner und Naturphilosophen als rächende mythische Gewalten auftreten, die der >kranken alten Welt< den Garaus machen; am schrecklichsten, betont er, wären revolutionäre N a turphilosophen: [...] der Naturphilosoph [wird] dadurch furchtbar seyn, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und daß alsdann in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bey den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft um zu zernichten, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christenthum und das ist sein schönstes Verdienst - hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwuth, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, w o er kläglich zusammenbricht; die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gothischen Dome. [VIII/i, 118] Viele Interpreten dieses Katastrophenszenariums haben in der einen oder anderen Weise versucht, es mit der programmatischen Idee des Fortschritts hin zur pantheistischen >Religion der Freude< in Einklang zu bringen." 7 Es ist je-
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thologie< waren (dazu Frank, Der kommende Gott, S. 22off.), die Heine für den SaintSimonismus einnahmen. Vgl. Windfuhrs Bemerkungen in D H A VIII/2, S. J44Í. und 923. Vgl. z.B. Bollacher, »Aufgeklärter Pantheismus«, S. 172: »Dem Bild der Gewalt entspricht somit das Bild der emanzipierten pantheistisch-sensualistischen Gesellschaft, da^ in der Schlußprognose nur ahnungsvoll aufscheint«; Windfuhr in D H A VIII/2, S.923Í.; Altenhofer, »Die exilierte Natur«, S. i^zff.; Koopmann, »Heinrich Heine und die Politisierung des Mythos«, S. 1 J4ff. Koopmann sieht in der Revolutionsprognose einen Beleg für seine These, daß die Politisierung des Mythos bei Heine in eine Mythisierung der Politik umschlägt. In der Revolutionsprognose werde das christliche Weltende ins Gegenteil seiner christlichen Sinngebung gekehrt. »Statt Jammer gibt es bei Heine Nektar und Ambrosia, statt des Höllensturzes eine fröhliche Götterwiederauferstehung« (ebd., S. 154). Koopmann übersieht, daß die >Fröhlichkeit< wohl Teil des Revolutionsprogramms ist, sich in der mythischen Revolutionsprognose aber gerade nicht einstellt. J. Stern (Re-interpretations. Seven Studies in Nineteenth-Century German Literature, Cambridge 2 i 9 8 i , S.222ff.) und Ludwig Rosenthal (Heinrich Heine als Jude, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1973, S. 343) erblicken in der Revolutionsprognose eine Ahnung des Dritten Reichs, gehen indes dem Widerspruch zwischen utopischem Programm und prophezeiter Ka141
doch nicht zu leugnen: Das synkretistische Gebilde, das Präsenz und Permanenz des Pantheismus in Deutschland belegen soll, bricht hier auseinander. Der >altgermanische Pantheismus< geht in den >dämonischen Kräften« des Volksglaubens auf, die ihn bedeuten sollten, er streift seinerseits >alles Idealische< ab und entpuppt sich als Fiktion; das allegorische Signifikat wird von den vermeintlichen Signifikanten resorbiert. Die archaischen »dämonischen Kräfte« widerstehen dem Versuch, sie für einen fortschrittlichen« politischen Zweck zu vereinnahmen, sie entfalten eine autonome Dynamik, die diesem Zweck fremd ist, ja ihn vernichtet, sie lassen sich nicht länger durch den topischen Vergleich und die Allegorese heterogenen Phänomenen oder philosophisch-theologischen Konzepten wie dem Pantheismus assimilieren. Die Vermutung, die zu Beginn des Essays aufkam - das Grauenhafte und Abstoßende der Dämonen des Volksglaubens haftet ihnen selbst an, es läßt sich nicht abtragen - , wird nun dadurch zur Gewißheit, daß Heine die dämonischen Kräfte im Szenarium der Revolution auftreten und agieren, sie gleichsam >los< läßt. 1 1 8 Die losgelassenen, auferstandenen Dämonen maskieren nicht mehr die Philosophie; die Philosophie ist zur Maske der Dämonen geworden. Die Naturphilosophen sind selbst die Dämonen, die sie beschworen haben. Und diese Dämonen sind nicht mehr die grotesken, zwergenhaften, mehr oder weniger domestizierten Kobolde, von denen Heine im Ersten Buch seiner Schrift erzählt; die Kobolde sind zu riesenhaften, übermächtigen Rachegöttern emporgewachsen. Die progressive revolutionäre Dynamik schlägt in Regression um: So entlädt sich die Sprengkraft der Identifikation und metonymischen Verwechslung von Volksglauben und Naturphilosophie, von Dämonen und Philosophen. 1 ' 9 Diese Identifikation ist selbst mythisierend, insofern als sie dem Gesetz der >Konkreszenz und Koinzidenz der Relationsglieder< gehorcht. Demselben Gesetz gehorcht auch Heines >Argument< f ü r die Unausweichlichkeit der künftigen deutschen Revolution: »Der Gedanke will That, das Wort will
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tastrophe ebenfalls nicht nach. Hingegen hält Sternberger, der die Revolutionsprognose mit Heines anderen Revolutionsprognosen vergleicht (vgl. Heinrich Heine, S. 28-51), den Widerspruch fest (ebd., S.45); der »schöne Pantheismus« sei am Ende der Schrift über die Religion und Philosophie vergessen, das Stichwort >Pantheismus< trete hier »in den ganz anderen Zusammenhang der >dämonischen KräfteZusammenhang< ist jedoch, wie Sternberger übersieht, in der Schrift von vornherein präsent. Küppers (Heinrich Heines Arbeit am Mythos), der den Spuren der Fremdheit des Mythos bei Heine nicht nachgeht, verzichtet auf eine Analyse der Revolutionsprognose. Vgl. die unten (Abschnitt c in diesem Kapitel) zitierte Verwendung dieses Bildes zu Beginn des Zweiten Buchs des Essays (DHA VIII/i, S. 80). Oesterle ist also nur teilweise zuzustimmen, wenn er bemerkt, Heines Position in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland lasse sich als »ideologiekritischer Schellingianismus« umschreiben (Oesterle, Integration und Konflikt, S. 115; Hervorh. im Text).
Fleisch werden« (VIII/1, 79); »[d]er Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner« (VIII/i 118). 120 Das >Argument< stellt die Differenz zwischen Denken und Sein, Wunsch und Wirklichkeit in Frage; ihre antizipierte Identität erscheint jedoch am Ende der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland nicht mehr als Utopie, deren Realisierung es durch einen revolutionären historischen Prozeß herbeizuführen gälte, sondern als Verhängnis. Es trifft nun ein, was nach Blumenberg die Depotenzierung des Schrekkens, die der Mythos und die >Arbeit< an ihm sind, durchaus zuläßt: daß nämlich »die Rudimente des gezähmten Schreckens wieder virulent werden.« 121 Sie werden es, indem Heine hier erneut die Perspektive des Mythos selbst einnimmt, so daß dieser als eigengesetzliche Denkform sich gegen die Trennung von Bild und Sache durchsetzt; diese Trennung ist ihm selbst fremd, wie Cassirer hervorhebt. »Erst wir, die Zuschauer, die in ihm nicht mehr leben und sind, sondern die ihm bloß reflektierend gegenüberstehen, legen sie in ihn hinein. Wo wir ein Verhältnis der bloßen >Repräsentation< sehen, da besteht für den Mythos [...] ein Verhältnis realer I d e n t i t ä t . « 1 2 2 Die Identität der mythischen Phänomene ist ihre kulturelle Fremdheit; wie bei Creuzer und Grimm behauptet sich auch bei Heine diese Fremdheit als Vielheit gegen den Denkzwang zur reduzierenden Vereinheitlichung. Und die Autonomie des mythischen Denkens äußert sich am Ende darin, daß es das revolutionäre, auf die Verwirklichung der Utopie zielende Denken, dessen Instrument es doch sein sollte, gleichsam aufzehrt: Die Revolution ist nur noch als schicksalhafte und schreckliche Wiederkehr der alten Götter denkbar. Der Mythos entfaltet in Heines Revolutionsszenarium jedoch auch eine Kraft, die zur Depotenzierung des Schreckens beiträgt. In der Bildsprache des Szenariums sind mythologische Motive und bestimmte Mythen verarbeitet (deutlich sind Anklänge an die Titanomachie und die eddischen Ragnaröklli), 120
Der erste dieser beiden Sätze steht am Anfang, der zweite am Ende des Dritten Buchs der Schrift. Der erste Satz ist eine Anspielung auf Joh. 1 , 1 4 (vgl. Windfuhr in D H A VIII/2, S. 887). Den Gleichnischarakter des zweiten Satzes analysiert Sternberger (Heinrich Heine, S. 3 1 , 38). Vgl. das Zitat dieses Satzes in der Börne-Denkschrift (dazu unten, Kap. 4 a, S. 175 f.) und die Personifikation der >Tat< in Deutschland. Ein Wintermährchen (dazu s. unten, S. 15 8 in diesem Kapitel). - Zum mythischen Gesetz der >Konkreszenz und Koinzidenz der Relationsglieder< (Cassirer) s. oben, Kap. ι a), S. 12.
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Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, S. 58. Cassirer, P H S F , Bd. II, S. 51. Hervorh. im Text. Sternberger (Heinrich Heine, S.44) verweist auch auf die Bedeutung der Apokalypse für Heines Revolutionsprophezeiungen. Was diejenige in der Schrift über die Religion und Philosophie in Deutschland angeht, besteht aber ein gewichtiger Unterschied zur biblischen Apokalypse darin, daß ein Hinweis auf den endgültigen Sieg Christi und die himmlischen Heerscharen über die Dämonen fehlt; die Wiederkehr
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die sich nicht auf den utopischen Pantheismus reduzieren lassen; daher können sie der Artikulation und Beantwortung der beunruhigenden Frage dienen, wie man sich die künftige deutsche Revolution vorzustellen habe. Indem Heine das Künftige, Unbekannte in mythologische Bilder bannt, die zwar Schrecken ausdrücken, aber vertraut sind, läßt er es im Horizont des schon Gewußten aufgehen. Das Unbekannte erscheint als Wiederkehr des Gleichen; was an Schrecklichem bevorsteht, scheint schon einmal dagewesen zu sein. Der Mythos ist hier als Verarbeitung von Terror auch dessen Depotenzierung. Durch die mythologischen Anspielungen wird weiterem Fragen Einhalt geboten - eine wichtige Leistung der mythischen Erzählungen; 1 2 4 zugleich werden aber die Idee der Perfektibilität und die Sozialutopie fraglich. Geschichte ist nicht mehr offener Kontext wie im neuzeitlichen Weltbild oder einmaliges Heilsgeschehen wie im christlichen; was geschieht, erscheint als kreisförmigwiederholende Bestätigung des Gleichen. 1 2 5 Virulenz und Depotenzierung des Schreckens, »Entsetzen und Bewundrung« ( V I I I / i , 117): Diese Widersprüchlichkeit, die zu den Eigenschaften des Mythos und seines >Wirkungspotentials< zählt, macht sich in der Revolutionsprognose geltend. Eine den Schrecken depotenzierende Kraft hat die p o e t i sche Wiederbelebung< des Mythos hier nicht etwa, weil sie das schreckliche Geschehen beeinflussen oder gar abwenden könnte - das kann sie nicht - , sondern weil sich mit ihr die Einstellung zu diesem Geschehen in eine ästhetische verwandelt. In leuchtenden Farben malt Heine »das große Kampfspiel« der künftigen deutschen Revolution: »Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revoluzion nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte« (VIII/1, 119). Doch das antizipierte Spiel kann über den bitteren Ernst nicht hinwegtäuschen. Mit den Worten »hütet Euch« ( V I I I / i , 1 1 8 , 1 1 9 ) warnt Heine die Franzosen wiederholt vor der deutschen Revolution. Diese Warnung hat jenen Ton des patriotischen Renommierens, der schon im ersten Buch des Essays zu vernehmen war, von den meisten Interpreten des Textes indes überhört wurde. 1 2 6 Zweifellos ist der Patriotismus romantisches Erbe, das bei Heine eine revolutionäre Uminterpretation erfährt. Doch damit
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der ehemals besiegten Götter und Dämonen wird nicht als Interimsherrschaft kenntlich gemacht. Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 286f.; Helmut Koopmann, »Heines politische Metaphorik«, in: Heinrich Heine. Dimensionen seines Wirkens, S. 68-83, hier S .76. Vgl. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential«, passim. Vgl. auch oben, Kap. 2 a), S. 76, die Ausführungen zu Heines mythologisch-einkleidender Darstellung der Pariser Börse. Diese Feststellung trifft Jeffrey L. Sammons: Heinrich Heine, Stuttgart 1991, S. 79. Eine Ausnahme bildet Sternberger, Heinrich Heine, S. 36: »Man hört mitten im visionären Schrecken den Nationalstolz des Propheten heraus.«
ist noch nicht erklärt, warum der Prophet mit seiner Vision von der gewaltsamen deutschen Revolution auch renommiert. Denn in dieser Vision machen die entfesselten dämonischen Kräfte der Revolution deren pantheistischen Zweck zunichte. Demnach ist es offenbar etwas an der >dämonischen< Gewaltsamkeit selbst, was den Propheten fasziniert. Ebensowenig wie in patriotischer Begeisterung für die künftige deutsche Revolution geht diese Faszination in der ästhetischen Einstellung dazu auf, da die Revolution ja mehr sein wird als ein Schauspiel. Woher rührt dann aber die Faszination durch das Bild der entfesselten, gewaltsamen Dämonen? Darüber gibt der Essay Elementargeister zusätzliche Auskunft.
c) Mythos und Terror: Elementargeister Im folgenden sei hauptsächlich vom ersten Teil des Essays die Rede, da sich dieser Teil unmittelbar an die Deutung des Volksglaubens in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland anschließt. Zunächst ist zu fragen, inwiefern Heine die Widersprüche dieser Deutung nun erneut aufgreift und verarbeitet. Die These vom >altgermanischen Pantheismus< wird in dem Essay und den französischen Fassungen dieses Textes nicht erneuert. Heine verwendet den Terminus >Pantheismus< nur an einer Stelle, und zwar in dem ursprünglichen Anfangspassus des Essays, den er durch einen selbstzensierenden Eingriff strich - möglicherweise unter dem Eindruck des Bundestagsbeschlusses von Dezember 1835 gegen das Junge Deutschland; die französischen Fassungen blieben unverstümmelt.127 Heine greift in diesem Passus eine Vermutung auf, die er in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland äußert. Dort, schreibt er nun, habe er bereits angedeutet, daß die »Mittelaltersucht« der Romantiker »am Ende vielleicht nur unbewußte Liebe für den altgermanischen Pantheismus sey, indem sich im Volksglauben des Mittelalters die Reste dieser älteren Religion noch erhalten haben« (IX, 258).128 Der Terminus >Pantheismus< verweist hier nicht voraus auf die folgenden Ausführungen, sondern zurück auf die Schrift, deren Anhang diese Ausführungen bilden sollen. Dennoch sieht sich der Interpret mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob der Verzicht auf Erneuerung der Pantheismus-These einen Wandel in Heines Einstellung zum Volksglauben signalisiert oder allein auf die Verschärfung der Zensur zurückgeht. Am 12. Januar 1836 schreibt Heine an sei127
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Zu diesen selbstzensierenden Eingriffen vgl. Neuhaus-Kochs Ausführungen in D H A IX, S. 31 off. BruchstückA 1 zu Elementargeister·, vgl. den Kommentar dazu ( D H A IX, 57iff.)sowie den entsprechenden Passus der Traditions populaires (ebd., S. 151); zum Thema s. oben, Abschnitt b) in diesem Kapitel, S. I37Í.
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nen Verleger Campe über die Manuskripte für den dritten Teil des Salon, zu denen auch die Elementargeister zählten: »Auf jeden Fall aber werde ich in meinem nächsten Buche gar nichts geben, was politisch oder religiös mißfällig seyn könnte, und ich richte es danach ein, daß ein Censor auch kein einziges Wort daran streichen kann.« 129 Das Verb einrichten läßt vermuten, daß sich die drohende Zensur nicht nur in Form von Streichungen, die Heine selbst vornahm, sondern auch stilbildend auf den Text ausgewirkt hat, daß folglich der Autor >Mißfälliges< nicht grundsätzlich preisgegeben, sondern in verhüllender Form mitgeteilt hat. Ist die These vom >altgermanischen Pantheismus« als Subtext auch in den Elementargeistern
nachweisbar, verzichtet Heine hier
also nur darauf, sie explizit zu erneuern? 1 ' 0 Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht die Stelle, an der Heine sich zum Thema der Christianisierung der germanischen Heiden äußert: Ich habe in diesen Blättern immer nur flüchtig ein Thema berührt, welches zu den interessantesten Betrachtungen einen bändereichen Stoff biethen könnte: nemlich die Art und Weise wie das Christenthum die altgermanische Religion entweder zu vertilgen oder in sich aufzunehmen suchte und wie sich die Spuren derselben im Volksglauben erhalten haben. Wie jener Vertilgungskrieg geführt wurde ist bekannt [IX, 36] Die vier Striche signalisieren einen selbstzensierenden Eingriff: Gestrichen wurde ein sarkastischer Passus zum >Ubergaukeln< der Heiden durch das Schwert und die Praxis politisch motivierter Heiraten (»Kuppeleygeschichten«). I J I Heine fährt fort: Wenn das Volk, gewohnt an dem ehemaligen Naturdienst, auch nach der Bekehrung für gewisse Orte eine verjährte Ehrfurcht bewahrte, so suchte man solche Sympathie entweder für den neuen Glauben zu benutzen, oder als Antriebe des bösen Feindes zu verschreyen. Bey jenen Quellen, die das Heidenthum als göttlich verehrte, baute der christliche Priester sein kluges Kirchlein, und er selber segnete jetzt das Wasser und exploitirte dessen Wunderkraft. [IX, 36] Dieses kommentierende Aperçu weicht in signifikanter Weise von den entprechenden Reflexionen im Ersten Buch der Schrift über die Geschichte der Reli-
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HSA X X I , S. 132. Hervorh. von mir. In diese Richtung weisen die - nicht zahlreichen - Interpretationen des Essays; vgl. resümierend Höhn, Heine-Handbuch, S. 302: »Der Pantheismus erscheint jetzt nicht allein als >verborgene Religion Deutschlands« und seiner größten Dichter und Denker [...], sondern als Volksglaube schlechthin, der das Christentum überdauert hat und dessen Stärkung die Möglichkeit bot, das politische Programm der Emanzipation zu verbreiten. Dieser Glaube sollte nicht der Verklärung, sondern der Aufklärung dienen« (Hervorh. im Text). Hohns Deutung ist eine für die Forschung typische, vereinfachende Allegorese (s. oben, Kap. 2 c, S. 98f.), die dem Text nicht gerecht wird, wie im folgenden zu zeigen ist. Vgl. auch die unten (Anm. 156) zitierten Äußerungen von Neuhaus-Koch und Küppers. Vgl. D H A IX, S. 263 (Bruchstück A 14), und die französische Fassung ebd., S. 184.
gion und Philosophie ab. Heine skizziert den kulturgeschichtlichen Wandel, in dessen Verlauf das Christentum über das Heidentum siegte, nun als kompliziertes Ineinander von >Vertilgung< oder >Verleumdung< und Adaptation, anstatt ihn auf den bildtheologischen Nenner >Entstellung< zu bringen; an anderer Stelle deutet er die Luftfahrten der Hexen als »Travestie alter germanischer Tradizionen« (IX, 32), und auch im zweiten Teil des Essays verwendet er nicht den Begriff der Entstellung, sondern er spricht von der »Transformazion der altheidnischen Götter« (IX, 52). Die Begriffe >Travestie< und >Transformation< sind aus heutiger Sicht dem kulturgeschichtlichen Wandel, um den es geht, zweifellos angemessener als der Begriff >EntstellungNationalglaube< verweisen sollen, sondern hermeneutisch in den Instanzen von Autor und Leser. 1 ' 6 So unterliegt die typologische Deutung der Grimmschen Sage von »Wittekinds Flucht«, die den effektvollen Auftakt der Elementargeister bildet, keinem ontologischen Systemzwang, sondern sie wird als ein Stück >poetischer Wiederbelebung< der Sage kenntlich gemacht: Die Bemerkung, man behaupte, es gebe »greise Menschen in Westphalen, die noch immer wissen wo die alten Götterbilder verborgen liegen«, und der daraus gleichsam folgende Satz, in Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, sei »nicht alles todt was begraben ist« (IX, 11), werden dem Zitat der Sage vorausgeschickt. Diese berichtet, daß die vor Karl dem Großen fliehenden Sachsen eine alte Frau, die vor Erschöpfung nicht weiterkonnte, bei lebendigem Leibe begruben, weil sie »dem Feinde nicht lebendig in die Hände fallen sollte«. Heine merkt an: »Man sagt, daß die alte Frau noch lebt. Nicht alles ist todt in Westphalen, was begraben ist« (IX, 11). Die Sage hat diesen Satz beispielhaft belegt und detailliert; deshalb wird er, mit chiastischer Umstellung der Adverbialbestimmung >in Westfalen^ wiederholt. Zugleich wird eine Art typologischer Zusammenhang zwischen der lebendig begrabenen Frau und den verborgenen alten Götterbildern suggeriert. Sind auch die Götter und die vorchristliche germanische Religion in Wahrheit noch lebendig? muß sich der Leser fragen. Das Ungewisse dieser Deutung spiegelt das ungewisse Schicksal der alten Frau und der alten Götterbilder: »Wie man behauptet«, »Man sagt«. Das Ungewisse ist aber auch Indiz der konstitutiven Funktion, die dem Erzähler und dem Leser bei der Herstellung des typologischen Zusammenhangs zukommt; es ist Ferment der unheimlichen Stimmung, die Heine mit diesem Auftakt schafft und die sich im ersten Teil der Elementargeister wiederholt einstellt, allen ironischen Distanzierungsversuchen zum Trotz. Begrabenes, das noch lebendig ist: Heine nimmt bildsprachlich etwas von Freuds Begriff des Unheimlichen vorweg. Dies trifft auch auf Texte zu, von denen bereits die Rede war: Im Vineta-Passus des NorJsee-Reisebilds spricht Heine vom Unheimlichen, und in demselben Reisebild berichtet er von der Ausgrabung der altheidnischen Statue in Mexiko, die für ihn zum Bild verdrängter, aber noch lebendiger >Nationalerinnerungen< wird; in der Harzreise konvertiert der zweite Traum des Reisenden Heimliches in Unheimliches; in dem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland trifft Heine die Feststellung, nichts sei unheimlicher als die Dämonen des deutschen Volksglaubens, und er beobachtet, daß die Empfindungen des Men136
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Zum Unterschied zwischen ontologischem und hermeneutischem Allegorieverständnis und zum im folgenden verwendeten Begriff der Typologie vgl. oben, Kap. 2 b).
sehen sich >heimlich< an seinen traditionellen Glaubensvorstellungen festklammern.' 3 7 Freud stellt im sprachanalytischen Teil seines Aufsatzes über das Unheimliche fest, dieses sei das ehemals Vertraute, >Heimlichepantheistische< Programm der utopischen Wiederversöhnung von Geist und Materie, von christlicher Kultur und heidnischer Naturreligion? Und hatte nicht dieses Motiv seit dem 17. Jahrhundert und vor al141
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Zu dem historischen Geschehen, auf das Heine hier anspielt, vgl. den Kommentar von Neuhaus-Koch in D H A IX, S. 469. Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim): Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, hrsg. v. Robert Blaser, Bern i960, S. 24L; in der Wiedergabe dieses und des Anm. 150 nachgewiesenen Zitats wurden die Abkürzungen aufgelöst und die Schreibung der Umlaute dem heutigen Gebrauch angeglichen. Vgl. Neuhaus-Koch in D H A IX, S.462.
lem in der deutschen Romantik - Fouqués Undine
zählte zu Heines Lieblings-
lektüren - eine enorme literarische Ausstrahlung entfaltet? 144 Heine will offenbar nicht an die Paracelsische Vermenschlichung der Elementargeister - sie ist Teil der kritisierten Systematisierung dieser Phänomene - und die darauf fußende Tradition anknüpfen, sondern das Fremde und b e fremdliche* 145 der unter den Begriff >Elementargeister< subsumierten Phänomene hervorheben; er macht die Paracelsische >Arbeit am Mythos< rückgängig. 1 4 6 Das läßt sich dem Unterschied zwischen seiner und der Paracelsischen, von den Romantikern erneuerten Deutung der Sage vom Ritter Peter von Staufenberg entnehmen. Heine führt die Sage als Beleg für seine im Plauderton getroffene Feststellung an, es sei den Volkssagen eigentümlich, »daß ihre furchtbarsten Katastrophen gewöhnlich bey Hochzeitfesten ausbrechen«: Als Herr Peter von Staufenberg beim Hochzeitmahle saß, und zufällig aufwärts schaute, erblickte er einen kleinen weißen Fuß, der durch die Saalesdecke hervortrat. Er erkannte den Fuß jener Nixe womit er früher im zärtlichsten Liebesbündnisse gestanden, und an diesem Wahrzeichen merkte er wohl, daß er durch seine Treulosigkeit das Leben verwirkt. Er schickt zum Beichtiger, läßt sich das Abendmahl reichen und bereitet sich zum Tode. Von dieser Geschichte wird in deutschen Landen noch viel gesagt und gesungen. Es heißt auch, die beleidigte Nixe habe den ungetreuen Ritter unsichtbar umarmt und in dieser Umarmung gewürgt. Tief gerührt werden die Frauen bey dieser tragischen Erzählung. Aber unsere jungen Freygeister lächeln darüber spöttisch und wollen nimmermehr glauben, daß die Nixen so gefährlich sind. Sie werden späterhin ihre Ungläubigkeit bitter bereuen. [IX, 20] Der Passus ist typisch für die Technik von Heines Darstellung des Volksglaubens in den Elementargeistern.
Z u den Merkmalen dieser Technik zählt der
Wechsel zwischen Zitat oder innenperspektivischer Nacherzählung und distanzierendem Kommentar, zwischen dem >Schauerlichen< (IX, 26) und dem Komischen, das zustande kommt, indem Heine Züge des modernen Gesellschaftslebens in die alten Sagenstoffe einblendet; die Sagenstoffe werden trave-
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Vgl. Windfuhrs Kommentar zum Fouqué-Portrât in der Romantischen Schule (DHA VIII/2, S. 1382). Zur Paracelsus-Rezeption seit der deutschen Romantik vgl. Oswald Floeck: Die Elementargeister hei Fouqué und anderen Dichtem der romantischen und nachromantischen Zeit, Heidelberg 1909, und vor allem Kurt Goldammer: Paracelsus in der deutschen Romantik. Eine Untersuchung zur Geschichte der Paracelsus-Rezeption und zu geistesgeschichtlichen Hintergründen der Romantik, Wien 1980; ferner - im Hinblick auf Fouqués Undine - Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München/Wien 1989, S. 2}6f. In den altdänischen Liedern, bemerkt Heine, sei vom Federgewand der Schwanenjungfrauen oft die Rede, »aber dunkel und in höchst befremdlicher Art« (DHA IX, S.25). Dem entspricht später der Versuch, mit seinem Faust-Ballett Goethes >Arbeit< am Faust-Mythos rückgängig zu machen: In Goethes Faust, bemerkt Heine, »vermissen wir durchgängig das treue Festhalten an der wirklichen Sage, die Ehrfurcht vor ihrem wahrhaftigen Geiste« (DHA IX, S. 102).
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stiert.'47 So auch hier: Heine beschließt seine Paraphrase der Sage vom Staufenberger, indem er sie in eine Salonkonversation zwischen Frauen und Freigeistern übergehen läßt. Dadurch erzielt er einen komischen Effekt, mit dem er der Katastrophe, von der die Sage berichtet, etwas von ihrem Ernst zu nehmen scheint. Mythologie ist wieder >gelehrte Galanterie*,148 wie sie es im 18. Jahrhundert war; Heine überträgt den aufklärerisch-mondänen Umgang mit der klassischen Mythologie auf die deutsche. Die Komik der Sagentravestie wird jedoch durch die irritierende Ambiguität des Satzes, die Freigeister würden ihre Ungläubigkeit noch bitter bereuen, wieder aufgehoben. Identifiziert sich Heine hier mit dem Wirklichkeitsbegriff der Sage, macht er sich zum Anwalt ihres Ernstes, oder ist die Drohung ein geistreicher Scherz und als solcher Teil der Salonkonversation? Soll der Leser an die Gefährlichkeit der Nixen und an diese selbst >glauben< oder nicht? Die Inkongruenz von Sage und Salon, von Mythischem und Modernem wirkt nun nicht mehr komisch. Vielmehr stellt sich hier unvermutet eben jener Urteilsstreit ein, der nach Freud konstitutiv ist für das Gefühl des Unheimlichen. Die Komik wird hier selbst der eine Pol dieses Streits, sie ist nicht mehr dessen Aufhebung. 149 Paracelsus hingegen läßt die Katastrophe, mit der die Sage schließt, im göttlichen Heilsplan aufgehen. Er interpretiert geschlechtliche Verbindungen zwischen Menschen und Elementargeistern als unauflösliche >EhenWillis< verwendet, sollen eine Totalität jenseits von Gut und Böse, Leben und Tod ausdrücken, die an sich nichts Geschlechtsspezifisches hat. Sie kann sich in mythischen oder mythisierten Figuren nicht nur weiblichen, sondern auch männlichen Geschlechts verkörpern: Heine projiziert sie nicht nur in die dämonischen Verführerinnen, sondern auch in Luther und in den Helden des Wunderhorn-Lieds vom armen Schwartenhals. Mythisches Denken, so ist zu folgern, kann bei Heine unterschiedliche Funktionen haben, zu denen die Geschlechterideologie ebenso zählt wie die revolutionäre Kulturkritik. Es kann sich aber auch von solchen Funktionalisierungen emanzipieren und seine relative kulturelle Fremdheit geltend machen. Ein eklatantes Zeugnis dieser Fremdheit und ihrer Sprengkraft ist, wie oben deutlich wurde, das Auseinanderbrechen der synkretistischen Konstruktion, die in dem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland die Präsenz, Permanenz und revolutionäre Teleologie des Pantheismus belegen soll. Warum Heine dort versucht, den Volksglauben als eine Manifestation des mythischen Denkens in das revolutionäre Programm der utopischen Wiederversöhnung von Geist und Materie einzubeziehen, leuchtet nach der Lektüre des Elemen161 163
Hervorh. im Text. Vgl. den witzigen, aber durchaus misogynen Melusinen-Passus in den stern ( D H A IX, S.22Í.).
Elementargei-
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targeister-Essays ein: Es ist die mythische >Allmacht des GedankensAllmacht des Gedankens« ist die Verletzung von Grenzen. Es scheint zunächst, als müßten sich die Züge des Volksglaubens, die als Ausdruck der grenzverletzenden >Allmacht des Gedankens< zu deuten sind, für die Revolution instrumentalisieren, als müsse sich die Revolution durch den Volksglauben rechtfertigen, auf ihn als ihre mythologische Wurzel zurückführen lassen. Dies um so mehr, als Heines Konzept der revolutionären kausalen Relation von Gedanke und Tat selbst in der magischen >Allmacht des Gedankens< verwurzelt ist; die Vision von der künftigen deutschen Revolution ist, wie sich rückblickend zeigt, eine Allmachtsphantasie, und vor allem daher rührt der Ton des Renommierens, in dem sie vorgetragen wird. Daher rührt aber auch die beobachtete Verkehrung des Wunschbilds in ein Schreckbild, von Totalität in Terror. Diese Dialektik macht sich bei Heine immer dann geltend, wenn er das Szenarium der Revolution mythosartig darstellt, als schicksalhafte Fleischwerdung des Gedankens: Ich bin nicht dazu geeignet ein Kerkermeister der Gedanken zu seyn. Bey Gott! ich laß sie los. Mögen sie sich immerhin zu den bedenklichsten Erscheinungen verkörpern, mögen sie immerhin, wie ein toller Bacchantenzug alle Lande durchstürmen, mögen sie mit ihren Thyrsusstäben unsere unschuldigsten Blumen zerschlagen, mögen sie immerhin in unsere Hospitäler hereinbrechen, und die kranke alte Weh aus ihren Betten jagen - es wird freylich mein Herz sehr bekümmern und ich selber werde dabey zu Schaden kommen! [VIII/1, 80]
Die Verserzählung Deutschland. Ein Wintermährchen bietet eine andere Variante derselben Phantasie: Hier läßt Heine einen »Büttel« auftreten, der dem »Richter«, dem denkenden Schriftsteller-Ich, als »That von [sjeinem Gedanken« und »mit dem Gehorsam des Knechtes« (IV, 105) folgt. Auch diese Personifikation der >Tat< ist ein nach außen projiziertes, dem Ich als fremder Dämon erscheinendes Phantasma und wird daher als »unheimlich« (IV, 103) bezeichnet. Schlägt der Büttel im Auftrag des Richters zu, dann blutet auch der Richter selbst. Die Revolutionsprognose am Ende der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ist, wie deutlich wurde, ebenfalls eine Variante dieser Allmachtsphantasie und ihrer Dialektik. Darüber hinaus ist sie der Gipfel- und Wendepunkt von Heines deutscher Mythologie. Sie und der Elementargeister-Essay zeigen, daß Heine nicht durch die Rede über den Mythos, sondern durch die mythosartige Rede, nicht durch systematisierende Allegorese, sondern durch den innenperspektivischen Blick auf die unheimlichen Dämonen des deutschen Volksglaubens sich die relative, aber irreduzible kulturelle Fremdheit dieser mythischen Wesen vergegenwärtigt. Er interpretiert sie schließlich als Objektivationen elementarer psychischer Energien, die in der Krise der modernen Kultur nicht zur utopischen >Religion der Freude< 158
tendieren, sondern zur kulturverneinenden Regression. Daß er im Elementargeister-Essay auf eine Erneuerung der Pantheismus-These verzichtet und die Systematisierung des Volksglaubens kritisiert, kann folglich nicht allein auf die verschärfte Zensur zurückgeführt, sondern es muß auch als Signal einer gewandelten, »realistischeren« Einstellung zum mythischen Denken und zur deutschen Mythologie gewertet werden. Heine nimmt schließlich, lange vor seiner »religiöse[n] Umwälzung«, 164 von der Hoffnung Abschied, der Volksglaube als Rudiment der vorchristlichen, >altgermanischen< Religion lasse sich als Quelle progressiver revolutionärer Energien einsetzen, die Revolution lasse sich durch den Volksglauben in mythisierender Form legitimieren und mit >Bedeutsamkeit< ausstatten: Schon in der Denkschrift über Börne, die 1840 erschien, erteilt er den alten Göttern, die bei der Nachricht von der Julirevolution ihre Köpfe aus der Erde hervorstrecken und fragen, ob sie >wieder hinauf dürfenSpiritualistenjüdischer< Spiritualismus und >hellenische< Kunst harmonisch durchdringen (XI, 45). In inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht knüpfen die Passus, in denen diese Themen erörtert werden,3 an die Schriften an, von denen im vorangehenden Kapitel die Rede war. Hier wie dort geht es um die Beziehung zwischen Mythos und Moderne, insbesondere um die zwischen Mythos und Utopie.4 1
Vgl. D H A X I , S. 195: »Je les ai données dans leur forme primitive«. Zur Diskussion über Entstehung und Datierung der Helgoländer Briefe vgl. zusammenfassend Höhn, Heine-Handbuch, S. 343^ Zur Datierung s. insbesondere Koopmann in D H A X I , S. 274.
2
Vgl. D H A X I , S. 25 iff., Zitat S. 273. Daß Koopmann die genannten Themen in dem Bemühen, seine These zur Entstehungszeit der Briefe zu untermauern, als »Einzelheiten« (ebd., S. 275) abtut, ist nicht nachvollziehbar. Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist seine Feststellung, es spreche mehr dafür, daß Heine sich 1830 »der Bilder und Vorstellungen bedient hat, die auch in anderen Arbeiten aus diesen Jahren auftauchen, als dafür, daß Heine sich später noch einmal an Vorstellungen zurückerinnert habe, die damals seine anderen Arbeiten kennzeichneten« (ebd., S. 269). Heine überprüft, wie im folgenden zu zeigen ist, in der Denkschrift diese Bilder und Vorstellungen; er hat daher allen Grund, sich >zurückzuerinnernaltgermanischem< und künftigem Pantheismus konstruiert. Daran erinnert er in den Helgoländer Briefen, wenn er von seinen mythologischen >Nachforschungen< spricht und das Problem jener Schrift wiederaufgreift: »Wann wird die Harmonie wieder eintreten, wann wird die Welt wieder gesunden von dem einseitigen Streben nach Vergeistigung, dem tollen Irrthume, wodurch sowohl Seele wie Körper erkrankten!« (XI, 40). Offenbar will Heine die Konstruktion, mit der er in der Schrift über die Religion und Philosophie dieses Problem zu lösen sucht, durch die Rückdatierung der Briefe in einen historischen Zusammenhang stellen: Die Konstruktion soll nun als Produkt des Enthusiasmus verstanden werden, den die Julirevolution hervorrief. Heine revidiert den Standpunkt, den er damals einnahm. Dementsprechend stellt er in den Helgoländer Briefen die alte Denktradition der Mythenallegorese dar - eine Tradition, der sein Versuch, den >Volksglauben< als entstellten >altgermanischen Pantheismus< zu interpretieren, verpflichtet war.5 In den Briefen thematisiert und kritisiert er die Mythenallegorese, anstatt sie zu erneuern. Zu diesem Zweck bringt er hier eine vielinterpretierte Dämonenund Göttergeschichte, Plutarchs Sage vom Tod des großen Pan, in heterogene Bedeutungszusammenhänge ein, so daß der Abstand zwischen der exemplarischen Geschichte und ihren allegorischen Auslegungen unübersehbar wird. Es sei angemerkt, daß Plutarch die Sage in seinem Dialog De defectu oraculorum mitteilt, einem apologetischen Text, mit dem er demonstrieren will, daß Verfall und Rückgang der Orakel die Menschen nicht dazu verleiten dürfen, an der Macht und Güte der Götter zu zweifeln.6 Die zentrale Frage, warum mit verweise die Aussage über Shakespeare auf den kurz vor der Denkschrift entstandenen Essay Shakespeares Mädchen und Frauen. Der Ansicht von E.M. Butler folgt
auch Hanna Spencer: Dichter, Denker, Journalist. Studien zum Werk Heinrich Heines,, Bern/Frankfurt/M./Las Vegas 1977, S. 118ff. Für sie ist es vor allem die raffinierte poetische Form der Helgoländer Briefe, insbesondere ihre Leitmotivik, die ihre Fiktionalität bezeugt und gegen die Ansicht spricht, sie seien das Resultat von Tagebuchaufzeichnungen. Espagne (Federstriche, S. 15 5) konstatiert: »Inwieweit die Briefe frühere Notizen enthalten, läßt sich aus Mangel an Arbeitsmanuskripten nicht mehr ermitteln.« 5 6
S. oben, Kap. 3 b). Vgl. Robert Flacelière, »Notice«, in: Plutarque, Œuvres morales, t. VI: Dialogues thiques, texte établi et traduit par Robert Flacelière, Paris 1974, S. 85-98.
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py-
die Orakel verfallen, wird von den Gesprächspartnern unterschiedlich beantwortet. Als mögliche Gründe nennen sie Sittenverderbnis, Bevölkerungsrückgang, Schwankungen des begeisternden mantischen Hauchs (πνεΰμα), den die Erde entsende, und die Sterblichkeit der Dämonen oder ihre Auswanderung in andere Kosmoi. Das dämonologische Argument wird von Kleombrotos vorgebracht: Die Dämonen, die den Menschen überlegen, aber wie die Menschen sterblich und den Wechselfällen des Schicksals unterworfen seien, füllen den Zwischenbereich zwischen Göttern und Menschen (Kleombrotos definiert sie in Anlehnung an Plato als τό των δαιμόνων γένος έν μέσω θεών και ανθρώπων 7 ). Von ihrem Wirken seien die Orakel abhängig, denn sie stünden ihnen vor, und wenn sie stürben, auswanderten oder exiliert würden, müßten auch die Orakel verstummen. 8 Dem von einem Gesprächspartner erhobenen Einwand gegen die Ansicht, die Dämonen seien sterblich und unvollkommen, begegnet der Historiker Philippos, indem er die Geschichte vom Tod des großen Pan erzählt; sie fungiert also als Beleg für die Sterblichkeit der Dämonen und den Unterschied zwischen Dämonen und Göttern. Philippos berichtet, er habe die Geschichte von seinem Grammatiklehrer Epitherses, der Augen- und Ohrenzeuge des Geschehens gewesen sei. Dieses trug sich Epitherses zufolge auf einer Schiffsreise von Griechenland nach Italien zu: Während einer Windstille, die in der Nähe der Echinaden eintritt, wird das Schiff zu den Paxusinseln getrieben, und von dort ruft eine Stimme laut »Thamüs«. So heißt der ägyptische Steuermann, der dem Namen nach nur wenigen Reisenden bekannt ist. Daher ist das Erstaunen groß. Nach dem dritten Anruf antwortet Thamüs dem Rufenden, der ihm daraufhin aufträgt: »Wenn du nach Palodes kommst, melde, daß der große Pan tot ist (άπάγγειλον ότι Π ά ν ό μέγας τέθνηκε).« 9 Alle Reisenden erstarren vor Schreck. Als das Schiff nach Palodes (d.i. Buthrotum an der Küste von Epirus) kommt und erneut eine Windstille eintritt, erfüllt Thamus den Auftrag, und kaum hat er nach dem Lande zu »Der große Pan ist tot!« gerufen, erhebt sich von dort eine vielstimmige Klage, in die sich Verwunderung mischt. Die Geschichte verbreitet sich nach Rom, und Tiberius, der fest an sie glaubt, läßt Nachforschungen anstellen. Die von ihm befragten Gelehrten sind der Ansicht, jener >große Pan< sei der Sohn des Hermes und der Penelope - also der Hirtengott und Naturdämon, dessen Mutter anderen Mythologen zufolge eine Nymphe war. 10 7
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Plutarch, De defectu oraculorum, 415 A ; zitiert nach der griechisch-französischen, von Flacelière besorgten Ausgabe (s. die vorangehende Anm.), S. 112. Vgl. ebd., 416 C (S. 115) und vor allem 416 F (S. né), wo Kleombrotos die Definition des Dämonischen paraphrasiert, die in Piatos Symposion (202 d-e) gegeben wird; dazu oben, Kap. ι a), S. 15). Zumpneuma vgl. 431 Β - 4 3 8 B. Vgl. De defectu oraculorum, 418 C - D (S. 120). Ebd., 419 C (S. 122). Deutsche Ubersetzung (und griechischer Text) in: Volkssage /, hrsg. v. Friedrich Ranke, Leipzig o.J., S. 52L Hederich (Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 1857^) listet acht mögliche Ge163
Plutarchs Erzählung schließt mit der Bemerkung, daß mehrere der anwesenden Gesprächspartner Philippos' Wiedergabe von Epitherses' Erzählung, die sie noch von dessen Sohn Aimilianos gehört hätten, als richtig bezeugten. Die Volkskunde hat Plutarchs Erzählung dem Sagentyp >Die geheimnisvolle Todesbotschaft< zugeordnet und auf zahlreiche Varianten in Volkssagen Deutschlands, der Schweiz, Österreichs, Schwedens, Norwegens, Dänemarks, Schottlands, Irlands, der Bretagne und Flanderns hingwiesen. 11 Meistens gibt ein dämonischer Rufer unerkannt einem Menschen den Auftrag, die Todesbotschaft zu überbringen; in der Alpenregion sind es Fängge (Walddämonen), weiter nördlich Zwerge oder katzengestaltige Hexen. 12 Dabei erfährt der Dämonenname die seltsamsten Abwandlungen. Wenn der Beauftragte zu Hause die Botschaft überbringt, verläßt die Magd, die Katze oder ein anderes, bislang unerkanntes Wesen unter lautem Klagen fluchtartig und für immer das Haus. Wie der Sagentyp zu verstehen und ob er antik-mediterranen oder germanischen Ursprungs ist, scheint nach wie vor offen. Im vorliegenden Zusammenhang gilt es festzuhalten, daß es in allen Varianten der Sage um ein angstauslösendes, ja bestürzendes Erlebnis geht. Angst und Bestürzung werden durch etwas Fremdes und Unerklärliches bewirkt, das die kulturelle Ordnung stört. Dabei handelt es sich entweder um die öffentliche Ordnung des religiösen Kults wie bei Plutarch, der die Sage als mögliche Erklärung für den Verfall der Orakel zitiert, oder um die Ordnung des häuslichen Zusammenlebens wie in den Volkssagen. Seit der Spätantike hat die Rätselhaftigkeit der von Plutarch mitgeteilten Sage die unterschiedlichsten Deutungen veranlaßt und einer Fülle von Anwendungen Raum gegeben;' 3 Heines erzählerische Integration dieser Sage in die Helgoländer Briefe gibt ebenfalls Rätsel auf. Denn die Sage kehrt dort in vier verschiedenen narrativen Kontexten wieder, und die Bedeutungen, die sie dabei erlangt, widersprechen sich. Das Gewicht, das den vier Variationen zukommt, läßt sich bereits daran ermessen, daß sie jeweils den Schlußabschnitt
nealogien auf. Zur Diskussion über die Identität der bei Plutarch genannten Penelope vgl. G . A . Gerhard: Der Tod des großen Pan, Heidelberg 1915, S. 5. 11 12
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Vgl. das reichhaltige Quellenmaterial in Volkssage I, S. 53-90. Vgl. zusammenfassend Petzoldt, Dämonenfurcht und Gottvertrauen, S. 134f.; ders., Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, S. 139ft., s.v. »Pan«; Wilhelm Mannhardt: Wald- und Feldkulte, Bd.II, Berlin ^905, S. 127H., 134Íf.; H D A , Bd. IX, Nachträge, Sp. 1 io6f. Vgl. Gerhard, Der Tod des großen Pan, passim, und die daran anknüpfenden Arbeiten von Gerhard, »Zum Tod des großen Pan«, in: Wiener Studien X X X V I I / 1 9 1 5 , S . 3 2 3 - 3 5 2 , und »Nochmals zum Tod des großen Pan«, in: Wiener Studien X X X V I I I / 1 9 1 6 , S. 343-376. In der zuletzt genannten Arbeit bemerkt Gerhard (S. 343), die Geschichte der Deutungen und Anwendungen der Sage sei ein exemplarisches Stück praktischer Geschichte der Mythologie und spiegele gleichzeitig die kulturhistorische Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit.
von vier der acht Helgoländer Briefe bilden. Deren Auftakt ist ein selbstkritischer Rückblick: Im Brief vom i. Juli 1830 klagt der Erzähler darüber, daß er, anstatt sich mit den »Elementargeister[n]« beschäftigen und in »Mährchen« versenken zu können, »politische Annalen herausgeben, Zeitinteressen vortragen, revoluzionäre Wünsche anzetteln, die Leidenschaften aufstacheln« mußte, es jedoch trotzdem noch nicht vermocht habe, den »armen deutschen Michel [...] aus seinem gesunden Riesenschlaf« zu wecken (XI, 35). >Alte< Mythologie und Revolution sind also auseinandergetreten, doch die bisherige Ergebnislosigkeit der politischen Bemühungen und Zukunftsangst wecken Zweifel an der Entscheidung für die Politik und gegen die Mythologie: Die Frage: »[W]o soll ich hin?« (XI, 35) führt auf die deprimierende Einsicht, daß weder die Länder Europas noch Amerika Anlaß zu politischer Hoffnung geben. Der erste Brief ist also Ausdruck einer Identitätskrise, zu deren Faktoren zählt, daß die Beziehung zwischen Mythologie und moderner Kultur problematisch geworden ist. Dieses Problem zu definieren und einer Lösung näherzubringen, ist eine der zentralen Aufgaben, die Heine sich in den >Helgoländer Briefen< stellt. Es ist aufschlußreich, daß er das Problem noch immer als ein primär religiöses begreift.14 Im zweiten, auf den 8. Juli datierten Brief berichtet der Erzähler, er habe, um der »bleyernefn] Langeweile« des Sonntags zu entfliehen, in der Bibel gelesen, »und ich gestehe es dir, trotz dem daß ich ein heimlicher Hellene bin, hat mich das Buch nicht bloß gut unterhalten, sondern auch weidlich erbaut« (XI, 38). Schon im Ersten Buch der Denkschrift definiert Heine den Begriff >Hellene< und den ihm entgegengesetzten Begriff >Nazareneraltgermanischpoetischer Wiederbelebung< ist. 24 Darüber hinaus ist sie als Versuch Heines zu verstehen, im Spielraum, den die fingierten Briefe eröffnen, erneut das zentrale Anliegen seiner deutschen Mythologie, die Verbindung zwischen Mythos und politischer Utopie, zu problematisieren. Denn der Erzähler fährt nun fort mit dem Hinweis, daß die Dichtergemeinde, die Homer als ihren Propheten verehre, »täglich mehr und mehr bedrängt« werde, so daß sich die Frage stelle: »Sind wir bedroht mit einer neuen Götterverfolgung?« (XI, 46). Trotzdem wolle er »die Politik und die Philosophie an den Nagel hängen« und sich »wieder der Naturbetrachtung und der Kunst hingeben.« Denn »all dieses Quälen und Abmühen« sei »nutzlos«: »[...] obgleich ich mich marterte für das allgemeine Heil, so ward doch dieses wenig dadurch gefördert. Die Welt bleibt, nicht im starren Stillstand, aber im erfolglosesten Kreislauf« (XI, 47) - ein resignativer Gedanke, den nun das ewige Hin und Her der Meereswellen symbolisiert. Goethes Faust begehrt dagegen mit dem Plan auf, »Das herrische Meer vom U f e r auszuschließen«. 25 Im Unterschied zu Faust ist Heines Erzähler mit dem Symbol der Meereswellen wieder da, w o er sein möchte: bei der Mythologie, für die, wie A.W. Schlegel und die Frühromantik lehren, das Ineinander von >Naturbetrachtung< und >Kunst< - Schlegel verwendet stattdessen die Begriffe >Verstand< und >Phantasie< - konstitutiv 1st. 26 N u n scheint es endgültig gewiß zu sein, daß von der Mythologie kein Weg zur politischen Utopie führt. Mit der kreisförmig-resignativen Rückkehr zum Ausgangspunkt der Überlegungen, um die es in den Briefen geht, hat sich offenbar das Problem der Beziehung von Mythos und Utopie erledigt. Doch gleich darauf spricht der Erzähler von »wunderliche[n] Ahnungen ... Es geschieht jetzt etwas außerordentliches in der Welt« (XI, 47). Die Ahnungen münden in die zweite Variation über Plutarchs Sage, die den Brief beschließt und sich deutlich vom resignativen Bild des Kreislaufs abhebt:
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Zu Schiller s. oben, Kap. 2 a), S. 78; zu Schlegels Theorie oben, Kap. 1 c). ' Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, V . 10229. ~ Zu Heines Auseinandersetzung mit der Deutung der Geschichte als Kreislauf s. unten, Abschnitt b) in diesem Kapitel. 16 In eine ähnliche Richtung weisen Heines nachgelassene Notizen zum ursprünglichen Anfang der Schrift über die Religion und Philosophie in Deutschland. Vgl. D H A VIII/1, S.446f. und bes. S.449: Die Religion gehe der Trennung von Kunst und Philosophie, Begriff und Bild voraus, sie sei die Verschmelzung beider. Windfuhr führt in seinem Kommentar ( D H A VIII/2, S. 951) Hegel als Gewährsmann an. Mir scheint die Nähe zu August Wilhelm Schlegel größer. 2
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Ich wandelte einsam am Strand in der Abenddämmerung. Ringsum herrschte feyerliche Stille. Der hochgewölbte Himmel glich der Kuppel einer gothischen Kirche. Wie unzählige Lampen hingen darin die Sterne; aber sie brannten düster und zitternd. Wie eine Wasserorgel rauschten die Meereswellen; stürmische Choräle, schmerzlich, verzweiflungsvoll, jedoch mitunter auch triumphirend. Ueber mir ein luftiger Zug von weißen Wolkenbildern, die wie Mönche aussahen, alle gebeugten Hauptes und kummervollen Blickes dahinziehend, eine traurige Prozession ... Es sah fast aus als ob sie einer Leiche folgten ... Wer wird begraben? Wer ist gestorben? sprach ich zu mir selber. Ist der große Pan todt? [XI, 47]
Mit dieser Variation durchbricht Heine das traditionelle, von Eusebius propagierte Deutungsmuster und besetzt die Funktionen des allegorischen Praetextes um. Der Gang am Strand »in der Abenddämmerung« und der »Zug von weißen Wolkenbildern« erinnern an die Szenerie des Nordsee-Essays27 und der Nordsee-Gedichte, insbesondere an »Die Götter Griechenlands«. Während jedoch dieses Gedicht trotz der in ihm vollzogenen, provokativen Umwertung von Christentum und Heidentum durchaus das traditionelle Deutungsmuster intakt läßt, insofern als hier die untergegangenen heidnischen Götter mit den verdämmernden Wolken gleichgesetzt werden,28 sehen die Wolken im Schlußabschnitt des Briefs vom 1. August wie traurige Mönche aus;29 der Himmel ist nun der Raum nicht der entmachteten Götter, sondern einer christlichen Leichenprozession. Die den Brief beschließende Frage: »Ist der große Pan todt?« zielt also auf den möglichen Untergang des Christentums, und mit dem Bild und dem Begriff der Prozession macht der Kreislauf einer zielgerichteten Bewegung Platz. Wer nimmt aber im Zuge dieser Umbesetzung des allegorischen Praetexts die Funktion des Siegers ein? Um die Antwort, die der Brief vom 6. August auf diese Frage gibt, zu verstehen, muß der Leser beachten, daß Heine schon im Brief vom 1. August Plutarchs Text mit dem mythologischen Motiv der >Götterdämmerung< verschmilzt.30 Diese Verschmelzung ist ebenfalls in der christlichen Typologie verankert und hat, als Heine die Helgoländer Briefe schreibt, bereits eine lange Tradition, die bestimmenden Einfluß ausübt auf die Rezeption der germanischen Mythologie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Noch in der sechsten Vorlesung von Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur wird die >Götter-
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Vgl. D H A VI, S. 15 if.: »Gar besonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Dämmerung am Strande wandle, - hinter mir flache Dühnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige Kristallkuppel«. Im folgenden auch die Assoziation des gotischen Doms.
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Vgl. oben, Kap. 2 a), S. 79. Vgl. die Wiederkehr dieses Bildes am Ende der 1 8 3 7 verfaßten Vorrede zu Salon III, die unter dem Titel Ueber den Denunzianten veröffentlicht wurde ( D H A X I , S. i67f.). Dazu auch unten, Abschnitt c) in diesem Kapitel.
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Z u Heines Verwendung dieses Motivs s. auch oben, Kap. 2 b) und c) und Kap. 3 b), S.143.
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dämmerung< im Sinne dieser Tradition typologisch auf den Untergang des Heidentums bezogen: Am nächsten schließen sich an die Wahrheit, jene Gesichte der nordischen E D D A von der einbrechenden Dämmerung und Nacht der Götter, von dem bevorstehenden Untergange der guten Asen und Lichthelden, dem zur letzten Zeit bestimmten Losbrechen der Finsternis und ihrer Gewalten, und dem furchtbar bevorstehenden obwohl vorübergehenden Sieg des bösen Loke, wie der auf jene kurze Finsternis dann folgenden neuen Götterwelt, und himmlischen Verklärung; so daß man hier fast mehr als unbewußte Anklänge tiefsinniger Ahndung, und vielmehr schon eine wenn auch unvollkommne Kenntnis von den Wahrheiten des Christentums vermuten und voraussetzen möchte.31
Im Sinne dieser Deutungstradition verwendet Heine das Motiv im sechsten Kapitel des Reisebilds Die Stadt Lukka und in dem TVort/see-Gedicht »Die Götter Griechenlands«.32 Er versucht jedoch schon in dem Traumgedicht »Götterdämmerung«, dem Pendant zu den »Göttern Griechenlands«, die traditionelle Verteilung der Funktionen von Sieger und Besiegtem umzukehren: Im zweiten Teil des Gedichts schaut das lyrische Ich wie ein Prophet die >Dämmerung< Gottes und der himmlischen Heerscharen; sie wird von der triumphalen und katastrophalen Wiederkehr der Dämonen und Götter, die Christus einst besiegte, herbeigeführt.33 Daran knüpft wiederum die Revolutionsprognose an, die den Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland beschließt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich auch am Ende des Helgoländer Briefs vom ι. August ein neues Bündnis von alter Mythologie und politischer Revolution gegen die >spiritualistische< Kultur abzeichnet. Auch auf diese Frage zielt der Satz vom Tod des großen Pan, der deshalb als Fragesatz wiederkehrt. Beantwortet wird die Frage mit der dritten Variation über Plutarchs Sage, die den Schlußabschnitt des Briefs vom 6. August bildet. In dem Brief schildert der Erzähler zunächst seine enthusiastische Aufnahme der Nachricht von der Julirevolution, und der Brief selbst ist Ausdruck dieses Enthusiasmus: »Ich lief wie wahnsinnig im Hause herum f...]« (XI, 48); »Du siehst wie berauscht ich bin [...]« (XI, 49); »Es ist mir alles noch wie ein Traum [...]« (XI, 49); »[k]ühne Hoffnungen steigen leidenschaftlich empor« (XI, 50). Die Revolution scheint die utopische Wiederversöhnung von Mythos und Moderne, von Hellenen- und Nazarenertum, die sich als Ziel der Kultur herausstellte, wirklich werden zu lassen, sie scheint die Renaissance des Heidentums einzuleiten, endlich scheinen die verdrängten und dämonisierten Götter zurückzukehren: 31 31 33
KFSA, Bd. VI, S. 166. S. oben, Kap. 2 b). Vgl. D H A 1/1, S. 304. Das Gedicht erschien zuerst im Jahre 1822 und wurde später in den »Heimkehr«-Zyklus des Buchs der Lieder aufgenommen.
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Unter der Erde aber kracht es und klopft es, der Boden öffnet sich, die alten Götter strecken daraus ihre Köpfe hervor, und mit hastiger Verwunderung fragen sie: »was bedeutet der Jubel, der bis ins Mark der Erde drang? Was giebts neues? dürfen wir wieder hinauf?« Nein, Ihr bleibt unten in Nebelheim, w o bald ein neuer Todesgenosse zu Euch hinabsteigt... »Wie heißt er?« Ihr kennt ihn gut, ihn, der Euch einst hinabstieß in das Reich der ewigen N a c h t . . . Pan ist todt! [XI, 5 0 ] "
Daß mit dem >neuen Todesgenossen< Christus gemeint ist, muß der Leser ergänzen. Wer aber sind die alten Heidengötter, die fragen, ob sie >wieder hinauf dürfen