Musiktheorie und Zukunft: Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte 9783839463024

Musiktheorie bietet ein großes Potenzial für die zukünftige Entwicklung von Musik. In ihrer kreativen intellektuellen Au

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German Pages 272 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Musiktheorie und Zukunft. Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte
— Horizonte
›Zukunftsmusik‹ um 1900
Zukunft als Denkmodell der Vergangenheit?
Zukunft ohne Horizont
Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt
Fluchtpunkte —
Chemische Musik
Zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts
Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde
Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik: Zukunftsvorstellungen in deutschsprachigen Harmonielehren-Debatten um 1900
Utopian Futurism in the Music Theory of Ivan Wyschnegradsky
Punctus contra Punctum – Kontrapunkt als kompositionsästhetische Kategorie von Avantgarde
Ferne Klänge: Der Sound der Zukunft im Film
Anhang
Autor:innen
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Musiktheorie und Zukunft: Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte
 9783839463024

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Anne Hameister, Jan Philipp Sprick (Hg.) Musiktheorie und Zukunft

Musik und Klangkultur Band 57

Anne Hameister, geb. 1990, lehrt die Fächer Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und verfasst ihre Dissertation zu Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900. Sie studierte Musiktheorie sowie Deutsch und Musik auf Lehramt in Rostock und mit Aufenthalten an der University of Chicago und der Harvard University. Jan Philipp Sprick, geb. 1975, ist Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und seit 2022 Präsident der Hochschule. Er studierte Musiktheorie, Musikwissenschaft, Viola und Geschichte in Hamburg und Harvard. 2010 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und lehrte von 2006 bis 2018 Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock.

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick (Hg.)

Musiktheorie und Zukunft Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839463024 Print-ISBN: 978-3-8376-6302-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-6302-4 Buchreihen-ISSN: 2703-1004 Buchreihen-eISSN: 2703-1012 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Musiktheorie und Zukunft. Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte Anne Hameister, Jan Philipp Sprick ...................................................7

— Horizonte ›Zukunftsmusik‹ um 1900 Lucian Hölscher ..................................................................... 21 Zukunft als Denkmodell der Vergangenheit? Zum Wandel von Fortschritts- und Zukunftsbildern in der neuen Musik von 1950 bis in die (›breite‹) Gegenwart Julia Freund ....................................................................... 35 Zukunft ohne Horizont Notizen und Querverbindungen Benjamin Sprick ................................................................... 53 Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt Johannes Kreidler................................................................... 71

Fluchtpunkte — Chemische Musik Johann Georg Kastners Entwurf einer Zukunft der Musiktheorie Alexander Rehding ................................................................. 85

Zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts Jan Philipp Sprick..................................................................105 Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde Oliver Korte ........................................................................ 117 Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik: Zukunftsvorstellungen in deutschsprachigen Harmonielehren-Debatten um 1900 Anne Hameister ................................................................... 185 Utopian Futurism in the Music Theory of Ivan Wyschnegradsky Lee Cannon-Brown .................................................................219 Punctus contra Punctum – Kontrapunkt als kompositionsästhetische Kategorie von Avantgarde Ariane Jeßulat .................................................................... 237 Ferne Klänge: Der Sound der Zukunft im Film Nina Noeske ...................................................................... 249

Anhang Autor:innen ...................................................................... 267

Musiktheorie und Zukunft. Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte Anne Hameister, Jan Philipp Sprick

Als Beitrag zu einer ›polyphonen‹ Musikgeschichte liegt das Thema dieses Bandes in einem Forschungsbereich, an dem sowohl Musiktheorie als auch Musikwissenschaft partizipieren. Indem musiktheoretisches Denken als kreative intellektuelle Auseinandersetzung mit kulturell determinierten Gefügen verstanden wird, ist es der Herausgeberin und dem Herausgeber ein Anliegen, die Frage zum Verhältnis von Musiktheorie zur Zukunft im Austausch mit ihren geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu diskutieren. Angesiedelt zwischen Wissenschaft und Kunst, bietet die Disziplin Musiktheorie ein besonderes Potential, um sich auf spezifische Weise in diesen Diskurs einzubringen. Die Beiträge sind aus der Tagung »Musik-/Theorie und Zukunft in der Vergangenheit und Gegenwart« hervorgegangen, die am 7. und 8. Mai 2021 an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (online) stattgefunden hat. Die bisherige historische Zukunftsforschung in der Geschichtswissenschaft stellt allgemeine methodische Ansatzpunkte für eine historische Untersuchung von Zukunftsvorstellungen in musiktheoretischen Schriften bereit, die aber für diesen Kontext noch spezifiziert werden müssen: Wie Lucian Hölscher beschreibt, birgt Forschung zur (Geschichte der) Zukunft Chancen und Gefahren:1 Nicht nur nimmt sie einen sehr immateriellen, abstrakten Gegenstand in den Blick – sie rührt an Grundfragen und -annahmen der Geschichtswissenschaft: nämlich dem Konzept von historischer Zeit überhaupt, temporalen Modi und Formen der Geschichtsschreibung und damit letztlich auch den Wirklichkeitskonstruktionen, die (historischen) Darstellungen zugrunde liegen. Reinhart Koselleck begründet den transzendentalkategorialen Charakter, der in der semantischen Bedeutung von Geschichte im Singular aufgehoben 1

Hölscher 2017.

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Musiktheorie und Zukunft

ist: Im Kollektivsingular würde die Summe aller Einzelgeschichten, der Prozess der Ereignisse und der Prozess ihrer Bewusstmachung konvergieren.2 Indem Geschichte als singulärer Leitbegriff etabliert wurde, konnte »Geschichte den Menschen überhaupt verfügbar scheinen bzw. als machbar gedacht werden«3 . Die epistemologische Bedeutsamkeit liegt in der Entstehung eines (neuen) Erfahrungsraums und eines (neuen) Erwartungshorizonts – ein wichtiges Merkmal der Moderne ist der weitgehende Verzicht auf eine außergeschichtliche Instanz (Gott oder die Natur)4 . Diese, die (Welt-)Geschichte definiert Koselleck als eine Geschichte, »die sich [nicht] bloß durch und mit der Menschheit auf dieser Welt vollzieht«5 , sondern als Reflexionskategorie einen Handlungsraum eröffnet, »in dem sich die Menschen genötigt sehen, Geschichte vorauszusehen, zu planen, hervorzubringen in Schellings Worten, und schließlich zu machen.«6 Seit dem Konzept von Geschichte im Singular meint ›Geschichte‹ also nicht allein »vergangene Ereigniszusammenhänge und deren Erzählung. Ihre narrative Bedeutung wird vielmehr zurückgedrängt, und der Ausdruck erschließt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts soziale und politische Planungshorizonte, die in die Zukunft weisen.«7 Geschichte wird, insbesondere durch die Öffnung des Zukunftsraums, zu einem Handlungsbegriff.8 Es ist reizvoll, in einem Gedankenspiel den Begriff ›Geschichte‹ einmal durch den Begriff ›Musiktheorie‹ zu ersetzen: Gibt es eine Disziplin Musiktheorie im Singular, eröffnet sich als Reflexionskategorie ein Handlungsspielraum, und dadurch auch ein Handlungsbegriff. Es geht weniger darum, über Theorien zu verfügen, sondern Musiktheorie als verfügbar zu

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Vgl. Koselleck 1989, 264f. Ebd., 264. »Solange die christliche Lehre von den letzten Dingen – grob gesprochen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts – den Erwartungshorizont unüberholbar begrenzte, blieb die Zukunft an die Vergangenheit zurückgebunden. Die biblische Offenbarung und ihre kirchliche Verwaltung haben die Spannung zwischen Erfahrung und Erwartung in einer Weise verschränkt, dass sie [Erfahrung und Erwartung] nicht auseinanderklaffen konnten.« (Koselleck 1989, 361); »Gerade weil sich vor dem Ende grundsätzlich nichts Neues einstellen würde, konnte man es sich leisten von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen.« (Koselleck 1989, 366) Koselleck 1989, 265. Ebd. Ebd. Vgl. Koselleck 1989, 265f.

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick: Musiktheorie und Zukunft

begreifen; im Spannungsfeld von künstlerischem, pädagogischem und wissenschaftlichem Anspruch, in dem die Disziplin sich bewegt und auf das sie einen Gestaltungsanspruch erhebt, auch wenn dieser sich häufig implizit und nicht explizit artikuliert. Die große Chance im historiographischen Ansatz der historischen Zukunftsforschung liegt in der Möglichkeit, vergangenen Entwicklungen ihre vormalige Offenheit, ehemaligen Zukunftsentwürfen ihr früheres Hoffnungs- und Möglichkeitspotential zurückzugeben und die Vergangenheit auf neue Weise für unabgeschlossen zu erklären. So kann uns dieser Forschungsansatz auf ganz neue Weise den Wunsch erfüllen, uns nicht nur der Vergangenheit unserer Gegenwart zu vergewissern, sondern in gleicher Weise über die Zukunft nachzudenken. Denn tatsächlich unterscheiden sich Vergangenheit und Zukunft als Wirklichkeitsräume nicht so grundsätzlich voneinander, dass sich das darin verortete Wissen nicht aufeinander beziehen ließe: Beides sind Gegenwartsentwürfe und bei beiden stellt sich das vermeintliche Wissen in der Regel als fehlbarer Entwurf heraus. Was aber eine unbestreitbare Tatsache zu sein scheint, ist die Beobachtung, dass Zukunftsentwürfe eine große Wirkmacht entfalten können – und dies völlig ungeachtet der Tatsache, ob sich diese letztlich realisiert haben oder noch realisieren werden. Allein dies ist Grund genug, nicht nur das Verhältnis von Musiktheorie und Zukunft in der Vergangenheit zu untersuchen, sondern unter der Akzeptanz der Fehlbarkeit von Prognosen in diesem Sammelband auch diese zeitgenössischen Zukunftsentwürfe offenzulegen und zu reflektieren. Wenn in diesem Band also vergangene Zukünfte vorgestellt werden, entsteht daraus vielleicht eine Freiheit darin, die jeweilige Vergangenheit und Gegenwart polyphon zu verkomplizieren und sich die Zukunft als Möglichkeitsraum offen zu halten. Offen, oder zumindest noch schwer absehbar, scheint zudem, was auf die Verunsicherung des klassischen Geschichtsparadigmas9 folgt. Der Historiker Dipesh Chakrabarty mahnt anhand semantischer Untersuchungen zum Begriff ›Antropocene‹ beispielsweise an, die weltgeschichtliche Zeit mit der menschlich schwer zu überblickenden geologischen Zeit in eine Beziehung zu setzen, physikalische Kräfte also nicht unmittelbar in sozio-politische oder ökonomische Macht-Fragen aufgehen zu lassen. Die Diskussion um eine historische Wirklichkeit oder eine einheitliche Vorstellung von einer chronologischen Bezugszeit und deren Umfang scheint vor diesem Hintergrund 9

Vgl. Hölscher 2009, 8.

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Musiktheorie und Zukunft

zumindest diskutabel zu sein.10 Auf der Suche nach einer musiktheoretischen Entsprechung – ohne in die von Hölscher angemahnte Falle zu tappen, Zeitlichkeitsfragen direkt übertragen zu wollen – lässt sich zumindest feststellen, dass bei der musikalischen Analyse in jüngerer Zeit die Bezugszeit immer stärker zur Disposition zu stehen scheint: War es in der Vergangenheit selbstverständlich, dass eine Analyse ›allwissend‹ aus dem Überblick des gesamten musikalischen Ablaufs oder auch nur einer spezifischen Stelle heraus erfolgt, wird diese zunehmend mit ›eigenzeitlichen‹ Perspektiven von Erfahrungsraum, Erwartungshorizont und Möglichkeitsraum, etwa unter dem Stichwort Expektanzanalyse oder der prozesshaften Formung (im Unterschied zur ›containerhaften‹ Form) ergänzt. Auch wenn ein Paradigmenwechsel gegenwärtig nicht in Rede steht, ist zumindest festzustellen, dass die Perspektive des klassischen Analyseparadigmas in Bezug auf Zeitlichkeit in Frage gestellt ist, oder – in anderen Worten –, dass eine Einbeziehung zumindest des Aspekts der musikalischen Zeitlichkeitserfahrung in analytische Verfahren immer mehr zum Normalfall wird. Spekulationen darüber, was die eine Disziplin von der anderen lernen könnte, sind hier nicht angemessen zu diskutieren, es soll jedoch das unbestimmte Gefühl angesprochen sein, nach dem Musiktheorie als Reflexionsmedium einer Zeit-Kunst Impulse zur Auseinandersetzung geben dürfte, die in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen werden könnten, sofern sich diese miteinander in einen Austausch bringen ließen. Im vorliegenden Band wird das Kompositum ›Zukunftsmusik‹, das seit seiner Aufnahme in Georg Büchmanns Zitatenschatz im Jahr 1866 als geflügeltes Wort in der deutschen Alltagssprache kursiert, in seine Bestandteile zerlegt,11 um den wiedergewonnenen semantischen Raum zwischen Bestimmungs- (Zukunft) und Grundwort (Musik) neu auszuloten und für den musikgeschichtlichen und musiktheoretischen Diskurs fruchtbar zu machen. Dies geschieht in unterschiedlichen Zeitschichten: ›Horizonte‹ als Rubrik für Beiträge mit breiterer, metatheoretischer Perspektive, und ›Fluchtpunkte‹ als Rubrik für Beiträge, die sich im Sinne einer Fallstudie auf ein konkretes Beispiel fokussieren. Allen Beiträgen gemeinsam ist der geteilte Standpunkt ihrer Betrachtungen: Sie verorten sich gleichermaßen in der gegenwärti-

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Vgl. Chakrabarty 2018. Vgl. zur Begriffsgeschichte etwa Hölscher im vorliegenden Band, Jost/Jost 1995, Altenburg 1982, Brinkmann 1967, Tappert 1877.

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick: Musiktheorie und Zukunft

gen Gegenwart.12 Indem sich die Beiträge auf das 19. bis 21. Jahrhundert fokussieren, deuten sich sowohl einzelne synchrone wie auch diachrone Bezugspotentiale an. Im Folgenden werden sie einzeln vorgestellt, mit einem besonderen Augenmerk auf die jeweilige Bedeutung von ›Zukunft‹, die den jeweiligen Beiträgen zugrunde liegt.

Zukünfte im Ausblick auf den Sammelband Horizonte Als Historiker mit geschichtshistorischem Forschungsinteresse geht Lucian Hölscher von einem kulturgeschichtlichen und -politischen Zukunftsverständnis aus: Zukunft bedeutet für ihn für die Gesamtheit der kommenden Welt, in der Mensch leben wird, und welche notwendig durch Unbekanntheit bestimmt ist. Ein begriffssensibler Umgang mit dem Wort Zukunft schließt nach seinem Verständnis die Übertragung der historischen Zeit ›Zukunft‹ auf innermusikalische Zeitfiguren aus: Während Zukunft also für alle Zeiten offenbleibt, enthält ein komponiertes Musikstück immer einen wie auch immer gestalteten und damit potentiell bekannten Schluss. ZukunftsmusikZuschreibungen von Arnold Schönberg und Richard Wagner werden bei Hölscher in die jeweilige Konjunktur von in etwa zwei Generationen umfassenden Zukunftswellen in der abendländischen Geschichte eingebettet und von dort heraus nach Bedeutungsunterschieden differenziert:13 Arnold Schönberg im Kontext der »dritten Welle«, nach 1900 und Richard Wagner im Kontext der »zweiten Welle« um 1830. Im Beitrag von Julia Freund ist ›Zukunft‹ eine Denkfigur, die weiterhin, trotz »breiter Gegenwart«, im künstlerischen Diskurs relevant bleibt und – etwa in der Auseinandersetzung mit medientechnologischen Entwicklungen – zum Weiterdenken anregt. Die Argumentationsmuster im Hinblick auf Fortschritt und Zukunft im Kontext neuer digitaler musikalischer Praktiken wirken dabei tendenziell archetypisch. Der dynamische Zug, der sich in solchen Debatten zeigt, kann jedoch in seiner zeitspezifischen Ausformulierung des Spannungsverhältnisses zwischen Gegenwart und Zukunft einen kulturspezifischen Ansatzpunkt für eine Analyse ermöglichen, der, wie 12 13

Vgl. zum Konzept historischer Zeitschichten Koselleck 2000. Hölscher 2016, 13.

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Musiktheorie und Zukunft

bei Freund deutlich wird, das historiographische Spannungsverhältnis der konstitutiven Differenz zeitgenössischer Selbstwahrnehmung und historisch wandelbarer ex-post Einordnung14 produktiv macht. Mit dem Zeitraum von 1950 bis in die Gegenwart werden neben Fortschritt und Zukunft auch die Begriffe Avanciertheit und Avantgarde hinsichtlich ihres Haltbarkeitsdatums befragt. Ausgehend von der Prämisse, dass Zukunftsvorstellungen weiterhin, auch nach einer durch die Postmoderne zu Grabe getragenem Fortschrittsvorstellung, relevant bleiben, steht die Frage im Zentrum, auf welche Weise diese von Komponist:innen artikuliert werden. Benjamin Sprick diagnostiziert der Disziplin Musiktheorie in ihrer aktuellen Ausprägung eine verengte Zukunft vom Fortspinnungs- oder Entwicklungstypus; sowohl im Selbstverständnis, als auch im Blick auf Musikgeschichte. Den anhaltend ausbleibenden Einfluss poststrukturalistischen Denkens in der Musiktheorie und dessen pragmatische Folgen kritisiert der Autor in seinem Beitrag als Zukunft ohne Horizont: Enthierarchisieren, aktualisieren und pluralisieren, würde der Disziplin einen zeitgemäßen Zugang nicht zuletzt im geisteswissenschaftlichen Diskurs sichern: Mit einem zeitgemäßen Verständnis der Ordnung von Wissen ›beyond‹ Hierarchie und ›beyond‹ Zeitstrahl-Chronologie könnte sich die Disziplin in die Zukunft retten. Bei Johannes Kreidler ist Zukunft ein heterotoper Werkstatt-Ort, der von Musiktheoretiker:innen gegenwärtig nicht aufgesucht und bearbeitet wird: Den emphatisch vorgetragenen Wunsch eines Komponisten, die Musiktheoretiker:innen mögen, gleichsam in einer Arbeitsteilung, durch Grundlagenforschung musikalische Denkgebäude, Begriffe, Material oder Tools mitentwickeln zu wollen, verbindet er mit der Forderung nach besseren Voraussetzungen für solche Arbeit in Form von zeitlichen und materiellen Ressourcen. Kreidler befindet sich damit in der philosophischen Traditionslinie eines modernen fortschrittlich-avantgardistisch und durch politisches Handeln positiv gestaltbaren Geschichtsbewusstseins. Die Beobachtung, dass sich zu so grundlegenden alltagsfachsprachlichen Termini wie Struktur und Material in den einschlägigen Lexika MGGonline und New Grove bisher keine Einträge finden, lässt sich mit Hegels Eule der Minerva nur erklären, wenn man davon ausgeht – und so scheint Kreidlers Artikel verstanden wollen zu werden –, dass sich deren Abenddämmerung noch nicht ankündigt. 14

Dieser historiographische Ansatz entsteht, wie Hölscher nachzeichnet, bei Koselleck und anderen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hölscher 2020, hier: 147–154.

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick: Musiktheorie und Zukunft

Fluchtpunkte Alexander Rehding zeichnet anhand der Biographie und der Schriften des Komponisten, Musiktheoretikers und Musikschriftstellers Johann Georg Kastners nach, wie die Aeolsharfe als Musikinstrument zu einem epistemischen Objekt der Musiktheorie wird, die zukünftig chemisch ausgerichtet sein soll. Es wird aber auch deutlich, wie ein solcher Zukunftsentwurf ›in die Gegenwart‹ geholt wird, indem die noch ›zaghaft‹ am Horizont stehende Musiktheorie der Zukunft versuchsweise in Musik übersetzt wird: Der Theoretiker hoffte, dass ein Genie seine Überlegungen für seine Kunst nutzen kann, es geht ihm also ganz im Sinne Kreidlers auch um die Bereitstellung neuer Möglichkeiten für die kompositorische Praxis. Im Gegensatz zur von Nina Noeske in ihrem Beitrag konstatierten fehlenden futuristischem Experimentierlust auf kompositorischer Ebene bietet Kastner selbst einen klanglichen Entwurf von Zukunft. Musik wird hier gewissermaßen als epistemischer Zugang für eine Zeitreise genutzt, um durch einen Klangraum – wieder bildlich gesprochen – eine Zeitkapsel zu besteigen, die einen in die (mögliche) Zukunft befördert. Das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft ist, wie Jan Philipp Sprick in seinem Text ausführt, ein zentraler Aspekt der Geschichte der Musiktheorie im 19. Jahrhundert, der direkt in das in dieser Zeit ebenfalls sehr komplexe und vielschichtige Verhältnis von Musiktheorie und Komposition führt. Am Beispiel von zwei konservativ-bewahrenden Positionen von August Reissmann und Hugo Riemann und zukunftsorientierten Positionen von Georg Capellen und ebenfalls Hugo Riemann wird dieses Spannungsfeld pointiert und zugleich exemplarisch illustriert. Während die konservativen Positionen eher wie verzweifelte Versuche wirken, den musikalischen Fortschritt zu unterbinden, bleiben auch die progressiven Positionen in der kompositorischen Praxis weitgehend folgenlos. Eine Konsequenz aus dieser Situation ist die Erkenntnis, dass eine Musiktheorie mit regulativem Anspruch sich gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Relevanzfrage stellen muss. In Oliver Kortes quellenbasierter Aufarbeitung des musiktheoretischen Werks von Carl Friedrich Weitzmann wird Zukunft als geschichtliche Zeit in ihrer kulturpolitischen Wirkmächtigkeit von wünschenswerten oder weniger wünschenswerten Szenarien nachgezeichnet. Anhand des engen Austausches zwischen dem Theoretiker Weitzmann und dem Komponisten Liszt zeigt sich das Bild einer Musiktheorie, die in unmittelbarer Weise die Kompositionsgeschichte beeinflusst. Dass dies auch als bedrohlich wahrgenommen werden

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Musiktheorie und Zukunft

kann und ein musikgeschichtliches Zukunftsszenario nicht zuletzt auch persönliche Konsequenzen beruflicher Zukunft bedeuten kann, wird in der Figur Weitzmann sichtbar. Im ersten Teil des Aufsatzes wird anhand biographischer Arbeit der Kontext aufgespannt, aus der die systematische Theorie hervorgegangen ist. Diese wird im zweiten Aufsatz-Teil anhand zentraler harmonischer Kategorien wie Stimmung, Skala und Akkordfortschreitungen detailliert nachvollzogen und kritisch kommentiert. Dabei wird Weitzmanns Theorie insbesondere mit der Aufarbeitung von Widersprüchen und Lücken eine die Analysemethodik bereichernde Zukunft vorausgesagt. Die Vielstimmigkeit von Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900 abzubilden und analysieren, ist ein Anliegen von Anne Hameister. Verschiedene Perspektiven von Zukunftsmusik, musikgeschichtlicher Zukunft sowie dem Verhältnis von Harmonielehre zu Zukunft und zur Kompositionsgeschichte fügen sich zu einem narrativen Geflecht, das von der gedanklichen Klammer der Suche nach einer Neuen Harmonielehre im Zeitraum zwischen Neudeutscher Schule und Neuer Musik zusammengehalten wird. Um 1900 fungierte die zeitgenössische Kompositionspraxis als ein GegenwartsGegenüber, in der sich Harmonielehre-Debatten mit ihren fachinternen oder transgressiven Zukunftsvorstellungen spiegeln. Exkursartig werden dabei verschiedene Detailstudien angerissen. Trotz der historiographischen Intention, die zentralen Theoretiker der Harmonielehre in den Chor ihrer Zeitgenossen zu stellen, kommen Heinrich Schenker und insbesondere Hugo Riemann im Text eine herausgehobene Stellung zu. Im Text von Lee Cannon-Brown wird Zukunft (future) als stilistische Strömung (Futurism) untersucht – eine Strömung, deren Gestaltkraft in der Akzentuierung einer Avantgarde-Ästhetik liegt, die bereits aus der Gegenwart heraus wirken und gestalten soll. Die historisch-stilistische Linie von Iwan Wyschnegradsky zu etwa Georg Friedrich Haas bietet ein Narrativ für musikgeschichtliche Entwicklungslinien jenseits der dominierenden Zweiten Wiener Schule an. In Orientierung an dieses Zweite-Wiener-Schule-Paradigma könnte man jedoch Wyschnegradskys Ansatz als herausstechenden propagieren, indem die Resonanz seiner Zwölfton-Akkorde mit Schönbergs Dodekaphonie herausgestellt würde. Die gegenwärtig dringendere Frage wäre möglicherweis jedoch die nach der politischen Zukunft von Musiktheorieentwürfen: das Verschwinden im Rezeptionsspalt zwischen den Schichten vergangener Zukunft und gegenwärtiger Vergangenheit sowie Zusammenhängen gesellschaftlicher Statusfragen als Emigranten und epistemischer Gewalt bleibt eine auch zeitgenössisch unverändert wichtige Frage. Nicht zu-

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick: Musiktheorie und Zukunft

letzt verspricht der Autor im analytischen Nachvollzug und Hören von Anton Weberns Variationen, op. 27, ii (Beginn) den gegenwärtigen Rezipient:innen seines Beitrags zwar kein zukünftiges, aber ein neues, »futuristisches« Hören – gewissermaßen eine Zeitreise in Wyschnegradskys Ohren, in Annäherung an seinen vergangenen Zukunftsentwurf. Ariane Jeßulats Beitrag beweist einmal mehr die Persistenz musiktheoretischer Terminologie und die Persistenz regelhafter Umgangsweisen in der Komposition und Analyse. Sie zeichnet nach, welche Gegenwartsbedeutung das »historische« Konzept von Kontrapunkt durch eine Begriffsausweitung – Punctus nicht allein als Tonhöhe, sondern Punctus als Ereignis – haben kann. Diese Art des Weiterdenkens hält Jeßulat für eine zukünftige Musiktheorie für wünschenswert, indem bewährte Begriffe als Gedankengeländer für die stilistische und analytische Diversifizierung von Gegenständen im Musiktheorieunterricht dienen könnten. Die Auseinandersetzung mit Tinctoris’ Kontrapunktregeln wäre gewissermaßen nur ein Ausgangspunkt für die Loslösung von Tinctoris’ Verhältnisregelungen und seinem ursprünglichen Gegenstand hin zu einer Avantgarde des Kontrapunkts. Prospektiv wird Zukunft hier als geschichtlicher Möglichkeitsraum für künftige Weiterentwicklungen vermeintlich gestriger oder konservativer musiktheoretischer Kategorien beschrieben. Nina Noeske untersucht Zukunft im Science-Fiction-Film als Projektionsfläche von nach ›vorne‹ entworfenen Geschichtsentwürfen. Die im Vergleich zur futuristischen Bildsprache des Kinos keineswegs fortschrittlichen oder experimentellen Kompositionen schreibt sie der Funktion eines Bedürfnisses zu, das Vertrautes erfüllen möchte – den Menschen dort abholt, wo er steht, Musik sinnbildlich als Weltraumbahnhof, um von dort in schwerelose Raum-ZeitFiktionen abzuheben – wohlmöglich auch Halt zu bieten, wo auf anderen Ebenen Unbekanntes verunsichern könnte. Anders formuliert geht es ihr um die Frage des Zusammenhangs der Kommerzialität Hollywoods und der Tatsache, dass sich in musikalischer Hinsicht nur wenig »Avanciertes oder Un-Erhörtes« in Science-Fiction-Filmen findet.

Kann Musiktheorie zukünftig sein? Den eingangs benannten geisteswissenschaftlichen Austausch zu realisieren, birgt bei einer Disziplin, die im Hinblick auf ihren institutionellen Ort – zumindest im deutschsprachigen Kontext – überwiegend an Musikhochschulen

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Musiktheorie und Zukunft

statt an Universitäten verortet ist, besondere Herausforderungen. Für einen breiten interdisziplinären Austausch mit geisteswissenschaftlichen Disziplinen müssen daher neben inhaltlichen Grenzen auch institutionelle Grenzen überwunden werden. Dafür besteht die Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Darüber hinaus hat die Musiktheorie durch den häufig engen Austausch mit der Komposition – bis hin zu Personalunionen – die Chance, die Forderung Johannes Kreidlers einzulösen und sich nicht ausschließlich als eine entweder reflexiv-betrachtende oder eine handwerklich orientierte Disziplin zu beschränken. Sie könnte damit zu jener Disziplin werden, die ästhetische Ideen und Konzepten sowie neuen musikalischen Strukturen oder Materialien anbietet und reflektiert, die dann in der künstlerisch-kompositorischen Praxis produktiv gemacht werden können. Musikhochschulen könnten also ein Ort sein, an dem sowohl die »musikalische Zukunft« als auch die »Zukunft der Musik« einen ihrer Ausgangspunkte hat. In diesem Sinne könnte eine in jene Richtungen offene Disziplin Musiktheorie ein Bindeglied zwischen geisteswissenschaftlichen Inhalten und kompositorischer Praxis sein und aus dieser Funktion heraus einen Aspekt der Spezifik der Disziplin Musiktheorie generieren, den sie im Kern benötigt, um die Öffnung zu ermöglichen. Die Zukunft offen halten15  – dieser heute oft politisch-moralisch verstandene Auftrag lässt sich auch als geisteswissenschaftliche Aufgabe verstehen, bei der es darum ginge, der Offenheit im leeren Zukunftsraum Gehör zu schenken. Diesen leer gehaltenen Zukunfts-Raum anhand seiner Ränder/Grenzen abzutasten und sich die mit Semantik gefüllte geschichtliche Zeit ›Zukunft‹

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Der Ansatz unterscheidet sich damit von dem Buch Homo deus. A Brief History Of Tomorrow (2016) von Yuval Harari. Harari entwirft vor dem Hintergrund historischen Wissens eine Zukunft aus der Gegenwart heraus und bestätigt am Ende seines Buches: »We cannot really predict the future. All the scenarios outlined in this book should be understood as possibilities rather than prophecies. When we think about the future, our horizons are usually constrained by present-day ideologies and social systems. Democracy encourages us to believe in a democratic future; capitalism doesn’t allow us to envisage a non-capitalist alternative; and humanism makes it difficult for us to imagine a post-human destiny. At most, we sometimes recycle past events and think about them as alternative futures. For example, twentieth-century sometimes recycle past events and think about them as alternative futures. For example, twentieth-century Nazism and communism serve as a blueprint for many dystopian fantasies; and science-fiction authors use medieval and ancient legacies to imagine Jedi knights and galactic emperors fighting it out with spaceships and laser guns.« (Harari 2016).

Anne Hameister, Jan Philipp Sprick: Musiktheorie und Zukunft

musikbezogen zu vergegenwärtigen, war das Ziel der Tagung wie nun auch dieses kaleidoskopartigen Tagungsbandes. Wir sind davon überzeugt, dass Musik als kulturelle Praxis, Kunst oder Theorie sich zu diesen Fragen ständig mehr oder minder explizit verhält und möchten aus disziplinärer Perspektive eine fortgesetzte Beteiligung im geisteswissenschaftlichen Forschungsdiskurs zu diesen Themen anregen. In dem Bekenntnis, die Zukunft, auch die der Musiktheorie, offen zu halten, liegt schließlich auch ein Bekenntnis zur Historik des Faches. Wie die Zukunft der Musiktheorie aussieht, lehnen wir ab wissen zu wollen, aber wir gehen davon aus, dass es sie gibt. Hamburg, im Frühjahr 2023 Anne Hameister, Jan Philipp Sprick

Literatur Altenburg, Detlef (1982), Art. Zukunftsmusik, in: Das Große Lexikon der Musik, hg. von Marc Honegger und Günther Massenkeil, Freiburg: Herder 414f. Brinkmann, Reinhold (1967), Art. Zukunftsmusik, in: Riemann Musiklexikon, Bd. 12 (Sachteil), hg. von Wilibald Gurlitt, Mainz: B. Schott’s Söhne, 1082. Chakrabarty, Dipesh (2018), »Antropocene time«, History and Theory 57/1, 5–32. Harari, Yuval Noah (2016), Homo Deus. A Brief History of Tomorrow. London: Harvil Secker. Hölscher, Lucian (2009), Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein. — (2017), »Theoretische Grundlagen der historischen Zukunftsforschung«, in: Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, hg. von dems., Frankfurt a.M.: Campus, 7–37. — (2020), Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit, Göttingen: Wallstein. Jost, Christa/Peter Jost (1995), »›Zukunftsmusik‹. Zur Geschichte eines Begriffs«, Musiktheorie 10/2, 119–135. Koselleck, Reinhart (1989), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2000), Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Musiktheorie und Zukunft

Tappert, Wilhelm (1877), Art. Zukunftsmusik, in: Ein Wagner-Lexicon. Wörterbuch der Unhöflichkeit enthaltend grobe, höhnende, gehässige und verläumderische Ausdrücke welche gegen den Meister Richard Wagner seine Werke und seine Anhänger von den Feinden und Spöttern gebraucht worden sind, hg. von dems., Leipzig: Fritzsch, 45–48.

— Horizonte

›Zukunftsmusik‹ um 1900 Lucian Hölscher

I. Der Entwurf einer ›Zukunftsmusik‹, wie er nach 1900 bei den Protagonisten einer neuen, atonalen Musik aufscheint, gehört der dritten Welle innerhalb der europäischen Zukunftsgeschichte an, die um 1890 einsetzte und der ersten um 1770 und der zweiten um 1830 wiederum im Abstand von etwa zwei Generationen folgte.1 Ausgelöst durch die zweite industrielle Revolution, die in Deutschland im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vor allem von der chemischen und der Elektroindustrie ausgelöst wurde, führte diese neue Welle des verstärkten gesellschaftlichen Interesses an der Zukunft zu einer bislang (und auch seither) unbekannten Ausweitung des gesellschaftlichen Zukunftshorizonts. Dafür gibt es eine Fülle von Indizien, von denen hier nur an einige erinnert sei: Der kosmologische Zeithorizont der Astronomen überschritt um 1900 erstmals die Milliardengrenze. Er sprengte damit endgültig den engen Zeithorizont der 6000 Jahre, welche das christliche Weltbild bislang der Dauer der Welt gegeben hatte. Großkonzerne wie die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG) in Berlin richteten um 1900 erstmals Forschungslabore ein, welche Erfindungen und Wirtschaftsprojekte vorbereiteten, die erst für die fernere Zukunft, die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte, vorgesehen waren: etwa die wirtschaftliche Nutzung des Blitzes, des Gezeitengefälles an der Straße von Gibraltar oder der Sonnenenergie in der Sahara. Zukunftsromane, eine erst jetzt weit verbreitete literarische Gattung, erschlossen das Leben auf Erden über die nächsten Jahrhunderte hinweg. Designer machten sich Gedanken über die Mode und die Architektur im Jahre 2000. Und überall schossen

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Hölscher 2016.

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neue Journale und Zeitungen wie ›Die Zukunft‹ oder ›Das neue Jahrhundert‹ aus dem Boden, die die Zukunft schon im Namen trugen. In dieser zukunftsoffenen Aufbruchsphase entfalteten nun auch die Künste neue Ausdrucksformen, die explizit dem Zweck dienten, der Welt der Zukunft eine eigene und neue ästhetische Sprache zu verleihen. Anfangs richteten sich die neuen Ausdrucksmittel vor allem auf die Größe der Kunstprodukte: In der Architektur der 1870er und 1880er Jahre zum Beispiel erweckten die Hochhäuser von New York – etwa das Woolworth House in Manhattan – den Eindruck, Bauwerke einer Stadt der Zukunft zu sein, vor allem durch ihre Höhe, verblieben stilistisch aber noch im Rahmen einer traditionellen Ästhetik. Ebenso vermittelten auch die Orchester und Chöre von Richard Strauss zur selben Zeit den Eindruck, einen Vorschein der kommenden ›Zukunftsmusik‹ zu geben, vor allem durch ihre numerische Größe und tongewaltige Mächtigkeit. Seit den 1890er Jahren verstärkte sich dagegen in den europäischen Künsten der Wille, mit den alten Formen zu brechen und neue ästhetische Ausdrucksmittel zu entwickeln, die die alten Pfade verließen: in der Architektur die Trias der historistischen Baustile Klassik, Gotik und Romantik, in der Malerei den realistischen Stil der Jahrhundertmitte zugunsten der abstrakten Malerei, und so auch in der Musik den tonalen Wohlklang zugunsten der spannungsreichen Dissonanz. All dies waren neue Kunstsprachen, die explizit der Gestaltung einer neuen Welt, eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft dienten.2 Ein beredtes Zeugnis dieses neuen Aufbruchwillens legte der belgische Künstler und Kunstmäzen Henry van de Velde 1907 ab, als er rückblickend auf die vergangenen zwei Jahrzehnte festhielt:3 Meine Generation hat zu Beginn ihres Mannesalters den Alb gekannt, unter Menschen von getrübter Intelligenz geführt zu werden, die mit den organischen Elementen der Architektur spielten wie Kinder mit Bauklötzen, die Säulen und Bögen, Giebel und Gesimse aufeinandersetzen, ohne irgendwelchen Sinn … Es war das Grauen vor einer solchen Kunstrichtung und die Angst vor einer solchen Zukunft, der auch wir entgegensahen, die uns dazu trieb, Fenster und Türen aufzumachen und nach Vernunft zu schreien, auf dass sie uns befreie.

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Vgl. Hölscher 2010, 13–25. van de Velde 1955, 156f.

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

Wie in der Architektur zuerst der Jugendstil, dann der Funktionalismus die historistische Weiterentwicklung der klassischen Baustile Klassik, Romanik und Gotik verwarf, so verwarf in der Malerei eine neue Künstlergeneration von Matisse bis Kandinsky die gegenständliche naturalistische Darstellung der Dingwelt. Ihr ging es darum, seelische Empfindungen und Eindrücke einzufangen, die sich mit den Mitteln der realistischen Perspektivkunst und Farbgebung des 19. Jahrhunderts nicht ausdrücken ließen: eine Wirklichkeit hinter der fotorealistischen Reproduktion der Wirklichkeit. Dazu gehörte auch, dass Künstler für sich in Anspruch nahmen, in ihren Kunstwerken die Grenzen der Gegenwart zu überschreiten und neue, zukünftige Welten zu erschließen. Den neuen Zukunftsanspruch seiner Kunst formulierte etwa Wassili Kandinsky 1910 in seiner Schrift Das Geistige in der Kunst mit den Worten: »Die Kunst, die keine Potenzen der Zukunft in sich birgt, die also nur das Kind der Zeit ist und nie zur Mutter der Zukunft heranwachsen wird, ist eine kastrierte Kunst.«4 Das galt nun auch für die Musik: Die neue, atonale Musik von Schönberg, Strawinsky, Bartok und anderen war mit dem Anspruch aufgetreten, die Grenzen der abendländischen Musiktradition im letzten halben Jahrtausend hinter sich zu lassen. Und sie wurde auch in der Öffentlichkeit als Bruch mit dieser Musiktradition wahrgenommen. Schon 1910 hatte Kandinsky an Schönbergs Musik »die Emanzipation der Dissonanz, den Ausdruck des Seelischen« hervorgehoben. Als er am 2. Januar 1911 in München zum ersten Mal begeistert Schönbergs Streichquartett Nr. 2 op. 10 und die Drei Klavierstücke op. 11 gehört hatte, schrieb er an ihn: »Schönbergs Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die ›Zukunftsmusik‹.«5 Seither verband sich mit Schönbergs Kunst der Anspruch einer »Zukunftsmusik«: »Denn Musizieren heißt: immer wieder das Abenteuer mit dem Unbekannten bestehen. Musik ist immer Zukunftsmusik«, führte diesen Gedanken etwa Eduard Steuermann, ein führender Pianist und Komponist des Schönberg-Kreises, 1934 in einem Beitrag zu Schönbergs 60. Geburtstag aus, der den Titel »Zukunftsmusik« trug.6

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Kandinsky 2004, 21. Vgl. Hahn 2021. Steuermann 1934.

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II. Doch was meinte der Begriff ›Zukunftsmusik‹ damals eigentlich? Bei Schönberg verwies er auf einen radikalen Bruch mit der europäischen Musiktradition, auf eine neue geschichtliche Epoche, die, wie er glaubte, von einer neuen Musik erfüllt sein werde. Doch hatte Schönberg den Begriff selbst gar nicht für sich in Anspruch genommen, sondern er war ihm von anderen angetragen worden. Der Ausdruck hatte nämlich, als er nach 1900 vor allem in Bezug auf Schönbergs atonale Zwölftonmusik in Umlauf kam, schon eine längere Vorgeschichte durchlaufen. Erstmals war er um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Bezeichnung für Richard Wagners Ideal eines musikalischen Gesamtkunstwerks aufgekommen. Wagner hatte 1849, nach der gescheiterten Revolution, an der er selbst aktiven Anteil genommen hatte, einen Aufsatz über »das Kunstwerk der Zukunft« veröffentlicht, in dem er seiner Enttäuschung darüber Ausdruck gab, dass er die Art von musikalischen Aufführungen, wie er sie im Kopf hatte, gegenwärtig nicht realisieren könne, sondern der Zukunft anheimstellen müsse. Daraus entstand die neue Begriffsbildung ›Zukunftsmusik‹, die sich in der Öffentlichkeit bald darauf halb ironisch, halb ernst mit Richard Wagners Musik verband. »Da ich«, so begründete Wagner die Gelegenheitsformulierung zehn Jahre später in einem langen Schreiben an einen französischen Freund,7 »namentlich in Erinnerung der von mir erkannten, durchaus fehlerhaften Stellung des Theaters zur Öffentlichkeit, die Ermöglichung einer vollendeten Erscheinung dieses idealen Kunstwerks nicht in die Gegenwart setzen konnte, bezeichnete ich mein Ideal als ›das Kunstwerk der Zukunft‹«. Seither sei »die Erfindung des Gespenstes einer ›Musik der Zukunft‹« durch den französischen und deutschen Kunstbetrieb gegeistert. Zur Verbreitung dieses Schlagworts habe vor allem die Polemik der Kritiker gegen seine Opern beigetragen, die darin nichts anderes als »langweiligste Rezitative« und »unverständlichste musikalische Galimathias; kurz – ›Zukunftsmusik‹«8 erblickt hätten. Von neueren Kommentatoren wird der Begriff der ›Zukunft‹ bzw. der ›Zukünftigkeit‹ sogar auf noch frühere Musikbeispiele angewendet: So spricht etwa der Berliner Kulturwissenschaftler Stefan Willer im Kontext einer Besprechung der 5. Symphonie Beethovens durch E.T.A. Hoffmann, von einer »in-

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Wagner 1983b, 60. Wagner 1983b, 60.

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

ternen Futurität der Musik« und einer »zukunftshaltigen Musik« Beethovens.9 Doch dabei handelt es sich um etwas anderes als bei Richard Wagners Verwendung des Zukunfts-Begriffs. Hoffmann geht es in der genannten Besprechung um die innere Zeitfigur von Musikstücken, die einen bestimmten Bogen, eine Richtung zwischen Anfang und Ende nimmt: Im Anfang sind die Möglichkeiten des Fortgangs schon beschlossen. Im Ablauf des Stückes vollendet sich, was im Anfang schon angelegt war. In diesem Sinne beschrieb schon der Kirchenvater Augustin im 11. Buch seiner ›Bekenntnisse‹ die Spannung, die zwischen Anfang und Ende eines Liedes besteht: Ich will ein Lied singen, eines, das ich kenne. Eh ich beginne, erstreckt sich meine Erwartung über das Ganze; habe ich begonnen, so erstreckt sich so viel, als ich von meiner Erwartung schon zum Vergangenen hinübergepflückt habe, nun in die Erinnerung, und zerstreckt ist das Leben meines Tuns: Es ist Erinnerung, soweit ich schon gesungen habe; es ist Erwartung, soweit ich erst noch singen will: Was dennoch in der Gegenwärtigkeit dableibt, ist eben mein Bedacht im Vollzug.10 Was Augustin hier beschreibt, ist auch jedem modernen Musikkenner vertraut: In jedem Moment des Zuhörens weiß er, was schon hinter ihm, und zumindest bei wiederholtem Hören desselben Stücks auch, was noch vor ihm liegt. Selbst wenn er das Stück zum ersten Mal hört, so kann er zumindest davon ausgehen, dass auch das Kommende mit dem schon Verstrichenen eine Einheit, eben eine Figur bildet. In sich gegliederte zeitliche Erstreckung einer Melodie, ein Vorher und ein Nachher zu jedem ihrer Momente ist das eine, Zukunft jedoch etwas anderes: ›Zukunft‹ nennen wir nicht die folgenden Stadien eines streng begrenzten Prozesses, sondern die Gesamtheit der kommenden Welt, in der wir leben. Man würde ja auch nicht bei einem naturwissenschaftlichen Experiment von dessen späteren Stadien als von dessen »Zukunft« sprechen. Anders bei Richard Wagner. Die Bezeichnung seiner Musik als ›Zukunftsmusik‹ war, trotz seines frühen Aufsatzes Das Kunstwerk der Zukunft (1850) nicht von ihm selbst vorgenommen worden, sondern verdankte sich einer polemischen Abgrenzung von Kritikern seiner Musik an dem unterstellten Anspruch Wagners, die Musik der Zukunft zu komponieren. Dieser Anspruch ging auf die schon in den 1830er Jahren aufgekommene Forderung einiger 9 10

Willer 2016, 460. Augustinus 1955, 665.

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Komponisten zurück, nach den »Klassikern« Mozart und Beethoven eine neue, fortschrittliche Musik zu entwerfen. So bemerkte etwa Robert Schumann 1833, es fehle noch »eine Zeitschrift für künftige Musik«, und Franz Liszt verfasste 1834 eine Fragment gebliebene Schrift Über zukünftige Kirchenmusik.11 Schumann und Liszt, nebst ihren Schülern Chopin und Berlioz, waren in den 1840er und frühen 1850er Jahren auch diejenigen Komponisten, die man in der Öffentlichkeit am häufigsten mit der Vorstellung einer zukünftigen Musik in Zusammenhang brachte. Diese Charakterisierung gründete sich nicht auf rationale Überlegungen, wie sich die vergangene und gegenwärtige Musikentwicklung tatsächlich weiter gestalten, etwa aus vorliegenden Ansätzen in die Zukunft hochrechnen ließe, sondern eher auf politische Forderungen nach einer demokratischen Musikkultur, wie sie in Frankreich schon in den 1840er Jahren vor allem von saint-simonistischen Sozialisten unter dem Schlagwort einer ›musique de l’avenir‹ eingefordert wurde.12 Aufgeladen durch die politischen Verfeindungen der Revolutionszeit 1848/49 rückte Anfang der 1850er Jahre auch der sächsische Revolutionär Richard Wagner ins Visier der Kritiker solcher »Zukunftsmusik«. Nicht ohne Verweis auf die vermeintlich utopischen Gesellschaftsentwürfen der Frühsozialisten denunzierte der Direktor des Brüsseler Conservatoire Francois-Joseph Fétis 1852 in seiner Revue et Gazette musicale Wagners Tannhäuser-Ouvertüre als »Musik der Zukunft«. Das war alles andere als positiv gemeint, indem Fétis als Ergebnis der neuen Musik die Gefahr einer fortschreitenden Tendenz zur Hässlichkeit an die Wand malte. Zur weiteren Verbreitung des Begriffs ›Zukunftsmusik‹ in seiner polemischnegativen Bedeutung trug seit 1853 in Deutschland dann vor allem der Kölner Schriftsteller und Musikkritiker Ludwig Bischoff in seiner Niederrheinischen Musik-Zeitung bei. Das neue Schlagwort ›Zukunftsmusik‹ stand bei ihm und anderen Kritikern der neuen Musik für die angemaßte Autorität einiger Komponisten, ihre eigene Musik für diejenige zu erklären, der die Zukunft gehören werde. Sie hatten die Zukunft nach Ansicht dieser Gegner gewissermaßen für sich gepachtet, führten die Kunstentwicklung jedoch geradewegs in den Abgrund. So hieß es etwa in einer Wagner-Parodie von Johann Nestroy 1857:

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Jost/Jost 1995, 122. Vgl. Brzoska 1999, 41, hier zit.n. Geck 2001), 103.

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

Bei Zukunftsmusik geht wohl ohne Zweifel der festeste Tenor gar bald zum Teufel.13 Zuerst Liszt und dann auch Wagner fingen diese Kritik dadurch auf, dass sie sich zu dem als Schimpfwort gemeinten Schlagwort bekannten, indem sie nun auch selbst ihre eigene Musik als ›Zukunftsmusik‹ bezeichneten. Damit jedoch gewann die zunächst nur ganz oberflächliche Polemik gegen die Selbstanmaßung der so gegeißelten Komponisten und ihre politische Fortschrittsorientierung einen neuen und tieferen Sinn. Denn sie musste ihren Zukunftsanspruch nun selbst neu begründen. Anders als im Sinne der »inneren Futurität« von Beethovens 5. Symphonie gründete Richard Wagners musikgeschichtliche Selbstverortung nicht in der inneren Zeitanalyse von Musikstücken, sondern in einer weitausgreifenden historischen Betrachtung der europäischen Musikgeschichte insgesamt. In seinen musikhistorischen Untersuchungen beschrieb er die Wiederherstellung antiker musikalischer Prinzipien in der deutschen klassischen Symphonie als die glückliche Vereinigung des antiken Tanzrhythmus mit der Harmonielehre der frühchristlichen Choräle. Deren Formprinzip wollte er – in Anknüpfung an die Musikutopie der französischen Frühsozialisten – nun auch selbst in seinem eigenen Musiktheater auf die erstrebte Einheit von Musik und Poesie ausweiten. In diesem Sinne bezeichnet Wagners Konzeption einer ›Zukunftsmusik‹ also programmatisch den krönenden Abschluss einer kulturgeschichtlichen Bewegung, die langfristig angelegt war: »Diese Zukunft ist nicht anders denkbar als aus der Vergangenheit bedingt«.14 Es war die Urform jener »dramatischen Aktion«, zu deren Mitgestaltung Wagner in seinen Opern dann auch den Dichter aufrief: Spanne deine Melodie kühn aus, dass sie wie ein ununterbrochener Strom sich durch das ganze Werk ergießt: in ihr sage du, was ich verschweige, weil nur du es sagen kannst, und schweigend werde ich alles sagen, weil ich dich an der Hand führe.15 Man kann sich fragen, ob Wagner der musikalischen Entwicklung mit seiner Konzeption der Oper nicht auch schon eine innere Zukünftigkeit einschrieb,

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Nestroy 1983, 74. Wagner 1983a. 369. Wagner 1983b, 93.

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die ihren Neuerungen eine eigene Logik, einen vorgeschriebenen Verlauf unterstellte. Dafür spricht, dass er es durchaus als Aufgabe des Künstlers ansah, der Musik neue Ausdrucksformen wie die chromatische tonale Syntax in Tristan und Isolde zu verleihen. Aber »seine Innovationen ergaben sich«, wie es der englische Philosoph Roger Scruton 2016 formulierte,16 »auf natürliche Weise aus dem Fluss der abendländischen Musik, und seine harmonischen Entdeckungen waren nur deswegen Entdeckungen, weil sie auch die grundlegende Akkordgrammatik der diatonischen Tonalität bestätigten. Sie waren Entdeckungen innerhalb der erweiterten tonalen Sprache.« Damit bewegten sie sich, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, im Rahmen eines vorgegebenen Horizontes, den sie nicht überschritten und nicht überschreiten wollten. Wagners ›Zukunftsmusik‹ gehörte noch der zweiten Welle europäischer Zukunftskonjunkturen an, die in den 1830er Jahren einsetzte und bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts reichte. Indem er die Zukunft noch in einer dialektischen Entwicklungskontinuität zur Vergangenheit entwarf, zielte er auf eine demokratische, mitunter auch multiethnische Musikkultur.17 Ihr entscheidendes temporales Moment lag daher auch in der revolutionären Gegenwartserfahrung von 1848, welche die Zukunft von der Gegenwart als einen Umschlag von der ›falschen‹ zur ›richtigen‹ Gesellschaftsform abhob. Mit der dritten, um 1890 einsetzenden Zukunftswelle erlebten die europäischen Gesellschaften dagegen einen radikalen Bruch mit der gesamten Kunstentwicklung der abendländischen Geschichte, der für die Zukunft etwas vollkommen Neues verhieß, das nicht mehr in Kontinuität zur abendländischen Kulturtradition stand oder auch nur stehen wollte. Damit zeichnet sich eine Differenz zu Wagners Konzept einer ›Zukunftsmusik‹ ab, die heute leicht übersehen wird: Wagner hatte eine klare Vorstellung von der Richtung, die die musikalische Entwicklung in Zukunft nehmen werde. Die neue Künstlergeneration nach 1900 wusste dagegen nur, dass ihre neue Kunst auf einem tiefen Bruch mit der Vergangenheit hinauslaufen werde. So erklärte etwa Kandinsky 1914 in Reaktion auf viele falsche Unterstellungen im Vortragstext für eine Ausstellung in Köln:

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So Roger Scruton in einem Vortrag ›über Zukunftsmusik‹ in Donaueschingen am 16.10.2016 (https://www.swr.de/-/id=20429130/property=download/nid=659442/18nk go5/index.pdf – aufgerufen am 1.2.2023). Vgl. dazu etwa die an Hegels Geschichtsphilosophie angelehnte Figur von Robert Schumann: »Wir wären am Ziel? – wir irren! Die Kunst wird die große Fuge sein, in der sich die verschiedenen Völkerschaften ablösen im Singen.« (Schumann [1854], 34)

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

Ich will in der Harmonie der Meisterwerke der Vergangenheit keinen Punkt ändern, bekämpfen oder umwerfen./Ich will nicht der Zukunft ihre richtigen Wege zeigen.18 Sein Wunsch sei ausschließlich, dem, wie er es nannte, »Prinzip der inneren Notwendigkeit« zu folgen,19 das heißt seine Inspiration freizusetzen, indem er sie von allen Bindungen der Tradition befreie. Gleiches gilt für Arnold Schönberg, mit dem Kandinsky bis in die 1920er Jahre eine enge Freundschaft unterhielt:20 Schon im ersten Brief an seinen neuen Freund hatte Kandinsky als gemeinsamen Ausgangspunkt ihrer neuen Kunstauffassung die »Dissonanzen in der Kunst« genannt, »also auch in der Malerei ebenso wie in der Kunst. Und die ›heutige‹ malerische und musikalische Dissonanz ist nichts als die Konsonanz von morgen«.21 Schönberg griff diesen Ansatzpunkt noch im selben Jahr in seiner Harmonielehre auf: Wie Kandinsky wollte auch er mit der vielzitierten »Emanzipation der Dissonanz« allein seinem eigenen Instinkt folgen: Im Instinkt, schrieb er, liegt »vielleicht eine Fähigkeit, die erst entwickelt wird; ein Wissen um die Zukunft.« Doch sei sein Schaffen triebhaft. Der Künstler habe das Gefühl, »als wäre ihm diktiert, was er tut … In diesem Trieb mag Altes sich aussprechen und Neues. Solches, was von der Vergangenheit abhängt, und solches, das der Zukunft Wege weist. Alte Wahrheiten und neue Irrtümer … Das Richtige oder das Falsche, das Neue oder das Alte, das Schöne oder das Hässliche – wer weiß es, der nur den Trieb spürt?«22 Der Zukunftsbezug von Schönbergs Kunst bestand nicht in einem beanspruchten Vorherwissen dessen, was kommen wird. Alle programmatischen Zukunftsaussagen seiner Künstlergeneration waren daher eigentlich nichts weiter als retrospektive Aussagen über vergangene Entwicklungen: Aufarbeitungen einer Vergangenheit, deren Zukunftsdimension sich ihnen erst im Nachhinein erschloss. Ihre eigene geschichtliche Epoche beschrieben sie nicht wie Wagner als Abschluss und Vollendung einer lang angelegten Entwicklung, sondern als ›Stunde Null‹, in der alles, nur nicht das Bisherige möglich war.23

18 19 20 21 22 23

Hahl-Fontaine, 202. Kandinsky 2004, 78. Vgl. Hahn 2021 Hahl-Koch 1993b, 15. Schönberg 1911, 497. Scherliess 2014.

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Erst als sie erlebt hatten, dass das von ihnen geschaffene Neue auch weiterwirkte, schrieben sie ihm nachträglich eine Zukunftsfähigkeit ein, die ihre Kunstwerke anfangs noch gar nicht beansprucht hatten. Dies allerdings geschah dann mit Macht und verfehlte auch nicht seine Wirkung. So konnte die ›neue Musik‹ nach dem Zweiten Weltkrieg sogar für sich in Anspruch nehmen, schon frühzeitig einen demokratischen kulturpolitischen Weg eingeschlagen zu haben – anders als die »alte« klassische und romantische Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, welche durch ihre heroische und sentimentale Aufführungspraxis zur Zeit des Faschismus vor allem im angelsächsischen Raum in Misskredit geraten war.24

III. Am nachträglich konstruierten Zukunftsbau der Musik des 20. Jahrhunderts haben viele mitgewirkt. Schönberg ist nur einer von ihnen, obwohl seine Zwölftonmusik schon in den 1920er Jahren, prominent diskutiert etwa in Thomas Manns Doktor Faustus, zum weithin leuchtenden Symbol dieser »Zukunftsmusik« wurde. Zwar hat sich eine jüngere Generation von Komponisten, unter ihnen etwa John Cage, seit den 1960er Jahren auch wieder von der neuen Doktrin der seriellen Musik distanziert, doch hat diese dadurch nichts von ihrer ›Modernität‹ verloren. Was sich verändert hat, ist eher das Gefühl des Fortschritts, das mit allen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, auch denen in der Musik verbunden war: Im 20. Jahrhundert präsentieren sich geschichtliche Epochen gewöhnlich nicht mehr über die chronologische Reihenfolge, in der sie so etwas wie einen geschichtlichen Fortschritt signalisieren, sondern über die ästhetische Signatur ihrer künstlerischen Ausdrucksformen. Bei Kandinsky und Schönberg war es die Vorstellung eines epochal gemeinsamen Gefühls, einer gefühlten Stimmigkeit, die die Kunst zum wahren Ausdruck ihrer Epoche machte. Wir sind es heute gewohnt, die Epoche der 1920er Jahre über die Bauhausarchitektur, die des Faschismus über neoklassische Großbauten wie die von Albert Speer symbolisch zu repräsentieren. So ist auch Schönbergs Zwölftonmusik zum Symbol und künstlerischen Ausdruck seiner Zeit geworden. Ebenso wie Picasso oder der Dadaismus steht sie für die geschichtliche Epoche der »klassischen Moderne«. 24

Ross 2007.

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

Zusammenfassend lässt sich so festhalten: Fragt man nach der Rolle der Zukunft in der neuzeitlichen Musikgeschichte, so sollten die innermusikalischen Zeitstrukturen mit ihrer figurativen Abfolge von Tönen und Klängen nicht mit dem kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen Zukunftshorizont verwechselt werden, in dem Musikstücke stehen. Bei der Komposition von Musikstücken handelt es sich nicht um das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, sondern von Anlage und Folge. So gab es zum Beispiel in Schönbergs Harmonielehre von 1911 durchaus temporale Elemente wie Modulation, Umkehr, Auflösung oder Steigerung, die eine innermusikalische Dynamik und Zeitlichkeit entfalten, aber keine Zukunft. Bei der Annahme eines kulturgeschichtlichen Zusammenhangs musikalischer Werke über das einzelne Stück, den einzelnen Künstler hinaus hielt sich Schönberg gewöhnlich zurück. Erst im Nachhinein wagte er es, den zweifelhaften Begriff einer ›Zukunftsmusik‹ für sein Werk aufzugreifen, als er sah, welche weitreichende Wirkung er inzwischen entfaltet hatte: eine Zukunftsmusik ex post gewissermaßen. Anders ausgedrückt: Es gab für Schönberg zwar so etwas wie eine temporale Folgerichtigkeit, nicht jedoch eine langfristige musikgeschichtliche Entwicklung in eine voraussagbare Zukunft hinein, wie sie rückblickend etwa Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren in seiner Philosophie der neuen Musik erkannte: Indem Adorno die Neue Musik der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg mit der Überwindung des bürgerlichen Zeitalters in Zusammenhang brachte, gewann sie nun ex post eine historische Folgerichtigkeit, die ihr Schönberg noch erspart hatte.25 Ihre Rechtfertigung bezog diese geschichtsphilosophische Aufladung wohl vor allem aus dem breit angelegten Aufbruch der Künste vor dem Ersten Weltkrieg in eine neue Zeit und dem damit verbundenen Anspruch, eine neue Gesellschaft zu errichten. Dass dieser Anspruch sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht so wie erhofft einlösen ließ, dass es beim Aufbruch in eine Zukunft, die nie eintrat, blieb, ist eine andere Geschichte, die die Revolutionäre um 1900 noch nicht im Blick hatten. Der Fehlschlag zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die neue Musik niemals das breite Publikum erreichen konnte, für das sie geschaffen worden war. So ist es ein Aufbruch ohne Ankunft geblieben. Aber die fehlgeschlagene Ankunft führte nur wieder zu neuen Aufbrüchen.

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Adorno 1975, bes. 192–196.

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Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1975), Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Augustinus (1955), Confessiones, übers. und erläutert von Joseph Bernhardt, München: Kösel. Brzoska, Mathias (1999), »Richard Wagners französische Wurzeln. Warum Wagner kein Zukunftsmusiker sein wollte«, in: Von Wagner zum Wagnérisme. Musik, Literatur, Kunst, Politik, hg. von Annegret Fauser und Manuela Schwarz, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 39–50. Geck, Martin (2001), Zwischen Romantik und Restauration. Musik im RealismusDiskurs 1848–1871, Stuttgart: Metzler. Hahl-Fontaine, Jelena (1993a): Kandinsky, Stuttgart: G. Hatje. Hahl-Fontaine, Jelena (1993b): Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky. Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung, Stuttgart: G. Hatje. Hahn, Elisabeth (2021), »Die Freundschaft zwischen Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky: Wesensverwandte«. https://www.deutschlandfunkku ltur.de/die-freundschaft-zwischen-arnold-schoenberg-und-wassily.3780 .de.html?dram:article_id=492689 (19.8.2022) Hölscher, Lucian (2010), »Der Aufbruch der Kunst in die Zukunft«, in: »Das schönste Museum der Welt«. Museum Folkwang bis 1933, Essays zur Geschichte des Museum Folkwang, hg. von Hartwig Fischer und Uwe Schneede, Essen: Edition Folkwang/Steidl, 13–25. Hölscher, Lucian (2 2016), Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen: Wallstein. Jost, Christa/Peter Jost (1995), »›Zukunftsmusik‹. Zur Geschichte eines Begriffs«, in: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 10, 119–136. Kandinsky, Wassily (2004), Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei [1911], revidierte Neuauflage, Bern: Benteli. Nestroy, Johann Nepomuk (1983) [1857], Tannhäuser. Zukunftsposse mit vergangener Musik und gegenwärtigen Gruppierungen in drei Akten, zit.n.: Wagner-Parodien, ausgew. und mit einem Nachwort versehen von Dieter Borchmeyer und Stephan Kohler, Frankfurt a.M.: Insel. Ross, Alex (2007): The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, München: Piper. Scherliess, Volker (Hg.) (2014): »Stunde Null« – Zur Musik um 1945, Kassel: Bärenreiter. Schönberg, Arnold (1911), Harmonielehre, Leipzig: Universal-Edition. Schumann, Robert (1854), »Aus Meister Raro’s, Florestan’s und Eusebius’ Denk- und Dichtbüchlein«, in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker,

Lucian Hölscher: ›Zukunftsmusik‹ um 1900

hg. von Georg Wigand, Leipzig: Georg Wigand. https://www.koelnklavier .de/quellen/schumann/kr006.html#fn-t1 (19.8.2022) Steuermann, Eduard (1934), Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag. 13. September 1934, Wien: Universal-Edition, 28–30. https://www.schoenberg.at/index. php/de/1934-eduard-steuermann-zukunftsmusik (19.8.2022) van de Velde, Henry (1955), Vom Neuen Stil [1907], in: ders., Zum neuen Stil, hg, von Hans Curjel, München: R. Piper. Wagner, Richard (1983a), Oper und Drama, in: Dichtungen und Schriften, Bd. 7, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M.: Insel. Wagner, Richard (1983b), Zukunftsmusik. An einen französischen Freund [1861], in: Dichtungen und Schriften, Bd. 8, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M.: Insel. Willer, Stefan (2016), »Musik«, in: Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, hg. von Benjamin Bühler und dems., Paderborn: Wilhelm Fink.

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Zukunft als Denkmodell der Vergangenheit? Zum Wandel von Fortschritts- und Zukunftsbildern in der neuen Musik von 1950 bis in die (›breite‹) Gegenwart Julia Freund

Als der Komponist Sidney Corbett im Rahmen einer Umfrage der Zeitschrift Musik & Ästhetik aus dem Jahr 2004 nach der Bedeutung der Begriffe »Fortschritt, Avanciertheit und Avantgarde« für sein Selbstverständnis und seine künstlerische Arbeit gefragt wurde, schrieb er in seiner Antwort, dass es sich dabei um »keine immanent musikalischen Termini«1 handle. Vielmehr hätten wir es mit »musikfremden […] Begriffen«2 zu tun, die eigentlich kaum in der Lage seien, das schöpferische Moment der Musik zu beleuchten. In der Tat sind ›Fortschritt‹ als geschichtsphilosophische Kategorie und ›Avantgarde‹ als ursprünglich militärischer Ausdruck keine Begriffe, die sich direkt auf die Dimension des Klanglichen beziehen. Und doch können die Denkfiguren von ›Fortschritt‹, ›Avantgarde‹ – auch ›Zukunft‹ ließe sich hier ergänzen – als Instrumente des Auslotens künstlerischer Möglichkeiten, als Elemente autopoietischer Reflexion, eng mit musikalischen Praktiken verknüpft sein. Der Blick auf die Musikgeschichte jedenfalls zeigt uns die Wirkmacht solcher Vorstellungen: Einerseits beengten sie den Blick auf das künstlerisch Mögliche durch die binäre Alternative von ›fortschrittlich‹ vs. ›rückschrittlich‹; andererseits konnten sie als Katalysator künstlerischer Produktivität fungieren. Sind also Denkformen von ›Fortschritt‹ und ›Zukunft‹ nicht nur auf ihre ›ideologischen‹ Momente zu reduzieren, d.h. ihre machtinstrumentelle, politische oder polemische Dimension,3 und vergegenwärtigt man sich hingegen

1 2 3

Beitrag von Sidney Corbett in: Bauckholdt et al. 2005, 70. Ebd., 71. Vgl. dazu in der deutschsprachigen musikwissenschaftlichen Literatur u.a. Hentschel 2006, Jungmann 2011, Gur 2013, Freund 2020.

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ihre produktive Funktion in künstlerischen Prozessen, stellen sich folgende Fragen: Was passiert mit dem Fortschrittsgedanken, nachdem er mit der Postmoderne offiziell zu Grabe getragen4 wurde? Wie artikulieren sich Zukunftsvorstellungen heute, in einer Gegenwart, die – einer Diagnose Hans Ulrich Gumbrechts zufolge – als ›verbreiterte Gegenwart von Simultaneitäten‹ kaum noch Zukunftsperspektiven bereithält? Während diese Fragen hier selbstverständlich nicht umfassend besprochen werden können, möchte dieser Beitrag zumindest eine partielle Antwort in Hinblick auf den deutschsprachigen Diskursraum anbieten. Dazu soll der Blick zunächst zurück in die Zukunft der heute historisch gewordenen Avantgarden der Mitte des 20. Jahrhunderts gelenkt werden (I). Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden, wie sich Vorstellungen von Fortschritt und Zukunft nach dem vieldiskutierten Paradigmenwechsel im Geschichtsdenken vom Modernen zum Postmodernen gewandelt haben (II). Als Untersuchungsgrundlage dient dabei die bereits erwähnte Musik & Ästhetik-Umfrage aus den 2000er Jahren, die zwar nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums musikalischer Praktiken, Selbstbeschreibungen und Diskurse abbilden kann, an der sich aber gleichwohl signifikante Veränderungen zu den emphatischen Fortschritts- und Zukunftsbekundungen in den Debatten zur neuen Musik der frühen Bundesrepublik ablesen lassen. Auffällig ist dabei – das sei hier vorweggenommen –, dass Zukunftsperspektiven für die kompositorische Praxis ohne allgemeine Verbindlichkeit und in individualisierter Form artikuliert werden, ohne jedoch singularisiert und unverbunden nebeneinander zu stehen. Dass sich in Verknüpfung mit digitalen Medientechnologien auch in aktuellen Debatten emphatische Zukunftsideen mit Verbindlichkeitsanspruch manifestieren, soll im Rahmen eines Exkurses thematisiert werden.

I. Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen in den historischen Avantgarden der 1950er und 60er Jahre Aus den Debatten und kompositorischen Selbstbeschreibungen der 1950er und frühen 60er Jahre seien hier zwei Aspekte herausgegriffen,5 in denen musikalische Zukunftsperspektiven auf unterschiedliche Weise artikuliert 4 5

Vgl. Lyotard 1986. Für eine umfassendere Darstellung siehe Freund 2020.

Julia Freund: Zukunft als Denkmodell der Vergangenheit?

werden, nämlich erstens die Inszenierung elektronischer Musik als eingelöste bzw. uneingelöste Zukunft, und zweitens die Traditionskritik als Möglichkeit einer Gegenwartsüberschreitung.

Gegenwärtige Praxis als (un)eingelöste Zukunft In seinem Beitrag zur »Klangwelt der elektronischen Musik« aus dem Jahr 1952 schreibt Robert Beyer in der Neuen Zeitschrift für Musik, nicht zuletzt im Rekurs auf Arnold Schönbergs Idee einer ›Klangfarbenmelodie‹: Die Idee, Klangfarben zu komponieren, das heißt, mit sich selbst in Relation zu setzen, so wie wir heute Tonhöhen zueinander in Beziehung bringen, […] wurde bereits 1911 von Schönberg in seiner Harmonielehre vorausgesagt. Was damals noch eine Utopie war, ist heute keine mehr.6 Nicht nur sei die kompositorische Gestaltung der Klangfarbe durch die neuen technologischen Möglichkeiten der elektroakustischen Klangproduktion möglich geworden; Beyer spricht auch von einer »geschichtliche[n] Konsequenz der musikalischen Materialentwicklung«.7 Diese Vorstellung eines linearen musikhistorischen Prozesses, der aus einer inneren ›Konsequenz‹ heraus auf die elektronische Musikproduktion zusteuere, begegnet uns vielfach in den Debatten der Zeit.8 An dieser Stelle möchte ich eine Passage aus dem Text »Arbeitsbericht 1953« von Karlheinz Stockhausen ins Bewusstsein rufen, in der gegenwärtiges Tun als Erfüllung einer in der Musikgeschichte angelegten Zukunft inszeniert wird: Und die Entwicklung der abendländischen Musik ging genau diesen Weg zunehmender Differenzierung der einzelnen Dimensionen und ihrer Einbeziehung in den kompositorischen Ordnungsvorgang: Von der höchst ausgebildeten Tonhöhensystematisierung über stetig zunehmende dynamische Differenzierung zu großem rhythmischem Variationsreichtum. Denke man nur noch einmal kurz an die modale Musik des Mittelalters – und dann die drei Einschnitte: Die Temperierung Werkmeisters und das tonale System; das Mannheimer crescendo und die Lautstärkennuancierung in der Spätromantik vom 6fachen piano bis zum 4fachen f; und dann endlich an den ersten 5/4-Takt bei Tschaikowsky oder erst an Strawinskys Rhythmik im ›Sacre‹ 6 7 8

Beyer 1952, 76. Ebd. Später distanziert sich Beyer von diesem Geschichtsbild: Beyer 1955. Vgl. z.B. Pousseur 1955, 42 und Nono 1958, 25.

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und die Entwicklung der Rhythmik überhaupt in den letzten Jahrzehnten. Es wird klar, wie das Klangfarbenhören und die synthetische Klangfarbenkomposition alle drei Bewußtseinsarten von Tonhöhen-, Lautstärken- und Zeitdauernhören als Synthese zusammenfaßt und durch das Reihenprinzip einander gleich ordnet, ohne das eine oder das andere dominieren zu lassen.9 Während die vermeintlich erfüllte Zukunft eines Prozesses zunehmender Differenzierung und Materialbeherrschung hier auf problematische Weise festgeschrieben ist, enthält der Passus auch ein Moment unerfüllter Zukunft. Denn die Synthese, die Stockhausen hier vorschwebt: die Synthese gleichermaßen ausdifferenzierter und gleichberechtigt an der Gestaltung beteiligter Klangdimensionen, ist ja ein poetologisches Ideal geblieben. Bei Stockhausen ist dieses Ideal artikuliert als Utopie einer ›vollkommenen musikalischen Ordnung‹,10 an der sich er und andere in den 1950er Jahren abarbeiteten und die – vielleicht gerade wegen der vielfältigen Widerstände, die sich bei den Realisierungsversuchen auftaten – kreatives Potenzial entfalten konnte.11 Interessant für den Kontext des vorliegenden Bandes ist auch die Rolle, die musiktheoretischen Erwägungen mitunter zugewiesen wurde. In seinem Text »Musik und Zahl« aus dem Jahr 1958 bemerkt z.B. Gottfried Michael Koenig, dass die Theorie – u.a. weil sie sich nicht mit den »imperfektibeln Instrument[en]«12 aufhalte, weil sie also nicht an die Grenzen des Anschauungspotenzials historisch gewachsener Instrumente gebunden sei – der Praxis vorausgreifen könne. Und aus dieser »Vorsprung[s]«-Position heraus

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Stockhausen 1963a, 40f. »Mit Ordnung ist gemeint: Das Aufgehen des Einzelnen im Ganzen, des Verschiedenen im Einheitlichen. Kriterien für Ordnung sind Beziehungsreichtum und Widerspruchslosigkeit. Ziel des Ordnens ist die Annäherung an die denkbare Vollkommenheit von Ordnung […]. In einer totalen Ordnung ist alles Einzelne gleichberechtigt.« (Stockhausen 1963b, 18) Elena Ungeheuer spricht in dem Kontext, und zwar mit Blick auf Gottfried Michael Koenig, von »einer Zeit da Widerständen utopische Kräfte abgerungen wurden« (Ungeheuer 1993, 67). Vgl. auch Decroupet 2012, 46. Zudem hat der in der Idee einer »durchgeordnete[n] Musik« (Stockhausen 1963b, 17) enthaltene Impuls, immer mehr Dimensionen in den Kompositionsvorgang einzubeziehen, der im 20. und 21. Jahrhundert beobachtbaren Ausweitung des ›Komponierbaren‹ (um Gesten, Bewegung, Licht, visuelles Material etc.) einen wesentlichen Antrieb verliehen. Koenig 1991a, 7.

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könne die Theorie eine wegweisende Rolle einnehmen,13 stark formuliert in Form einer Utopie, schwächer formuliert in Form eines »theoretischen Anspruch[s]«14  – wobei sich beide Modi bei Koenig finden lassen.15

Gegenwartsüberschreitung durch Traditionskritik Als eine zweite Artikulationsform von Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen seien jene vergegenwärtigt, in denen ein Erneuerungspotenzial in der radikalen Kritik an der musikalischen Vergangenheit erblickt wird. Die Zukunftsperspektive liegt hier in der Möglichkeit, in der Reflexion auf die eigenen Bedingungen und Grenzen jene Grenzen des gegenwärtig Gegebenen zu überschreiten.16 Dies kann verschiedene Formen annehmen: als Kanon des Verbotenen, wie ihn z.B. Pierre Boulez in seinem Text »Schönberg ist tot«17 formuliert hat, auf musikalischer Ebene in Form einer bewussten Dekonstruktion formaler Konventionen, oder, grundsätzlicher formuliert, als eine Art Ethos des Infragestellens des Überlieferten und scheinbar Selbstverständlichen.18 In einem solchen Sinne enthält auch Adornos Entwurf einer ›musique informelle‹, dem vorgehalten wurde, selbst kein konkretes Angebot der avisierten informellen Musik zu liefern, eine Zukunftsperspektive. Mit den Mitteln der philosophischen Reflexion und Kritik des Gegenwärtigen soll die Möglichkeit eines Anderen, einer möglichen Zukunft aufgezeigt werden. Adornos Vorhaben, mittels der Theorie intervenierend in die Kompositionsgeschichte einzugreifen – was durchaus an Vorstellungen von Musikkritik im 19. Jahrhundert denken lässt19  – bezieht sich dabei auf eine Zukunft, die zwar noch nicht

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Ebd., 8 und Koenig 1991b, 33 und 35. Ebd., 33. Noch 1989 spricht übrigens Konrad Boehmer von der »Fruchtbarkeit der [seriellen] Theorie selber, die noch längst nicht gänzlich eingelöst wurde« (Boehmer 1989, 10). Wenn er schreibt, dass die Utopie des Seriellen unerfüllt geblieben sei, meint er damit u.a. den »Traum einer kompositorischen Integration musikalischer Innen- und Außenräume« (ebd., 8). Vgl. Foucault 1990. Der 1951 entstandene Text wurde erstmals 1952 in englischer Übersetzung in der Zeitschrift The Score veröffentlicht. Vgl. Freund 2020, 173–180 und 189–192. Vgl. Brendel 1855, z.B. 230.

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umrissen ist, aber von ihm deutlich im Rahmen eines Aufklärungsnarrativs und in einem Modus des Sein-Sollens gedacht wird.20

II. Wandlungen von Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen Dem Blick auf die historischen Avantgarden der Mitte des 20. Jahrhunderts folgt nun ein Sprung in das frühe 21. Jahrhundert: Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Artikulation von Fortschritts- und Zukunftsfiguren, nachdem die Idee einer musikalischen Fortschrittsgeschichte brüchig geworden ist. Aus einer deutlichen Distanz heraus lesen wir heute die Fortschrittserzählungen in den Texten Johann Nikolaus Forkels, Franz Brendels, Richard Wagners, Schönbergs etc. und machen uns ihre Genese, ihre Funktionen und eben auch ihre Kontingenz verständlich. In den letzten 50 Jahren sind übergreifende historische Sinnbildungsmuster einer grundlegenden Kritik und Dekonstruktion unterzogen worden. Nicht nur wurde das Ende der großen Erzählungen (Lyotard u.a.) ausgerufen, sondern auch das der Geschichte selbst (Flusser u.a.), also der Geschichte als eines linear nachvollziehbaren zeitlichen Wandlungsprozesses. Heute – so können wir vielfach nachlesen – scheinen wir ein gewandeltes Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft zu haben; in dem Zusammenhang sei hier an die gegenwartsdiagnostischen Überlegungen Hans Ulrich Gumbrechts zur ›breiten Gegenwart‹ erinnert. Mit dem Bild der ›breiten Gegenwart‹ meint Gumbrecht, dass Vergangenheiten, nicht zuletzt aufgrund der erhöhten elektronischen Speicherkapazitäten, die Gegenwart immer mehr anreichern, ohne sich deutlich als Vergangenheit abzusetzen, sodass »die Gegenwart zu einer sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten geworden« sei.21 Diese Gegenwart der Simultaneitäten sei von Stagnation geprägt.22 Die Zukunft, schreibt Gumbrecht, »ist für uns kein offener Horizont von Möglichkeiten mehr, sondern eine Dimension,

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Siehe Adorno 1962, v.a. 102. Gumbrecht 2010, 16. »Alle jüngeren Vergangenheiten sind Teil dieser sich verbreiternden Gegenwart, es fällt uns schwer, irgendeinen Stil oder irgendeine Musik der vergangenen Jahrzehnte aus der Gegenwart auszuschließen; die breite Gegenwart hat immer schon zu viele Möglichkeiten in ihren simultanen Welten und deshalb – wenn überhaupt – nur eine wenig konturierte Identität.« (Gumbrecht 2010, 16f.)

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die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich auf uns zuzukommen scheint.«23 Gumbrechts Überlegungen zur ›breiten Gegenwart‹ lassen sich in Bezug auf die Musik und speziell die neue Musik zum Teil plausibilisieren:24 Das gegenwärtige Musikleben haben wir als Nebeneinander verschiedener Strömungen im Blick, was sich auch in aktuellen Praktiken der Musikrezeption spiegelt.25 Doch gerade Gumbrechts These vom Schwund der Zukunftsperspektive lässt sich für die neue Musik nicht ohne weiteres geltend machen; nicht zuletzt auch wegen ihres Anspruchs, den sie nolens volens mit sich trägt und der sich nicht so leicht abzuschütteln lassen scheint. Ist also auch mit Blick auf die Kunst die ›Zukunft‹ ein Denkmodell der Vergangenheit? Dies soll hier punktuell diskutiert werden, ausgehend von der oben bereits angeführten Umfrage aus dem Jahr 2004, die 2005 in der Zeitschrift Musik & Ästhetik veröffentlicht wurde. Claus-Steffen Mahnkopf hatte an einige Komponist:innen26  – geboren zwischen 1954 und 1973 – die Frage gerichtet, »ob und wie weit die Begriffe Fortschritt, Avanciertheit und Avantgarde in ihrem Schaffen und in ihrem Selbstverständnis eine Rolle spielen«.27 Dabei lassen sich durchaus gemeinsame Motive herauskristallisieren, die im Folgenden dargelegt werden sollen.

Historisierung der Avantgarde In vielen Beiträgen wird die Idee der Avantgarde selbst als eine historische betrachtet, die zu einer »abgeschlossene[n]«28 bzw. »vergangenen musikalischen

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Gumbrecht 2010, 16. Das betrifft nicht zuletzt den heute verbreiteten Zweifel an musikhistorischer Richtungskontinuität und die (mediale) Allgegenwart der musikalischen Vergangenheit (vgl. dazu Kreidler 2012). Vgl. dazu Urbanek 2019. Abgedruckt sind Stellungnahmen von Caroloa Bauckholdt, Sandeep Bhagwati, Sebastian Claren, Sidney Corbett, Moritz Eggert, Beat Furrer, Ole Lützow-Holm, Dieter Mack, Isabel Mundry, Uroš Rojko, Steffen Schleiermacher, Marco Stroppa und Jörg Widmann. Insgesamt wurden 19 Komponistinnen und Komponisten angefragt, wie Claus-Steffen Mahnkopf in einer E-Mail an die Verfasserin vom 9.3.2022 bestätigte. Bauckholdt et al. 2005, 67. Beitrag von Corbett in Bauckholdt et al. 2005, 71.

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Epoche«29 gehöre, die ›überholt‹30 sei und in mancher Hinsicht »altmodisch«31 wirke. Auffällig und besonders interessant sind dabei solche Wendungen, in denen der Fortschrittsgedanke mit seinen eigenen Mitteln ausgehebelt und ad acta gelegt werden soll: »Wer Fortschritt, Avanciertheit und Avantgarde ruft«, schreibt Sebastian Claren, »wird sich heute unweigerlich dem Verdacht der Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt sehen, und das nicht zu Unrecht.«32 In Aussagen wie diesen überlebt die Denkfigur des Fortschritts, und zwar als Kritikfigur, hier freilich gegen eine bestimmte Ausprägung des Fortschrittsdenkens33 gewendet: nämlich jene, in der die eigene Gegenwart heroisiert und als ein Ort gedeutet wird, an dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem richtungsweisenden Bild zusammenschließen, von dessen Standpunkt aus alles andere – um aus Boulez’ frühem Schönberg-Aufsatz zu zitieren – als »unnütz«34 erscheint.

Versus ›Fortschritt‹ als kollektives Phänomen Die Vorstellung eines solchen überindividuell richtungsweisenden Fortschrittsbildes wird als »unhaltbar«35 beschrieben. Deutlich ist hier die Distanz spürbar zu jenen mit einer gewissen nachwirkenden Vehemenz geäußerten Positionen aus der Nachkriegszeit, in denen z.B. das serielle Komponieren als

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Beitrag von Claren in ebd., 69. Vgl. die Beiträge von Claren (69) und Furrer (74) in Bauckholdt et al. 2005. Beitrag von Schleiermacher in Bauckholdt et al., 81. Schleiermacher hat hier auch die mit der Avantgarde assoziierte Musik – konkret nennt er Schönberg, die serielle Musik und Brian Ferneyhough – als »altmodisch« im Blick (ebd.). Beitrag von Claren in Bauckholdt et al. 2005, 69. Vgl. auch den Beitrag von Mundry, in dem es heißt, der Wunsch, »die eine richtige Formel, Struktur oder Klangsprache« zu finden, sei »regressiv« (Bauckholdt et al. 2005, 79). Boulez 1979, 295. Beitrag von Claren in Bauckholdt et al. 2005, 69. Vgl. auch den Beitrag von Bhagwati in ebd., 68.

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gemeinsame,36 europäische,37 jedenfalls »überpersönliche«38 Musiksprache in Szene gesetzt wurde; in denen das serielle Denken Koenig zufolge »fast [wie] eine Weltanschauung«39 erschien, oder gar, in den Worten Heinz-Klaus Metzgers, wie der »musikalische Weltgeist«.40 In der Umfrage der 2000er Jahre steht insbesondere jenes kollektiv identifizierende, auf eine Identität reduzierende Moment der Begriffe wie ›Fortschritt‹ und ›Avantgarde‹ in der Kritik – was zuweilen auch als Folie genutzt wird, um die eigene künstlerische Individualität, das Beschreiten des eigenen Weges41 als ästhetisch wertvoll hervorzuheben.

Individualisierter Fortschritt – Zukunft als das noch Unbekannte In der Distanzierung zu den heroischen Fortschrittsbekundungen der historischen Avantgarden wird weniger die Fortschrittsfigur an sich aufgegeben, als dass sie in individualisierter und persönlicher Form42 artikuliert wird: etwa, wie bei Carola Bauckholdt, als stetig wachsende Aufmerksamkeit gegenüber Klängen und Geräuschen und zunehmend detailliertere Erforschung des Klanglichen, oder auch in Form einer Selbstreflexion auf das eigene Tun43  – explizit verbunden mit dem Potenzial, sich neue künstlerische Möglichkeiten zu erschließen.44 Aufschlussreich ist auch hier, wenn trotz klarer Absage an die Fortschrittsidee Sebastian Claren bemerkt, ein »bißchen Fortschrittsglaube« (verbunden mit einer gewissen »Risikobereitschaft«) könne »Perspektiven für eine künstlerische Weiterentwicklung aufzeig[en]«.45 Oder wenn Moritz Eggert die zur 36 37

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Stockhausen 1955, 43. Koenig beschreibt in einem Rundfunkvortrag für den Westdeutschen Rundfunk Köln 1961 das serielle Komponieren als einen »Stil[], der seit rund 10 Jahren als ›serielle Musik‹ bekannt ist und von allen jungen europäischen Komponisten, die es mit dem Fortschritt halten, adaptiert wurde« (Koenig 1991c, 221). Stockhausen weist das serielle Komponieren als eine »kollektive, übernationale und weitgehend überpersönliche Musiksprache« aus (Stockhausen 1964, 210f.). Koenig 1991d, 238. Jungheinrich 1987, 87. Siehe z.B. den Beitrag von Bhagwati von Bauckholdt et al. 2005, 68. Siehe dazu z.B. die Beiträge von Bauckholdt (67), Corbett (72), Rojko (80f.) und Stroppa (83) in Bauckholdt et al. 2005. Beitrag von Corbett in Bauckholdt et al. 2005, 72. Vgl. die Beiträge von Bauckholdt (67) und Corbett (72) in Bauckholdt et al. 2005. Beitrag von Claren in Bauckholdt et al. 2005, 70.

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Diskussion stehenden Begriffe zwar scharf kritisiert, doch zugleich jenen Aspekt des Avantgardegedankens als wichtig hervorhebt, der einen »Weg […] ins Ungewisse«, einen Weg auf »unbekannten Boden« eröffne.46 Dieses Schwanken zwischen Ablehnung und Rehabilitierung zeugt davon, wie schwierig es ist, Begriffe wie ›Fortschritt‹ oder ›Avantgarde‹, die von vergangenen Geschichtsbildern und den zugehörigen Erfahrungen gesättigt sind, umzudeuten; zu stark scheinen jene Assoziationen in die Gegenwart hineinzuwirken. Und doch gerät im Rahmen der Umfrage das ›Zukünftige‹ ins Blickfeld, und zwar vor allem als das Unbekannte, als das »hier war noch niemand«, das Jörg Widmann als »eine Haupttriebfeder [s]eines Komponierens« benennt.47 In der Suche nach dem ›Noch-nicht-Dagewesenen‹, die in den Selbstbeschreibungen48 einiger Komponist:innen thematisiert werden, lebt ein wichtiger Impuls des Fortschrittsdenkens in der Geschichte der neuen Musik weiter.

Exkurs: Zukunftsbilder im Kontext neuer digitaler musikalischer Praktiken Neben diesen individualisierten Zukunftsperspektiven können wir heute auch auf sehr konkrete musikbezogene Zukunftsvisionen stoßen, die mit einem Anspruch auf allgemeinere Verbindlichkeit vorgetragen werden. Besonders auffällig ist dies in Zusammenhang mit neuen digitalen musikalischen Praktiken. An dieser Stelle möchte ich im Rahmen eines Exkurses (und in Überschreitung deutschsprachiger Debatten) zwei Beispiele aus der jüngeren Zeit anführen, die anschaulich zeigen, dass und inwiefern emphatische Fortschritts- und Zukunftsbilder – in Abgrenzung zu den Ergebnissen der Umfrage – noch heute im musikalischen Denken und Schreiben präsent sein können. In seiner viel rezipierten Studie Sonic Writing aus dem Jahr 2019 betrachtet Thor Magnusson aus einem historischen Blickwinkel den Einfluss medientechnologischer ›Revolutionen‹ auf die Musik. Während er plurale Narrative 46 47 48

Beitrag von Eggert in Bauckholdt et al. 2005, 73. Beitrag von Widmann in Bauckholdt et al. 2005, 84f. An dieser Stelle mag der Hinweis angebracht sein, dass sich die hiesige Analyse der Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen, wie sie sich in der Musik & Ästhetik-Umfrage manifestieren, primär auf die Ebene des Diskurses bezieht. Wie sich das Verhältnis der angeführten autopoietischen Aussagen zur tatsächlichen Poetik der genannten Komponist:innen gestaltet, ist eine spannende Frage, die detailliert für jeden Einzelfall zu diskutieren wäre und im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden kann.

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durchaus zulässt, sind seine Ausführungen doch in den Rahmen einer Großerzählung gespannt, insofern er Edgard Varèses in den 1930er Jahren formulierte Utopie einer »liberation of sound« in aktuellen kompositorischen Praktiken verwirklicht sieht, die mit digitalen Medien operieren.49 Auch hier liegt das Bild einer erfüllten Utopie vor, die zugleich einen weiten Horizont möglicher Musik eröffnet. »Anything is possible«50  – so Magnusson – in diesen »revolutionary practices«,51 zu denen er übrigens auch seine eigene kompositorische Praxis des ›Live Coding‹ zählt, sodass auch an dieser Stelle nach einer Instrumentalisierung der Zukunft zu fragen wäre. Erneuerungspotenzial in der Musik sei einzig von den neuen digitalen Praktiken zu erwarten. Diese würden sich nicht nur durch einen erfindungsreichen Umgang mit digitaler Technologie und eine forschende, klangexperimentelle Haltung auszeichnen; sie seien zudem kollaborativ und partizipatorisch,52 sodass hier, im Leitbild einer nicht-hierarchischen Praxis, auch ein sozialutopisches Moment durchscheint. In ihrem Aufsatz mit dem programmatischen Titel »The Future is Graphic. Animated notation for contemporary practice« (Organised Sound, 2020) bemerkt Cat Hope, dass es trotz des grundlegenden Veränderungspotenzials, das digitale Technologien mit sich bringen, bislang kaum eine »technological evolution of music notation for music reading«53 gegeben habe. Nun sei es aber an der Zeit »for notation to come of age«.54 Die Metapher des Erwachsen- oder Mündigwerdens55 ist zwar nur an einer Stelle des Textes eingesetzt, suggeriert aber unmissverständlich die Idee eines mit dem technologischen ›Fortschritt‹ verschwisterten Entwicklungs- und Reifeprozesses musikalischer Schrift, die durchaus mit der Gesamtargumentation des Textes resoniert. »The future is graphic« – unter dem Stichwort des Graphischen hat Hope die sogenannte ›Animated Notation‹56 im Blick, die sie als »predominately graphic music no-

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Magnusson 2019, 229. Ebd. Ebd., 232: Zu den »revolutionary practices« zählt Magnusson »generative music, game sound, live coding, artificial intelligence, and other networked and computational creativity work« (ebd.). Ebd., 234. Hope 2020, 187. Ebd., 196. Für frühere Beispiele der Lebensaltermetaphorik im Musikschrifttum siehe Forkel 1788, 1, sowie in Abgrenzung dazu Busoni 1916, 7. Als Vertreter:innen seien hier neben Cat Hope selbst beispielhaft Pedro Rebelo und Lindsay Vickery genannt.

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tation that engages the dynamic characteristics of screen media« beschreibt.57 Gemeint sind also animierte, vornehmlich (aber nicht ausschließlich) graphische Notationsformen, deren räumlich-visuelle und temporale Gestaltung sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, die aber grundsätzlich in ihrer potenziellen Offenheit – darauf kommt es Hope im besagten Aufsatz an – eine polystilistische und kollaborative musikalische Praxis hervorbringen. (Dass Letztere im Rahmen der »contemporary practice«58 wünschenswert sei, wird als gegeben vorausgesetzt.) Dabei könnten animierte Notationen alle heute gebräuchlichen Notationstypen »in their neumic, symbolic, graphic and verbal forms«59 in sich einschließen. Die projektierte graphische Zukunft musikalischer Notation wird hier, freilich in pluraler Spielart, als eine Bewegung der Synthese, der fortschreitenden Integration vorgestellt. In dem Vermögen, verschiedene Stile und Notationsformen zu integrieren, in der Ermöglichung kollaborativer Schaffensprozesse von Komponierenden und Ausführenden sowie auch in dem Potenzial des digitalen Mediums, »accessible and easy to share«60 zu sein, weist Hope ›Animated Notation‹ als »democratic and worldencompassing«61 aus. Die von ihr manifestartig eingeforderte Fokusverschiebung von ›traditioneller‹ zu animierter Notation versteht sie demnach als »change of emphasis towards a more democratic, collaborative way of thinking about music.«62 Deutlich tritt in der Auszeichnung der Praxis animierten Notierens als demokratisch bzw. demokratieermöglichend eine ideen- und diskursgeschichtliche Kontinuität vor Augen, begleiten doch Vorstellungen zunehmender Gleichberechtigung, Emanzipation und Freiheit in verschiedenen Varianten die Fortschrittsdiskurse der neuen Musik seit dem frühen 20. Jahrhundert.63

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Hope 2017, 21. Hope 2020, 196. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 194. Die diskursgeschichtliche Kontinuität lässt sich bis ins späte 18. und 19. Jahrhundert zurückverfolgen, vgl. Hentschel 2006, 257–315.

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Perspektiven einer Erneuerung in der kritischen Befragung der Gegenwart Kehren wir zur Musik & Ästhetik-Umfrage zurück. Vielfach wird hier ein ambivalentes Verhältnis zum Anspruch des Neuen in der neuen Musik deutlich. Die Idee einer ›permanenten Revolution‹ in musicis wird einerseits problematisiert und grundsätzlich infrage gestellt.64 Andererseits sind Vorstellungen des Erneuerns, z.B. als ein Hinausgehen über das »unmittelbar Verständliche[]«,65 in einer eher undogmatischen Form präsent. Insbesondere in einer »kritische[n] Haltung«66 gegenüber bestehenden Verhältnissen wird ein Weg gesehen, den Horizont des Gegenwärtigen zu überschreiten: Kritik soll sich in Möglichkeit transformieren.

Nicht-Beliebigkeit trotz Relativität Äußern sich Zukunftsperspektiven hier explizit außerhalb eines Kollektivsingulars, ohne Geste des So-und-nicht-anders-sein-Könnens, wird häufig – im Wissen um die Relativität – die Nicht-Beliebigkeit des eigenen Komponierens betont.67 Es gehe darum, schreibt Isabel Mundry, »mit wachem Bewußtsein ihrer Relativität die kompositorische Entscheidung dennoch dem Relativismus zu entziehen, indem sie artikuliert, daß es beim Komponieren um etwas Entscheidendes geht«.68 Während Mundry dafür plädiert, das »Nachdenken« über die »Möglichkeiten und Grenzen« kompositorischer Techniken »wieder mehr zum Gegenstand von Diskussion und Kritik« zu machen,69 spricht sich Dieter Mack für die »Kultivierung einer persönlichen

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Siehe die Beiträge von Baghwati (68), Mack (76) und Rojko (80) in Bauckholdt et al. 2005. Beitrag von Claren in Bauckholdt et al. 2005, 70. Beitrag von Furrer in Bauckholdt et al. 2005, 75. »Es gibt keinen Fortschritt«, schreibt Furrer, wohl aber eine »kritische Haltung gegenüber einer Welt der totalen Organisation« (ebd., 75). Siehe auch den Beitrag von Eggert, der das Bild einer »wagnisreichen und spannungsvollen, durch ihren ›Stachel‹ im Fleisch der Konvention produktiven Musik« entwirft (Bauckholdt et al. 2005, 74). Lützow-Holm »würde jene künstlerischen Aktivitäten als fortschrittlich anerkennen, die ererbte Systeme herausfordern« (ebd., 76). Vgl. auch den Beitrag von Stroppa in Bauckholdt et al. 2005, 83. Beitrag von Mundry in Bauckholdt et al. 2005, 79. Ebd.

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Wahrhaftigkeit« aus, die er dennoch von einer »postmoderne[n] Beliebigkeit« abgegrenzt wissen will.70

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft Abschließend möchte ich nochmal auf die Konfiguration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingehen, wie sie sich in den besprochenen künstlerischen Selbstbeschreibungen kundtut: Die Idee, aus der Vergangenheit (oder der Gegenwart) eine zielgerichtete Bewegung zu extrapolieren, die eine Zugkraft in eine konkret ausgemalte Zukunft entfaltet, wird selbst nachdrücklich der Vergangenheit zugerechnet.71 Dennoch spielen Zukunftsvorstellungen – und damit würde ich die These Gumbrechts einer Einebnung der Dimension der Zukunft in eine ›breite Gegenwart‹ differenzieren wollen – in künstlerischer Reflexion noch immer eine Rolle. Im Rahmen der Umfrage – aber auch darüberhinausgehend – scheint mir das Zukünftige in einem zweifachen Sinne in den Blick zu geraten: zum einen als das Mögliche, das Noch-Nicht-Existierende, im Sinne einer Perspektive von Handlungsmöglichkeiten; zum anderen, und damit zusammenhängend, als unbekanntes Terrain, als das musikalisch Unabgesicherte sowie auch das Noch-nie-Dagewesene. In diesen semantischen Kontexten meint ›Zukunft‹ nicht etwas, was durch Prognosen oder Erwartungen erschlossen werden kann, sondern eine Differenzherstellung gegenüber dem Gegenwärtigen; eine Differenzherstellung, die hier mitunter als Aufgabe der Kunstschaffenden erscheint. Diese Aufgabe wird als eine persönliche formuliert: als Arbeiten an sich selbst im eigenen Verhältnis zur Gegenwart. Und gerade darin handelt es sich nicht um singularisierte Zukunfts- und Fortschrittsvorstellungen, die völlig unverbunden nebeneinanderstehen. Vielmehr macht sich in der Figur, im aufmerksamen Betrachten des Gegenwärtigen den Horizont desselben zu überschreiten, ein gemeinsames Motiv geltend, das natürlich auch auf eine Diskurstradition der neuen Musik verweist. Hier kommt ein dynamischer Zug zum Tragen, der auf seine mögliche Rolle in künstlerischen Praktiken und kreativen Prozessen hin zu befragen wäre und im Rahmen dessen Gegenwart und Zukunft, auch ohne den

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Beitrag von Mack in Bauckholdt et al. 2005, 77. Hervorhebung d. Verf. Bhagwati merkt vielmehr an, dass ein auf die Zukunft gerichtetes Denken den Blick auf das Gegenwärtige verstelle, nämlich in »Form des Nicht-im-Moment-Zuhören-Könnens« (Beitrag von Baghwati in Bauckholdt et al. 2005, 68).

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Kitt übergreifender historischer Deutungsmuster, in ein spannungsvolles Verhältnis verschränkt sind.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1962), »Vers une musique informelle«, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 4, hg. von Ernst Thomas, Mainz: Schott, 73–102. Bauckholdt et al. (2005), »Fortschritt, Avanciertheit, Avantgarde« [Forum], Musik & Ästhetik 9/33, 67–85. Beyer, Robert (1952), »Die Klangwelt der elektronischen Musik«, Neue Zeitschrift für Musik 113/2, 74–79. Beyer, Robert (1955), »Zur Situation der elektronischen Musik«, Neue Zeitschrift für Musik 116/8–9, 452–456. Boehmer, Konrad (1989), »Utopische Perspektiven des Serialismus. Plädoyer für eine Moderne nach der Postmoderne«, Neue Zeitschrift für Musik 150/4, 6–13. Boulez, Pierre (1979), »Schönberg ist tot«, in: ders., Anhaltspunkte. Essays, übers. von Josef Häusler, Kassel: Bärenreiter und Deutscher Taschenbuch Verlag, 288–296. Brendel, Franz (1855), Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart, zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage, Bd. 2, Leipzig: Heinrich Matthes. Busoni, Ferruccio (1916), Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, zweite, erweiterte Auflage, Leipzig: Insel-Verlag. Decroupet, Pascal (2012), »Warum die serielle Utopie unverstanden bleiben musste«, in: ›Dauerkrise in Darmstadt‹? Neue Musik in Darmstadt und ihre Rezeption am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Birtel und ChristophHellmut Mahling, Mainz: Schott, 40–47. Flusser, Vilém (1990), Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, hg. von Volker Rapsch, Düsseldorf: Bollmann. Foucault, Michel (1990), »Was ist Aufklärung?«, übers. von Eva Erdmann und Rainer Forst, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. von Eva Erdmann, Rainer Forst und Axel Honneth, Frankfurt a.M.: Campus, 35–53. Forkel, Johann Nikolaus (1788), Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1, Leipzig: Schwickertscher Verlag.

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Zukunft ohne Horizont Notizen und Querverbindungen Benjamin Sprick

»Das Neue, Interessante, das ist das Aktuelle.«1

Präambulum Zum Zeitpunkt des Verfassens »meines« Beitrages – bei dem es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages auf der Tagung Musiktheorie und Zukunft handelt – erschien die Conclusio aus Joseph Vogls im März 2021 erschienenen Buch Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart,2 auf dessen Argumentation sich die folgenden Überlegungen beziehen, noch dystopisch zu sein, was auch vom deutschen Feuilleton kritisch angemerkt wurde.3 Vogl hatte sich im Sinne der von ihm proklamierten, an der literarischen Stilistik Robert Musils und Franz Kafkas angelehnten »Artistik des Schwarzmalens« zu der These hinreißen lassen, dass die von ihm diagnostizierte, durch aktuelle Meinungsmärkte und Netzwerkökonomien geschürte »Feindseligkeit aller gegen alle zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist«, von dem nicht ausgeschlossen sei, »dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern« würde.4 Derartige Schlussfolgerungen erschienen selbst dem zu kritischem Denken geneigten Publikum zum

1 2 3 4

Deleuze/Guattari 2000, 130. Vogl 2021a. Vgl. als eines der zahlreichen Beispiele Schloemann 2021. Zur »Artistik des Schwarzmalens« vgl. Vogl 2021b. Vogl 2021a.

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Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches inmitten eines nachhaltig befriedeten Europa als deutlich überzogen bzw. unnötig pessimistisch verstellt. Sie nötigten Vogl, sich mehrfach für seine Einlassungen öffentlich zu rechtfertigen.5 Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass sich nur 11 Monate nach Erscheinen von Kapital und Ressentiment ein folgenschwerer territorialer Landkrieg mitten in Europa ausbreiten würde, was Vogls literarisch-düsterer Zukunftsprognose auf einen Schlag den Status einer zutreffenden Faktenanalyse verlieh. Eine vermeintliche »Zeitenwende« war nun »ausgerufen« und mit ihr die verlässliche Verbindung zu einem einschätzbaren politischen Zukunftsraum gekappt. Die politische Realität scheint also im Zwischenraum von ›Tagung‹ und ›Tagungsband‹ ihre eigene Prognose überholt zu haben, was für ein gemeinsames Nachdenken zum Thema Zukunft durchaus von Interesse sein könnte. Auch aktuell überschlagen sich die politischen Ereignisse nämlich eher, als dass sie aus einer linearen und vorhersehbaren Verkettung hervorgehen würden. Ein Nachdenken über ›Musiktheorie und Zukunft‹ müsste vor diesem Hintergrund wohl wiederholt oder modifiziert veranstaltet werden, auch wenn der Wissenschaftsbetrieb an den deutschen Musikhochschulen spürbar darum bemüht ist zur Tagesordnung, dem buisness as usual überzugehen. Die Zukunft, von der im Tagungstitel die Rede war, so viel steht bereits jetzt fest, ist nicht mehr dieselbe, die sie einmal war. Sie hat ihren eigenen Horizont hinter sich gelassen, um somit auch die resümierenden Ergebnisse ihrer bereits zurückliegenden Erforschung einer neuen Perspektive auszusetzen. Wäre somit nicht auch für die musiktheoretische Diskussion eine grundsätzliche Verschiebung ihres thematischen Horizonts, eine bestimmte Form einer politisierenden Aktualisierung wünschenswert?6 Die folgenden Überlegungen spüren dieser Frage in Form assoziativer Notizen und Querverbindungen nach.

Zeit, aus den Fugen Das Aktuelle rührt nie aus einer bloßen Abfolge eines Geschehens und auch nicht aus einer Summe von Tatsachen, die einmal waren oder sind. Es artikuliert sich vielmehr stets in Störungen und Sprüngen, die ein kontinuierliches 5 6

Vgl. Vogl 2021b. Vgl. hierzu ausführlich: Sprick 2023.

Benjamin Sprick: Zukunft ohne Horizont

Geschehen unterbrochen haben. Aktuell ist dementsprechend nicht, was aus einem geschichtlichen Kontinuum hervorgezerrt worden wäre und den Status eines referierbaren Tatbestands angenommen hätte. Aktuell ist vielmehr, was einen vorhersehbaren Zusammenhang reißen lässt, um bestehende Gültigkeiten zu hinterfragen. Eine derart einschneidende Aktualisierung eines musikalischen Zeitraums, die irreguläre Bewegungen in einem historischen Kontinuum aufbrechen lässt, kann zu Beginn der langsamen Einleitung von Wolfgang Amadeus Mozarts 1785 komponierten Dissonanzenquartett KV 465 ausgemacht werden. Hier kommt es zu einer mehr oder weniger futuristischen Montage musikalischer Zeit- und Ausdrucksebenen, in denen sich Einschnitt und Strom, Unterbrechung und Kontinuität zu einem vielschichtigen Klang-Gefüge verbinden. Die Einzelbewegungen des mozartschen Ensembles drücken dabei die Veränderung einer über sie hinausweisenden Gesamtheit aus, die sich zugleich in ihnen selbst teilt. Ein filigran konstruierter Bewegungs-Klang entsteht, der mit einer indirekten Repräsentation musikalischer Zeitebenen verbunden ist. Der lethargische Achtelpuls des Cellos bildet dafür eine gewisse Grundlage, indem er einen insgesamt schwankenden musikalischen Raum rhythmisch metrisiert. Der barocke Topos des chromatischen Quartgangs bzw. die Figur der Pathopoeia, die Christoph Bernhard im Traktatus compositionis augmentatus als Passus duriusculus bezeichnet, d.h. als ›schweren Gang‹, der die Stufen der Tonleiter durch die Aufspaltung in zwei chromatische Töne gleichsam gegen sich selbst richtet, um Affekte von Leid und Trauer zum Ausdruck zu bringen, ist dabei deutlich auszumachen.7 Er wird von Mozart allerdings durch die Querständigkeit der Sexten as–a und ges–g in unterschiedlichen Oktavlagen auf das gesamte Ensemble ›quadriert‹, d.h. in den mehrdimensionalen Raum der Vierstimmigkeit übertragen. Die barocke Figur wird auf diese Weise überschritten, um sich zugleich zu aktualisieren. Mozarts kontrapunktische Arbeit bleibt 7

Bernhard zufolge tritt ein Passus duriusculus auf zwei Arten in Erscheinung: Erstens, wenn eine Stimme »ein Semitonium minus steiget, oder fället«, sich also in chromatischen Halbtonschritten fortbewegt (Bernhard 2004, Kapitel 21). Dem abwärts schwerfallenden Gang steht die chromatische Aufwärtsgerichtetheit in den übrigen Stimmen entgegen, die den Bass schlußendlich ›hinanzieht‹ (kurzzeitig in T. 4 zu T. 5 und T. 9 zu T.10 sowie ›etablierter‹ ab T. 12). In dieser langsamen Einleitung fällt das kontrapunktische Auseinanderstreben von chromatischer Auf- und Abwärtsgerichtetheit auf; schwere Gänge also, in zwei Richtungen. Ich danke Anne Hameister für diesen Hinweis.

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zunächst ergebnisoffen. Das Unproduktive und Liegengelassene scheint hier in einer besonderen Weise ›beredt‹ zu werden. Entgegen historisch zurückliegender Beispiele verbinden sich die Bewegungen der Stimmen nicht mehr zu einem kohärenten klanglichen Gefüge im traditionellen Sinne, in dem sich die Zitation barockisierender Topoi zur schlüssigen Repräsentation eines einheitlichen Affekts zusammenschließt. Der Raum des Quartetts wird vielmehr zum Experimentierfeld einer affektiven kontrapunktischen Recherche, die das Ensemble in eine Zone der Ambiguität eintreten lässt. Auch bei Mozart, so ließe sich in Berufung auf die berühmte Formel aus William Shakespeares Hamlet konstatieren, gerät die Zeit aus den Fugen: »The time is out of joint.«8

Hamlets Haken Als Joint wird im Englischen u.a. ein kleiner metallener Stift bezeichnet, der, in einen Griffpunkt gelegt, eine stabile Drehbewegung von Türen und Fenstern ermöglicht. Im Deutschen sagt man hierzu eher Angel als ›Fuge‹, was vom althochdeutschen Begriff angul für Haken abgeleitet ist.9 Solange die Zeit in ihren ›Angeln‹ eingehakt bleibt, drückt sie, antiken Konzeptionen zufolge, die extensive Bewegung der Welt aus. Sie erscheint gemäß Aristoteles berühmter Formulierung aus der Physik als deren Maß, Intervall oder »Zahl der Bewegung in Bezug auf Früher und später«.10 »Man hat oft«, so der französische Philosoph Gilles Deleuze in einem kleinen Text über »vier Dichterformeln, die die Philosophie Kants zusammenfassen könnten«, die Eigenart der antiken Philosophie unterstrichen, die Zeit der Kreisbewegung der Welt als einer sich drehenden Tür unterzuordnen. Die Drehtür, das auf den ewigen Ursprung hin offene Labyrinth. Es wird dabei eine regelrechte Hierarchie der Bewegungen geben, je nach ihrer Nähe zum Ewigen, je nach ihrer Notwendigkeit, je nach ihrer Vollkommenheit, Gleichmäßigkeit, Umdrehung, nach ihren zusammengesetzten Spiralen, ihren Achsen und besonderen Türen, zusammen mit den Zahlen der Zeit, die ihnen entsprechen.11 8 9 10 11

»Die Zeit ist aus den Fugen« (nach der Schlegel-Tieckschen Übersetzung) oder: »Die Zeit ist aus den Angeln«. Kluge 1999, 54. Aristoteles 1987, 239b 12. Deleuze 2000.

Benjamin Sprick: Zukunft ohne Horizont

Befreit sich die Tür der Zeit aus ihrer Verankerung – wie Hamlet konstatiert und Mozarts musikalische Syntax es erahnen lässt – lässt das die Bewegungen der Welt aus dem Lot geraten. Die Zeit bezieht sich nicht mehr auf die von ihr gemessene Bewegung, es bezieht sich vielmehr die Bewegung auf die Zeit, durch die sie bedingt wird. Die Bewegung ist keine Gegenstandsbestimmung mehr, sondern die Beschreibung eines Raums, von dem abstrahiert werden muss, um die Zeit als Bedingung des Handelns zu entdecken. Die Zeit hat in gewisser Weise ihren Ursprung verloren, ihren Angelpunkt, um von nun an lediglich relative Maßstäbe der Bewegungsdurchmessung zu stiften. Im Gegenzug bringt sie ihre eigenen und irregulären Bewegungen hervor, die keinen vorgezeichneten Bahnen mehr folgen.

Kants Linie Hamlets Formel von einer aus den Angeln gehobenen Zeit bildet nicht nur in der Musik Mozarts, sondern auch in der, in zeitlicher Nähe zum Dissonanzenquartett entstandenen Zeitphilosophie Immanuel Kants Resonanzen aus. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, 1787 publiziert, zieht Kant die Konsequenzen aus den psychologischen und kosmologischen Bewegungsanomalien, die insbesondere durch die aufkommenden, modernen Naturwissenschaften aufgezeichnet wurden. Sein Zeitbegriff ist neu und revolutionär, womöglich der neuralgische Punkt, einer von ihm selbst proklamierten »Umänderung der Denkart« in der Philosophie.12 In einer sehr dichten Passage aus der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« aus der Kritik der reinen Vernunft kommt Kant in Bezug auf die Zeit auf ein gewisses Spiel von Linien zu sprechen, das sich auf die synthetischen Möglichkeiten der Einbildungskraft bezieht. »Wir können uns«, so Kant, keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen […], die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn successiv bestimmen, und dadurch auf die Succession dieser Bestimmung in demselben Acht haben. Bewegung als Handlung des

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Kant: AA III, 7–10.

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Subjects (nicht als Bestimmung eines Objects)* folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahiren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Succession zuerst hervor.13 Zeit existiert für Kant zwar nicht als ein eigenständiger Gegenstand. Sie hat zwar »empirische Realität« (B 52), ist also notwendigerweise in jedweder Erfahrung anzutreffen. »Jedoch bestreiten wir«, so der Kant, »der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität« (B 52). Zeit ist lediglich die apriorische Anschauungsform »des inneren Sinns«, die nicht an figürlichen Gestalten vorgestellt werden kann (B 49). Und genau aufgrund dieses Mangels an Vorstellbarkeit bedarf es für Kant einer Analogie, die sich uns »die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor[stellen]« lässt (B 50). Die Pointe von Kants gedanklicher Analogie liegt in der »Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen«, im Ziehen dieser Linie, also auf der »Bewegung, als Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung eines Objekts)«. Der Analogie zum Trotz und zu allem Überfluss ist die räumliche Linie von der Zeitfolge dennoch unterschieden und zwar insofern, »dass die Teile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind.« (B 50) Damit ist Zeit zwar gerade nicht die vergegenständlichte Linie selbst, sie lässt sich nicht in der räumlichen Darstellung fixieren. Gleichwohl bleibt der Zeit in dieser Vorstellung etwas linienartiges zu eigen, was sich darin manifestiert, dass sie insofern als eine lineare Strecke gedacht werden kann und muss. (Und zwar, als sie dem »Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll)« gleicht. »Zeit lässt sich für Kant mit anderen Worten«, wie Martin Mettin in seiner Kritischen Theorie des Hörens mit Seitenblick auf Ulrich Sonnemanns unverwirklichtem Projekt einer »Transzendentalen Akustik« verdeutlicht, »nicht als das Objekt der Linie (visuell) ›verdinglichen‹, obwohl die dynamische Bewegung der Zeit analogisierend eine lineare Gestalt erhält.«14 Zwar gilt für Kant, dass der Begriff der Sukzession denjenigen der ›Zeit‹ voraussetzt, Zeit also fundamentaler ist als Sukzession, Fortschreiten. Gleichwohl wird bei ihm die Zeit, über die Analogie der Linie, als ein mehr oder minder gleichförmiger Strom vorgestellt. Auch wenn die resultierende räumliche Linie nicht die Zeit selber ist, es vielmehr auf den Prozess des Ziehens ankommt, so legt doch die Analogie einer »ins Unendlich

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Kant 1783, B 54. Mettin 2020, 56.

Benjamin Sprick: Zukunft ohne Horizont

fortgehenden Linie« eine bestimmte Vorstellung von Zeit nahe: ihren ungebrochenen Verlauf in Richtung Unendlichkeit.15 Die Zeit ist bei Kant also in eigentümlicher Weise zu einem Labyrinth geworden, das aus einer einzigen geraden Linie besteht.16

Zeit ist Geld Kants Zeittheorie ist mit gewissen ökonomischen Implikationen verbunden, aus denen sie zugleich hervorzugehen scheint. »So sehr«, wie Gilles Deleuze 1984 in einem Seminar an der Universität von Vincennes betont, dass wir in Bezug auf Kant die ganzen Thesen von Max Weber über die Bedeutung des Protestantismus für die Herausbildung des kapitalistischen Zeitalters aufgreifen müssen. Wenn man darüber nachdenkt, was die kapitalistische Zeit ist, dann ist es eben eine Zeit, die nicht mehr klösterlich oder ländlich ist. […] Es gibt keine privilegierten Positionen mehr, es gibt keine privilegierten Augenblicke. Marx wird diese Zeit trefflich analysieren, indem er sagt: ›Der Kapitalismus hat die abstrakte Zeit entdeckt‹. Was bedeutet die abstrakte Zeit? Es bedeutet offensichtlich Zeit bezogen auf einen beliebigen Zeitpunkt und nicht mehr auf den privilegierten Zeitpunkt. […] Es ist die säkulare und urbane Zeit, von der wir sagen werden ›Zeit ist Geld‹. […] Geld ist ›der Lauf der Zeit‹. Das heißt, die Vermehrung des Geldes ist der Übergang von einem beliebigen Zeitpunkt zu einem beliebigen Zeitpunkt. Geld ist Zeit, Zeit ist Geld. […] Aber sie als Vorbild zu nehmen, bedeutet, die gewöhnliche Zeit als die einzige Zeit einzurichten!«17 Kants »Zeit« ist also eher eine solche der gleichförmigen Alltagserfahrung, als dass sie zu ästhetischen Transgressionen mozartscher Couleur einladen würde. Sie legt – gegenüber anderen Zeitformaten – auf den Zeitmodus der Sukzession eine deutliche Betonung, die dieser für die Zukunft einen leichten Vorsprung verschafft. Was sich bewegt und verändert, all das ›ist‹ für Kant in der Zeit. Die Zeit selbst jedoch verändert sich nicht, bewegt sich nicht und ist ebenso wenig ewig. Sie ist die Form all dessen, was sich verändert und bewegt, eine

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Ebd., 58. Zur Metapher eines unilinearen Labyrinths vgl. Borges 1992, insbesondere 130ff. Deleuze 1984.

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unwandelbare und unveränderliche Form allerdings. Keine ewige Form, sondern eben die Form dessen, was nicht ewig ist, die unwandelbare Form der Veränderung und Bewegung. In gewisser Weise verhilft Kant somit, wie auch Deleuze unterstreicht der Zeit der »alltäglichen Banalität« zur Ehre.18 Die von Deleuze benannte Tendenz bei Kant, den Zeitbegriff durch Annäherung an die empirisch wahrgenommene Gleichförmigkeit protestantischer Arbeitszeit zu ›banalisieren‹ macht sich unter anderem in Kants insgesamt ambivalenter Position der Musik gegenüber bemerkbar. Die oszillierende Materialität des Tons beispielsweise, die von Descartes noch zum Ausgangspunkt phantasievoller mechanistischer Spekulationen gemacht wurde, wird Kants transzendentalphilosophischer Musikästhetik zum gravierenden Problem.19 Die Bewegungen der Klangmaterie sind Kant zufolge so rasant, dass sie vom wahrnehmenden Bewusstsein nicht zu einer begrifflich repräsentierbaren Form synthetisiert werden können. »Der Schall ist«, wie Kant gewohnt nüchtern konstatiert, »eine continuierliche gleiche Eintheilung der Zeit. Es muß aber eine solche unendliche feine Eintheilung seyn, daß wir sie ohne Bewußtseyn wahrnehmen.«20 »Der höchste Thon einer Seite«, so Kant an anderer Stelle, »macht in einer Secunde 6000 Schwingungen, die wir auch noch unterscheiden, denn 100 Schwingungen weniger ist schon ein anderer Thon.«21 6000 Schwingung pro Sekunde lassen sich nicht bewusst zählen. Ein Ton kann deshalb Kant zufolge nicht erkannt, sondern nur in seiner Wirkung als akustischer »Reiz« empfunden werden, worauf die Fähigkeit zur Unterscheidung der Tonhöhen basiert. Ein Ton bewegt zwar das Gemüt, ist aber für sich

18 19 20

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Deleuze 1984. Eine konzise Einführung in Kants Musikästhetik findet sich in Giordanetti 2005 und 2007. Kant 1970, 84. Der Schall ist für Kant »entweder circulierende oder oscillirende, d.i. Kreis- oder schwankende Bewegun[g].« Zum Beispiel eine »Bebung (motus tremulus), welche nicht eine fortschreitende Bewegung eines Körpers, dennoch aber eine reciprocirende Bewegung einer Materie […] die dabei ihre Stelle im Genzen nicht verändert, wie die Zitterungen einer geschlagenen Glocke oder die Bebungen einer durch den Schall in Bewegung gesetzten Luft.« (Kant AA (IV), 483) Vgl. auch ebd.: »Mit welcher Feinheit theilt die Musik den Tact und alle die verschiedenen Töne ein, die auf einander folgen! Ein jeder Ton ist eine Zeiteintheilung; ein Ton, der eine Octave höher ist, hat eine Schwingung mehr.« Kant AA (XXV), 54.

Benjamin Sprick: Zukunft ohne Horizont

selbst in einer Weise bewegt, die sich nicht reflektieren d.h. begriffsmäßig definieren lässt. Wenn man die Schnelligkeit […] der Luftbebungen, die alles unser Vermögen, die Proportionen der Zeiteintheilung durch dieselben unmittelbar bei der Wahrnehmung zu beurteilen, wahrscheinlicherweise bei weitem übertrifft, bedenkt; so sollte man glauben, nur die Wirkung dieser Zitterungen auf die elastischen Teile unseres Körpers werde empfunden, die Zeiteinteilung durch dieselben aber nicht bemerkt, und in Beurteilung gezogen, mithin […] mit Tönen nur Annehmlichkeit, nicht Schönheit ihrer Komposition verbunden.22 Wo die »Schnelligkeit« einer »Zeiteintheilung« zum Maßstab ihrer ästhetischen Wertigkeit wird, da haben sich die Beziehungen von Zeit und Bewegung ganz offensichtlich gewandelt. Da muss die Bewegung bestimmten Normen und Kriterien genügen, um in den Erkenntnisrahmen einer ›transzendentalen Ästhetik‹ eingetragen zu werden. Nicht mehr die Zeit ist es bei Kant, die – wie in der Antike – zur »Zahl der Bewegung in Bezug auf Früher später«23 gemacht wird, indem sie diese misst und vergleichbar macht. Die Bewegung selbst gibt der Zeit vielmehr eine bestimmte (im Falle des Tons, wie Kant es ausdrückt »reciprocirende«) Form, deren motorische Verfassung darüber entscheidet, ob sie ästhetisch beurteilt werden kann oder nicht. Für sich selbst bzw. als »reine Form der sinnlichen Anschauung« ist die Zeit unbewegt. Zeit ist somit »kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff«, sondern transzendentale Bedingung der Möglichkeit aller diskursiven Bewegungen und Begriffsbildungen. »Verschiedene Zeiten«, so Kant, »sind nur Teile eben derselben Zeit.«24 Eine solche ›geteilte‹ Zeit stellt der Ton dar, indem er die eine und ungeteilte Zeit – je nach Tonhöhe – durch mehr oder weniger rasante, periodische Bewegungsmuster strukturiert. In Kants insgesamt ambivalenter Position dem Ton gegenüber drückt sich ein grundlegender Paradigmenwechsel in der philosophischen Bestimmung des Verhältnisses von Bewegung und Zeit aus, der sich mit Hamlets Formel von der aus den Fugen geratenen Zeit in Verbindung bringen lässt. Alles, was sich bewegt und verändert ist für Kant in der Zeit. Die Zeit selber aber verändert

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Kant AA (V), 456. Aristoteles 1987, 239b 12. Kant AA (III), 58.

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sich nicht. Sie dient als transzendentaler Rahmen bzw. Bedingung der Möglichkeit der Bewegung und nicht als deren Maß. Die Zeit bezieht sich nicht mehr auf die von ihr gemessene Bewegung, es bezieht sich vielmehr die Bewegung auf die Zeit, durch die sie bedingt wird. Wenn die Zeit jedoch als das leere Medium gefasst wird, in dem sich beispielsweise ein Ton bewegt, dann wird die musikalische Bewegung als Form begriffen, die der leeren Medialität der Zeit Folge leistet. Diese Form schreibt sich zum Beispiel in Notenschriften ein. Die Töne bewegen sich auch hier in einer leeren und immer gleichen Zeit-Räumlichkeit, deren Rahmen sie durch ihre Bewegungen nicht verändern können. Was dabei allerdings unter den Tisch zu fallen droht, ist die Tatsache, dass die Bewegung von der Zeit – wie sich vorläufig sagen ließe – ›durchsetzt‹ ist. Jede musikalische Bewegung wird, wie es zu Beginn von Mozarts Dissonanzenquartett besonders greifbar ist, von der Zeitlichkeit selbst herausgefordert. Sie stellt eine eigenständige Art und Weise dar, die Frage der Zeit zu bearbeiten und zu problematisieren. Zeit ist der musikalischen Bewegung bereits immanent und fordert sie heraus, ihre zeitliche Affizierung in Form irregulärer Fluchtlinien weiterzuverfolgen. Sie ist nicht das leere Medium, in dem sich so etwas wie Bewegung ›vollziehen‹ würde, die dann immer schon als Bewegung auf eine Räumlichkeit reduziert wäre, die sich wiederum nur in der Vorstellung eines leeren Mediums der Zeit herstellen kann.

Gezähmte Zeit Auch aktuell macht Hamlets, eingangs erwähnte Wendung von einer aus den Fugen geratenen Zeit die Runde. Die Formel Shakespeares taucht in journalistischen Kommentaren und auf wissenschaftlichen Fachkongressen ebenso auf, wie sie im Rahmen von Konferenzen und Kneipengesprächen »zitiert« wird. Zumeist wird sie wie eine beiläufige Arabeske oder als metaphorische Näherung zitiert, um sogleich wieder vergessen zu werden.25 Dabei könnte sie sich auch in Bezug auf die aktuelle Gegenwart durchaus als programmatische Formel erweisen. Das, was Jürgen Habermas einst als »Unübersichtlichkeit der Moderne« bezeichnet hat, scheint aktuell in erhebliche Turbulenzen geraten

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Auch die von der deutschen Bundesregierung in Umlauf gebrachte Rhetorik einer vermeintlichen »Zeitenwende«, kann durchaus als Resonanz Shakespeares verstanden werden, die einem um sich greifenden Rausch des Epochalen entspricht.

Benjamin Sprick: Zukunft ohne Horizont

zu sein.26 Spekulative Ökonomien, die imaginäre ›Werte‹ nahe der Lichtgeschwindigkeit zirkulieren lassen, treffen auf wirtschaftliche Strukturen, die noch industriellen oder gar agrarischen Zeiten gehorchen.27 Die Kräfte, die sich in solchen Frakturen ausdrücken, forcieren ökonomische Einbrüche nicht weniger als militärische Katastrophen, soziale Konfrontationen nicht weniger als kulturelle Eklats. »[E]s geschieht zu viel Unvorhersehbares«, so Lenger, »vor allem aber:« es geschieht zu viel Ungleichzeitiges gleichzeitig, ohne sich auf ein gemeinsames Zeitmaß noch zu beziehen. Und dies zerreißt, was sich in symbolischen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ordnen und entspannen ließe. Der gemeinsame ›Zeitfluss‹ erweist sich als Illusion, Perspektiven eines ›Fortschritts‹ lösen sich auf. Es ist, als sei die Gegenwart wie von einer ubiquitären Überladung, von einer beständigen Überhitzung gekennzeichnet, die den gegenwärtigen Augenblick überfordert, ihn bersten und aus den Fugen geraten lässt.28 Der Frage einer derart ökonomisch ›gezähmten‹ Zeit, deren unterdrücktes Rauschen in künstlerisch-poetischen Wissensgefügen stets mitschwingt, hat der Literaturwissenschaftler und Philosoph Joseph Vogl in den vergangenen Jahren eingehende Untersuchungen gewidmet, die aus einer methodischen Verbindung ästhetischer, ökonomietheoretischer und philosophischer Forschungen zusammengesetzt sind. Von der Studie Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen29 über das Buch Das Gespenst des Kapitals30 , bis hin zu seiner jüngsten, bereits erwähnten Veröffentlichung, Kapital und Ressentiment verfolgt Vogl das erklärte Ziel, die Bewegungen und Strukturen der modernen Finanzökonomie zu analysieren, indem er sie mit literarischen Formen in Verbindung bringt. Ein Verfahren, das für eine Musiktheorie der Zukunft insofern von Interesse sein könnte, als es stärker als bislang üblich die Verbindung von ökonomischen und ästhetischen Bezugsgrößen in den Fokus rückt. Vogl schlägt beispielsweise vor, Unternehmen und Unternehmensstrukturen, sowie die in diesen auszumachenden Kommunikationsweisen aus der Perspektive von Erzählerpositionen und Erzählweisen zu betrachten:

26 27 28 29 30

Vgl. Habermas 1983. Vgl. Lenger 2019a. Ebd., 8. Vogl 2008. Vogl 2015.

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»Ein Großunternehmen kann auch ein Erzähler sein. Es gibt anonyme, maschinelle Erzählinstanzen, es gibt unternehmerische Erzählinstanzen. Es gibt also einen Umschlag von Erzählweisen, von Fabeln, von Fiktionen, für die ein gewisses literaturwissenschaftliches Spezialistentum gar nicht so schlecht sein kann.«31 Vogls Recherchen versuchen sich – laut seiner eigenen Aussage – einem um sich greifenden Trend zu entziehen, die Produktion von Wissen durch vorgeformte akademische Formate steuer- und kontrollierbar zu machen, die das arbeitsteilige Verhältnis von Spezialisierung und Disziplinierung anfeuern. Ich glaube, dass es für das Profil des Denkens, an welcher Stelle man auch steht (an der Universität, der Kunst- oder Musikhochschule) zwei Prinzipien gibt. Das eine ist ein bewährtes Prinzip, das man auch aus der Ökonomie bzw. Arbeitsteilung kennt und das heißt Spezialisierung. Es lohnt sich, sich in bestimmten Dingen zu spezialisieren […] Das zweite geht damit einher, dass radikale Spezialisierung auch so etwas, wie Ent-Disziplinierung bedeutet. Ein richtiger Spezialist lässt sich nicht in einem bestimmten Fach verorten, zum Beispiel in der Finanzökonomie etc., sondern vagabundiert gewissermaßen durch die Disziplinen. Ich glaube, dass der Zusammenhang von Spezialisierung und Disziplinierung ein übles theoretisches und wenn man so will ›karrieretechnisches‹ Format darstellt, ich glaube, man muss den Zusammenhang von Spezialisierung und Ent-Disziplinierung denken, was widerum nach viel Disziplin verlangt.32 Die musiktheoretische Forschung ist schon immer mit einer theoretischen Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft verbunden gewesen, die in Bezug auf ihr ineinander spielendes Repertoire künstlerischer und wissenschaftlicher Techniken, Bezugsquellen und Improvisationen eine große Experimentierfreude an den Tag gelegt hat.33 Auch institutionell ist sie zwischen künstlerischen, wissenschaftlichen sowie pädagogischen Formaten, Lehr- und Forschungskontexten angesiedelt. Aus dieser eigentümlichen fachlichen Struktur könnte eine Art von ›paradisziplinärer‹ Paradigmatik erwachsen, die die Musiktheorie auf Vorhaben künstlerischer Musikforschung geöffnet hält, ohne auf der anderen Seite den Kontakt zu strenger wissenschaftlich

31 32 33

Vogl 2020. Vogl 2015. Vgl. Schmidgen 2017, 7.

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ausgerichteten Forschungszusammenhängen zu verlieren.34 Eine derartige musiktheoretische Praxis ›neben‹ oder ›bei‹ (griech. παρά) anderen, sie überschreitenden Disziplinen wiese darauf hin, dass das Verhältnis von Kunst, Wissen und Forschung stets durch vielfache, einander ebenso überlagernde wie sich durchkreuzende Asymmetrien bestimmt wird, die sich institutionell niemals vollständig einhegen lassen.

Wissen und Information Im Zentrum von Vogls Analyse in Kapital und Ressentiment stehen, wie Ulrich Bröckling unterstreicht, »ein politisch-ökonomisch-technologisches Akkumulationsregime sowie das damit einhergehende Kontrolldispositiv, die beide ihre expansive Kraft aus der wechselseitigen Verschränkung und Verstärkung von zeitgenössischem Finanzmarktkapitalismus, digitalen Netzwerkarchitekturen und Plattformindustrien beziehen.«35 Vogl schließt in seinen Überlegungen an seine vorangegangenen Bücher Das Gespenst des Kapitals (2010) und Der Souveränitätseffekt (2015) an, deren Thesen er im Hinblick auf die algorithmische Bewirtschaftung von Information und die affektive Ökonomie autoritärer Orientierungen erweitert.36 Vogl zufolge wurde die Expansion der Finanzmärkte nicht zuletzt durch ihre Symbiose mit den digitalen Informationstechnologien ermöglicht. Vogl versucht diese technokratische Dimension der Plattformunternehmen u.a. durch den Begriff des ›Solutionismus‹ zu umreißen, der darauf hinzuweisen sucht, dass Szenarien von Big Data mit einer unternehmerischen Vision einhergehen, alle möglichen Probleme der Menschheit, des Alltags, des Sozialen etc. mit maschinellen Mitteln (das heißt mithilfe von Codes bzw. Algorhitmen) in Problemlösungsstrategien zu überführen, das heißt in lösbare und berechenbare Verfahren zu übersetzen. Man braucht, so Vogl »keine Rechtsordnung, man braucht keine Deliberation, sondern man braucht nur gute Algorithmen und klar formulierte Probleme, dann können wir – und das ist ein Satz, der immer wiederkehrt, von allen Unternehmern aus dem Silicon Valley – dann können wir die großen Probleme der Menschheit lösen,

34 35 36

Vgl. hierzu ausführlich: Sprick 2023. Bröckling 2021. Ebd.

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also technokratisch ganz und gar.«37 Vogl zufolge ist mit dem Solutionismus eine radikale ›Desambiguierung‹ von Wirklichkeit verbunden, die Interpretationsspielräume in Determinismen überführt. Derartige Verschiebungen haben umfassende Auswirkungen auf die Struktur und Vorgehensweise der akademischen Wissensproduktion, die durch eine zunehmende Effiziensorientierung, Linearisierung und Informationsfixierung gerade auch im Rahmen der Digitalisierung an plattformökonomische Maschinerien angeschlossen wird. Verdichtungstechnologien gehören in diesem Zusammenhang zwar zweifelsfrei zum Standardwerkzeug wissenschaftlicher Aussagenproduktion. Sie können jedoch eine eigenständige Recherche nicht ersetzen, die sich stets auf Ab- und Umwege begibt. In diesem Zusammenhang muss sogleich ein Unterschied zwischen dem Begriff der Information und derjenigen des Wissens markiert werden, der in aktuellen Szenarien digitaler Wissensnetzwerke eine besondere Form der Aktualität angenommen hat. Information ist gängigen Definitionen zufolge alles das, was skalierbar und somit auch komprimierbar ist. Man kann beispielsweise ein musiktheoretisches Standardwerk in einem Abstract zusammenfassen. Wissen wiederum ist elementar mit Wegen der Recherche verbunden und das heißt auch: mit der Möglichkeit der Veränderung. Die musiktheoretische Forscher_in verändert sich im Laufe der Recherche selbst, so wie sich der Gegenstand der Recherche zeigt und entzieht.38 Der Vorgang der Recherche und des Wissens ist somit nicht skalierbar, er hat nichts mit den Verwaltungstechnologien einer Informationsgesellschaft zu tun. Information lässt sich zudem nicht mit Wahrheits- oder Sachbezug aufzeichnen. Sie ist vielmehr »Ereignis einer Erwartungsdifferenz, etwas, das einen gewissen Erwartungshorizont irritiert.«39 Wie Vogl zeigt, greifen in der sogenannten Informationsgesellschaft aktuell bestimmte Kommunikationsformen um sich, die ein derartiges Wissen unterminieren und die durch die Plattformökonomie hegemonial zu werden drohen.40 Gemeint sind direkte, gleichsam ›ballistische‹, das heißt ihr Ziel verlässlich ›treffende‹ Informationspraktiken, die mit gewissen Affekten des Ressentiments verbunden sind.41 Wie zu beobachten ist, produzieren derartige Kom-

37 38 39 40 41

Vogl 2022. Vgl. hierzu ausführlich: Lenger 2022. Vogl 2020. Vogl 2021a, 54ff. Vogl 2020.

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munikationsformen permanent gewisse (Selbst-)Gegenwarten, die sie gleichzeitig erhitzen und an anderer Stelle zum Bersten bringen. Der Kapitalismus ist zunehmend im Zeichen der Verwandlung der Welt in Information ontologisch verwurzelt, was von Seiten der Wissenschaft sorgsam beobachtet werden sollte. Die Informationsgesellschaft fordert somit auch von der musiktheoretischen Forschung einen Blick heraus, der die Produktion von Welt unter den Bedingungen ihrer informationskapitalistischen Bewirtschaftung in den Blick nimmt.

Ausblick Die Lektüre von Vogls Studie Kapital und Ressentiment erscheint über weitere Strecken als wenig ermutigend. An vielen Stellen fühlt man sich verleitet anzunehmen, der Kapitalismus habe den Horizont seiner eigenen Zukunft bereits weit hinter sich gelassen.42 Wie Vogl in Rekurs auf Frederic Jameson versichert, lässt sich jedoch »eher das Ende der Welt, als das Ende des Kapitalismus vorstellen«, was durchaus Hoffnung für die Zukunft verspricht.43 Die Netzwerkökonomie ist nur eine Oberfläche von vielen, jedoch eine sehr wirkmächtige. Überhaupt gibt es nicht den Kaptialismus im Wortsinn. Es handelt sich vielmehr um ein heterogenes Gefüge mit gewissen produktiven Zonen und solchen der Unproduktivität. Es gibt konkrete Machtverhältnisse, die mit der Ausprägung ebenso konkreter Widerstände verbunden sind, die sich aufgreifen und womöglich durch eine ›Musiktheorie der Zukunft‹ verstärken lassen. Statt qualitätssichernde Maßnahmen voranzutreiben, die letztlich die Auftrennung der Fächer und Disziplinen stillschweigend forcieren und somit eine auf Arbeitsteilung gründende Ökonomisierung von Wissensbeständen protegiert, könnte beispielsweise alternativ eine neue musiktheoretische Aussagenproduktion angestrebt werden, die beanspruchen würde, konventionelle Diskurseinteilungen in Frage zu stellen und die mit ihnen verbundene Disziplinierung zu unterlaufen.44 Gemeint wäre beispielsweise das Vorhaben, eine fachspezifische, auf Verfahren künstlerischer Musikforschung ausgerichtete musiktheoretische Epistemologie zu betreiben, die gerade diejenigen 42 43 44

Vgl. hierzu unlängst: Schauer 2023. Vogl 2020. Vgl. hierzu ausführlicher: Sprick 2023.

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Konfigurationen eines musikalischen Wissens in den Blick nimmt, die weder in den einzelnen musikalischen (musikpraktischen, künstlerischen) noch musikbezogenen (musikwissenschaftlichen, musikästhetischen) Disziplinen und Wissenschaften aufgehoben sind, sondern vielmehr, wie Joseph Vogl verdeutlicht, als »vorbegrifflich, aber nicht vordiskursiv, verstreut und zusammenhängend zugleich erscheinen« und diverse musikalische Zeichensysteme und Diskurse durchqueren.45 Dieses musikalische Wissen könnte eine Art von ›hybridem Milieu‹ künstlerischer Musikforschung konturieren, in dem diskursive musikalische Gegenstände ebenso Gestalt annehmen wie Subjekte, die über sie reden, und das somit einen Forschungsraum eröffnete, der den Grenzziehungen zwischen Fächern, Disziplinen und Wissenschaften vorausgeordnet wäre. »Wissen«, wie sich mit Vogl vermuten lässt, »wäre hier weder Wissenschaft noch Erkenntnis.« Es provozierte vielmehr die Suche »nach operativen Faktoren und Themen, die auf verschiedenen Territorien wiederkehren, jeweils eine konstitutive Position darin besetzen und doch keine Einheit und keine Synthese des Gegenstands unterstellen.«46 Eine derartige Bewegung der Recherche schlösse Aspekte fachlicher Spezialisierung keineswegs aus, die allerdings mit einer bestimmten Form der Ent-Disziplinierung einhergehen würde, weil sie ausgehend von einer konkreten Problemstellung gezwungen wäre, die an diese Problemstellungen angrenzenden Forschungsdisziplinen parasitär zu durchqueren. Eine Suchbewegung, so viel steht fest, würde nicht linear verlaufen. Sie trüge vielmehr Züge eines ziellosen Vagabundierens, dem die politischen Aspekte musiktheoretischer Disziplin als Fluchtlinien dienten.

45 46

Vogl 2008, 15. Ebd., 16. Eine Bemerkung, die Deleuze einmal mit Blick auf Foucaults Arbeiten gemacht hat, verdeutlicht, was hiermit in etwa gemeint sein könnte: »Das Wesentliche besteht nicht in der Überschreitung der Dualität Wissenschaft-Poesie […]. Es liegt in der Entdeckung und Vermessung jenes unbekannten Landes, in dem eine literarische Fiktion, eine wissenschaftliche Proposition, ein alltäglicher Satz, ein schizophrener Unsinn usw. gleichermaßen Aussagen sind, wenngleich ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder diskursive Äquivalenz. Und dies ist der Punkt, der von den Logikern, den Formalisten und den Interpreten niemals erreicht worden ist. Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen.« (Deleuze 1987, 34)

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Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt Johannes Kreidler

Ende 2012 hielt Georg Friedrich Haas den Vortrag »Grundlagen für eine neue Musiktheorie«. Gleich im dritten Absatz des Skripts steht da der zentrale, schmerzliche Satz: »Ich muss gestehen, ich habe in den letzten 25 Jahren keine einzige brauchbare Anregung aus den Fachbereichen der Musiktheorie, der Musikpsychologie oder der Musikästhetik bekommen.«1 Bei einem Komponisten seines Ranges muss dieser Satz ernst genommen werden. Haas gibt anschließend diverse Beispiele dafür, was er in der Musiktheorie vermisst. Desiderate wären zum Beispiel eine Theorie über die Oktavlage eines Tons, oder neue Klangkategorien jenseits von Konsonanz und Dissonanz, überhaupt solle man sich viel mehr den Klängen statt Noten widmen. Kurzum: Er vermisst die musiktheoretische Hinwendung zu einzelnen Phänomenen. Denn tatsächlich, was macht die Musiktheorie der Gegenwartsmusik stattdessen? Sie betrachtet nicht Phänomene, sondern Werke. Typisch für die Fachzeitschriften ist das Portrait von Personen und deren Werken. Und wenn sie sich thematisch einen Gesichtspunkt pro Heft vornehmen, läuft es im Weiteren doch auf die Betrachtung einzelner Werke oder Komponisten-Positionen hinaus. Die Musiktheorie bildet bei der Gegenwartsmusik eigentlich gar keine Theorie, sie analysiert nur. Mit Marx möchte ich sagen: Es kommt aber darauf an, Theorie zu bilden! Von der Analyse einzelner Werke ist es offenbar noch ein langer Weg zur akkumulierenden Vernetzung von Beobachtungen anhand mehrerer Werke, gar bis hin zur Isolierung eines Phänomens (wie etwa das der Oktavlage). Bis daraus dann eine veritable »Theorie« entsteht, oder ein Begriff, der lexikalisch wird, sind Jahrzehnte vergangen. Man verfolge nur jene Schlagworte

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Haas 2013.

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der Avantgarde: Struktur, Material. Erst seit Kurzem, im Lexikon Neue Musik (2016),2 gibt es Artikel zu den Lemmata ›Struktur‹ und ›Material‹ in der Musik – mehr als 60 Jahre, nachdem der Strukturbegriff sich im Diskurs einnistete (und noch viel länger, seit Hanslick von »Geist in geistfähigem Material« sprach). Es mag erst einmal in der Natur der Sache liegen, dass ein neuer Begriff als eher vage schillernder, mitunter polemischer Treibsatz auftaucht und dabei Beliebtheit erlangt – in unserem Fall als Schlagwort für das moderne, technizistische, anti-traditionelle Denken dieser Zeit; man komponierte nicht mehr Melodien, sondern »Strukturen« – was auch immer das ist. In den Stockhausen-Schriften seit den 1950er Jahren trifft man den Terminus an in der Gestalt von »Klangstruktur«,3 »Materialstruktur«,4 »Werkstruktur«,5 »Schwingungsstruktur«,6 »Tonhöhenstruktur«,7 »Gruppenstruktur«,8 »Massenstruktur«,9 »Phasenstruktur«,10 »Formantstruktur«,11 »Dauernstruktur«,12 »Ablaufstruktur«,13 »Impulsstruktur«,14 »Lautstruktur«,15 »Elementstruktur«,16 »Gesamtstruktur«,17 und die Inflation des Ausdrucks trieb im Folgenden noch unzählige Blüten. Da war kein strenger Theoretiker am Werk. Wie oben erwähnt, dauerte es mit der Publikation des Lexikon Neue Musik (2016) dann noch 60 Jahre bis zu einer allgemeinen Definition. (Und damit ist die Konfusion nicht beendet, weiterhin wird allenthalben von ›Struktur‹ in der Musik gesprochen, ohne dass so recht klar wäre, was damit gemeint sei, jedenfalls bei weitem nicht so klar wie die Bestimmung von ›Melodie‹. Es bleibt ein Passepartout-Begriff, denn zu lange schon kursiert das Wort ohne

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Hiekel/Utz (Hg.) 2016. Stockhausen 1960b, 39. Stockhausen 1960a, 37. Ebd. Ebd., 35. Stockhausen 1960d, 103. Stockhausen 1960c, 70. Ebd., 67. Stockhausen 1960d, 109. Ebd., 112. Ebd. Ebd.135. Stockhausen 1960e, 220. Stockhausen, 1960g, 157. Stockhausen 1960f, 52. Ebd., 57.

Johannes Kreidler: Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt

eine handfeste Theorie dahinter. Es ist mehr als schade, dass die Musiktheorie so spät erst ihres Amtes waltete – ein kaum noch reparables Versäumnis.) Noch in der MGG2 bzw. MGG online, wie auch im New Grove, stehen zu den beiden Termini Struktur und Material keine Einträge, obwohl sie seit so vielen Jahrzehnten intensiv im Gebrauch sind. Die Eule der Minerva setzt (wenn überhaupt) ihren Flug erst zur Abenddämmerung an, wie es bekanntlich bei Hegel heißt; der Mensch der Theorie lässt den Tag erst zu Ende gehen, ehe er sein Geschäft aufnimmt. So kommt es freilich nicht dazu, dass von der Theorie einmal ein frischer Impuls gleich am Morgen erscheint. Dass die Musiktheorie die Initiative ergreifen könnte, dass sie im ›Material‹ mit ihren Mitteln forscht, ist heute kaum denkbar. Das scheint die Zuständigkeit der Komponist:innen zu sein, doch die sind kaum auf Theorien aus, sondern weben ihre Funde in ihre Werke ein, d.h., ihnen ist das vielmehr eine expressive Tätigkeit und Dringlichkeit, nicht aber isolierter Forschungsgegenstand. Kompositorische Arbeit schließt, schon im Wortsinn, sogleich auch die Fragen nach Form, Ausdruck, Instrumentation und was für ein Titel das Stück haben soll ein, beziehungsweise entsteht eine neue Materialauffassung eben in der Arbeit an und mit all diesen Gesichtspunkten und als Resultat in einer ästhetischen Form. Erweiterungen und Neuordnungen des Materials entspringen dem Ausdrucksbedürfnis und der Formungskunst, viel weniger dem theoretischen Geist. Ein Beethoven, verfolgt man seine Skizzen, war nicht auf Systematik aus, sondern darauf, seiner dynamischen Einfälle überhaupt Herr zu werden. Da kämpfte einer wie verrückt mit seinem Stoff. Und ein Bild, sagt Gerhard Richter lapidar, ist fertig, »wenn es gut aussieht«.18 Dass in jüngerer Zeit das Feld der »künstlerischen Forschung« aufgetan ist, hat diesen Umstand in meinen Augen (noch) nicht wesentlich geändert. Andererseits verfügen wir, dank Adorno, über die Kategorie des »musikalischen Materials«, also eine Kategorie abgelöst vom Werk – als solche übrigens, das ging in der Kritik an der damit verbundenen Geschichtsphilosophie geflissentlich unter, eine große musiktheoretische Leistung. Doch um Betrachtungen des musikalischen Materials steht es, wie eingangs beschrieben, nicht mehr gut: Auch wenn die Gegenwart von einer unüberblickbaren Fülle und Vielfältigkeit ist, stimme ich mit Haas ein gutes Stück weit überein, wenn ich meine, für einen Komponisten heute wenig Anregendes aus der Musiktheorie zu finden – abgesehen von manchen exzellenten Analysen.

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Belz 2012, Minute 56.

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Dass dem so ist, hat indes nachvollziehbare Ursachen. Eine Musiktheorie, die zukünftiger Musik einen Weg weist, Anregung gibt, einen Impuls setzt oder allgemein Inspiration einflößt, stellte an den Theoretiker/die Theoretikerin äußerst hohe Anforderungen an Wissen, Kreativität und auch Mut. Wissen, weil sehr viele Werke gut gekannt werden müssen, aus denen sich allgemeine Phänomene abstrahieren ließen. Doch wer vermag die Gegenwartsmusik noch zu überblicken, die längst auf unzähligen Schauplätzen stattfindet und nicht ausschließlich in Donaueschingen und Darmstadt kanonisiert wird? Erschwerend kommt heute hinzu, dass die heutige Musik immer expansiver wird, ein erweiterter oder gar aufgelöster Musikbegriff waltet, der dann auch noch die Performance, die Videogestaltung, den konzeptuellen Hintergrund etc. zum Gegenstand des Ausdrucks macht (die oft nicht mehr in Partituren – immer noch das Objekt der Begierde der Musiktheorie – überhaupt adäquat festgehalten werden können). Aus Musik wird Medienkunst, und so müsste aus Musiktheorie Medientheorie werden. Dann: Kreativität – es bräuchte ein stärkeres Maß an Imagination, denn es würde sich ja um nichts weniger handeln als um Musiktheorie für eine Musik, die es noch gar nicht gibt. Mindestens bräuchte es Aufmerksamkeit dafür, dass sich ein womöglich relevantes Phänomen beginnt, herauszukristallisieren. Das heißt auch, dass es einem Mut abverlangte, denn das Unterfangen wäre logischerweise spekulativ – wer weiß, ob überhaupt eine neue Musik dank dieser Anregungen hernach entsteht. Claus-Steffen Mahnkopf versuchte jahrelang, den Begriff einer »Zweiten Moderne« für die Musik zu lancieren,19 aber es wollte partout niemand darauf einsteigen. Inzwischen scheint er aufgegeben zu haben. Überhaupt hat in den letzten Jahrzehnten allzu offensive Zukunftsgewandtheit, haben »Avantgarde« und Fortschrittsdenken ihren positiven Ruf massiv eingebüßt. Aber es bleibt zu hoffen, dass der Zukunftspessimismus der Vergangenheit angehört und die Punk-Parole »No future« in den 1980er Jahren dessen Talsohle war. Weiter wäre auch die Frage, ob überhaupt ein ernsthaftes Interesse seitens der Komposition für Musiktheorie besteht. Haas konnte ja offenbar auch ohne derlei Anregungen künstlerisch reüssieren. Sind seine Forderungen nicht nachgerade wohlfeil? Praxis als Umsetzung von Theorie scheint in der Kunst nur bedingt ein produktiver und realistischer Weg zu sein, schnell mögen sich da Komponist:innen nur noch wie die Exekutoren oder Beispielgeber für die

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Mahnkopf 2007, 160.

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Theorie vorkommen, was wohl eher wider das Verständnis und Selbstverständnis von Komposition läuft. Womöglich hätte ein ›Mehr‹ an Theorie vor dem Werk das Werk gar verhindert. (Wobei auch das ein legitimes, ja wünschenswertes Ziel von Theorie wäre: Unnötiges zu verhindern.) Zudem stehen verallgemeinernde Verdinglichungen ohnehin schnell unter Normativitätsverdacht. Wenn ein Theoretiker Theorien über das musikalische Material aufstellt, allgemeinere Aussagen jenseits des einzelnen Werks oder Œuvres anstellt, wird sofort jemand rufen, man würde hier unzulässig generalisieren. Wir lebten schließlich im postmodernen Individualismus. Das nahm seinen Anfang just mit der Kritik an Adornos Materialbegriff selbst, der bekanntlich ein überaus verbindliches Geschichtsverständnis impliziert. Nach Adornos Ansicht könnten nie alle Klänge oder Klangverbindungen zur selben Zeit musikalisches Material sein, die Geschichte erlaube manches und verbiete anderes. So dachte man vor dem postmodernen »Anything goes« – mit diesem war dann zwar alles möglich, aber die normative Theorie exkludiert. Ich möchte eine Parallele ziehen, oder vielleicht ist es nicht nur eine Analogie, sondern letztlich ein Zusammenhang. Es gibt Philosophen, die versuchen, die Welt zu verstehen, sie zu interpretieren, und es gibt solche, die sie gestalten wollen, und damit meine ich jetzt nicht den naheliegenden Verweis auf Marx’ Forcierung zur Politik (»Die Philosophen haben die Welt immer nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, Marx zu zitieren«20 ), sondern Philosophen, die konstruktivistisch denken, die Denktechniken oder Denkstile kreieren. Ein Kant versuchte die Welt zu verstehen; exemplarisch dafür steht, dass er gerade ihre Unverständlichkeit feststellte: Das Ding an sich sei vom menschlichen Bewusstsein nicht zu erlangen. Hegel dagegen, anders als sein Eulenvergleich es übrigens darstellt, war die kantianische Bescheidenheit der Einsicht in die Limitierung unseres Wahrnehmens und Denkens zu genügsam und brachte stattdessen eine emphatische Subjektivität ins Spiel – und diese Subjektivität arbeitet mit der Methode der Dialektik. Hegels Dialektik ist die wohl fulminanteste, weltveränderndste Denktechnik, die bis heute erdacht wurde. »Die denkende Vernunft aber spitzt sozusagen den abgestumpften Unterschied des Verschiedenen, die bloße Mannigfaltigkeit der Vorstellung, zum wesentlichen Unterschiede, zum Gegensatze zu.«21 Das ist nicht deskriptiv, das ist präskriptiv. 20 21

Witz unbekannter Provenienz, von Andrea Fraser in einem Vortrag erzählt. Hegel 1813, 81.

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Weitere Denktechniken wären beispielsweise: Platons Ideenlehre und die dialogische Genese, der aphoristisch-psychologische Stil Nietzsches (der von sich sagte, er erdenke eine Philosophie für das 21. Jahrhundert), das extrem eigenwillige Vokabular Heideggers, Deleuzes Differenzdenken, Derridas Methode der Dekonstruktion. Doch wohl kaum eine Denktechnik hat die Welt so verändert wie die hegelsche Dialektik – auch deswegen, weil es überhaupt nur selten vorkommt, dass Philosophen Denktechniken entwickeln. (Fast so selten, wie Musiktheoretiker:innen eine zukunftsträchtige Musiktheorie entwerfen.) Adorno hatte viele große Ideen, aber seine Denktechnik selbst bewegte sich in vorgeebneten Bahnen (nämlich der hegelschen und marxistischen Dialektik plus Freuds Lehre; ähnlich heute Slavoj Žižek, der ebenfalls unentwegt die Gegenwart mit Hegel, Marx, Freud und Lacan denkt). Adorno hatte zwar einen unverkennbar eigenen Schreibstil, aber eine wirklich eigene Denkweise nicht erschaffen. Wie in der Musiktheorie steht auch in der Philosophie größerenteils das bloße Erkennen des Gegebenen im Fokus. Bei der Liebe zur Wahrheit nimmt die Philosophie meist den passiven Part ein, um nicht zu sagen: den masochistischen. Immerhin gibt es aber in der Philosophie auch Fälle konstruktivistischen (bis hin zu aktivistischen) Denkens, wie zuvor genannt, so, wie es in der Musiktheorie etwa Rameaus Ansätze einer Funktionstheorie schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab, und er damit das Paradigma der Harmonielehre bis zum Ende des 19. Jahrhunderts voraussah. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begann Busoni über Mikrointervallik und elektronische Musik nachzudenken, Schönberg initiierte mit der Zwölftontechnik über sich hinaus den seriellen Parametrismus, Stockhausen verfasste zeitgleich bahnbrechende Werke und wegweisende Texte, die Bohlen-Pierce-Skala oder das psychoakustische Phänomen der Sheppard-RissetSchleife (die übrigens Komponisten wie Haas und Spahlinger nachweislich inspirierte) – das sind solche Denkweisen, theoretisch vorgestellte Ansätze, Laboruntersuchungen, die nachhaltig das Musikschaffen beeinflussten. Doch diese Ansätze bleiben die Ausnahme. Man darf sie nicht erwarten, sollte nicht mit ihnen rechnen. Man wird ja sowieso erst retrospektiv gesehen haben, dass eine Theorie zukunftsweisend »geworden sein wird«. Ich habe es selbst versucht und den einen oder anderen Ansatz eingebracht, insbesondere meine drei Texte, die ich für Musik & Ästhetik geschrieben

Johannes Kreidler: Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt

habe: »Medien der Komposition«,22 »Zum ›Materialstand‹ der Gegenwartsmusik«23 und »Der aufgelöste Musikbegriff«.24 Wenn ich mir die Unbescheidenheit gestatten darf und als Beispiel die von mir 2008 vorgestellte, genuin musiktheoretische Denktechnik der MediumForm-Unterscheidung im Ansatz darlege: Es handelt sich hierbei um ein von Aristoteles und Luhmann entlehntes Modell, das ich auf die Musik übertragen habe und von da wiederum in Richtung »Medienkunst« verweist. Demnach gibt es nicht hier das Material und dort dessen Formung zur üblichen »Form« eines Werks, sondern auf allen möglichen Ebenen findet ein Formungsvorgang statt: Aus dem Medium Luft werden Töne ge’form’t, aus den Einzeltönen werden Modi gebildet, aus einem Modus wird eine Melodie geformt, aus dem Medium der Melodien wird ein polyphones Geflecht (etwa eine Fuge) geformt, aus dem Medium der Fugen wird der ganze Zyklus »Die Kunst der Fuge« geformt oder als gesampelter Mönchschor zum Pop-Stück geremixt. Sehr gut lässt sich diese Sicht gerade auf Samplingtechniken anwenden, beispielsweise in einem Collagewerk, wo man zwischen der Formung der einzelnen Melodie und dem Zitieren aus dem historischen Werk der »Kunst der Fuge« wechseln kann; dieser Spielraum ist seinerseits wieder Medium-fürFormen. Mit Luhmann: Die Differenz von Medium und Form wird ihrerseits medial. Mit dieser Differenzierung wollte ich eine neue musikalisch-kompositorische (aber auch rezeptorische) Denktechnik einführen, da mir die Großunterscheidung zwischen »Material« und »Form« im Sinne der traditionellen Formenlehre als zu grob und unzeitgemäß erschien. Der Text hat seit Erscheinen einige Resonanz erfahren und ist mittlerweile auch ins Englische übersetzt worden. Vielleicht ist diese Theorie ein Tool, mit dem Komponisten arbeiten können. Für mich ist die Theorie nicht nur bei der eigenen kompositorischen Arbeit, sondern auch in meinem Kompositionsunterricht sehr tauglich. Aber ich bin selbst Komponist; die Personalunion von Komponist und Theoretiker ist mittlerweile immer seltener anzutreffen, und das zu Recht. Arbeitsteilung und Spezialisierung schreiten weiter voran. (Auch ich bin dabei, mich vom Theoretiker in mir zu verabschieden.) Treten Künstler:innen und Theoretiker:innen in Personalunion auf, so steht der Künstler fast automatisch als Vertreter seiner eigenen Theorien da 22 23 24

Kreidler 2008. Kreidler 2009. Kreidler 2016.

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und relativiert sich damit. Man ist nur noch Spezialist seiner selbst. Wenn aber Musiktheorie sich als eigenständige Disziplin versteht – und das tut sie, gerade in Abgrenzung von Komposition, immer mehr, dann wachsen auch die Aufgaben. Nieder schlägt sich das beispielsweise im Promotionsrecht und in der Tatsache, dass immer mehr Musiktheoretiker keine Komponisten sind, sondern nichts als Musiktheoretiker – dann wäre damit auch der Wunsch und die Anforderung, ja der Anspruch verbunden, dass sie in der Lage ist, zur Gegenwart, zu Phänomenen im heutigen Pool des Klingenden eigenständige Theorien beizutragen, aus dieser Grundlage heraus Initiativen zu stiften. Die Musik eben: zu denken. Doch will ich nicht gänzlich in das Lamento Haas’ einstimmen. Zumindest aus der Musikästhetik habe ich in den vergangenen Jahren durchaus Anregungen bekommen, ich nenne Harry Lehmanns Theorie der gehaltsästhetischen Wende,25 um 2006 formuliert, auch seine Thesen zur digitalen Revolution der Musik26 und zu den ästhetischen Eigenwerten.27 Seth Kim-Cohens Buch In the blink of an ear. Toward a non-cochlear sonic art 28 antizipierte 2008 den konzeptuellen Turn, der in der Neuen Musik seitdem tatsächlich geschehen ist; auch Peter Osbornes Theorie der konzeptuellen Medienkunst,29 in welcher alle einstigen Kunstsparten verschmelzen, halte ich für epochal. Die Philosophen haben immer noch mehr Mut, ja Übermut. Die Musiktheorie könnte sich von der angrenzenden Zunft derzeit etwas abschauen. Das zeigt aber auch, dass die Zünfte in Zukunft immer mehr ineinandergreifen, just im Bereich Medienkunst und Medientheorie. (Und mein Verfahren ist schon lange, dass ich mir gerade Theorien aus anderen Kunstsparten zur Anregung heranziehe und Ideen in die Musik übertrage – ich nenne z.B. Erika Fischer-Lichtes Buch Ästhetik des Performativen, das die Möglichkeiten von Bühnendarstellung abseits des Schauspielerischen so ungemein sichtbar gemacht hat; das lässt sich auch in der Instrumentalpraxis erschließen.30 ) Es gibt aber noch andere Arten von Gründen für die oben konstatierte Misslichkeit: Es wäre schön, wenn den Fachkräften selbstverständlich Zeit für selbständiges Forschen und das Verfassen von Texten eingeräumt würde. Eine

25 26 27 28 29 30

Lehmann 2006. Lehmann 2012. Lehmann 2016. Kim-Cohen 2008. Osborne 2013. Fischer-Lichte 2004.

Johannes Kreidler: Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt

Theorie ist in der Regel weit mehr als ein dreizehnseitiger Aufsatz. Bei vielen Musiktheoretiker:innen und Musikwissenschaftler:innen ist die Dissertation oder Habilitation das letzte Buch, das sie geschrieben haben. Danach kommen sie über den einzelnen 13-Seiten-Text bestenfalls noch in Form von Herausgeberschaften hinaus. Das führt wenn überhaupt zu nur noch kleinteiligen Forschungsarbeiten oder gar zum völligen Erliegen der Publikationstätigkeit. Man kann eben auf wenigen Seiten ein einzelnes Werk analysieren, aber keine größere Theorie entspinnen. Zur weiteren Emanzipation der Musiktheorie muss auch gehören, dass die notwendige Forschungsarbeit seitens der Institutionen ernstgenommen wird. An der Stelle möchte ich an Sie, liebe Musiktheoretiker:innen, appellieren: Machen Sie Ihren Job, entwerfen Sie Musik-Theorien, auch für die Zukunft. Entwickeln Sie musikalische Denktechniken, prägen Sie Begriffe, isolieren Sie Phänomene und suchen nach Systematiken, und entwickeln Sie auch Stile des Musikdenkens, des Beschreibens von Phänomenen – das können auch grafische sein, das kann auch Software sein. Stellen Sie »Tools« her! Stiften Sie bereits Ihre Studierenden nicht nur zu Analysen, sondern zur Theorie-Produktion an, zur Arbeit an Begriffen (zuerst und zuhöchst: am Musikbegriff selber). Habe den Mut, neues terminologisches Vokabular zu schmieden, wenn nicht gar Zusammenhänge, Systeme oder einen sprachlichen Stil, der etwas sichtbar bzw. hörbar macht, mit dem Musik ergründet und überhaupt erfunden werden kann. Musiktheorie kann auch die Initiative ergreifen. Sie kann die Theorie an der Entwicklung und an dem Verständnis von »Material« oder musikalischen Medien mitarbeiten, statt nur bereits fertige Werke wieder auseinanderzunehmen. Musiktheorie kann so etwas wie musikalische Denktechniken entwerfen. Musiktheorie kann kreativ, originell, visionär sein, sie kann Möglichkeiten erarbeiten, Potenziale aufschließen, eine wegweisende Idee einbringen. Sie könnte mehr Sportsgeist an den Tag legen. Sie könnte neue Begriffe in den Raum stellen. Sie könnte die innere Schweinehundeule der Minerva aufscheuchen. Sie könnte dafür sorgen, dass im Jahre 2047 ein Komponist wie Georg Friedrich Haas nicht mehr sagen wird, er habe in den letzten 25 Jahren von der Musiktheorie keine einzige brauchbare Anregung bekommen.

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— Horizonte

Literaturverzeichnis Belz, Corinna (2012), Gerhard Richter Painting [Filmdokumentation], Berlin: zero one film. Fischer-Lichte, Erika (2004), Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haas, Georg Friedrich (2013), »Grundlagen für eine neue Musiktheorie«, Dissonance 117, 15–21. Hegel, Georg W. F. (1813), Wissenschaft der Logik Bd. 1:2, Nürnberg: Schrag. Hiekel, Jörn Peter und Christian Utz (Hg.) (2016), Lexikon Neue Musik, Wiesbaden: Bärenreiter. Kim-Cohen, Seth (2008), In the Blink of an Ear. Toward a non-cochlear sonic art, Chicago: The Continuum International Publishing Group. Kreidler, Johannes (2008), »Medien der Komposition«, Musik & Ästhetik 48, 5–21. — (2009), »Zum ›Materialstand‹ der Gegenwartsmusik«, Musik & Ästhetik 52, 24–37. — (2016), »Der aufgelöste Musikbegriff«, Musik & Ästhetik 80, 85–96. Lehmann, Harry (2006), »Avantgarde heute«, Musik & Ästhetik 38, 5–41. — (2012), Die digitale Revolution der Musik, Mainz: Schott Music. — (2016), Gehaltsästhetik, Paderborn: Wilhelm Fink. Mahnkopf, Claus-Steffen (2007), »Thesen zur Zweiten Moderne«, in: ders., Die Humanität der Musik, Hofheim: Wolke, 160–169. Osborne, Peter (2013), Anywhere or not at all, London: Verso 2013. Stockhausen, Karlheinz (1960a), »Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung«, in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 32–38. — (1960b), »Arbeitsbericht 1953: Die Entstehung der Elektronischen Musik«, in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 39–44. — (1960c), »Gruppenkomposition: ›Klavierstück I‹ (Anleitung zum Hören)« in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 63–74.

Johannes Kreidler: Über Musiktheorie, zu der es noch gar keine Musik gibt

— (1960d), »… wie die Zeit vergeht …« in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 99–139. — (1960e), »Die Einheit der musikalischen Zeit« in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 211–221. — (1960f), »Gesang der Jünglinge«, in: ders., Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer, Aktuelles zur Theorie des Komponierens, Bd. 2: Aufsätze 1952–1962 zur musikalischen Praxis, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 50–68. — (1960g), »Musik und Sprache I/II (Über Boulez und Nono)«, in: ders., Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer, Aktuelles zur Theorie des Komponierens, Bd. 2: Aufsätze 1952–1962 zur musikalischen Praxis, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg, 149–166.

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Fluchtpunkte —

Chemische Musik Johann Georg Kastners Entwurf einer Zukunft der Musiktheorie Alexander Rehding

Heutzutage stellt das Pyrophon, auch Flammenorgel genannt, wenig mehr dar als ein Kuriosum, das sich verschiedentlich noch in Museen auffinden lässt. Es wurde der Öffentlichkeit von dem Elsässer Musiker Frédéric Kastner (1852–1882) vorgestellt, der 1873 auch ein Patent für seine Erfindung erwarb. Das Pyrophon erzeugte Töne, indem sich kleine Mengen Wasserstoff in verschieden langen Glasröhren entzündeten. Die erhitzte Luft setzte stehende Wellen in Bewegung, die als Töne hörbar wurden, welche durch eine kleine Orgeltastatur gesteuert werden konnten. Der Klang des Instruments wurde gerne mit der menschlichen Stimme oder auch mit der Äolsharfe verglichen.1 Bedauerlicherweise ging Kastners Instrument bei einer frühen Vorstellung in Flammen auf und konnte sich auf Grund dieses Konstruktionsnachteils langfristig nicht durchsetzen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bot allerdings ein eben solches Instrument wie das Pyrophon den Anlass, die Frage nach der Zukunft der Musiktheorie erneut zu stellen, indem die Klangwelt neu erfundener Instrumente in den Fokus gerät. Klangerzeuger solcher Art standen im Zentrum der Musiktheorie von Johann-Georg Kastner (1810–1867). Heutzutage ist dieser Musikgelehrte heutzutage vollkommen vergessen, was bedauerlich ist, zeichnete er sich doch nicht nur dadurch aus, der Vater des Instrumentenerfinders Frédéric Kastners, sondern auch Kompositionsschüler von Antoine Reicha (1770–1836) in Paris, Freund von Hector Berlioz (1803–1869), sowie Autor zweier wichtiger Instrumentationstraktate zu sein. Kastner hatte 1837 die aus reicher Familie stammende Léonie Boursault geheiratet, so dass er

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Dunant 1875, 445.

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sich fortan ungestört seinen musikalischen Forschungsinteressen widmen konnte. In dieser beneidenswerten Lage schrieb und komponierte er ein halbes Dutzend livres-partitions zu verschiedenen musikkulturellen Themen, die von der Militärmusik über Totentänze zu den Sirenen, von der städtischen Klanglandschaft von Paris bis hin zur Äolsharfe reichten. Die livre-partition, also Buch-Partitur, war eine literarische Gattung, die Kastner selbst erfunden hatte und in der sich neben einem gelehrten Traktat auch je ein von ihm eigens komponiertes Musikwerk zum gleichen Thema fand.2 Unter diesen theoretisch-praktischen Werken sticht seine mit La musique cosmique ou la Harpe d’Éole (1856) betitelte Arbeit zur Äolsharfe heraus, da ihr Inhalt auf eine alle Bereiche umfassende Musiktheorie abzielt, die über »die grundlegenden Wesensarten des musikalischen Klanges reflektiert«3 und schließlich darüber hinaus eine vollkommen neuartige Musik fordert. Diese neue Art der Musik baut auf eben solchen neuen Instrumenten wie dem Pyrophon auf. Kastners Schreibstil ist ausschweifend, er bringt eine Vielzahl an Beispielen vor und springt gedanklich hin und her. Er hätte einen guten Lektor gebrauchen können. Die Stellen, auf die sich dieser Text bezieht, umfassen wenig mehr als ein paar Seiten des ausufernden Werks. Um die dortige Beschreibung seiner Vision von der »chemischen Musik« der Zukunft nachvollziehen zu können, bedarf es oftmals einiger Detektivarbeit.4 Dennoch handelt es sich bei diesen Passagen um den Kern des Traktats, der die wesentlichen Gesichtspunkte der Musiktheorie der Zukunft, die Kastner vorschwebt, enthält.

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In seiner unbetitelten Rezension zur dreibändigen von seiner Witwe in Auftrag gegebenen und von Hermann Ludwig verfassten Biographie Kastners berichtet Spitta 1888, dass keine von Kastners extravagant orchestrierten Kompositionen, die den musikalischen Teil der livres-partitions ausmachten, je aufgeführt wurden. Auch in dem seitdem vergangenen Jahrhundert scheint sich nicht viel daran geändert zu haben, sieht man einmal ab von einigen kurzen Auszügen, die in vereinfachten Arrangements zirkulieren. Zu Kastners Bedeutung – insbesondere im Hinblick auf die »Ecomusicology« – siehe auch Rehding 2011 und 2021. Kastner 1856, 7. [»méditer sur les charactères essentielles du son musical«] Dass die chemische Musik allerdings in seinem Denken eine zentrale Stelle einnimmt, die er auch gleichzeitig mit den fantastischen Sphärenklängen in Verbindung bringt, unterstreicht er bereits eingangs. Ebd., 7. [»L’expression d’indéfinissable mélancolie attachée aux harmonies cosmiques semble le trait distinctif de tous les sons produits sans le concours immédiat de l’homme. Elle caractérise, par exemple, les sons de l’écho, les sons dits harmoniques, et beaucoup d’autres qui rentrent dans le domaine de l’espèce de musique définie plus loin sous le nom de musique chimique et sympathique.«]

Alexander Rehding: Chemische Musik

Wenn Kastner also den ungewöhnlichen Begriff der »chemischen Musik«5 ins Spiel bringt, geschieht dies nicht im Hinblick auf eine bestimmte Entwicklung im Rahmen der chemischen Forschung seiner Zeit, sondern zunächst einmal in einer Grundeinstellung des Staunens über das Verborgene und noch Unverstandene in der Natur. So bezieht sich Kastner auf die Chemie vor allem in Hinblick auf neue Musikinstrumente und Klanggeneratoren, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfunden wurden.6 Neben dem Pyrophon war Kastner auch an anderen neuartigen Klanggeneratoren wie der Glasharmonika interessiert, dem elektrischen Thermophon, aber auch solchen klingenden Phänomenen wie singenden Telegraphendrähten oder einer von Gottfried Doppler entwickelten überdimensionierten Teekesselpfeife für Dampfmaschinen.7 Alle diese Klanggeneratoren werden der »chemischen Musik« zugeschrieben – der einzige gemeinsame Nenner scheint darin zu bestehen, dass sie neuartige Mittel wie Dampfdruck, Elektrizität und Gasflammen zur Tonentwicklung benutzen und damit die Organologie als eine

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Kastners Kategorien sind nicht eindeutig definiert. Während er eingangs (siehe Fn. 4) musique chimique et sympathique einander gleichsetzt, schreibt er später über die musique physique et chimique, die er von der musique sympathique et autophone abgrenzt (Ebd., 89). Ich interpretiere ihn dergestalt, dass im Instrumentenbau die physikalischen Prinzipien in jüngster Zeit von modernen, chemischen Prinzipien unterstützt wurden, die sich in solchen Erfindungen wie dem Pyrophon und anderen mit neuen Medien experimentierenden Musikinstrumenten niederschlugen. Die Kategorie der musique sympathique et autophone beschreibt vor allem akustische und psychoakustische Phänomene, die über die etablierten Grundlagen der musikalischen Akustik hinausgehen. [»Les phénomènes relatifs à la propagation du son nous amènent à un ordre de questions qu’il n’est pas sans intérêt d’examiner, nous voulons parler de ce qu’on a appelé musique sympathique, musique autophone, et de divers instruments dont le caractère mystérieux s’explique par une application ingénieuse de certaines lois peu connues de l’acoustique.« (Ebd., 113)]. Wie Kastner später anmerkt, geht die musique sympathique auf das siebzehnte Jahrhundert zurück; die Kategorien sind also nicht in einem streng chronologischen Rahmen zu verstehen und können sich eben als musique chimique et sympathique überkreuzen. Aufmerksame Leser werden festgestellt haben, dass das Pyrophon von Frédéric noch gar nicht erfunden worden war, als Kastner 1856 seine Ausführungen zur »chemischen Musik« machte. Er bezieht sich hier im Text auf Vorläufer dieser Erfindung von Adolphe Sax sowie einem gewissen »M[onsieur] Welsh aus London«, den ich nicht näher identifizieren konnte. (Ebd., 98–101) Man darf wohl davon ausgehen, dass Frédéric wichtige Impulse zu seiner späteren Erfindung aus den Arbeiten seines Vaters erhielt. Ebd., 101, 103, sowie 92.

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Art chemisches Experiment auffassen, dessen Resultate zunächst einmal noch vollkommen offen bleiben.8 In diesem Kontext steht auch das Instrument, dem Kastners Hauptaugenmerk gilt: die Äolsharfe. Zu Kastners Zeiten erfreute sich dieses rätselhafte Instrument großer Beliebtheit, und wurde immer wieder vor allem auch von romantischen Dichtern beschworen. Denn das Instrument hatte eine Besonderheit: Es handelt sich bei der Äolsharfe nicht um eine gewöhnliche Harfe, die von Menschenhand gezupft wird, sondern um ein Saiteninstrument, das vom Wind –Aiolos – in Bewegung versetzt wird. In den meisten Fällen ist die Äolsharfe kein Instrument im herkömmlichen Sinne, sondern eine zu zwei Seiten hin offene Kammer bzw. ein hölzerner Rahmen, durch den Wind geleitet wird. Der Wind umstreicht die drei bis zwölf Saiten, die zumeist gleich lang und gleich gestimmt sind, und versetzt sie in Schwingungen. Dass die Klänge, die dabei entstehen, mit dem gewöhnlichen Harfenton gar nichts gemein haben, sondern eher einem ätherischen Summen – einem mehrstimmigen Brummen in sich stets wandelnder Tonhöhe und Lautstärke – ähneln, verstärkt den geisterhaften Charakter dieses Instruments. Seit Athanasius Kircher (1602–1680), dem jesuitischen Universalgenie, versuchten Gelehrte, das Geheimnis der Äolsharfe zu lüften.9 Der irische Mathematiker Matthew Young (1750–1800) lieferte 1784 eine alternative Theorie, die eifrig von den Romantikern rezipiert wurde.10 1830 schließlich unterbreitete ein junger Münchner Physiker namens Carl Emil Pellisov (1803–1890), der eigentlich Schafhäutl hieß, einen weiteren Erklärungsversuch, der auf Longitudinalwellen aufbaute und an dem Kastner sich sehr interessiert zeigte.11 Wir brauchen uns mit den Details hier nicht weiter auseinanderzusetzen, zumal wir inzwischen wissen, dass diese Theorien falsch waren.12 Eine wissenschaft-

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Ebd., 101. Kastner bezieht sich hier auf den anonym publizierten Artikel aus dem Morgenblatt für gebildete Leser (Kastner 1856, 115), in dem argumentiert wird, dass bestimmte musikalische Vibrationen bleibende (also nicht nur vorübergehende) Reaktionen auf andere Körper ausüben können und spekuliert, dass diese Körper gewisse materielle und chemische Übereinstimmungen aufweisen müsste. Das Schlagwort von der Chemie als Leitwissenschaft steht in diesen fantasievollen Ausführungen an zentraler Stelle (Anonymus 1845). Kircher 1650. Young 1784. Pellisov 1830. Eine wissenschaftshistorische Aufarbeitung dieser Theorien findet sich bei Hankins/ Silverman 1995, 86-112.

Alexander Rehding: Chemische Musik

liche Erklärung, die heutzutage allgemein akzeptiert wird und die auf Kármánsche Wirbelstraßen zurückgeht, wurde erst 1915 von Lord Rayleigh veröffentlicht und stand Kastner folglich nicht zur Verfügung.13 Nach dessen Erläuterung entstehen die Klänge der Äolsharfe nicht durch Schwingung der Saiten selbst, sondern durch Turbulenzen, die sich hinter den Saiten bilden. Was also letzten Endes die Äolsharfe mit Kastners »chemischen Musik« verbindet, ist allein die Tatsache, dass sich ihr Mechanismus gewöhnlichen technischen Erklärungen entzieht. Im Mittelpunkt von Kastners Betrachtungen steht folglich die Frage, die er mit dem Schlagwort der »chemischen Musik« versieht: Welchen Aufschluss können uns die Tongeneratoren, die unsere Wissenschaft noch nicht versteht, über das Wesen der Musik liefern? Was Kastner im Laufe seines Traktats vorschlägt, ist nichts weniger als eine grundlegende Neuorientierung der Musikästhetik bzw. Erkenntnislehre der Musik.

Krisensituation Sirene Tatsächlich eröffnet Kastner sein Traktat mit einer grundsätzlichen Frage: Wie lässt sich der Unterschied zwischen Geräusch und musikalischem Ton ausmachen? Die herkömmliche Definition, der zufolge ein musikalischer Ton im Gegensatz zum Geräusch auf einer periodischen Schwingung basiert, verwirft er als unzulänglich. Dabei definiert Kastner das Geräusch, nicht ganz ohne Hintergedanken, als einen Klang, der zu kurz sei, um als Ton wahrgenommen zu werden, oder der zu viele unorganisierte Klangelemente enthalte und Verwirrung stifte.14 Kastner besteht stattdessen darauf, dass der Unterschied zwi-

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Rayleigh 1915. Kastner 1856, 8. [»Le bruit est un son d’un durée trop courte pour pouvoir être bien apprécié, comme le bruit du canon, ou bien c’est un mélange confus de plusieurs sons discordants, comme le roulement du tonnerre ou le clapotement des vagues.«] Eine spätere Definition schlägt konventionellere Töne an : »Les sons dont on peut déterminer l’acuité ou la gravité, en calculant le nombre et la durée des vibrations du corps sonore, constituent le ton ou son musical. … Lorsque les vibrations manquent de régularité ou sont coupée trop brusquement pour paraitre régulières, elles ne produisent que le bruit.« (Ebd. 90).

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schen Geräusch und Ton nicht in der Akustik, sondern nur in der Physiologie des individuellen Hörers verortet werden kann.15 Die radikale Zersetzung und Individualisierung der Hörerfahrung bietet der Musiktheorie einen schweren Start, da diese üblicherweise auf generalisierbaren Grundlagen aufbaut. Mit diesem Eröffnungszug, der die Psychologie und Physiologie ins Zentrum rückt, wirft Kastner dem mechanistischen Paradigma, das seit Rameau im achtzehnten Jahrhundert über das musikalische Denken geherrscht hat, gewissermaßen den Fehdehandschuh hin. Rameau und seine Nachfolger suchten bekanntlich eine Erklärung in den unveränderlichen Prinzipien des Klanges, der als corps sonore von der Obertonreihe abgeleitet wurde und sich im Durdreiklang niederschlug. Kastner hält diesem Prinzip entgegen, dass der corps sonore nicht an sich existiere, sondern erst im Ohr Bedeutung erhalte.16 Solche grundsätzlichen Neuorientierungen entstehen selbstredend nicht im luftleeren Raum – hinter Kastners Vorschlägen steht ein akustisches Erlebnis, das ihn tief getroffen und in eben diese Erkenntniskrise gestürzt haben muss. Dieses Erlebnis war die Erfindung der akustischen Sirene, die 1819 von Charles Cagniard de la Tour (1777–1859) der Öffentlichkeit präsentiert wurde, und die die herkömmlichen Erkenntnisse zur Musik gründlich über den Haufen warf.17 Ursprünglich hatte Cagniard de la Tour seine mechanische Sirene als Gerät konzipiert, mit dem die gängigen Theorien zur Klanglichkeit getestet werden sollten. Cagniard stellte folgende Frage: Wenn der musikalische Klang darauf basiert, dass pulsierende Luftmoleküle von Musikinstrumenten in Bewegung gesetzt werden und in alle Richtungen ausströmen, wäre es dann auch möglich, Klänge zu erzeugen, indem man die Luft direkt in Bewegung setzt, ohne dass eine schwingende Saite oder ein Hohlraumresonator ins Spiel gebracht wird?18 Mit anderen Worten: Kann die Sirene als »Nicht-Instrument« bezeich15

16 17 18

Ebd., 8. [»La question de la différence entre le son et le bruit semble être plutôt encore une question physiologique qu’une question physico-mathématique, puisqu’elle dépend principalement de l’organisation des individus.«] Ebd., 8–9. Cagniard 1819. Ebd., 167–168. [»Si le son produit par les instrumens est dû principalement, comme le croient les physiciens, à la suite régulière des chocs multipliés qu’ils donnent à l’air atmosphérique par leurs vibrations, il semble naturel de penser qu’au moyen d’un mécanisme qui serait combiné pour frapper l’air avec la même vitesse et la même régularité, on pourrait donner lieu à la production du son.«]

Alexander Rehding: Chemische Musik

net werden, als ein Mechanismus, der die tradierten musikalischen Instrumente umgeht, um so die minimalen Anforderungen der Klangerzeugung zu erforschen?19 Cagniards Mechanismus war äußerst simpel: Eine einfache rotierende Metallscheibe, mit Löchern in regelmäßigen Abständen eingestanzt, liegt auf einer ähnlichen fixierten Scheibe. Durch die diagonal angebohrten Löcher in beiden Scheiben wird bei Luftzufuhr die obere Scheibe zum Rotieren gebracht. Jedes Mal, wenn ein Luftzug durch beide Löcher fährt, wird ein leiser Impuls hörbar. Bei niedriger Rotationsgeschwindigkeit sind diese Impulse einzeln vernehmbar, aber wenn die Drehgeschwindigkeit 20 Impulse pro Sekunde (20 Hz) überschreitet, verschwimmen die einzelnen Luftstöße zu einem Ton von bestimmter Tonhöhe, der mit wachsender Geschwindigkeit ansteigt. Aus einem Geräusch entsteht ein musikalischer Ton. Die Sirene hebt an zu singen. Zu jener Zeit erschütterte die Sirene grundlegend alle Gewissheit über das Wesen des Klangs. Die Sirene produzierte bloße Geräusche, einzelne Impulse bzw. Luftstöße, die aber trotzdem vom Ohr als musikalischer Ton wahrgenommen werden können.20 So lässt sich nachvollziehen, weshalb Kastner diese Definition als unzureichend empfand, denn bei ausreichender Geschwindigkeit werden die Einzelimpulse der Sirene – also hörbare Luftstöße – zu Schallereignissen, die als musikalische Töne bezeichnet werden müssen. Wenn aber der Unterschied zwischen Geräusch und Ton nicht anhand der Schallwelle festgemacht werden kann, so Kastners Schlussfolgerung, müsse er zwangsläufig im Ohr des Hörers verankert werden. Wie schwerwiegend die Folgen dieser Kontroverse auf dem Feld der Akustik insgesamt lasteten, lässt sich kaum unterschätzen. Die wissenschaftlichen Diskussionen, die sich um das Phänomen der Sirene rankten, legten schließlich mit Ohms Verarbeitung der Fourieranalyse die Grundlagen der modernen Akustik.21 Wie andere Zeitgenossen auch, darunter Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827), war Kastner zutiefst davon erschüttert, dass die Sirene die Unzulänglichkeit der alten Lehre so schonungslos zu Tage förderte.22 Dass die Sirene in Kastners Vorstellung solch eine große Rolle spielte, liegt in

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Dazu auch Rehding 2014. Also eben genau das, was Kastner in seiner Eingangsdefinition als »un son d’un durée trop courte pour pouvoir être bien apprécié« bezeichnete (vgl. Fn. 14). Kromhout 2020. Chladni 1826.

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erster Linie daran, dass sie ihm die Frage eröffnete: Wenn die Sirene die alten Gewissheiten über das Wesen des Klanges so einfach zerstörte, was gab es noch, das sich unserem Verständnis entzog? Ein neues Paradigma, eine neue Grundlage, auf der ein besseres Verständnis der Musik errichtet werden konnte, wurde dringend nötig.

Paradigma Äolsharfe In einer Welt also, in der sich alle musiktheoretischen Gewissheiten verflüssigt hatten, gab es auch einen neuen Bedarf an musiktheoretischen Instrumenten, mit denen dieses neue Prinzip zum Leben erweckt werden konnten.23 In der Antike erfüllte das Monochord diese Aufgabe. Es wurde dazu benötigt, um die universalen Verhältnisse, die den einfachsten musikalischen Intervallen unterlagen, klanglich darzustellen. Für die neuen Komplexitäten, die die moderne Konzeption der Musik benötigte, war dieses Instrument allerdings vollkommen unzulänglich. Die Sirene, die das Monochord als Leitfigur abzulösen schien, war allerdings primär negativ ausgerichtet: Zwar hatte sie mit unbestechlicher Logik und Klanglichkeit offenbart, dass das alte Paradigma überwunden war, hatte aber keinen alternativen Ansatz vorgelegt.24 In dieser Situation gab es einen offenkundigen Bedarf an einem neuen Instrument, mit Hilfe dessen der klangliche Beweis für das neue musikalische Paradigma geliefert werden konnte. Vor dem Hintergrund dieses Desiderats lässt sich Kastners Interesse am akustischen Mirakel der Äolsharfe erklären. Sie erschien Kastner geradezu prädestiniert, die Rolle des »musiktheoretischen Instruments« für das kommende Zeitalter zu übernehmen, mit der die »chemische Musik« sowohl klanglich als auch konzeptionell durchleuchtet werden könnte. Was Kastner besonders an der Äolsharfe faszinierte, war die Tatsache, dass ihr Klang nicht konstant blieb, sondern kaleidoskopartige Wandlungen von Akkorden und Melodien vornahm. Vielleicht lag ja in der Äolsharfe der Schlüssel zu den Geheimnissen der akustischen Welt? Vielleicht war ja das Instrument, deren

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Zum Begriff des »musiktheoretischen Instruments« vgl. Rehding 2016a and 2016b. Die Flucht nach vorn wagte einzig Friedrich Wilhelm Opelt 1834, mit einer auf der Sirene aufbauende Musiktheorie, die aber überdeterminiert ist und nicht weiter rezipiert wurde. Dazu Rehding 2020.

Alexander Rehding: Chemische Musik

Geisterklänge den Menschenhänden unzugänglich blieben, sogar ein Fingerzeig auf die alte Musica mundana, und vielleicht waren die pythagoreischen Sphärenklänge doch kein Hirngespinst?25 Vielleicht steckte ja ein Körnchen Wahrheit hinter den kosmischen Harmonien, die in den musikalischen Spekulationen vergangener Zeiten eine zentrale Rolle gespielt hatten? Zu Zeiten solcher epistemischen Turbulenzen erschien vieles denkbar. Der Klang der Äolsharfe ließ sich in keiner Weise mit dem Klang gezupfter Saiten vergleichen, zumal er in praktischen allen Dimensionen variieren konnte. An verschiedenen Stellen seines Traktats verwendete Kastner Notenbeispiele, mit denen er verschiedene Seiten dieses wandelbaren Klanges zu beleuchten versuchte. Zunächst stellte er fest (Abb. 1), dass die Äolsharfe keine strenge Unterscheidung zwischen Melodie und Harmonie erlaubte: Individuelle Teile der Obertonreihe konnten nacheinander oder gleichzeitig ertönen, alle Zwischenstufen zwischen Gleichzeitigkeit und Nacheinander konnten auftreten.

Abbildung 1: Transkription einzelner Klangdetails der Äolsharfe, die Kastner im Schloss von Baden hörte. Die Harfe produziert schillernde Klänge, die sich weder gänzlich der Melodik noch der Harmonik zuordnen lassen. (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Mus.th. 732 r. S. 79)

Weit wichtiger jedoch war die Tatsache, dass der »Naturklang« der Äolsharfe nicht beim Dreiklang abschloss, wie es die Rameausche Tradition behauptete, sondern dass häufig ausgesprochen dissonante Formationen, wie 25

Vgl. dazu auch Godwin 1992.

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Sept- oder Nonakkorde hörbar wurden, wie in Abbildung 2 zu sehen ist – und all dies ohne Auflösung.

Abbildung 2: Eine ausführlichere Transkription zeigt, wie in einigen Fällen diese fließenden Übergänge zwischen Harmonik und Melodik das musikalische Gefüge beeinflussen und eine Art Mehrstimmigkeit suggerieren. (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Mus.th. 732 r. S. 145)

Es schien Kastner offenkundig, dass die sich stets verändernde Dynamik (in Abb. 3 und 4) einen wesentlichen Bestandteil des Klangs der Äolsharfe ausmachte. Mitunter schien die Geisterhand, die die Saiten anstrich, sogar die Grundstimmung zu verändern – in Widerspruch zur alten Akustik, die besagte, dass Saitenlänge und Klang in direktem Verhältnis zueinander standen (wobei angemerkt werden muss, dass Kastner das Phänomen der wandelbaren Grundtonhöhe nur selten beobachtete). Alle diese Beobachtungen verbanden sich für Kastner zu einer neuen Erkenntnis: Die alten mechanischen Kausalitäten, die Wenn-Dann-Beziehung zwischen Saite und Klang, konnte nicht weiter aufrechterhalten werden. Die Notenbeispiele, die Kastner zur besseren Illustration beisteuerte, konnten dabei nur einen teilweisen Eindruck vermitteln. Denn was das Besondere an der Äolsharfe ausmachte, war eben genau das, was sich der Notation entzog: schillernde Klangfarbe und stetiger Wandel. Um nennenswerte Fortschritte auf der Suche nach der »Stimme der Natur« zu erzielen, erschien es Kastner darum unumgänglich, die Töne – und damit auch die Notenschrift – als irreduzibles Element der Musik, als deren Atome und Grundbausteine, aufzugeben. Um in dieser grundlegenden Frage weiter zu kommen, musste Kastner auch die Töne in ihre Einzelteile zerlegen und die Klänge quasi in subatomare Partikel aufzuspalten.

Alexander Rehding: Chemische Musik

Abbildung 3: Die harmonischen Klänge gehen häufig über den Dreiklang hinaus und umfassen Sept- und Nonklänge. In einigen Fällen entstehen recht dissonante Zusammenklänge, oft in differenzierter Dynamik. (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Mus.th. 732 r., S. 142)

Diese musikalische Chemie erforderte einen grundsätzlich neuen Ansatz. Wenn es eine Naturgewalt in der Akustik gab, die jenseits von menschlicher Aktivität lag, dann hieß es eben, die Klänge der Natur zu untersuchen. Was wäre, wenn die Natur uns nicht das Rohmaterial für die Komposition an die Hand gäbe, wie es das mechanistische Modell forderte, sondern direkt Musik für uns – oder sogar auf uns – spielte? (Hier sei daran erinnert, dass Kastner von der Vorstellung überzeugt war, dass der Klangeffekt der Äolsharfe erst im Ohr des Menschen entstünde.) Viele von Kastners Ideen scheinen von Novalis’ berühmtem Ausspruch geleitet zu sein: »Die Natur ist eine Äolsharfe, sie ist ein Musikinstrument, dessen Töne wieder Tasten höherer Saiten in uns sind«.26 Kastner folgte dem romantischen Dichter, indem er sich bevorzugt Erklärungen widmete, die nicht auf physikalischer Grundlage beruhen, sondern auf der Physiologie des Gehörs basieren. Ein Beispiel sind etwa Kombinationstöne, auch bekannt unter dem Namen Tartinitöne, die das Ohr im Ergebnis spezi-

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Novalis, Fragment 2232. Kastner 1856, 66. Zur romantischen Rezeption der Äolsharfe vgl. auch Abrams 1952, 51–52, sowie speziell in der Musik Raz 2014 und Dolan 2008.

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fischer Interferenzen zweier Schwingungen als einen zusätzlichen Ton wahrnimmt, auch wenn dieser als solches nicht als Schallwelle existiert.27

Abbildung 4: Der Klang der Äolsharfe umfasst ein weites dynamisches Spektrum. Dissonanzen bleiben unaufgelöst stehen und verklingen. (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Mus.th. 732 r. S. 139)

Aufbruch zu einer neuen Musiktheorie Verwies die Äolsharfe bei den Romantikern auf den Eingang in das Geisterreich, so empfand Kastner sie als Fingerzeig darauf, das menschliche Gehör in die Musiktheorie mit einzubeziehen, um so das ausgediente mechanistische Modell zu individualisieren. Die kategorische Trennung in objektive und subjektive Faktoren, die bei Rameau eine zentrale Rolle spielte, war nicht länger überzeugend. Vielmehr stellte sich ihm die Frage, ob die ehemals als sekundär kategorisierten Parameter – Klangfarbe, Dynamik, Artikulation – nicht tatsächlich eine primäre Bedeutung besaßen.28 Zudem empfand Kastner die Musik aus seinem Umfeld als ungeeignet, um die feine Differenziertheit der Natur widerzuspiegeln. Als Grund führt Kastner 27

28

Dieser Effekt wurde wissenschaftlich in Helmholtz 1856 erforscht, was Kastner allerdings nicht vorlag. Kastner mag durchaus von der Verbindung zwischen Äolsharfe und Tartinitönen aus Jones 1781 erfahren haben. Hier sei auch daran erinnert, dass Kastner eine frühe Instrumentationslehre veröffentlichte, die von Berlioz 1839 positiv rezensiert wurde. Berlioz selbst ging zwar über Kastners Ansprüche hinaus, indem er in seiner Rezension verkündete, dass die Orchestrierung in den Stand einer unabhängigen, der Harmonik, Melodik und Rhythmik ebenbürtigen Größe erhoben werden sollte. [»L’instrumentation, dit-il, est l’art d’appliquer convenablement les différens genres d’instrumens à un chant donné. Sans doute, mais c’est autre chose encore : c’est l’art de colorer par eux l’harmonie et le rythme ; bien plus, c’est l’art d’émouvoir par le choix des timbres, indépendamment de tout effet de mélodie, de rythme ou d’harmonie«] An dieser Stelle in La harpe d’Éole zieht Kastner aber durchaus eine ähnliche Schlussfolgerung.

Alexander Rehding: Chemische Musik

an, der abendländische Hörer habe schlicht noch nicht gelernt, genau hinzuhören: Die Grobheit, oder umfassender gesagt, die Unvollkommenheit unserer Sinne hat uns daran gehindert, diese Musik in allen intrikaten Nuancen und mysteriösen Kombinationen zu erfassen. Sie ist zweifellos reicher und ausufernder als jene, deren Gesetze durch unser Gehör festgelegt wurden.29 Kastner zufolge steht uns eine bessere, subtilere Musik noch bevor. Eben jene bezeichnete er als »chemisch«. Die chemische Musik steht der rein mechanischen Musik vergangener Jahre entgegen. Bei Kastners Lesern im 19. Jahrhundert würde die Erwähnung von Chemie die Konnotation als neue Leitwissenschaft auslösen, welche genau da ansetzte, wo Newtons Mechanik aufhörte.30 Im Zeitalter der Romantik lag der Fokus in der Chemie auf der Erforschung der dynamischen und produktiven Kräfte, die jenseits der organischen Strukturen zu finden sind.31 Wie beschrieben, interessierte sich Kastner hier insbesondere für neue akustische und musikalische Experimente auf der Grundlage von Dampf, Elektrizität und Feuer. Er merkte an, dass die Erforschung dieser chemischen Musik zunächst nur zaghafte Fortschritte mache, aber egal, wie »bizarr sie erscheinen mögen, handelt es sich bei diesen Versuchen um völlig neue Instrumentenkombinationen, die nur noch darauf harren, dass sich ein Mann von Genie ihrer widmet, damit sie endlich hervorbrechen und in voller Konsequenz« für die Kunst nutzbar gemacht werden können.32 Besonders die Vorstellung, dass das neue musikalische Paradigma nicht aus dem fertig gelieferten Dreiklang, wie es das alte mechanische Bild gefordert hatte, sondern aus Obertönen, den Elementarpartikeln des musikalischen Klanges, entwickelt werden musste, stellte das Idealbild von Kastners chemischer Musik dar. So zeigte er sich davon überzeugt, dass Obertöne, die »kaum im künstlerischen Bereich verfügbar sind, und nur durch höchst kunstvolle 29

30 31 32

Kastner 1856, 125. [Cette musique, dont la grossièreté, ou pour parler avec plus ménagement, l’imperfection de nos sens nous empêche de saisir facilement toutes les nuances délicates et toutes les combinaisons mystérieuses, est sans nul doute plus riche et plus étendue que celle dont notre oreille a fixé les lois.] Cha 2018 und Adler 1987. Zum romantischen Chemiebegriff in der Musik vgl. Chua 1999, 199. Kastner 1856, 102. [»Il y a dans ces tentatives en apparence si bizarres des germes de combinaisons instrumentales d’un ordre tout à fait nouveau, et qui n’attendent que les efforts d’un homme de génie pour éclore sous une forme convenable et recevoir une conséquence sérieuse au point de vue de l’art.«]

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Prozesse zustande kommen, vermutlich die Naturmusik par excellence darstellen«.33 Dies also war des Pudels Kern. Da der von Kastner beschworene »Mann von Genie« sich nicht zeigte, beschloss er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Klang der Äolsharfe künstlerisch umzusetzen. Seine Forschungsarbeiten kulminierten in einer komponierten Simulation, abgebildet in Abbildung 5, die alle wichtigen Parameter zugleich einbezog, wofür die früheren partiellen Transkriptionen sich als unzulänglich erwiesen hatten. Die durch Orchesterinstrumente auszuführende Simulation schien für Kastner der einzige Weg zu sein, um über die Beschränkungen des Wortes und der theoretischen Regeln hinauszukommen. Zu Zeiten der durch den Buchdruck geprägten »Gutenberg-Galaxie«34 ließ sich dies nur im Medium der Notation bewerkstelligen. Man mag hier die begrenzten Möglichkeiten des Druckmediums beklagen, das nur ein schwaches Abbild des Höreindrucks zu skizzieren vermag, tatsächlich wird hier aber das Partiturformat durchaus analytisch genutzt. Die äußerst leise intonierenden oberen Holzbläser vom ersten Orchester mit Flöten im höchsten Register und den Klarinetten darunter dominieren zunächst die Klangfläche, während die Streicher allmählich hinzu kommen, zunächst im kaum hörbaren pppp. Jede Streichergruppe ist geteilt, wobei jeweils eine Hälfte Flageolett spielt und die andere mit Dämpfer spielt. Allmählich beginnen die Streicher mit sich wiederholenden rhythmischen Figuren, während die Holzbläser melodische Fragmente in extrem langsamem Tempo intonieren. Wenn die unteren zweiten Geigen schließlich bis zu einem mf crescendieren, untermalt die erste Harfe diesen zaghaften Höhepunkt mit langsam gezupften Flageoletttönen. Im konventionellen Verständnis könnte die so entstehende Harmonie als Dominantseptnonklang bezeichnet werden. Jedoch hat dieser feingeknüpfte Klangteppich praktisch keine harmonische Bedeutung. Vielmehr lässt er sich treffender spektralistisch auffassen, basierend auf der Obertonreihe.

33

34

Ebd., 125. [»Les sons harmoniques, qui, dans le domaine de l’art, ne sont guère obtenus que par des procédés très artificiels, constituent peut-être la musique naturelle par excellence.«] McLuhan 1962.

Alexander Rehding: Chemische Musik

Abbildung 5: Im abschließenden Lyrischen Monolog Stéphen ou la harpe d’Éole komponiert Kastner den Klang ›Äolsharfe‹ in all seiner Komplexität. Die detailliert ausgearbeiteten Artikulationsbezeichungen, die vielschichtige fließende Dynamik und die speziellen Klangeffekte (Tremolo, Flageolett, Dämpfer) stoßen dabei an die Grenzen dessen, was die Notation auszudrücken vermag. (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Mus.th. 732 r. S. 145, S. 31)

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Die unerhörte Komplexität der Orchesterpartien mit ihren fein nuancierten Schattierungen in einem Meer von Einzelstimmen, die schillernden Flageolettöne in langsam sich wandelnden Konstellationen, die in Crescendi und Diminuendi ein- und ausgeblendet werden, vermitteln vor allem eins: Das Alte wankt. Die Stimme der Natur kündigt die Musik der Zukunft an. Und das Neue musste, wie es im allgegenwärtigen Fortschrittsdenken des neunzehnten Jahrhunderts üblich war, höher, schneller, weiter sein, als das, was es ersetzte. Auch wenn Kastner bescheiden anmerkt, dass diese komponierte Passage immer noch einen schwachen Aufguss der wirklichen Äolsharfe wiedergebe, ist offenkundig, dass dieser kurze Ausschnitt das erste notierte Beispiel einer chemischen Musik darstellt.35

Ein weiteres Instrument der chemischen Musik? Man mag sich angesichts dieser außergewöhnlichen komponierten Passage, die einen integralen Bestandteil von Kastners Argumentation ausmacht, fragen, worin genau denn nun die von ihm beschworene chemische Musik besteht. Handelt es sich um eine Beschreibung einer neuartigen Kompositionsweise? Oder um einen Neuansatz innerhalb der Musiktheorie? Fast scheint es, als ginge es Kastner in Anbetracht der fundamentalen Zweifel am Wesen der Musik, die die Sirene bei ihm und bei den Klangforschern seiner Zeit auslöste, vor allem darum, alle Tradition über Bord zu werfen und sich einem in jeder Hinsicht vollkommen Neuen zu widmen. Die Unentscheidbarkeit in dieser Frage liegt in dem speziellen Ansatz begründet, den Kastner wählt, und der seinen Ausgangspunkt im Begriff des »musiktheoretischen Instrument« nimmt. So eröffnet ihm die Äolsharfe nicht nur den Ausblick auf eine neue Klangwelt, die sich in den verschiedenen als »chemisch« gekennzeichneten instrumentalen Neuerungen seiner Zeit niederschlägt, sondern erschließt gleichzeitig durch ihr andersartiges Klangprinzip eine neue theoretische Perspektive, die nicht wie die herkömmliche Theorie im notierten Ton mündet, sondern stattdessen die einzelnen Bausteine des komplexen Klanges, die Obertöne, zur ihrer Grundlage macht. Anders gesagt: Indem Kastner mit seinem Begriff der chemischen Musik die Dimension der Klangfarbe in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt, werden Theorie und musikalische Praxis auf neue Art 35

Berlioz’ Lelio stellt ein weiteres Beispiel dar, in dem der Klang der Äolsharfe künstlerisch durch Flageoletttöne verarbeitet wird. Vgl. Brittan 2006.

Alexander Rehding: Chemische Musik

zueinander in unmittelbare Beziehung gesetzt.36 In dieser zukünftigen Musik, die Kastner vorschwebt, ist die Theorie zwangsläufig klingend und die Praxis stets akustisch untermauert. Abschließend stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass Kastner den Mechanismus der Äolsharfe grundsätzlich missverstand, seiner Theorie von der chemischen Musik abträglich war. – Nicht unbedingt, denn der tatsächliche Mechanismus ist für Kastners Konzeption eher belanglos. Was bereits für das Bild der »chemischen Musik« insgesamt galt – dass dieser Begriff vor allem dazu diente, Kastners Fantasievorstellung in gewisse Bahnen zu lenken – gilt auch hier für sein Verständnis der Äolsharfe. Letztlich diente dieses Instrument zu wenig mehr als einer materiellen Gedankenstütze, die ihm dabei half, seine Ideen zu ordnen. Schließlich entspricht das, was Kastner in seinen Arbeiten beschreibt und ausführt, weniger der tatsächlichen Äolsharfe als vielmehr einem anderen Instrument, das zu jener Zeit erst in Ansätzen existierte, nämlich dem additiven Synthesizer, der wenig später von Hermann von Helmholtz (1821–1894) in noch kaum entwickelter Form der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.37 Dieser Apparat stellte den traditionell als sekundär verstandenen musikalischen Parameter der Klangfarbe in den Mittelpunkt. Genau wie Kastner es für die Äolsharfe beschreibt, stellte der Synthesizer eine Bandbreite verschiedener Klangfarben bereit, indem er sie aus einzelnen einfachen Obertönen in unterschiedlichen Intensitäten zusammenstellte, und so die Variabilität einer neuen Klangdimension eröffnete, die sie vorher kaum besessen hatte. Dass die Klangfarbe einen Grenzbereich, die ›final frontier‹, in der Musiktheorie darstellt, wussten auch andere Musikgelehrte. Arnold Schönberg etwa beschließt bekanntlich seine Harmonielehre 1911 mit der Vorhersage, dass das neue Jahrhundert das Zeitalter der Klangfarbe sein wird. Auch Kastner zielt mit seinem Begriff von der »chemischen Musik« auf eben diese Einsicht ab: Erst wenn diese »Chemie« begriffen sei, verdiene es die Musik, als wissenschaftlich zu gelten. Und dann erst eröffne sich auch die Möglichkeit, eine vollkommen neuartige Musik quasi aus der Retorte zu schaffen.

36 37

Zu den Paradoxa des Klangbegriffs (bzw. »timbre«), die auch bei Kastner am Werk sind, vgl. Fales 2002 und Muzzulini 2006. Helmholtz 1863.

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Zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts Jan Philipp Sprick

Vergangenheit und Zukunft sind in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts in komplexer Weise aufeinander bezogen. Zugleich ist die Tatsache, dass Vergangenheits- und Zukunftsbezug in der Musiktheorie existieren, ein charakteristisches Merkmal der Geschichte der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts. Besonders deutlich wird das Spannungsfeld zwischen der Bezugnahme auf die Vergangenheit und Zukunft in den unterschiedlichen musiktheoretischen Textgattungen. Um das komplexe Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen, möchte ich in diesem Text die musiktheoretischen Textgattungen ›Kompositionslehre‹ und ›systematische Musiktheorie‹ in den Blick nehmen und sie charakterisierend mit den Schlagwörtern ›expliziter Vergangenheitsbezug‹ und ›implizite Zukunftsorientierung‹ in Beziehung setzen. Erste Ansätze für die gleichzeitige Existenz von Vergangenheitsbezug und Zukunftsperspektive lassen sich bereits im 18. Jahrhundert beobachten. Hier entstehen einerseits primär auf satztechnische Phänomene hin orientierte Traktate, die in der Regel den jeweiligen musikalischen ›status quo‹ vergangenheitsbezogen abbilden. Und andererseits gibt es insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Fülle musiktheoretischer Texte, die ausgehend von satztechnischen Fragen in den Bereich der fortschrittlichen Ästhetik ausgreifen. Prominente Beispiele hierfür sind etwa die aufklärerischen Schriften Friedrich Wilhelm Marpurgs, in denen selbst in einer stark satztechnisch orientierten Schrift wie der Abhandlung von der Fuge immer wieder auch ästhetische Überlegungen einfließen.1 Sie lassen ein emphatisches Verständnis von musikalischem Geschmack erkennen und weisen Übergänge zu feuilletonistischen Textgattungen auf. Diese Ausrichtung ist typisch ist 1

Marpurg 1753.

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für die Berliner Musiktheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In diesem und vergleichbaren Werken verbindet sich ein explizit bewahrender Duktus, der zugleich mit normativen Aussagen über die Musik der jeweiligen Gegenwart durchsetzt ist. Auf diese Weise werden immer auch eigene Vorstellungen über die Zukunft der Musik kommuniziert. Dieses Beispiel von parallel zueinander existierenden musiktheoretischen Textgattungen, ist daher kein Phänomen, das erstmals im 19. Jahrhundert auftritt. Musiktheoretische Lehrwerke, die sich in einem bewahrenden Duktus ausschließlich auf die Vergangenheit beziehen und nicht zuletzt aufgrund ihrer didaktischen Ausrichtung eher vermeintliche Gewissheiten bündeln, als neue, auf die Zukunft gerichtete Ideen zu verfolgen, haben im Zuge der Institutionalisierung der professionellen Musikausbildung an Konservatorien eine große Konjunktur. Mit der Gründung des Pariser Conservatoire im Jahr 1795 zeigt sich ein sprunghaftes Ansteigen der Zahl von Publikationen, die der praktischen Vermittlung musiktheoretischer Inhalte gewidmet waren.2 Ein Beispiel hierfür ist insbesondere Charles-Simon Catels Traité d’harmonie aus dem Jahr 1802, als quasi zentralisiertes Lehrwerk des Pariser Conservatoire,3 oder Ernst-Friedrich Richters immer wieder neu aufgelegtes Lehrbuch der Harmonie aus dem Jahr 1853, das nicht allein am Leipziger Konservatorium eine wichtige Rolle spielte.4 Dass diese retrospektiven Inhalte der in vielen Fällen sogar mit reaktionärer Agenda verbundenen Lehrwerke als Quellen auf die zukünftige Generation von Musiker:innen verweisen, für die dies ein wichtiger Teil der Ausbildung war, wirkt beinahe paradox. Die eingangs aufgezeigte Trennung in verschiedene musiktheoretische Textgattungen – dezidierte Lehrwerke und feuilletonistisch-ästhetische Texte – verflüssigt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend, zumal sich die zeitgenössische Komposition immer stärker von der musiktheoretischen Unterweisung distanziert. Dies führte dazu, dass Kompositionslehren in der Regel nicht mehr das hielten, was sie versprechen, nämlich Anleitungen zur zeitgenössischen Komposition zu sein. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, als würden sie das Wort »Komposition« nur noch im Titel tragen, um den Anspruch einer handwerklich orientierten Musiktheorie aufrechtzuerhalten und auf diese Weise immer noch einen Einfluss auf die

2 3 4

Vgl. dazu Meidhof 2016. Catel 1802. Richter 1853. Richters Lehrbuch war die erste international vermarktete Harmonielehre.

Jan Philipp Sprick: Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts

kompositorische Praxis zu haben. Über die Musik der Zukunft wird hingegen vielfach in publizistischen Texten diskutiert, die weniger auf die Ausbildung hin ausgerichtet sind, als vielmehr auf den musikästhetischen Diskurs und die daher im Hinblick auf die satztechnische Konkretion häufig unverbindlich bleiben.

Expliziter Vergangenheitsbezug Der explizite Bezug auf die Vergangenheit soll am Beispiel von zwei Kompositionslehren thematisiert werden. Die Fülle der Kompositionslehren im 19. Jahrhundert sind – wie bereits angedeutet – insofern ein interessanter Fall, als dass die Frage, wie man Komposition auf einer kodifizierten Lehrbuch-Basis überhaupt unterrichten kann, immer schwieriger zu beantworten scheint. Zu den wichtigsten Kompositionslehren im 19. Jahrhundert gehören diejenigen von Anton Reicha, Adolph Bernhard Marx oder Johann Christian Lobe. Diese Lehrbücher kombinieren eine musiktheoretisch-handwerkliche Unterweisung mit impliziten ästhetischen Auffassungen und Werturteilen. Im Hinblick auf die gewählten Musikbeispiele und die angestrebte Stilistik sind sie vergleichsweise konservativ. Mit August Reissmanns dreibändigen Lehrbuch der musikalischen Komposition aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und Hugo Riemanns ebenfalls dreibändiger Große[r] Kompositionslehre vom Anfang des 20. Jahrhunderts werden jetzt zwei Beispiele diskutiert, die jeweils einen monumentalen Umfang aufweisen – weit über 1000 Seiten – und welche die Problematik der Kompositionslehre im 19. Jahrhundert exemplarisch begreifbar machen. Reissmann war Anfang der 1850er-Jahre Schüler von Franz Liszt in Weimar und lehrte von 1866 bis 1874 am Stern’schen Konservatorium in Berlin Musikgeschichte.5 In diese Zeit fällt die Publikation des sehr umfangreichen Lehrbuchs der musikalischen Komposition, dessen drei Bände fast 1500 Seiten umfassen. Insbesondere in seinen weiteren Veröffentlichungen polemisierte Reissmann – trotz seiner Ausbildung bei einem ihrer Protagonisten – gegen die Neudeutsche Schule, unter anderem gegen Wagner. Im Vorwort des ersten Bandes konstatiert er, dass die »Lehre von der musikalischen Komposition […] in den letzten Jahrzehnten unstreitig in Misscredit gerathen« sei.6 Ein 5 6

Vgl. zu Reissmanns Lehrbuch: Sprick 2017a. Dies und das nächste Zitat: Reissmann 1866, III.

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Grund dafür sei die verbreitete Auffassung, dass »der wahre Genius zu seiner herrlichen Entfaltung keiner besondern Unterweisung« bedürfe. Aus dieser Auffassung resultiere die Situation, dass sich Kompositionslehre und Komposition noch nie so »vollständig fremd« gegenübergestanden hätten »als in unseren Tagen«. In seinem Bestreben, die »Gesetze« zu vermitteln, unter denen sich das musikalische Material »zusammenfügt«, vertritt Reissmann eine gegenüber der zeitgenössischen Kompositionsästhetik sehr konservative Position und kritisiert seine eigene Zeit als »blasiert«, da sie nur nach »genialen Kunstwerken« verlange.7 Kompositionslehre ist für ihn eine Kunstlehre, die ihre Regeln aus der »Natur des Materials« ableitet und in dieser Weise zum »Formen« anregt, was die »unerlässliche Vorbedingung« jedes Schaffens sei. Reissmann wird nicht müde, in allen Abschnitten seines Werkes die Bedeutung des soliden musikalischen Handwerks zu betonen und gegen Musik zu polemisieren, die bestimmten etablierten Regeln nicht folge. Große Meister und Vorbilder für Reissmann sind beispielsweise Komponisten wie Palestrina oder Schumann, deren Kompositionen überzeitlich gültige musikalische Gesetze repräsentieren.8 Die Beherrschung dieser Gesetze und damit das »Endziel« einer »unumschränkte[n] Herrschaft über das gesamte Darstellungsmaterial« verfolgt Reissmann in allen drei Bänden seiner in dieser Hinsicht teleologischen Kompositionslehre.9 Riemanns dreibändige Große Kompositionslehre ist einer der wahrscheinlich letzten Versuche, eine umfassende Kompositionslehre zu verfassen. Die Entwicklung seiner funktionalen Harmonielehre, einschließlich des zugehörigen Bezeichnungssystems, war mit dem Erscheinen der Vereinfachte[n] Harmonielehre im Jahr 1893 weitgehend abgeschlossen und Riemanns Phrasierungslehre und eine Vielzahl von Phrasierungs-Ausgaben waren ebenso erschienen wie das System der musikalischen Rhythmik und Metrik im Jahr 1903. Vergleichsweise spät also, ebenfalls ab dem Jahr 1903, erscheint seine in drei Bände gegliederte 1300 Seiten umfassende Große Kompositionslehre. Die beiden ersten Bände, Der homophone Satz (1902) und Der polyphone Satz (1903), erscheinen in unmittelbar aufeinanderfolgenden Jahren, der dritte, der Orchester- und Gesangskomposition gewidmete Band, erst zehn Jahre später. Hinsichtlich der Musikbeispiele fällt auf, dass Riemann sich – wie Reissmann – einerseits auf konventionelle Werkausschnitte beruft und andererseits mit Ausschnitten von Mozart und 7 8 9

Dieses und das nächste Zitat: ebd., V. Ebd., VIII. Ebd., X.

Jan Philipp Sprick: Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts

vor allem von Beethoven auch Komponisten erwähnt bei denen die Regelüberschreitung den Normalfall darstellt. Die nicht immer regelgerechten »Meisterwerke« sollen dann auch nicht der Ausgangspunkt für »geistlos[es] kopieren« sein, sondern man solle vielmehr über die »Analyse« als des »Kompositionsstudiums beste[n] Teil« in den »Reichtum der Ideenwelt der Meister« eindringen, um so »der eigenen schöpferischen Thätigkeit immer weitere Kreise zu erschließen und ihre Bewegungsfreiheit fortgesetzt zu vergrößern«.10 An Äußerungen wie dieser wird aber auch der Spagat zwischen der Vermittlung regelhafter Poetik und der Anregung zu künstlerischen Einfällen deutlich, dem eine Kompositionslehre unterliegt. Die regulative Tendenz in der Großen Kompositionslehre wirkt im frühen 20. Jahrhundert wie ein Relikt aus der Zeit, als genau dieser Ansatz – Musiktheorie als Kompositionslehre – noch möglich zu sein schien. Die Frage, ob und wie Komposition um 1900 überhaupt noch regelgerecht unterrichtet werden kann, wenn zugleich als Ziel beschrieben wird, »dazu an[zu]leiten, musikalische Kunstwerke zu schaffen«, ist angesichts der rasanten kompositorischen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend schwerer zu beantworten. Dies gilt insbesondere für einen Theoretiker wie Riemann, der im Hinblick auf die zeitgenössische Ästhetik Zeit seines Lebens konservative Positionen vertreten hat. Riemanns Antwort ist eine handwerklich orientierte, vor dem Hintergrund des fortschrittsgeprägten künstlerischen Anspruchs aber anachronistisch anmutende Kompositionslehre. In jedem Fall ist die Große Kompositionslehre aber ein Beispiel für das Zusammenfallen von analytisch-theoretischer Reflexion, kompositorisch-künstlerischer Praxis und historisch-stilistischem Bewusstsein, dass Riemanns regulative, auf die Vergangenheit gerichtete Perspektive wie in einem Brennglas bündelt, zugleich aber die Relevanz musiktheoretischer Reflexion für die zeitgenössische kompositorische Praxis weiter aufrechterhalten möchte.

Implizite Zukunftsorientierung Die beiden Beispiele für die Perspektive einer impliziten Zukunft stammen von Georg Capellen und erneut von Hugo Riemann. Beide Schriften werden hier unter dem Label ›systematische Musiktheorie‹ subsummiert, die gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Konjunktur hatte. 10

Riemann 1902, 40. Vgl. zu Riemanns Große[r] Kompositionslehre auch Sprick 2017b.

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Georg Capellens 1908 erschienene Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre ist sein umfangreichstes Werk und stellt in gewisser Weise die summarische Zusammenfassung seiner musiktheoretischen Überlegungen dar.11 Die Kritik an der von Riemann vertretenen Variante des harmonischen Dualismus, in der die wissenschaftlich umstrittene Existenz der Untertöne im Mittelpunkt steht, ist der wesentliche Ausgangspunkt von Capellens musiktheoretischem Denken. Entscheidend für die implizite Zukunftsorientierung von Capellens Theorie ist allerdings sein Tonalitätsverständnis. Dessen Grundlage ist einerseits ein funktionsfreies Verständnis von ›Verwandtschaft‹ und andererseits – wie bei Riemann – die funktionale Bezugnahme auf eine Tonika bzw. auf einen Mittelklang, wie Capellen ihn nennt. So geht Capellen beispielsweise davon aus, dass die Stimmführungsprozesse bei progressiven Komponisten wie Richard Wagner wichtiger seien als die Beziehung zu einem Grundton. Dessen »wundervolle chromatische und enharmonische Stellen« könnten durch die Verwandtschaftslehre »in ihrer harmonischen Anlage und Wirkung erst voll erschlossen« werden.12 Der Verwandtschaftsbegriff unterscheidet sich bei Capellen also vom Begriff der Tonalität. Diese Unterschiede können auch zu Konflikten zwischen Tonalität und Verwandtschaft führen, da die Beziehungen einzelner Klänge zum Mittelklang für ihn das entscheidende Kriterium für deren Bezeichnung und verwandtschaftliche Zuordnung bleiben. Dennoch kann die Tonika in Capellens System, gerade aufgrund dieses Verständnisses von »Verwandtschaft«, in jeden Akkord weitergeführt werden, und jeder Akkord kann wiederum in die Tonika fortschreiten.13 Capellen dehnt damit den funktionalen Zusammenhang auf den gesamten Zwölftonraum aus, indem funktionale Beziehungen von Akkorden auf jedem der zwölf chromatischen Töne möglich werden. Vor diesem Hintergrund ist auch der Anhang »Zukunftsmusik« zu verstehen, der beweist, dass für Capellen die Entwicklung innovativer, auf die gegenwärtige Kompositionspraxis gerichteter theoretischer Konzepte von großer Bedeutung ist.14 Das Tonsystem würde demzufolge nicht auf unveränderlichen Naturgesetzen, sondern auf ästhetischen Prinzipien beruhen. Mit dieser – auf Fétis’ Konzept der »tonalité« verweisenden – Auffassung von einem historischen Wandel der Tonsysteme unterscheidet sich Capellens Sichtweise

11 12 13 14

Capellen 1908. Vgl. dazu Sprick 2017c. Ebd., 92f. Ebd., 71. Ebd., 147ff.

Jan Philipp Sprick: Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts

fundamental von derjenigen Riemanns. Riemann geht von einer den historischen Verlauf überdauernden musikalischen Logik aus, die aber mit der Kompositionspraxis seiner eigenen Zeit nicht deckungsgleich ist.15 In Hugo Riemanns Aufsatz »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹« aus dem Jahr 1916 gibt es Ansätze, die von einem traditionellen Verständnis von Tonalität abweichen und die ihren Ausgangspunkt in Fragen zum musikalischen Hören nehmen, zu denen Riemann immer wieder zurückkehrt.16 Standen zu früheren Zeiten musikalische Elementarphänomene wie Intervalle oder Akkorde im Mittelpunkt, wendet sich Riemann erst in der »Lehre von den Tonvorstellungen« dezidiert der Frage nach der Hör-Rezeption komponierter musikalischer Zusammenhänge zu. Im Mittelpunkt steht bei ihm eine notwendige ›Re-Konstruktionsleistung‹ eines potenziellen Hörers oder einer Hörerin. Auf diese Weise erscheint das musikalische Hören nicht nur als ein »passives Erleiden von Schallwirkungen im Hörorgan«, sondern vielmehr als eine »hochgradig entwickelte Betätigung von logischen Funktionen des menschlichen Geistes«.17 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Begriff »Tonvorstellung«, den Riemann hier als eine begriffliche Neuschöpfung gegenüber Helmholtz’ Begriff der »Tonempfindung« präsentiert. Riemann wendet sich ausdrücklich gegen die Untersuchung der »Elemente der klingenden Musik« und möchte sich stattdessen mit der »Feststellung der Elemente der vorgestellten Musik« beschäftigen.18 Dieser letzte Satz deutet bereits an, dass für Riemann nicht die »wirklich erklingende Musik« das »Alpha und Omega der Tonkunst« ist, sondern die in der »Tonphantasie des schaffenden Künstlers vor der Aufzeichnung in Noten lebende[n] und wieder in der Tonphantasie des Hörers neu erstehende[n] Vorstellung der Tonverhältnisse«. Aus Riemanns Sicht ist »auf dem neuen Gebiete noch alles zu leisten«, so dass der »Ausbau der Lehre« die Musikwissenschaft wohl noch »für geraume Zeit beschäftigen« werde.19 Er verweist darauf, dass die in diesem Sinne verstandene Tonvorstellung nicht nur für die Komponist:innen ein relevantes Phänomen ist, sondern auch für die ausführenden Musiker:innen und die Musikhörer:innen. Für die Musikhörer:innen äußert

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Vgl. hierzu den Abschnitt zu Georg Capellen im Beitrag von Anne Hameister in diesem Band, 204-205. Vgl. zu Riemanns »Lehre von den Tonvorstellungen« auch Sprick 2022. Riemann 1916, 1. Dies und die weiteren Zitate, ebd., 2. Ebd., 3.

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sich die Tonvorstellung beispielsweise bei der Antizipation der erklingenden Musik beim Mitlesen der Partitur. Im III. Teil zum Thema »Klangvertretung« kommt Riemann zu einem zentralen Konzept seiner Musiktheorie. Im Rahmen der Klangvertretung wird ein einzelner Ton als Bestandteil eines Dur- oder Mollakkordes aufgefasst. Auf diese Weise gewinnen einzelne Töne ihre Bedeutung erst in einem harmonischen Kontext, was Riemanns grundsätzliches Interesse an einer kontextualisierten Wahrnehmung der einzelnen Töne noch einmal unterstreicht. Im IV. Abschnitt mit dem Titel »Domizilierung der Klänge und Tonarten« präsentiert Riemann schließlich seine auf Arthur von Oettingen zurückgehende »Tabelle der Tonverwandtschaften«, die eine graphische Übersicht der verschiedenen Tonarten »in ihrem Verhältnis [zu einer] Grundskala vorstell[t]«.20 Konsequent zu Ende gedacht, geht es in Riemanns »Ideen« auch um die rein geistige Vorstellung von Musik, die überhaupt nicht physikalisch erklingt und die von dem Hörer/der Hörerin gewissermaßen auf der Grundlage vorangegangener Erfahrungen rekonstruiert werden muss. In der Verbindung mit seinen theoretischen Überlegungen ist es Riemanns Anliegen, die ästhetischen und logischen Gesetzmäßigkeiten des Hörens als genauso allgemeingültig zu bezeichnen, wie Helmholtz es bezüglich der Naturgesetze der Akustik und der menschlichen Hörphysiologie getan hat. Die Unterschiede zwischen Riemann und Helmholtz liegen insbesondere in den unterschiedlichen Begriffsverständnissen der Begriffe Tonpsychologie und Musikpsychologie. Geht es bei Helmholtz um die Wahrnehmung von Tönen, auch unabhängig von einem musikalischen Kontext, so geht es bei Riemann in erster Linie um die Vorstellung von Tönen im musikalischen Kontext. Eine Konsequenz aus diesem Erkenntnisinteresse ist Riemanns Abkehr von einer physikalischen Begründung der Musiktheorie und damit einhergehend auch eine endgültige Abkehr vom Dualismus. Da Riemann den musikalisch-kompositorischen Ort seiner Theorie eindeutig in der Dur-Moll-Tonalität einschließlich ihrer Terzverwandtschaften verortet, sind seine Erkenntnisse keinesfalls universal, sondern stil- und zeitgebunden. Unabhängig davon bergen sie aber ein großes Potenzial für eine zukünftige Musiktheorie.

20

Ebd., 19.

Jan Philipp Sprick: Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts

Fazit Wenn vor dem eben dargestellten Hintergrund noch einmal die Frage in den Raum gestellt wird, was im Hinblick auf Capellens und Riemanns theoretische Überlegungen mit ›impliziter Zukunftsorientierung‹ gemeint ist, dann ist damit das Potential gemeint, dass sich in den theoretischen Ansätzen verbirgt und das implizit auf eine mögliche musiktheoretische, kompositionsgeschichtliche oder musikalische Zukunft vorausweist. Diese musiktheoretische Zukunft ist erst einmal unabhängig von den zu analysierenden Kompositionen. Ein Beispiel gegenwärtiger Theoriebildung, das den historischen Bezug bereits im Namen trägt, ist die seit den 1990er Jahren zunehmend verbreitete Neo-Riemannian Theory, die das systematische Denken der Set Theory mit Konzeptionen harmonischer Verwandtschaft aus der deutschen Musiktheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenbringt. Die grundlegende Annahme der Neo-Riemannian Theory besteht darin, harmonische Akkordbeziehungen in chromatischer Musik direkt und nicht wie in der Stufen- oder Funktionstheorie durch tonale Zentren vermittelt zu verstehen/konzeptualisieren. Sie hat ihren Ursprung in einem systematisch-spekulativen Ansatz und ist dann zunehmen auch analytisch angewendet worden. Es ist nicht zuletzt das Riemann’sche Tonnetz, das zwar nicht von Riemann erfunden wurde, das in modifizierter Form den zentralen Ausgangspunkt für die Neo-Riemannian Theory bildet. Dabei kommt den Tonnetzen die Rolle einer imaginären musikalischen ›Topographie‹ zu, »upon which musical pieces may be seen to traverse«, wie Henry Klumpenhouwer es pointiert formuliert hat.21 Das an naturwissenschaftlichem Modelldenken geschulte Verständnis der Neo-Riemannian Theory repräsentiert also ein gegenwärtiges Theorieverständnis, innerhalb dessen die Schönheit und Eleganz einer analytischen ›Lösung‹ gelegentlich eine wichtigere Rolle spielt, als die praktische Anwendbarkeit der analytischen Ergebnisse oder die historische Rekonstruktion des Kompositionsprozesses.

21

Klumpenhouwer 2002, 470. Auch David Lewin macht die aus seiner Sicht fundamentalen Unterschiede zwischen Riemanns System und einer stufentheoretischen Konzeption an Begriffen wie »space« und »geometry« fest: »The nature and logic of Riemannian tonal space are not isomorphic with the nature and logic of scale-degree space. The musical objects that Riemann isolates and discusses are not simply the old objects and relations dressed up in new packages; they are essentially different objects and relations, embedded in an essentially different geometry.« (Lewin 1984, 345)

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Mit Riemanns »Denken in Musik«22 als Aktivität einer Hörerin oder eines Hörers und der Verlagerung der logischen Operationen der Musik in den Bereich der menschlichen Wahrnehmung und Capellens Vorstellung von tonikafreier Verwandtschaft legen beide Theoretiker mit ihren Überlegungen implizit die Grundlage für eine musiktheoretische Zukunft. Aber während die konservativen Positionen eher wie verzweifelte Versuche wirken, den musikalischen Fortschritt zu unterbinden, bleiben auch die progressiven Positionen in der kompositorischen Praxis weitgehend folgenlos. Eine Konsequenz aus dieser Situation ist die Erkenntnis, dass sich eine Musiktheorie mit regulativem Anspruch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Relevanzfrage stellen muss und sich von diesem – von wenigen Ausnahmen abgesehenen – Bedeutungsverlust im Hinblick auf die je zeitgenössische Komposition seitdem nicht erholt hat. Zugleich erwächst aus diesem Verlust an Bedeutung im Hinblick auf die zeitgenössische Komposition zugleich ein Zugewinn an Bedeutung im Hinblick auf die Reflexion und Analyse der kompositorischen Praxis. Hier kommt auch wieder das komplexe Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft ins Spiel: Eine weniger regulative und vielmehr analytisch-reflektierende Musiktheorie braucht den resümierenden Blick zurück genauso wie den visionären Blick nach vorn.

Literaturverzeichnis Capellen, Georg (1908), Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig: C. F. Kahnt. Catel, Charles-Simon (1802), Traité d’harmonie, Paris: l’Imprimerie du Conservatoire de Musique. Dahlhaus, Carl (2001), »Was heisst ›Geschichte der Musiktheorie?‹« In: Ideen zu einer Geschichte der Musiktheorie. Einleitung in das Gesamtwerk (= Geschichte der Musiktheorie, Vol. 1), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [1985], 8–39. Klumpenhouwer, Henry (2002), »Dualistic Tonal Space and Transformation in Nineteenth-Century Musical Thought«, in: The Cambridge History of Western Music Theory, hg. von Thomas Christensen, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 456–476. 22

Vgl. dazu Dahlhaus’ berühmten Definitionsversuch: »Musiktheorie ist die sprachliche Fassung des Denkens über sowie des Denkens in Musik«. (Dahlhaus 1985, 11)

Jan Philipp Sprick: Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts

Lewin, David (1984), »Amfortas’ Prayer to Titurel and the Role of D in Parsifal: The Tonal Spaces and the Drama of the Enharmonic Cb/B«, Nineteenth-Century-Music 7/3, 336–349. Marpurg, Friedrich Wilhelm (1753), Abhandlung von der Fuge, Berlin: Haide und Spener. Meidhof, Nathalie (2016), Alexandre Étienne Chorons Akkordlehre. Konzepte, Quellen und Verbreitung, Hildesheim: Olms. Reissmann, August Friedrich Wilhelm (1866), Lehrbuch der musikalischen Komposition, Erster Band: Die Elementarformen, Berlin: Guttentag. Richter, Ernst Friedrich (17 1853), Lehrbuch der Harmonie [1886], Leipzig: Breitkopf & Härtel. Riemann, Hugo (1902), Große Kompositionslehre, Bd. 1: Der homophone Satz, Stuttgart: W. Spemann. — (1916), »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹«, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1914/15, 21/22 Jg., hg. von Rudolf Schwartz, Leipzig: Peters, 1–26. Sprick, Jan Philipp (2017a), Art. August Reissmann, Lehrbuch der musikalischen Komposition, in: Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Bärenreiter/Metzler, 422–424. — (2017b), Art. Hugo Riemann, Große Kompositionslehre, in: Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Bärenreiter/Metzler, S. 436–438. — (2017c), Art. Georg Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, in: Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1, hg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Bärenreiter/Metzler, 87–88. — (2022), Art. Hugo Riemann, »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹«, in: Lexikon. Schriften über Musik, Bd. 2, hg. von Felix Wörner und Melanie Wald-Fuhrmann, 697–698.

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Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde Oliver Korte

Die Geschichte des ›Parteienstreites‹, jenes in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit harten Bandagen ausgefochtenen musikästhetischen Gesinnungskampfes zwischen Konservativen und Progressiven, ist gut aufgearbeitet, insbesondere die Debatte um ›absolute‹ versus ›Programm-Musik‹. Weniger Aufmerksamkeit wurde der Tatsache geschenkt, dass der Konflikt auch musiktheoretisch, sehr konkret auf dem Feld der Satztechnik, ausgetragen wurde. Im Streit um die Deutungshoheit versprachen sich hier offenbar beide Lager gute Argumente. Zum musiktheoretischen Frontmann der ›Zukunftsmusik‹ avancierte der Berliner Theoretiker, Dirigent, Violinist und Komponist Carl Friedrich Weitzmann (1808–1880). Heute ist vor allem seine Schrift Der uebermaessige Dreiklang (1853) bekannt, in der er ein Feld von sechs verschiedenen Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs vermittels jeweils nur eines einzigen Halbtonschritts beschreibt; als Weitzmann region fand dieses Feld Eingang in die Neo Riemannian Theory.1 Zu Lebzeiten war Weitzmann allerdings mit seiner grundlegenden Schrift Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur weitaus erfolgreicher,2 in der er einen historischen Überblick über die Klaviermusik seit ihren Anfängen gibt. Erwartbar mündet dieses Werk in eine besonders 1

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Zu Weitzmann regions, Weitzmann transformations und Weitzmann groups siehe bspw. Cohn 2012, 59–61, 89f. und 105f. Vgl. auch Konzepte wie Weitzmann’s waltz bei Douthett/Steinbach 1998, 259f. Zu Weitzmanns Lebzeiten erfuhr die Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur zwei Auflagen, zuerst 1863 und dann deutlich erweitert und bearbeitet 1879. Die zweite Auflage wurde 1887 mit einem separaten »Nachtrag« von Otto Lessmann nachgedruckt und erschien 1897 in englischer Übersetzung. Eine dritte, auf drei Bände erweiterte Ausgabe wurde 1899 von Max Seiffert in Angriff genommen. Sie erschien parallel auf deutsch und niederländisch, kam aber über den ersten Band, der die Klaviermusik bis um 1750 behandelt, nicht hinaus.

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breite und positive Besprechung der Klaviermusik von Franz Liszt und seiner Schule. Auch in Beiträgen verschiedener Musikzeitschriften und nicht zuletzt in seinen theoretischen Schriften machte sich Weitzmann für Liszt stark. Seine Parteinahme verschaffte ihm einerseits Vorteile innerhalb der Gruppe der ›Zukunftsmusik‹, andererseits hatte sie deutlich negative Auswirkungen auf seine akademische Karriere. Dieser Beitrag nimmt eine verschränkte biographische und musiktheoretische Perspektive ein. Dies ist der Überzeugung geschuldet, dass auch vermeintlich abstrakte Theorien durch soziale Bedingungen beeinflusst sind. Weitzmanns Biographie bildet den Rahmen. Es wird aufgearbeitet, wie er nach und nach zum ›Theoretiker der Zukunftsmusik‹ avancierte und damit auch über mehrere Eskalationsstufen in den Augen der Konservativen zu einem Gegner wurde. Eingelagert ist eine Sichtung der zentralen Aspekte der Weitzmannschen Theorie, und zwar, anders als es bisher geschehen ist, auf Basis aller seiner theoretischen Schriften der 1850er und frühen 1860er Jahre. Denn Weitzmann wuchs nach und nach in die progressive Partei hinein und schärfte im Zuge dessen seine Theorie, was wiederum seine Position in der Gruppierung stärkte. Ein biographischer Schlüsselmoment ist sein erstes Zusammentreffen mit Liszt im Jahr 1854 in Weimar. Liszt empfing den »grauen Theoretiker«3 mit offenen Armen, und Weitzmann war von dessen Persönlichkeit und Musik gleichermaßen beeindruckt. In den darauffolgenden Jahren zielten seine theoretischen Bemühungen zunehmend darauf, die spezifische Praxis der ›Zukunftsmusik‹ zum einen theoretisch zu fassen, zum anderen aber auch systematisch weiterzudenken und damit Möglichkeiten aufzuzeigen, die bislang noch nicht komponiert worden waren. Indem Weitzmann seine Untersuchungen also auch als Kompendien für Komponierende verstand, stellte er gewissermaßen buchstäblich Zukunft bereit. Allerdings finden sich in seinen Schriften stellenweise unkommentierte Widersprüche zwischen den neuen und den alten ›Regeln‹. Dafür wurde Weitzmann zurecht kritisiert. Es sind vor allem diese Widersprüche, die seine Schriften bis heute sperrig machen. Angesichts der expansiven und teilweise dissoziativen Dynamik in der ›Zukunftsmusik‹, gerade im Bereich der Harmonik, wäre es wohl vermessen, von einem direkt involvierten Theoretiker ein widerspruchsfreies System zu erwarten. Weitzmann hat jedoch selbst ein solches postuliert, indem er 1860 3

Weitzmann bezeichnet sich Liszt gegenüber mehrfach selbstironisch als »grauen Theoretiker«, so bereits in einem Brief vom 16. März 1854 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/32, 17).

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

nichts Geringeres als ein Harmoniesystem der ›Zukunftsmusik‹ vorlegte. Damit bot er seinen Gegnern willkommene Angriffsflächen. In diesem Beitrag sollen weniger die widersprüchlichen Momente in Weitzmanns Schriften diskutiert werden, sondern vielmehr deren neue Ansätze vor dem Hintergrund seiner Biographie als Musiktheoretiker.

Vorgeschichte. Weitzmann als praktischer Musiker im Baltikum Weitzmanns Karriere als Musiktheoretiker begann vergleichsweise spät. Zunächst wirkte er als Geiger und Dirigent, in zweiter Linie auch als Komponist. Nach seiner Ausbildung bei Carl Wilhelm Henning (Violine) und Bernhard Klein (Komposition) in Berlin, sowie anschließend bei Louis Spohr und Moritz Hauptmann in Kassel, wurde er Ende 1832 als Orchestergeiger und Chordirektor an das Theater zu Riga berufen. Hier lernte er den Kapellmeister und Komponisten Heinrich Dorn kennen. Die beiden wurden lebenslange Freunde. In Riga gründeten sie die erste Liedertafel im Baltikum (Rigaer Liedertafel), für die Weitzmann auch vier Gesänge komponierte – es handelt sich um seine einzigen erhaltenen Werke dieser Zeit. Allerdings finden sich Berichte in Dorns Memoiren, denen zufolge Weitzmann zusammen mit zwei befreundeten Kollegen eigenwillige Trios für Flöte, Violine und Viola komponiert und für das Theater ein höchst exzentrisches Arrangement von Rossinis Oper La Cenerentola angefertigt hat.4 Die Schilderungen sind Hinweise darauf, dass er bereits in jungen Jahren progressiv eingestellt war. Mitte 1834 wechselte er als Musikdirektor an das Theater in Reval (heute Tallinn). Für dieses Haus komponierte er mehrere Bühnen- und Orchesterwerke, die leider verschollen sind. Schließlich wurde er Ende 1835 als Geiger in das Orchester des St. Petersburger Nationaltheaters berufen. Parallel zum Orchesterdienst leitete er die Musik an der örtlichen St. Anna Kirche und gründete wiederum eine Liedertafel. Ein weiterer Hinweis auf Weitzmanns frühe progressive Einstellung ist ein Brief aus dem Jahr 1836. Vermittelt über Dorn wandte er sich an Robert Schumann mit der Bitte, für dessen Neue Zeitschrift für Musik Berichte aus St. Peters-

4

Dorn 1870, 14f. und 21f. So schreibt Dorn z.B. hinsichtlich der Rossini-Oper von »Instrumental-Effecte[n], die bis dahin kein menschliches Ohr jemals geahnt, Rhythmen in der Begleitung, welche unsere Sänger ungewiss liessen, ob sie im graden oder ungraden Tact accompagnirt wurden«.

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burg verfassen zu dürfen.5 Zugleich bat er um Aufnahme in dessen »Davidsbund«. Überaus freundlich antwortete ihm Schumann: Ueber den Bund selbst läßt sich vor der Hand nicht gut mehr sagen, als in der Zeitschrift davon steht. Wer sich als Einer (Dbler) fühlt, dem reichen wir willig die Hand. Philisterei wagt sich von selbst nicht heran. So heiße ich Sie herzlich willkommen.6 Ein etwas unvorteilhaftes Schlaglicht auf Weitzmanns Musizieren im kaiserlichen Orchester wirft ein Artikel mit dem Titel »Ueber den Musikzustand und namentlich über die Orchester in St. Petersburg«. Da heißt es über ihn: »ein Teutscher, an der Spitze der zweiten Violine, besitzt mehr theoretische Kenntnisse als praktische Fähigkeit und Festigkeit, 12 andere Violinen zu leiten.«7 Die Erwähnung der theoretischen Kenntnisse Weitzmanns hat hier natürlich einen despektierlichen Unterton, aber immerhin lässt sich hieraus entnehmen, dass er sich bereits einen gewissen musiktheoretischen Ruf erworben hatte. Weitzmann blieb zehn Jahre lang im St. Petersburger Orchesterdienst. Das trug ihm den Titel eines kaiserlich russischen Hofmusikus und eine lebenslange Rente ein. So abgesichert kehrte er, nach kürzeren Aufenthalten in Paris und London, im Jahr 1847 als Neununddreißigjähriger nach Berlin zurück. Hier ließ er sich endgültig nieder, heiratete und widmete sich fortan als Lehrer und Autor konsequent der Musiktheorie.8 5

6 7 8

Weitzmann verfasste anschließend tatsächlich mindestens zwei Berichte aus St. Petersburg für die Neue Zeitschrift für Musik. Sie blieben bislang unentdeckt, weil er sie mit dem anonymisierenden Kürzel »C. D.« zeichnete. In einem Brief Weitzmanns an Robert Schumann vom 27. Juli 1836 heißt es: »Meinen Namen wünsche ich unter den einzelnen Berichten jedoch nicht genannt zu haben.« (Biblioteka Jagiellońska, Korespondencja Schumanna, Bd. 4, Nr. 438). Sein Kürzel erfahren wir aus dem Brief vom 13. Dezember 1836, den er mit »Ihr ganz ergebenster C. D.« zeichnet (Biblioteka Jagiellońska, Korespondencja Schumanna, Bd. 5, Nr. 523). Sein erster St. Petersburger Bericht erschien in Neue Zeitschrift für Musik 5/24 vom 20. September 1836, 97f., der zweite in 6/13 vom 14. Februar 1837, 53f. Erler 1887, 96. Allgemeine Musikalische Zeitung Nr. 45 vom 8. November 1837, Sp. 725–728, hier Sp. 726. Neben seinen Einkünften aus der Pension unterrichtete Weitzmann durchgängig Privatschülerinnen und -schüler, darunter Liszts Tochter Cosima, weswegen sich Adolph Bernhard Marx als Lehrer übergangen fühlte (Liszt 1900 [1859], 453). Zudem war er jeweils für mehrere Jahre als Theorielehrer an musikalischen Ausbildungsstätten angestellt, nämlich als Nachfolger von A. B. Marx am Stern’schen Conservatorium vom 1. April

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Erste musiktheoretische Publikation Im Jahr 1853 kam bei Trautwein in Berlin Der uebermaessige Dreiklang heraus, Weitzmanns erste separate Publikation. Der titelgebende Akkord sei »bisher von allen theoretischen und praktischen Musikern als ein unheimlicher Gast betrachtet worden, dessen man sich stets so bald wie möglich entledigen zu müssen glaubte«.9 Weitzmann trat an, um »dem vielfach Verkannten und Verbannten nunmehr eine bleibende Stätte im Reiche der Töne gewähren.«10 Die Schrift ist inhaltlich in mindestens zweierlei Hinsicht progressiv. Erstens legt Weitzmann seinen Überlegungen, im Gegensatz zur akademischen Musiktheorie seiner Zeit, konsequent die gleichstufige Stimmung zugrunde. Dies eröffnet ihm zweitens die Möglichkeit, einen übermäßigen Dreiklang in alle 24 Dur- und Moll-Akkorde aufzulösen und diesen auch in gewagten Progressionen parallel zu führen. Dafür gibt er selbst vier kurze Beispiele (vgl. Abb. 1). Bei den Fortführungen des Übermäßigen im ersten und dritten Exempel handelt es sich zumeist um Auflösungen in reine Dur- und Molldreiklänge. Diese werden weiter unten genauer beschrieben. Im zweiten und vierten Exempel erscheinen jedoch parallel geführte Übermäßige, im vierten sogar jeder zweite zusätzlich mit kleiner Septime. Über einem Quintfall im Bass (der auch schon im zweiten Exempel erscheint) wird auf diese Weise eine chromatisch fallende Oberstimme möglich. Solche Progressionen von Dissonanz zu Dissonanz bezeichnet Weitzmann als »Trugfortschreitungen«.11 Über direkte Folgen

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1857 bis zum 1. Juli 1863 sowie von Anfang Oktober 1866 bis Ende September 1870 an Carl Tausigs Schule des höheren Clavierspiels. Weitzmanns Lehre war durchaus konservativer als seine Schriften. Das lässt sich an einem englischen Lehrwerk von Edward Morris Bowman studieren (Bowmann 1876). Bowman hat in dieser Schrift den kompletten Weitzmannschen Lehrgang niedergelegt, den er selbst durchlaufen hat; Weitzmann hat dies ausdrücklich bestätigt und das Werk für gut befunden. Eine Übertragung ins Deutsche durch Felix Schmidt erfolgte erst nach Weitzmanns Tod unter dem Titel: Hand-Buch der Theorie der Musik von C. F. Weitzmann (Weitzmann 1888). Interessante Schlaglichter auf Weitzmanns tägliche Lehre werfen Briefe der amerikanischen Pianistin Amy Fay, die Ende der 1860er/Anfang der 1870er Jahre in Berlin studierte (Fay 1880, 22–24, 117f., 150, 179–181, 261f.). Weitzmann 1853, 1. Ebd. Ebd., 29f.

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übermäßiger Dreiklänge schreibt Adolph Bernhard Marx 1839 in seiner Allgemeinen Musiklehre, sie seien: »(bis jetzt wenigstens) noch gar nicht gewagt worden, – und wüssten auch wir nicht zu motiviren.«12 Er präsentiert dennoch ein Notenbeispiel mit parallel aufwärts verschobenen Übermäßigen, und merkt dazu an, er könne es »nicht ohne Weiteres vertreten«. Ab der 4. Auflage (1853) setzt er zum Notenbeispiel noch die Notiz »wie Hexengekeif‹« hinzu. Zu diesem Zeitpunkt hatte Liszt derartige Wendungen schon komponiert.13 Das Presseecho auf Weitzmanns Schrift Der uebermaessige Dreiklang war positiv, wenn sie auch kein Furore machte.14 Louis Köhler kommt in Signale für die Musikalische Welt auf »so manche Ansichten und Begriffe des Verfassers« zu sprechen, »welche […] befremden dürften«,15 verweist aber auf ein von Weitzmann bereits angekündigtes größeres Werk, von dem tiefere Erklärungen zu erwarten seien. Er kommt zum Schluss, dass sich »Weitzmann in seinem Werke als ein sinniger Harmoniker« erweise, und fährt fort: [S]ogar in der Darlegung des Wesens dieses einen Accordes […] heimelt uns angenehm eine warme Künstlerseele an. Geistvoll hat der Verfasser seinem Accorde jede Eigenthümlichkeit abgelauscht und seine weiten Beziehungen in höchst interessanter Weise so klar als originell dargethan. Wir verweisen alle Harmonieverständigen auf Weitzmanns Schrift, sie empfiehlt sich durch sich selber.16 Uneingeschränkt positiv urteilt Emanuel Klitzsch in der Neue Zeitschrift für Musik.17 Beide Rezensionen registrierten die teilweise »befremdliche« Originalität, mit der Weitzmann über klassische Harmonielehre hinausging, doch

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Marx 1839, 280. Zu Liszts kompositorischer Nutzung des übermäßigen Dreiklangs siehe Todd 1988 sowie Todd 1996. So äußert L. A. Zellner 1857 in Blätter für Musik, Theater und Kunst 3/79, 313–315, hier 313 (vom 2. Oktober 1857), Weitzmanns Schrift habe »nicht die Beachtung erlangt […], die sie ihrer Wichtigkeit halber verdient«. 1868 schreibt Wilhelm Tappert in seinem Aufsatz Der übermäßige Dreiklang gar: »Es werden sich Einzelne erinnern, daß Weitzmann eine Monographie über denselben Gegenstand schrieb, die freilich mehr versprach, als bot, indeß auf alle Fälle beachtet werden muss.« (Tappert 1868, 115–144, hier 116). Demnach war die Schrift 15 Jahre nach ihrem Erscheinen fast vergessen – und Tappert konnte gefahrlos aus ihr räubern. Köhler 1854, 193. Ebd., 194. Klitzsch 1854, 224f. und ders. 1856, 213f.

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die Urteile sind wohlwollend. Der Gedanke lag fern, Weitzmann wolle der »Zukunftspartei« in die Karten spielen. Das sollte sich bald ändern.

Abbildung 1: Carl Friedrich Weitzmann, Vier Beispiele zur Verwendung des übermäßigen Dreiklangs18

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Wendepunkt: Begegnung mit Liszt. Artikel für die Zukunftsmusik Noch im Jahr 1853 nahm Weitzmann Kontakt zu Liszt auf. Heinrich Dorn, dem Der uebermaessige Dreiklang gewidmet ist, bereitete in Weimar die Uraufführung seiner Oper Die Nibelungen vor.19 Am 21. Dezember sandte Weitzmann, sicherlich auf Anregung Dorns, Liszt ein Exemplar von Der uebermaessige Dreiklang. Dazu schrieb er: Werden Sie es dem Unterzeichneten verzeihen[,] wenn er Sie bittet, einen flüchtigen Blick in die beifolgende Schrift zu thun? Es ist eine, wie ich glaube, manches Neue enthaltende Abhandlung über den übermäßigen Dreiklang, und eine ähnliche, über den verminderten Septimenakkord ist bereits in den Händen des Verlegers. Die erstere habe ich meinem Freunde, dem Kapellmeister Dorn gewidmet, die zweite möchte ich dem Manne zueignen, welcher nicht allein den höchsten Gipfel der Kunst erstiegen hat, sondern sich auch jederzeit als Beschützer derselben ausgezeichnet hat. Wenn Sie also, hochgeehrtester Herr Kapellmeister, mir erlaubten, Ihren allverehrten Namen diesem unter der Presse befindlichen Werke vorzudrucken, so würde dasselbe dadurch einen Werth erlangen, den meine eigene Kraft ihm nicht zu geben vermochte.20 Liszt akzeptierte die Widmung. Wenig später reiste Weitzmann nach Weimar, um einer Aufführung von Dorns Nibelungen beizuwohnen und lernte Liszt nun persönlich kennen. Zurück in Berlin, übersandte er ihm Mitte März 1854 die frisch gedruckte Schrift Der verminderte Septimenakkord. Aus jeder Zeile seines Begleitbriefes spricht, wie beeindruckt er von Liszt, dessen Gastfreundschaft und der ganzen Weimarer Atmosphäre gewesen war: Es giebt ein deutsches Märchen von einem Kinde[,] welches im sonnigen Elfenreiche gewesen war, dort die bunten Blumen geschaut, die heiteren Spiele der Geister mitgespielt hatte und sodann bei seiner Rückkehr in die kalte Erdenwelt vor Sehnsucht nach jenem duftigen Zaubergarten fast vergehen wollte. – So muß es Jedem zu Muthe sein, der ein Mal in Ihrem gemüthlichen Weimar, in Ihrer Alles erwärmenden und durchglühenden 19

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Heinrich Dorn hat den Nibelungenstoff vor Richard Wagner bearbeitet. Die Premiere seiner Nibelungen fand laut Anschlagzettel (Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar – Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, Sign. A 10419/41, Bl. 74) am 22. Januar 1854 statt. Sie wurde 2004 in Plauen-Zwickau wieder aufgeführt. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/32,17, Nr. 1.

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Nähe gewesen und nun wieder zurückgekehrt ist in die kleinliche Alltagswelt. […] Nehmen Sie die beifolgende Schrift, deren Werth nur darin besteht, daß Sie dem Schutze Ihres Namens übergeben werden durfte, als ein Zeichen der innigsten Verehrung an[,] welche ich dem geistreichsten Künstler der Zukunft, dem herzvollsten Menschen der Gegenwart darbringe. Sie enthält die Grundzüge einer Theorie unserer freien, fessellosen »Zukunftsmusik«, sie konnte also auch nur dem Meister gewidmet werden, welcher derselben durch Wort und That die Bahn öffnete.21 Weitzmann rechnet sich hier zum ersten Mal ausdrücklich der Liszt-Partei zu, indem er von »unserer freien, fessellosen ›Zukunftsmusik‹« spricht, deren theoretische Grundzüge er erfassen wolle. Liszt war seinerseits sehr eingenommen von Weitzmann, wie eine ganze Reihe von Briefen an verschiedene Adressaten belegt. Es entwickelte sich eine echte Freundschaft zwischen den beiden, und sie traten bei verschiedenen Gelegenheiten füreinander ein. So wurde Weitzmann 1855 journalistisch für dessen Sache aktiv: Am 6. Dezember hatte Liszt in Berlin mehrere symphonische Werke präsentiert, darunter Les Préludes und Torquato Tasso. Das Urteil der konservativen Kritik fiel erwartungsgemäß negativ aus.22 Dem hielt Weitzmann unter dem Titel Franz Liszt in Berlin eine uneingeschränkt positive Kritik entgegen. Sie beginnt folgendermaßen: Eine so hervorragende, Licht und Wärme um sich verbreitende Persönlichkeit wie die des Dr. Franz Liszt gehörte dazu, um den Beweis zu liefern, daß noch nicht alle jugendlich frische Empfänglichkeit in unserem einzig und allein von möglichst alter Musik genährten Berlin erloschen sei.23 Er kommt hier zuerst auf Liszts Wesen zu sprechen, was wiederum bestätigt, dass es ihm nicht allein um dessen Musik ging, sondern dass er ihn ebenso als Menschen verehrte. Etwas später im Text bedenkt die Berliner Musikszene mit spitzzüngiger Ironie: Das Stamm-Publikum der Symphonie-Soiréen der Königlichen und der Liebig’schen Kapelle ist gewöhnt an folgende Ausrufungen: Welch’ schöner

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Carl Friedrich Weitzmann, Brief an Franz Liszt vom 16. März 1854, Goethe- und SchillerArchiv Weimar, Signatur GSA 59/32,17, Nr. 2. Zu Pressereaktionen auf das Berliner Konzert vgl. Johns 1993, 3533–3535 und 3541. Weitzmann 1855, 264.

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erster Satz! – Welch’ reizendes Andante! – Welch’ neckisches Scherzo! – Welch’ prächtiges Finale!24  – und kann damit in seinem treffenden Urtheile niemals irren, da es fast nur Haydn, Mozart und Beethoven zu hören bekommt. – Jetzt aber hatte Liszt die kühne Idee gefaßt, diesem nur aus »echten Kunstliebhabern« bestehenden Publikum Symphonien vorzuführen, welche nicht aus jenen klassischen Abtheilungen, sondern aus e i n e m Gusse beständen. »Unterhörte Frechheit!« – »Ein mit Füßen Treten aller seit so langer Zeit geheiligten Formen! –«25 Weitzmann zeichnet die Akteure und das Publikum als gleichermaßen selbstgefällig, träge und gedankenlos, und den ganzen Berliner Musikbetrieb als mehr oder weniger belanglos. Damit machte er sich in seiner Stadt vermutlich keine Freunde. Seinen Artikel beschließt er mit einem »Lebehoch!« an Liszt, und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dieser möge allen Widerständen zum Trotz Trost finden im Bewusstsein »stets nur das Wahre und Edle der Kunst erstrebt, und ihre schönsten Lorbern [sic!] und Kränze errungen zu haben«.26 Sehr dankbar reagierte Liszt nur zwei Tage nach Erscheinen des Artikels. »Vortrefflicher Freund«, schrieb er, nach allen den verminderten Septimen der Berliner Critik, hat mir Ihr freundlichst wohlklingender Drei Klang in der heutigen Nummer der Brendel’schen Zeitung einen beherzigenden, erhellenden Moment vergönnt, für welchen ich Ihnen meinen aufrichtigsten Dank sage. Daß Sie meinen bisherigen Arbeiten Ihre relative Berechtigung nicht absprechen und mich zu weiterem Schaffen und Wirken aufforde[r]n und ermuthigen, ist mir von hohem Werth, und ich verspreche Ihnen[,] das[s] ich jedenfalls mit unzweideutiger Redlichkeit und strebsamem Beharren in dem was mir meine Überzeugung in der Kunst als Nothwendigkeit oder Pflicht auferlegt, ernstlich fortarbeiten werde.27 In seinem zweiten Artikel, Franz Liszt. Symphonische Dichtungen für großes Orchester von November 1856, besprach Weitzmann bei Breitkopf & Härtel neu erschienene Liszt-Partituren. Er erschien anonym28  – vielleicht hatte er 24 25 26 27 28

Hier erscheint im Original irrtümlich ein Fragezeichen. Weitzmann 1855, 265. Ebd., 266. Staatsbibliothek Berlin, Signatur Mus. ep. Liszt, F. 25. Dass Weitzmann der Autor des Artikels ist, geht aus einem Brief von Hans von Bülow an Franz Liszt vom 3. Januar 1857 hervor (Liszt 1998 [1857], 185).

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nach seinem ersten Beitrag etwas zu viel Gegenwind bekommen. Die Form ist ungewöhnlich: Es handelt sich um zwei einander gegenübergestellte Rezensionen: links ein Verriss, der der Zeitschrift »vom Rheine« zugegangen sein soll, rechts eine Eloge »von der Spree«. Offenbar hat Weitzmann die Form, Wortwahl und Gliederung eines der Zeitschrift zugeschickten Verrisses als Schablone für eine eigene Rezension genommen, welche alle Verdikte zu Lobeshymnen ummünzt. So lesen wir zur Linken: Alle diese neuesten Compositionen Liszt’s leiden an kränkelnder Gebrechlichkeit; sie sprechen in keiner heimathlich befreundeten, sondern in einer fremden, unverständlichen Sprache zu uns, und in allem zeigt sich ein stetes Suchen nach neuen Tonverbindungen und Effecten, welche Abnormitäten aber nicht im Stande sind, die dem Tonsetzer mangelnde Erfindungsgabe zu ersetzen.29 Zur Rechten wird daraus: Durch alle diese vor uns liegenden Tondichtungen weht ein frischer, poetischer Hauch, aus allen spricht ein edler, ergreifender Gedanke in gewählten, alltägliche Gemeinplätze vermeidenden Tonverbindungen zu uns, aus allen leuchtet der schöpferische Erfindungsgeist des genialen Tonsetzers lebensprudelnd und glänzend hervor.30 Der Verriss mündet in die »öffentliche Erklärung«, dass in der ›Zukunftsmusik‹ »subjective Verhimmelung und zeugungsunfähige Reflexion für Idealität und zuchtlosester Mißbrauch aller Kunstmittel für Genialität gelten«.31 Demgegenüber fasst Weitzmann zusammen: Wir […] sind überzeugt, daß dieselben [symphonischen Dichtungen von Liszt], trotz alles bedenklichen Kopfschüttelns so mancher musikalischen Philister, sich Bahn brechen werden. Sie werden aber auch nicht den Anfeindungen der um ihr zukünftiges Schicksal besorgten erfindungslosen Nachahmer entgehen, denn:

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Weitzmann 1855, 226. Ebd. Ebd., 228.

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»Il faudroit surmonter tant d’obstacles, réunis non par la raison, mais par l’habitude et les préjugés bien plus forts qu’elle, qu’il ne paroit pas possible de forcer de si puissantes barriers: N’avoir que la raison pour soi, ce n’est pas combattre à armes égales!«32 Sehr deutlich legt die direkte Konfrontation der Rezensionen die Anatomie des Parteienstreits offen, die Art und Weise, wie der Konflikt zu weiten Teilen ausgetragen wurde. Die jeweiligen Werturteile werden kaum begründet, vielmehr weitestgehend in formelhafte Polemik eingekleidet. Gegenseitig unterstellte man sich Erfindungslosigkeit, welche, je nach Parteizugehörigkeit des Kritisierten, bei diesem zu abnormer Zuchtlosigkeit oder Philistertum führte. Weitzmanns dritter Beitrag, Zukunftsmusik, erschien, wieder unter Nennung seines Namens, im November 1857.33 In Dresden, einer Stadt, welche »schon seit Jahren von allen Schöpfungen der revolutionären neueren Tonkunst abgeschlossen gewesen«,34 hatte ein erfolgreiches Liszt-Konzert mit der Prometheus-Musik und der Dante-Symphonie stattgefunden. Weitzmann nahm das Konzert zum Anlass, Aspekte der Ästhetik der ›Zukunftsmusik‹ zu skizzieren, und zwar in Form eines Dialoges zweier Freunde bei einem Spaziergang nach dem Konzert. Der Ältere, ziemlich deutlich Weitzmann selbst, ist aus Berlin angereist. Der Jüngere, aus Leipzig, hat soeben seine Studien bei Hauptmann abgeschlossen; er hat also dieselbe akademische Schule durchlaufen, wie Weitzmann knapp zwei Jahrzehnte zuvor. Beide finden zunächst keine Worte für die »überwältigenden Gefühle«, welche Liszts Musik in ihnen ausgelöst hat, dann beginnt der Jüngere. Diese Musik trage, befürchtet er, wenn sie erst zur Herrschaft gelange »die ganze Tonkunst der Vergangenheit zu Grabe«.35 Er spricht von »sündhafte[n] Töne[n]« und der »Malerei eines Höllenbreughel«. Darauf verkündet der Ältere pathetisch: »Mich haben jene Tondichtungen in eine wehmüthige Stimmung versetzt […], der Untergang der schönen alten Götter bricht herein, und Liszt ist der Verkünder der neuen

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Ebd. Das Zitat stammt aus: Rousseau, Jean-Jacques (1743), Dissertation de la musique moderne, Paris: G. F. Quillau (Pere), i. – Übersetzung: »Man müsste so viele Hindernisse überwinden, welche nicht durch Vernunft, sondern durch Gewohnheit und Vorurteile zusammenkommen, die viel stärker sind als die Vernunft, dass es unmöglich erscheint, so mächtige Barrieren zu durchbrechen: Wer nur die Vernunft auf seiner Seite hat, kämpft mit ungleichen Waffen!« Weitzmann 1857. Ebd., 369. Ebd.

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Lehre!«36 Beiden Gesprächspartnern steht demnach der Untergang der älteren Musik vor Augen. Sie begrüßen das Neue, doch bedauern auch das Absterben des Alten. Solche Phantasien dürften zwar selbst auf dem Höhepunkt des Parteienstreits als überzogen gegolten haben, doch illustrieren sie recht gut, dass man den Einsatz, um den es im Parteienstreit ging, durchaus hoch einschätzte. Man kämpfte darum, welche Musik die historische Entwicklung begünstigen würde, wer das legitime Erbe der klassischen Musik antreten dürfe. Der Jüngere bringt nun – ebenfalls überpointiert – jenes Problem zur Sprache, vor dem Weitzmann selbst als ›Theoretiker der Zukunftsmusik‹ steht: Wie sollte eine Kunst jemals gelehrt werden können, die keine Regel anerkennt, die keine Form achtet, die alle Schranken sprengt und bald in das Gebiet der Dichtkunst, bald in das der Malerei hinüberstreift!37 Hierauf formuliert der Ältere ein musiktheoretisches und -ästhetisches Credo: Die Musik ist die l e b e n d i g e Sprache des Gemüthes, deren Grammatik niemals abgeschlossen werden kann, wie die einer t o d t e n Sprache. […] Kein Jahrhundert […] hat jemals die Formen des ihm vorangegangenen als die allein gültigen anerkannt. Kunstformen, die sich überlebt hatten, wurden bei Seite geworfen, andere wesentlich verändert und erweitert, neue geschaffen und nur die erfindungsarmen Nachahmer haben sich jederzeit in den bereits vorhandenen und von ihnen oft nur als Chablonen benutzten Formen bewegt.38 Indem er also postuliert, dass man keine ewigen musikalischen Gesetze aufstellen könne, dass sich vielmehr jede Epoche ihre eigenen, neuen Formen schaffe, weist er den damals selbstverständlichen normativen Anspruch der Musiktheorie zurück. Aufgabe seiner Theorie ist demnach die Deskription – gegebenenfalls auch die aktive Teilnahme an der Fortentwicklung der Musik.

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Ebd. Ebd. Ebd., 369f.

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Zuspitzung. Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung Im Jahr 1859 schickten sich Liszt und seine Gruppe an, einen Verein zu gründen, dessen ausdrücklicher Zweck es sein sollte, progressive Musik zu fördern, den Allgemeinen Deutschen Musikverein (ADMV).39 Dies wurde als starkes Aufbruchssignal der »Neudeutschen« wahrgenommen und je nach Parteizugehörigkeit entsprechend begrüßt oder verdammt. Weitzmann war von Anfang an in das Unternehmen eingebunden, zum Beispiel in die Ausarbeitung der Statuten im Rahmen der Tonkünstler-Versammlung 1859 in Leipzig.40 Nach vollzogener Gründung hatte er langjährig offizielle Funktionen im Verein inne.41 In Leipzig gab es neben dem Konzertprogramm (Hauptwerke waren Bachs h-Moll Messe und Liszts Graner Messe) auch eine Sektion mit Vorträgen. Franz Brendel, Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik, hielt seinen berühmt gewordenen Beitrag »Zur Anbahnung einer Verständigung«, in dem er den Terminus »Neudeutsche Schule« prägte. Er sollte den Kampfbegriff ›Zukunftsmusik‹ ersetzen und damit den Konflikt entschärfen, hatte aber eher einen gegenteiligen Effekt. Direkt danach sprach Weitzmann; sein Vortrag42 war weitgehend historischer Natur, doch postulierte er gleich zu Beginn:

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Siehe z.B. die (provisorischen) Statuten des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 53, Nr. 11 vom 7. September 1860, 89–93, und hier besonders den Paragraphen zum Vereinszweck, 89f. So lesen wir in der Neuen Zeitschrift für Musik 51/1 vom 1. Juli 1859, 5, dass bei der Leipziger Tonkünstler-Versammlung sieben »Vertrauensmänner« beauftragt wurden, die Vereins-Statuten des ADMV auszuarbeiten: August Wilhelm Ambros, Otto Bach, Franz Brendel, Louis Köhler, Franz Liszt, Julius Schäffer und Carl Friedrich Weitzmann. Weitzmann wurde bei der Weimarer Tonkünstler-Versammlung 1861 direkt in den Gründungsvorstand des ADMV sowie in dessen »engeren Ausschuss« gewählt. Darin wiederum gehörte er der musikalischen Sektion an. Er war also zusammen mit Franz Liszt, Louis Köhler, Carl Riedel und Hans von Bülow für die musikalischen Programme der Tonkünstler-Versammlungen zuständig (vgl. Pohl 1861). 1870 schied Weitzmann aus dem Vorstand aus (vgl. Neue Zeitschrift für Musik 66/26 vom 24. Juni 1870, 251). Der Titel lautet im Programmheft der Tonkünstler-Versammlung Geschichte der Harmonie in ihren Hauptmomenten, und ebenso in einem Veranstaltungsbericht von Richard Pohl (Neue Zeitschrift für Musik 50/26 vom 24. Juni 1859, 295f.). Dort erfahren wir auch, dass, anders als im Programmheft angegeben, zuerst Brendel sprach und dann Weitzmann. Publiziert wurde Weitzmanns Vortrag unter dem Titel »Geschichte der Harmonie und ihrer Lehre« in vier Teilen in der Neuen Zeitschrift für Musik (Weitzmann 1859).

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Zu allen Zeiten und in allen Ländern, und zwar hauptsächlich in den Perioden, in welchen die Nachwelt einen sichtbaren Fortschritt und Aufschwung gewahrte, sind Klagen über den gänzlichen Verfall der Tonkunst laut geworden. […] Aus diesem historischen Abrisse werden wir […] ersehen, […] daß alle Abweichungen von der alten Lehre anfangs zwar allgemeine Mißbilligung fanden, sodann aber immer mehr Freunde und Nachahmer gewannen, bis endlich die Theoretiker gezwungen wurden, ihnen als neuen Regeln oder Erlaubnissen einen Platz in der musikalischen Grammatik einzuräumen. Aus dem folgenden Ueberblick der Geschichte der Harmonie und ihrer Lehre wird endlich auch hervorgehen, daß es bis jetzt noch zu keiner Zeit eine auf unumstößliche Grundlagen basirte musikalische Grammatik gegeben hat […].43 Erneut besteht Weitzmann darauf, dass nicht etwa die Komponisten an theoretische Regeln gebunden seien, sondern umgekehrt die Theoretiker gezwungen seien, angesichts einer sich veränderten Praxis Adjustierungen in ihrer Theorie vorzunehmen. Gegen Ende seines Beitrags stellt er dann eine historische Reihe »kühne[r] Geister wie B e e t h o v e n, S c h u m a n n, B e r l i o z, W a g n e r, L i s z t u. A.« auf und mahnt, auch die von den letzteren erkämpften Innovationen endlich anzuerkennen.44 Weitzmanns Vortrag wurde zeitnah gedruckt. Hatte sein Appell erkennbare Auswirkungen? Ein Brief von Johannes Brahms an seinen Freund Joseph Joachim zeigt jedenfalls, dass der Artikel auch von der gegnerischen Partei aufmerksam gelesen wurde.

Polemiken. Die Geschehnisse um die »Erklärung« gegen die Neudeutschen Johannes Brahms befand sich im Jahr 1959 auf dem Sprung, aktiv in den Parteienstreit einzugreifen, denn er empfand die meiste Musik der Neudeutschen also ebenso unerträglich, wie deren in seinen Augen marktschreierisches Gebahren. Im August 1859 schrieb er an Joseph Joachim: Die Weimaraner machen ihren Lärm fort. Weitzmann beweist jetzt, daß vom ersten Jahrhundert nach Christus an alle Genies verkannt wären, vergißt

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Weitzmann 1859, 1. Weitzmann 1859, 27.

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aber, daß von Hucbald bis Bach und weiter alle Herrn Reformatoren als gute und die besten Musiker und Komponisten anerkannt wurden und man nur ihre »Absonderlichkeiten« oder was sonst angriff. Da man nun Liszt nie den Titel eines ziemlich guten Komponisten gegeben hat, so müßte wieder einiges Weitere erklärt werden. Die Kompositionen werden immer schrecklicher, z.B. Dante! Ich möchte, es stände nicht Einiges entschieden im Wege, um mit den Leuten umgehen zu können, aber es geht doch nicht, oder bin ich wirklich ein Philister? Mich juckt’s oft in den Fingern, Streit anzufangen, Anti-Liszts zu schreiben.45 Zwar bekundete Brahms, dass er gern guten Umgang mit »den Leuten« hätte, doch letztlich sprach in seinen Augen zu viel dagegen. Seinem Impuls »Anti-Liszts« zu schreiben, sollte er wenig später nachgeben. Er lancierte eine Erklärung gegen die Neudeutschen und bemühte sich, prominente Unterzeichner zu gewinnen. Seine »Abwehr« zielte dabei in erster Linie auf Liszt, doch wünschte er, wie aus einem Brief vom 5. Mai 1860 an Joachim hervorgeht, ausdrücklich eine Formulierung, die auch Persönlichkeiten wie Weitzmann, Joachim Raff und Eduard Lassen einschließen sollte: Bei unsrer Abwehr kann niemand an Wagner denken. Jedenfalls müßte man für Berlioz und Franz ebenso sorgen. Abfertigen, wie wir, kann man nur Liszt. […] Raff, Litolff, Laub, Rubinstein sind aus diesem und dem Grunde unmöglich. Du siehst alles so gut wie ich. Wollen wir’s weiter versuchen? Drollig, ich hatte an Lührß46 geschrieben, mit »Liszt und seinen Schülern etwa« sei nicht genug gesagt, denn Weitzmann, Raff, Lassen usw. seien das nicht!47 Brahms sah Weitzmann im inneren Zirkel derer, gegen die man vorgehen müsse. Am 9. Mai 1860 schickte er Joachim noch eine sehr explizite Einschätzung der Musik Liszts hinterher: Wie wir schreiben und abfertigen, kann man n u r L i s z t’sche Sudeleien abfertigen. Über »Verirrungen« usw. kann man debattieren und sich streiten. Eben wir können und brauchen uns durchaus solchem Scheißzeug gegenüber auf keine wissenschaftlichen Erörterungen einzulassen.48 45 46 47 48

Brahms 1908a [1859], 243f. Carl Lührß, Komponist, geb. 7. April 1824 in Schwerin, gest. 11. November 1882 in Berlin.  Brahms 1908b [1860], 268f. Brahms 1908c [1860], 274.

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Es ist bemerkenswert, dass der sonst eher zurückhaltende, eher ironische Brahms hier ausdrücklich das Feld der Argumentation verlassen sehen will, ungewohnt heftige Ausdrücke (»Sudeleien«, »Scheißzeug«) wählt und einzig und allein auf konfrontative Polemik (»abfertigen«) setzt. Zu seinem Leidwesen verlief dann aber die Erklärung der Konservativen alles andere als plangemäß. Durch eine Indiskretion gelangte sie vorzeitig in die Hände des Neudeutschen Lagers. Aus einem Brief Hans von Bülows an Felix Draeseke wissen wir, dass es Weitzmann war, der daraufhin eine bissige Parodie verfasste. Sie wurde nach Weimar geschickt und dort leicht »abgeschwächt«,49 bevor sie anonym am 4. Mai 1860 in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien. Die Publikation erfolgte mithin einen Tag vor dem oben zitiertem Brief von Brahms, der erst später davon erfuhr. Der Text der Parodie sei hier komplett wiedergegeben: Gefürchteter Herr Redacteur! Alles ist a u s! – – – Es soll ein Staatsstreich a u s geführt, die ganze neue Musik mit Stumpf und Stiel a u s gerottet, und namentlich Weimar und Leipzig a u s der musikalischen Weltkarte gestrichen werden. Zu diesem Zweck wurde ein weit a u s hohlender Schreibebrief a u s gearbeitet, und an a u s gewählte Gutgesinnte aller Länder a u s geschickt, worin man a u s führlich und stark a u s fallend gegen die mehr und mehr um sich greifende Epidemie der Zukunftsmusik protestirt. Der A u s schuß dieses A u s bundes zählt mehrere A u ß e r sichseiende, deren Namen die neueste Kunstgeschichte aber noch nicht a u s findig machen konnte. Falls jedoch die Lawine der Unterschriften sich groß genug a u s dehnen könnte, soll der Sturm sodann urplötzlich a u s brechen. Obgleich von Seiten der A u s hecker dieses musikalischtragischen Gar a u s den A u s erwählten das strengste Geheimniß anbefohlen wurde, ist es mir dennoch gelungen, Einsicht in das Original zu nehmen, und ich freue mich, Ihnen, gefürchteter Herr Redacteur, im Nachfolgenden dieses zeitgemäße Actenstück mittheilen zu können, indem ich verbleibe Ihr ganz ergebener F e g w e g.

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von Bülow 1898, 213.

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»Oeffentlicher Protest.« »Die Unterzeichneten wünschen auch einmal die erste Violine zu spielen, und protestiren deßhalb gegen Alles, was ihrem dazu nöthigen Emporkommen im Wege liegt – mithin namentlich gegen den zunehmenden Einfluß der, von Dr. B r e n d e l als neudeutsche Schule bezeichneten musikalischen Richtung, wie überhaupt gegen jeden Geist in der neuen Musik. Nach Vernichtung dieser ihnen sehr unangenehmen Dinge stellen sie dagegen allen gleichartigen Wohlgesinnten einen Bruderbund für »unaufregende und langweilende Kunst« in sofortige Aussicht.« »Mitleidende Seelen werden dringend zum Beitritt ermahnt.« »D i e R e d a c t i o n d e r A u s k u n f t s m u s i k.« (Unterzeichnet:) »J . G e i g e r. H a n s N e u b a h n. P a n t o f f e l m a n n. P a c k e. K r e t h i u n d P l e t h i.«50 Unschwer ist hinter dem ersten verballhornten Namen Joseph Joachim zu erkennen und hinter dem zweiten Johannes Brahms, hatte doch Schumann in seinem Artikel Neue Bahnen Brahms als neuen musikalischen Auserwählten angekündigt. Wer mit »Pantoffelmann« gemeint ist, ist unklar, »Packe« ist jedoch mit ziemlicher Sicherheit Selmar Bagge, ein Brahms-Freund und strikt konservativer Parteigänger, der gerade kurz zuvor, am 3. März 1860, in der von ihm herausgegebenen Deutschen Musik-Zeitung einen toxischen Verriss zu einem Liszt-Konzert publiziert hatte. Es war wohl diese Kritik, die ihm die zweifelhafte Ehre eintrug, von Weitzmann verballhornt zu werden. Wenig später sollte es zu einem direkten Schlagabtausch zwischen Weitzmann und Bagge kommen, wie weiter unten im Text noch diskutiert werden wird. War die Veröffentlichung der Parodie bereits ein böser Rückschlag für die Konservativen, so kam es nur zwei Tage später noch schlimmer. Die Berliner Musikzeitung Echo publizierte am 6. Mai 1860 das unfertige Manifest im Wortlaut, gezeichnet mit nur vier statt der geplanten mindestens zwanzig klangvollen Namen:51 50 51

Weitzmann [»Fegweg«] 1860b, 169f. Einen Tag zuvor, am 5. Mai 1860, schrieb Brahms an Joachim, er habe bereits viel mehr Unterzeichner gewonnen: »Unsre ›Erklärung‹ haben unterschrieben die Bekannten vom Rhein, Kirchner, v. Perfall, Reinecke, E. Naumann. Meinardus auch, doch hofft er, es unterbleibt und wird stattdessen vielleicht eine Zeitschrift gegründet. G. Schumann und Krigar haben unterschrieben, doch kommen jetzt vielleicht ihre Berliner Freunde nachgehinkt. Flügel, Schäffer tun’s nicht […]. Von Volkmann habe ich keine

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Unter den hiesigen Tonkünstlern cirkulirt eine Adresse der Hrn. Brahms, Joachim und Grimm, worin sie der Parthei der Z u k u n f t s m u s i k e r einen Absagebrief schreiben und ihre Kunstgenossen zur Unterschrift auffordern. Die Erklärung lautet: »Die Unterzeichneten haben längst mit Bedauern das Treiben einer gewissen Partei verfolgt, deren Organ die Brendel’sche Zeitschrift für Musik ist. Die genannte Zeitschrift verbreitet fortwährend die Meinung, es stimmten im Grunde die ersten strebenden Musiker mit der von ihr vertretenen Richtung überein, erkennten in den Compositionen der Führer eben dieser Richtung Werke von künstlerischem Werth, und es wäre überhaupt namentlich in Norddeutschland der Streit für und wider die sogenannte Zukunftsmusik und zwar zu Gunsten derselben ausgefochten. Gegen eine solche Entstellung der Thatsachen zu protestiren halten die Unterzeichneten für ihre Pflicht und erklären wenigstens ihrerseits, daß sie die Grundsätze, welche die Brendel’sche Zeitschrift ausspricht, nicht anerkennen, und daß sie die Produkte der Führer und Schüler der sogenannten »N e u d e u t s c h e n « Schule, welche theils jene Grundsätze praktisch zur Anwendung bringen und theils zur Aufstellung immer neuer unerhörter Theorien zwingen, als dem innersten Wesen der Musik zuwider, nur beklagen oder verdammen können. Johannes Brahms. Joseph Joachim. Jul. Otto Grimm, Bernh. Scholz.«52 Brahms hatte sich mit seiner »Abwehr« der Neudeutschen die Finger verbrannt. Es sollte sein erster und letzter öffentlicher Vorstoß im Parteienstreit bleiben. In inhaltlicher Hinsicht überrascht, dass sich das Manifest zuerst gegen Brendels Neue Zeitschrift für Musik richtet, die als aggressives und verfälschendes Propagandablatt der Neudeutschen gebrandmarkt wird. Erst danach kommt die Sprache auf die komponierenden »Führer und Schüler« der ›Zukunftsmusik‹, deren »Produkte« – hier wird gezielt nicht von »Werken« gesprochen53  – als widermusikalisch hingestellt werden. In diesem Zusammenhang ist dann auch von den »immer neuen unerhörten Theorien« der Neudeutschen die Rede; dies zielt direkt auf Weitzmann. Wenig überraschend fällt Weitzmanns Urteil über Brahms in seiner wenig später

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Antwort […]. Bagge und Bruyck halten ihre Unterschrift natürlich für unnütz.« (Brahms 1908b [1860], 268) Berliner Musik-Zeitung Echo 10/18 vom 6. Mai 1860, 142. Brahms legte besonderen Wert darauf, im Falle von Liszts Kompositionen von »Produkten« anstatt von »Werken« zu sprechen (Brahms 1908c [1860], 274).

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publizierten Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur ungünstig und durchaus ›parteiisch‹ aus.

Die Brahms-Einträge in Weitzmanns Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur Die erste Auflage der Geschichte des Clavierspiels erschien 1863; das Buch verkaufte sich recht gut, so dass Weitzmann im Jahr 1879 eine revidierte und stark erweiterte 2. Auflage vorlegen konnte.54 Selbstverständlich räumte Weitzmann, wie oben erwähnt, in beiden Ausgaben Liszt und seiner Schule breiten Raum ein und stellte sie sowohl pianistisch als auch kompositorisch in das beste Licht. Sehr unterschiedlich fallen jedoch seine Notizen zu Johannes Brahms aus. Der Eintrag von 1863 ist betont negativ: Ein thätiger Zögling jener [schumannschen] Schule, den Robert Schumann selbst 1853 als einen Kunstmessias in die musikalische Welt einführte (Neue Zeitschrift für Musik), ist Johannes Brahms […], welcher indessen die hierdurch auf’s Höchste gespannten Erwartungen durch seine bisher veröffentlichten Compositionen noch keineswegs erfüllt hat. Er ist von Eduard Marxen […] zur Musik ausgebildet worden, die in Nro. 12, 1862, der Neuen Zeitschrift für Musik von einem seiner Verehrer mitgetheilten höchst unsauberen und gezwungenen Proben seines contrapunktischen Satzes lassen jedoch noch nicht den vollendeten Musiker erkennen, obgleich dort bemerkt wird: »Man sieht, es ist die alte thematische Kunst Haydn-Beethovens, die auch B r a h m s anwendet«!! In den Letzteren Tonsätzen finden wir neben den gewöhnlichsten Phrasen oft übel angebrachte harmonische Härten, welche sich die offen dem Fortschritt huldigenden begabteren Jünger der neudeutschen Schule nicht erlauben würden.55 Unschwer sind hier Ressentiments herauszulesen. Brahms habe Schumanns prophetische Ankündigung bislang mitnichten eingelöst. Allerdings muss selbst Weitzmann zugestehen, dass sich in dessen bis dahin herausgegebenen Klavierwerken (opp. 1, 2, 4, 8–10 und 15) »häufig auch Züge vorfinden, die von Geist und Erfindungskraft zeugen«. Ganz anders liest sich nun aber der Eintrag von 1879: 54 55

Das Projekt einer dreibändigen Neuauflage beinahe 20 Jahre nach Weitzmanns Tod kam jedoch nicht über den ersten Band hinaus. Weitzmann 1863, 148f.

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Johannes Brahms […], angeregt durch Robert Schumann, der den Musiker von Gottes Gnaden sofort in ihm erkannt hatte, trat schon in seinen frühesten Compositionen als einer der kühnsten Neuromantiker auf. Gleich sein erstes Werk, die S o n a t e in C dur […] ist erfüllt von übersprudelnder, glühender Phantasie und wilder, noch ungezügelter Jugendkraft. Erst nach und nach hat er den Inhalt seiner Clavierwerke verständlicher angeordnet, die schroffen Modulationen und Accordfolgen in denselben verworfen und sie dem Spieler auch ihrer äusseren Form nach ausführbarer gestaltet. Dieser Fortschritt beginnt schon mit der F i s m o l l - S o n a t e , op. 2 […] und dem S c h e r z o in Es moll, op. 4. […] [I]n den L i e b e s l i e d e r n […] op. 52 […] tritt er uns schon in seiner ganzen Liebenswürdigkeit als d e u t s c h e r Tonsetzer entgegen, und in den zwei Heften S t u d i e n, Variationen über ein Thema von Paganini, op. 35 […], bietet er den Pianisten ein brillantes Feuerwerk glänzend aufsprühender Passagen, buntfarbiger Spielarten und überraschender Klangeffecte.56 Ende der 1870er Jahre hatte Brahms sich so umfassend durchgesetzt und war so allgemein anerkannt als großer Komponist, dass sich Weitzmann mit einem Urteil wie demjenigen von 1863 selbst diskreditiert hätte. Auch hatte sich der in den Fünfzigern und Sechzigern so heiß geführte Parteienstreit etwas abgekühlt. So wurden beispielsweise schon seit 1869 regelmäßig Werke von Brahms beim Allgemeinen Deutschen Musikverein aufgeführt. 1887 sollte Brahms gar selbst dem Verein beitreten – nota bene erst kurz nach Liszts Tod. Aus Weitzmanns Eintrag von 1879 spricht allerdings keine gezwungene Anerkennung. Vielmehr scheinen die Animositäten einer aufrichtigen Bewunderung gewichen zu sein.

Höhepunkt. Die Affäre um das Harmoniesystem Parallel zu oben geschilderten Geschehnissen um die »Erklärung« gegen die Neudeutschen erschien Weitzmanns Harmoniesystem. Daran entzündete sich der größte Disput seiner Karriere. Zur Feier des 50. Bandes der Neuen Zeitschrift für Musik im Jahr 1859 hatte Franz Brendel in der ersten Nummer einen Aufsatzwettbewerb ausgeschrieben.57 Gefordert wurde eine »Erklä-

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Weitzmann 1879, 205f. Siehe auch Rehding 2003, 40–43.

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rende Erläuterung und musikalisch-theoretische Begründung der durch die neuesten Kunstschöpfungen bewirkten Umgestaltung und Weiterbildung der Harmonik«. Der Jury sollten Hauptmann, Liszt und Weitzmann angehören, Hauptmann trat jedoch vorzeitig zurück. Er befürchtete, von den beiden anderen Juroren überstimmt zu werden und dann für eine Schrift einstehen zu müssen, die er eigentlich ablehnte.58 Seinen Platz übernahm der Komponist und Theoretiker Johann Christian Lobe. Drei Beiträge gingen ein, wurden anonymisiert an die Juroren weitergeleitet und bewertet. Überaus pikant ist nun, dass die Schrift, die den ersten Preis davontrug, von Weitzmann selbst stammt.59 Nun war es ohnehin zu erwarten, dass die Gegner der ›Zukunftsmusik‹ die prämierte Schrift verreißen würden, doch die Anrüchigkeit der Preisvergabe gab ihnen ganz unabhängig vom Inhalt auch allen Grund dazu. Und es half natürlich nichts, dass Weitzmann versicherte, er habe sich bei seiner eigenen Schrift der Stimme enthalten, mit dem Vorwand, dass »sie von einem Freunde herrühre«.60 Das Harmoniesystem wurde zunächst Anfang 1860 in neun Teilen in der Neuen Zeitschrift für Musik abgedruckt, und erschien zusammen mit den letzten Folgen im Mai 1860 als separate Broschüre.61 In einer Rezension in der Niederrheinischen Musik-Zeitung lesen wir dazu: Bekanntlich hatten die Führer oder Anhänger der Zukunftsmusik im vorigen Jahre das Gelüste gespürt, neben dem ästhetischen und weltphilosophischen Geschwätz, welches ihre bereits entbundenen oder noch in den Wehen begriffenen Kunstgeburten als nie da gewesene Wunderkinder anzukündigen strebte, auch einmal durch musikwissenschaftliches Raisonnement ihre Zeugungsweise darlegen zu lassen und der erstaunten Welt

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Siehe Hauptmann 1871a [1859], hier besonders 183f. Ferdinand Peter Graf Laurencin wurde der zweite Platz zugesprochen. Seine Preisschrift erschien in Neue Zeitschrift für Musik 54/1–7 und im selben Jahr bei Kahnt als Einzelausgabe. Ein dritter Preis wurde nicht vergeben. So kolportiert von Selmar Bagge (1860) in Deutsche Musik-Zeitung 1/30, 233. Siehe Hofmeister, Monatsberichte Mai 1860, 92. Die Schrift scheint sich eines gewissen kontinuierlichen Interesses erfreut zu haben, jedenfalls genug, dass Kahnt Nachf. 1895 oder 1896 eine »Neue Auflage« herausbrachte. Zum Jahr der Publikation vgl. Hofmeister, Monatsberichte Februar 1895, 72 und Mai 1896, 258. Aus erstem Eintrag geht nicht hervor, ob bereits die neue Auflage gemeint ist, oder ob es sich um eine Werbung zum Abverkauf der Restauflage handelt, bei letzterem steht dann klar »Neue Aufl.«.

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die Gliederung und Gestaltung der dadurch entstandenen Geschöpfte als erwachsen aus einer rationel begründeten, nagelneuen Theorie einzureden. […] Jedermann weiß, dass C . F . W e i t z m a n n dem Rufe folgte und dass seine Schrift gekrönt wurde; – von wem? Darauf kommt nichts an, da ohne Zweifel angenommen werden kann, dass die Ueberzeugung des e i n e n Preisrichters Satz für Satz mit der des Verfassers übereinstimmte.62 Reaktionen wie diese waren absehbar und es ist schwer begreiflich, wie sich Weitzmann sehenden Auges in eine solche Lage manövrieren konnte. Nun kam es zu einem regelrechten Schlagabtausch um die Schrift. Hauptakteure war, neben Weitzmann, die in Wien ansässige Deutsche Musik-Zeitung mit ihrem Herausgeber Selmar Bagge und dem Redakteur Carl Debrois van Bruyck sowie im Nachgang der hessische Musiktheoretiker und Komponist Franz Joseph Kunkel, der seine Kritik gar als separates Bändchen publizierte. Flankiert wurde der Disput von weiteren Zeitschriften mit Berichten, Stellungnahmen und eigenen Rezensionen. Hier folgt die Chronologie des Hauptstranges: 1. 6. Januar bis 25. Mai 1860: Carl Friedrich Weitzmann, »Gekrönte Preisschrift«, Neue Zeitschrift für Musik 52/2–9. Sodann Mai 1860 separate Publikation unter dem Titel Harmoniesystem bei Kahnt in Leipzig [63 Seiten]. 2. 28. Januar 1860: Ankündigung einer Rezension der »Gekrönten Preisschrift«, Deutsche Musik-Zeitung 1/5, 39. 3. 21./28. Juli 1860: Selmar Bagge [»S. B.«], Rezension »Die gekrönte Preisschrift von C. F. Weitzmann«, Deutsche Musik-Zeitung 1/30–31, 233–235, 241–243. 4. Anfang 1861: Carl Friedrich Weitzmann, Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten bei Kahnt in Leipzig [28 Seiten]. 5. 18. Mai 1861: Carl Debrois van Bruyck [»v. Br.«], Rezension »Die neue Harmonielehre im Streit mit der alten[.] Von C . F. Weitzmann«, Deutsche Musik-Zeitung 2/20, 153–156. 6. 8./15. Juni 1861: Selmar Bagge, »Die alte Harmonielehre im Streit mit der neuen«, Deutsche Musik-Zeitung 2/23–24, 177–179, 185–188.

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Anonymus (1861), in: Niederrheinische Musik-Zeitung 9/46, 361.

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Fluchtpunkte —

7. 1863: Franz Joseph Kunkel, Kritische Beleuchtung des C.F. Weitzmann’schen Harmoniesystems (gekrönte Preisschrift), und des Schriftchens: »Die neue Harmonielehre im Streit mit der alten«, Frankfurt a.M.: Auffahrt [59 Seiten].

Bagges Rezensionen in der Deutschen Musik-Zeitung fallen bemerkenswert detailliert aus. Man kann ihm jedenfalls nicht vorwerfen, er habe sich nicht gründlich mit Weitzmanns Schrift befasst. Im Gegenteil arbeitet er sich Kapitel für Kapitel durch das Harmoniesystem und anschließend noch einmal durch Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten. Mit maliziöser Genugtuung deckt er Schwächen auf. Allgemein bemängelt er, dass im Harmoniesystem beileibe nicht alles neu sei, dass beispielsweise vieles unausgesprochen auf Hauptmann zurückgehe. Auch legt er den Finger auf unkommentierte Widersprüche. Hier ist nicht der Raum, diese im Einzelnen zu diskutieren. In den folgenden Abschnitten soll es vielmehr um Weitzmanns eigenständigere, und damit zugleich kontroversere Überlegungen gehen.

Theorie (I). Gleichstufige Temperatur Die gleichstufige Temperatur war Mitte des 19. Jahrhunderts in der musikalischen Praxis längst fest etabliert, in der Theorie lagen die Dinge jedoch anders. Musiktheorie mit Wissenschaftsanspruch, wie diejenige Hauptmanns, rechnete, in einer mit Antike-Rezeption durchwirkten Form von Physikalismus, selbstverständlich mit reinen Intervallen in ganzzahligen Proportionen.63 Hier hatte die in der praktischen Musik vollkommen irrelevante »reine Stimmung«64 späte Konjunktur. Weitzmann ging dagegen konsequent von der

63 64

Vgl. zum Disput um die gleichstufige Stimmung auch Watson 1988, 58–61 sowie Rudd 1992, 14–24. In der sogenannten »reinen Stimmung« stehen die Grundtöne der drei Hauptakkorde einer Tonart (in C-Dur also C, F und G) im Abstand reiner Quinten zueinander und sind auch selbst rein gestimmt (mit reiner großer Terz 4/5 und reiner Quinte 2/3). Damit ergibt sich zwischen der II. und VI. Leiterstufe (hier d-a) eine Quinte, die um ein syntonisches Komma (80/81; entspr. ca. 21,51 Cent) zu klein ist. Darum definierten manche Theoretiker den Akkord der II. Stufe in Dur (hier: d-Moll) entgegen jeder Praxis als dissonant.

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

Praxis seiner Zeit aus und erklärte 1853 die gleichstufige Stimmung zur Grundlage seiner Theorie.65 U n s e r h e u t i g e s T o n s y s t e m ist aus einer temperirten Quintenfolge gebildet worden[,] indem jede dieser Quinten dergestalt verkleinert worden ist, dass, wenn die 13 Töne derselben in eine gedrängte Lage gebracht werden, der Anfangston […] und der Endton […] dem Klange nach eine reine Oktav bilden.66 Diese Aussage wiederholt sich in etwas veränderten Formulierungen in vielen seiner Schriften. Weitzmann bewertet nicht die (mathematische) Richtigkeit oder Angemessenheit der gleichstufigen Stimmung, vielmehr wählt er sie aus pragmatischen Gründen, denn nur sie eröffnet neue satztechnische Möglichkeiten, wie sie in der Musik seiner Zeit tatsächlich eine zunehmende Rolle spielen: Durch das Aufgeben jener mathematischen Reinheit der Tonverhältnisse, mit Ausnahme der Octaven, gewinnen wir die Enharmonik, eins der wirksamsten Mittel der neueren Tonkunst, um auch die entferntesten Tonverwandten mit einander in Verbindung zu bringen.67 An der Enharmonik schieden sich erwartungsgemäß die Geister. Hauptmann fand (im Zusammenhang mit dem oben besprochenen Aufsatzwettbewerb) eine originelle Metapher: Ich bin gebeten worden[,] bei einer Preisaufgabe der Brendelschen Zeitung »Ueber die Erweiterung der Harmonie in der neuen Schule« eine Stimme zu übernehmen, die andern Preisrichter sind Liszt und Weitzmann. Das macht mir Spaß, weil ich von keiner Erweiterung eines an sich in Gesetzen Unendlichen mir etwas denken kann: alle Harmonie, die nur auf dem Tastenkasten ihre Natur hat, aber nicht für lebensfähig erklären kann: sogenannt »enharmonische« also n i c h t. In Kärnthen habe ich in einer Poststube einmal eine gemalte Dreieinigkeit gesehen: das war ein Gesicht mit drei Nasen und 65

66 67

Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass er Gleichstufigkeit für die neuere Instrumentalmusik voraussetzt, nicht aber für Vokalmusik, insbesondere solche im sakralen Raum (vgl. z.B. Der verminderte Septimenakkord, [Weitzmann 1854, 44] und Zukunftsmusik [Weitzmann 1857, 377]). Hier zeigt sich einer der stellenweise überraschend konservativen Züge Weitzmanns. Weitzmann 1853, 5f. Weitzmann 1860a, 3.

141

142

Fluchtpunkte —

vier Augen °|°|°|° wo die mittelsten zwei Augen zweien Nasen gemeinschaftlich, enharmonisch, dienen mussten – das Ding war nicht ungeschickt um die Kopfform eingetheilt, aber eine höchst widrige Mißgeburt war es.68 Hauptmann verwirft die gleichstufige Stimmung nicht allein theoretisch, sondern qualifiziert sie mit dem auf die Limitierungen des Klaviers zielenden Begriff »Tastenkasten« auch für die Musikpraxis ab. Noch deutlicher wird Selmar Bagge in seiner Rezension des Harmoniesystems: Zunächst ist zu bemerken, daß das […] Z w ö l f t o n s y s t e m (nach welchem nämlich nicht mehr Töne angenommen werden, als T a s t e n innerhalb der Octave liegen […], ein irriges ist. Ein »System« läßt sich nur auf das innere Wesen der Sache begründen; das ist aber in der Musik nimmermehr die T e m p e r a t u r, welche nur ein äußerlicher Nothbehelf genannt werden kann[.]69 Die »Unwahrheit oder Unvollkommenheit« zur Basis der Theorie zu machen, fährt er fort, heiße »so viel, als die Sünde zur Grundlage der Moral machen«.70 Der fundamentale Einwand gegen die Gleichstufigkeit als ›Erbsünde‹ hält Bagge nicht davon ab, anschließend auch seine übrigen Vorbehalte gegen die Weitzmannsche Theorie in aller Ausführlichkeit auszubreiten.

Theorie (II). »Weicheres Dur« und »härteres Moll« Ein wichtiger Baustein des Theoriegebäudes von Weitzmann ist seine Herleitung der Dur- und Molltonart, und hier vor allem des von ihm so genannten »weicheren Dur« und »härteren Moll«. Diese beiden Varianten werden später für die Frage der Leitereigenheit verschiedener Akkorde bedeutsam. Die DurSkala ergibt sich ganz klassisch aus den Tönen der drei Dreiklänge über dem »Hauptton«, sowie dessen Ober- und Unterquinte. Speziell ist nun aber, dass Weitzmann als achten, quasi noch diatonischen Ton die kleine Sexte über dem Hauptton zulässt (in C-Dur also ein as), um die Dur-Tonart »weicher zu stimmen«.71 Damit wird nicht nur die in der Romantik beliebte Moll-Subdominante erreichbar, sondern auch der übermäßige Dreiklang auf der erniedrigten VI. 68 69 70 71

Hauptmann 1871b [1859], 160. Deutsche Musik-Zeitung 1/30 vom 21. Juli 1860, 233. Ebd. 234. Weitzmann 1860a, 7.

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Stufe (hier: as-c-e) und der verminderte Septakkord auf der VII. (hier: h-d-f-as). Vor allem aber benötigt Weitzmann die Alteration in Dur, um symmetrisch die in Moll ganz unerlässliche erhöhte siebte Stufe herzuleiten.72 Er konstruiert die Moll- als Spiegelbild der Durskala: [W]enn die melodische Durtonleiter mit dem G r u n d t o n e des Hauptdreiklanges beginnt und stufenweise hinaufsteigend mit einem Halbtone in die Octave desselben leitet […], so beginnt die melodische Molltonleiter mit der Q u i n t e des Hauptdreiklanges und steigt stufenweise in denselben Intervallen herab, ebenfalls mit einem Halbtone in die Octave ihres Ausgangspunctes leitend.73 Hier ist unverkennbar dualistisches Denken wirksam, das Weitzmann bei seinem Lehrer Hauptmann gelernt hat.74 Entsprechendes gilt auch für das Verhältnis der »härteren Molltonart« zum »weicheren Dur«: Wenn […] die Durtonart zuweilen durch den weichen U n t e r d o m i n a n t d r e i k l a n g milder gestimmt wir, so wird noch häufiger die Molltonart kräftiger durch einen harten O b e r d o m i n a n t d r e i k l a n g gestaltet[.]75 Für C-Dur und a-Moll ergibt sich also ein achttöniger ›erweitert diatonischer‹ Tonbestand: C-Dur:   c   d   e   f   g  as     a   h   c a-Moll:             e   f   g  gis   a   h   c   d   e Der enharmonische Ton gis/as gehört beiden Tonarten an. Mit ihm gewinnt Weitzmann, ohne die Symmetrie zu brechen, in Dur und Moll je einen klanggleichen übermäßigen Dreiklang und verminderten Septakkord.

72 73 74 75

Ebd. 9f. Weitzmann 1860a, 9f. Vgl. Hauptmann 1853. Weitzmann 1860a, 10.

143

144

Fluchtpunkte —

Theorie (III). Akkordfortschreitungen Akkordfortschreitungen sind Weitzmanns vielleicht wichtigstes theoretisches Arbeitsfeld.76 Eines seiner zentralen Anliegen ist es, neuartige Fortschreitungen, wie sie in der Musik der Neudeutschen Schule zu finden sind, zu beschreiben und weiterzuentwickeln. Er macht sich allerdings nicht die Mühe, solche Fortschreitungen in der Originalliteratur aufzufinden. Insofern kann man seine Theorie eigentlich nicht, wie es zuweilen geschieht, empirisch nennen.77 Vielmehr entwirft er Fortschreitungssysteme auf Basis axiomatisch gesetzter Prämissen. Sie laufen (mit wenigen noch zu besprechenden Ausnahmen) darauf hinaus, dass ein konsonanter Akkord in jeden anderen konsonanten Akkord fortschreiten, und ein dissonanter Akkord sich »regelmäßig« in jeden beliebigen konsonanten Akkord auflösen könne. Vermittels einer »Trugfortschreitung« können alle Akkorde auch in jeden beliebigen dissonanten Akkord fortschreiten. Dies käme nun absoluter Beliebigkeit gleich, hätte er nicht die Fortschreitungen nach dem Grad ihrer Verwandtschaft geordnet. Fortschreitungen eng verwandter Akkorde besitzen eine große syntaktische Kraft, und je entfernter die Akkorde sind, desto größer ist die harmonische Überraschung. Ausdrücklich warnt Weitzmann vor zu ausgiebigem Gebrauch entlegener Verbindungen. Man solle Accorde von entfernter Verwandtschaft nicht in zu rascher Bewegung unmittelbar aufeinander folgen […] lassen, um dem Ohre die Zeit zu gönnen, auch den i n n e r e n Zusammenhang der Harmonien zu erfassen.78 Letztlich sieht er die Verantwortung für das richtige Maß aber nicht auf Seiten der Theorie, sondern auf denen der Komponisten:

76

77 78

Am Rande sei erwähnt, dass Weitzmann für die »neuere musikalische Grammatik« das Quintparallelen-Verbot aufgehoben hat (Weitzmann 1860a, 5f. und Weitzmann 1861, 10–12. In letzterem Werk finden sich zusätzlich im Anhang auch drei »Albumblätter zur Emancipation der Quinten« und eine kurze »Anthologie klassischer Quintparallelen«). Das hat natürlich starken Widerspruch erregt. Allerdings bemerkt Weitzmann selbst einschränkend: »Dem Schüler aber wird der verständige Lehrer unschöne Quintenfolge ebensowol verbessern[,] wie eine geschmacklose Terzen- oder Sextenfolge« (Weitzmann 1860a, 5f.). Im Harmoniesystem (Weitzmann 1860a, 12–14) diskutiert er sogar verdeckte Quintparallelen und will einige davon vermieden wissen. So spricht beispielsweise Rachel E. Rudd von der »empirical nature of Weitzmann’s work« oder von einem »empiricist like Weitzmann« (Rudd 1992, 81 und 86). Weitzmann 1860a, 19.

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

Frei und ungebunden sollen nun diese Zusammenklänge zwar nicht in zügelloser Willkür einherschreiten, aber die Benutzung des damit eröffneten weiten Feldes für neue Akkordfolgen, für die entferntesten Ausweichungen und Uebergänge soll nunmehr dem geläuterten Geschmacke, dem gebildeten Schönheitssinne des Tonsetzers überlassen bleiben. Er wird es zwar verschmähen, nach neuen Akkordbildungen, nach auffallenden Harmonieschritten und Wendungen zu haschen, aber er wird sich auch nicht scheuen, überharte und überweiche Zusammenklänge und Harmoniefolgen zu benutzen, welche dem Ausdrucke der Wahrheit für den Inhalt seines Werkes entsprechen, auch wenn diese Mittel nicht die Erlaubniss älterer Theorien finden sollten.79 Es sollen hier alle von Weitzmann entwickelten Akkordfortschreitungs-Systeme vergleichend betrachtet werden. Im heutigen theoretischen Diskurs werden fast nur diejenigen des übermäßigen Dreiklangs diskutiert – und selbst diese zumeist nicht komplett. Weitzmann bietet jedoch auch Systeme für Fortschreitungen zwischen zwei konsonanten Dreiklängen sowie Auflösungen verschiedener Septakkorde. Die Gesamtschau soll ermöglichen, Weitzmanns übergeordneten Kriterien herauszuarbeiten. Bereits hier sei erwähnt, dass dies stellenweise nicht einfach ist, weil seine Darstellung auf einigen impliziten Annahmen basiert und darüber hinaus nicht immer konsistent ist.

Der uebermaessige Dreiklang In der Vorbemerkung zu Der uebermaessige Dreiklang erklärt Weitzmann, er wolle diesem Akkord, der bislang als »unheimlicher Gast« betrachtet worden sei, diesem »vielfach Verkannten und Verbannten nunmehr eine bleibende Stätte im Reiche der Töne […] gewähren«: Es ist […] meine Absicht, durch diese Schrift das Dunkel seiner Abkunft zu lichten, seine ausgebreiteten Verwandtschaften nachzuweisen, sein unzertrennliches Bündniss mit allen bei uns längst heimischen verminderten Septakkorden darzuthun, und überhaupt eine ausführliche Darstellung seines geheimnissvollen und vielseitigen Charakters zu geben.80

79 80

Weitzmann 1854, 44. Weitzmann 1853, 1.

145

0

gebundene Töne

0

4

H-Dur

h-Moll

5

Es-Dur

es-Moll

nötige Halbtonschritte

G-Dur

g-Moll

Akkorde

3. Grad

4. Grad

Verwandtschaftsgrade

1

2

c-Moll

e-Moll

as-Moll

2. Grad

Auflösungen abwärts

2

1

C-Dur

E-Dur

As-Dur

1. Grad

C-Übermäßig [c-e-gis]

Spannungsakkord

Tabelle 1: Grade der Auflösungen eines übermäßigen Dreiklangs nach Weitzmann

2

1

f-Moll

a-Moll

des-Moll

1. Grad

1

2

F-Dur

A-Dur

Des-Dur

2. Grad

0

4

fis-Moll

b-Moll

d-Moll

3. Grad

Auflösungen aufwärts

0

5

Fis-Dur

B-Dur

D-Dur

4. Grad

146 Fluchtpunkte —

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

Weitzmann bemisst die Verwandtschaftsgrade eines übermäßigen Dreiklangs zu seinen Auflösungen alternativ zur traditionellen Denkweise in Quintbeziehungen der Grundtöne nach der Zahl der für die Auflösung erforderlichen Halbtonschritte. Von einem ausgewählten übermäßigen Dreiklang aus sind sechs Dur- und Moll-Dreiklänge mit nur einen Halbtonschritt erreichbar (von Cü sind dies: As-, E- und C-Dur sowie des-, a- und f-Moll; vgl. hierzu stets Tab. 1). Eine etwas entferntere Verwandtschaft besteht zu solchen Dur- und Moll-Dreiklängen, die mit zwei Halbtonschritten erreichbar sind (von Cü also: Des-, A- und F-Dur sowie as-, e- und c-Moll, die Variantklänge der erstrangigen Zielakkorde). Alle bislang beschriebenen Fortschreitungen haben mindestens einen gemeinsamen Ton. Diese Eigenschaft ist Weitzmann sehr wichtig. Er schreibt, dass die »natürlichsten und wohlklingendsten […] Auflösungen« des übermäßigen Dreiklangs diejenigen seien, »bei welchen mindestens eine seiner Stimmen mit dem folgenden konsonirenden Akkorde gebunden erscheint.«81 Die bisherige Forschung nimmt nun weniger zur Kenntnis, dass Weitzmann auch Auflösungen in alle noch verbleibenden Dur- und Mollakkorde diskutiert. Er differenziert diese Fortschreitungen in weitere zwei Grade: Von den noch möglichen Auflösungen des übermässigen Dreiklanges sind diejenigen in die Durakkorde, deren Grundtöne einen halben Ton tiefer als die Töne unseres Akkordes liegen, ferner diejenigen in die Mollakkorde, deren Grundtöne einen ganzen Ton höher liegen als die Töne desselben, die brauchbarsten.82 Demnach sind einem Cü drittrangig verwandt: G-, Es- und H-Dur sowie d-, b- und fis-Moll. Nun fehlen noch sechs Akkorde, nämlich die Variantenklänge der drittrangigen Auflösungen: D-, B- und Fis-Dur, sowie g-, es- und h-Moll. Zu diesen schreibt er, sie seien: härter und weniger wohlklingend als die zuletzt gegebenen, welche schon durch eine angemessene harmonische Umgebung ihr schroffes Auftreten motiviren müssen, um nicht unschön gefunden zu werden.83 Weitzmann gibt keine weiteren begründenden Erläuterungen zu den dritt- und viertrangigen Verwandtschaften. Allerdings folgen sie perfekt seinen Kriteri81 82 83

Ebd., 24. Ebd., 24. Ebd., 25.

147

148

Fluchtpunkte —

en: Erstens besitzen die dritt- und viertrangigen Akkordverbindungen keine Haltetöne mehr, und zweitens steigt die Zahl der für die jeweilige Auflösung erforderlichen Halbtonschritte vom ersten bis zum vierten Rang konsequent an. In Tabelle 1 sind alle Auflösungsgrade am Beispiel eines übermäßigen Dreiklangs auf c zusammengefasst.84

Fortschreitungen konsonanter Dreiklänge In seinem Harmoniesystem (1860) behandelt Weitzmann ein weiteres Mal Dreiklangsprogressionen, nun von einem konsonanten Dreiklang zum anderen. Zunächst postuliert er schlichtweg: »Die neuere Harmonielehre kann […] mit Recht den Satz aufstellen: E i n e m c o n s o n i r e n d e n A c c o r d e k a n n j e d e r a n d e r e c o n s o n i r e n d e A c c o r d f o l g e n.«85 Das missfiel seinen Kritikern; so finden wir bei Selmar Bagge folgenden Kommentar: Am meisten scheint Herrn W. der von mir erhobene Vorwurf gekränkt zu haben, daß seiner Theorie das »Fundament« fehle. […] Ich darf es billig der Einsicht jedes kundigen Musikers überlassen zu entscheiden, ob sich in Hrn. W e i t z m a n n ’ s Preisschrift etwas findet, was einem Grundgesetz ähnlich sieht, man müßte denn sein: »auf jeden consonirenden Akkord kann jeder consonirende folgen« als solches ansehen wollen. Meines Erachtens aber […] ist damit nichts gesagt, was für die Logik von irgend einem Nutzen wäre. Die Harmonielehre ist eben auch nichts Anderes, als eine m u s i k a l i s c h e Logik, zugleich auch die Grundlage einer musikalischen Rechtschreibung.86 Bagge wirft Weitzmann theoretische Beliebigkeit vor. Er verschweigt dabei allerdings Weitzmanns abgestuftes System von Verwandtschaftsgraden (vgl. hierzu stets Tab. 2). Dessen Kriterien87 lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

84

85 86 87

Mit drei Halbtonschritten kann man nur wieder einen um einen Halbton auf- oder abwärts verschobenen übermäßigen Dreiklang erreichen, jedoch keinen Dur- oder Molldreiklang. Weitzmann 1860a, 19. Bagge, 1861, 177. Weitzmann 1860a, 16–19.

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

1) »Nächstverwandt« sind Akkorde innerhalb derselben Tonart mit nur einem unterschiedlichen Ton, von C-Dur also die terzverwandten Klänge a- und e-Moll. 2) »Eine fernere Verwandtschaft« haben Akkorde in derselben Tonart mit zwei verschiedenen Tönen, von C-Dur aus also F-Dur und G-Dur, sowie im »weicheren Dur« auch f-Moll. Im Unterschied zur klassischen Quintverwandtschaft stehen diese Akkorde bei Weitzmann also nicht in engster Verwandtschaft zueinander. 3) »entferntere Verwandte« sind nicht mehr in der Tonart des Ausgangsakkordes zu finden, aber dennoch über mindestens einen Ton verbunden, in C-Dur also c-Moll und die terzverwandten Akkorde A-, E-, As- und Es-Dur. Weitzmann übergeht hier jedoch cis-Moll, welches auch die Bedingungen erfüllt.

Überraschenderweise kommt in C-Dur auch der leitereigene d-Moll-Akkord bei Weitzmann nicht vor. Allerdings erwähnt er, dass die Tonarten C-Dur und d-Moll »entfernt verwandt« seien. Da er mehrfach die strukturelle Verbindung zwischen den Tonarten und den jeweils in ihnen enthaltenen Akkorden betont, sei der d-Moll-Akkord ebenso in die folgende zusammenfassende Tabelle an der entsprechenden Stelle eingefügt, ebenso der von Weitzmann ausgelassene (vergessene?) cis-Moll-Akkord (vgl. Tab. 2). Für einen Mollakkord sieht das Schema dann also wie in Tabelle 3 aus. Demnach sind jeweils zwölf Fortschreitungen »nächst-«, »ferner« oder »entfernt« verwandt (zwei davon fallen, wie erwähnt, unter Weitzmanns Beschreibungen, ohne dass er sie auflistet). Die übrigen elf Fortschreitungen sind damit jedoch nicht verboten, sondern lediglich implizit als ›noch entfernter‹ bewertet. Was bestimmt nun also den Verwandtschaftsgrad von Dreiklängen – inklusive des Verwandtschaftgrads bei der Auflösung eines Übermäßigen? Übergeordnete Bedingung ist, dass beide Akkorde derselben Tonart (bzw. Tonleiter) angehören. Nur scheinbar spielt diese Bedingung für Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs keine Rolle, tatsächlich gilt sie auch dort, denn die sechs erstrangigen Auslösungen eines Übermäßigen liegen exakt innerhalb der jeweiligen Tonart bzw. Skala – hier wohlgemerkt dem »weicheren Dur« bzw. »härteren Moll«. Jeder Übermäßige gehört ja durch seine symmetrische Gestalt drei verschiedenen Skalen, bzw. sechs Tonarten an. Und darum widmet Weitzmann auch der Frage der Tonartenzugehörigkeit dieses Ak-

149

e-Moll

F-Dur

1. Grad »nächstverwandt«

2

2

nötige Halbtonschritte 1

2 3

1 3

1

G-Dur

ja (f-Moll nur im »weicheren Dur«)

a-Moll

gebundene Töne

leitereigen?

C-Dur

Verwandtschaftsgrad

Ausgangsakkord

2

1

f-Moll

5

0

[d-Moll]

1

2

nein

c-Moll

2. Grad »ferner verwandt«

Zielakkord

3

1

A-Dur

2

1

E-Dur

2

1

As-Dur

3

1

Es-Dur

3. Grad »entfernt verwandt«

2

1

[cisMoll]

Tabelle 2: Verwandtschaftsgrade konsonanter Akkorde zu einem C-Dur-Dreiklang nach Weitzmann (Akkorde in eckigen Klammern fehlen in Weitzmanns Tabelle)

150 Fluchtpunkte —

F-Dur

e-Moll

2

2

nötige Halbtonschritte

1

2 3

1 3

1

d-Moll

ja (E-Dur aber nur im »härteren Moll«)

C-Dur

gebundene Töne

leitereigen?

a-Moll

2

1

E-Dur

5

0

[G-Dur]

1

2

nein

A-Dur

2. Grad »ferner verwandt«

Verwandtschaftsgrad

1. Grad »nächstverwandt«

Zielakkord

Ausgangsakkord

3

1

c-Moll

2

1

f-Moll

2

1

cisMoll

3

1

fisMoll

3. Grad »entfernt verwandt«

2

1

[As-Dur]

Tabelle 3: Verwandtschaftsgrade konsonanter Akkorde zu einem a-Moll-Dreiklang nach Weitzmann (Akkorde in eckigen Klammern erscheinen in Weitzmanns Tabelle nicht).

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde 151

152

Fluchtpunkte —

kordes ein ganzes Kapitel: »Ausgebreitete Verwandtschaft des übermässigen Dreiklangs«. Zwischen zwei konsonanten Dreiklängen wird sodann das nachgeordnete Kriterium der Anzahl der gebundenen Töne wirksam. Es lautet: Je mehr Töne zwischen zwei Akkorden gebunden sind, desto verwandter sind die Akkorde. Letztlich behandelt er also die einfachen Dreiklangprogressionen und die Auflösungen übermäßiger Dreiklänge identisch. Übergeordnete Bedingung ist bei beiden offenbar die Leitereigenheit. Das fällt nur bei Auflösungen des Übermäßigen nicht ins Auge, weil die Bedingung der Leitereigenheit genau dasselbe Ergebnis hervorbringt, wie die eigentlich nachgeordnete Bedingung, zwei gemeinsame Töne zu haben. Somit wird die Nachordnung des letzteren Kriteriums in diesem Falle unsichtbar. Prekär ist jedoch die Bedingung der erforderlichen Halbtonschritte. Die vom übermäßigen Dreiklang bekannte Regel: ›Je weniger nötige Halbtonschritte desto verwandter‹ lässt sich, wie aus den Tabellen 2 und 3 ersichtlich, nicht auf die von Weitzmann definierten Verwandtschaftsverhältnisse bei Fortschreitungen konsonanter Dreiklänge übertragen.

Der verminderte Septimenakkord Weitzmann versteht seine zweite Einzelpublikation, Der verminderte Septimenakkord (1854), als Pendant zu Der uebermaessige Dreiklang und zugleich als inhaltlichen Baustein zu seinem geplanten Harmoniesystem. Wiederum zeigt er, wie man den diskutieren Akkord differenziert nach Verwandtschaftsgraden in jeden Dur- oder Mollakkord auflösen kann. Am engsten verwandt sind hier solche Auflösungen, bei denen ein Ton des Ausgangsakkordes als Leitton fungiert (vgl. hierzu stets Tab. 4). Der verminderte Septakkord gis-h-d-f kann sich demnach (stets entsprechend anders notiert) nach a-, c-, es und ges-Moll sowie deren Varianten A-, C-, Es- und Ges-Dur auflösen. Auch in der klassischen Theorie entspricht das einfachen Dominante-Tonika-Relationen; dort gelten allerdings die Auflösungen nach Moll als naheliegender, da die verminderte Septime des Ausgangsakkordes leitereigen in Moll ist. Weitzmann begründet dagegen die Gleichwertigkeit der Auflösungen aus der ›dualistischen‹ Entsprechung des »härteren Moll« mit dem »weicheren Dur« heraus: Neuere Theoretiker halten die Molltonart allein für die Heimath des verminderten Septimenakkordes. Sie stellen für dieselbe eine künstliche Tonleiter auf, aus deren Stammtönen sich ein solcher Akkord aufbauen lässt [a h c d e

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

f gis a]. Als regelmässig gilt ihnen deshalb nur seine Auflösung in den Molldreiklang. Bilden wir aber ganz analog eine ähnliche Tonleiter für die Durtonart, so lässt sich aus den Stammtönen derselben unser Akkord ebenfalls construiren [c d e f g as h c]. Er schreitet gleich befriedigend in die Hauptdreiklänge beider Tonarten und hat also auch gleiches Recht, in beiden zu erscheinen[.]88 Weitzmanns zweiter und dritter Grad sind nun nicht mehr von der klassischen Harmonielehre gedeckt. Dem zweiten Grad gehören diejenigen Auflösungen an, bei denen einer der Töne des verminderten Septakkordes zum Grundton des Auflösungsdreiklangs, und dem dritten Grad diejenigen, bei denen ein Ton des verminderten Septakkords zur Quinte des Zieldreiklangs wird. Dies sei wiederum synoptisch zusammengefasst (vgl. Tab. 4). In der Tabelle sind auch die erforderlichen Halbtonschritte und gebundenen Töne angegeben, obwohl Weitzmann selbst diese nicht diskutiert. Sie dienen hier dem Vergleich zu den bereits besprochenen Dreiklangsprogressionen. Es zeigt sich, dass ausgerechnet die erstrangigen Auflösungen des verminderten Septakkordes gar keine gemeinsamen Töne aufweisen und darüber hinaus die größte Anzahl an Halbtonschritten erfordern. Die übrigen Grade sind hinsichtlich beider Kriterien inkonsistent. Nur das von den Dreiklangsfortschreitungen her bekannte Kriterium der Leitereigenheit für die erstrangigen Auflösungen im »weicheren Dur« und »härteren Moll« bleibt bestehen.

Geschichte des Septimen-Akkordes Die dritte ›Akkordmonographie‹ Weitzmanns erschien (wie die vorige) im Jahr 1854 und ist mit nur 23 Seiten sehr knapp gehalten. Den meisten Raum nimmt eine historische Untersuchung zur Behandlung der Septime und des Septimenakkordes ein.89 Erst ganz am Schluss finden sich Überlegungen zu der damals aktuellen Harmonik. Zuerst listet Weitzmann in bemerkenswerter kombinatorischer Vollständigkeit alle möglichen aus kleinen und großen Terzen konstruierbaren Septakkorde auf – auch den Übermäßigen mit übermäßiger

88 89

Weitzmann 1854, 9. Hier sei auf Nora Engebretsens aufschlussreiche vergleichende Lektüre dieses Bändchens mit François-Joseph Fétis früher erschienener Esquisse de l’histoire de l’harmonie, Bourgogne et Martinet 1840 verwiesen (Engebretsen 2006).

153

Ges-Dur

ges-Moll

0

Es-Dur

es-moll

gebundene Töne

C-Dur

c-Moll

0

5

A-Dur

a-Moll

1. Grad (ein Ton des verm. Septakkords ist Leitton)

5

Verminderter Septakkord auf gis [gis-h-d-f ]

nötige Halbtonschritte

Akkorde

Verwandtschaftsgrade

Spannungsakkord

Tabelle 4: Grade der Auflösungen eines verminderten Septakkordes nach Weitzmann

2

3

f-Moll

d-Moll

h-Moll

gis-Moll

1

4

F-Dur

D-Dur

H-Dur

Gis-Dur

2. Grad (ein Ton des verm. Septakkords wird Grundton der Auflösung)

Auflösungen

1

4

b-Moll

g-Moll

e-Moll

cis-Moll

2

3

B-Dur

G-Dur

E-Dur

Cis-Dur

3. Grad (ein Ton des verm. Septakkords wird Quinte der Auflösung)

154 Fluchtpunkte —

Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

Septime! –, dann definiert er fünf allgemeine Auflösungsarten für Septakkorde:90 1) Alle Stimmen sind »strebend« bzw. »vorhaltend«. Der Grundton steigt, die Septime fällt zum Zielakkord. 2) Der Grundton bleibt als Quinte des Zielakkordes liegen. 3) Die Septime bleibt als Grundton des Zielakkordes liegen. 4) Quinte und Septime bleiben als Grundton und Terz des Zielakkordes liegen. 5) Grundton und Terz bleiben als Terz und Quinte des Zielakkordes liegen.

Weitzmann führt diese fünf Auflösungsarten am Beispiel eines Dominantseptakkords vor (siehe unten). Da seine Regel ausdrücklich für jeden Typ von Septakkord gilt, seien sie hier zunächst an einem verminderten Septakkord dargestellt und mit den drei Verwandtschaftsgraden aus seiner vorhergehenden Veröffentlichung verglichen (vgl. hierzu stets Tab. 5). Tatsächlich decken Weitzmanns fünf Arten exakt alle 24 Auflösungen des verminderten Septakkordes ab und die erste Art der Auflösung in der Geschichte des Septimen-Akkordes entspricht dem ersten Grad der Verwandtschaft in dem Verminderten Septimenakkord. Damit endet jedoch die vollkommene Übereinstimmung: In der Gegenüberstellung fällt auf, dass die Verwandtschaftsgrade 2 und 3 aus Der verminderte Septimenakkord in der nachfolgend erschienenen Geschichte des Septimen-Akkordes jeweils zwei Auflösungsarten entsprechen. Darüber hinaus bringt die Auflösungs-Art 2 Auflösungen hervor, die in dem Verminderten Septimenakkord dem dritten Verwandtschaftsgrad zugeordnet sind (siehe Tab. 5, Zeile 2). Jedoch ergibt sich bei strikter Reihenfolge der fünf Arten, anders als zuvor bei den drei Graden, eine konsequente Entwicklung sowohl hinsichtlich der gemeinsamen Töne als auch der erforderlichen Halbtonschritte. Mit wachsendem harmonischem Abstand steigt auch die Zahl der Haltenoten, und diejenige der Halbtonschritte sinkt. Die Verhältnisse sind also beim verminderten Septakkord, und, wie sich zeigen wird, beim Septakkord im Allgemeinen, genau umgekehrt im Vergleich zu Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs. Bei seiner Demonstration der Auflösungsvarianten eines Dominantseptakkordes entstehen bei Weitzmann deutlich weniger Möglichkeiten, als zuvor beim verminderten Septimenakkord, denn bei diesem nicht-symmetrischen 90

Weitzmann 1854, 21f.

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Alle Stimmen sind »strebend« bzw. »vorhaltend«. Der Grundton steigt, die Septime fällt zum Zielakkord.

[Allein] der Grundton bleibt als Quinte des Zielakkordes liegen.

[Allein] die Septime bleibt als Grundton des Zielakkordes liegen.

Quinte und Septime bleiben als Grundton und Terz des Zielakkordes liegen.

Grundton und Terz bleiben als Terz und Quinte des Zielakkordes liegen.

1. Art

2. Art

3. Art

4. Art

5. Art

Auflösungsarten gemäß Geschichte des Septimen-Akkordes

E-Dur G-Dur B-Dur Cis-Dur

d-Moll f-Moll gis-Moll h-Moll

F-Dur, Gis-Dur H-Dur D-Dur

cis-Moll e-Moll g-Moll b-Moll

a-Moll, A-Dur c-Moll, C-Dur es-Moll, Es-Dur ges-Moll, Ges-Dur

Auflösungen eines verminderten Septakkordes gis-h-d-f

3. Grad

2. Grad

2. Grad

3. Grad (!)

1. Grad

Grade gemäß Der verminderte Septimenakkord

2

2

1

1

0

Haltenoten

3

3

4

4

5

Erforderliche Halbtonschritte

Tabelle 5: Auflösungen eines verminderten Septakkordes nach Der verminderte Septimenakkord und Geschichte des Septimen-Akkordes im Vergleich

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Akkord ist ganz eindeutig, wo sich Grundton, Terz, Quinte und Septime befinden.91 So beschreibt er (vorerst) nur neun Auflösungsmöglichkeiten eines G-Dur-Dominantseptakkords (vgl. hierzu stets Tab. 6). Weitzmanns Reihenfolge ist folgende: Zuerst zählt er die leitereigenen Auflösungen von Art 1 bis 5 auf, dann erst folgen die leiterfremden Auflösungen von Art 1 bis 3. Nach dieser Auflistung ist also, anders als nach klassischer Auffassung, die naheliegendste Auflösung diejenige nach a-Moll, dann erst folgt diejenige nach C-Dur. Allerdings schreibt Weitzmann im Harmoniesystem selbst, dass die »Hauptauflösung« jedes Dominantseptakkordes »in den Hauptdreiklang der Tonart, zu welcher er gehört« erfolge.92 Das zugehörige Notenbeispiel lässt keinen Zweifel daran, dass damit eine klassische Dominant-Tonika-Beziehung gemeint ist, und zwar in Dur und Moll. Im Hinblick auf die gemeinsamen Töne entspricht die Entwicklung derjenigen beim verminderten Septakkord – es kann auch gar nicht anders sein, denn die fünf Arten sind ja offenkundig nach diesem Kriterium geordnet. Bei den erforderlichen Halbtonschritten, die beim verminderten Septakkord stetig abnahmen, findet sich im Falle des Dominantseptakkordes jedoch eine Ausnahme (3. Art, Auflösung nach Dur). In seinem später erschienenen Harmoniesystem (1860) hat Weitzmann die für seine Verhältnisse recht enge Beschränkung auf nur neun mögliche Auflösungen eines Dominantseptakkordes deutlich gelockert. Hier schreibt er nun, der Dominantseptakkord könne in seiner Tonart bleibend in fünf, aus seiner Tonart heraustretend aber in alle Dreiklänge, mit Ausnahme von denen übergehen, deren Quinten denen der Dreiklänge gleich kommen, welchen er seine Erscheinung verdankt. So kann der Dominantseptimenakkord der C dur-Tonart g h d f sich nicht in den G Dur-, G moll-, B dur- und B moll-Dreiklang, wohl aber in alle übrigen Dreiklänge auflösen[.]93 Wiederum ist es nicht so, dass seine zuvor formulierten Fortschreitungsarten damit obsolet würden, nur erweitert Weitzmann das Feld um die Kategorie der gleichsam ›noch entlegeneren‹ Auflösungen. Überraschend ist allerdings,

91

92 93

Abgesehen vom klangidentischen übermäßigen Quintsextakkord (in der Funktionstheorie also einem verkürzten Doppeldominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quinte im Bass), den Weitzmann gar nicht diskutiert. Weitzmann 1860a, 39. Ebd.

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Alle Stimmen sind »strebend« bzw. »vorhaltend«. Der Grundton steigt, die Septime fällt zum Zielakkord.

[Allein] der Grundton bleibt als Quinte des Zielakkordes liegen.

[Allein] die Septime bleibt als Grundton des Zielakkordes liegen.

Quinte und Septime bleiben als Grundton und Terz des Zielakkordes liegen.

Grundton und Terz bleiben als Terz und Quinte des Zielakkordes liegen.

1. Art

2. Art

3. Art

4. Art

5. Art

Auflösungsarten

e-Moll

d-Moll

F-Dur

C-Dur

a-Moll

leitereigen (erstrangig)

f-Moll

c-Moll

A-Dur As-Dur

leiterfremd (zweitrangig)

Auflösungen eines Dominantseptakkordes g-h-d-f

Tabelle 6: Auflösungen eines Dominantseptakkordes gemäß Geschichte des Septimen-Akkordes

2

2

1 1

1 1

0 0 0

Haltenoten

3

4

5 (!) 4

4 4

6 6 5

Erforderliche Halbtonschritte

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Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

dass er vier Auflösungen nach wie vor für unmöglich erklärt. Er betrachtet, der Lehre Hauptmanns folgend, einen Septakkord als Verschränkung zweier Dreiklänge, im Falle eines G-Dur-Dominantseptakkordes also G-Dur und h-Vermindert. Es leuchtet nun durchaus ein, dass ein Akkord sich nicht in sich selbst auflösen kann, doch warum Weitzmann gerade die Akkorde ausschließt, deren Quinten mit den Quinten der beiden im Dominantseptakkord enthaltenen Dreiklänge identisch sind (hier d und f ), also neben Auflösungen nach G-Dur und g-Moll auch solche nach B-Dur und b-Moll für unmöglich erklärt, derweil Auflösungen nach H-Dur und h-Moll möglich sein sollen, bleibt offen.

Fazit zu Weitzmanns Akkordfortschreitungssystem Parsimonious voice leading ist das Schlagwort, bei dem in der modernen Theorie sogleich Weitzmanns Name fällt. Betrachtet man seine erste musiktheoretische Publikation, Der uebermaessige Dreiklang allein, so ist dies auch berechtigt. Wenn man jedoch die gesamten Publikationen der 1850er und 1860er Jahre berücksichtigt, in denen er Systeme von Akkordfortschreitungen anbietet, so ergibt sich ein deutlich verändertes Bild: Oberste Priorität hat bei Weitzmann stets die Zugehörigkeit beider Akkorde der jeweiligen Fortschreitung zu einer Tonart (bzw. Tonleiter). Dabei ist die individuelle Nuance zu berücksichtigen, dass Weitzmann von der um einen Ton erweiterten Diatonik des »weicheren Dur« und »härteren Moll« ausgeht, in der die tiefalterierte VI. Stufe (Dur) bzw. die hochalterierte VII. Stufe (Moll) quasi leitereigen sind. Dieser obersten Priorität nachgeordnet gelten für Fortschreitungen zwischen Dreiklängen auf der einen Seite und Auflösungen von Septakkorden auf der anderen genau entgegengesetzte Regeln: Zwei Dreiklänge sind nach Weitzmann umso verwandter, je mehr Haltenoten sie teilen, Auflösungen eines Septakkordes umso naheliegender, je weniger Haltenoten vorhanden sind. Im Hinblick auf die erforderlichen Halbtonschritte ist das Bild uneindeutig. Die Regel »je weniger Halbtonschritte, desto verwandter« lässt sich strikt nur auf die Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs anwenden, und die umgekehrte Regel »je mehr Halbtonschritte, desto verwandter« nur auf Auflösungen des verminderten Septakkordes – und dort auch nur, wenn man der Reihenfolge der fünf Auflösungsarten aus der Geschichte des SeptimenAkkordes folgt, nicht aber, wenn man mit den drei Graden aus Der verminderte Septimenakkord arbeitet.

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Fluchtpunkte —

Wäre in der Neo Riemannian Theory nicht lediglich eine einzige Schrift Weitzmanns ernsthaft rezipiert worden,94 so hätte man ihn wohl nicht so umstandslos zum historischen Gewährsmann für das Konzept der »sparsamen Stimmführung« gekürt.

Theorie (IV). Verzögerungen Weitzmann sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich in der Musik Liszts und anderer Komponisten der Neudeutschen Schule vermehrt Klangbildungen finden, die nicht mehr als terzgeschichtete Klänge beschreibbar sind. Grundsätzlich merkt er dazu an: Die neuere Tonkunst […] läßt auch die schärfste Dissonanz frei auftreten, wenn es durch den Charakter des Tonstückes bedingt wird, und wenn dieselbe eine regelmäßige Auflösung oder Trugfortschreitung nimmt.95 Um dissonante Bildungen jedoch präziser zu fassen, entwickelt er ein Konzept der »Verzögerungen«: Es lassen sich […] sowol Dreiklänge als Septimenaccorde durch Harmonien verzögern, welche weder den früher besprochenen Dreiklängen noch Septimenaccorden zugezählt werden können, sondern eben nur als c h r o m a t i s c h e V e r z ö g e r u n g e n der ihnen folgenden Harmonien ihre Bedeutung und Rechtfertigung finden[.]96 Dazu bringt er ein Notenbeispiel mit dreizehn verschiedenen oberen oder unteren Nebentoneinstellungen oder »Verzögerungen«. Entfernt man die trennenden Doppelstriche, entpuppt sich diese Liste als kleine Komposition (siehe Abb. 2).

94

95 96

Janna K. Saslaw legte 2004 eine synoptische deutsch-englische Fassung von Der uebermaessige Dreiklang vor (Saslaw 2004). Wie bereits der Titel andeutet, war auch eine Übersetzung von Der verminderte Septimenakkord geplant. Diese ist jedoch nicht realisiert worden. Womöglich hätte schon diese Übersetzung ein etwas differenzierteres Bild der Weitzmannschen Theorie in der anglo-amerikanischen Musiktheorie gezeitigt. Weitzmann 1860a, 35. Ebd., 60.

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Abbildung 2: Carl Friedrich Weitzmann: Beispiel zu melodischen Verzögerungen; interne Doppelstriche (stets zwischen 3. und 4. Zählzeit) fortgelassen, »fine« und »d. c. al fine« ergänzt.97

Die in diesem Stück zu findenden Verzögerungen sind in der Tat zumeist chromatisch, doch lässt Weitzmann offenbar auch ganztönige Verbindungen gelten, wenn sie zusammen mit chromatischen Verbindungen auftauchen (T. 5 e-d, T. 6 d-c und a-g). Viele der durch die Verzögerungen entstehenden Klänge sind mild dissonant. Sie sind zum Beispiel klangidentisch mit einem Dominantseptakkord (T. 2), einem halbverminderten Septakkord (T. 3) oder sogar einem einfachen Durdreiklang (T. 15). Etwas öfter ergeben sich etwas dissonantere Dominanten mit (dis-)alterierter Quinte, die auch als viertönige Auszüge aus einem Ganztonfeld beschreibbar sind (T. 1, 4, 10 und 12). Äußerst scharf sind nur zwei Klänge: Der erste findet sich Takt 13. Es handelt sich um einen E-Dur Dominantseptakkord mit Quartvorhalt a vor der Terz gis und gleichzeitiger übermäßiger Quarte ais vor der Quinte h (derartige Dissonanzen notiert beispielsweise auch Chopin in seinem düsteren Prélude op. 28, Nr. 2). Die zweite sehr scharfe Dissonanz erklingt in Takt 11. Dies ist ein a-MollAkkord mit oberer Nebennote b vor dem Grundton a und Leitton h zur Terz c. Er klingt aus zwei Gründen besonders herb: erstens, weil die Dissonanz nur durch einen einzigen weiteren Ton klanglich abgebunden ist, und zweitens, weil die übermäßige Oktave noch einmal härter klingt als beispielsweise die verminderte Oktave in Takt 13. Weitzmann wagte es letztlich nicht, seine kleine didaktische Komposition als veritables ›Albumblatt zu melodischen

97

Ebd., 61f.

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Verzögerungen‹98 zu präsentieren, sondern entschied sich, das Stück als Kollektion unverbundener Exempel zu ›tarnen‹. Zusätzlich merkte er an: Es wäre nicht zu rathen, ein Tonstück mit vielen solcher scharfen Dissonanzen anzufüllen, […] aber so wenig man das Roth als zu grell hervorstechend aus der Malerei gänzlich verbannen würde, ebenso wenig wird man einen haltbaren Grund auffinden können, jene schroff und seltsam klingenden Harmonien gänzlich zu verwerfen.99 Dann betont er noch, dass das jeweilige Maß von der außermusikalischen Bedeutung der Komposition abhänge. Beispielsweise verlange die »Qual des an den Felsen geschmiedeten, den Göttern trotzenden Titanen […] einen anderen Ausdruck, als das Leiden des am Kreuze schmachtenden, gottergebenen Heilandes«.100 Letztlich bleibe es dem Tonsetzer überlassen, »die weichsten und üppigsten oder die schneidendsten und rauhesten Accorde, die natürlichsten oder die schroffsten Fortschreitungen derselben auszuwählen und zu benutzen«.101 Natürlich ließen sich Weitzmanns Kritiker sein Notenbeispiel dennoch nicht entgehen. So lesen wir bei Bagge: Accordfolgen von der Erfindung des Verfassers […] mit ihren doppelt übermäßigen und verminderten Oktaven und Quarten [bedürfen] schon eines advocatus diaboli […], dem wir zwar nicht für alle Fälle den Eingang in den musikalischen Gerichtssaal verwehren möchten, doch eben nicht gestatten können, daß er sich uns als täglicher Gesellschafter aufdränge. Der Verfasser sagt selbst, »es wäre nicht zu rathen, ein Tonstück mit vielen solchen scharfen Dissonanzen auszufüllen[«]; eben deshalb gehört aber, Angesichts a l l e r neuesten Producte der neudeutschen Schule, sein Standpunkt offenbar schon heute zu den »überwundenen«, denn das factische Bestreben derselben ist, s o v i e l w i e m ö g l i c h solcher Dissonanzen anzuhäufen. Auch wir sind der Meinung, daß »dem M e i s t e r kein seinem Zweck entsprechendes Mittel einer befangenen Theorie wegen entzogen werden darf«. Es gibt aber und hat allezeit neben den ächten Meistern f a l s c h e

Dieser fingierte Titel ist angelehnt an Weitzmanns drei Albumblätter zur Emancipation der Quinten im Anhang von Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten. 99 Weitzmann 1860a, 62. 100 Ebd. 101 Ebd., 63.

98

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P r o p h e t e n gegeben, und diesen gegenüber muß man jedes »Stückelchen des Gesetzes« aufrecht erhalten.102 Als Entgegnung auf Bagges Einwände verfasste Weitzmann, wie oben bereits erwähnt, die kleine Schrift Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten. In nun schon recht rauem Tonfall spricht er von Bagge als seinem »mehr wort- als gedankenscharfe[n] Kritiker«103 und zitiert zu seiner Rechtfertigung eine Passage aus Mozarts großer g-Moll Sinfonie als allgemein anerkanntes Beispiel mit ähnlich scharfen Dissonanzen:

Abbildung 3: Weitzmann, Beispiel für chromatische Verzögerungen: Wolfgang Amadeus Mozart, Sinfonie Nr. 40 g-Moll KV 550, 1. Satz, T. 150–153104

Er erklärt die bei Mozart frei eintretende scharfe Dissonanz g-h-gis-es in Takt 1502 (und wieder mit vertauschten Stimmen in T. 1522 ) überzeugend als »Verzögerung des Accordes D-fis-a-c durch chromatische Töne, welche regelmäßig stufenweise in diesen fortschreiten«.105 Breitere Bekanntheit erlangte dasselbe Beispiel erst durch Arnold Schönbergs 1911 erschienene Harmonielehre, Weitzmann nimmt jedoch Schönbergs Konzept der freien Nebentoneinstellung um gut fünfzig Jahre vorweg. Womöglich ist es kein Zufall, dass Schönberg dieselbe Mozart-Stelle wie Weitzmann zitiert. War ihm dessen Streitschrift bekannt? Mit Weitzmanns Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten war der Schlagabtausch noch nicht vorüber, denn Bagge publizierte auch hierzu eine Rezension in der Deutschen Musik-Zeitung. Besonders hart stieß sich aber der

102 103 104 105

Bagge 1860b, 243. Weitzmann 1861, 5. Ebd., 26. Ebd.

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hessische Theoretiker, Seminarlehrer und Komponist Franz Joseph Kunkel (1804–1880) an beiden Schriften Weitzmanns. Er brachte eine 59 Seiten lange »Kritische Beleuchtung« heraus, mit dem erklärten Ziel, die nachwachsenden »K u n s t j ü n g e r « vor dem »verführerische[n] Gift« von Weitzmanns »oberflächlich, unklar, widersprechend und destructiv«106 gehaltener Lehre zu warnen. Weitzmanns eigenen Rat, die oben zitierten Dissonanzen zurückhaltend zu nutzen, nennt er w i d e r l i c h s o p h i s t i s c h e S c h ö n t h u e r e i, um den leichtfertig vorausgeschickten destructiven Beispielen und Lehren ein Mäntelchen umzuhängen! […] Dem Malerjungen soll »das Roth als zu grell hervorstechend« für die Malerei nicht ganz verbannt bleiben; wie aber nun, wenn man ihm diese g r e l l e und etwa noch eine oder die andere s c h m u t z i g e F a r b e zu seinen Pinselstrichen verstattet und a b s c h e u l i c h e C a r r i c a t u r e n als Vorlagen gibt? Er wird dann gewiß recht tüchtig drauf los – F r a t z e n m a l e n! –107

Verzögerungen in Liszts Prometheus-Ouvertüre Weitzmann bringt in seinen Schriften nur sehr wenige Beispiele aus Originalkompositionen. Eine große Ausnahme, und zugleich ein besonderer Streitfall, sind die ersten Takte der Prometheus-Ouvertüre von Franz Liszt. An ihrem Beispiel wurde die Debatte um frei eintretende Dissonanzen und »regelmäßige Verzögerungen« ausgefochten. Das Werk geriet wohl auch darum besonders in den Fokus, weil es am 26. Februar 1860 in Wien in Anwesenheit der Granden der Wiener Kritik aufgeführt worden war. In Eduard Hanslicks Kritik lesen wir darüber: Wie alle größeren Werke Liszt’s, ist auch »Prometheus« eine Allianz der betrübtesten Erfindungslosigkeit mit aufreibendem Raffinement. Ein beständiges Suchen und Nichtfinden, lauter Effecte und doch kein Effect. Schon die Ouverture ist nur eine interessant orchestrirte Folter, auf welcher der Hörer geistreich gemartert wird. […] Dem »Prometheus« Liszt’s fehlt einfach der prometheische Funke: mag er noch so verschiedenes und seltenes Material aufthürmen, es will nirgends brennen.

106 Kunkel 1863, 6. 107 Ebd., 47.

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Wir machen keinen Hehl daraus, daß kleine geniale Details und tiefsinnige Intentionen, welche die dem Mythus [!] innewohnenden Ideen anzudeuten trachten, uns die fehlende musikalische Schöpfungskraft nicht entfernt ersetzen können. In ihrem größten Theil ist Liszt’s Composition vollständige Unmusik.108 Hanslicks Verdikt geht weit über das konkrete Werk hinaus; er nutzt den Anlass für eine allgemeine Abrechnung mit dem Komponisten Liszt. Dessen Musik liegt so weit jenseits seines eigenen Konzeptes vom musikalisch Schönen,109 dass er hier nur noch von »Unmusik« sprechen kann, von einem ›akustischen Gegenstand‹, der nicht mehr als Musik qualifiziert werden kann. Aus Selmar Bagges Besprechung sei im Folgenden etwas länger zitiert, denn hier lässt sich Reinform die Vermählung einer reaktionären Musikauffassung mit Provinzialismus, Nationalismus und Rassismus studieren. Unter dem Titel: Das alte Wien und die »neudeutsche« Musik schreibt er: Als unsere gute Stadt noch ein abgeschlossenes, idyllisch-behagliches Leben führte, wenig berührt von gewaltigen Strömungen, wie sie jetzt an der Tagesordnung sind, da konnten in seinen Mauern Größen wie H a y d n, M o z a r t, B e e t h o v e n und S c h u b e r t schaffen und einen selbstständigen deutschen Styl ausbilden. […] Seit aber Wien allmählig eine »Weltstadt« geworden, […] da mußte sich Manches anders gestalten. […] Seiner Natur nach eine cosmopolitische Stadt, mußte es auch in der Kunst den verschiedenartigsten Nationalitäten den freiesten Spielraum lassen, und dem spezifisch germanischen Element war ein harter Kampf bevorstehend. In der letzten Zeit schien es sogar, als sollte Wien der Zufluchtsort für das höhere durch Frankenthum und Italienismus modificirte »Zigeunerthum« werden, welches gegenwärtig in Form von »Zukunftsmusik«, und unter dem Namen »Neudeutsche Schule«, freilich mit geringem Erfolg, die Welt zu unterjochen sucht. Nachdem Berlin, München, Breslau das neue Joch entschieden abgewiesen, welches andere Städte wie Frankfurt a.M., Leipzig […] gar nicht an sich heran hatten kommen lassen, hoffte man in W i e n (gestützt auf ein nicht im Geruch sehr hoher Bildung stehendes großes Publikum, auf einige leicht gewonnene Kritiker, einige flaumbärtige Jünglinge, 108 Hanslick 1860. (Es existiert ein minimal abweichender Nachdruck des Textes in: Hanslick 1870, 199). 109 Vgl. Hanslick 1 1854 bis 6 1881.

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nicht zu vergessen eines für Zukunftsmusik schwärmenden artistischen Directors) einen Sieg zu erfechten […]. Aber am 26. Februar des Jahres 1860 geschah es, daß das alte Wien, eingedenk seines früheren Ruhmes, und der weltberühmten Tonmeister, die auf seinen Friedhöfen schlummern, sich männiglich erhob und laut und kräftig protestirte gegen die Meinung: aus seinen musikalischen Bewohnern sei A l l e s zu machen, was man wolle […]. Die »Prometheus-Musik« von F r . L i s z t ist […] glänzend durchgefallen! […] Wir wollen keine Musik, die, indem sie durch gräuliche Mißklänge unsere Ohren zerreißt, und uns äußerlich brühheiß macht, innerlich kalt läßt und langweilt! Wir danken für eine Musik, die die Grenzen der Schönheit gewaltsam durchbricht, und unter dem Vorwande der E i g e n t h ü m l i c h k e i t uns Gebilde der Verwahrlosung aufdrängt! Wir danken endlich für eine Musik, die statt des klaren Gedankens – nur abgerissene Phrasen; statt poetisch-schöner Gestaltungen Entäußerungen der Verrücktheit aufweist! – – – –110 Als Bagge sich anschließend Weitzmanns Harmoniesystem zuwendete, hatte er die Wiener Erstaufführung von Liszts Prometheus noch im (gequälten) Ohr. Es war für ihn naheliegend, die ersten Takte der Ouvertüre als Beispiel zu wählen: Unter »Trugfortschreitungen« versteht der Verfasser [Weitzmann] nach einer von ihm gegebenen Erklärung die Auflösung eines dissonirenden Accords in einen anderen dissonirenden. Wie nun aber, wenn w e d e r eine regelmäßige Auflösung noch eine Trugfortschreitung erfolgt? Ein hier einschlagendes Beispiel bildet der Anfang der Prometheus-Ouverture von L i s z t. Dieselbe beginnt mit einem sich vom Baß in lauter Quarten: f, h, e, a aufbauenden Akkord, der sich noch chromatisch nach fis, h, e, a verändert. Man würde gegen diese »schärfste Dissonanz« nicht viel einwenden können, wenn eine erträgliche Auflösung erfolgt, d.h. also nach W e i t z m a n n: entweder eine regelmäßige oder eine erklärbare »Trugfortschreitung«. Der Musiker vermag in dieser allerdings fürchterlichen Dissonanz immer noch die M ö g l i c h k e i t einer Auflösung zu erkennen, indem er eine Vorhalts- (oder eigentlich Vorschlags-)Harmonie annimmt; er wird dann

110

Bagge 1860a.

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aber immer eine T o n a r t vernehmen wollen, in der sich die Sache aufklärt. Das wäre dann z.B. A-moll oder E-moll, sogar C-dur (6 /4 ), obwohl da schon die zwei Quarten gegen den Baß eine höchst gewaltsame Auflösung ergeben würden. L i s z t löst aber nach C-moll auf, dessen es und as den schreiendsten Querstand gegen das vorhergegangene e und a bilden. Das ist dann weder eine regelmäßige Auflösung, noch eine Trugfortschreitung im obigen Sinn, und wirkt wie nach einer Portion Ohrfeigen ein Keulenschlag auf den Kopf.111 Weitzmann reagiert darauf in Die Neue Harmonielehre im Streit mit der alten. Er gibt folgendes harmonisches Abstract des 26 Takte langen ersten Abschnittes der Ouvertüre:

Abbildung 4: Carl Friedrich Weitzmann, harmonisches Exzerpt der ersten 26 Takte aus Liszts Prometheus-Ouvertüre112

Seine Erklärung der Stelle lautet folgendermaßen: Abstrahiren wir von der daselbst [in der Partitur] der Bequemlichkeit der Spieler wegen gewählten Schreibweise […], so erscheinen die drei ersten Zusammenklänge als Verzögerungen der Töne des gis Moll-Dreiklanges (in der Terzsextlage), und der diesem folgende übermäßige Dreiklang (c e gis) als ähnliche regelmäßige Verzögerung des cis moll-Dreiklanges in der Grundlage. Bagge stößt sich besonders an der Auflösung des Quartenakkordes (Akkord Nr. 2) nach c-Moll (»ein Keulenschlag auf den Kopf«). Angesichts dessen, dass es sich um den ersten konsonanten Akkord handelt, betrachtet er c-Moll zumindest vorübergehend als Tonika; anders lässt sich auch nicht erklären, dass er von zwei Querständen bei der Auflösung spricht: e gegen es und a gegen as.

111 112

Bagge 1860b, 242. Weitzmann 1861, 6.

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Ein as erklingt aber gar nicht; die Erwähnung dieses Tones ist nur dann sinnvoll, wenn man den gesamten Tonbestand der Tonart c-Moll latent vorhanden denkt. Weitzmann hingegen liest den c-Moll-Akkord nicht als Zielakkord, ja genau genommen nicht einmal als c-Moll. Er interpretiert die gesamte Stelle in cis-Moll – ohne dies ausdrücklich zu schreiben.113 In cis-Moll sind fast alle Akkorde des ersten Abschnittes lesbar: Sämtliche Töne des Quartenakkordes Nr. 2 fis-h-e-a sind leitereigen in dieser Tonart – das f (eis) des Akkordes Nr. 1 ist demnach eine Weitzmannsche Verzögerung des fis. Der gis-Moll-Akkord Nr. 4 ist die leitereigene V. Stufe und der übermäßige Dreiklang Nr. 5, der mit dem his des »härteren cis-Moll« zu lesen ist (so notiert Liszt selbst diesen Ton in seiner eigenhändigen Klavierfassung) ist eine Dominante mit Sexte statt Quinte zur Tonika cis-Moll (Akkord Nr. 6). In diesem Kontext erweist sich der c-Moll-Akkord Nr. 3 also tatsächlich als tonal äußerst entlegen – Bagge hat mit seinem »Keulenschlag« nicht unrecht. Um ihn zu erklären, notiert Weitzmann – und zwar ausdrücklich anders als Liszt in seiner Partitur114  – dis statt es. Er verdeutlicht auf diese Weise, dass es sich bei c-Moll um eine ›Scheinkonsonanz‹, handelt, eigentlich um eine doppelte Verzögerung von gis-Moll.115 Das auf den ersten Blick befremdliche dis ist seiner Deutung nach

113

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Im tonalen Gesamtplan des Stückes ist dies durchaus sinnfällig: Insgesamt ringt sich das Werk von a-Moll zur Varianttonart A-Dur durch; das lyrische zweite Thema steht hingegen in Des-Dur, und dessen Varianttonart wird durch den hier diskutierten Beginn artikuliert. Rachel E. Rudd stellt in ihrer PhD-Thesis eine Analyse der gesamten Liszt’schen Prometheus-Ouvertüre mithilfe von Weitzmanns Theorie vor (Rudd 1992, 108–153), die mit einer tiefergehenden Auseinandersetzung von Weitzmanns implizit enthaltenen Thesen und der Aufarbeitung seiner System-Lücken und Widersprüche zu noch deutlich weitreichenden Ergebnissen geführt hätte. In seiner eigenhändigen Klavierfassung der Prometheus-Ouvertüre notiert Liszt beispielsweise einen einfachen c-Moll-Akkord. Die Orchesterfassung ist zur Bestimmung der gemeinten Orthographie kaum von Nutzen, denn hier notiert Liszt grammatikalisch inkonsequent, dafür aber so, dass der jeweilige Ton für die verschiedenen, teils transponierenden Instrumente gut lesbar ist. Vgl. hierzu einen ganz ähnlichen Fall in Weitzmanns eigenem ›Albumblatt‹ (Abb. 2), Takt 15. Er notiert hier einen klingenden Gis-Dur-Akkord als Verzögerung eines E-Dur Dominantseptakkordes.

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der einzige nicht verzögerte Ton, nämlich der einzige bereits erreichte von gis-Moll.116 Natürlich war vorprogrammiert, dass Weitzmanns Argumentation seine Kritiker nicht überzeugen würde. Bei Carl Debrois van Bruyck lesen wir dazu: Ueber die herrliche Erfindung der Verzögerungen! Wenn erst jeder beliebige Zusammenklang dadurch gerechtfertigt werden darf, weil ja seine einzelnen Intervalle nur als »Verzögerungen« aufzufassen sind, dann sehe ich in der That nicht, was man nicht sollte schreiben dürfen, ohne dem Büttel zu verfallen.117 Kunkel, der in seiner Kritischen Beleuchtung sonst sehr detailliert vorgeht, lässt sich in diesem Falle gar nicht erst auf eine inhaltliche Diskussion ein. Stattdessen schreibt er: »Weitzmann konnte aus der Zukunftsmusik zur Charakterisirung derselben kaum ein besseres Pröbchen liefern […], als durch Vorführung dieses Notenbeispiels«.118 Nun war es zwar Selmar Bagge, der Liszts Prometheus-Ouverture ins Spiel gebracht hat, interessanter ist jedoch, was Kunkel in diesem Zusammenhang über die Aufgabe einer »kunstgemäße[n] instructive[n] Musiktheorie« zu sagen hat. Eine ihrer Aufgaben sei es, »über Werth oder Unwerth der verschiedenartigen Tonverbindungen Belehrung« zu geben und »in keinem Falle S i n n w i d r i g e s gelten« zu lassen. Nach den »Satzungen der alten Musiktheorie« erklärt Kunkel Weitzmanns Beispiel für »m u s i k a l i s c h e n U n r a t h « , mit dem man sich folglich nicht weiter zu befassen habe. Deutlicher könnte der dominierende normative Ansatz der akademischen, konservativen Musiktheorie des 19. Jahrhunderts nicht auf den Punkt gebracht werden. Musikalische Phänomene, die zu weit außerhalb ihrer Dogmatik liegen, verwirken den Anspruch, Kunst zu sein. Sie sind »Unmusik« (Hanslick), oder, bei noch polemischerem Temperament, »Unrath« (Kunkel). Andererseits gehen einer rein deskriptiven Theorie die unabhängigen Kriterien ab. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass Weitzmanns Theorie die in der Musik der Neudeutschen Schule feststellbaren Auflösungstendenzen des tonalen Systems nicht nur beschreibt, sondern auch teilweise selbst widerspiegelt.

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Am Rande sei bemerkt, dass nicht nur das fisis aus Akkord Nr. 3 eine Verzögerung des gis im Akkord Nr. 4 ist, sondern auch, und zwar ohne direkten Anschluss, das a der Akkorde Nr. 1 und 2. van Bruyck 1861, 154. Kunkel 1863, 54.

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Seine theoretischen Schriften reflektieren damit nicht allein die Risse in der Musik der Neudeutschen Schule, sondern die allgemeine Schwächung der traditionellen Tonalität in der kompositorischen Praxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Biographisches Nachspiel. Gesuche um einen Professorentitel Anfang der 1860er Jahre galt Weitzmann als der theoretische Verfechter der Ästhetik der ›Zukunftsmusik‹ – Selmar Bagge nannte ihn den »Kronjuristen« der neudeutschen Schule.119 Kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt hätten seine Freunde wählen können, um sich für ihn um den Ehrentitel eines Professors zu bemühen. Im Oktober 1861 stellten Julius Stern, von Bülow, Dorn und Franz Commer ein dahingehendes Gesuch an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, August von BethmannHollweg.120 Das Ministerium forderte, der üblichen Prozedur folgend, den Senat der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin zur Stellungnahme auf, und dieser delegierte die Aufgabe an die drei Senatsmitglieder aus der »musikalischen Section«, Giacomo Meyerbeer, Eduard Grell und August Wilhelm Bach. Nach einigem Gerangel um deren Zuständigkeit121 stellten sie das Gutachten aus. Durchaus lobend skizzierten sie Weitzmanns Karriere. Sie listeten auch seine Kompositionen und Schriften auf und führten präzisierend an, er habe im Harmoniesystem die »eigenthümlichen Harmoniefolgen und andere mannigfache […] Abweichungen« der neueren Kompositionsrichtung »gerechtfertigt und in die Harmonielehre aufgenommen«.122 Dennoch – oder gerade deshalb? – kamen sie zum Schluss: Obgleich hiernach der p. Weitzmann in diesen verschiedenen Brochüren ein rühmliches Bestreben an den Tag legt, welches zu den oben bemerkten Leis-

119 Bagge 1861, 177. 120 Vgl. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 143. Die handschriftlichen Archivalien in dieser Sache liegen heute im Archiv der Berliner Akademie der Künste und sind auch online abrufbar. 121 Aus den Reihen der einfachen Mitglieder der »musikalischen Section« (von Heinrich Dorn?) war der Antrag gestellt worden, dass die gesamte Sektion mit der Begutachtung zu betrauen sei, und nicht nur deren drei Senatsmitglieder. Offenbar war absehbar, wie deren Gutachten ausfallen würde. Der Antrag wurde am 15. März 1862 abgelehnt. 122 Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 143, 12. April 1862.

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tungen in seinen verschiedenen Stellungen hinzukommt, so hat er doch weder ein bedeutendes theoretisches Werk, welches auf die musikalischen Studien einen wesentlichen Einfluß übte, noch eine größere Composition im strengen Styl, etwa ein Oratorium, einen Psalm oder eine Messe, die seinen Künstlerruhm begründete, geliefert, in Folge deren ihm ein Prädikat, dessen andere Männer in hervorragenden mühevollen vaterländischen musikalischen Ämtern noch entbehren, ertheilt werden könnte.123 Auf dieser Grundlage empfahl der Senat dem Ministerium, das Gesuch abzulehnen, was auch geschah. Im Jahr 1863 publizierte Weitzmann seine Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur. Damit erfüllte er nach seinem Dafürhalten die Forderung nach einem bedeutenden theoretischen Werk, und wagte persönlich einen neuen Vorstoß. Das Gutachten hierzu vom 8. Juni 1864 ist nur von Grell und Bach gezeichnet; Meyerbeer war am 2. Mai gestorben. Die Gutachter würdigen das Buch recht ausführlich und bescheinigen Weitzmann »eine seltene Kenntniß der Litteratur, nicht bloß im Felde der Klaviermusik, sondern auch in der allgemeinen Musikgeschichte«, dann verweisen sie jedoch auf ihre zweite, noch unerfüllte Forderung: So höchst Schätzenswerthes nun auch dieses Buch enthält, so erscheint es doch sehr wünschenswerth, daß derjenige, welcher von einer hochverehrlichen Kunstbehörde zum Professor creirt werden will, auch in der Composition namhafte Werke, als Sinfonien für größeres Orchester, vor Allem aber eine umfangreiche Cantate (aus Recitativen, Soli’s und Chören bestehend) aufzuweisen habe, um Nachtheile zu verhüten, welche durch das sich Emporschwingen eines Individuums einseitiger Richtung für die musikalischen Zustände entstehen könnten.124 So reichte Weitzmann am 16. Juni 1864 einige kleinere Kompositionen nach.125 Das Fehlen größerer Werke begründete er damit, dass alle seine Opern, Ouvertüren und Orchesterwerke in den Theatern Riga und Reval verblieben seien; Heinrich Dorn könne jedoch Auskunft über dieselben geben. Außerdem zitiert er aus lobenden Briefen von Hauptmann und François-Joseph Fétis. Grells und

123 Ebd. 124 Ebd., 8. Juni 1864. 125 Ebd., 16. Juni 1864.

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Bachs Bescheid folgte umgehend am 24. Juni 1864 als »Nachtrag« zum vorherigen Gutachten: Da nun über die angedeuteten Compositionen kein Urtheil zu fällen, indem sie nicht vorliegen, die von dem p. Weitzmann diesem Schreiben beigefügten Männergesänge jedoch nur geringfügiger[e] Arbeiten sind, so erscheint der Petent hauptsächlich nur als Schriftsteller und Theoretiker hervorragend, der im Gesange weniger bedeutendes geleistet hat. Da jedoch die Gesangskenntniß, wie größere Leistungen in der Gesangscomposition auch einem theoretischen Musiker nicht mangeln dürfen, so würde das Gesuch des p. Weitzmann nach unseren Dafürhalten nicht zu befürworten sein. Mit der Forderung von Gesangswerken scheint allerdings ein Formfehler begangen worden zu sein, weil das Ministerium offenbar lediglich den Auftrag erteilt hatte, Weitzmanns Buch zu bewerten. Der Senat entschloss sich darum, das Gutachten nachträglich mit dem Auftrag in Einklang zu bringen. Im Protokoll heißt es dazu schlicht: »Durch eine vom Secretär anzuschlagene Aenderung der Fassung wird dieser Einklang hergestellt.«126 Genaueres erfahren wir aus einem Schreiben des Senats an das Ministerium vom 29. Juni 1864: Nachdem die musikalische Section bereits über das anliegende Werk des Verfassers »Geschichte des Clavierspiels und der Clavierlitteratur« sich gutachtlich ausgesprochen, hielt dieselbe zur Ergänzung ihres Urtheils es für nöthig noch musikalische Compositionen einzufordern, welches letztere aber ohne besonderen Erfolg geblieben ist. Das ablehnende Urtheil der Section beruht nach mündlicher Erläuterung des im Original beifolgenden Gutachtens hauptsächlich darauf, daß gewisse Mängel und bedenkliche Richtungen, welche neben vielem Achtungswerthen in der vorliegenden Schrift hervortreten, auf nicht hinreichender praktischer Kenntniß des Gesanges und der Composition beruhen.127 Abweichend vom Gutachten werden nun also doch noch »gewisse Mängel und bedenkliche Richtungen« in Weitzmanns Buch festgestellt und – wohlgemerkt bei einem Buch über Klaviermusik – mit der mangelnden Gesangs- und Kompositionskenntnis des Autors begründet.

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Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 61, 25. Juni 1864. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 143, 29. Juni 1864.

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Es vergingen drei Jahre, bis Weitzmann neue Kompositionen beibringen konnte. Am 8. Juni 1867 reichte er dem Minister sieben polyphone Stücke ein, darunter komplexe, aber eher kurze Kanons und eine größere achtstimmige Kyrie-Fuge.128 Dazu schrieb er: Der Unterzeichnete wagt es nunmehr Ew. Excellenz eine Auswahl von eigenen musikalischen Compositionen ehrerbietigst zu überreichen, in welchen er sich die schwierigsten Aufgaben des höheren Contrapunktes gestellt hat, die er im reinsten Classischen Style gelöst zu haben glaubt. Mein heißester Wunsch ist es, Ew. Excellenz gütige Verzeihung zu erlangen, wenn ich noch Einmal die Bitte um gnädige Ertheilung des Professortitels auszusprechen wage, im Falle diese meine musikalischen Compositionen nicht ganz unwürdig befunden werden sollten[.]129 Das nunmehr von A. W. Bach, Grell und Wilhelm Taubert unterzeichnete Gutachten vom 3. Juli 1867 besagt, dass die in dem Hefte enthaltenen 7 Musikpiecen […] zwar ein langjähriges, unverdrossenes Studium des Autors erkennen lassen, diese Leistungen, wie sie hier geliefert worden[,] jedoch immer [noch] nicht das Höchste dieser Gattung zu nennen, – welche, abgesehen davon, daß sie neben ihrer Künstlichkeit, keine das Gemüth ansprechende Wirkung hervorbringen, – in der Ausführung noch Gesteigertes bringen könnten, wie z.B. die eine Stimme des Canons gegen die andere, in verlängerten Noten, auch in anderen Intervallen als hier in der Octave, oder in krebsgängiger Bewegung gehalten sein könnte. […] Was ferner die Fugen des Weitzmann betrifft, so erscheinen sie in ihrer Weise mehr ernst (düster) gehalten als wirkungsvoll und sprechen auch das Gefühl nicht an.

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Die Beschreibungen dieser Werke im Gutachten legen nahe, dass es sich um Sätze handelt, die Weitzmann erst 1874 in seinen Contrapunkt-Studien veröffentlichte. Die Nummern 1, 2, 5 und 20 der Contrapunkt-Studien sind nach den Beschreibungen klar zu identifizieren. Die Gutachter bemängeln 1867, dass Weitzmann in der Gattung des Kanons »noch Gesteigertes« hätte liefern können. Genau die eingeforderten Kunststücke (»die eine Stimme des Canons gegen die andere, in verlängerten Noten«, »in anderen Intervallen als hier in der Octave«, in »krebsgängiger Bewegung«) finden sich ebenfalls in den Contrapunkt-Studien. Weitzmann hat sie also offenbar gleichsam auf das Gutachten hin komponiert, um dem Gremium sein Können zu beweisen. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 402, 8. Juni 1867.

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Dem 8 stimmigen Kyrie […] kann ein höherer Grad von Gewandheit nicht abgesprochen werden, es finden sich indeß in demselben mancherlei unerlaubte Verdoppelungen der geschärften Intervallen und im Fugensatze eine von den Gesetzen derselben abweichende risposta thematio p. p. In Summa: würden von dem Herrn Weitzmann größere Compositionen als: Sinfonien, Cantaten, Hymnen p. p., welche des Verfassers Talent in Erfindung schöner, das Gemüth erfreuender oder erhebender Tonwerke bekunden, uns künftige [!] eingesandt, so könnte dies der musikalischen Section Gelegenheit bieten[,] in dem Verfasser dieser Sammlung einen vollkommen durchgebildeten Musiker anzuerkennen für dessen Auszeichnung durch das erbethene Prädicat sie gern thätig sein würde.130 Die Gutachter bekritteln die eingesandten Kompositionen etwas inkonsequent als einerseits zu künstlich und andererseits nicht komplex genug und beharren auf der Einsendung größerer Werke, von denen sie wussten, dass sie der Antragsteller aktuell nicht beibringen kann. Auf die neuerliche Ablehnung hin schaltete sich Dorn mit einer Beschwerde an Minister Heinrich Mühler ein. Er zählte Weitzmanns Verdienste auf und bemängelte die »exclusive Strenge« des Gutachtergremiums im Vergleich anderen Titelvergaben. Dabei berührte er den eigentlichen Kern der Ablehnung Weitzmanns: […] [S]o sind es doch grade Weitzmann’s kleinere Abhandlungen und seine gekrönte Preisschrift »Harmoniesystem«, welche in der gesammten musikalischen Welt Aufsehn erregt haben, weil Er der erste deutsche Theoretiker war, der eine innere Einheit zwischen den starren Regeln der Harmonielehre und den kühnen Versuchen eines Berlioz, Liszt und Wagner zu begründen wußte. Daß solches Gebahren in gewissen Kreisen Mißfallen erregen konnte, ist ganz natürlich; nichtsdestoweniger verstand es der denkende Schüler seines großen ehemaligen Lehrers Hauptmann auch auf diesem neuen Wege Resultate zu erzielen, die selbst strenge Akademiker zufrieden stellen mußten […].131 Nun sahen sich Grell, Bach und Taubert also genötigt, direkt zu Weitzmanns ›neudeutschen‹ Schriften Stellung nehmen. In ihrem Bericht vom 9. November 1867 heißt es dazu:

130 Ebd., 3. Juli 1867. 131 Ebd., 23. September 1867.

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Seinen Bestrebungen, die »kühnen Versuche eines Berlioz, Liszt und R. Wagner mit den starren Regeln der Harmonielehre in Einklang zu bringen«, mag der sich dafür Interessirende mit Antheil folgen. Die Akademie, von allgemein gültigen Grundgesetzen der Kunst ausgehend, vermag jedoch diese partiellen Bestrebungen durch Befürwortung des erbetenen Prädicats eben so wenig zu sanctioniren, als sie dies mehreren anderen Musikern gegenüber zu thun in der Lage war, denen sie ein harmonisches Gleichgewicht ihrer Kräfte, eine innere zur Objectivität führende Reife, wie sie von einem Professor der Musik stets verlangt werden sollte, nicht zugestehen konnte, wenn sie auch diese oder jene Leistung auf litterarischem oder musikalischem Gebiete im Einzelnen anerkennen durfte.132 Die Gutachter betrachten ihre Institution als Sachwalterin objektiver, allgemein gültiger Kunstgesetze, Weitzmann attestieren sie hingegen Sektierertum und Unreife. Hier war spätestens klar, dass sie die Titelvergabe niemals gutheißen würden, und es ist eine schon eine Donquichotterie, dass Weitzmann sich tatsächlich daran machte, eine Kantate mit Soli, Chor und Orchester zu komponieren, um ihre Forderungen zu erfüllen. Dabei gab er sich durchaus keinen Illusionen hin, wie aus einem Brief an Liszt vom 24. Januar 1869 hervorgeht: Eine geistliche Cantate für Solostimmen, Chor und Orchester habe ich so eben beendet und an die Akademie geschickt zur Erlangung des Professortitels, der mir aber schwerlich ertheilt werden wird, da dort noch immer das Triumvirat Grell, Bach und Taubert allein darüber zu bestimmen hat, welches meinen oft ausgesprochenen Zukunftsbestrebungen durchaus nicht gewogen ist.133 Von Liszts Antwort ist das Konzept erhalten. Es lautet: Einstweilen, vortrefflicher »Räthselschmid«134 will ich Ihnen in halb räthselhafter Weise sagen[,] dass, wenn Ihre geistliche Cantate von Seiten des Triumvirats den gebührlichen Abschluss nicht erhält, derselbe andernorts erfolgen kann. Sprechen Sie mit Niemand darüber. Paßt es Ihnen, meine Räth-

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Ebd., 9. November 1867. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/32, 17, Nr. 5. Liszt bezieht sich hier darauf, dass Weitzmann es liebte, seinen Briefen musikalischkanonische Rätsel beizulegen, so auch seinem Schreiben vom 21. Januar 1869 an Liszt, den er mit »Immer derselbe Räthselschmid« unterschrieb (siehe von Bülow 1900, 272).

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sel Lösung anzunehmen, senden Sie mir einfach bald die Cantate nebst ein paar anderer ihrer Werke hierher.135 Liszt wollte sich bei der Universität zu Jena dafür einsetzen, dass Weitzmann für seine Kompositionen und musiktheoretischen Verdienste ein Doktortitel verliehen würde. Auf solche Verheißungen antwortete dieser am 11. Februar 1869 hocherfreut: Herzlichen Dank für Ihren wirklichen Freundesbrief! […] Sollte der graue Theoretiker die kühne Hoffnung hegen dürfen[,] durch […] Ihre gütige Fürsprache, den Doctortitel von Jena zu erlangen? und darf ich hierbei noch erwähnen, daß ich in meinem früher von Ihnen mit dem Preise gekrönten Harmoniesystem nicht nur die Tradition der Theorie der classischen Musik bewahrt, sondern auch die Berechtigung der durch die praktischen Werke neuerer Meister gewonnenen Erweiterung derselben dargelegt habe? Eine jede mir von Ihrer Freundeshand kommende Anerkennung aber würde mir stets bei weitem willkommener sein als irgend eine unsern unwilligen Gegnern nur mühsam abgezwungene.136 Weitzmanns Hoffnung, durch Liszts Fürsprache einen Doktortitel zu erhalten, erfüllte sich letztlich ebenfalls nicht. Seine Kantate wurde von Grell und Taubert Anfang Februar 1869 durchgesehen (A. W. Bach war zu diesem Zeitpunkt schwer erkrankt und verstarb am 15. April). In ihrem Gutachten vom 13. des Monats heißt es: Herr Weitzmann [sendet] eine, wohl zum Zweck der Vorlage eigends verfaßte Composition ein, eine Cantate (Hymnus von Mahlmann) für vier Solostimmen, Chor und Orchester. Diese Arbeit kann indeß in keiner Beziehung als eine hervorragende bezeichnet werden, weder in Hinsicht auf Textauffassung, musikalische Erfindung, Instrumentirung, noch worauf es dem Verfasser hier hauptsächlich hätte ankommen müssen, auf tiefgehende, echtes Wissen und Können bezeugende Künstlerische Behandlung. Es erregt gerade zu Verwunderung, daß der Componist, statt wenigstens im Schlußchor etwas Kräftiges und Gediegenes zu bieten, woran man den Meister erkenne, eine Fuge beginnt, die gleich nach den fünf ersten Eintritten des Themas wieder aufhört. Wenn die Section die neue Arbeit des Herrn Weitzmann nicht höher anzuschlagen im Stande ist, so bedauert sie dies um so mehr, als sie 135 136

Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/54, fol. 11f. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/32, 17, Nr. 6.

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sich und dem Petenten, dem seit dem Jahre 1862 sich wiederholt bemühenden, von Herzen gönnt, daß demselben endlich in den Hafen der Professur einzulaufen gelänge.137 Es ist sehr bedauerlich, dass es heute nicht mehr möglich ist, sich ein eigenes Urteil über die Kantate zu bilden, denn leider ist sie, wie alle größeren Kompositionen Weitzmanns, verschollen. Die Gutachter lassen jedenfalls kein gutes Haar daran. Und mit ihrer Bekundung, »sich und dem Petenten« die Titelverleihung »von Herzen« zu gönnen, sprechen sie ziemlich deutlich den Wunsch aus, Weitzmanns möge sie endlich mit seinen Gesuchen in Frieden lassen. Und doch: Zehn Jahre später unternahm er als bereits hochbetagter Mann einen letzten Vorstoß. Es konnte ihm da längst nicht mehr um sein berufliches Fortkommen gehen, um seine konkrete Stellung im Musikleben, vielmehr scheint der Wunsch nach Würdigung seiner Arbeit durch den akademischen Titel zu einer fixen Idee geworden zu sein. 1879 reichte er die frisch erschienene, stark erweiterte und überarbeitete zweite Auflage seiner Geschichte des Clavierspiels ein. In dem nun von Taubert und dem Bachforscher Philipp Spitta unterzeichneten Sitzungsprotokoll vom 5. Januar 1880 heißt es dazu: Die Geschichte des Clavierspiels […] ist ein fleissig compilirtes Werk, läßt aber wissenschaftliche Methode, wie auch Selbständigkeit der Forschung u. des Urtheils vermissen. Die Verleihung des Titels kann daher nicht befürwortet werden.138 Und am 20. September: Die Section beschließt zu berichten, daß nach allem was ihr sowohl über die von p. Weitzmann außer der »Geschichte des Clavierspiels« veröffentlichten Schriften, als auch über seine praktische Lehrthätigkeit bekannt geworden ist, sie die entschiedensten Bedenken haben muß, den p. Weitzmann zur Verleihung des Professortitels zu empfehlen.139 Die Akademie blieb fast 20 Jahre lang – und über den Tod mehrerer Gutachter – ihrer Linie treu. Weitzmanns 1863 noch gelobtes Buch wurde 1879 als unwissenschaftlich und unselbstständig abgetan. Wenige Wochen nach der letz-

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Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 402, 13. Februar 1869. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Akte 239, 5. Januar 1880. Ebd., 20. September 1880.

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ten Ablehnung verstarb Weitzmann am 7. November 1880. In einem Nachruf der Vossischen Zeitung heißt es: Am Sonntag starb hier der berühmte Musiktheoretiker K a r l F r i e d r i c h W e i t z m a n n nach langjährigen Leiden an Entkräftung. […] [Er] erwarb […] sich als ausgezeichneter Theoretiker bald einen großen Ruf und Schüler strömten ihm von nah und fern zu. Seine schriftstellerische Thätigkeit war eine sehr ausgedehnte, und sie machte um so größeres Aufsehen, als er sich namentlich der neudeutschen Schule in der Musik zuwandte und die praktischen Fortschritte eines Richard Wagner und Franz Liszt theoretisch zu begründen suchte.140

Schluss Weitzmanns Musiktheorie rein abstrakt zu lesen bedeutete, deren Erkenntnispotenzial zu schmälern. Ihre Formierung geschah inmitten des sich erhitzenden Parteienstreits, und so nimmt es nicht Wunder, dass ihr auch die inneren Verwerfungen des Streits eingeschrieben sind. Weitzmann war ein Modernisierer unter den Theoretikern, doch dabei war seine Argumentation ist nicht immer ganz konsequent, und auch nicht so vollständig, dass man von einem veritablen »System« sprechen könnte. Gerade jene Lücken und Widersprüche bieten jedoch wertvolle Innenansichten in das Denken der Neudeutschen Schule und in den damaligen Diskussionsstand. Als nur ein Beispiel sei hier Weitzmanns Schwanken in der Frage der Quintparallelen angeführt. Erst gestattete er sie vollmundig,141 um dann später überraschenderweise recht kleinliche Einschränkungen zu bringen.142 Liszt schätzte die theoretischen Schriften seines »gelehrten«143 Freundes sehr. Ihm sagte es zu, dass Weitzmann die Qualität einer Komposition nicht

140 Anonymus 1880. 141 »Die neuere musikalische Grammatik kann also ohne Bedenken jenes Verbot paralleler Quinten aufheben, umsomehr, als sich dasselbe niemals auf deren Umkehrung, auf Parallelen von Quarten, welche doch ganz dieselbe harmonische Bedeutung haben, ausgedehnt hat.« (Weitzmann 1860a, 5) 142 Ebd., 12–15, hier insbesondere 14. 143 In vielen seiner Briefe charakterisiert Liszt Weitzmann als »gelehrt«. Wo er sich selbst als künstlerischen Kopf der »Neudeutschen« sah, betrachtete er Weitzmann als wissenschaftliche Instanz der Gruppe.

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nach überindividuellen und vermeintlich ›ewigen‹ Regeln taxierte. Er wusste auch zu würdigen, dass Weitzmann durchaus nützliche kompositorische Werkzeuge zur Verfügung stellte, indem er – wie oben gezeigt – auf dem Feld der Akkordfortschreitungen Verwandtschafts- und Entlegenheitsgrade definierte, die je nach Programm einer Komposition mehr oder weniger ausgeschöpft werden konnten. Liszts musikalische Wertschätzung für Weitzmann ging jedoch noch weiter: Er bediente er sich sogar konkret kompositorisch bei ihm. Liszt arbeitete fast wie der Meister einer Renaissance-Malerwerkstätte mit seinen spezialisierten Gehilfen. Beispielsweise ließ er in den frühen 1850er Jahren den jungen Raff seine Orchesterwerke instrumentieren.144 Und von Weitzmann übernahm er ganze Tonsätze: Im Totentanz für Klavier und Orchester stammt die vierte Variation (canonique) von Weitzmann! Liszt hat sie nachträglich (aber noch vor der Drucklegung) seinem Werk einverleibt.145 Ein anderes Beispiel sind Weitzmanns Enharmonische Glossen von 1869, eine Reihe von achtzehn Variationen über eine auf- und wieder absteigende Ganztonleiter ges-as-b-c-d-e-fis.146 Dieses sonderbare Stück zeichnet sich in der Tat durch eine sehr avancierte Harmonik aus. Als Weitzmann es Liszt Anfang 1869 zuschickte, antwortete dieser prompt: [I]n die enharmonischen Skizzen [Notenbeispiel: ges-as-b-c-d-e-fis] habe ich mich mit Wonne eingesponnen u nächsten Sommer sollen einige davon herumflattern und bald zu Ihnen gelangen. Meine berüchtigten Tonleitern der Dante Sinfonie [Notenbeispiel: h-a-g-f-es-des-cis-h] und der Symp. Dicht. Was man auf den Bergen hört qualifiziren mich einigermaßen, die enharmonischen Glossen zu bestehlen.147 Weitzmann war seinerseits entzückt von der Aussicht, dass Liszt die harmonischen Progressionen seiner Glossen für ein eigenes Werk nutzen wollte:

144 Vgl. Raff 1925. 145 Keines der Lisztschen Autographe zum Totentanz enthält die spätere vierte Variation. Die Autorschaft Weitzmanns geht aus einem Brief von Frits Hartvigson an Joseph Bennett vom 3. und 5. März 1888 hervor (Pierpont Morgan Library, Joseph Bennett’s Musical Correspondence, Bd. E–J, 199–201). 146 Derzeit ist nur ein einziges Exemplar dieses Werkes als Privatdruck des Komponisten nachweisbar in D-Bhm, Signatur RH 0904; daneben wurde das Thema nebst sechs Variationen abgedruckt in Urania [1869], 26/8–9 und 11, 145–147, 161–163. 147 Franz Liszt, Brief an Carl Friedrich Weitzmann, Ende Januar/Anfang Februar 1869, Konzept, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/54, fol. 11–12.

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Sollte sich aus meinen enharmonischen Raupen durch Ihr Prometheus-Feuer wirklich ein glänzender Tagfalter entpuppen können?148 Diese Beispiele machen nicht nur deutlich, wie konkret die Verflechtungen der Arbeit von Weitzmann und Liszt werden konnten, sondern auch, wie Weitzmanns auf die Zukunft zielendes theoretisches Denken tatsächlich in musikalische Praxis umschlagen konnte. Der heutigen Musiktheorie könnte Weitzmanns Theorie als eigenständiges Analysewerkzeug dienen. In der NeoRiemannian Theory ist das bereits der Fall, allerdings mit einem sehr verengten Fokus auf dessen allererste Schrift. Wollte man seine Theorie in ihrer ganzen Breite nutzen, so müssen zuvor manche Leerstellen gefüllt und manche Widersprüche sorgfältig diskutiert und ausgeräumt werden. Einige Bausteine dazu sollte der vorliegende Beitrag liefern. Voll ›ertüchtigt‹ kann Weitzmanns Theorie als Analysewerkzeug eine wertvolle zeitgenössische Perspektive, gewissermaßen eine Innenansicht, der musikalischen Umwälzungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts liefern.

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148 Carl Friedrich Weitzmann, Brief an Franz Liszt vom 11. Februar 1869, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur GSA 59/21, 17, Nr. 6.

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Oliver Korte: Wie Carl Friedrich Weitzmann zum Musiktheoretiker der Zukunft wurde

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Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik: Zukunftsvorstellungen in deutschsprachigen Harmonielehren-Debatten um 1900 Anne Hameister

In deutschsprachigen Harmonielehre-Texten um 1900 lässt sich das intensive Bemühen herauslesen, auf eine alte Frage eine neue Antwort zu finden: Was klingt gut zusammen – gleichzeitig, aber auch nacheinander – und mit welcher Begründung? Die im Titel dieses Beitrags aufgespannte Klammer ›von Neudeutscher Musik zu Neuer Musik‹ dient als Rahmen für die Idee, die Zeit zwischen ungefähr 1853 und Anfang der 1910er Jahre als Suche nach einer modernen Harmonielehre zu begreifen.1 Dabei lautet die These dieses Textes, dass die jeweiligen Entwürfe und Gedanken zur Harmonielehre um 1900 aus unterschiedlicher Richtung den Versuch offenbaren, zwei wesentliche Einflüs-

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Die sehr allgemeine Zeitangabe »um 1900« ergibt sich nicht aus kalendarischen, sondern aus inhaltlichen Setzungen mit notwendigerweise unscharfen Grenzen: zeitlich nach vorne in das 20. Jahrhundert eingegrenzt bis dahin, wo ›Musik-/Theorie‹ und ›Zukunft‹ noch als eine singuläre Kategorie konzeptualisiert und stilistischer Pluralismus entsprechend als potentiell dauerhafter Zustand noch nicht akzeptiert wurde. In Jahreszahlen ausgedrückt liegt dieser Rahmen damit vor 1920, ab wo sich Entwürfe für neue Musiksysteme/Komponisten-Theorie in der Kunstmusik stark ausbreiten. Die rückwärtige Grenze der zeitlichen Eingrenzung »um 1900« liegt schwerpunktmäßig ab 1890, aber mit relevanter Ausdehnung bis in das »musiktheoretische Schicksalsjahr« Jahr 1853: Ludwig Holtmeier nennt die wirkmächtigen Harmonielehre-Traktate von Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter sowie Simon Sechters Grundsetze der Komposition als Gründe für seinen Ausdruck – da alle drei musiktheoretischen Werke 1853 entstanden seien, würde dieses Jahr für ihn das ›musiktheoretische Schicksalsjahr‹ schlechthin bilden (Holtmeier 2005, 224). Rezeptionsgeschichtlich weniger einflussreich, vor dem Hintergrund der Fragestellung der vorliegenden Arbeit jedoch naheliegend bietet sich an, auch Carl Friedrich Weitzmanns Der übermäßige Dreiklang (1853) in diese Aufzählung aufzunehmen.

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se in eine moderne Harmonielehre zu integrieren, um auch zukünftig relevant zu bleiben: So lässt sich die Debatte der Harmonielehre zwischen Neudeutscher Schule und Neuer Musik auch als die Suche nach einer »Neuen Harmonielehre« verstehen, 1. deren regulatives Verständnis auf einem modernen, d.h. kontingenten Geschichtsverständnis beruht, das somit neue harmonische Entwicklungen der Kompositionspraxis berücksichtigt oder dieser sogar prospektiv Ideen vorschlägt, sowie 2. Verstehensmodelle von Klang und Klangprogressionen bieten könnte, die einer neuen Wissenskultur entspräche, also wesentliche zeitgenössische Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts durch Hermann von Helmholtz und andere zu integrieren hätte vermögen können.2 Insofern diese genuin musiktheoretische Problemstellung von langer Tradition kulturgeschichtlich situiert ist, zeigen sich daher auch Anstrengungen, neue Wissensordnungen, etwa physikalische, physiologische und psychologische sowie zeitgenössische Entwicklungen der Kompositionsgeschichte in die bestehende Vorstellung von Harmonielehre zu integrieren, alte Begriffe und Konzepte neu zu auszufüllen, oder sogar neue Theorien zu entwerfen. All diese Fragen, die als ungelöste Probleme wahrgenommen oder sogar als »Krise« beschrieben wurden,3 führen zu einer Fülle von Harmonielehre-bezogenen Quellentexten,4 die Aspekte dieser Fragen produktiv, reaktiv oder prospektiv, in jedem Fall aber intensiv reflektieren. Und schließlich zeigt sich

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Helmholtz‘ Forschung stellt in diesem Zusammenhang insofern den zentralen Bezugspunkt dar, indem er als Universalgelehrter nicht nur eine herausgehobene Position im Wissenschaftsdiskurs des 19. Jahrhunderts inne hatte, sondern, wie Benjamin Steege nachweist, mit seiner Intention einer populärwissenschaftlichen Verankerung der modernen harmonischen Praxis in den empirischen ›Tonvorstellungen‹ auch die Musiktheorie beeinflusste (Vgl. Steege 2015 sowie Steege 2010). Dieser Aspekt wird in der Schlussbetrachtung expliziter ausgeführt, scheint jedoch zuvor an verschiedenen Stellen im Text bereits auf. So sei etwa in den Worten von Georg Capellen die »übliche Musiktheorie« bei »de[n] heutigen Tonsetzer[n] und Ästhetiker[n] total in Misskredit geraten, da sie weniger als je dem denkenden Menschen genügt und in meilenweitem Abstande hinter der Praxis herhinkt.« (Capellen 1905, 5). Vgl. auch Holtmeier 2003, 27f. Darunter insbesondere selbstständige musiktheoretische Schriften, die mindestens schwerpunktmäßig Harmonielehre behandeln sowie konzeptionell diskursiver angeregtere Zeitschriftenartikel einschlägiger Fachzeitschriften. Aus methodischen Gründen wird die schriftsprachlich tradierte Harmonielehre diskutiert, wenngleich Einfluss und Bedeutung mündliche Tradierung in dieser Disziplin unzweifelhaft hoch sind: Ihre Erschließung bedürfte einer weitaus größeren Quellendiversität, der die vergleichsweise breit angelegte Themenstellung des Artikels entgegensteht.

Anne Hameister: Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik

im deutschsprachigen Harmonielehrediskurs um 1900 auch die Bereitschaft, auf ein kulturelles gesellschaftliches Bedürfnis zu reagieren, indem die Disziplin sich mit eigenen Vorstellungen an der Suche nach »Zukunft« beteiligt: In Quellen finden sich daher sowohl Spuren zu Zukunftsvorstellungen, die sich auf Musik oder Musiktheorie beziehen, als auch solche, die explizit darüber hinausweisen. Diese unterschiedlichen Zugänge lassen sich in zwei Konstellationen von »Harmonielehre« und »Zukunft« gruppieren und sollen in Anschluss an methodische Vorüberlegungen exemplarisch diskutiert werden: in einem ersten Teil unter der Überschrift von Neudeutscher Schule als Praxis-Treiber einer zukünftigen Harmonielehre und in einem zweiten Teil unter der Überschrift von Harmonielehre als Theorie-Treiber einer zukünftigen Kompositionspraxis. Beide Stoßrichtungen werden anschließend unter dem Gesichtspunkt der Suche nach einer Neuen Harmonielehre diskutiert. Im Rahmen des Fazits folgt abschließend eine gegenwartsbezogene Perspektive.

Geschichte der Musiktheorie als historische Zukunftsforschung Bevor diese Zugänge im Einzelnen anhand von Beispielen vorgestellt werden, wird der vorliegende Beitrag zunächst im Kontext des Sammelbandes als »Perspektive einer polyphonen Musikgeschichte« verortet: Als historiographischer Darstellungsversuch geht es hier auch darum, den heute bekanntesten Figuren der Harmonielehre-Tradition um 1900, Hugo Riemann und Heinrich Schenker, weniger bekannte Musiktheoretiker an die Seite zu stellen, um so ein größeres Bild zu zeichnen, aus dem deutlich wird, welchen gemeinsamen Bezugspunkt so unterschiedliche Harmonielehren der Moderne wie die eines Riemann, Carl Friedrich Weitzmann, Bernhard Ziehn, Wilhelm Tappert, Georg Capellen oder Schenker hatten: Eine Vorstellung von der Zukunft. In der Herangehensweise orientiert sich dieses Vorgehen an der historischen Zukunftsforschung der Geschichtswissenschaft,5 um deren spezifisches 5

Auf der Unterscheidung von Faktischem und Fiktionalem, also dem, was sich ereignet hat und dem, was sich nicht ereignet hat, beruht normalerweise die logische Konzeption der Geschichte. Die logische Konzeption von Zukunftsvorstellungen beruht jedoch darauf, dass zum Zeitpunkt ihres Entwurfs noch offen ist, ob die Vorstellung sich ereignen wird oder nicht. In Zukunftsvorstellungen vermischen sich daher Realität und Fiktion. Ihre Bedeutung liegt zum einen in der historischen Horizontbildung, also der Perspektivierung der Gegenwart und zum anderen in der Zukunftsgestaltung. Zudem

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Potential für die Musiktheorie-Geschichte auszuloten. Die prinzipielle Offenheit der Zukunft wird durch historisches Erzählen, bei dem aktuelle Zeiterfahrungen an erinnernd vergegenwärtigte und gedeutete Zeiterfahrungen der Vergangenheit zurückgebunden werden, auf die Zukunft bezogen, deren Möglichkeiten sich damit auf wenige relevante Möglichkeiten verengt.6 Damit wird auch dann ein Ausblick in die Zukunft möglich, wo sie durch irritierende Gegenwartserfahrungen verstellt erscheint.7 Die musikstilistische Umbruchphase um 1900 lässt sich als eine solche irritierende Gegenwartserfahrung begreifen. Exemplarisch sei hier August Spanuths Artikel »Zukunftsmusik?« aus der Zeitschrift Signale für die Musikalische Welt genannt, der anstelle des sonst üblichen Jahresrückblickes 1907 unter der leitenden Fragestellung »Kommen wir vorwärts, gehen wir zurück, oder gehen wir irre?« die Zukunft der Musik in den Blick nimmt.8 Nach dieser knappen Darstellung geschichtstheoretischer Potentiale der historischen Zukunftsforschung für musikgeschichtlichen Debatten folgen nun versuchsweise Überlegungen, die Ansätze für die Musiktheoriegeschichte zuzuspitzen: Die Untersuchung und Darstellung von Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900 dient auch als ein methodologischer Versuch, eine von Carl Dahlhaus als lediglich »vage« charakterisierten Art und Weise, in der sich ›Geschichte‹ in der Musiktheorie auspräge,9 klarer zu umreißen. Dafür sollen die Debatten der zu dieser Zeit oft als sich in einer Krise befindlich charakterisierten Harmonielehre einmal nicht retrospektiv und in

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sind Zukunftsvorstellungen unabhängig von dem tatsächlichen Eintreten einer Vorstellung als mentale Gegebenheiten historische Realität, die das Denken und Handeln prägen. Daraus begründet sich aus Sicht der historischen Zukunftsvorstellung ihre historiographische Relevanz (vgl. Hölscher 2016, 7–10). Hölscher 2016, 10. Rüsen 1990, 165f. Spanuth 1907. »Die Auswahlkriterien, die den Stoff einer historischen Darstellung begrenzen, hängen von Traditionen ab, die der Autor übernimmt, ergänzt, zurechtrückt oder verwirft, aber jedenfalls zunächst einmal voraussetzt, sowie von dem Geschichtsbegriff, den er – unbewusst oder reflektiert – zugrunde legt. […] So gefestigt die Überlieferung erscheint, die darüber entscheidet, welche Musiktheoretiker als ›bedeutend‹ gelten und welche nicht, so vage sind die Vorstellungen von der Form, in der sich ›Geschichte‹ in der Musiktheorie und deren Veränderungen ausprägt.« Dahlhaus 1989, 40f. Dahlhaus zielt hier offenbar darauf ab, dass insbesondere die zugrundeliegenden Geschichtstheorie (und dann auch ihr Verhältnis zu tradierten Bedeutungszuschreibungen), also insgesamt der historiographische Modus, nicht genügend reflektiert wird.

Anne Hameister: Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik

die Geschichte der Musiktheorie einsortierend bewertet werden, sondern die implizit oder explizit in Quellentexten zur Harmonielehre enthaltenen Zukunftsvorstellungen in ihren unterschiedlichen Stoßrichtungen untersucht und ausgebreitet werden. Diese Theorie-Entwürfe müssen nicht aus sich heraus fortschrittlich sein. Auch konservative Ausblicke haben eine Vorstellung von der Zukunft.10 Diese Zukunftsvorstellungen werden außerdem dahingehend untersucht, inwiefern sich darin Herausforderungen und Chancen offenbaren, die in oder mithilfe der Harmonielehre gelöst werden sollten – auch in solchen Quellen, die heute als unbedeutend eingeordnet werden oder vergessen sind. So einflussreich Riemann die Praxis der Harmonielehre im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus bis heute prägt, so ›singulär‹, also ohne historische oder systematische Kontextualisierung dieser spezifischen Lehre von Akkorden und Akkordprogressionen, wird seine Funktionstheorie beziehungsweise die spezifisch-propädeutische Rezeption seiner Harmonielehre11 in der grundständigen Unterrichtspraxis heute häufig vermittelt. Diese Singulär-Stellung, mit der Harmonielehre häufig grundständig vermittelt wird, spiegelt sich beispielsweise auch in der charakteristisch antagonistischen Darstellung gegenüber einer nordamerikanisch-stufentheoretischen SchenkerTradition der Harmonielehre. Abgeleitet aus dieser Situation sollen in diesem Beitrag sowohl Riemann als auch Schenker nicht nur einer Analyse ihrer Zukunftsvorstellungen unterzogen werden. Vielmehr sollen diesen Zukunftsvorstellungen auch alternative Entwürfe an die Seite gestellt werden mit der Idee, Riemanns und Schenkers Schatten im Lichte ihrer Zeitgenossen aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Im ersten Teil werden dafür Bezüge zwischen Riemann und der Neudeutschen Schule aufgezeigt. Hierbei soll deutlich werden, dass die Kompositionspraxis dieser Strömung die Harmonielehre zu Zukunftsvorstellungen herausfordert. Im zweiten Teil werden mit Zukunftsvorstellungen von Capellen und Schenker zwei Ansätze gegenübergestellt, bei denen Harmonielehre als ›Innovationstreiber‹ mit einer zukünftigen Kompositionspraxis abgeglichen wird.

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Es geht hier auch nicht etwa darum, in der Kontroverse zweier historiographischer Großthesen zugunsten einer von beiden – der fortschrittsgläubigen oder der postmodernen – Position zu beziehen. Vgl. hierzu auch Holtmeier 2005.

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I. Neudeutsche Schule als Praxis-Treiber einer zukünftigen Harmonielehre Hugo Riemanns Zukunftsvorstellungen Wenn Riemann den Begriff »Zukunft« explizit verwendet, dann häufig in pragmatischer Weise: So sind etwa die Phrasierungsbezeichnungen eine »große Aufgabe der Zukunft«, im zweiten Band seiner Großen Kompositionslehre (1903) geht es um die »gedeihliche Zukunft des Kanons«, um die »Zukunft der Doppelfuge« oder um die harmonische Disposition in der »Fuge der Zukunft«. Die Verwendung des Wortes sichert so die Relevanz und Aktualität älterer Satztechniken, wie sie etwa sein Schüler Max Reger aufgriff. Der pragmatische Ansatz, auf diese Weise für seine jeweiligen aktuellen Publikationen zu werben, zeigt sich sogar im Aufruf zum Lernen des Generalbassspiels12  – eben jener Praxis, die durch seine Funktionsharmonik abgelöst werden soll und die er deshalb an anderen Stellen als unzweckmäßig bezeichnet. Seine Aufforderung »Also: Lernen wir wieder Generalbass spielen, damit wir erfahren, was die Vorfahren Haydns auf dem Gebiete der Kammermusik geleistet haben!« steht am Schluss des kurzen Textes »Wohin steuern wir?« von 1894. Dieser Aufsatz enthält (zum Teil implizite) Aussagen über die Zukunft, die exemplarisch für das stehen, was Riemann um die Jahrhundertwende als Zukunft wünscht, und welche Entwicklung sich nicht fortsetzen sollte. Für Riemann ist die Entwicklung der Musik mit Bach bereits auf einem Höhepunkt angekommen und der Musiktheorie obliege die besondere Verantwortung, die Urgesetze der Musik aufzudecken und zu vermitteln, um diese Vollendung zu bewahren und in die Zukunft zu führen. Dabei stand für Riemann einiges auf dem Spiel: Degenerierte die Musik, stürzte die höchste der deutschen Künste von ihrem Thron.13 Riemann befindet sich geschichtsphilosophisch in einer schwierigen Lage: Für ihn hat die Musik ihre Vollendung bereits erreicht. Seine pädagogisch-mu12 13

Riemann 1894, 146. Susanne Shigihara, Herausgeberin eines Quellenbandes zu Felix Draesekes Artikel »Die Konfusion in der Musik. Ein Mahnruf« (1906) und ausgewählter Entgegnungen, an der sich bekanntlich auch Riemann beteiligte und die zu einem Zerwürfnis mit seinem Schüler Max Reger führte, bezeichnet die ›Konfusions‹-Debatte auch als »letzte gesamtgesellschaftlich geführte Auseinandersetzung über die zeitgenössische Musik« und ihrer Zukunft zwischen vermeintlicher Herrlichkeit und Untergang (Shigihara 1990, IX).

Anne Hameister: Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik

siktheoretische Motivation einer Lehre von Harmonie betrifft daher eher das umgekehrt-zukünftige, oder anders: Riemanns Zukunftswunsch zeigt sich als Wunsch nach Verlängerung einer – idealisierten – Gegenwart oder Vergangenheit. Er schreibt: Die kleinen Probierer haben wohl der Zukunft einstweilen genug vorgegriffen, und in der Sucht, neue Tonverbindungen zu bringen, die Möglichkeiten ziemlich erschöpft. Um den Fortschritt ist es in der Musik ein eigen Ding! Sind wir wirklich seit Bach fortgeschritten? […] Sollte nicht doch auch die Musik, die ja allerdings unzweifelhaft später als andere Künste zur technischen Beherrschung ihrer Mittel gelangte, allmählich so weit gekommen sein, dass sie Typen von bleibendem Werthe aufzuweisen hätte!? Hat aber erst diese Erkenntnis einmal Platz gegriffen, ist sie Ueberzeugungssache geworden, so erscheint das Verlangen nach neuen Formen als eine ebenso grosse Ungereimtheit, als wenn der Maler, der Bildhauer, der Baumeister nach neuen Formen verlangen wollte.14 Riemann wählt für diesen letzten Nebensatz, dem Verlangen von Malern, Bildhauern oder Baumeistern nach neuen Formen, einen irrealen Konditionalsatz. Es ist eine Verkennung der Tatsache, dass ein Teil jener genannten Berufsgruppen eben dies tat, wie der Stahlbau des Eiffelturms, 1889 fertiggestellt, exemplarisch verdeutlicht: Dessen Architektur, die sich ästhetisch deutlich von der Vergangenheit abgrenzt, ist eine Ikone der Moderne.15 Im oben angeführten Zitat ausgelassen sind die von Riemann ebenfalls kritisch erwähnten Rufe nach Neuem für weitere musikalische Parameter wie Melodie, Rhythmen und Formen, da der Harmonielehre bei Riemann eine besondere Bedeutung zukommt. Sie ist denn auch der letzte und umfangreichste »Buch«-Teil seiner Geschichte der Musiktheorie. Insbesondere in diesem letzten Teil scheint seine vorausgegangene geschichtliche Ausführung der historischen Kontextualisierung von Riemanns Musiktheorie zu dienen, die quasi-teleologisch auf seine Überlegungen zur »Musikalischen Logik« zulaufen.16 Eine Avantgarde-Harmonik, die einen dezidierten Gegenentwurf zu

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Riemann 1894, 145. Hölscher 2016, 185. In der Alten Nationalgalerie in Berlin kann man sich jedoch ein Bild davon machen, was »man« damals unter Malerei verstand, womit deutlich wird, dass sich Riemann mit seiner Auffassung in guter Gesellschaft befand. Vielen Dank an Alexander Rehding für diesen Hinweis. Sprick 2017, 434.

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dem, was »bereits erreicht« wurde, darstellt, ist für ihn potentiell unlogisch: In einer Fußnote wird mit dem Verweis auf den »Quintbegriff«17 der Aussage, auf jeden Akkord könne jeder andere folgen, gezielt widersprochen – dies »zielt auf die preisgekrönten Hamoniksysteme von C.F. Weitzmann (1860) und Graf Laurencin (1861)«.18 Diese Vergegenwärtigung des »klassischen« Riemann, dessen harmonische Theorie auch als »Schlussstein«-Theorie einer als abgeschlossenen stilistischen Entwicklung der Dur-Moll-Harmonie wahrgenommen wird, soll hier nicht unbedingt in Frage gestellt, sondern im folgenden Textabschnitt im Hinblick auf Verbindungsspuren zu der Neudeutschen Schule nuancierter dargestellt werden. Zur Illustration des historischen Kontextes der Neudeutschen Schule mit Bezug auf musiktheoretische Aspekte folgt zunächst ein Exkurs mit Hintergründen zu jenen im obigen Zitat von Riemann erwähnen Preisen, auf dessen Grundlage ausblickartig weiterzuverfolgende Verbindungslinien zwischen Riemann und der Musiktheorie der Neudeutschen Schule dargestellt werden. Aus einer anderen Richtung, nämlich mit Blick auf die historiographische Wirkmacht seiner Geschichte der Harmonielehre, soll Riemann dann durch ein alternatives Narrativ von Ziehn ›in den Schatten gestellt‹ werden: Auch hier ist das Ziel keine Relativierung von Riemanns Schaffen und der Rezeptionsgeschichte, sondern, wie oben beschrieben, die exemplarische Darstellung zeitgenössisch alternativer Geschichten, Vergangenheiten und Zukünften. Ausgehend von einer kurzen Skizze von Ziehns

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Es handelt sich um eine Terminologie von Moritz Hauptmann, im Kern geht es jedoch um Riemanns Logik der Kadenz als These, Antithese und Synthese (vgl. Riemann [Hugibert Ries] 1872, 280). Riemann 1901a, 2. Es handelt sich bei dieser Quelle grundsätzlich um den Reprint seines Aufsatzes von 1872 zur »Musikalischen Logik« unter dem Pseudonym Hugibert Ries. Bemerkenswert ist jedoch die Änderung, die er an einer Fußnote vornimmt: Der Einstieg in den Hauptteil des Aufsatzes unter »I. Musikalische Logik. 1. Cadenz« beginnt mit »Nach M. Hauptmann würde die Befriedigung, welche die Kadenz C-F-G-C*) gewährt […].« Betrifft die nähere Erläuterung in der 1874 publizierten Fassung noch einen terminus technicus-Aspekt (»Die großen lateinischen Buchstaben bedeuten die Duraccorde mit den gleichnamigen Grundtönen; die römischen Ziffern bedeuten die Tonstufe der Tonart. D. V.«), verändert der Verfasser die Stoßrichtung der näheren Erläuterung im Druck von 1901 hin zu der oben beschriebenen ›politischen‹ Positionierung in der Harmonielehre-Debatte. An anderer Stelle wird er noch deutlicher: »[…] und erscheinen auch die preisgekrönten Harmonielehren von Weitzmann und Graf Laurencin als taube Nüsse.« (Riemann 1900b, 121)

Anne Hameister: Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik

Geschichte der Harmonielehre wird außerdem ein Schlaglicht auf Tapperts musik(theorie-)geschichtliches Narrativ geworfen.

Preisgekrönte Harmonielehre Die von Riemann erwähnte Preiskrönung von Carl Friedrich Weitzmann und Ferdinand Peter Graf Laurencin d’Amond geht auf einen Aufsatzwettbewerb der Neuen Zeitschrift für Musik zurück, der Einblicke in eine bestimmte Zukunftsschau vierzig Jahre zuvor Einblicke gibt: Anlässlich des fünfzigsten Bandes lobte der Herausgeber Franz Brendel einen Aufsatzwettbewerb zum Thema »Erklärende Erläuterungen und musikalisch-theoretische Begründung der durch die neusten Kunstschöpfungen bewirkten Umgestaltung und Weiterbildung der Harmonik« aus. Ziel war: […] die Berechtigung der Fortschritte, welche auf dem Gebiet der Harmonik durch die Werke von Schumann, Berlioz, Wagner und Liszt und aller derer, welcher sich der neuen Richtung angeschossen haben, bewirkt wurden, theoretisch zu begründen und dadurch festen Boden zu gewinnen sowohl für das bereits eingenommene, als das noch weiter zu erreichende harmonische Vermögen der Musik.19 Der Wettbewerb soll die eigene fortschrittliche musikalische Ausrichtung der Zeitschrift legitimieren. Die Musiktheorie spielt dafür durch die reflexive Betrachtung und nachträgliche Erklärung fortschrittlicher Musikstücke wie auch durch Entwürfe von Theorien, die Zukunftspotentiale für die harmonische Musik beschreiben, eine wichtige Rolle. Der erste Preisträger, Weitzmann, ist keine große Überraschung und das nicht nur aufgrund der Tatsache, dass Weitzmann im Wettbewerb selbst Teil der Jury war. Weitzmanns vorherige Schriften Der übermäßige Dreiklang (1853) und Der verminderte Septimen-Akkord (1854), in denen er diese dissonanten Akkorde als gleichwertig gegenüber den konsonanten Dreiklängen versteht, zeigen eine deutliche Positionierung als Theoretiker Neudeutscher Zukunftsmusik20 und seine noch vor dem Preisaufsatz21 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlichte »Geschichte der

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Brendel 1859, 2. Vgl. zu einer kontextualisierenden Bewertung der Publikation der gekrönten Beiträge auch Radecke 2021 sowie für eine Einordnung des Wettbewerbs in die Agenda der Neuen Zeitschrift für Musik Rehding 2003, 42–46. Siehe ausführlich zu Weitzmann den Beitrag von Oliver Korte im vorliegenden Band. Weitzmann 1860.

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Harmonie und ihrer Lehre« (1859)22 ist eine Verteidigung der Neudeutschen Schule mittels historischer Fundierung.23 Insbesondere durch Stimmführung und verzögerte Auflösungen können konsonante Akkorde verbunden werden, bei Weitzmann und Laurencin vermeintlich »jeder mit jedem«. So einfach will Riemann es sich (und anderen) nicht machen. Gleichzeitig verdient das eingangs gezeichnete Bild vom ›klassischen‹ Bach- und BeethovenRiemann einen genaueren Blick, berücksichtigt man die folgende Äußerung zum Verhältnis von Kompositionspraxis zur Theorie: Fragt man sich, worin die eigentliche Aufgabe der Theorie einer Kunst bestehe, so kann die Antwort nur lauten, dass dieselbe die natürliche Gesetzmäßigkeit, welche das Kunstschaffen bewusst oder unbewusst regelt, zu ergründen und in einem System logisch zusammenhängender Lehrsätze darzulegen habe. […] so hat im allgemeinen die Phantasie des schaffenden Künstlers mit ihrem intuitiven Erfassen des natürlich Gesetzmäßigen einen gewaltigen Vorsprung vor der Theorie, welche nur Zoll für Zoll in harter Arbeit ihre schwebenden Brücken von der greifbaren Wirklichkeit aus nach der Welt der schaffenden Kräfte hin verschieben kann. Keine zweite Kunst weist so wie die Musik eine fortgesetzt fortschreitende Entwicklung auf.24 Die vielfältigen Implikationen, die von diesem Zitat ausgehen, können an dieser Stelle nicht im Einzelnen entfaltet werden. Bevor jedoch der historiographische Entwurf von Ziehn in den Fokus rücken soll, sei der Aspekt herausgestellt, dass Riemann es offensichtlich als Aufgabe der Musiktheorie sieht, immer wieder Brücken zur Kompositionspraxis zu bauen, jedoch schwebend, was das Ziel angeht. Dass es ihm mit der Nähe und Offenheit zur zeitgenössischen Kompositionspraxis durchaus ernst gewesen war, lässt sich der Widmung entnehmen, für die sich Riemann in seiner Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre (1880, später: Handbuch der Harmonielehre [1887]) entscheidet:25 Herrn Abbé Dr. Franz Liszt verehrungsvoll zugeeignet. Liszt war »natürlich von Anfang an die 22 23 24 25

Weitzmann 1859. Engebretsen 2006, 90. Riemann 1898, 450. Riemanns Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre ist kein erster Entwurf, auch wenn die Bezeichnung ›Skizze‹ es vermuten ließe. Das Wort bezieht sich vielmehr auf die Kürze; eine knappe Darstellung, die aus drei Manuskripten hervorging: »Musikalische Syntaxis« (1877), »Neue Schule der Harmonik« (unpubl.) und »Musikalische Grammatik« (unpubl.).

Anne Hameister: Von Neudeutscher Schule zu Neuer Musik

Seele des [Allgemeinen Deutschen Musik-]Vereins als das erklärte Haupt der »Neudeutschen Schule«.26 Insofern die Brücken zwischen den übermäßigen Dreiklängen zu Beginn von Liszts Faust-Sinfonie und Riemanns Dur-Molltonalen Prämissen seiner Harmonielehre sehr vage anmuten, überrascht die Widmung und ließe sich zunächst als Frühwerk-Irrläufer abtun. Riemann bemüht sich jedoch um eine geschichtliche Interpretation von Liszt, die ihn in »die« – seine, also Riemanns – Geschichte der Musik integriert.27 Dass diese Deutung bei Liszt auf besondere Zustimmung stieß, daran kommen Zweifel. Tatsächlich scheint es, als könne Liszt der Widmung nicht viel mehr als höflichen Dank abgewinnen; die Anregungen der »schmackhaften Gänge«, die er im hier folgenden knappen Bedankungsschreiben skizziert, konnte er bereits durch Weitzmann erhalten haben:28 31. Octbr. 80 (Villa d’Este, Tivoli) Sehr geehrter Herr Doctor,  

Aufrichtigen Dank für die freundliche Widmung Ihrer »Skizze einer neuen Methode der Harmonie-Lehre«. Von den darin angeführten Beispielen habe ich bereits einige benützt und werde mir nächstens auch diese schmackhaften Gänge erlauben:

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Riemann 1898, 426. So beschrieb er Liszt als Person mit Einfluss auf den öffentlichen Geschmack, die durchaus nicht allein auf »moderne Bestrebungen« ausgerichtet war, sondern auch »von einer hohen Pietät für das Große und Edle aller Zeiten getragen war« (Riemann 1901b, 416). Riemann widmet ihm bereit seine Musikalische Syntaxis. Liszt bedankt sich mit dem Hinweis, dass ihm »auf dem auf dem grauen Felde der Theorie, wo die Acker-Arbeit selten zur Ernte führt« bisher die zwei Monographien von Weitzmann zum SeptimenAkkord und übermäßigen Dreiklang bisher das »Liebste seien«. Er lädt Riemann jedoch ein, ihn in Weimar zu besuchen und »das verhängnisvolle theoretische Kapitel mit mir ausführlich, ab hoc et ab hac, zu besprechen« (Riemann 1918, 514).

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Uebrigens entschuldigen Sie meine Untauglichkeit zu theoretischen Beurteilungen. Verehrungsvoll ergeben F. Liszt.29 Für die Fragestellung dieses Textes ist jedoch ohnehin die Frage relevanter, welche Bedeutung die Widmung Liszts für Riemann hatte, als umgekehrt. Hier ist festzuhalten, dass sich Riemann nicht nur zu einem deutlich späteren Zeitpunkt, 1917, mit der Publikation von Liszts Widmungsbedankungsbriefen in der Allgemeinen Musik-Zeitung 1917 öffentlich und nachdrücklich bekennt: »[…] Auf alle Fälle zeigt der zweite Brief [vom 31.10.1880], daß die Widmung des die neue Methode anbahnenden Werkchens gerade an diesen Bahnbrecher neuer Ideen keine leere Form und kein Fehlschlag gewesen ist.«30 Bereits eine frühere Publikation war mehrfach geplant gewesen, zunächst im Vorwort der 6. Auflage seiner Skizze und dann in der Brief-Sammlung durch La Mara (Ida Marie Lipsius).31 Vor dem Hintergrund der deutlichen Ablehnung der im weitesten Sinne Neudeutschen Harmonielehre-Tradition von Ziehn, Tappert, Weitzmann und Laurencin bleibt dies ein nachhaltiges und insofern auch bemerkenswertes Bekenntnis zur Figur Liszts.32 Der Irritation, dass Riemann mit alternativen Versuchen einer harmonisch-logischen Erklärung nicht viel anfangen konnte, sei in einer exkursartigen Diskussion grundlegender Elemente seiner Harmonielehre abschließend nachgespürt: Bevor Arnold Schönberg die »Emanzipation der Dissonanz« proklamiert, spricht Riemann ihr zunächst die Daseinsberechtigung in Musik ab – als Willkürlichkeit markiere sie die Schranke von Kunst,33 zu deren Nach-

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Riemann 1917, 514f. Ebd., 514f. Offenbar hatte Riemann die Absicht, die Briefe im Vorwort der 6. Auflage der Skizze als »Legitimation« seiner Widmung abzudrucken, konnte sie jedoch nicht finden und sie waren anscheinend ein zweites Mal verschwunden, als La Mara Briefe anfragte (Riemann 1917, 515). Indem Riemann sie zu einem späteren Zeitpunkt und vergleichsweise unverbunden als Zeitschriften-Artikel publizierte, sind sie gewissermaßen ein drittes Mal verschwunden, oder zumindest bisher nicht Teil des wissenschaftlichen Diskurses. Vgl. Riemann 1900b, 121. Riemann [Hugibert Ries] 1872, 280.

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weis und Begründung dieser »ganz bestimmte[n] Schranke«34 sein früher Aufsatz »Musikalische Logik« entsteht. Was konsonante Akkorde für ihn sind, erklärt sich anhand seiner Definition von Dissonanz: Störung der Einheit der Klangbedeutung durch fremde Elemente.35 In letzter Konsequenz ist bei Riemann nur die Tonika selbst vollkommene Konsonanz, jede andere Harmonie erhält erst durch den Bezug auf eine Tonika ihren »vollen ästhetischen Wert«36 . Diese ›andere‹ ist insofern nicht nur nicht eigenständig, sondern ›beziehungsstrebig‹, und insofern auch »die Einheit« der Tonika störend. Insofern sich jedoch eine Harmonie »logisch« auf die Tonika beziehen lässt, und damit eine die Tonika stabilisierende Funktion einnimmt, kategorisiert Riemann sie als konsonant. Dies ist ein Konsonanz-Dissonanzverständnis, bei dem eine Harmonie nicht aus seiner vertikalen Struktur heraus als konsonant oder dissonant beurteilt werden kann. Entscheidend ist das Verhältnis zu einem gegebenen, gewissermaßen a priori gesetzten, Bezugsklang. Dies jedoch liest sich wie genuin kontrapunktisches Denken, mit dem Unterschied, dass ein punctus eine Harmonie sei.37 Damit wäre auch ein Akkord als Ganzes dissonant und nicht etwa nur die Septime oder None im Septimen- oder Nonenakkord, bei der es genügen würde, die Namensgeber wegzulassen oder aufzulösen, um Konsonanz zu erzielen. In diesem Sinne erläutern auch dissonante Zusatztöne oder ›charakteristische Dissonanzen‹38 nur die logische Bedeutung des Klangs. In der Konvention der Terminologie mögen dissonante 34 35

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Riemann [Hugibert Ries] 1872, 280. Um 1900 wird die Frage nach der Definition einer Dissonanz grundlegend neu und aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt. Während Helmholtz etwa eine physiologische Begründung verfolgt, ergänzt Carl Stumpf wenig später eine psychologische Erläuterung. Riemann differenziert zwischen ›akustischer‹, also physikalischer, und ›musikalischer‹ Dissonanz (vgl. etwa Riemann 1890, 7), die sich in die Kategorie psychologischer Dissonanz-Konzeption einordnen lässt (vgl. Rehding 2019, 457). Die oben genannten Ausführungen beziehen sich auf letzteren Dissonanz-Begriff. Riemann 1887, 64. Vgl. Rehding 2019, 457; siehe auch den Beitrag von Ariane Jeßulat im vorliegenden Band. Vgl. dazu z.B. Riemann 1903, 60f.: »Da nämlich die Dominanten insofern nie vollkommen konsonant sind, als sie stets von der Tonika aus vorgestellt und beurteilt werden (also sozusagen stets mit dieser zusammen), so ist es nicht verwunderlich, dass sie ungleich häufiger als die Tonika mit Zusatztönen erscheinen, die ihre Bedeutung noch unzweifelhafter hinstellen […].« Als Dualist ist Riemann die Herleitung der charakteristischen dissonanten Töne aus der jeweiligen anderen (Ober- oder Unter-)Dominante wichtig.

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Noten die Bezeichnung des Akkords ändern, nicht aber die Bedeutung der Harmonie im musikalischen Gefüge.39 Indem Riemann nun im ersten Teil seiner Harmonielehre aufzeigt, welche Klangprogressionen zu denen gehören, die »logisch verständlich«, also konsonant seien, sagt er noch nichts über deren ästhetische Verwendung in einer Komposition. Bemerkenswert ist hier, dass mit diesem Verständnis von Dissonanz sowohl die physikalisch-akustische als auch die konventionelle kontrapunktische Bedeutung ausgehebelt und in ein »verständlich machen«, also in den Bereich des musikalisch »logischen« integriert wird. Das Unlogische hingegen bleibt außerhalb des Möglichen: Das Riemannsche Beziehungsgeflecht konstruiert sich durch Klangschritte, als »Entwickelung«. Anders ausgedrückt, bestimmt das System der Klangschritte die Ordnung. Nicht-logische Klangschritte sind nicht dissonant, sondern Un-Ordnung. Wenn es nun also unzweifelhaft ist, dass die Kunstwirkung der Musik darauf basiert, dass sie durch die Bewegungsformen der Töne die Illusion des Seelenlebens, menschlicher Gemüthsstimmungen und Affekte erweckt: welche sind dann im Einzelnen die Mittel, mit denen sie solche Wirkung hervorbringt? welche [sic!] sind die komponenten Faktoren des schliesslich resultierenden Eindrucks? Niemand wird behaupten wollen, dass ein wüster Lärm, der ohne Frage ein sehr bewegtes Gemisch vieler Töne ist, eine Kunstwirkung hervorbringt, dass er andere Stimmungen hervorzuzurufen vermag als Unwillen und Gereiztheit über die unliebsame Störung unseres Gleichgewichts; vielmehr leuchtet von vornherein ein, dass gewisse Prinzipien der Ordnung, Uebersichtlichkeit etc. mit zur Geltung kommen müssen, wenn eine ästhetische Wirkung entstehen soll.40 Während im konventionellen kontrapunktischen Konzept von Dissonanz das irritierende, störende, strebige Moment – gleich ob als punctus (Note), Ton, oder Klang – zwar eine in Form von ›Auflösung‹ eingehegte, aber innerhalb der Musik dennoch unverzichtbare Daseinsberechtigung hatte, ist Riemanns im Kern totalitäres System ein Regime der Konsonanz; strebig ist bei Riemann der Satz konsonanter Akkorde. Es ist vergleichsweise leicht, Riemann seinen Idealismus als ein totalitäres System vorzuhalten. Gerade zur Kontextualisierung seiner Funktionstheo-

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Vgl. Riemann 1887, 64. Riemann 1900a [1878], 50.

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rie in der Unterrichtspraxis wäre dies sicher eine lohnenswerte Diskussion.41 Die spannende Frage ist jedoch, was Riemann zum großangelegten Konsonanzsystem der Harmonie bewegt hatte. Riemann beschreibt es selbst als Reaktion auf die von Weitzmann und Laurencin ausgehende Gefahr von nicht bloß kontingenten, sondern arbiträren Abfolgen, also unlogisch-unsystematischen harmonischer Progressionen (bei denen jeder Akkord auf jeden folgen könne)42 . – Es ließe sich, von Riemanns eigenem Geschichtsnarrativ ausgehend, in einem übergeordneten Sinne darüber hinaus (noch vor Schönberg) auch als ein Versuch lesen, das Konzept von dissonanter Spannung als Zwiespalt zu überwinden und im weitesten Sinne vielleicht sogar als Unterfangen, jenen Zwiespalt zu überwinden, den Helmholtz mit der Entwicklung der stark an Einfluss gewinnenden empirischen Naturwissenschaft als ›Neue Macht‹ in der Wissenschaft beschreibt.43 Die Empirie des dualistischen Aspekts seiner Harmonielehre betreffend, scheitert Riemann bekanntlich: Die 1875 noch vermeintlich gehörten Untertöne44 verlagerten sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Laufbahn vom ›äußeren Ohr‹ in das ›Innere des Menschen‹. Von akustischen Phänomenen als Legitimation wandte Riemann sich schließlich einer psychologischen Begründung zu.45

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Die Berücksichtigung der deutschen Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert liegt hier nahe (Vgl. Holtmeier 2003), sie wäre eine Möglichkeit, die eingangs erwähnte häufig fehlende Kontextualisierung von Harmonielehre aufzufangen. Dass die riemannsche Logik durchaus anspruchsvoll angelegt war, spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass diese Gedanken in modifizierter Weise dann auch als Skizze, Katechismus oder vereinfachte Harmonielehre erschienen. Hierfür scheinen insbesondere rezipientenorientierte Aspekte den Anlass gegeben zu haben. Siehe Fn. 18, vgl. auch Rehding 2003, 50. »Viel tiefergehend noch und weiter tragend, wenn auch viel langsamer sich entfaltend, ist eine andere Seite ihrer Wirkungen, nämlich ihr Einfluß auf die Richtung des geistigen Fortschreitens der Menschheit. Es ist schon oft gesagt und auch wohl den Naturwissenschaften als Schuld angerechnet worden, daß durch sie ein Zwiespalt in die Geistesbildung der modernen Menschheit gekommen sei, der früher nicht bestand. In der Tat ist Wahrheit in dieser Aussage. Ein Zwiespalt macht sich fühlbar; ein solcher wird aber durch jeden großen neuen Fortschritt der geistigen Entwickelung hervorgerufen werden müssen, sobald das Neue eine Macht geworden ist und es sich darum handelt, seine Ansprüche gegen die des Alten abzugrenzen.« (Helmholtz, »Über das Streben nach Popularisierung der Wissenschaft«, zitiert nach Steege 2015, 26) Vgl. Riemann 1875. Vgl. Probst 2012.

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Alternative Geschichtsschreibung durch Bernhard Ziehn Riemann war nicht nur als Theoretiker, sondern auch als Historiker prägend: Selbst wenn die Darstellung der Verwurzelung seines Dualismus von Gioseffo Zarlino über Jean-Philippe Rameau sowie Arthur von Oettingen und Moritz Hauptmann einer historischen Kritik im weiteren Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts nicht uneingeschränkt standhielt, führte die Auseinandersetzung dazu, dass diese teleologisch auf seine eigene Theorie hinzielend angelegte Darstellung bis heute gut erforscht und somit auch gut überliefert ist. Ziehns Geschichtsschreibungsentwurf der Harmonielehre im 19. Jahrhundert ist schon deshalb lesenswert, weil er einen historiographischen Gegenentwurf darstellt, der sich als solcher explizit gegen Riemann richtet: Es lässt sich nichts dagegen einwenden, wenn Herr R. bezüglich seiner Harmonielehre dem alten Zarlino die Vaterschaft zuschiebt […]. Nur sollte Riemann nicht beharrlich von der »neueren« Harmonielehre und den »neusten« Ergebnissen reden, da er ja nur Riemannsche Harmonielehre, nur Riemannsche Ergebnisse meint. […] Es ist nicht zufällige Unterlassung, sondern beabsichtigte Unterschlagung, wenn Herr R. in seiner »Geschichte der Musiktheorie vom 9. bis 19. Jahrhundert« kein Sterbenswörtchen davon verrät, was im 19. Jahrhundert an wirklicher Harmonielehre hervorgebracht wurde.46 Folgt man Ziehns ›wahrer‹ Geschichte der Harmonielehre im 19. Jahrhundert, so gehören dazu Weitzmanns Neue Harmonielehre im Streit mit der alten, Tapperts Musikalische Studien, Cyrill Kistlers Harmonielehre für Lehrer und Lernende (1879), Robert Mayrbergers Harmonik Richard Wagners (1883), Ziehns eigene Harmonie- und Modulationslehre (1888) und weiter Heinrich Rietschs Tonkunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Technik (1900). Es ist zunächst festzustellen, dass diese Autoren heute zwar nicht vollkommen unbekannt sind, aber auch nicht regelmäßig im Zentrum musiktheoriegeschichtlicher Untersuchungen stehen. Herausgegriffen sei hier Tapperts Studie, die sein Interesse an der darwinistischen Theorie abbildet, welche er in einem Übertragungsversuch auch in der Kultur- und Kunstgeschichte nachzeichnen möchte. Mit diesem Versuch steht er nicht alleine dar. Der Musiktheoretiker, Komponist, Kritiker und Pädagoge Tappert ist allerdings 46

Ziehn 1900, 104.

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darüber hinaus eine wichtige Figur in der Debatte um Zukunftsmusik im 19. Jahrhundert: Er legt einen ersten Entwurf zu der Begriffsgeschichte von »Zukunftsmusik« vor,47 und diskutiert darüber hinaus in seinem Aufsatz Die alterierten Akkorde auch erstmals den Tristan-Akkord, aus deren kritischen Reaktion von Carl Fuchs der bis heute andauernde Diskurs über den ›TristanAkkord‹ hervorging.48 Im Vorwort seiner Musikalische[n] Studien beschreibt Tappert, was ihm im Zuge der Auseinandersetzung mit der Harmonielehre der vergangenen drei Jahrhunderte »wie Schuppen von seinen Augen« fiel: »[…] ich lernte glauben, dass eine Weiterentwicklung auch in der Musik möglich sei!«49 In seinen Ausführungen zeigt sich, wie bewusst Tappert die darwinistische Hypothese sowohl als Möglichkeit nutzt, gegenüber dem Riemannschen Narrativ einer klassischen, unwiederbringlichen Epoche den Horizont für neue Entwicklungsmöglichkeiten zu öffnen und gleichzeitig zu sichern, dass diese nicht schrankenlos sei.50 »Gewohnheits-Musikanten« und »zum Tode erschrockene Harmoniker« sollten durch seine Musikalische[n] Studien gleichermaßen inspiriert wie auch beruhigt werden. Zwar ist die geplante Entwickelungsgeschichte der Harmonielehre offenbar nie entstanden, sodass etwa auch eine Skala nicht die proklamierte Verbreitung findet, »deren Eigenthümlichkeiten« ihr in der »›Harmonielehre der Zukunft‹« ein Plätzchen sichern würden51  – es liegt womöglich an der ambitionierten Anlage des Unterfangens, welches bereits in den Musikalische[n] Studien zu enzyklopädischen Beleg-Sammlungen einer darwinistischen Entwicklung gerät. Es bleibt bemerkenswert, dass Tappert in historischen Zusammenhängen nicht nur die Vergangenheit, sondern ebenso auch die Zukunft in bestimmter Weise adressiert. Im Unterschied zu Riemann oder Tappert versteht Ziehn die historische Entwicklung der Harmonielehre nicht als eine (natürliche) Entwicklung hin zu ihrem natürlichen geordneten Ziel, sondern begründet seine Klassifikation

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51

Tappert 1877. Vgl. Holtmeier 2006. Tappert 1868, 4. »Die alte Erschaffungstheorie, wie sie namentlich seit der ›klassischen Zeit‹ sich gebildet, hat manches Talent zu Grunde gerichtet, indem sie vom ›Lernen‹ abhielt, den Schwerpunkt der künstlerischen Thätigkeit aus dem Individuum in’s ›Blaue‹ verlegte und das Aufkommen einer ungeheuren Menge Irrthümer begünstigte.« (Tappert 1868, 70) Tappert 1868, 74.

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von Akkorden und Akkordverbindungen ausschließlich mit Literaturbeispielen aus der Komposition, von Giovanni Battista Pergolesi und Johann Sebastian Bach bis Hauptmann und Liszt.52 Ziehns Harmonielehre entsteht in Anlehnung und Abhängigkeit von der Kompositionsgeschichte, es gibt weder eine übergeordnete Zeitfigur noch eine naturwissenschaftliche Metatheorie. Die Beobachtungen zur historischen Kontingenz der musikalischen Praxis scheinen für Ziehn dabei die Legitimationsgrundlage für Bedeutungserweiterungen zentraler Harmonielehrebegriffe wie ›Mehrdeutigkeit‹ oder ›Schlusswendungen‹ zu sein. So spricht Ziehn 1906 in seinem Aufsatz »Ueber neuere und neuste Harmonielehren« etwa gelassen aus: Heute noch von Dominanten als »Dominanten« zu sprechen, ist ein Anachronismus. Wir dürfen zwar das Wort gebrauchen, weil es althergebracht ist; doch seine ursprüngliche Bedeutung hat es längst verloren. Die Dominanten dominieren nicht mehr – darüber sind wir glücklicherweise hinaus. Gäbe es das Wort Dominante nicht, die sogenannte vereinfachte Harmonielehre [Riemann], dieser Hohn auf den Verstand der Musiker, dieser Hohn auf die Musik überhaupt würde nicht entstanden sein.53 Ziehn bewegt sich in seinen Überlegungen zur Harmonielehre wie auch in seinen kompositionspraktischen Überlegungen weg vom diatonischen dur-mollKontext, dies jedoch in enger Anlehnung zur Kompositionspraxis: ›Vorauseilende‹ Harmonielehren wie diejenige von Capellen – die im zweiten Teil dieses Textes diskutiert wird – wurden von Ziehn stark kritisiert.54 Abschließend soll dieser erste Teil des Textes zur Neudeutschen Schule als Praxis-Treiber einer Neuen Harmonielehre jedoch in seiner Bedeutung für den Zukunftsmusik-Diskurs eingeordnet werden: Tomi Mäkela ist in seiner Einschätzung zuzustimmen, dass Richard Wagners Kunstwerk der Zukunft von 1850 der Kategorie »Zukunft« ihre musik- und kulturhistorische Bedeutung gibt.55 Die kulturhistorische Bedeutung ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass mit dem Stichwort Zukunftsmusik – unter anderem – eine wichtige kulturpolitische Auseinandersetzung geführt wird. Vollständiger wird das Bild noch, bezieht man auch die musiktheoretischen, genauer: die Debatten um Harmonik, mit ein, die im Fahrwasser um die Auseinandersetzung zu

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Ziehn 1887. Ziehn 1906, 755. Vgl. Ziehn 1906. Mäkelä 2019, 38.

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einer neuen Musik stattfanden, für die sich eine Kontinuität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis um 1900 nachweisen lässt. Spielt Wagner als Komponist kompositions- und kulturhistorisch daher eine zentrale Rolle, so sind auch die musiktheoretischen Debatten musikhistorisch bedeutsam: Die ›regulative‹ Tradition der Disziplin56 entfaltet potentiell eine große Wirkmacht für die Entwicklung, Legitimation und Beeinflussung von Zukunftsvorstellungen der Musik und bekommt so eine Agens-Funktion zugesprochen.57  – Eine historische Zuspitzung, die die Intensität der geführten Debatten nachvollziehbar macht, besteht darin, dass die Musik zu diesem Zeitpunkt nicht nur als »höchste der deutschen Künste« verstanden wurde, sondern geschichtlich zusätzlich als »junge Kunst« bezeichnet wurde, also potentiell immer in Gefahr, noch nicht genügend wehrhafte Kräfte gegenüber etwaigen Bedrohungen entwickelt zu haben.58 Zugespitzt lässt Thomas Mann den Genuss von Musik der Neudeutschen Schule (Wagner) in seinen Frühwerken Buddenbrooks (1901) und Tristan (1901) in gleicher Weise tödlich enden, wie später im Doktor Faustus (1947) den Genuss der Neuen Musik (Schönberg). Vergegenwärtigt man sich noch einmal Riemanns Vorstellungen einer Degeneration und Regeneration der Musik59 im Zuge der Debatte um ›Konfusion‹ der Musik60 zeigt sich, dass Riemanns Idealismus nicht allein auf abstrakte harmonische Kompositionsstrukturen beschränkt bleibt – die Musik muss nicht zwangsläufig an der Moderne zugrunde gehen, sondern könnte mithilfe der Musiktheorie gewissermaßen ihre Selbstheilungskräfte entfalten und sich regenerieren.

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Dahlhaus 1984, 6–9. Dass dies auch dem Selbstverständnis nach der Disziplin Musiktheorie um 1900 entspricht, ließe sich anhand eines Riemann-Zitats interpretieren, das nicht, wie von ihm intendiert gemeint, als positivistische Aussage zur Musikgeschichte des 13./14. Jahrhunderts, sondern als Selbstaussage gelesen wird: »[…] bis wir schließlich bei eine [sic!] Periode kommen, in welcher das Schaffen auf dem Gebiete der mehrstimmigen Musik noch so primitiver Natur ist, dass die Theorie als das eigentliche Agens des Fortschritts erscheint.« (Riemann 1898, 5) Schenker 2005, 219. Als Spielart des metaphorisch Jungen bekommt die Musik als ›schwebendes Kind‹ bzw. ›strammes Baby‹ und ›schöner und starker Jüngling‹ im polemischen ästhetischen Streit zwischen Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner anthropomorphe Züge zugeschrieben (Busoni 1974 [1907], 9–11, Pfitzner 1926 [1917], 193). Riemann 1908. Vgl. Shigihara 1990.

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II. Harmonielehre als Theorie-Treiber einer zukünftigen Kompositionspraxis Nach der Darstellung von dem Einfluss der Kompositionspraxis auf die Harmonielehre folgen nun Analysen von Georg Capellens und Heinrich Schenkers Zukunftsvorstellungen mit Blick auf die Beeinflussung zukünftiger Musik. Für Capellen findet die Zukunft bereits in der Gegenwart statt: Dies spiegelt sich in so publikationswirksamen Titeln wie Die Zukunft der Musiktheorie (1905), Ein neuer exotischer Musikstil (1905), oder Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre (1908) wider. Die Monographie Die Zukunft der Musiktheorie besteht inhaltlich im Wesentlichen aus einer fortgeführten Auseinandersetzung mit Riemanns Theorie der Untertonreihe und Capellens Gegendarstellung, der Abhängigkeit der Molltonalität vom Dur-System. Dass der Begriff ›Zukunft‹ in der Publikation selbst vom Titel abgesehen nicht erneut vorkommt, verstärkt den Eindruck einer konzeptionell eher groß angelegten Darstellung, ebenso wie Capellens Diagnose im Vorwort, dass die übliche Musiktheorie bei den heutigen Komponisten und Ästhetikern in Misskredit geraten sei, »weil sie dem denkenden Menschen weniger denn je genüge und der Praxis meilenweit hinterherhinke«.61 Dieser Umstand würde sich auch durch die breite Akzeptanz des ›Monismus‹ im Bereich der Musiktheorie nicht wesentlich ändern. Die Konsequenzen aus seiner Feststellung löst Capellen jedoch drei Jahre später in seiner Fortschrittlichen Harmonie- und Melodielehre ein. Im dortigen Vorwort nimmt er auf sein noch ungelöstes Anliegen erneut Bezug und beschreibt den Zweck dieser Publikation: »Wenn es mir gelänge, […] die klaffende Dichotomie zwischen Musiktheorie und Praxis zu beseitigen, […] würden meine Bemühungen reichlich belohnt werden.«62 Capellens zweites im Vorwort beschriebenes Anliegen geht noch über die Reflexion der zeitgenössischen kompositorischen Praxis durch die Theorie hinaus: Sollte sich ferner in dem Verfasser des so angelegten Reformwerkes zufällig der logische Denker mit dem phantasievollen Künstler vereinigen, so wird man die Möglichkeit zugestehen müssen, dass aus den gewonnenen Prinzipien neue Ausdrucksformen erschlossen und entwickelt werden, die nicht sowohl spekulativen als wirklich praktischen Wert haben, zumal wenn sie

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Capellen 1908, V. Ebd., VIII.

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auch von anderen bereits geahnt sind und sozusagen in der Luft liegen. Ohne sich anzumaßen, der Zukunft ihren Stil und Geschmack vorzuschreiben, wird so [mit dieser Harmonielehre] der Verfasser Pionier und Prophet sein und dem kommenden Genie den Boden bereiten können.63 Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass Capellen erstaunlich konkret wird in den Vorstellungen seiner Zukunftsmusik, bis hin zu pragmatischen Hilfestellungen, wie man das Ohr mithilfe eines Musikinstruments an seine Zukunftsmusik gewöhnen könnte.64 Capellens hier knapp dargestellter prospektiver Entwurf65 soll im Folgenden exemplarisch gegengewichtet werden mit Schenkers Zukunftsvorstellungen, die eher von Pessimismus geprägt sind, wie der Titel seines Manuskripts »Über den Niedergang der Kompositionskunst – eine technisch-kritische Untersuchung«66 verrät: Beethoven oder auch Mozart erhalten in diesem Text den Status als eine Art Heilsbringer, während im anschließenden Niedergang Wagner die Rolle des Antichristen zufällt. Diesem heilsgeschichtlichen Narrativ entsprechend, würde die Zukunft in der Apokalypse enden. Ihr steht jedoch eine zweite, organizistisch-naturhafte Zeitfigur entgegen, nach welcher sich Fehlentwicklungen in der Musik korrigieren und wieder auf einen richtigen, ›gesunden‹ Weg weiterführen lassen. Mit seiner Harmonielehre, für die dieser Text als Nachwort ursprünglich geplant war, bietet Schenker seine Hilfe bei der Korrektur aktueller Fehlentwicklungen der Musik an. Aus verschiedenen Gründen blieb der Text, der in der transkribierten Fassung von Wiliam Drabkin über 100 Druckseiten umfasst, zu Schenkers Lebzeiten unpubliziert. Aus Briefen an den Verlag Cotta geht jedoch hervor, welche Bedeutung dieser Text für Schenkers Harmonielehre hatte: Was den für das Nachwort [der Harmonielehre] ursprünglich bestimmten Stoff anbelangt, so werde ich mir erlauben, ihn […] als besondere Schrift nachträglich […] folgen zu lassen. Für einen Teil der Sachkundigen würde, wenn die kleinere Schrift nicht alsbald nachfolgen würde, die eigentliche, aktuelle Pointe fehlen […].67

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Ebd., V. Capellen 1907, 226f. Siehe auch die Ausführungen zu Capellen im Beitrag von Jan Philipp Sprick im vorliegenden Band. Schenker 2005. Schenker 1906.

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Mehrfach bezeichnet Schenker diesen Text zwischen 1907 und 1910 als »eigentliche Pointe« seiner Harmonielehre.68 Zukunftsvorstellungen lassen Schenker auch weiterhin nicht los. So schrieb er etwa 1922 an August Halm: Es sei Ihnen verraten, daß ich für die Zeit nach dem Erscheinen des IV. Bd. u. der »Formenlehre« [unpubl.] ein Werkchen plane, etwa »Zukunft der Menschheit« betitelt: Bis dahin wird das vollständige Werk der Neuen musikalischen Theorien und Phantasien den Beweis erbracht haben, daß es geradezu Pflicht eines Menschen ist, der Einblick in Urgesetze hat, wenn auch nur solche musikalischer Art, sich zu dieser Frage zu äußern: daß er dazu mehr Befugnis hat, als die vielen Minister, Parteiler, Philosophen u. Dichter, die den Anblick von Urgesetzen einst genossen, steht fest.69 Die musikalischen Strukturen, mit denen Schenker sich beschäftigt, sind für ihn Urgesetze, deren Aussagekraft weit über musikalische Zusammenhänge hinausgeht und sogar Aussagen über die Zukunft der Menschheit rechtfertigen. Entsprechend stellt Schönberg in einem kurzen Text »Those who complain about the decline« (1923) eine gedankliche Nähe zu Oswald Spenglers populären Bänden Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte und Welthistorische Perspektiven (1918/1923) fest.70 Der begriffliche Unterschied zwischen Schenkers ›Niedergang‹ zu Spenglers ›Untergang‹ lässt allerdings immerhin eine gewisse Hoffnung auf Wiederaufstieg zu. Vor diesem Hintergrund erscheint die Entwicklung von Schenkers Theorie nicht als eine so ausschließlich rückwärtsgewandte Verehrung von Meisterwerken, wie ihm bisweilen vorgeworfen wird. Vielmehr zeigt sich, dass Schenkers Hoffnung in einer Zukunft liegt, in der seine theoretischen Entwürfe (wieder) anwendbar wären bzw. in einen Dialog mit zeitgenössischer oder zukünftiger Komposition treten könnten. Schenkers Vorstellung, anhand der Dur-Moll-Tonalität »Urgesetze« von Musik aufdecken zu können, erweisen sich letztlich als mindestens so utopisch wie ein konkreter Entwurf einer (›exotischen‹) Musiktheorie von Capellen. Der Unterschied der Utopien liegt in den verschiedenen Vorstellungen von zukünftiger Musik, die den Harmonielehren eine jeweils unterschiedliche Ausrichtung geben: Bei Schenker leiten sich aus dem Urgesetze-Argument

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Schenker 1907, 1908 und 1909 in Briefen an Cotta: Vgl. Drabkin 2005, 10f. Schenker 1922. Schönberg 1985 [1923]. Vgl. dazu auch Almén 1996.

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präskriptive Normen ab, die Komponisten erfüllen müssten. Auf der anderen Seite steht Capellens Entwurf, der unter Zukunft nicht die Vollendung, Erweiterung oder Übersteigerung des Alten, sondern im futuristischen Sinne etwas Neues versteht, das sich ähnlich der zeitgenössisch entstehenden Wolkenkratzerbauten auf den ersten Blick beziehungsweise Höreindruck von der Vergangenheit abhebt. Für diese Entwürfe helfen Phantasieanregungen mehr als normative Regeln, die Musiktheorie dient dabei als Ermöglichungshilfe. Bevor im Fazit eine überblicksartigere Interpretation zu Prämissen der Harmonielehre um 1900 erfolgt, sei zum Abschluss dieses zweiten Teils noch einmal der Bogen zurück zu Ziehn geschlagen: Ziehn bezieht Schenkers Harmonielehre in seinem Aufsatz »Ueber neuere und neuste Harmonielehren« nicht mit ein, denn offenbar versteht Ziehn unter dem Adjektiv ›neu‹ nicht allein den Publikationszeitpunkt, sondern auch eine inhaltliche Charakterisierung, sodass für ihn eine vergleichsweise konservativ ausgerichtete Harmonielehre in diesem Kontext nicht von Interesse gewesen sein mag. Capellens Harmonielehre hingegen stellte für Ziehn den größten Stein des Anstoßes in seinem Aufsatz dar. In Bezug auf Ziehns eigene Vorstellungen einer Harmonielehre lässt sich daraus schließen, dass sich diese zwar auf ›der Höhe der Zeit‹ befinden soll, eine prospektive Harmonielehre, die der Kompositionsentwicklung vorauseilte für Ziehn jedoch möglicherweise eine Art Häresie am Hegelschen Zeitgeist bedeuten könnte.

Eine Neue Harmonielehre? Rückblickend betrachtet ließe sich mit aller Vorsicht festhalten, dass die um 1900 konstatierte Krise der Harmonielehre im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht mithilfe eines Paradigmenwechsels gelöst wird. Stattdessen scheint sie auf- und abgelöst durch eine propädeutisch-historische Harmonielehre einerseits und der Hinwendung zu einer Musiktheorie des 20. Jahrhunderts, die ihren Schwerpunkt von der Kompositionslehre auf die Analyse, Interpretation und Kritik andererseits, während Komponist:innen ihre eigenen, individuellen Theorien festschrieben. Die Beobachtung, dass sich Harmonielehre im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem weitgehend historisch-propädeutischen Diskurs verengt, könnte als Indiz verstanden werden, dass die Suche nach einer ›Neuen Harmonielehre‹ gescheitert war: Der Fortschrittsbegriff war möglicherweise zu parteiisch und aktionistisch besetzt, als dass sich eine ›fortschrittliche Harmonielehre‹ als

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gemeinsames Debatteninteresse hätte durchsetzen können. Die Intensität der Debatten und die intensive Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsraum des Vergangenen sowie dem Erwartungshorizont des Kommenden deutet in der Summe darauf hin, dass die moderne Idee von Zukunft – ihre Offenheit – die Harmonielehre vor Probleme stellte, die sie inhaltlich nicht beantworteten konnte. Ihren Umgang damit fand die Disziplin stattdessen, indem sie ›geschichtlich‹ wurde. Diese Interpretation soll im Folgenden entfaltet und ausblickhaft beendet werden. Anhand der unterschiedlichen Debattenstränge, die unter dem Schlagwort von Harmonielehre verhandelt werden, zeigen sich unterschiedliche Möglichkeiten, Teilbereiche der Harmonielehre und die Teildisziplin als Ganzes zukünftig auszurichten. Zusätzlich zu den von Dahlhaus als »explizit« (systematisches Theoriegebäude, das nicht maßgeblich durch eine bestimmte Komposition geprägt ist) und »implizit« (eine der Komposition inhärente strukturelle Logik) kategorisierten Theorien,71 die Rehding als die bestimmenden Kategorien des Zukunftsdiskurses im 19. Jahrhundert ausmacht – anhand des »vast gulf«,72 der die beiden preisgekrönten Aufsätze von Weitzmann und Laurencin trenne –, entwickelt sich um 1900 eine weitere Spielart der Auseinandersetzung, nämlich die mit dem Material und/oder Gegenstand von Harmonielehre. Im weitesten Sinne wird sie als Materialentwicklungs- oder Problemlösung mit Fortschrittsnarrativ fortgesetzt, die insbesondere von Komponist:innen und Komponist:innen-Theoretiker:innen gepflegt wird. Dabei tauchen um 1900 immer wieder kleinere Debatten um eine Reform der Notenschrift auf, die im Einzelnen eher unspektakulär wirken, in der Summe aber fragen lassen, welches Problem denn eigentlich wirklich gelöst werden soll. Es ließe sich ein Zusammenhang vermuten mit dem Unbehagen, dass die Notenköpfe in der Zukunft nicht mehr ausreichen könnten, Harmonien schriftbildlich zu repräsentieren: Das Schriftbild könnte sich zukünftig so überladen mit Versetzungszeichen und Terzstapeln zeigen, die durch Alterationen klingend überhaupt gar keine Terzen mehr repräsentieren, dass man zumindest darüber ins Nachdenken geraten kann, ob etwas ›eigentlich gemeintes‹ sich nicht auch anders darstellen ließe; von zusätzlichen, feiner abgestimmten Tonschritten innerhalb der Oktave (also Skalen-Debatten um Drittel- oder Viertel-Dritteltönen usw.) ganz zu schweigen. Das von Benjamin Steege in Helmholtz’ Forschung ausgemachte Offenheitspotential, 71 72

Dahlhaus 1985, 10. Rehding 2003, 42.

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von Helmholtz selbst als »Zwiespalt« zwischen Altem und Neuen bezeichnet,73 hallte durchaus nach. Die idealistischen Entwürfe in sich geschlossener Harmoniesysteme zeigen den Versuch, der Kontingenz von Harmonik und harmonischen Progressionen, der offenen Zukunft mit einer Vorstellung zu begegnen, die zumindest in der Gegenwart an die Utopie von Harmonie glauben lässt, oft auch als Fortschrittsnarrativ. Es wäre zu kurz gegriffen, das Bemühen um das Erreichen von Harmonie nicht auch als solches anzuerkennen. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass Riemanns Utopie ausschließlicher Konsonanz zum Scheitern verurteilt ist – das Konzept trägt ein Moment der Ausgrenzung in sich, in dem das Schisma, das dem Konzept von Konsonanz und Dissonanz inhärent ist, letztlich nur verlagert wird. Walter Klein beschreibt in einer zeitgenössischen Rezension von Schönbergs Harmonielehre dessen Umgang mit den sogenannten harmoniefremden Tönen mit den folgenden Worten: »Die Vorhalte, Durchgangsnoten, Wechselnoten und Vorausnahmen sind darnach nicht nur melodisch nichts Zufälliges (das hat schon die bisherige Lehre anerkannt), sondern auch harmonisch, sie bilden mit den übrigen Tönen des Akkordes kein mechanisches Gemenge, sondern eine chemische Verbindung.«74 Kleins Begriff einer ›chemischen Musik‹ ist, wie sich in Alexander Rehdings Beitrag in diesem Band nachlesen lässt, nicht neu. Schönbergs Konzept von Klangfarbe, wie auch die Vorstellung eines stufenlosen Spektrums (noch im binären Begriffskonzept von Konsonanz und Dissonanz gefangen, konzeptuell dieses jedoch überschreitend) für simultane und sukzessive Harmonie von Klängen, deutet einen möglichen Paradigmenwechsel an. Was Helmholtz jedoch Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie nachweist und an dessen Integration in seine Harmonielehre sich etwa Riemann abarbeitete, ist jedoch noch grundlegender und innerhalb der Harmonielehretradition gewissermaßen von transzendentalkategorialer Bedeutung.75 Wenn schon ein Ton also eigentlich ein Klang – die Summe seiner Teiltöne – ist und sowieso mehr gehört wird, als eigentlich in den Noten steht,

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Vgl. Fn. 43. Klein 1912, 210. Helmholtz selbst benennt explizit die Grenzen seiner Untersuchung: »Die Aesthetik sucht das Wesen des künstlerisch Schönen in seiner unbewussten Vernunftmässigkeit. Ich habe Ihnen heute das verborgene Gesetz, das den Wohlklang der harmonischen Tonverbindungen bedingt, aufzudecken gesucht. […] Hier aber sind die Grenzen der Naturforschung und gebieten mir Halt.« (Helmholtz 1857)

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etwa ein abwesender Grundton oder eine Schein-Konsonanz – kann eine zukünftige Harmonielehre zukünftig überhaupt eine notenbasierte Lehre sein? Helmholtz öffnet Steege zufolge ein diskursives Potential, das jener selbst zwar nicht offen ließ, aber als Potential im Raum hing: die Kontingenz und Konstruiertheit musikalischer Wahrnehmung,76 die sich diskursiv etwa in Bezug auf die Verteidigung von reiner Stimmung niederschlägt, obgleich die Kompositionspraxis diese Frage zu jenem Zeitpunkt musikgeschichtlich scheinbar entschieden hatte: […] which was its potential to arrest the rationalizing movement of common-practice theoretical discourse and to introduce a critical caesura at just the point where sensation in its impossible immediacy would assert itself, outside any subsequent theoretical attempts to control it or enfold it within a totalizing theoretical fabric. […] what makes Helmholtz at all exciting to read – and what makes him, if not a kind of modernist, then at least of great value to certain critical modernisms – was his relentless and risky attempt to show just how provisional and piecemeal perception might be, and in that risky move, to compel those who read him from a certain angle to view that ceaseless signing as neither fully their own nor completely beyond their control.77 In seiner Monographie Helmholtz and the Modern Listener wird Steeges Sympathie gegenüber dem Befreiungspotential von musiktheoretischen Dogmen deutlich. Wenn Steege es als historische Ironie bezeichnet, dass dieses Moment der Offenheit von ›Tonempfindungen‹ ein Vierteljahrhundert später durch Riemanns Tonvorstellungs-Paradigma wieder aus dem Fokus gerät, teilt sich zwischen den Zeilen ein Geschichtsbild mit, das dem Selbstverständnis von Musiktheorie bzw. Harmonielehre der Zeit nicht entspricht. Steege spricht den springenden Punkt selbst an: »where sensation occurs passively in a non-assimilable flux of experience, only tenuously subject to memory and cognition, representation holds the potential to stabilize that experience.«78 : Harmonielehre rationalizes. Das scheint ihr Wesen zu sein – zumindest nach dem, was sich als Disziplin historisch durchgesetzt hat. »Ist also das Musikhören ein Auswählen aus dem zu Gehör gebrachten Klangmaterial nach einfachen … Gesichtspunkten«, so Riemann, »so ist es kein 76 77 78

Steege 2015, 211. Ebd. Ebd., 217.

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fysisches [sic!] Erleiden mehr, sondern eine logische Aktivität. Es ist eben ein Vorstellen, ein vereinen, trennen, vergleichen, aufeinander-beziehen von Vorstellungen.«79 Riemanns Spielart der Rezeptionsästhetik ist im Grunde genommen eine Reflexionsästhetik, genauer: Eine Reflexionsästhetik, die mit einer Komposition rechnet. Riemanns Harmonielehredenken geht von Musik aus, nicht von Schallereignissen wie Klängen. Dieser Modus beherrscht Riemanns musiktheoretisches Denken bereits seit den frühen Schriften und stellt durchaus eine Entscheidung da, die sich zu jenem Zeitpunkt möglicherweise auch anders hätte treffen lassen.

Fazit In diesem Text wurden verschiedene Debattenstränge von Zukünften vorgestellt und miteinander verknüpft, Zukunft der Harmonielehre, die Zukunft der Musik(-geschichte) und Zukunftsmusik – die verschieden Debattenstränge, die als Zukunftsvorstellungen unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtungen innerhalb der Teildisziplin Harmonielehre verhandelt werden, offenbaren mögliche Ausrichtungen dieses Faches: deskriptiv-nachzeitliche Orientierung, regulativ-präskriptive Vor-Festlegungen sowie spekulativ-epistemische Tendenzen. Alle diese »terrains«80 sind um 1900 weder neu, noch enden sie dort: In der Rückschau bemerkenswert ist vielmehr einerseits die Gleichzeitigkeit intensiver Diskussion, die sich auch als Suche nach einer Neuen Harmonielehre interpretieren lässt. Dass diese zu keinem Zeitpunkt proklamiert wird, ließe sich als unabgeschlossenen Diskurs verstehen im Kontext eines Erfahrungswandels, dessen Erwartungshorizont sich nicht allein verändert, sondern mehr noch, beständig nach vorne zu verschieben scheint, mithin unabschließbar zu sein droht. Die Prämissen einer modernen Harmonielehre scheinen um 1900 dabei auf zwei Ebenen verhandelt zu werden: zum einen der in diesem Text nur im Fazit ausblickhaft gewidmeten Frage der Bezugskategorien und zum anderen der hier schwerpunkthaft behandelten Frage nach der historischen Kontingenz dessen, was als ›harmonisch‹ (und auch als ›die‹ Kompositionsgeschichte) gilt. Unter der Annahme oder der Akzeptanz, dass Harmonielehre-Regeln stil- und zeitgebunden, also veränderlich sind, hätte sich die Krise »Musiktheorie hinkt meilenweit hinter der Praxis 79 80

Riemann 1877, viii. Blasius 2002.

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hinterher« vergleichsweise einfach lösen lassen, wenn man die übertretenen Regelgrenzen ausdehnt, die Praxis also ›einhegt‹ mit einer Erweiterung der Regeln, ohne deren Basis grundlegend zu ändern, etwa indem man Sept- oder Nonenakkorde auch zu den konsonanten Akkorden zählt, oder bestimmte Klänge als schlussfähig bestimmt, um beispielsweise bei Ziehns Entwürfen zu bleiben. Schwerwiegendere Probleme treten jedoch auf, wenn man genauer hinschaut – oder vielmehr hinhört: Ist die Septime im Septakkord nur als Naturton-Sept harmonisch, oder auch als gleichschwebend temperierte Septime? Die unfriedliche oder zumindest debattenreiche Koexistenz von Konzepten wie ›Scheinkonsonanz‹ (Riemann) bzw. ›Auffassungsdissonanz‹ (Rudolf Louis/Ludwig Thuille), ›Konkordanz‹ und ›Diskordanz‹ (Carl Stumpf), ›Euphonie‹ und ›Detonanz‹ (Abraham Jeremias Polak), Obertonbau und Intervallbau (Rudolph Reti)81 weisen zudem auf ein zweites Prämissen-Problem hin, nämlich die Frage: Was genau soll die Harmonielehre eigentlich wie, und auf welcher Basis regeln? Denn auch der übermäßige Dreiklang wurde noch 50 Jahre nach Weitzmann als »Frevler«82 bzw. »Menetekel«83 bezeichnet, weil die Doppelterz c-e-gis in den Zusammenklängen ihrer Intervalle konsonant ist und dennoch weiterhin für die meisten Theoretiker als dissonanter Akkord galt. Die eingangs erwähnte Fragestellung der Harmonielehre, was und mit welcher Begründung gleichzeitig, aber auch nacheinander gut zusammen klingt, wird also um 1900 neu gestellt. Es scheint, dass die Dämmerung, in der die Harmonielehre-›Eule der Minerva‹ hier aufbricht,84 nicht so zuverlässig dem Abend oder Morgen zugeordnet werden kann, wie Thomas Christensen 81

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Nachdem hier im Text die Schönberg-Kategorie der Klangfarbe als ein Fenster in Zukunftsharmonik stark gemacht wurde, soll zumindest am Rande erwähnt werden, dass Rudolph Reti dementgegen in seinen Überlegungen zu seinem Erklärungsversuch »zeitgenössischer, ›moderne[r]‹ Harmonik« am Beispiel von Schönbergs noch ungedruckten Klavierstücken op. 19 von »ideellen Tönen« spricht: bloße Tonhöhen, ohne Stärke, ohne Klangfarbe. »Die Tonhöhe galt wenigstens bisher stets als das Wichtigste am Begriff Ton. Man hat sie gleichsam als sein Wesen, Tonstärke und Klangfarbe dagegen nur als seine Eigenschaften betrachtet. Die musikalischen Ausdrucksprinzipien entwickelten sich überdies vielenteils ohne Rücksicht auf die Stärke und Farbe. Ich meine daher vorläufig auch, wenn ich von Tönen rede, nur ideelle Töne, bloße Tonhöhen, ohne Tonstärke, ohne Klangfarbe.« (Réti 1912/1913, 67) Polak 1900, 53. Riemann 1911, 97. Vgl. Christensen 2019, 275. Am Ende der Vorrede seiner Philosophie des Rechts (1821) beschreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in einem Aphorismus die Philosophie als eine

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es noch für die Zeit von François-Joseph Fétis (1784–1871) beschreibt – an der ›klassischen Moderne‹ im Sinne einer Neuen Harmonielehre hat die Musiktheorie (bisher) nicht unbedingt partizipiert. Womöglich lässt sich die NeoRiemannian Theory, die mit ihrer Terminologie wie ›Weitzmann Regions‹ auch explizite Bezüge herstellt, als eine Art Anknüpfung an diesen Versuch verstehen.85 Die Korrespondenz mit harmonischen Wendungen in zeitgenössischer Konzertkulturmusik, Filmmusik oder und Videospielen zeigt eine ›Gegenwärtigkeit‹ dieser Harmonielehre, die zur Zeit Riemanns oder Weitzmann viel deutlicher und offensiver auch innerdisziplinär eingefordert wurde, als dies heute der Fall ist. Dem Eindruck nach, den das grundständige Lehrangebot im Fach Harmonielehre an deutschen Musikhochschulen aktuell vermittelt, scheint das Fach eher im vergangenheitsgeschichtlichen Paradigma gefangen zu sein, während es im anglo-amerikanischen Raum tendenziell mehr Bestrebungen zu geben scheint, die Neo Riemannian Theory als harmonische Theorie in allen Erfahrungsstufen der Ausbildung einzubinden, anstatt sie in spezialisierten Studiengängen, als Analyse-Schwerpunkt, oder in den Masterbereich auszulagern. Aus der hier angelegten Untersuchungsperspektive heraus zeigt sich nicht zuletzt, dass das tendenziell Konservative, das der Harmonielehre als Teildisziplin und der Musiktheorie als Ganzes anhängt, keine historische Notwendigkeit ist, sondern wesentlich durch unseren Blick gefärbt ist, unter Harmonielehre eine tendenziell konservative, tendenziell rückwärtsgewandte Praxis in der Lehre zu verstehen. Der Aufruf von Johannes Kreidler, aber etwa auch die Ausführungen zum Kontrapunkt von Ariane Jeßulat im vorliegenden Band zeigen, dass dies eine Herangehensweise darstellt, die auch anders vorstellbar ist: Während Christensen von zwei Musiktheorie-Typen ausgeht,86 den »Presentists« und »Historicists«, wäre denkbar zu überlegen, was sich neben ›past

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›nachzeitige‹ Disziplin, die Erläuterungen zu bestimmten Phänomenen erst vorbringe, wenn diese bereits Geschichte seien. Dabei hat die Neo-Riemannian Theory weniger mit Riemann zu tun, als der Name vermuten ließe: David Lewin interpretiert Riemann auf ähnliche Weise als Proto-Transformatiker, wie Riemann Zarlino als einen Proto-Dualisten darstellte. Vielen Dank an Alexander Rehding für diesen Hinweis. Christensen definiert in diesem Aufsatz zwei »Typen« von Musiktheoretiker:innen: die »Presentists« und »Historicists«. Während »Presentists« wie Allen Forte in historischen Theorien den kulturellen Kontext nicht genügend beachteten, würden die »Historicists« aktuellen Musiktheorien, die sich auf historische Musik beziehen, grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen und damit dem Vorurteil unterliegen, zeitgenös-

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oriented Historicists‹ von ›Futurists‹ lernen ließe und was dies für die gegenwärtige Harmonielehre bedeuten könnte.

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Utopian Futurism in the Music Theory of Ivan Wyschnegradsky Lee Cannon-Brown

Around the turn of the twentieth century, Russian music theory assumed the lofty task of putting music on a secure, scientific footing. As many have noted, this new Russian music theory responded to an influx of translated Western treatises by figures such as Hugo Riemann and François-Joseph Fétis, which moved it away from narrowly pedagogical approaches and toward more ambitious, speculative ones.1 Yet few historians have considered Russian music theory’s parallel engagement with the international artistic movement of futurism, practiced not only by polemicists in Italy and France, but also by radical painters, poets, and composers in Russia. In English-language histories of Russian music theory, futurist ideas are often portrayed as a pseudo-scientific passing fashion, eclipsed by the better-known contributions of Sergei Taneev, Boleslav Yavorsky, and Boris Asafiev.2 And in studies of Russian futurism, futurist music theory tends to be sidelined in favor of specific musical works by composers such as Aleksander Mosolov and Nikolai Roslavets.3 As a historical category unto itself, Russian futurist music theory has proven elusive, not only because of its later suppression in Russia, but also, as Richard Taruskin has shown, because those émigrés who continued the Russian futurist project abroad found little sympathy or understanding. Those Russian émigrés »who could neither assimilate nor go home,« Taruskin notes, »quite literally disappeared.«4 1 2

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McQuere 1983. For Ellon Carpenter, futurist and modernist theorists like Arseny Avraamov and Leonid Sabaneev tried explain Scriabin’s late works with »a variety of pseudoscientific means,« after which Yavorsky proposed more credible ideas. Carpenter 1988, 521–22. See, for instance, Hakobian 2017, 21–54. For recent analytical work on the music of Roslavets, see Bazayev 2013. Taruskin 2016.

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In this essay I examine Russian futurist music theory through the writings of Ivan Wyschnegradsky (1893–1979), a composer-theorist who left Petrograd for Paris in 1920. Wyschnegradsky’s writings underscore the importance of utopian futurism not only for the development of Russian music theory, but also for the diversification of musical thought in the early twentieth century. As much as Wyschnegradsky’s ideas engage with those of Fétis and Riemann – as received and transformed by figures like Taneev – they expand on Russian futurist notions of »ultrachromaticism« (ультрахроматизм). At another level, Wyschnegradsky’s writings dramatize a direct encounter with contemporaneous theories in Western and Central Europe. After 1920, Wyschnegradsky began to position his ideas as alternatives to those of Schoenberg, decentering the Second Viennese School’s claims to musical modernity. By looking into Wyschnegradsky’s neglected body of theory, I argue, historians can get closer to the unique legacy of Russian futurist music theory: to its initial utopian promise in the 1910s and 20s, and to its subsequent elaboration at home and abroad.

The Saint Petersburg School The intellectual world in which the young Wyschnegradsky found himself in 1910s Saint Petersburg must have been dizzying. Alongside stints in philosophy and law, he took private lessons in harmony, composition, and orchestration, fell in love with the music of Scriabin, attended futurist conferences, became invested in revolutionary socialism, and took up ideas in music theory that were to become his lifelong project. Wyschnegradsky’s outlook during his youth could not but be informed by the social and artistic upheavals all around him. Before it was shut down in 1915, Saint Petersburg’s Stray Dog Café (Подвалъ бродячей собаки) served as one of Russian futurism’s important literary venues, and it was there that Wyschnegradsky became familiar with prominent futurists such as Vladimir Mayakovsky.5 Although Russian futurism is often remembered today for its poetry, painting, and politics, musical thought played an important role in the movement from the beginning. As early as 1909, futurist artist Nikolai Kulbin published a manifesto called Free Music (Свободная музыка), calling on musicians to embrace microtonality for its 5

Wyschnegradsky 1983, 103.

Lee Cannon-Brown: Utopian Futurism in the Music Theory of Ivan Wyschnegradsky

special connection with human subjectivity.6 Later, in 1915, futurist painter and composer Mikhail Matyushin was moved to author his own treatise on microtonality, following his collaboration with Kazimir Malevich, Velimir Khlebnikov, and Aleksei Ruchenykh on the controversial futurist opera, Victory Over the Sun (Победа над солнцем), which premiered in Saint Petersburg in 1913.7 When Wyschnegradsky studied the score for Victory Over the Sun, he discovered the same square-shaped quarter tones that Matyushin would later set down in his treatise.8 At the same time as he absorbed the thought of the futurists, Wyschnegradsky studied under Nikolai Sokolov, a composer and professor at the Saint Petersburg Conservatory. The state of music theory that Wyschnegradsky would have encountered in Saint Petersburg at this time has been described by historians such as Ellon Carpenter and Philip Ewell: in the late nineteenth century, a »Saint Petersburg School« of music theory formed around the harmonic functionalism of Nikolai Rimsky-Korsakov, under whom Sokolov had studied.9 Soon afterwards, in the early twentieth century, a new kind of speculative theory took hold across Russia, headed in large part by RimskyKorsakov’s star pupil, Sergei Taneev.10 Taneev saw fit not just to teach his original theory of movable counterpoint,11 but also to bolster his ideas by appealing to the grand historical notions of Fétis. »Repeating Fétis’s idea,« Taneev wrote in 1903, »I will say that the augmented fourth, that is, the tritone, of which they were so scared in the strict-counterpoint epoch, has been made the very basis of our harmonic system.«12 Not wanting »our harmonic system« to change, Taneev appropriated Fétis’s term »omnitonic« to describe the

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Kulbin 1909. Kulbin’s propositions were similar to, and roughly contemporaneous with, Ferruccio Busoni’s in Italy. See Busoni 1907. Matyushin 1915. »Ich habe Auszüge der Partitur [für Der Sieg über die Sonne] gesehen. Wie Sie wissen war sie in Vierteltönen geschrieben – und alle Vierteltöne wurden durch viereckige Noten bezeichnet. Das Wort Viertelton wurde bei dieser Gelegenheit tatsächlich ausgesprochen, und es hat einen Einfluß auf mich gehabt – mich befruchtet.« (Wyschnegradsky 1983, 105) McQuere 1983, 26. See also Sokolov 1908. McQuere 1983, 34. See Taneev 1959. Quoted in Ewell 2019, para. 4.7.

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unchecked chromaticism he feared would spell the decline of sensible tonal practice.13 Outside the walls of the conservatories, Taneev’s notion of omnitonality found more creative meanings in the writings of two of his students, Leonid Sabaneev and Arseny Avraamov, and it was these writings the young Wyschnegradsky fastened on. Sabaneev and Avraamov were fascinated by Scriabin’s late work, and their theories sought to explain its technical and historical significance. For Sabaneev, Scriabin’s novel harmonic extensions could be justified only by appeals to corresponding harmonics in the overtone series, which he thought had been introduced into musical practice by historical necessity. As Scriabin’s followers sought ever new harmonic colors, Sabaneev reasoned, they would soon express themselves with microtonal or ›ultrachromatic‹ intervals even higher in the series, combining them to form complex ›harmony-timbres‹.14 For Avraamov, by contrast, Sabaneev’s theories of ultrachromaticism were incompatible with Scriabin’s equal-tempered piano music; Scriabin’s music portended not ultrachromaticm, he argued, but instead omnitonality, for as »Taneev understands it, omnitonality (Fétis’s term) is the adoption of temperaments.«15 As Avraamov and Sabaneev’s ›ultrachromatic debates‹ raged in the journal Contemporary Music (Музыкальный современникъ), Sabaneev’s term eventually supplanted Fétis’s in the discourse.16 Avraamov went on to describe his own just-intoned, 48-tone scale as ultrachromatic, and the young Wyschnegradsky, an onlooker on these debates, made ultrachromaticism the center of his mature theoretical work. Yet despite Wyschnegradsky’s use of Sabaneev’s term, his theories were not uninformed by Avraamov’s earlier discussions of equal temperament. Denouncing Avraamov’s mature, justintoned system as »painful daydreaming and a step back,« Wyschnegradsky argued that revolutionary microtonality would have to follow Scriabin’s lead and affirm equal temperament as a historical necessity.17 13 14 15

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Carpenter 1988, 534. Sabaneev 1913. »Омнитональность (терминъ Фетиса), какъ ее понималъ С. И. Танѣевъ, естъ утвержденiе темперацiи.« (Avraamov 1916, 157). All translations are my own, unless otherwise noted. See Sabaneev 1916. »Правда, есть среди музыкантов лица, мечтающие об этом, как, например, известный в России Арсений Авраамов, до революции сотрудничавший в ›Музыкальном современнике‹, но такое ›возвращение к природе‹ есть болезненная мечтательность и шаг назад.« (Wyschnegradsky 1923; republished in Wyschnegradsky 1992, 138)

Lee Cannon-Brown: Utopian Futurism in the Music Theory of Ivan Wyschnegradsky

After Wyschnegradsky emigrated, ultrachromaticism continued to enjoy purchase in Saint Petersburg. In 1923, the city distinguished itself with its Circle of Quarter-Tone Music, founded by none other than Rimsky-Korsakov’s grandson,18 and as late as 1927, research on ultrachromaticism continued to be carried out at Leningrad’s Russian State Institute for the History of the Arts, even after Sabaneev, one of its initial members, left Russia.19 Russian futurist microtonality held out a utopian promise that captured the imaginations of many, and even if the movement stalled domestically by 1930, it set some émigrés like Wyschnegradsky on lifelong projects abroad.20

A Futurist’s History As Wyschnegradsky synthesized conversations about microtonality and revolutionary socialism, he sat down one day in 1918 to write a brief biographical sketch of one of his musical heroes, Ludwig van Beethoven. Projecting his German counterpart against the horizon of the recent October Revolution, Wyschnegradsky mused about Beethoven’s attitude toward Napoleon, describing him as a heroic »democrat« and »proletarian composer.«21 Then he segued breathlessly from politics to music theory. »Beethoven is the first omnitonic composer,« Wyschnegradsky wrote. »In him, twelve-tone equal temperament becomes an irresistible power. From him, the tendency toward the quarter tone begins.«22 Histories of music in Russia during the twentieth century tended to share Wyschnegradsky’s Marxist-Hegelianism, his assumption that history had led teleologically to its present point in Russian politics and music.23 Many

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See Ader 2009. McQuere 1983, 48. After himself abandoning ultrachromaticism, Sabaneev visited Wyschnegradsky in Paris to learn of his work. »Amongst ultra-chromatic systems,« he reported in 1933, Wyschnegradsky’s occupied »a special place, by reason of the fact that it has the practical support of its author’s own creative work.« (Sabaneev and Pring 1933, 886) Wyschnegradsky 1918. I am indebted to Anna Fortunova for helping me translate this text before I knew any Russian. »Бетховенъ [–] первый омнитоналистъ. Въ его лицѣ равномѣрная темперацiя становится непреодолимой силой. Отъ него начинается тенденцiя к 14 ямъ тоновъ.« (Wyschnegradsky 1918) For an account of Russian music historiography at this time, see Allen 1962, 171–174.

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Russian music theorists carefully demarcated ›epochs‹ or ›eras‹ of music, such as Taneev, who celebrated a »strict-counterpoint epoch«, or Yavorsky, who cautioned that his music theory was not culture-specific but »era-specific.«24 Wyschnegradsky joined his colleagues in assuming a unifying historical telos, taking a stand against the idea that different historical musics were merely accidents of time and culture, or, in his own words, »cultural-ethnographic phenomena.« Instead, Wyschnegradsky wrote, »the music of a people or of a civilization ›make history‹ only in the sense that they realize the historical destiny of music.«25 To explain the logic of music’s »historical destiny« and present »revolution,« Wyschnegradsky presented an elaborate dialectical system, which for the sake of brevity he sometimes began with the Classical era. In the Classical era, he claimed, a grand historical thesis presented itself in the form of tonality’s hierarchical »acoustic principle« – its grounding in the overtone series – which was theorized most completely by Rameau. »It is only Rameau,« Wyschnegradsky wrote, »who, in the 18th century in his Traité […] recognizes the acoustic phenomenon as an objective basis for music theory.«26 After Rameau’s intervention, a subsequent historical antithesis brought about »the theory known as harmonic dualism,« defended »at the beginning of the 20th century [by] von Oettingen and Riemann.« Finally, with the late music of Scriabin, a historical synthesis resolved harmonic dualism into an antihierarchical atonality, where all pitches were equally permitted. In an unpublished manuscript, Wyschnegradsky set forth his dialectic under the heading »Pluralité, dualité, unité«: a tonal plurality gave way to a major-minor tonal dualism, which was then resolved by an atonal monism.27 As a theorist, Wyschnegradsky’s task was to understand in what, precisely, Scriabin’s historical synthesis consisted, and to what broader theoretical system it pointed, just as Rameau and Riemann had done for previous epochs. But first, Wyschnegradsky needed to explain why his system and its indebtedness to Scriabin’s music should take precedent over alternatives. As Wyschnegradsky began reading and writing French-language works in his new home of

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Ewell 2019, para. 4.16. Wyschnegradsky 1949b, 194. »C’est seulement Rameau qui, au XVIIIe siècle dans son Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels (1722) prend conscience du phénomène acoustique comme base objective de la théorie musicale.« (Wyschnegradsky 1949a, 69) Wyschnegradsky [o. J.], 164.

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Paris, he realized that his theory would have to contend with that of Schoenberg, whose influence was growing in Central and Western Europe. Wyschnegradsky offered his fullest critique of Schoenberg’s theory in a sprawling 1949 article, »L’énigme de la musique moderne.« With his twelve-tone technique, Wyschnegradsky argued, Schoenberg had presented only an »arbitrary« and »artificial« compositional system, lacking any »objective basis.«28 And when Schoenberg did try to ground his compositional system in some broader theory, that theory failed to cohere: at one moment, Schoenberg appealed to the acoustic hierarchies of the overtone series – a decidedly retrogressive, Ramellian appeal – while at another, he contradicted himself by asserting the dodecaphonic equality of pitches.29 Modern music needed an ambitious explanation, Wyschnegradsky asserted, completely unmoored from the logics of tonality, not only to justify the modern music that had already been written, but also to bring the future of music into the present. Schoenberg’s ideas were too conservative.

Musical Space At the center of Wyschnegradsky’s theory lay a concept of »musical space.« Not to be confused with Schoenberg’s compositional notion of the same name, Wyschnegradsky’s writings on musical space took again a long historical view, attempting to determine on what general assumptions, on what unconscious axioms, modern music had come to rest. For Wyschnegradsky, musical space had always served as a mental arena on which pitches could be thought near or far from one another, related or unrelated, and this imaginary space was determined for listeners by the reigning consciousness of their epoch. To Classical consciousness, musical space had assumed a diatonic pitch hierarchy, a limited and strictly defined system of attractive and repellant relationships governed by what Rameau would have called »tonal gravity.« Eventually, Wyschne28

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»qu’on a recours à des systèmes artificiels (la discipline sérielle de Schoenberg ou n’importe quel autre système) qui sont tous arbitraires et ne peuvent pas ne pas l’être, puisqu’ils n’ont aucune base objective.« (Wyschnegradsky 1949a, 75) Schoenberg »interprets the chromatic scale as continuous with the higher overtones« (»interprète l’échelle chromatique comme une suite d’harmoniques supérieures«), which is »in flagrant contradiction with the Schoenbergian principle of dodecaphonic equilibrium« (»en flagrante contradiction avec le principe schœnbergien de l’équilibre dodécaphonique«). (Wyschnegradsky 1949b, 184–85)

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gradsky thought, this musical space of Classical consciousness came under impossible pressure with the rise of equal temperament, which eroded any strict delineation of acoustical hierarchy. To modern consciousness, musical space began to appear not as a closed hierarchy of intervals against an empty background, but instead as a non-hierarchical »plenitude,« a continuous stream of pitches filling musical space from its lowest to its highest reaches.30 Shown in figure one, Wyschnegradsky’s vision for modern musical space spanned seven octaves from A0 to A7 , occupying what he took to be the full range of normal human hearing and musical practice.31 To suggest a smooth, atonal continuum, Wyschnegradsky represented this seven-octave range as a repeating series of tritones, with sharps replaced by tonally neutral crossed noteheads, following the notational convention of his fellow émigré, Nikolai Obukhov.32 In a line of text at the top of the figure, Wyschnegradsky further suggested a much finer division of this space: if all seven octaves were divided evenly into twelfth tones, which for him approached the human threshold for interval discrimination, a collection of 505 discrete pitches would result, forming an audibly seamless continuum. With these series of tritones and twelfth tones, Wyschnegradsky sought not only to visualize the space he had in mind, but also to index a plurality of musical possibilities. For him, the only governing principles of modern musical space were those of intervallic regularity, symmetry, and equilibrium, designed expressly to negate tonal assumptions of hierarchy and key center.33

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Wyschnegradsky 2005, 15–30, 63–78. While A0 does approach the lower limits of normal human hearing, most can hear at least an octave higher than A7 . Seemingly more important for Wyschnegradsky, as will become evident later, is that these seven octaves perfectly contain a sequence of twelve equal-tempered perfect fifths. See Obouhow 1947. An almost identical notation system was developed around the same time by Jefim Golysheff, another Russian émigré, seemingly independently of Obukhov; see Covach 2002, 612. For Wyschnegradsky scholar Pascale Criton, Wyschnegradsky’s spatial principles were infinity, continuity, and uniformity: musical space extended infinitely; its pitches existed against the background of a fluid continuum; and no specific pitches or intervals were more or less important than any others. Criton 1996, 23–25.

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Figure 1: Ivan Wyschnegradsky, »Espace total,« part of the project »Notation ultrachromatique en couleurs« (1943)

Ivan Wyschnegradsky Collection, Paul Sacher Foundation, Basel

In some of his more complicated divisions of musical space, Wyschnegradsky theorized interval patterns that he called »non-octavating,« which comprised near-octave intervals such as major sevenths or minor ninths. If a scale did not seem to be bound by an octave or its compounds, Wyschnegradsky reasoned, the musical space it created would appear totally ungoverned by the acoustic principle of tonality. Of course, in equal temperament, a compound octave results eventually from any repeated interval; a repeated sequence of perfect fifths arrives back at its starting pitch class after twelve repetitions, as does a repeated sequence of minor ninths. But as Robert Hasegawa notes, any sequence of twelve minor ninths would necessarily exceed Wyschnegradsky’s notion of »audible« musical space. Even if a sequence of minor ninths were to begin ascending at the lowest extreme of Wyschnegradsky’s space, A0 , it would never reach a compound octave audibly, and so the listener would have to perceive its spatial parameters as non-octavating. In Wyschnegradsky’s introductory note for his piece Intégrations, Op. 49, shown in figure two, just such a non-octavating space presents itself, with each minor ninth divided into »minor fifth« intervals of six-and-a-half semitones.34 Echoing the circle of fifths, Wyschnegradsky’s non-octavating space wraps around itself to form a closed, ascending cycle, moving between »audible« and »inaudible zones« at its upper and lower extremes.35

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Wyschnegradsky’s list of terms for quarter-tonal intervals is given in Wyschnegradsky 1933, 3. Hasegawa 2015, 210–213. Figure two’s cycle is based specifically on Wyschnegradsky’s piece Intégrations, Op. 49, where the pitch A, labelled »Jonction«, doubles as the pitch

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Figure 2: Ivan Wyschnegradsky, Intégrations for two pianos tuned a quarter-tone apart, Op. 49 (1963, rev. 1967) Score: fair copy with an introductory note (p. II)

Ivan Wyschnegradsky Collection, Paul Sacher Foundation, Basel

Wyschnegradsky’s theory of musical space has inspired varied intellectual comparisons. As several have noted, its valorization of a smooth, seamless pitch continuum accords with notions of continuous experience in Henri Bergson’s thought,36 which Wyschnegradsky encountered at a futurist conference in 1918.37 His musical spaces have also been compared with theories of non-Euclidean geometry, which, in their Russian futurist reception, fuelled notions of a spatio-temporal »fourth dimension.«38 Wyschnegradsky himself was fond of this latter comparison, noting how like non-Euclidean geometry,

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space’s upper and lower bounds; for more on non-octavating spaces like these, see Wyschnegradsky 1972, 108. Criton 1996, 20; Barthelmes 1995, 268–271. Kahn and Criton 2013, 107. See Barthelmes 1995, 260–267.

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his non-octavating spaces could bend themselves beyond ordinary perception and classical theoretical assumptions.39 Other intellectual comparisons have sought to grapple with Wyschnegradsky’s broader notion of musical consciousness. For Barbara Barthelmes, Wyschnegradsky’s notion of consciousness suggests a debt to the mystical philosopher Pyotr Demianovich Ouspenski, whose lectures in Saint Petersburg between 1908 and 1913 emphasized consciousness as a category transcendent of mere thinking, feeling, or sensation.40 Wyschnegradsky’s notion of consciousness also resembles the much broader movement of Russian religious cosmism, popular among symbolists and certain members of Scriabin’s circle.41 In some of Wyschnegradsky’s writings, he discusses not only an Ouspenskian »cosmic consciousness,« for instance, but also, echoing the nineteenth century cosmist Nikolai Fedorov, the »great common task« (»grande tâche commune«) of its achievement by humanity.42 As in the work of Fedorov’s follower, Vladimir Solovyov, Wyschnegradsky’s cosmic consciousness promises to lead humanity toward a unifying historical goal,43 extending »the Hegelian triad« of thesis, antithesis, and synthesis to a wider cosmic history that is »equally subject to dialectical law.«44 Far from attempting to explain a local, cultural affair, Wyschnegradsky’s modern consciousness appeals to galactic ambitions, suggesting a vast music history with Russian thought at its twentieth-century helm.

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See Wyschnegradsky 1972, 100. Barthelmes 1995, 291. See, for instance, Sabaneev 1961. Wyschnegradsky 2005, 193. Barthelmes attributes Wyschnegradsky’s notion of cosmic consciousness to Bucke 1901, see Barthelmes 1995, 290. While Wyschnegradsky does cite Cosmic Consciousness in one of his treatises, he misremembers its author as »Charles Buck«, see Wyschnegradsky 1972, 123. Wyschnegradsky’s debt to Solovyov, specifically, is suggested in Jedrzejewski 2000, 51. For more on the Russian religious cosmists, see Young 2012, Groĭs 2018. »L’humanité se développé par cycles dialectiques qui sont tous partiels, l’un succédant à l’autre, la synthèse atteinte; avant le rôle de thèse pour le bond dialectique suivant. Or, pour ceux qui souvent regarder, le cosmos tout entier est également soumis à loi dialectique, on également d’après la triade hégélienne.« (Wyschnegradsky 1974–75, 3)

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Conclusion: Looking Back on Wyschnegradsky’s Future Once he emigrated, Wyschnegradsky’s Russian citizenship was revoked, and he faced difficulties realizing his grand projects in Paris. While he spoke good French – he had learned the language from a childhood governess45  – and while he enjoyed some interaction with Messiaen, Boulez, and Xenakis,46 he pursued his work in relative isolation and poverty.47 Wyschnegradsky began to receive some attention at the very end of his life, thanks in part to the efforts of a few devoted followers,48 but for the most part, his theories spread after his death, finding wider publication in France in the 1990s and 2000s, and going on to influence contemporary composers such as Georg Friedrich Haas.49 For historians, I have argued, Wyschnegradsky’s writings hold out the promise of shedding new light on the development of Russian futurist music theory in the early twentieth century. They also present a remarkably unique vision of what Wyschnegradsky called »modern music,« removed in many respects from ideas theorists in the West tend to be familiar with, such as those of Schoenberg and his disciples. Of course, Wyschnegradsky’s uniqueness might be found as easily in his compositional works as in his writings; for the late-Soviet theorist Yuri Kholopov, Wyschnegradsky’s early use of »twelvetone chords« (»12-тоновый аккорды«) constituted a practice meaningfully distinct from Schoenberg’s »dodecaphony« (»додекафония«).50 But Wyschnegradsky’s voluminous writings hold a special importance precisely insofar as

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Jedrzejewski 2000, 17. According to the French composer Philippe Leroux, »Wyschnegradsky was a legend in Paris…. [E]ven if they always remained relatively discreet on this subject, Olivier Messiaen, Pierre Boulez, and Iannis Xenakis took turns meeting [Wyschnegradsky] to better understand his theoretical positions.« (»Wyschnegradsky était une légende à Paris; j’étais donc très impressionné. Je savais par exemple que, même s’ils sont toujours restés relativement discrets à ce sujet, Olivier Messiaen, Pierre Boulez et Iannis Xenakis étaient, tour à tour, allés à sa rencontre afin de mieux appréhender ses positions théoriques.«) (Leroux 2019) Wyschnegradsky’s encounter with »cruel neglect and derision« is discussed in Sitsky 1994, 249. Bazin 2020, 55. See, for instance, Haas 1993. Kholopov 1983, 51. For Christopher Segall, Kholopov’s historical concept of »twelvetoneness« (»двенадцатитоновость«) can decenter Schoenberg’s dodecaphony by portraying it as one compositional alternative among many; Segall 2020, 8.

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they engage directly with the Second Viennese School’s core arguments, providing not just an alternative compositional model, but also a counternarrative about modern music as such. In the early 1970s, Wyschnegradsky taught his music theory to the French composer Claude Ballif, who, having studied separately at Darmstadt in the 1960s, used it to interpret Anton Webern’s Variations, Op. 27, mvt. ii. In Ballif’s eleven-measure analysis, shown in figure two, Webern’s original score is presented in a lower staff, labelled »Original,« and a spatial reduction is presented in an upper staff, labeled »Structures spatiales.«51 Ballif’s first spatial reduction in the analysis collects the pitches from the pickup to measure one – a G-sharp, two As, and a B-flat – holding them to their original registers in a vertical stack. Starting from Webern’s low G-sharp, an augmented octave of thirteen semitones separates each remaining pitch in the structure, earning it the Wyschnegradskian label »Régime 13, espace non-octaviant.« Across measures three, four, and five, a second spatial structure collects all eight of Webern’s distinct pitches (excluding grace notes). The distance between these pitches alternates between five and six semitones, so that eleven semitones separate each pitch from the pitch two notes above it. The second structure’s label, »Régime 11, structure binaire,« describes a binary structure that repeats at a semitonally contracted octave. Over the course of Ballif’s eleven-measure analysis, five distinct eleven- or thirteen-semitone structures are identified, their precise registral positions in Wyschnegradsky’s total musical space catalogued in parentheses below the upper staves.52 Of course, much is left out in this analysis: inversionally-related sets make no appearance, and neither do the row permutations Webern consigns almost entirely to the pianist’s separate hands.53 But for Wyschnegradsky, in all likelihood, post-tonal theory’s standard observations would deal only in shallow compositional devices. In distinction to analyses focusing on tone rows, set classes, or even George Perle’s abstracted interval cycles,54 Ballif’s analysis attends to the precise registers of Webern’s pitches and their 51 52

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Ballif’s analysis is published in Ballif 1972. The position of any Wyschnegradskian spatial structure can be calculated according to its center pitch, relative to an absolute spatial center of E-flat4 , which serves always as »position one.« Ballif’s first spatial structure occupies position seven, for instance, because its center pitch, A4 , rests six semitones higher than E-flat4 . For more on determining positions of spatial structures, see Wyschnegradsky 1972, 106–107). Both of these features are illustrated in Straus 2005, 199–200. See Perle 1996.

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structures of spatial equilibrium. According to Wyschnegradsky’s »spatial principle« of modern consciousness, after all, »a sound transposed to one or more octaves is no longer the same sound, because it occupies another point in space.«55 Webern’s registral decisions show up not merely as secondary features in Ballif’s analysis, but instead as integral structural properties.

Figure 3: Ballif’s Wyschnegradskyian analysis of Webern’s Variations, Op. 27, ii, mm. 1–11; originally published in Claude Ballif, »Idéalisme et matérialité,« La Revue musicale 290–1 (1972): 22.

As Ballif deploys Wyschnegradsky’s ideas, he reimagines a staple of the post-tonal repertoire. To hear Webern’s piece through the sieve of Wyschne55

»A cet effet, il est à remarquer que, selon le principe spatial, un son transpose à une ou plusieurs octaves n’est plus le même son, car il occupe un autre point de l’espace.« (Wyschnegradsky 1949b, 197)

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gradsky’s thought is to hear it otherwise, from a cultural and geographical perspective not often acknowledged in American music theory. Ballif’s analysis can also be seen to enfold Webern’s piece within Wyschnegradsky’s picture of history: it can be seen to frame the piece not as a precursor to integral serialism and the Darmstadt School, but instead as a participant in Wyschnegradsky’s »great common task,« his teleological vision of a microtonal future. In entertaining Wyschnegradsky’s unrealized future, historians can better understand the broader intellectual moment from which it sprung. Wyschnegradsky’s future constituted one possibility among many in the twentieth century, none of which, in their own time, could lay claim to inevitability.

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— (1949a), »L’énigme de la musique moderne (1)«, Revue d’esthétique 2, 67–85. — (1949b), »L’énigme de la musique moderne (2)«, Revue d’esthétique 2, 181–205. — (1972), »Ultrachromatisme et espaces non-octaviants«, Revue Musicale 290, 71–141. — (1974–75), Recherches de formulations, Ivan Wyschnegradsky Collection, Text Manuscripts, Item 42, Basel: Paul Sacher Stiftung. — (1983), »Ein Gespräch mit Ivan Wyschnegradsky«, in: Musik-Konzepte, hg. von Juan Allende-Blin, München: Edition Text + Kritik. — (1992), »Раскрепощение звука [The Emancipation of Sound]«, Музыкальная академия [Music Academy] 639/2, 137–139. — (2005), Une philosophie dialectique de l’art musical [1936], hg. von Franck Jedrzejewski, Paris: L’Harmattan. Young, George M. (2012), The Russian Cosmists: The Esoteric Futurism of Nikolai Fedorov and his Followers, New York: Oxford University Press.

Punctus contra Punctum – Kontrapunkt als kompositionsästhetische Kategorie von Avantgarde Ariane Jeßulat

Darmstädter Avantgarde als Didaktik Am 9. Juni 1955 erschien in der Wochenzeitschrift Die Zeit ein langer Reflexionsartikel mit dem Titel »Neue und neueste Musik«. Der Autor, der Musiker und Komponist Karl Grebe, eröffnete den Text mit dem Satz: In der neuesten Musik sind Entwicklungen im Gange, die schon deswegen verwirrend sind, weil in ihnen die avantgardistische Richtung nach vorn mit rückläufigen Tendenzen verknüpft ist.1 Der in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Artikel spiegelt in seiner Metaphorik indirekt einen Diskurs wider, der vor allem in den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik stattfand. Weshalb eine Kategorie wie »Kontrapunkt« für die Diskussion innerhalb der Avantgarde eine Rolle spielte, hat verschiedene, voneinander durchaus unabhängige Gründe. Der Rezeption der Kranichsteiner Diskurse ist in der Rückschau klar von Theodor Wiesengrund Adorno, Pierre Boulez, György Ligeti, Luigi Nono, Heinz-Klaus Metzger, Karlheinz Stockhausen, Wolfgang Fortner und auch nicht wenig von Dieter Schnebel geprägt, also genau jener Personengruppe, die für das Bild der westdeutschen Nachkriegs-Avantgarde mit Darmstadt als bundesrepublikanischem Zentrum steht.2 Es droht dabei in Vergessenheit zu geraten, dass die Stimmen

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Grebe 1955. Dass dieses Bild grundsätzlich falsch ist, da die ersten wichtigen Jahre der Darmstädter Ferienkurse unter Beteiligung ostdeutscher Komponist:innen stattfanden, spielt für diesen Beitrag keine entscheidende Rolle.

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vielfältiger waren, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl von Personen gab, deren Denken mit dem Schlagwort ›konservativ‹ insofern kaum richtig charakterisiert ist, als Konservativismus eine klare Gegenposition zu Avantgarde impliziert, die angesichts der Unübersichtlichkeit der verschieden ausgerichteten Diskussionsforen, Workshops, Vorlesungen und ihren jeweiligen Reflexen in den Zeitungsrezensionen in den 1950er und 1960er Jahren in dieser Klarheit nicht ohne Weiteres einnehmbar war.3 Des Weiteren – und darüber berichten vor allem die frühen Zeitungsartikel – nahm Kranichstein seinen konzeptionellen Anfang nicht von Null, sondern mit einem geschichtlichen Aufholbedarf: Deutlich anders als bei den seit den 1920er Jahren nie gänzlich unterbrochenen Donaueschinger Musiktagen für zeitgenössische Tonkunst war der Auftrag der neu gegründeten Kranichsteiner Ferienkurse pädagogisch geschärft, ging es doch darum, zwölf Jahre nationalsozialistische Musikkultur und Musikerziehung entschieden zu überschreiben und verbotene und exilierte Musik nicht nur aufzuführen oder wiederaufzuführen, sondern auch als Modellfälle substanzieller musikalischer Fragestellungen zu analysieren und auf aktuelle Komposition zu übertragen.4 Im August 1948 ist von »Dokumenten einer revolutionären Sturmzeit«5 die Rede, und davon, »die Jugend […] ein unentbehrliches Erlebnis nachholen zu lassen.«6 Nicht nur Spieltechniken und ästhetisches Urteilsvermögen sollten erlernt und diskutiert werden, sondern »Neue Musik [selbst] ist das Arbeitsthema.«7 In den Kursen treffen die Teilnehmenden oft in klassischen Unterrichtssituationen aufeinander und der Lehrbetrieb orientiert sich an Paradigmen älterer Lehrtraditionen. So lässt sich beobachten, dass ›Kontrapunkt‹ gern als Prädikat verwendet wurde, um im Zusammenhang mit einer entweder ironisch oder umgekehrt äußerst ernsthaft zu verstehenden Referenz zur Zwölftonkomposition auf der Suche nach greifbaren analytischen Belegen für die Hochwertigkeit musikalischen Handwerks zu dienen. So heißt es in Gertud Runges Bericht über die zeitgenössische Opernkomposition im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse von Luigi Dallapiccolas Oper Hiob:

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Custodis 2010, 10–12. Freund 2020, 45–61. Bouquet 1948. Ebd. Ebd.

Ariane Jeßulat: Punctus contra Punctum

Die Musik baut sich in Zwölfton-Reihen auf und befleißigt sich der kniffligsten kontrapunktischen Künste, bei denen der Kanon eine besondere Rolle spielt. Er ist in seinem Hintereinanderlaufen der Stimmen ein Gleichnis des vom Schicksal Gejagten, in der Künstlichkeit der Form ein Gleichnis der spitzfindigen Argumentation der Freunde Hiobs und in der Strenge seines Gesetzes ein Gleichnis des unantastbaren kirchlichen Dogmas.8 Viele konzeptuelle Facetten klingen in Runges Formulierung an, vor allem Spuren einer Suche nach ästhetischen Kriterien, die offenbar von drei Fixpunkten ausgeht: 1. Zwölftontechnik 2. kontrapunktische Künste 3. normativer Aushandlungsraum zwischen Gesetzestext in der Erzählung und »unantastbarer« musikalischer Eigengesetzlichkeit im Regelwerk des Kanons

Alle drei argumentativen Fixpunkte stellt die Autorin in den Dienst eines abbildenden Verhältnisses zwischen musikalischen und sozialen Strukturen und reflektiert damit so etwas wie ein ›Misreading‹ von Ideen, die zwischen bei Adorno präsentierten Ideen zur Soziologie von Mehrstimmigkeit9 und der marxistisch-leninistischen Wiederspiegelungstheorie10 changieren.

Komposition mit zwölf Tönen und Kontrapunkt Die Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik erschienen in den 1960er Jahren erst zu einem Zeitpunkt, zu dem die Avantgarde der Nachkriegszeit bereits etabliert war und bestimmte Positionen sich bereits gefestigt hatten. Eine ähnlich redaktionell geordnete Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kontrapunkt und Zwölftonkomposition wie in den Texten dieser Reihe hat es in den Jahren davor nicht gegeben. Eine bestimmte Lesart des Verhältnisses von Avantgarde und Kontrapunkt scheint aus der Rückschau von Adornos Gedanken dominiert zu sein. In der Lektüre berühmter Texte wie »Die Funktion des Kontrapunkts in der Neuen Musik«, in denen ältere Positionen wie aus der 8 9 10

Runge 1952. Adorno 2003 [1959]. Hierfür mögen auf hohem Niveau die musikwissenschaftlichen Arbeiten Georg Kneplers stehen. Vgl. exemplarisch Knepler 1961.

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Philosophie der Neuen Musik oder auch aus anderen Texten der 1920er Jahre11 wieder aufgegriffen und geschärft werden, ergibt sich der Eindruck, als wäre das Eine ohne das Andere nicht denkbar. Das folgende Zitat demonstriert nicht allein die Universalität kontrapunktischer Beziehungsgesetze als Voraussetzung für eine im emphatischen Sinne neue Musik, sondern auch die extreme Profilierung, die Adorno dem Kontrapunkt verlieh. Er schafft damit ein ebenso analytisches wie produktionsästhetisches Konstrukt. Dieses entspricht nicht ganz dem strukturanalytischen Paradigma von Kontrapunkt, welches von der Schönbergschule entwickelt wurde, und schon gar nicht dem historisch informierten Forschungsfeld, in welchem die heutige Auseinandersetzung mit Kontrapunkt in Musiktheorie und Musikwissenschaft großenteils stattfindet. Triftige musikalische Ästhetik hätte zu entwickeln, wie der geistige Gehalt eines Kunstwerks sich konstituiert im Leben seiner aneinander sich abarbeitenden und in Konstellationen tretenden Elemente. Als Modell dafür die Dimension des Kontrapunkts, also der gleichzeitigen Führung und Fügung relativ selbständiger Stimmen auszusuchen, mag befremden. Denn die neue Musik hat es ihrer objektiven Tendenz nach seit Schönberg auf Durchkonstruktion, auf integrale Gestalt abgesehen.12 Die Gradwanderung zwischen einer Durchorganisation der Parameter, die Adorno als ein ›Altern der neuen Musik‹, nämlich als »unartikulierte Vereinheitlichung« und in letzter Instanz als Terror ansieht, auf der einen Seite und einer argumentativen Spannung in einem sehr präzise gefassten Begriff von Polyphonie auf der anderen Seite zeigt sich in folgendem Zitat: So genuin aber das Bedürfnis nach einer Musiktheorie ist, die dem Gefüge der Werke als Ganzem gerecht wird und es nicht aus Melos, Harmonik, Kontrapunkt, Rhythmus, Instrumentation und Form zusammenaddiert, so sehr wird die unartikulierte Vereinheitlichung mit schlechter Vereinfachung erkauft. Die Aufgabe, das in der Musik latente Kräftespiel zum Bewußtsein zu erheben, bezieht sich gerade auf das Verhältnis jener Dimensionen zueinander. Synthesis ist kein bloßes auf eine gemeinsame Formel bringen […], sondern hat ihre Substanzialität einzig daran, daß Widersprüche und Ge-

11 12

So z.B. Berg 1920. Adorno 2003 [1959], 146–147.

Ariane Jeßulat: Punctus contra Punctum

gensätze, die zwischen verschiedenen Bereichen oder Schichten der Musik walten, ausgetragen werden.13 Die Widersprüche und Gegensätze sind hier besonders klar als soziale Komponenten, nicht als anthropomorphisierende Metaphern von musikalischen Phänomenen gedacht. Als Kommentar auf seine Verwendung des Begriffs »musikalisches Material« betont Adorno im Folgesatz noch einmal das Zusammengehen struktureller und sozialer Komponenten: […] in jeglichem musikalischen Material steckt die gesamte musikalische Geschichte, schließlich die ganze Gesellschaft.14 So eng damit die aktuellen Re-Sozialisierungskonzepte von Kontrapunkt in historisch informierter Theorie an Adorno anzuschließen scheinen, wenn sie zum Beispiel kollektive Praxen wie mehrstimmige Improvisation in Renaissance-Musik oder barocke Improvisationen im Kollektiv zu rekonstruieren versuchen,15 so ist doch Adornos Idee und Ästhetik von Kontrapunkt davon denkbar weit entfernt. Zum einen sind Adornos Ausfälle gegen bestimmte Sozialitäten wie die Alte-Musik-Bewegung bezeichnend,16 zum anderen ist Kontrapunkt bei Adorno weniger historisch gebunden als vielmehr geschichtsphilosophisch idealisiert: Historische Unterscheidungen sind funktional als Bilder idealer Gesellschaften entworfen und werden damit nicht primär zwischen verschiedenen kontrapunktischen Stilen getroffen. Kontrapunkt betrifft in der von Adorno entworfenen Architektur von Mehrstimmigkeit vielmehr die »Schicht, in der Vertikale und Horizontale sich aufs innigste durchdringen« bzw. als polyphone Verfahrensweise, die die Dynamiken zwischen ›verdinglichter‹ Kollektivität und einer real auskomponierten Mehrstimmigkeit reguliert. Dass Kontrapunkt so etwas wie eine durch Dezimenkontrapunkt projizierte Parallelstimme, ein Oktavkanon oder eine echohafte Hoquetus-Stimme sein kann, gilt für Adornos Verständnis von Kontrapunkt ebenso wenig, wie es abwegig wäre, dass er Begleitstimmen in einer Haydn-Sonate auf derselben Ebene als kontrapunktisch verstünde wie den ostentativ thematisch-motivischen Kontrapunkt der MeistersingerOuvertüre. Kontrapunkt ist ein selbstständiges Gegenthema.17 13 14 15 16 17

Ebd., 147. Ebd., 147–148, Danuser 2007. Moelants 2014. Adorno 1963, besonders 77–78. Adorno 2003 [1959], 152–153.

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Punctus contra Punctum – Was ist ein Punctus? 1975 greift Dieter Schnebel in seiner für die Arbeit an der Schule gedachten Improvisationsvorlage KONTRAPUNKT auf Johannes Tinctoris’ Definition von Kontrapunkt aus dem Liber de arte contrapuncti zurück: Kontrapunkt ist ein kunstvoller Zusammenklang, der dadurch entsteht, daß man den einen Ton dem anderen gegenüberstellt, woraus auch die Bezeichnung contrapunctus, d.h. Note gegen Note abgeleitet werden kann. Der Kontrapunkt ist also eine Vereinigung von Tönen.18 Neben metamusikalischer Referenzierung verbirgt sich hinter diesem Motto und seiner Umsetzung in den Improvisationsvorschlägen eine sehr klare Problemstellung oder vielmehr der Impuls, darüber nachzudenken, was in neuer, durch die Schule serieller Parametrisierung und durch die Erweiterung des tonalen Raums auf jedes denkbare Ereignis eigentlich ein Punctus ist. Im Schutze der didaktischen Reduktion von KONTRAPUNKT ist es der Rahmen der vorbestimmten bzw. empfohlenen Instrumentengruppen, die nach vereinfachten seriellen Organisationen von Tonhöhen und Rhythmen eine bestimmte musikalische Sozialität herstellen, wobei die immer dezentrale Kommunikation vornehmlich nach Gehör stattfindet. Ein Schlüssel zum Verständnis der Gedankenfigur liegt bei Schnebel wie bei Adorno im Überstrapazieren der Präposition »contra«: Verweist sie bei Tinctoris vermutlich noch immer auf das Verfahren, Noten übereinander zu schreiben und dadurch zueinander in mensurale und intervallische Verhältnisse zu setzen, bezeichnet »contra« bei Schnebel Momente des Zusammentreffens, die – ganz im Sinne Adornos aus der Balance zwischen Konstruktion und expressivem Eigenwillen der Stimmen – zwischen Nachahmung, Affirmation, Kommentar, Verweigerung und Konflikt – genau dieses Spektrum sozialer Verhältnisformen anspielen, ähnlich dem choreographierten Netz, das Norbert Elias in der Gesellschaft der Individuen wie eine große Langzeit-Performance entwirft.19 Der folgende Ausschnitt aus dem »Poem für zwei Rümpfe« aus Dieter Schnebels Zyklus Zeichen-Sprache20 ist ein Beispiel dafür, dass die metamusikalischen Anteile dieses Bewegungs-Biciniums und damit auch die Ironie bewusst gesetzt werden. Hier dürfte es der enorme Aufwand sein, der mit 18 19 20

Schnebel 1975 nach Tinctoris 1975 [1477]. Elias 2003, 38. https://www.maulwerker.de/video/v-ansaetze.html (1.8.2022).

Ariane Jeßulat: Punctus contra Punctum

kleinen, präzisen, geradezu pedantischen Bewegungen des Rumpfes verbunden ist und damit die Assoziationen an rituelle und emotionale Expressivität absurd verfremdet. Auf derselben Ebene kommt allerdings die nicht primär sozial situierte Materialspannung, von der in Adornos Text die Rede ist, zum Tragen, nämlich in der Körperlichkeit und in der Dissonanz zwischen etablierten sozialen Gesten des sich Neigens und der strukturell übergeordneten kontrapunktischen Regelhaftigkeit der beiden auf die ausführenden Personen verteilten Hauptstimmen.

Abbildung 1: Video-Still der Aufführung von Dieter Schnebel, Poem für zwei Rümpfe, Jerusalem 1992 (Michael Hirsch, Christian Kesten)

Kontrapunkt als Kategorie der Analyse zeitgenössischen Musiktheaters In beiden Beispielen Schnebels besteht die Ironie bei der Anwendung kontrapunktischer Verfahren nicht zuletzt in ihrer radikalen Einfachheit, mit der hier ein erwartungsgemäß eher komplexes Bild von Kontrapunkt mutwillig unterlaufen wird. Gerade diejenigen, die die figurierten Notenbeispiele bei Tinctoris kennen, bemerken den immensen Anspruch an die Komplexität mehrstimmiger Situationen, damit überhaupt von einer ars contrapuncti die Rede sein kann. Wieviel Welt, wieviel subjektive und kollektive Spannung und Beziehungsnetze zwischen den Gegenstimmen dann auf der Ebene des Materials, in den gestischen Details, in einen kontrapunktischen Funkti-

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onszusammenhang gebracht werden müssen, um diese Einfachheit an der Oberfläche nicht ästhetisch verarmen zu lassen, wird durch die Orientierung an kontrapunktischer Tradition normativ gesetzt, aber letztendlich auch gespeist, indem es gerade die dimensionale Spannung zwischen Alltagsgeste und dennoch erkennbarer kontrapunktischer Eigengesetzlichkeit ist, die dem »Poem für zwei Rümpfe« die adäquate Komplexität verleiht. Die aus diesem Anspruch heraus extrem zeigende, im schlimmsten Falle didaktische Qualität der Performances im Composed Theatre21 des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich ähnlicher Modelle bedienen, zeigt die Problematik von Vereinfachungen, in die ein solcher Beziehungsreichtum nicht imaginiert werden kann. Ein aktuelles Beispiel kontrapunktischer Arbeit im experimentellen Musiktheater veranschaulicht fast noch deutlicher die Leistungsfähigkeit und die Grenzen kontrapunktisch geschulter Analyse, wenn es darum geht, die Konstruktion musikalisierter Handlungen in Composed Theatre22 in der Wahrnehmung zu erfassen. In Jule Fliers d!ssoc!at!on_study _2 von 201823 entwirft die 1982 geborene Komponistin, Performerin und Choreographin eine Polyphonie, die durchaus im Sinne Adornos als ein kontrapunktisches Bezugssystem musikalischer wie sozialer Dynamiken verstanden werden kann. In der Erweiterung einer Soloperformance auf ein Trio ergibt sich die spezifische Vertracktheit der Polyphonie daraus, dass die drei Ausführenden nicht gegeneinander kontrapunktieren wie in Schnebels »Poem für zwei Rümpfe«, sondern dass die produzierte klangliche Ebene zwei überaus bekannte und demnach auditiv nachzuverfolgende Songs über Gender- und Personengrenzen hinweg gegen die körperlichen Bewegungen, insbesondere die Mimik, kontrapunktisch gesetzt wird. Die als Kollektiv performenden Ausführenden werden entpersonalisiert, und das, obwohl sie höchst expressive Laute und Gesichtsausdrücke darbieten. Kontrapunkt ist hier ein Werkzeug einer dissoziierenden Anlage und rückt demzufolge die Sozialität von Polyphonie umso markanter in den Vordergrund.

21 22 23

Rebstock/Roesner 2013. Hirsch 2013, 123, Roesner 2013, 9, 11. https://www.maulwerker.de/video/v-disso.html (1.8.2022).

Ariane Jeßulat: Punctus contra Punctum

Abbildung 2: Video-Still der Uraufführung von Jule Flierl, d!ssoc!at!on_study_2, Berlin 2018 (Ariane Jeßulat, Steffi Weismann, Christian Kesten)

Ausblick Betrachtet man die vergangenen 20 Jahre musiktheoretischer Praxis in Europa, so steht außer Frage, dass musiktheoretische Fragestellungen, Methoden und Visionen praxisnäher und damit auch meist komplexer geworden sind. Ein ausnehmend regelbasierter, auf schriftlicher Evidenz basierender Unterricht ist schon heute eher die Ausnahme als die Norm. Je mehr allerdings praktische Formen musiktheoretischer Arbeit wie Improvisation allein und im Ensemble, aktive künstlerische Auseinandersetzung mit bestimmten Stilen wie Jazz, Renaissance- und Barockmusik, orchestralen Idiomen oder auch Sound Art über längere Phasen des Curriculums die Norm darstellen, wird auch die soziale Komponente kontrapunktischer Dispositionen gerade in ihrer exakten Regelhaftigkeit Gegenstand einer musiktheoretischen Betrachtung und Evaluation. Die historische Situation der Nachkriegs-Avantgarde kann hier als Modell eines didaktisch vermittelten und beschleunigten Stilwandels verstanden werden, in dem Kontrapunkt eine Schlüsselrolle spielt. Auch heute scheint die präzise Auseinandersetzung mit Polyphonie ein Messgerät, wie auch ein Strukturelement eines Paradigmenwechsels angesichts postkolonialer Kritik zu sein. Das Oxford Handbook of Critical Concepts in Music Theory regt vor allem in Artikel »Polyphony« von Michael Tenzer zu

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einer grundsätzlichen Betrachtung von Mehrstimmigkeit an, und lädt dazu ein, scheinbare Selbstverständlichkeiten wie den Unterschied zwischen zwei Tönen nicht als Element ausschließlich auf Europa und Nordamerika fokussierter Musiktheorie schlicht als gegeben zu sehen, sondern kritisch neu zu denken.24 Aktuelle Musiktheorie sollte auch in der Lehre die Scheu vor musikalischem Repertoire ablegen, dass vor allem durch dur-moll-tonal geprägte Tonhöhenbestimmungen das zu Hörende parametrisiert und filtert. Der Geltungsbereich von punctus contra punctum weitet sich auf mehr als den auditiven Bereich aus, wenn Tonalität nicht mehr das einzige Bezugssystem ist.

Literatur Adorno, Theodor W. (1963), »Kritik des Musikanten«, in: ders., Dissonanzen: Musik in der verwalteten Welt, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 62–101. — (2003), »Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik [1959]«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 16: Musikalische Schriften I–III, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 145–169. Berg, Alban (1920), »Die musikalische Impotenz der ›neuen Ästhetik‹ Hans Pfitzners«, in: Musikblätter des Anbruch 2/11–12, 399–408. Bouquet, Fritz (1948), »Eine Stadt mit guten Nerven. Neue Musiktage und Ferienkurse in Darmstadt«, Die Zeit 33, DE. https://www.zeit.de/1948/33/ein e-stadt-mit-guten-nerven (31.7.2022) Custodis, Michael (2010), »Netzwerker zwischen Moderne und Tradition. Wolfgang Steinecke und die Gründung der Internationalen Ferienkurse«, in: ders., Traditionen – Koalitionen – Visionen. Wolfgang Steinecke und die internationalen Ferienkurse in Darmstadt, Saarbrücken: PFAU. Danuser, Hermann (2007), »›Materiale Formenlehre‹ – ein Beitrag Theodor W. Adornos zur Theorie der Musik«, in: Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, hg. von Adolf Nowak und Markus Fahlbusch, Tutzing: Hans Schneider, 19–49. Elias, Norbert (2003), Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freund, Julia (2020), Fortschrittsdenken in der Neuen Musik. Konzepte und Debatten in der frühen Bundesrepublik, Paderborn: Fink.

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Tenzer 2019.

Ariane Jeßulat: Punctus contra Punctum

Grebe, Karl (1955): »Neue und neueste Musik«, Die Zeit 23, DE. https://www.ze it.de/1955/23/neue-und-neuste-musik (31.7.2022) Hirsch, Michael (2013), »›Theatre in small quantities‹: On Composition for Speech, Sounds and Objects«, in: Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, hg. von Matthias Rebstockund David Roesner, Bristol (UK): intellect, 121–131. Knepler, Georg (1961), Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin: Henschel. Moelants, Dirk (Hg.) (2014), Improvising Early Music, Leuven: Leuven University Press. Rebstock, Matthias/David Roesner (2013), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol (UK): intellect. Roesner, David (2013), »Introduction: Composed Theatre in Context«, in: Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, hg. von Matthias Rebstock und ders., Bristol (UK): intellect, 9–14. Runge, Gertrud (1952), »Das Gleichnis des Verfolgten«, Die Zeit 30, DE. https:// www.zeit.de/1952/30/das-gleichnis-des-verfolgten (1.8.2022) Schnebel, Dieter (1975), KONTRAPUNKT, Mainz: Schott. Tenzer, Michael (2019), »Polyphony«, in: The Oxford Handbook of Critical Concepts in Music Theory, hg. von Alexander Rehding und Stephen Rings, Oxford: Oxford University Press, 602–647. Tinctoris, Johannes (1975), Liber de arte contrapuncti [1477], hg. von Albert Seay, Chicago: American Institute of Musicology.

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Ferne Klänge: Der Sound der Zukunft im Film Nina Noeske

Sucht man nach musikalischen Zukunftsentwürfen im Film, drängt sich das Genre der Science-Fiction auf. Die Zukunft, von der hier allerdings nur die Rede sein kann, ist – wie auch in der Literatur, den bildenden Künsten, den Bühnenkünsten oder im Computerspiel – bloße Fiktion, Fantasie, ganz unabhängig davon, ob sie für realistisch oder wünschenswert gehalten wird oder als Abschreckung dienen soll. Eine Künstlerin etwa, die aufgefordert wird, die Welt des Jahres 2530 zu malen, literarisch zu beschreiben oder auf die Bühne zu bringen, wird ihre Einbildungskraft spielen lassen und etwas besonders Reizvolles oder Faszinierendes darzustellen versuchen – etwas, das der heutigen Gegenwart möglichst fern, aber nicht völlig undenkbar ist, mithin im Bereich des Vorstellbaren liegt. Wie ›realistisch‹ das entsprechende Szenario tatsächlich ist, ist dabei zweitrangig. Auch der Entwurf einer Dystopie, etwa als an die gegenwärtige Menschheit gerichtete Mahnung, behauptet grundsätzlich nicht, dass es in der Zukunft tatsächlich einmal so sein wird. Im Folgenden geht es um den ›Sound der Zukunft‹ im Film. Da der Science-Fiction-Film nicht von sich behauptet, gleichsam prognostisch oder wegweisend eine tatsächliche, reale oder auch nur wünschbare Zukunft aufzuzeigen, sondern es hier lediglich um Fantasiewelten, bestenfalls um einen provisorischen Entwurf einer möglichen oder denkbaren Zukunft zur Unterhaltung eines breiten Publikums geht, fügt sich das Thema dieses Beitrags nicht bruchlos in das Gesamtkonzept des vorliegenden Bandes ein. Gleichwohl – auch im weitesten Sinne künstlerische Zukunftsentwürfe haben einen realen Bezug zur eigenen, konkreten (musikalischen) Gegenwart, indem sie nämlich von jeweils aktuellen Ängsten, Wünschen und Befürchtungen künden. Nicht von der Hand zu weisen ist schließlich die realitätsstiftende Macht von Science-Fiction: So manche Film-Vision – zu denken ist beispielsweise an die Bildtelefonie – diente Techniker:innen, Ingenieur:innen oder IT-Spezia-

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list:innen als Inspiration und Vorlage. Womöglich lässt sich das – punktuell – auch für den musikalischen bzw. musiktheoretischen Bereich feststellen.

Musikalische Fiktionen Im Rahmen von künstlerisch-literarischen Zukunftsentwürfen setzt sich eine Gegenwart in ein Verhältnis zu einer etwaigen Zukunft. Dabei findet sowohl eine Absetzbewegung zur eigenen Zeit als auch ein Sinnbezug zwischen einem ›Jetzt‹ und einem ›Dann‹ statt. Wenn, um ein vielzitiertes Beispiel anzuführen, Francis Bacon in seiner wahrscheinlich bereits 1624 verfassten, 1627 publizierten Erzählung The New Atlantis detailliert eine Soundkulisse beschreibt, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und erst mit den elektroakustischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts realisierbar ist, so handelt es sich aus heutiger Perspektive um die Darstellung einer utopischen Realität, welche zugleich die damalige Gegenwart sinnhaft auflädt und einen musikalischen Erwartungshorizont strukturiert. Bacons Szenario ist an einem Nicht-Ort (U-Topos) – der sagenumwobenen, vermeintlich versunkenen Insel Atlantis – angesiedelt und fungiert zwar, entsprechend dem Denkhorizont des 17. Jahrhunderts,1 nicht explizit als Zukunftsentwurf, kann aber als solcher gelesen werden: We have also sound-houses, where we practice and demonstrate all sounds, and their generation. We have harmonies which you have not, of quartersounds, and lesser slides of sounds. Divers instruments of music likewise to you unknown, some sweeter than any you have; together with bells and rings that are dainty and sweet. We represent small sounds as great and deep; likewise great sounds extenuate and sharp; we make divers tremblings and warblings of sounds, which in their original are entire. We represent and imitate all articulate sounds and letters, and the voices and notes of beasts and birds. We have certain helps, which set to the ear do further the hearing greatly. We have also divers strange and artificial echos, reflecting the voice many times, and as it were tossing it: and some that give back the voice louder than it came; some shriller, and some deeper; yea, some rendering the voice differing in the letters or articulate sound from that

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Vgl. Hölscher 2016, insb. erster Teil: Auf dem Weg zur Moderne.

Nina Noeske: Ferne Klänge: Der Sound der Zukunft im Film

they receive. We have also means to convey sounds in trunks and pipes, in strange lines and distances.2 In den Bacon’schen »Klanghäusern« (»sound-houses«) gibt es also nicht nur Vierteltöne und neuartige, unbekannte Musikinstrumente, sondern auch (technisch realisierte) Imitationen von bereits existierenden Klängen wie Tierstimmen und Vogelgesang. Die menschliche Stimme kann durch Echos reflektiert und verfremdet, Klänge können generell über weite Entfernungen übertragen werden, was auf der dazugehörigen Abbildung durch eine Art Telefonschnur dargestellt wird. Damit nahm der Philosoph ebenso anschaulich wie visionär vorweg, was knapp 300 Jahre später Ferruccio Busoni in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst forderte, nämlich die kompositorische Arbeit mit Drittel- und Sechsteltönen.3 Doch auch die Errungenschaften elektronischer Musik insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind bei Bacon – aus heutiger Sicht – antizipiert: So verwies Georg Katzer mit seiner knapp 25-minütigen Komposition Sound-House (1979) für Orchestergruppen, Orgel und Elektronik explizit auf den utopischen Entwurf von The New Atlantis, indem er im letzten Drittel des Werkes Zitate aus diesem Text elektronisch verfremdet und dabei zugleich die entsprechenden Klänge hören lässt, gleichsam als sei die Zeit für Bacons Vision nun gekommen.4 Im vorliegenden Beitrag geht es um Musik im Science-Fiction-Film, also um sehr spezifische Vorstellungen von der Musik der Zukunft. Dabei ist es, so eine zentrale These, der Kommerzialität insbesondere des Hollywoodfilms

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Bacon 1627, zit.n. Montagu 1825, 373f. Busoni 2 1916, 42f. Vgl. hierzu den Kommentar des Komponisten, der Bacons Entwurf explizit als »Utopie« (hier zugleich als »Vorhersage«) auffasst: »Ich habe Raumklang – durch den Raum verteilte Orchestergruppen – komponiert. ›Vierteltöne und seltsame Echos und süße Harmonien‹, von denen die Rede ist. […] Den Schluß bildet eine große Orgelkadenz, der elektronische Klänge unterlegt sind, eine heute erdachte Vision des vor 350 Jahren vorausgeahnten ›Klanghauses‹.« (Zit. nach Schneider 1986, Sp. 2 oben). Dass Bacons Roman mit Blick auf die hier skizzierte Musik ein Ausnahmecharakter zukommt, betont auch Friedrich Geiger, der darauf verweist, dass andere Autoren wie Tommaso Campanella (1602), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1788) oder Burrhus Frederic Skinner (1948) in ihren ›utopischen‹ Entwürfen »lediglich einen idealisierten Umgang mit Musik [beschreiben] […]. Was jedoch gespielt und gesungen wird, klingt ernüchternd unfuturistisch.« Geiger 2012, 332. Für weitere einschlägige Beispiele – zum Beispiel aus Jonathan Swifts Gulliver’s Travels oder Aldous Huxleys Brave New World – vgl. Wierzbicki 2019, 20–22.

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geschuldet, dass Avanciertes oder Un-Erhörtes in diesem Genre eher in Ausnahmefällen zu hören ist. Ist der Sound allzu ungewohnt, so die Befürchtung, wird ein amüsier- und unterhaltungsbedürftiges breites Publikum nicht erreicht oder gar verstört. Auf der Suche nach aktueller, ›Neuer‹ Musik im emphatischen Sinne bzw. ›Avantgarde‹ im Spielfilm wird man hingegen am ehesten im Grusel- oder Horrorfilm fündig.5 Bis heute prominentestes Beispiel ist wohl Stanley Kubricks Horrorfilmklassiker Shining (1980) mit der Musik von György Ligeti, Béla Bartók und Krzysztof Penderecki. Allerdings dient der der Filmsound hier programmatisch vor allem der Irritation und Beunruhigung, der Herstellung einer unheimlichen Atmosphäre, ganz ähnlich wie im ScienceFiction-Klassiker 2001 – Odyssee im Weltall (1968) Ausschnitte aus Ligetis Kompositionen Atmosphères, Requiem und Lux Aeterna die Schwere- und Orientierungslosigkeit in einer (damals) fernen Zukunft inmitten der Weiten des Alls insbesondere psychologisch untermalen. In diesem Film geht es weniger um eine Musik der Zukunft denn vielmehr um ein durch ungewohnte Klänge heraufbeschworenes ›Zukunftsgefühl‹. Tatsächlich lässt sich in den meisten Filmen beides, Zukunftsmusik und Zukunftsgefühl, das durch den (vermeintlichen) ›Klang‹ einer aus heutiger Perspektive ungewissen künftigen Welt charakterisiert wird, nicht scharf voneinander abgrenzen.

Zukunftsmusik im Film Dass sich mit Musik, allgemeiner: mit ›Sound‹ filmische Erzählungen und Bildwelten bewusst und eigenständig gestalten lassen, die akustische Ebene diesbezüglich also als autonomer Akteur produktiv eingesetzt, ja selbst zum Thema werden kann, war Filmschaffenden lange Zeit, zumal in Hollywood, kaum bewusst. Musik wurde hier zunächst vor allem rein funktional verwendet, etwa – zumeist unabhängig von der jeweils dargestellten Szenerie – mehr oder weniger abstrakt im Sinne der psychologischen Stimmungsuntermalung, als Spannungserzeuger oder, leitmotivisch, als Zeichen für etwas. Auch heute noch ist es – ungeachtet der ambitionierten theoretischen (und praktischen) Entwürfe von Theodor W. Adorno und Hanns Eisler im Rahmen ihrer Kollaboration Komposition für den Film (1947) – selten, dass von einer ›relativen Autonomie‹ von Musik im Film ausgegangen und mit dieser entsprechend gearbeitet wird. Insbesondere zum (kommerziellen) Genre Science-Fiction 5

Vgl. hierzu insb. Heimerdinger 2007 und Hentschel 2011.

Nina Noeske: Ferne Klänge: Der Sound der Zukunft im Film

fühlen und fühlten sich zudem nur wenige ›bedeutende‹ Filmkomponist:innen hingezogen.6 Gleichwohl lohnt der Blick insbesondere auf jene Filme, in denen Musik ausdrücklich Teil der imaginierten Zukunft und entsprechend selbstständiges Gestaltungselement ist: Die jeweils beteiligten Komponist:innen oder Soundkünstler:innen setzen das Medium Klang in diesen Fällen meist sehr bewusst ein, produzieren also gegebenenfalls eine Musik, die es in der realen Welt (noch) nicht oder nur innerhalb eines eng umgrenzten Milieus gibt. Derartige Filme sind allerdings selten. Im Folgenden seien einige Beispiele vorgestellt, die in einem weiteren Schritt historisch genauer verortet und kontextualisiert werden müssten. Erst mit der Einbettung jener Werke in ihre eigene Zeit – mit ihren jeweiligen Diskursen und musiktheoretischen wie künstlerischen Entwürfen, aber auch mit Blick auf die Netzwerke, in denen sich die Komponierenden bewegten, darauf, mit wem sie im Gespräch waren und worüber sie nachgedacht haben – lässt sich genauer einschätzen, welcher Art die Aussage ist, die mit einer filmischen ›Zukunfts-Musik‹ getroffen wird. Entsprechend dienen die vorliegenden Ausführungen vor allem der Anregung für weiterführende Untersuchungen.7 Auch wenn die Verknüpfung eines per definitionem kommerziellen, explizit auf Unterhaltung ausgerichteten Mainstream- oder zumindest: popkulturellen Genres mit musiktheoretischen Entwürfen nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sei die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Sphären zumindest in den Raum gestellt. Im kommerziell wenig erfolgreichen Science-Fiction-Klassiker Forbidden Planet (USA 1956, dt.: Alarm im Weltall, Regie: Fred M. Wilcox), der zumindest in der Filmmusikforschung mittlerweile Kultstatus erreicht hat, gibt es eine Szene, in der die Musik der Ur-Einwohner des Planeten Altair IV, der »Krell«, entstanden »half a million years ago«, zum (Wieder-)Erklingen gebracht wird.8 Klangerzeuger ist ein futuristisches Abspielgerät, eine Art Patrone, die von dem kundigen und zugleich wahnhaften Wissenschaftler Dr. Morbius aktiviert wird. Da die Filmhandlung ins 23. Jahrhundert verlegt ist, handelt

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8

Vgl. hierzu Vivian Sobchack, zit.n. Deleon 2010, 17. Der hier ausgearbeitete, im Rahmen der Tagung »Musik/-Theorie und Zukunft« (Mai 2021) gehaltene und in seinem Duktus weitgehend beibehaltene Vortrag basiert in Teilen auf einem bereits publizierten Text (Noeske 2019) – mit teilweise wörtlichen Übernahmen – und erweitert diesen mit Blick auf die Fragestellung des vorliegenden Bandes. Timecode: 51:36-52:26 (MGM-Film bei iTunes).

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es sich hierbei weniger um Zukunfts-, als vielmehr um eine Art Ur-Musik, lange vor unserer eigenen Zeit entstanden, gleichsam die (imaginierte) Vergangenheit der Zukunft. Einzig die Tatsache, dass die eine derartige Musik erzeugende Spezies offenbar hochentwickelt war, lässt auf den Nimbus von ›Zukunftsmusik‹ schließen. (Der gängige Topos, der auch in anderen ScienceFiction-Filmen immer wiederkehrt, ist der einer hochentwickelten, aber vor langer Zeit bereits untergegangenen bzw. zerstörten Kultur, die erahnen lässt, was uns – der Menschheit – noch bevorsteht.) In diesem Film, dessen Handlung William Shakespeares The Tempest nachempfunden ist, erklingen die (laut Credits) »electronic tonalities« des Ehepaars Bebe und Louis Barron, Pioniere auf dem Gebiet der elektronischen Musik, bemerkenswerterweise fast durchgängig: Die Komposition bestimmt maßgeblich die Atmosphäre auf dem fremden Planeten und damit des gesamten Films. Laut Presseberichten wirkte die Musik in den späten 1950er Jahren auf viele Menschen unheimlich.9 Ob der zumeist geräuschartige Sound, weitgehend auf Magnetband produziert, zur Diegese10 gehört, ob es in der erzählten fernen Welt also – gleichsam ›objektiv« – genau so klingt, ob es sich um ›innere Klänge‹ im Sinne eines subjektiven Mikrofons handelt oder ob der Soundtrack, extradiegetisch, der akustischen Untermalung im Sinne des traditionellen Underscoring dient und damit als Stimmungserzeuger oder musikalischer Kommentar für das Filmpublikum fungiert, bleibt über weite Strecken offen. Grundsätzlich kann die Grenze zwischen »score« (Soundtrack) und »sound design« in diesem Film nicht klar gezogen werden.11 Bis auf wenige Ausnahmen ist also ungewiss, auf welcher Ebene der filmischen Narration die Klänge angesiedelt sind. Festzuhalten ist, dass hier ein bemerkenswertes – da exzeptionelles – akustisches Zukunftsszenario entworfen wird, das den fremden, unsicheren Gefilden eines ›verbotenen‹ Planeten mit seinen physikalisch wie psychologisch eigenen Gesetzen entspricht. Die hohen, kantilenenartigen Klänge der »Krell musicians«, die in der oben beschriebenen Szene für kaum eine Minute zu hören sind – es handelt sich um

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Hentschel 2011, 120. »›[D]iegetische Musik‹ ist in der erzählten Welt zu hören. Filmton, der von Objekten oder Akteuren in der erzählten Welt erzeugt wird, wird ›diegetischer Ton‹ genannt. Er ist für die Akteure der Diegese selbst hörbar. Insbesondere die Filmmusik entstammt oft nicht der Diegese, sondern ist extradiegetisch, hat kommentativen, psychologisierenden oder ähnlichen Charakter.« (Wulff o.J.) Deleon 2010, 16; vgl. auch Prock 2014, 376.

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die einzige ausdrücklich diegetische Musik des gesamten Films – unterscheidet sich deutlich vom sonstigen Sounddesign bzw. Soundtrack des Films.12 Tatsächlich soll hier womöglich die Aufmerksamkeit des Publikums durch den expliziten Verweis auf die Musik der Krell eigens auf die damals höchst ungewöhnliche Filmmusik der Barrons gelenkt werden. Entfernt ähneln diese Klänge dem Sound eines Theremins, jenem Instrument also, das wie kaum ein zweites seit den frühen 1950er Jahren, genauer: seit dem Film Rocketship X-M (USA 1950, Regie: Kurt Neumann) für die Musik der Zukunft steht und immer auch an etwas entfernt Menschliches, nämlich den Klang einer Stimme, erinnert.13 Zu denken ist etwa an den Außerirdischen aus The Day the Earth Stood Still (USA 1951, Regie: Robert Wise), für dessen Musik Bernard Herrmann verantwortlich zeichnet: Die Theremin-Melodie scheint gewissermaßen direkt aus dem Alien selbst zu kommen und lässt mentale Instabilität, Bedrohung, das Fremde und Monströse assoziieren,14 das von den Zeitgenossen sicherlich auch als der ›Feind‹ jenseits – in diesem Fall: östlich – des Eisernen Vorhangs gelesen wurde. Das einzig Fremdartige dieser tonal eingängigen Musik ist allerdings die Klangfarbe, der ›Sound‹, sowie die Stufenlosigkeit, mit der die konkreten Tonhöhen der Melodie jeweils erreicht werden. Alle sonstigen musikalischen Parameter sind eher ›traditionell‹ gehalten.

Sound der Zukunft In Forbidden Planet gibt es neben der – im Sinne Michel Chions – akusmatischen15 Musikdarbietung durch ein uralt-avanciertes musikalisches Aufschreibesystem, deren ursprüngliche Quelle im Dunkeln bleibt, als einzigen eindeutig diegetischen Sound nur noch den regelmäßig-dröhnenden Klang der Maschinen im Inneren des Planeten, ebenfalls Teil der ehemaligen Hochkultur.16 Die entwickelte Kultur ist also, wie auch akustisch verdeutlicht 12 13 14 15

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Vgl. Hentschel 2011, 119. Wierzbicki 2002, 130. Schmidt 2010, 30. »Acousmatic: Pertaining to sound one hears without seeing its source. Radio and telephone are acousmatic media. In a film, an offscreen sound is acousmatic.« (Chion 1994, 221) – »A sound or voice that remains acousmatic creates a mystery of the nature of its source, its properties and its powers« (Chion 1994, 72) Die Ähnlichkeit der hier entworfenen ›Soundscape‹ mit den Klangräumen im Computerspiel Impossible Mission für C64 (Epyx, 1984) ist frappierend.

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wird, eine hochgradig technisierte. Bereits der Orchester-Soundtrack zum ›Maschinenraum‹ in Fritz Langs Science-Fiction-Klassiker Metropolis (1927), komponiert von Gottfried Huppertz, orientiert sich an den einschlägigen ›Maschinenmusiken‹ der 1920er-Jahre, etwa von Arthur Honegger, George Antheil und anderen. Auch der hochgradig abstrakte, geräuschhafte elektronische Sound, den Eduard Artemjew für die etwa fünfminütige, in Tokio gedrehte Autofahrt in Andrei Tarkowskis Solaris (UdSSR 1972) entworfen hat, symbolisiert das ›Zukünftige‹ dieser ebenfalls hochtechnisierten Welt. Durch den während dieser Fahrt hörbaren Sound wird die prosaische (Alltags-)Welt mit ihren Motorengeräuschen ins nahezu Metaphysische, zumindest aber ›Zukünftige‹ verschoben; letztlich handelt es sich um die akustisch versinnbildlichte innere Welt des Wissenschaftlers, der sich mit seinen Gedanken offenbar bereits auf Solaris und den dortigen, unerklärlichen Vorkommnissen befindet. In Im Staub der Sterne (DDR 1976, Regie: Gottfried Kolditz) – für die Musik zeichnet der ostdeutsche Komponist Karl-Ernst Sasse verantwortlich – bilden die Geräusche der Technik ebenfalls eine eigene Soundkulisse, die, insbesondere im Inneren des Raumschiffs, durch den Nicht-Ort der Klänge zwischen filmischer Diegese und reiner Stimmungserzeugung eine spezielle Atmosphäre erzeugt. Allerdings wirken die technischen Klänge in diesem Film – im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen – nahezu beruhigend, fast wie eine zweite Natur: Mitunter fühlt man sich an das nächtliche Zirpen von Grillen erinnert, dessen Wegfallen beunruhigen würde. Solange die Technik sich akustisch bemerkbar macht, droht keine Gefahr. Dass die Zukunft durch einen futuristisch-experimentellen, und das heißt zugleich meist: elektronischen Sound charakterisiert wird, ist für Science-Fiction-Filme jedoch keineswegs die Regel. Einer der wenigen Filme, die ebenfalls auf eine derartige Praxis setzen, ist der DEFA-Film Der schweigende Stern (DDR/Polen 1960, Regie: Kurt Maetzig) nach dem Roman Planet des Todes von Stanisław Lem; Klänge und Musik stammen von dem polnischen Komponisten Andrzej Markowski, aufgenommen wurde die Tonspur im Warschauer Experimentalstudio des polnischen Rundfunks. Im Gegensatz zu Forbidden Planet gibt es hier jedoch neben der elektronischen Musik eine weitere musikalische Ebene, nämlich Orchestermusik im Stil einer um 1960 vom Sozialistischen Realismus gerade noch legitimierten, gemäßigten Moderne, von der sich die avancierten elektronischen Klänge deutlich abheben. Auch in diesem Film ist zumeist unklar, ob der Sound zur Diegese gehört: Insbesondere wenn sich in die sphärischen Klänge die wiederkehrenden Geräusche von elektronischen

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Geräten, Monitoren, Bordcomputern und Schaltzentralen mischen, gehen die Ebenen scheinbar nahtlos ineinander über. Mitunter gewinnt der Sound der Technik in seiner rhythmischen Regelmäßigkeit den Charakter einer Komposition. Selbst eine Art Mickey-Mousing ist auf der Venus möglich: Die technisch-artifiziellen Geräusche der kleinen, insekten- und roboterartigen Wesen auf dem Planeten wirken, zumal als diese das Besatzungsmitglied auszulachen scheinen, nahezu komisch. Eindeutig zur diegetischen Sphäre gehören lediglich die Stimmen der Venusbewohner, die man allerdings nur mithilfe der ›Übersetzung‹ entsprechender technischer Geräte in Schallwellen hören kann. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten »Krell« in Forbidden Planet oder zum Theremin-begleiteten Außerirdischen in The Day the Earth Stood Still haben diese Klänge – Sinustöne und Rauschen, beides teilweise mit Hall versetzt – nichts Menschliches an sich. Diegetische Musik, oder gar: Szenen, in denen musiziert wird, kommen im Science-Fiction-Film bemerkenswert selten vor. Dass dabei »die Bewohner von anderen Welten oder Zeiten« sich »als durchweg unmusikalisch« (oder auch: einfallslos) erweisen17  – und zwar im eklatanten Gegensatz zur künstlerischen Phantasie, die für futuristische Architektur oder für das Design von Innenräumen, Möblierung und Kleidung in der Regel aufgewendet wird – trifft bis auf wenige Ausnahmen, die meist aus den 1950er- und 60er-Jahren stammen, zu. Und wenn im Science-Fiction-Film doch Musik ertönt, dann zumeist unauffällig als Hintergrundmusik, etwa als Radiomusik, Caféhaus- bzw. Restaurantmusik, oder auch als rein kommerzielle ›Muzak‹. In diesen Fällen klingt sie in der Regel so, wie entsprechende Musik während der Entstehungszeit des Filmes tatsächlich geklungen hat. Gleichwohl finden sich inmitten der vertrauten Elemente mitunter subtile Anklänge an ›Fremdes‹: So verweist etwa John Williams in seinem berühmten »Cantina Song« der Mos Eisley Cantina aus Star Wars: Episode IV (USA 1977, Regie: Georg Lucas) nicht nur auf den Swing-Jazz der 1940er-Jahre, sondern der Klang wird zugleich, zusätzlich zu einer karibischen Steel Drum, durch einen ARP-Synthesizer der 1960er-Jahre, der die Basslinie mitspielt, leicht verfremdet. Seth Mulliken zufolge ist es auch hier vor allem das »Timbre«, das die Musik nicht nur in die Zukunft versetzt (»to futurize«), sondern auch als das fremdartige »Andere« (»Other«) codiert,18 als das eine solche Musik, so die implizite Setzung, auch in ferner Zukunft noch gehört werden wird. Auch in den beiden Filmen Buck Rogers in the 25th Century 17 18

Holtsträter 2012, 459. Mulliken 2010, 92.

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(USA 1979, Regie: Daniel Haller) und Im Staub der Sterne klingt neben der Exotik eines imaginierten Nahen oder Fernen Osten ein Hauch von ›Zukunft‹ an, der in der Regel durch elektronische Klänge wie den Sound eines Synthesizers repräsentiert wird. Allerdings wird auch in diesen Filmen akustisch meist lediglich auf das rekurriert, was spätestens seit den 1970er-Jahren ohnehin zum festen Bestandteil der Popkultur gehörte. Zwischen, auf der einen Seite, den elektronischen Experimenten der 1950er- und 60er-Jahre, die sich, wie beispielsweise in Forbidden Planet, fern jeglicher Tonalität in der Nähe zum Geräusch bewegen und, auf der anderen Seite, konventioneller Hollywoodmusik, gibt es also noch einen ›mittleren Bereich‹, in dem zum einen ungewohnte, teils elektronisch erzeugte Klangfarben verwendet werden, zum anderen aber auch mit Genre-Mischungen gearbeitet wird. So wird vor allem in den 1970er-Jahren kompositorisch bevorzugt mit einem Mix aus ›Barock‹ und ›Rock‹ (bzw. Pop) gearbeitet, der offenbar durch die ungewohnte Zusammenstellung von Bekanntem Neues zutage befördern soll. Auch das ist offensichtlich ein Zeitgeistphänomen – zu denken ist etwa an den vor allem in den 1970er-Jahren sehr beliebten ›verjazzten‹ Bach, latinisierte Klassik etc. Die sogenannte »Excessive Machine«, in der Barbarella im gleichnamigen Film (Frankreich/Italien 1968, Regie: Roger Vadim) durch musikalisch-erotische Stimulation ›gefoltert‹ werden soll, ist nichts anderes als eine Orgel, auf der, nach anfänglichen, an Johann Sebastian Bach gemahnenden Klängen, Rockmusik im Stil der späten 1960er-Jahre zu hören ist, immer wieder unterbrochen durch pseudo-altertümliche Einsprengsel. Eindeutig avanciert hingegen ist die – wohl in keiner direkten Beziehung zum Erklingenden stehenden – sehr bunte ›Partitur‹, die auf die graphische Notation der 1950er- und 60er-Jahre verweist und damit ›Fortschrittlichkeit‹ oder Zukunft, gleichzeitig aber auch ›Popkultur‹ symbolisiert. Mit dem Nimbus des stimmphysiologisch Unmöglichen oder zumindest Unwahrscheinlichen schließlich spielt der Komponist Éric Serra, indem er die außerirdische ›Blaue Diva‹ Plava Laguna in Le Cinquième Élément (Frankreich 1997, Regie: Luc Besson) im Anschluss an »Il dolce suono«, die berühmte, stimmtechnisch äußerst anspruchsvolle ›Wahnsinnsarie‹ aus Donizettis Lucia di Lammermoor,19 zu einer gewaltigen Stimmakrobatik ansetzen lässt, die von

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Donizetti hatte hier als Begleitinstrument ursprünglich u.a. eine Glasharmonika – als Signum des Jenseitigen oder ›Überirdischen‹ – vorgesehen. Hier wird diese Stimme jedoch, wie meistens, von einer Flöte gespielt.

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Disco-Klängen begleitet wird. Hierfür wurde eine reale Stimme – die der albanischen Sängerin Inva Mula – durch einen Sampler elektronisch verfremdet, so dass stellenweise unklar ist, ob es sich um eine Frauen- oder Männerstimme handelt. Während die Diva auf der Bühne ihre stimmlichen Kunststücke hören lässt, ist in einer Parallelmontage die Protagonistin (Milla Jovovich) zu sehen, die sich kämpfend erfolgreich gegen mehrere Mangalores als Vertreter des Bösen erwehrt und dabei ihrerseits eigentlich (körperlich) Unmögliches vollbringt. Der Möglichkeitshorizont, den die androgyne Utopie hier eröffnet, ist unermesslich: Was bereits Bacon einst als künstlerische Entgrenzung vorschwebte, wird in Bessons Film durch den elektronisch manipulierten Gesang der Alien-Diva realisiert und mit der Befreiung der Menschheit vom Bösen kurzgeschlossen.

Fazit Gleichwohl: Auch Besson rechnet mit einem Publikum, das in erster Linie unterhalten werden will; der Gesang bleibt tonal und nähert sich durch den Disco-Beat am Ende der Arie gar der reinen Unterhaltungssphäre. Nach wie vor übt mithin der Sound der Barrons in Forbidden Planet offenbar die größte Faszination auf Forscher:innen im Bereich Filmmusik aus: Mittlerweile gibt es zu diesem Soundtrack mehrere Aufsätze,20 James Wierzbicki hat hierzu 2005 sogar eine Monographie verfasst.21 Tatsächlich handelte es sich bei den nach dem Vorbild der Kybernetik Norbert Wieners konstruierten Schaltkreisen, die nach dem Willen der Barrons wie autonome Systeme – letztlich wie Lebewesen – agierten, um ein singuläres Unterfangen. Es sollte explizit bis dato Un-Erhörtes, ›Zukünftiges‹ erklingen, das aber zugleich ›organisch‹, keinesfalls mechanisch-konstruiert wirken sollte: »[T]he actual aural textures have few connections with anything familiar. […] If the people sitting in cinemas in 1956 had

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U. a. Prock 2014 (mit Überlegungen zum auch akustischen ›Gendering‹ der im Film dargestellten Körper), Eichenberger 2019, Minnick 2019. Wierzbicki 2005.

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been asked the question ›Is this music?‹ most would have answered no.«22 In einem Interview von 1997 äußerte sich hierzu Bebe Barron: We used many circuits from Norbert Wieners book Cybernetics. The Science of Control and Communication in Animals and Machines. We recorded and amplified the electronic activity, an endless process. Since they were all mathematical equations, they seem to have a kind of order and organic rightness. Entropy and information theory contributed ideas on probability and randomness, which we had to use, since that was the only thing our circuits were capable of. We thought of our circuits as characters in a script. […] We didn’t control the pitches at all. The emotions which seem to come out of the circuits such as romance, monsters, space travel were almost always in [sic!] uppermost importance. Each circuit we built had life spans of their own – and I just can’t stress that enough, because that was always amazing to me – and once they died, we never could revive them. We always were innocents with the sense of wonder and awe of the beauty coming from the circuits. I mean, we would just sit back and let them take over.«23 Louis und Bebe Barron wirkten in ihrem Studio wie Alchemisten, die mit Erscheinen ihres Soundtracks von 1956 allerdings bereits den Zenit ihres Ruhms erreicht hatten. Auf neuere Technologien ließen sie sich nicht ein, für weitere Filmproduktionen wurden sie nicht mehr angefragt. Die Musik, die der eingangs zitierten Musik-Utopie aus Bacons The New Atlantis von allen ScienceFiction-Soundtracks am nächsten kommt, ist also mittlerweile fast 70 Jahre alt. Nicht zufällig waren es ebenfalls die Barrons, die bereits 1952, in der Zeit ihrer engen Zusammenarbeit mit John Cage, den abstrakt-experimentellen, kaum neunminütigen Kurzfilm Bells of Atlantis (Regie: Ian Hugo) auf einen Text

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23

Brend 2012, 65. In einer (wohl anonymen) Rezension von 1956 heißt es: »The soundtrack […] is full of new sounds – the bleats, burps, whirs, whines, throbs, hums and screeches which our ears are learning to distinguish as we become ever more familiar with the electronic, and sub-electronic, universe« (Films in Review, April 1956, Zit. nach ebd., 61) https://bit.ly/36PW7tr (12:35-14:49, Interview mit Eric Chasalow, 26.3.2022). Der Originaltitel des 1948 erstmals erschienenen Buches von Norbert Wiener lautet: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine.

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von Anaïs Nin mit ihrer – über weite Strecken rhythmisch prägnanten, »semiimprovised«24 klingenden – ›Schaltkreis-Musik‹ unterlegten.25 Im kommerziellen Science-Fiction-Film gibt es also offenbar bis heute ein Vermittlungsproblem, das allzu ›zukünftige‹ Musik nicht zulässt, und daher, wenn überhaupt, nur punktuell auf neuartige Klangfarben setzt. Der Soundtrack der Barrons für Forbidden Planet symbolisiert also das fundamentale Dilemma zwischen Kunst und Kommerz: »In the history of electronic music their score has come to be seen as a milestone, and rightly so. But from the perspective of the movie industry at the time it might not have sounded like the future, but just an unusual score to a modestly successful film, and little more.«26 Einzig auf dem Gebiet des (im weitesten Sinne) Sound-Design – zur (punktuellen) Untermalung einer von technischen Geräten erzeugten, ›futuristischen‹ Atmosphäre – scheint künstlerische Innovation insbesondere durch elektronisch erzeugte Klänge gefragt und üblicherweise praktiziert zu werden, oder eben dort, wo, wie im Film 2001: A Space Odyssey ein ›Zukunftsgefühl‹ erzeugt werden soll. Dabei handelt es sich in der Regel um gegenwärtiges Unbehagen angesichts des Ungewissen, das auf die Zukunft selbst als prototypisch Undefinierbares projiziert wird. Die Suche nach tatsächlich erklingender, jetzt schon existierender ›Zukunftsmusik‹ wird vom Science-Fiction-Spielfim – mit wenigen Ausnahmen – enttäuscht. Fortgesetzt werden kann sie womöglich im Bereich des Experimentalfilms oder im Computerspiel.

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Autor:innen

Lee Cannon-Brown is a doctoral candidate in music theory at Harvard University. He received his MA from the University of Chicago (2016/2017), where he studied under Thomas Christensen. In his dissertation, Lee examines ultramodernist music theory of the early twentieth century, focusing on its international reach across Europe, the U.S., Mexico, and Russia. He also works on music-philosophical questions of epistemology, ontology, and the work concept. Julia Freund studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Freiburg, Bristol und München. Promotion 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Fortschrittsdenken in der Neuen Musik. 2018–2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im D-A-CH-Projekt »Writing Music. Iconic, performative, operative, and material aspects in musical notation(s)«, sowie 2019–2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig Universität Gießen. Seit Dezember 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Musik des 19.–21. Jahrhunderts, Musikästhetik, Musikhistoriographie, Geschichte und Theorie der Notation. Anne Hameister, geboren 1990, lehrt die Fächer Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und verfasst eine Dissertation zu Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900. Sie studierte Musiktheorie sowie Deutsch und Musik für das Gymnasial-Lehramt in Rostock, mit Aufenthalten an der University of Chicago und der Harvard University.

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Lucian Hölscher, geboren 1948, war bis 2014 Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der neuzeitlichen Religionsgeschichte, der Begriffsgeschichte und der Theorie historischer Zeiten. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte (2003), Semantik der Leere (2009), Die Entdeckung der Zukunft (2 2016) und Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit (2020). Ariane Jeßulat. Studium an der UdK Berlin, nach Lehraufträgen dort und der Mitarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2004 Professorin an der Hochschule für Musik Würzburg sowie 2014–2017 Mitglied des Instituts für Musikforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seit Sommer 2015 Professorin für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin. Veröffentlichungen zu Fragen der Musiktheorie, zur Musik Richard Wagners und zur Musik nach 1950. Seit 1989 ständige Arbeit im von Dieter Schnebel gegründeten Ensemble für zeitgenössische und experimentelle Musik die maulwerker. Oliver Korte ist Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Musikhochschule Lübeck; zuvor arbeitete er an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Hochschule für Musik und Theater Rostock und der Universität der Künste Berlin. 2017/18 war er Gastprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2002 wurde mit einer Arbeit über B. A. Zimmermann promoviert. Er studierte Komposition, Musiktheorie und Musikwissenschaft in Hamburg, Wien und Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen auf der Musik des 20./21. Jahrhunderts und um 1500 sowie Mahler und Beethoven. Johannes Kreidler, geboren 1980, studierte in Freiburg und Den Haag Komposition, Elektronische Musik und Musiktheorie u.a. bei Mathias Spahlinger. 2012 erhielt er den Kranichsteiner Musikpreis der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Seit 2019 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Basel. Im Wolke-Verlag sind die Bücher Musik mit Musik – Texte 20052011 (2012) und Sätze über musikalische Konzeptkunst. Texte 2012-2018 (2018) erschienen. Nina Noeske, Studium in Bonn, Weimar und Jena, Magisterabschluss 2001, Promotion 2005, Habilitation 2014. Nach Stationen an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, der

Musiktheorie und Zukunft: Autor:innen

Hochschule für Musik und Theater Hamburg und der Universität Salzburg Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (2014–2022), seit Oktober 2022 Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Forschungsschwerpunkte u.a. sind Musik- und Kulturgeschichte des 18./19.-21. Jahrhunderts, (Neue) Musik in der DDR und im geteilten Deutschland, Franz Liszt und die Neudeutsche Schule, Virtuosität im 19. Jahrhundert, Genderfragen in der Musikwissenschaft, Musik und Werturteil, ästhetische und methodologische (z.B. musikhistoriographische) Fragestellungen. Alexander Rehding, in Hamburg geboren, ist Fanny Peabody Professor of Music an der Harvard University, wo er sich auf Musiktheorie spezialisiert. Seine Forschung ist an der Schnittstelle zwischen Musiktheorie und Sound Studies angesiedelt; 2013 gründete er zu diesem Zweck das Harvard Sound Lab. Wichtige Buchveröffentlichungen: Hugo Riemann and the Birth of Modern Musical Thought (2003), Music and Monumentality (2009), Alien Listening (2021), sowie als Herausgeber The Oxford Handbook of Neo-Riemannian Theory (2011), The Oxford Handbook of Critical Concepts in Music Theory (2019). Zurzeit arbeitet er an zwei Buchprojekten, The Crisis of Sound, sowie A Playlist for the Anthropocene. Benjamin Sprick wurde 1980 in Hamburg geboren und studierte dort Violoncello, Philosophie und Musiktheorie. Als Cellist spielte er im NDR-Sinfonieorchester Hamburg und ist aktuell Mitglied verschiedener Kammermusikformationen. Von 2015 bis 2018 war er Forschungsstipendiat am Graduiertenkolleg ›Ästhetiken des Virtuellen‹ der Hochschule für bildende Künste Hamburg, wo er mit einer Arbeit über Gilles Deleuze und die Musikästhetik promoviert wurde. Zurzeit ist er Lehrbeauftragter für Musiktheorie/Musikphilosophie und Violoncello an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen Aporien einer ›poststrukturalistischen‹ Musiktheorie ebenso, wie das Verhältnis von Musik und Dekonstruktion bzw. aktuelle Kadrierungen von ›Klischee‹ und ›Krise‹. Jan Philipp Sprick, geb. 1975, studierte Musiktheorie, Musikwissenschaft, Viola und Geschichte in Hamburg und Harvard. 2010 wurde er an der HumboldtUniversität zu Berlin promoviert. Von 2006 bis 2018 lehrte er Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, zuletzt als Professor. Ab 2018 lehrt er in gleicher Position an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit 2022 ist er Präsident der Hochschule. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte

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Anhang

der Musiktheorie im 19. Jahrhundert, methodische Fragen der musikalischen Analyse und musikalische Ambivalenz. Vorträge und Publikationen zu vielfältigen Themen der Musiktheorie.

Musikwissenschaft LJ Müller

Hearing Sexism Gender in the Sound of Popular Music. A Feminist Approach August 2022, 208 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5851-4 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5851-8

Vera Grund, Nina Noeske (Hg.)

Gender und Neue Musik Von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart 2021, 370 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 8 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4739-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4739-0

Sonja Heyer

Die Kunst der Dauer Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik Oktober 2022, 280 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 45,00 € (DE), 978-3-8376-6498-0 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6498-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Musikwissenschaft Alexander Lederer

Die Narrativität der Musik im Film Audiovisuelles Erzählen als performatives Ereignis Dezember 2022, 306 S., kart., 3 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-6392-1 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6392-5

Martin Eybl

Sammler*innen Musikalische Öffentlichkeit und ständische Identität, Wien 1740–1810 September 2022, 590 S., kart., 25 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 59,00 € (DE), 978-3-8376-6267-2 E-Book: PDF: 58,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6267-6

Frédéric Döhl

Zwischen Pastiche und Zitat Die Urheberrechtsreform 2021 und ihre Konsequenzen für die künstlerische Kreativität August 2022, 294 S., kart. 46,00 € (DE), 978-3-8376-6248-1 E-Book: PDF: 45,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6248-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de