Musik am russischen Hof: Vor, während und nach Peter dem Großen (1650-1750) 9783110520224, 9783110517941

This volume examines the world of music during the era of reform in Russia under Peter the Great, and describes the poli

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German Pages 258 Year 2017

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Table of contents :
Danksagungen
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
Musik im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen vor Peter dem Großen
Der Zar als Gegner der Spielleute
Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“ in Russland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Die Musik in den ländlichen Zarenresidenzen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Musik am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Polnische Einflüsse auf die russische Musikkultur um 1700
Moskau und das Moskauer Reich in den Memoiren des italienischen Sängers Filippo Balatri
„Im Kiever Partes-Gesang ausgebildet“: Ukrainische Sänger in der Hofkapelle des Zaren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Die musikalischen Panegyriken Vasilij Trediakovsijs am Hof Annas I.
Der russische Hof entdeckt die italienische Oper – ein Prestigeobjekt
Ein Neapolitaner in Sankt Petersburg: Francesco Arajas frühe Opernproduktionen am russischen Hof
Die Rezeption der italienischen opera seria von Anna I. bis zu Katharina II.
Die Zarin Elisabeth und die italienische opera seria
Festa teatrale: repraesentatiomaiestatis in eighteenth-century Russia
Peter III. – Macht und Ohnmacht der Musen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Personenverzeichnis
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Musik am russischen Hof: Vor, während und nach Peter dem Großen (1650-1750)
 9783110520224, 9783110517941

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Lorenz Erren (Hrsg.) Musik am russischen Hof

Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau

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Band 7

Lorenz Erren (Hrsg.)

Musik am russischen Hof | Vor, während und nach Peter dem Großen (1650–1750)

ISBN 978-3-11-051794-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052022-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051802-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: The State Hermitage Museum, St. Petersburg Photograph © The State Hermitage Museum. Photo by Natalia Antonova, Inna Regentova. Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagungen Im Namen aller Konferenzteilnehmer bedankt sich der Herausgeber zuallererst und mit besonderer Herzlichkeit bei Julia Jumaeva, Anna Leer, Daniil Sajapin und dem Chor des Verlagsrates des Moskauer Patriarchats für Musik und Gesang sowie beim Impresario Victor Dönninghaus. Großen Anteil am Zustandekommen wie auch der inhaltlichen Gestaltung der Konferenz, die im September 2013 am Deutschen Historischen Institut Moskau stattfand, hatten Markus Engelhardt, Ingrid Schierle und Andrej Doronin; für reibungslose Vorbereitung sorgten Brigitte Ziehl, Larisa Kondrat󸀠 eva, Aleksandr Anan󸀠 ev, Julia Lebedeva und das ganze DHI-Team. Weiterer Dank gilt Isabelle de Keghel für die empathischen Übersetzungen, Sandra Dahlke für dosierte Termindrängelei zum rechten Zeitpunkt, Rabea Rittgerodt und Cordula Hubert für die Arbeit an der Fertigstellung des Manuskripts und der Sankt Petersburger Eremitage für die freundliche Bereitstellung des Titelbildes. Der Herausgeber bedankt sich für alle Hinweise auf sachliche und orthographische Fehler. Für alle verbliebenen Mängel in der Übersetzung, Rechtschreibung oder im Personenverzeichnis ist er allein verantwortlich.

Inhalt Danksagungen | V Vorwort des Herausgebers | IX Norbert Angermann Musik im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen vor Peter dem Großen | 1 Ljudmila Sukina Der Zar als Gegner der Spielleute | 16 Aleksandr Rogožin Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“ in Russland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts | 30 Andrej V. Topyčkanov Die Musik in den ländlichen Zarenresidenzen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts | 44 Irina Polozova Musik am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts | 55 Krzysztof Rottermund Polnische Einflüsse auf die russische Musikkultur um 1700 | 65 Maria Di Salvo Moskau und das Moskauer Reich in den Memoiren des italienischen Sängers Filippo Balatri | 75 Ljudmila Posochova „Im Kiever Partes-Gesang ausgebildet“: Ukrainische Sänger in der Hofkapelle des Zaren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts | 85 Natalija Ogarkova Die musikalischen Panegyriken Vasilij Trediakovskijs am Hof Annas I. | 109 Sabine Ehrmann-Herfort Der russische Hof entdeckt die italienische Oper – ein Prestigeobjekt | 119

VIII | Inhalt

Roland Pfeiffer Ein Neapolitaner in Sankt Petersburg: Francesco Arajas frühe Opernproduktionen am russischen Hof | 137 Anna Giust Die Rezeption der italienischen opera seria von Anna I. bis zu Katharina II. | 164 Larisa Khalfina Die Zarin Elisabeth und die italienische opera seria | 182 Francesco Paolo Russo Festa teatrale: repraesentatio maiestatis in eighteenth-century Russia | 191 Christoph Flamm Peter III. – Macht und Ohnmacht der Musen | 204 Quellen- und Literaturverzeichnis | 215 Autorenverzeichnis | 233 Personenverzeichnis | 235

Vorwort des Herausgebers Im Jahrhundert zwischen 1650 und 1750 wandelte sich Russland zur europäischen Großmacht. Doch welche Musik erklang dabei? Was bekamen der Zar, seine Würdenträger, Günstlinge am Hof zu hören? Welche Musik machten sie selbst? Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen auf eine Konferenz zurück, die dem musikalischen Aspekt des sozialen und politischen Lebens am russischen Hof gewidmet war. Sie verfolgte nicht vorrangig das Ziel, die Vorgeschichte der heute überwiegend aufgeführten klassisch-romantischen Werke des 19. und 20. Jahrhunderts zu erforschen, sondern wollte die musikalische Praxis des vorangegangenen Zeitalters rekonstruieren. Damit war die Hoffnung verbunden, dass eine gleichzeitige Betrachtung religiöser, politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen dazu beitragen kann, eine komplexere Vorstellung der vielfältigen Motivationen und Auswirkungen der großen Umwälzungen zu erhalten, die seit jeher mit dem Namen Peters des Großen verbunden sind. Die Fragestellung wies damit über rein musikwissenschaftliche Zusammenhänge hinaus. Speziell die westliche Historiographie über Russland gerät oft in einen Zielkonflikt: Sie will eurozentrische Stereotype hinterfragen und muss diese doch immer zugleich reproduzieren. Kein Erkenntnisweg führt an all den fragwürdigen Gegensatzpaaren vorbei: Ost gegen West, Byzanz gegen Rom, Orthodoxie gegen Katholizismus und Reformation, Barbarei gegen Zivilisation, Rückständigkeit gegen Fortschritt, Aberglaube gegen Aufklärung, Moskau gegen Petersburg, Bärte gegen Perücken und so fort. Über alle Epochenbrüche hinweg haben diese Dichotomien ihre suggestive Kraft behalten und dienen in Europa wie Russland bis heute zur wechselseitigen Identitätsabgrenzung. Dabei tragen und trugen nicht alle, die Peter I. als großen „Europäisierer“ Russlands feiern, dem Umstand Rechnung, dass das Europa des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, das Peter zum Vorbild diente, keineswegs von den Werten der Humanität, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit beherrscht war, die man seit einigen Jahrzehnten als „typisch westlich“ oder „europäisch“ zu bezeichnen pflegt. Das Zeitalter Ludwigs XIV. war vielmehr durch dynastische und aristokratisch-feudale Normen geprägt, nach denen sich das Ansehen eines Fürsten und Monarchen wesentlich anhand seiner Machtvollkommenheit, seiner Bereitschaft zur Kriegsführung wie auch der höfischen Prachtentfaltung bemaß. Ein geeignetes Mittel, die übrigen Höfe zu beeindrucken, war der Unterhalt einer italienischen Oper. Wenn Europa aber der Herkunftsort des jeweils „Neuen“ war, was war dann das „russische Alte“? Wie alt war es und was war das spezifisch Russische an ihm? Gabriele Scheidegger hat auf diese Frage eine erfreulich klare Antwort gegeben: Den maßgeblichen Unterschied sah sie darin, dass sich archaische Reinheitsgebote in Russland weitgehend erhalten hatten. Noch im 17. Jahrhundert fassten Russen die christliche Religion im Alltag nicht zuletzt als eine Praxis auf, den eigenen Wohnund Lebensraum von bösen Dämonen fernzuhalten. Christliche Riten waren keine

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rein symbolischen Handlungen, sondern, zumindest nebenbei, auch angewandte Gottesmagie: Ihre Wirkung hing unmittelbar von der Genauigkeit ab, mit der sie ausgeführt wurden. So hegten Russen große Zweifel daran, ob Protestanten und Katholiken, die man bei ihrer Taufe ja nicht dreimal vollständig untergetaucht hatte, von der Erbsünde wirklich vollständig gesäubert waren. Die von westlichen Besuchern notorisch beklagte Fremdenfeindlichkeit der Russen hat Scheidegger als Befürchtung entziffert, sich durch Umgang mit ihnen zu verunreinigen. Dem westlichen Klischee vom „barbarischen Russland“ stand die russische Auffassung vom dämonisch kontaminierten, ja „perversen“ Abendland gegenüber. Während Europäer in Russland jüngere Kulturtechniken vermissten (etwa das Essen mit Messer und Gabel), waren die Russen schockiert über die Erosion der Reinheits- und Kirchengebote im Westen (der anrüchige Verzicht auf regelmäßiges Baden, die Missachtung der Fastengebote und so fort). Die in Russland so lange fortbestehende Unterteilung der Welt in eine religiös gereinigte und eine unrein-dämonische Sphäre hatte auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Musik. Dem gottgefälligen Kirchengesang etwa, der nicht als Verzierung, sondern als integraler Bestandteil der Liturgie aufgefasst wurde, stand die lasterhafte Musik der fahrenden Spielleute (Skomorochy) gegenüber, die bei Hochzeiten und anderen Festen wilde Tanzlieder zum Besten gaben. Musikinstrumente einschließlich der Orgel galten als Werkzeuge der Versuchung und blieben aus Kirchenräumen darum verbannt. Die Abgrenzung zum Westen ergab sich aber nicht nur aus Rückständigkeit, sondern auch als Folge einer zwischen etwa 1613 und 1670 forcierten Politik. In dieser Zeit wurden intransigente Regeln festgezurrt, die Peter I. zur Jahrhundertwende dann so spektakulär durchbrach: Der protestantischen und katholischen Taufe wurde durch den Patriarchen offiziell die Gültigkeit abgesprochen, was einem faktischen Verbot von Mischehen gleichkam. Ebenfalls auf Anweisung des Patriarchen wurden Ausländer gezwungen, in einer eigenen Siedlung (der „Deutschen Vorstadt“) zu wohnen und nur „deutsche Kleider“ zu tragen – während den Russen Letzteres streng verboten blieb. Solche Trennungsverordnungen verfolgten denselben Sinn wie die Verfolgung der Skomorochy: Die Seelen der Rechtgläubigen sollten vor der dämonischen Versuchungen bewahrt werden, die von beiden Gruppen ausgingen. Durch die übermäßige Strenge solcher Erlasse geriet die russische Kirche allmählich in Gegensatz zur übrigen Orthodoxie – insbesondere zum Patriarchen von Konstantinopel, der nicht umhin konnte, dem Kirchenvolk auf dem Balkan und in Polen-Litauen einen normalen Umgang mit Katholiken zu gestatten. Das Streben der großrussischen Kirche nach maximaler Abgrenzung wurde schon um 1650 Streitgegenstand zwischen Moskau und Kiev. Ausschlaggebend war die Haltung des Zaren Aleksej Michajlovič, der nach seiner zweiten Heirat (1671) eine vorsichtige Öffnung nach Westen in die Wege leitete. Unter anderem ließ er sich Instrumentalmusik vorspielen und wohnte ersten Theateraufführungen bei. Auch der höfische Adel entwickelte im letzten Jahrhundertviertel Neugier und Sympathie für den Lebensstil seiner westlichen Standesgenossen, wobei ihm zunächst das Beispiel der orthodoxen Eliten

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Polen-Litauens vor Augen stand. Selbst Teile der konservativen Geistlichkeit zeigten zunehmende Begeisterung für westliche „Importe“ wie den vormals verpönten mehrstimmigen Chorgesang (partesnoe penie). Darum wäre die Vorstellung verfehlt, Zar Peter I. hätte mit seinem berüchtigten Bartscherungsbefehl von 1698 plötzlich eine altrussiche Weltordnung aus den Fugen gehoben – viel plausibler ist, dass er „offene Türen einrannte“ und seine Bojaren froh waren, dass sie die Verantwortung für diesen insgeheim längst ersehnten Schritt gegenüber ihren Beichtvätern nicht selbst übernehmen mussten. So waren bis etwa 1700 die wesentlichen Hindernisse beseitigt, die einer öffentlichen Aufführung weltlicher Instrumentalmusik und choraler Bühnenwerke entgegengestanden. Doch weitere dreißig Jahre mussten vergehen, bevor sich am russischen Hof ein kontinuierlicher Orchester-, Opern- und Bühnenbetrieb etablierte. Die lange Zwischenphase fiel nicht zufällig mit der Herrschaftszeit Peters I. zusammen, der, ungeachtet seiner Verdienste auf anderen Gebieten, kein sonderlich eifriger oder geschickter Förderer der Hochkultur gewesen ist. Mit Opern und Dramen wusste er nicht viel anzufangen. Nicht nur mangelnde Vorbildung, sondern auch seine tiefsitzende persönliche Abneigung gegen steife Zeremonien, gegen Pomp und Pathos mag hier eine Rolle gespielt haben. Lange still im Publikum zu sitzen wäre für ihn nie in Frage gekommen. Er bevorzugte Triumphzüge, Feuerwerke, Schiffstaufen und andere Festivitäten, die von Salutschüssen begleitet waren und im allgemeinen Besäufnis endeten. Was nicht Teil der kirchlichen Liturgie oder unmittelbar militärisch konnotiert war, langweilte oder befremdete ihn – abgesehen von groben Possen, die nicht nur die heimische Geistlichkeit, sondern auch das Zeremoniell westlicher Fürstenhöfe parodierten. Vorbehalte, die viele seiner Landsleute noch Jahrzehnte später gegenüber einem „künstlichen“ Genre wie der italienischen Oper empfanden, lassen darauf schließen, dass er mit seinen Vorlieben und Abneigungen unter seinen Zeitgenossen keineswegs alleine stand. Als würdiger Vertreter seiner Nation erwies sich der Zar allerdings auch durch seine eifrige Beteiligung am Kirchengesang. Die orthodoxe Liturgie war die vermutlich schönste Konstante im russischen Alltag und begleitete alle Rechtgläubigen von der Wiege zur Bahre. Der männliche Chorgesang war eine Grundtatsache des russischen Lebens und wohl die stärkste ästhetische Erfahrung überhaupt. Darum ist es kaum verwunderlich, dass sich diese Tradition auch in den neuen Formen der weltlichen Musik bald wieder Geltung verschaffte – zunächst in den Cantica (kanty), dann auch auf der Opernbühne. Die Etablierung eines ständigen Opernbetriebs stellte die herausragende kulturpolitische Leistung der Zarinnen Anna (1730–1740) und Elisabeth (1741–1761) dar – auch wenn die Oper, musikalisch gesehen, noch keine „russische“ sein konnte, sondern vorerst nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als eine italienische Oper in Russland. Als Vitrine der katholisch-barocken Hofkultur setzte sie einen leichten Kontrapunkt gegen die sonst dominierenden Vorbilder aus dem protestantischen Nordund Ostseeraum. Vor allem aber war sie Teil der herrscherlichen Selbstdarstellung,

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des höfischen Zeremoniells, und ein Medium politischer Propaganda. Diese Umstände haben schon den Zeitgenossen, aber mehr noch den russischen Kunsthistorikern späterer Jahrhunderte eine unbefangene Rezeption erschwert. Vieles von dem, was sich gegen das von Peter I. geschaffene Imperium vorbringen ließ, traf auch auch die Oper zu: Sie war ein zwar prachtvolles, aber monströses, überambitioniertes Gebilde, in dem ehrgeizige Ausländer die sichtbarste Rolle spielten – ein Fremdkörper. Eine russische Besonderheit wird man in dieser Situation nicht zwangsläufig erkennen müssen, ebenso wenig im bedauerlichen Umstand, dass die Werke des wichtigsten Komponisten dieser Zeit, Francesco Araja, heute so gut wie nie aufgeführt werden. Den meisten der im damaligen Deutschland wirkenden Opernkomponisten, wie etwa Antonio Caldara, geht es kaum besser. Umso mehr Anlass hat die heutige Wissenschaft, von einer intensiven Rezeptions- und Publikumsforschung dieser frühen, lange vernachlässigten Phase der Operngeschichte Erkenntnisse zu erwarten, die nicht nur für Musikhistorie, sondern auch für die Entstehung des modernen russischen Nationalbewusstseins von Bedeutung sein können. Damit wurden nur einige der großen Fragen angeschnitten, mit denen sich die Beiträge in diesem Sammelband auseinandersetzen. Zu Beginn wirft Norbert Angermann einen Blick zurück auf die Musikgeschichte des Ostseeraums seit dem Mittelalter, wo der Transfer technischen Wissens Hand in Hand ging mit kulturellem Austausch. Eine Schlüsselindustrie war die Metallverarbeitung. Waffen und Musikinstrumente, Kanonen und Kirchenglocken wurden in denselben Werkstätten produziert. Ljudmila Sukina beschreibt den Feldzug, den die kirchliche Obrigkeit im 17. Jahrhundert gegen die Spielleute (Skomorochy) führte. Ihr facettenreiches Bild von der religiösen und privaten Feierpraxis der provinziellen Gesellschaft führt zum Schluss, dass sich Frömmigkeit und Vergnügen aus Sicht vieler Gläubiger keineswegs ausschlossen. Aleksandr Rogožin richtet sein Augenmerk auf die altrussische Militärmusik. Im Gegensatz zur Kirche, die ausschließlich die menschliche Stimme gelten ließ, war das Militär seit jeher auf Instrumentalmusik angewiesen – die hier allerdings eher eine kommunikative als eine ästhetische Funktion erfüllte. Anders verhielt es sich am Zarenhof. Andrej Topyčkanov weist nach, dass auch schon die Vorgänger Peters I. nicht nur liturgischen Gesängen, sondern hin und wieder auch weltlicher Instrumentalmusik lauschten – allerdings bevorzugt im kleinen Kreis bei nichtoffiziellen Gelegenheiten. Irina Polozova schließlich widmet ihren Beitrag der Entwicklung des geistlichen Gesangs in der vorpetrinischen Zeit. Abgesehen von ihrer liturgischen Funktion vermochten geistliche Chöre auch das weltliche Prestige von Herrschern, Adligen, Bischöfen oder anderer Herren zu steigern – insbesondere wenn sie in ukrainischer Manier mehrstimmig zu singen vermochten. Nur die Altgläubigen verweigerten sich solchen modischen Neuerungen, weshalb sich die altrussischen Formen in ihrer Überlieferung am besten erhalten haben.

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Krzysztof Rottermund erinnert an die frühesten in Russland wirkenden Musiktheoretiker. Namen wie Nikolaj Dilecki stehen beispielhaft für die kaum zu überschätzende kulturelle Wirkung, die das barocke Polen-Litauen einige Jahrzehnte lang auf den politisch erstarkenden Moskauer Hof ausübte. Maria Di Salvos kurze Auskunft über die autobiographischen Texte Filippo Balatris deutet einmal mehr an, was die Fachwelt von dieser Quelle erwarten kann, wenn sie erst einmal publiziert sein wird. Als junger Kastratensänger verbrachte Balatri um 1700 wenige Jahre im Land der tiefen Männerstimmen. Da er sich vornehmlich in Privathaushalten aufhielt und die Welt aus der höchst individuellen Sicht eines Jugendlichen wahrnahm, versprechen seine Aufzeichungen ungewöhnlich tiefe Einblicke in das Alltagsleben der höfischen Eliten, darunter auch der Rolle, die die Musik darin spielte. Um junge Männerstimmen geht es auch in Ljudmila Posochovas Artikel über die ukrainischen Gesangsschulen. Spätestens seit Eingliederung der linksufrigen Ukraine und erst recht nach der Gründung Sankt Petersburgs intensivierte sich der Kulturtransfer auch innerhalb des russischen Reiches. Da die Ukraine im Ruf stand, besonders gute Sänger hervorzubringen, förderten die Petersburger Zarinnen die dortigen Ausbildungsstätten. Einer ihrer Absolventen, Aleksej Razumovskij, erlangte historische Bedeutung als Favorit und heimlicher Ehemann der Zarin Elisabeth I. Der Beitrag Natal󸀠 ja Ogarkovas ist Vasilij Trediakovskij gewidmet, der ebenfalls bemüht war, seine musikalischen Fähigkeiten karrierefördernd einzusetzen. Anhand einiger musealer und archivalischer Fundstücke rekonstruiert die Autorin die letztlich vergeblichen Versuche des Gelehrten, durch offensive Verbreitung neuer Medienformate (in kleiner Auflage gedruckte musikalische Widmungsschriften, gewissermaßen „Geschenkartikel“) die Aufmerksamkeit der Zarin oder anderer potentieller Mäzene zu erlangen. Sabine Ehrmann-Herforts Beitrag ist der erste in diesem Band, der sich mit der italienischen Oper befasst – zunächst mit den frühesten Zeugnissen ihrer Rezeption durch russische Hörer. Auch wenn kein Zweifel besteht, dass etwa Graf Tolstoj und andere russische Italienreisende an der Oper lebhaft interessiert waren, so waren die spezifischen Ausdruckformen dieser Kunstform gleichwohl gewöhnungsbedürftig. Roland Pfeiffer konzentriert sich auf das Wirken des Neapolitaner Komponisten Francesco Araja, der das Opernleben in Petersburg eigentlich begründete und ein Vierteljahrhundert lang künstlerisch dominierte. Pfeiffer weist nach, dass die frühesten Aufführungen kaum etwas anderes gewesen sein können als italienische Produktionen auf russischem Boden – was für sich genommen eine erhebliche Leistung darstellte. Die Darbietung erreichte ein annehmbares Niveau und mag, was die visuelle Inszenierung betraf, viele italienische Bühnen übertroffen haben. Arajas Schaffen war der Ausgangspunkt, von dem aus sich beide Seiten – die italienische Oper und ihr russisches Publikum – von nun an immer weiter aufeinander zubewegten. Unmittelbar in Anknüpfung daran schildert Anna Giust, wie die gebildete Zuhörerschaft begann, sich mit Opernstoffen inhaltlich auseinanderzusetzen. Welches

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waren die Vorzüge und Nachteile der Oper im Vergleich zu gesprochenen Theaterstücken? Wie ließ sich der Nachteil der Künstlichkeit kompensieren? Waren Stoffe, die der antiken Mythologie entnommen waren, für ein russisches Publikum überhaupt geeignet? Sollten sie nicht besser durch Themen aus der eigenen Geschichte ersetzt werden? Diskussionen wie diese vermitteln bereits eine Vorahnung der großen kulturellen und politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Larisa Khalfina zeigt anhand eindrucksvoller Beispiele, wie die Opernbühne zum Kultort einer quasireligiösen Verehrung weltlicher Herrscherinnen wurde. Hymnische Texte und die Integration des Kirchenchors mussten der musikalischen Huldigung eine sakrale Aura verleihen. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung unter der Zarin Elisabeth, die bekanntlich durch einen Militärputsch an die Macht gekommen war. Andererseits war es kein russischer Autor, sondern der Italiener Bonecchi, der die Zarin explizit „den Göttern gleich“ stellte. Auch Francesco Paolo Russos akribische Analyse von Opernstoffen führt zum Ergebnis, dass die Petersburger Opernbühne lange Zeit dem panegyrischen Genre verhaftet blieb, ohne darin eine russische Besonderheit zu sehen – vielmehr fallen die Parallelen zum Werk Pietro Metastasios ins Auge, an dessen Vorbild Araja sich orientiert zu haben scheint. Am Ende des Sammelbands steht Christoph Flamms Versuch, das musikalische Wirken Peters III. zu bilanzieren. Entgegen einer älteren, auf die gehässigen Memoiren Katharinas II. zurückgehenden Überlieferung, kann festgehalten werden, dass sein Geigenspiel unbefangenen Zuhörern durchaus gefiel und dass er die Voraussetzungen mitgebracht hätte, um als Herrscher und Mäzen auf die musikalische Entwicklung Russlands einen günstigen Einfluss auszuüben. Aufgrund ihres Bemühens um historische Reflexion wie um dokumentarische Sorgfalt lassen diese Studien, so hofft der Herausgeber, ein Bild der russischen Musikgeschichte entstehen, das neben kräftigen Farben auch einige Tiefenschärfe aufweist. Mainz, Januar 2017

Lorenz Erren

Norbert Angermann

Musik im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen vor Peter dem Großen Im Folgenden wird ein Überblick über die deutsch-russischen Musikbeziehungen von den Anfängen in der Zeit des Reiches von Kiev bis zum Herrschaftsantritt Peters des Großen geboten. Dass es solche Beziehungen gab, überrascht erfahrungsgemäß auch manchen an der russischen Geschichte besonders Interessierten. Dies ist insofern kein Wunder, als bisher keine entsprechende Darstellung vorliegt und das Material zu den frühen deutsch-russischen Kontakten auf musikalischem Gebiet, wie im Folgenden erkennbar werden wird, auch recht begrenzt ist. Bei der Erklärung dieser relativ geringen Beziehungsdichte muss man selbstredend von der grundlegenden Tatsache ausgehen, dass die Rus󸀠 zum Einflussbereich der byzantinischen Kultur gehörte und ihre Entwicklung in weitgehender Isolierung vom Westen verlief. Den wichtigsten Grund für diese Trennung bildete der konfessionelle Gegensatz zwischen der orthodoxen und der katholischen bzw. später auch protestantischen Kirche. Folgenreich war außerdem die Eroberung großer Teile der Rus󸀠 durch die Mongolen (1237–1240), denn die Mongolen- beziehungsweise Tatarenherrschaft bedingte nicht nur eine starke wirtschaftliche Belastung der eroberten Gebiete, sondern auch deren Verschwinden aus dem Blickfeld des Westens. Erst seit dem späten 15. Jahrhundert nahmen die unter der Oberhoheit der Tataren aufgestiegenen Moskauer Herrscher wieder Beziehungen zum Westen auf, wie sie ähnlich schon in der vormongolischen Zeit existiert hatten. Im 17. Jahrhundert intensivierte sich der Kulturtransfer zwischen West und Ost, bis Peter der Große auf dem Wege der Verwestlichung Russlands die endgültig entscheidenden Schritte tat. Trotz der einschränkenden Bedingungen kam es auf einigen Gebieten bereits im Mittelalter und dann massiert in der beginnenden Neuzeit zu sehr beachtenswerten deutsch-russischen kulturellen Transfers. Für den Bereich der Architektur sei daran erinnert, dass im 12. Jahrhundert unter dem Fürsten Andrej Bogoljubskij Baumeister, die von Kaiser Friedrich Barbarossa entsandt worden waren, an der Errichtung der Marienkirche in Vladimir und der Residenz Bogoljubovo teilnahmen und dabei romanische Bauformen übertrugen.¹ Im 15. Jahrhundert waren norddeutsche Meister am Bau des spätgotischen Bischofspalastes im Novgoroder Kreml󸀠 beteiligt.² Des Weiteren wurden seit dem ausgehenden Mittelalter in Novgorod und Moskau zahlreiche

1 Vgl. Nikolaj N. Voronin, Zodčestvo Severo-Vostočnoj Rusi XII-XV vekov, t. 1: XII stoletie, Moskva 1961, S. 329–340. 2 Il󸀠 ja V. Antipov, Novgorodskaja architektura vremeni archiepiskopov Evfimija i Iony Otenskogo, Moskva 2009; derselbe (Ilja Antipow) und Dimitri Jakowlew, Der Facettenpalast in Weliki-Nowgorod – Ein DOI 10.1515/9783110520224-001

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deutsche Druckwerke zu Übersetzungsarbeiten herangezogen,³ und in der Zeit vom späten 15. Jahrhundert bis zum Regierungsantritt Peters des Großen waren Hunderte von deutschen Ärzten, Übersetzern, Goldschmieden und sonstigen Fachleuten im Moskauer Dienst tätig.⁴ Von den Beziehungen auf dem Gebiet der Musik konnte jedoch nicht Dasselbe erwartet werden. Denn im alten Russland dominierte der Kirchengesang, der wegen des konfessionellen Gegensatzes und aus sprachlichen Gründen für eine gegenseitige deutsch-russische Rezeption nicht infrage kam. Außerdem ist der simple Tatbestand zu berücksichtigen, dass Musik nicht in gleicher Weise gegenständlich präsent und damit zur Übernahme anregend wie etwa westliche Bauwerke oder auch Edelschmiedearbeiten war und die Rezeption von musikalischen Formen keinen handgreiflichen Nutzen versprach. Das Zustandekommen von Kontakten auf diesem Gebiet stellte also etwas Besonderes dar. Die Entscheidung dafür, solchen Verbindungen einmal nachzugehen, ergab sich aus der bereits angedeuteten Tatsache, dass es bisher sowohl im deutschen als auch im russischen Schrifttum an einem zusammenfassenden Blick auf die deutsch-russischen Musikbeziehungen vor der Zeit des kulturellen Umbruchs unter Peter dem Großen fehlt. Als deutsche Beiträge, die einem Teilbereich gewidmet sind, können am ehesten Ausführungen der Musikhistoriker Walter Salmen (1926–2013) und Ernst Stöckl angeführt werden. Salmen musterte die Behandlung der russischen Musik in deutschen Schrift- und Bildzeugnissen der Zeit bis 1700,⁵ während Stöckl eine Materialzusammenstellung über das Wirken deutscher Musiker im Russland des 17. Jahrhunderts bot.⁶ Über sein bildgeschichtliches Anliegen hinaus machte sich Salmen auch Gedanken darüber, wieweit unter den gegebenen Umständen auf dem Gebiet der Musik eine gegenseitige Beeinflussung möglich war. Sein Ergebnis lautete, dass es keinen direkten Austausch von Fachleuten, Instrumenten und Praktiken ge-

Denkmal der Zusammenarbeit deutscher und Nowgoroder Meister, in: Alexander Lewykin (Hrsg.) Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur. Essays, Petersberg 2012, S. 74–81. 3 Aleksej I. Sobolevskij, Perevodnaja literatura Moskovskoj Rusi XIV-XVII vekov. Bibliografičeskie materialy, Sankt-Peterburg 1903; Elke Wimmer, Novgorod – ein Tor zum Westen? Die Übersetzungstätigkeit am Hofe des Novgoroder Erzbischofs Gennadij in ihrem historischen Kontext (um 1500), Hamburg 2005. 4 Sabine Dumschat, Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland, Stuttgart 2006; Norbert Angermann, Deutsche Übersetzer und Dolmetscher im vorpetrinischen Russland, in: Eckhard Hübner (Hrsg.) Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 221–249; derselbe, Deutsche Künstler im Alten Rußland, in: Kirche im Osten 20 (1977), S. 72–89; V. I. Troickij, Slovaŕ moskovskich masterov zolotogo, serebrjanogo i almaznogo dela XVII veka, Leningrad 1928– 1930. 5 Walter Salmen, Russische Musik und Musiker in Deutschland vor 1700, in: Die Musikforschung 26 (1973), S. 167–180. 6 Ernst Stöckl, Musikgeschichte der Rußlanddeutschen, Dülmen 1993, S. 16–21.

Musik im Rahmen der deutsch-russischen Beziehungen vor Peter dem Großen

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ben konnte.⁷ Dieses irreführende Urteil war nur möglich, weil Salmen keinen Zugang zu russischsprachigem Schrifttum besaß. Im Falle von Themen, bei denen es hauptsächlich um die kulturelle Rezeption in Russland geht, sind aber in der Regel die russischen Quellen die wichtigsten und die Forschungsbemühungen der russischen Gelehrten besonders intensiv. Von den russischen Autoren, deren Arbeiten für unser Thema heranzuziehen sind, sei der bekannte Musikhistoriker Nikolaj Findejzen (1868–1928) hervorgehoben, der eine Gesamtdarstellung der älteren russischen Musikgeschichte vorgelegt hat, die auf bester Quellenkenntnis beruht.⁸ Namentlich im Hinblick auf die Kiever Zeit ist eine umfangreiche Untersuchung über das russische Glockenwesen aus der Feder von Anna Bondarenko für uns von wesentlicher Bedeutung.⁹ Mit Anerkennung sei ferner Vladimir Povetkin (1943–2010) genannt, der an den höchst ergiebigen archäologischen Grabungen in Novgorod beteiligt und dabei für die Untersuchung der Funde von Musikinstrumenten zuständig war.¹⁰ Viele Forscher, deren Nennung an dieser Stelle angebracht wäre, übergehend, sei noch die amerikanische Musikhistorikerin Claudia Jensen erwähnt, der eine sehr sorgfältige Darstellung über das Musikleben im Russland des 17. Jahrhunderts zu verdanken ist.¹¹ Wenden wir uns nun der Zeit des Reiches von Kiev zu, das im 9. Jahrhundert entstand, mit der Übernahme des Christentums aus Byzanz im späten 10. Jahrhundert zu einem kulturvollen Staat wurde und nach vorangegangener Zersplitterung im Mongolensturm von 1237–1240 unterging. Zu den Ausdrucksformen der Kultur, die aus Byzanz in die Rus󸀠 vermittelt wurden, gehörte der Kirchengesang, neben dem es keine Verwendung von Instrumenten beim Gottesdienst gab. Auch Glocken fehlten bei diesem Transfer; in der Rus󸀠 wurde stattdessen nach byzantinischem Vorbild mit Schlägen auf schmale Holz- und Metallplatten (bila und klepala) zum Gottesdienst gerufen. Dennoch kam es zum Gebrauch von Kirchenglocken in der Rus󸀠 , bezeugt seit dem 11. Jahrhundert. Das für unser Wissen darüber maßgebende archäologische Fundmaterial besteht aus mehreren vollständig erhaltenen Glocken und Dutzenden von Bruchstücken. Von den erhaltenen Glocken aus der Zeit bis 1240 stammen zwei aus Kiev und je eine aus Novgorod, Vladimir an der Kljaz󸀠 ma und der 1257 zerstörten Stadt

7 Salmen, Russische Musik und Musiker in Deutschland, S. 173. 8 Nikolaj F. Findejzen, Očerki po istorii muzyki v Rossii s drevnejšich vremen do konca XVIII veka, t. 1. S drevnejšich vremen do načala XVIII veka, Moskva-Leningrad 1928. 9 Anna F. Bondarenko, Istorija kolokolov Rossii XI-XVII vv., Moskva 2012. 10 Vgl. als Würdigung A. M. Kosych, Vladimir Ivanovič Povetkin i muzykal󸀠 naja archeologija v Rossii za poslednie 35 let, in: Novgorod i Novgorodskaja zemlja. Istorija i archeologija 25, Novgorod 2011, S. 5–20. Ein deutschsprachiger Beitrag dieses Forschers: Vladimir I. Povetkin, „Lärmgefäße des Satans“. Musikinstrumente im mittelalterlichen Novgorod, in: Michael Müller-Wille (Hrsg.), Novgorod. Das mittelalterliche Zentrum und sein Umland im Norden Rußlands, Neumünster 2001, S. 225–244. 11 Claudia R. Jensen, Musical Cultures in Seventeenth-Century Russia, Bloomington-Indianapolis 2009.

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Gorodesk im Gebiet von Žitomir.¹² Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich im Falle Kievs und Novgorods um die wichtigsten politischen und Handelszentren der Blütezeit des altrussischen Staates und bei der Stadt Vladimir um Kievs Nachfolgerin in der Nordöstlichen Rus󸀠 handelte, während Gorodesk eine weniger wichtige Handelsstadt war. Für eine nennenswerte Verbreitung des Glockenwesens in der vormongolischen Rus󸀠 spricht die Tatsache, dass Glocken und Glockenfragmente aus jener Zeit bisher an annähernd 30 Fundstätten geborgen wurden, von denen sich allerdings allein acht in Kiev befinden.¹³ Sie stehen natürlich nur für einen Bruchteil der einst vorhandenen Glocken. Oft lassen sich die Funde mit ehemaligen Kirchen und mit den Zerstörungen des Mongolensturms in Verbindung bringen. In ihren Formen und in der Zusammensetzung des Metalls (Kupfer, Zinn, ein wenig Blei) stimmen die Glocken mit denen des westlichen Europa überein. Auch das abendländische Schwingen nicht nur des Klöppels, sondern der ganzen Glocke war in der Rus󸀠 lange Zeit verbreitet (im Gebiet von Pskov sogar dauerhaft). Besteht damit an der westlichen Herkunft des russischen Glockenwesens kein Zweifel, so ist zugleich festzuhalten, dass im 12. Jahrhundert die Glockenherstellung durch einheimische russische Gießer begann. Bei den erhaltenen Bruchstücken ist oft nicht zu erkennen, ob sie von importierten Glocken oder solchen russischer Produktion stammen. Bereits der hervorragende Gelehrte Nikolaj Olovjanišnikov äußerte entschieden, dass die ersten Glocken der Rus󸀠 aus Deutschland stammten und dass sich die russischen Gießer beim Beginn der eigenen Glockenherstellung nach dem deutschen Vorbild richteten.¹⁴ In der sowjetischen Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit war die Anerkennung einer solchen These zunächst kaum möglich, und so finden wir dort keine konkreten Angaben über die Herkunft des russischen Glockenwesens oder die ausdrückliche Verneinung eines frühen deutschen Einflusses.¹⁵ Aber bereits 1960 konstatierte R. I. Vyezžev, der Ausgräber von Gorodesk, dass es sich bei zwei dortigen Glocken, einer vollständig erhaltenen und einer aus Bruchstücken weitgehend rekonstruierbaren, um deutsche handelte.¹⁶ In diese Richtung wies unter anderem die Tatsache, dass in einer lateinischen Inschrift der vollständigen Glocke der Name GODEFRIDUS

12 Bondarenko, Istorija kolokolov. Über die erst vor kurzem ausgegrabene Glocke von Vladimir ist noch nichts Genaueres bekannt. Ein Hinweis auf sie bei Ju. E. Žarnov, Vozvraščenie kul’turnych cennostej drevnego goroda, in: Archeologičeskie otkrytija 1991–2004 gg. Evropejskaja Rossija, red. von N. A. Makarov, Moskva 2009, S. 430–442, hier S. 440. 13 Bondarenko, Istorija kolokolov, Tabellen 4, S. 71 und 7, S. 85. 14 Nikolaj I. Olovjanišnikov, Istorija kolokolov i kolokolitejnoe iskusstvo, 2. Aufl., Moskva 1912, S. 29,31,39. 15 Vgl. als Beispiel Nikolaj N. Rubcov, Istorija litejnogo proizvodstva v SSSR, čast‘1: IX-XVIII vv., Moskva-Leningrad 1947. Hier wird der deutsche Einfluss auf das altrussische Gießereiwesen als „sehr unbedeutend“ erklärt und zudem erst für das 12.-13. Jahrhundert angenommen, auch dann noch begrenzt auf wenige Fürstentümer der Rus󸀠 (S. 11f.). 16 R. I. Vyezžev, Kolokola drevnego Gorodeska, in: Kratkie soobščenija Instituta archeologii Akademii nauk Ukrainskoj SSR 9. 1959 (1960), S. 104–107, hier S. 106f.

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steht. Bald danach zeigte sich auch Vladislav Darkevič von der deutschen Herkunft der von ihm näher betrachteten Glocken überzeugt.¹⁷ Anna Bondarenko äußert etwas unbestimmt, dass die frühesten Glocken der Rus󸀠 „aus den Ländern Mitteleuropas“ stammten.¹⁸ Wenn in ihrem Buch vereinzelt die Herkunftsbezeichnung „Germanija“ auftaucht, dann setzt sie ein Fragezeichen dahinter, mit Ausnahme der vollständigen Glocke aus Gorodesk.¹⁹ Die Zurückhaltung dieser Autorin wirkt übertrieben. Die von ihr gebotenen Nachweise von Übereinstimmungen bei den in Russland und in Deutschland erhaltenen Glocken kann man durchaus als Bestätigung einer entsprechenden Herkunftsbeziehung lesen. Das konkrete Fundmaterial stützt demnach die These vom Glockentransfer aus Deutschland. Eine deutsche Herkunft lässt sich auch von den allgemeinen Voraussetzungen her erklären. In den deutschen Ländern entwickelte sich nämlich der Glockenguss seit dem 10. Jahrhundert sehr intensiv. Zugleich waren die politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Verbindungen der Rus󸀠 mit Deutschland weitaus enger als die mit den anderen Ländern des Westens. Vielleicht waren sogar wandernde deutsche Glockengießer in die Rus󸀠 gekommen, um im Zusammenhang mit dem Bau oder der Ausstattung von Kirchen tätig zu werden. Entscheidend für die Befriedigung der durch Kontakte entstandenen russischen Nachfrage nach den zunächst nur kleinen Glocken war aber zweifellos der Handel. Im 11. Jahrhundert führte im Süden der wichtigste Weg des Westhandels der Rus󸀠 von Kiev nach Regensburg,²⁰ und im Norden gab es eine direkte Verbindung zwischen Novgoroder und deutschen Kaufleuten über die Ostsee.²¹ Der deutsch-russische Glockenhandel lief auch in der Folgezeit weiter. Nach dem Untergang des Kiever Reiches stammt ein erstes Zeugnis dafür aus dem Jahre 1284. Es betrifft den Streit um eine im Rahmen des Hansehandels nach Smolensk gelieferte teure deutsche Glocke.²² Die Rezeption der abendländischen Glocke in der Rus󸀠 war dann aber ausgesprochen schöpferisch. Die Glockenmusik entwickelte sich unabhängig vom deutschen

17 Vladislav P. Darkevič, Proizvedenija zapadnogo chudožestvennogo remesla v Vostočnoj Evrope (XXIV vv.), Moskva 1966, S. 10, 14, 52f., 81. 18 Bondarenko, Istorija kolokolov, S. 351. Überwiegend verwendet die Autorin die noch weniger spezifische Herkunftsbezeichnung Zapadnaja Evropa = Westeuropa, die nach russischem Sprachgebrauch Mitteleuropa mit einschließt. 19 Bondarenko, Istorija kolokolov, S. 436, 442. 20 Vgl. zuletzt Aleksandr V. Nazarenko, Die Regensburger Ruzarii: Der bayerisch-russische Handel des Mittelalters (vornehmlich des 12. und 13. Jahrhunderts), in: Alois Schmid (Hrsg.) Bayern und Russland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen, München 2012, S. 15–38 (Nazarenko berücksichtigt hier auch das 11. Jahrhundert). 21 Im 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts trafen sich deutsche und Novgoroder Kaufleute in Häfen des westlichen Ostseegebiets, was im Gegensatz zum späteren Hansehandel in Novgorod wenig bekannt ist. Hinweise bei Angermann, Nowgorod und die Hanse, in: Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur, S. 56–63, hier S. 56. 22 Smolenskie gramoty XIII-XIV vekov, Red. von R. I. Avanesov, Moskva 1963, S. 62f.

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Zusammenhang und wurde ein sehr wesentliches Element der russischen kulturellen Tradition.²³ Es ist erstaunlich, dass die deutsch-russische Verbindung auf diesem Gebiet quasi ein Geheimwissen der Spezialforschung geblieben ist. In der allgemeinen Literatur zur Geschichte der deutsch-russischen Handels- und Kulturbeziehungen wurde sie bisher nicht beachtet. Für die Glanzzeit des altrussischen Staates rechneten manche Gelehrte mit dem Auftreten von fahrenden deutschen Musikanten, sogenannten Spielleuten, am Kiever Hof.²⁴ Man kann ihr dortiges Erscheinen nicht ganz ausschließen, jedoch liegt kein stichhaltiges Zeugnis dafür vor. In der Forschung wurde die Tatsache als Beleg betrachtet, dass in altrussischen Texten das Lehnwort špil󸀠 man auftaucht. Dabei handelt es sich aber nur um Erwähnungen in aus Serbien übernommenem Schrifttum.²⁵ Für sängerische Darbietungen von Deutschen in Kiev musste zusätzlich zur räumlichen Entfernung die Sprachbarriere als Hindernis wirken. Von nennenswerter Bedeutung kann das eventuelle Erscheinen von deutschen fahrenden Leuten in der frühen Rus󸀠 , auch etwa von Gauklern oder Akrobaten, nicht gewesen sein. Die vom amerikanischen Historiker Russell Zguta vertretene Auffassung, dass das Skomorochentum von der deutschen Spielmannskunst beeinflusst wurde, erscheint als unbegründet. Deutsche Spielleute und russische Skomorochen standen sich nur typologisch außerordentlich nahe.²⁶ Schon in der Blütezeit der Kiever Rus󸀠 bildete Novgorod nach der Stadt am Dnjepr das zweitwichtigste Zentrum des Reiches, und in der langen Zeit der territorialen Zersplitterung war die Stadt am Volchov die wirtschaftlich und kulturell bedeutendste russische Metropole überhaupt. Unser Wissen über die mittelalterliche Handelsstadt wurde in den vergangenen Jahrzehnten bekanntlich durch archäologisches Material ungemein bereichert, was auch die Musik betrifft. Die Sammlung musikalischer Funde aus Novgorod ist für Europa einmalig. Als deutscher Import kommt aber nach heutiger Kenntnis nur eine bestimmte Art von Schellen (bubenčiki) in Frage, die im 14. Jahrhundert in Novgorod und Pskov eine begrenzte Verbreitung fand. Bei ihrer Herstellung wurde Messing in einer Weise verwandt, zu der es in Deutschland genaue Entsprechungen gibt. In Novgorod fehlt es dagegen an jeder Spur ihrer Produktion.²⁷

23 Johann von Gardner, Johann von, Glocken als liturgisch-musikalisches Instrument der russischen Kirche, in: Ostkirchliche Studien 7 (1958), S. 173–183; Elmar Arro, Die altrussische Glockenmusik. Eine musikslavistische Untersuchung, in: Ders. (Hrsg.), Beiträge zur Musikgeschichte Osteuropas, Wiesbaden 1977, S. 27–159; A. S. Jareško, Russkie pravoslavnye kolokol󸀠 nye zvony v sinteze chramovych iskusst. Istorija, stilevye osnovy, funktional󸀠 nost󸀠 , Moskva 2009. 24 Walter Salmen, Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter. Kassel 1960, S. 28,171; Russell Zguta, Minstrels. A History of the Skomorokhi, Oxford 1978, 5. 15–18. 25 Vgl. George Thomas, Middle Low German Loanwords in Russian, München 1978, S. 215f. 26 Dazu Dieter Lehmann, Der russische Skomoroch als Typ des europäischen mittelalterlichen Spielmanns, in: Musica antiqua Europae orientalis. IV, Bydgoszcz 1975, S. 221–231. 27 Vladimir I. Povetkin, Otčego-to gremjat bubenčiki (po materialam novgorodskoj archeologii), in: Novgorodskij istoričeskij sbornik 12 (22), Moskva-Sankt-Peterburg 2011, S. 63–70, hier S. 66f.

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Den Novgorodern müssen diese Erzeugnisse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Hanse importiert wurden, gut gefallen haben, so dass es dafür neben den Schellen einheimischer Produktion eine Nachfrage gab. Im mittelalterlichen Novgorod lebte eine relativ große Zahl von Skomorochen, ja man hat die Metropole am Volchov als Hauptstadt dieser Volksmusikanten und – schauspieler bezeichnet. Als im Jahre 1415 Skomorochen in Narva erschienen, waren sie offenbar aus Novgorod angereist, denn Narva war eine Grenzstadt zwischen Livland und dem Novgoroder Gebiet. In Livland, das territorial identisch mit dem heutigen Estland und Lettland war, gab es eine prägende deutsche Minderheit, weshalb das Narvaer Ereignis hier beachtet werden soll. In der mittelniederdeutschen Quelle aus Narva über die Skomorochen werden diese treffend als spellude (Spielleute) bezeichnet. Sie traten in Narva auf und erhielten vom Narvaer Vogt des Deutschen Ordens die Erlaubnis, durch Livland zu reisen.²⁸ Aus dem frühen 16. Jahrhundert, als die politischen Beziehungen zwischen Livland und Moskau besonders gespannt waren, liegt eine weitere Erwähnung von Skomorochen in einer livländischen Quelle vor. Darin wurde behauptet, dass russische Spielleute in Livland Spionage trieben,²⁹ was durchaus glaubhaft ist. Man kann vermuten, dass Skomorochen öfter in Livland aufgetreten sind und ihr Bekanntschaftsgrad dort nicht gering war. So knapp die vorliegenden Zeugnisse sind, gebührt ihnen auch deshalb Interesse, weil wir sonst nur wenig über Beziehungen von Skomorochen zum Ausland wissen. Was aber erfuhr man in Novgorod über westliche Musik? Ebenso wie es im vormongolischen Kiev für die Betreuung der Kaufleute aus Bayern und Österreich eine katholische Marienkirche gab, existierte in Novgorod die St. Peterkirche der norddeutschen Hansen. In diesen für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts sicher bezeugten katholischen Gotteshäusern erklang natürlich kirchliche Musik; dass damit die Stadtbewohner bekannt wurden, ist aber nicht belegt. Für die St. Peterkirche, die im Gegensatz zur Kirche in Kiev nach dem Mongolensturm weiterexistierte, kann dies sogar ausgeschlossen werden, denn den Novgorodern war der Zugang zu dem Gotteshaus verwehrt, weil dort Waren lagerten und die russischen Kaufleute über den Umfang dieses Angebots nicht informiert sein sollten.³⁰ Einem kleinen Kreis von Novgorodern waren aber Bildquellen mit der Darstellung westlicher Instrumente zugänglich, wobei eine deutsche Herkunft oder Vermittlung in Frage kommt – man denke an die monopolähnliche Stellung der Hanse im Russland-

28 Arnold Süvalep, Geschichte Narvas, Bd. 1. Die Dänen -und Ordenszeit [in der Bibliothek des HerderInstituts, Marburg, vorhandene Übersetzung des Werkes Narva ajalugu. I. Taani ja orduaeg, Narva 1936], S. 342. 29 Eyne Schonne hysthorie van vunderliken gescheffthen der heren tho lyfflanth myth den Rüssen vnde tartaren, hrsg. von Carl Schirren, in: Archiv für die Geschichte Liv-, Est- und Curlands 8 (1861), S. 113–265, hier S. 134. 30 Norbert Angermann, Die Hanse und Rußland, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Kulturgeschichte und Landeskunde 20 (1987), S. 57–92, hier S. 63.

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handel. Ein Beispiel bietet eine Darstellung des Königs David mit Psalter samt Begleitern von ihm mit weiteren Instrumenten in der Handschrift eines Novgoroder Klosters aus dem 13. Jahrhundert. Derartige Miniaturen mit zum Teil westlichen Instrumenten finden sich auch in handschriftlichen Büchern aus anderen russischen Städten. Musikhistoriker haben daraus geschlossen, dass solche Instrumente in Russland in Gebrauch gekommen waren. Dagegen wandte sich Vladimir Povetkin, der Spezialist für die archäologischen Funde von Musikinstrumenten in Novgorod. Er stellte fest, dass die fraglichen Instrumente, die man auf den Miniaturen sieht, unter dem russischen Fundmaterial nicht vertreten sind. Beobachtungen des Musikhistorikers Findejzen fortführend, legte Povetkin dar, dass diese Instrumente aus westlichen Bildquellen übernommen worden waren. Denn die russischen Miniaturisten wollten bei der Darstellung biblischer Musikszenen keine einheimischen Instrumente verwenden, weil diese von der russischen Kirche als heidnisch abgelehnt wurden.³¹ Insoweit gilt also: nicht reale abendländische Instrumente wurden in der Rus󸀠 bekannt, sondern ihre bildlichen Darstellungen in handschriftlichen Büchern. Nach wie vor gab es jedoch Beziehungen auf dem Gebiet des Glockenwesens. Die Entwicklung im Westen hatte seit dem 13. Jahrhundert zur Vergrößerung der Glocken, zur Verbesserung ihres Klanges und zur klanglichen Abstimmung zwischen mehreren Glocken einer Kirche geführt. Ausländische Glocken und Glockengießer blieben deshalb in der Rus󸀠 gefragt. In Moskau war in den 1340er Jahren im Auftrage des Großfürsten der Gießer „Boris Rimljanin“ tätig, ein Katholik also, der mit einem russischen Vornamen bezeichnet wurde.³² Er dürfte italienischer oder deutscher Herkunft gewesen sein. Interessant ist, dass er im Auftrage des Großfürsten Simeon Gordyj für einen Glockenturm des Kreml󸀠 drei große und zwei kleine Glocken goss,³³ wobei zwischen den großen vermutlich eine klangliche Abstimmung intendiert war. Derselbe Boris Rimljanin goss 1342 in Novgorod im Auftrage des Erzbischofs Vasilij eine große Glocke für die Sophien-Kathedrale.³⁴ Im 15. Jahrhundert war es mit dem Erzbischof Evfimij II. wiederum die höchste geistliche und politische Instanz in Novgorod, die um einen ausländischen, in diesem Falle eindeutig deutschen Glockengießer warb. Aus der Zeit um 1435 ist nämlich ein Schreiben Evfimijs an den Rigaer Rat erhalten, in dem um die Zusendung eines Glockengießers gebeten wird, ohne dass wir etwas über das

31 Vladimir I. Povetkin, „Russkij“ izobrazitel󸀠 nyj kanon na muzykal󸀠 nye instrumenty, in: Pamjatniki kul󸀠 tury. Novye otkrytija. Piśmennost󸀠 . Iskusstvo. Archeologija. Ežegodnik 1989, Moskva 1990, S. 136– 159. 32 Rimljanin ist das russische Wort für „Römer“. Es meinte die konfessionelle Zugehörigkeit zur Papstkirche und, davon ausgehend, allgemein eine westliche Herkunft. 33 Bondarenko, Istorija kolokolov, S. 194f. 34 Bondarenko, Istorija kolokolov, S. 195.

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Ergebnis dieses Gesuchs erfahren.³⁵ Der Erzbischof hatte sich damit in dieselbe, nämlich die hansische Richtung gewandt, aus der er kurz zuvor Fachleute für den Bau des bereits erwähnten spätgotischen Palastes im Novgoroder Kreml󸀠 erhalten hatte. In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts trat Moskau als wichtigstes kulturelles Zentrum der Rus󸀠 deutlich hervor. Unter dem Großfürsten Ivan III. (1462–1505) wurden damals bekanntlich vor allem italienische Künstler nach Moskau gerufen. Der große Aristotele Fioravanti, vor allem bekannt durch den Bau der Uspenskij-Kathedrale, goss auch Glocken für den Großfürsten. Die erste in der langen Reihe der zunehmend großen Moskauer Glocken wurde aber 1503 von dem Italiener „Petr Frjazin“ gegossen.³⁶ Die Moskauer Herrscher der Folgezeit übertrumpften einander in der Größe ihrer Hauptglocken. Deren Inschriften trugen die Namen der Herrscher; die großen, bald weltgrößten Glocken brachten den Machtanspruch der Großfürsten und Zaren zum Ausdruck und sollten ihrem Andenken und Seelenheil dienen. Nach dem Ende der italienischen Epoche spielten deutsche Meister im Moskauer Pušečnyj dvor (Kanonenhof), in dem sowohl Kanonen als auch Glocken gegossen wurden, eine Rolle. So wurde die Gedenkglocke für Vasilij III. im Jahre 1533 von Niklaus Oberacker aus Konstanz gegossen.³⁷ Von dem danach tätigen deutschen Meister „Kašpir Ganusov“ ist das Gießen von Kanonen bezeugt, während dasjenige von Glocken nur vermutet werden kann. Er war der Lehrer von Andrej Čochov, dem Begründer einer sehr bedeutenden Schule russischer Glockengießer.³⁸ Die deutsch-russischen Beziehungen auf dem Gebiet des Glockenwesens hielten bis zum Ende der hier behandelten Epoche an. Vom Beginn der 1630er bis zum Beginn der 1650er Jahre wirkte der Glocken- und Geschützgießer Hans (Ivan) Falk aus Nürnberg in Moskau,³⁹ und noch im 17. Jahrhundert wurden von deutschen Kaufleuten zahlreiche Glocken

35 Gramoty Velikogo Novgoroda i Pskova, red. von S[igizmund] N[atanovič] Valk, Moskva-Leningrad 1949, Nr. 65, S. 108. 36 V. V. Kavel󸀠 macher, Bol󸀠 šie blagovestniki Moskvy XVI – pervoj poloviny XVII v., in: Kolokola. Istorija i sovremennost󸀠 1990, Moskva 1993, S. 75–118, hier S. 84. 37 Kavel󸀠 macher, Bol󸀠 šie blagovestniki, S. 87. 38 Kavel’macher schließt nicht aus, dass „Kašpir Ganusov“ 1550 für den Zaren Ivan IV. die damals größte Glocke Europas gegossen hat (Gewicht: 2200 Pud). Bol󸀠 šie blagovestniki, S. 91. Über Kašpirs berühmten Schüler vgl. Evgenij L. Nemirovskij, Andrej Čochov (okolo 1545–1629), Moskva 1982. 39 Die Persönlichkeit und die Leistungen von Hans Falk werden in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Vgl. Bondarenko, Istorija kolokolov, S. 328–337 und dieselbe, Iz istorii kolokolitejnogo dela v Moskve v XVII v, in: Boris Danilenko (Red.), Rukopisnye sobranija cerkovnogo proischoždenija v bibliotekach i muzejach Rossii, Moskva 1999, S. 182–188 (stark abwertend) und andererseits Johannes Willers, Hans Falk, der Glocken- und Kanonengießer. Ein Versuch der Rekonstruktion seines Lebenslaufs, in: Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur, S. 250–255.

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nach Russland exportiert.⁴⁰ Daneben ergingen aus Pskov Bestellungen an deutsche Glockengießer in Riga (ebenso aus den weißrussischen Städten Polozk und Vitebsk).⁴¹ Darüber hinaus gab es im 17. Jahrhundert weitere westliche Instrumente, die in das Zarenreich gelangten. Genannt seien Orgeln, die in Russland als weltliche Instrumente genutzt wurden, ferner Klavichorde, Trompeten, Violen, Cembali und Flöten. Solche Instrumente befanden sich bezeugtermaßen nicht nur im Besitz der Zaren, sondern auch von hochgestellten Adligen, die westlich orientiert waren. Zu ihnen gehörten der Bojar Nikita Romanov, ein Verwandter der Zarenfamilie, und Vasilij Golicyn, der Vertraute der Regentin Sof ‘ja.⁴² In der Bibliothek des Leiters des Außenamtes (Posolskij prikaz) Artamon Matveev war auch ein in Berlin erschienenes Buch mit Liedern Paul Gerhardts, des bekannten evangelischen Kirchenliederdichters, zu finden.⁴³ Die Instrumente werden in den russischen Quellen über adligen Besitz zum Teil unbestimmt als westliche („nemeckie“) bezeichnet. Da sicherlich auch deutsche zu ihnen gehörten, mussten sie hier erwähnt werden. In einem feststehenden deutschen Zusammenhang steht die Tatsache, dass der in Moskau lebende Hamburger Kaufmann Dirk Hasenkroegh für die Theateraufführungen in der Zeit des Zaren Aleksej Michajlovič eine Orgel im hohen Wert von 1200 Rubeln lieferte.⁴⁴ Im Jahre 1680 sandte der Stol󸀠 nik Ivan Buturlin einen Bediensteten nach Narva, um für den eigenen Bedarf einen Orgelbauer nach Moskau zu holen.⁴⁵

40 Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Hamburger Kaufmann Lübberth Nuth versandte 1645 fünf Glocken nach Archangelsk. Siehe Martin Reißmann, Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht, Hamburg 1975, S. 64. Für Novgorod hat man festgestellt, dass seit dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts ziemlich viele Glocken aus Werkstätten Lübecks, Danzigs und Amsterdams in beziehungsweise bei den Kirchen aufgehängt wurden, was sich mit einem entsprechenden Bedarf und eben dem Handel erklärt. Vgl. A. B. Nikanorov, Kolokola, in: Velikij ˙ Novgorod. Istorija i kul󸀠 tura IX-XVII vekov. Enciklopedičeskij slovaŕ, Sankt-Peterburg 2009, S. 244–246, hier S. 246. 41 Arija Zeida, Einige Veränderungen in der Organisation der handwerklichen Produktion in Riga unter dem Einfluss des Außenhandels im 16. Und 17. Jahrhundert, in: Hansische Studien IV. Gewerbliche Produktion und Stadt-Land-Beziehungen, hrsg. von Konrad Fritze, Eckhard Müller-Mertens, Johannes Schildhauer, Weimar 1979, S. 82–91, hier S. 90. 42 Über Musikinstrumente im Besitz von Adligen und eigene Orchester derselben vgl. Irina F. Petrovskaja, Drugoj vzgljad na russkuju kul󸀠 turu XVII veka. Ob istrumental ’noj muzyke i o skomorochach. Istoričeskij očerk, Sankt-Peterburg 2013, S. 222–237. Von geringer Bedeutung, aber als Symptom erwähnenswert ist die von Adam Olearius berichtete Tatsache, dass sich ein Bojar, der 1631 in Sachsen gewesen war, in Russland zwei Trompeter hielt, die er an der Tafel beim Toasten „lustig auffblasen ließ“, was er „den Teutschen wol abgelernet hatte.“ Siehe Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, Schleswig 1656, S. 13. 43 Leonid Rojsman, Die Orgel in der Geschichte der russischen Musikkultur, hrsg. von Martin Balz, Mettlach 2001, S. 97, Anm. 84. 44 Vgl. N.V. Čarykov, Posol󸀠 stvo v Rim i služba v Moskve Pavla Menezija (1637–1694), Sankt-Peterburg 1906, S. 464, Anm. 1. 45 Rojsman, Orgel, S. 110.

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Auf eigenen Instrumenten spielten zweifellos in der Regel auch die deutschen Musikanten, die nach Russland kamen. Solche werden ab den 1620er Jahren am Zarenhof und im Heer erwähnt, meistens als westliche Ausländer (Nemcy), oder auch als Sachsen.⁴⁶ Namentlich bekannt sind uns Musikanten, die als Begleiter deutscher Gesandter in Russland erschienen. Der holsteinischen Gesandtschaft, die durch das Russlandbuch von Adam Olearius bekannt geworden ist, gehörten bei ihrem Durchzug durch Russland nach Persien sieben deutsche Musikanten an. Bei der Rückreise (1639) blieb davon der Trompeter Casper Hertzberg aus der Mark Brandenburg in Moskau zurück und trat in den Zarendienst.⁴⁷ Dasselbe passierte 1675, als zwei Musikanten, die mit einer Gesandtschaft Kaiser Maximilian II. nach Russland gekommen waren, in Moskau blieben und bei Aufführungen des Hoftheaters tätig wurden.⁴⁸ Der junge Hermann Dietrich Hesse, der 1673 einen brandenburg-preußischen Gesandten als Sekretär nach Moskau begleitet hatte, wurde von diesem dort zurückgelassen, damit er die russische Sprache erlernt, denn dem Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1640–1688) fehlte es für seine Kontakte mit Russland an einem Sprachkenner. Hesse konnte, wie Hörer sagten, „lieblich“ auf der Viola da Gamba spielen und wurde in dieser Eigenschaft von der Moskauer Regierung ebenfalls für das Hoftheater und zur Erfreuung ausländischer Gesandter eingesetzt.⁴⁹ Besonders beachtet wurde schon seit langem, dass im Oktober 1672 eine ganze Gruppe von deutschen Musikanten in Moskau eintraf. Dem im russischen Dienst stehenden Obersten Nikolaus von Staden, der einen Werbungsauftrag erhalten hatte, war es nämlich bei einer Reise nach Kurland und Schweden gelungen, Kräfte für die ersten Theateraufführungen am Moskauer Hof zu gewinnen. In Mitau konnte er den Kurländer Jacob Philips, den Preußen Friedrich Platenschleger, Gottfried Berge aus Danzig und den Sachsen Christoph Ackermann verpflichten, in Stockholm gelang ihm dies im Falle des „aus dem kaiserlichen Lande“ stammenden Trompeters Johann Waldonn. Die in Mitau Angeworbenen waren zuvor am Hofe des Herzogs von Kurland tätig gewesen; nach ihrem mit Staden abgeschlossenen Dienstvertrag hatten sie das Recht, in der Ausländervorstadt von Moskau zu musizieren, wenn ihnen der Dienst am Zarenhof dafür Zeit ließ.⁵⁰ Dieser Werbungserfolg war keineswegs selbstverständlich. Der im

46 Vgl. Nina M. Moleva, Muzyka i zrelišča v Rossii XVII stoletija, in: Voprosy istorii 1971, Nr. 11, S. 143– 154, hier S. 148–154; Roberto Palasios-Fernandes, Muzykanty vybornych moskovskich polkov. K voprosu o nošenii zapadnoevropejskoj odeždy v Moskovii XVII v., in: Cejchgauz 7 (1998), Nr. 1, S. 7–9. 47 Olearius, Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, S. 26. 48 Moskovskij teatr pri carjach Aleksee i Petre. Materialy . . . hrsg. von S. K. Bogojavlenskij, in: Čtenija v Imperatorskom Obščestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete 1914, kn. 2, I, S. I-XXI, 1–192, hier S. 62f. 49 Carl Valerius Wickhart, Carl Valerius, Moskowitische Reiß=Beschreibung / Oder Ausführliche Relation dessen / Was sich Mit der Röm. Kays. Majestät Leopoldi I. Abgeordneten . . . zugetragen, Wien [1677], S. 100; Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 19, Berlin 1906, S. 292f. 50 Moskovskij teatr pri carjach Aleksee i Petre, S. 1, 3–7, 17–19.

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russischen Dienst stehende schottische Major Paul Menzies blieb erfolglos, als er bei einer 1672 angetretenen Reise durch Deutschland nach Rom zwei Trompeter für die Tätigkeit in Russland gewinnen sollte.⁵¹ Die weite Entfernung nach Moskau und die Furcht, Russland nicht wieder verlassen zu dürfen, spielte bei entsprechenden Absagen eine Rolle. Auf die bekannten Aufführungen des Moskauer Hoftheaters in den Jahren 1672– 1676, bei denen es hauptsächlich um biblische Stoffe ging, die namentlich von dem deutschen Pastor Johann Gottfried Gregorii dramatisiert wurden, kann hier nicht näher eingegangen werden.⁵² Es sei aber betont, dass Musik eine wesentliche Komponente der Darbietungen bildete. Leider sind die musikalischen Teile nicht direkt überliefert, es gibt aber Hinweise in den Dramentexten und in sonstigen Quellen darauf.⁵³ Erwähnt sei, dass Einzelarien, Chorgesang und instrumentale Musik geboten wurden. Die deutsche Kirchenmusik, aber auch barocke Liebeslieder gelangten hier zur Geltung. An den Darbietungen beteiligt waren die genannten angeworbenen deutschen und weitere ausländische sowie russische Musikanten. Einige Worte müssen aber noch zu dem sogenannten Ballett gesagt werden, das mit dem Theaterprojekt verbunden war. In der Literatur ist die Auffassung verbreitet, dass in Moskau damals das Ballett Orpheus und Eurydike des deutschen Komponisten Heinrich Schütz präsentiert wurde, was sehr eindrucksvoll klingt. Von dieser Vorstellung muss man aber endgültig Abschied nehmen. In einem jüngst erschienenen Aufsatz der amerikanischen Musikhistorikerin Claudia Jensen und der deutschen Slawistin Ingrid Maier wird dies genauer begründet.⁵⁴ Die beiden Forscherinnen stützen sich dabei auf früher unbekannte Briefe aus Moskau, die im Schwedischen Reichsarchiv erhalten sind, auf westliche Zeitungsberichte und auf die Neuinterpretation eines Berichtes von Jacob Rautenfels. Der Kurländer Rautenfels (nicht: Reutenfels) war an der ersten Aufführung des „Balletts“ beteiligt und teilte darüber in einem Rußlandbuch einiges mit, was man bisher irrtümlich auf die eigentlichen Theatervorstellungen bezogen hatte. Nach dem neuen Quellenmaterial fand die erste Ballettaufführung bereits im Februar 1672 statt, während das erste Theaterstück erst im Oktober geboten wurde. Bei dem „Ballett“ wurden zwar Tanz und Musik präsentiert, gleichwohl handelte es sich 51 Čarykov, Posol󸀠 stvo v Rim, S. 28, 524. 52 Die Theateraufführungen, die nach dem Tode des Zaren Aleksej Michajlovič (30. Januar 1676) endeten, stellen einen seit langem intensiv behandelten Forschungsgegenstand dar. Eine Veröffentlichung und Kommentierung der Dramentexte bieten die Bände Pervye p ’esy russkogo teatra, red. von A. N. Robinson, Moskva 1972 und Russkaja dramaturgija poslednej četverti XVII i načala XVIII v., red. von O. A. Deržavina, Moskva 1972. 53 Beobachtungen zur Rolle der Musik bei den Theatervorstellungen bei Findejzen, Očerki, S. 316– 321; Kurt Günther, Neue deutsche Quellen zum ersten russischen Theater, in: Zeitschrift für Slawistik 8 (1963), S. 665–675, hier S. 689–672; Rojsman, Orgel, S. 100–106; Jensen, Musical Cultures, S. 163–211. 54 Claudia Jensen/Ingrid Maier, Orpheus and Pickleherring in the Kremlin: The „Ballett“ for the Tsar of February 1672, in: Scando-Slavica 59 (2013), 2, S. 145–184.

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nicht um eine Darbietung im Sinne unseres Verständnisses dieses Wortes, sondern um ein buntes Spektakel, das innerhalb einer Woche vorbereitet worden war, dargeboten hauptsächlich von jungen Männern aus der Nemeckaja Sloboda. Dabei spielte die lustige Figur des Pickelhering eine große Rolle, was die anwesende Zarenfamilie besonders amüsierte. Aber auch die Musik fand Anklang. Auffällig ist, dass der Zar vor der Vorstellung die Verwendung von Instrumenten abgelehnt hatte, obwohl solche kurz vorher, bei seiner zweiten Hochzeit (im Januar 1671), eingesetzt worden waren (mit Beteiligung eines „Nemčin“ als Orgelspieler). Vermutlich befürchtete der Zar, es könnte eine ähnliche Darbietung folgen, wie sie die von ihm bekämpften Skomorochen boten. Die am „Ballett“ Mitwirkenden konnten ihn aber umstimmen. Aleksej Michajlovič, seine junge Gemahlin und die wenigen ausgewählten Zuschauer waren dann von der dreistündigen Darbietung so begeistert, dass der Zar gleich für den nächsten Tag eine Wiederholung wünschte. An diesem Tage starb jedoch der Patriarch, und dann kam die Fastenzeit, so dass es erst im Mai eine Wiederholung des „Balletts“ gab. Die professionellen Musikanten, die ab 1672 in den russischen Dienst getreten waren, verblieben dort jeweils nur kurze Zeit. Einige Jahre lang gewährleisteten sie aber eine erhebliche Präsenz westlicher Musik am Hof, die offenbar zum Teil anspruchsvoller Art war.⁵⁵ Auch danach gab es deutsche Instrumentalisten in Russland, einigermaßen erkennbar sind aber zunächst nur solche mit einfacher musikalischer Praxis. Als illustrativ für die Zeit des Überganges zur Petrinischen Epoche erscheinen Berichte über die beiden ersten Besuche des jungen Zaren Peter bei Thomas Kniper, dem Vertreter schwedischer Interessen in Moskau. Die Besuche fanden am 3. und 21. Februar 1691 im „Schwedischen Hof“, der Residenz Knipers, statt. Der Zar wurde von einer Gruppe „Teutscher trompeter“ eskortiert, und 15 Musikanten, darunter ein Organist, spielten beim Tanz der herbeigeholten „teutschen . . . gesellen und Jungfrauen“ auf. Man tanzte „auff polnisch“, was damals auch in Deutschland verbreitet war. Bei seinem zweiten Besuch tanzte der Zar mit.⁵⁶ Die Begleitung des Zaren durch die genannten Trompeter, die bei jeder Gelegenheit einen Tusch ausbrachten, ist nicht ganz überraschend, denn

55 Zu Beginn der Herrschaftszeit des Zaren Fedor Alekseevič (1676–1682) diente von den 1672 für das Theater angeworbenen Musikanten nur noch Christoph Ackermann am Hof, der sich aber, bezeichnend für die Situation nach dem Tode von Aleksej Michajlovič, um die Entlassung in seine sächsische Heimat bemühte. Vgl. Rojsman, Orgel, S. 109. 56 Georgij V. Forsten, Snošenija Švecii i Rossii vo vtoroj polovine XVII veka, 1648–1700, in: Žurnal Ministerstva Narodnago Prosveščenija 1899, Sentjabŕ, 2. Pagination, S. 47–92, hier S. 72f. In den Anmerkungen sind dort Auszüge aus den Berichten Knipers an die Regierung in Stockholm wiedergegeben. Zu beachten ist, dass im Sprachgebrauch der in Russland lebenden oder sich dort einige Zeit lang aufhaltenden Deutschen die Ausdrücke „Teutsche“ und „teutsch“ sehr oft die Bedeutung von russisch „Nemcy“ und „nemeckij“ besaßen. Bekanntlich bezeichneten die Russen in der älteren Zeit (einschließlich des 17. Jahrhunderts) damit zumeisst noch nicht wie heute speziell die Deutschen, sondern alle Ausländer aus germanisch- oder romanischsprachigen Ländern. Auch mit den „teutschen“ Trompetern und jungen Leuten der hier zitierten Briefstellen sind keineswegs unbedingt nur Deutsche gemeint.

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„deutsche“ Hoftrompeter treffen wir bereits im Dienste des Zaren Aleksej Michajlovič an; im Mai 1661 nahmen solche am feierlichen Einzug des kaiserlichen Gesandten Augustin Meyerberg teil.⁵⁷ Die erwähnte große Kapelle dürfte hinsichtlich der ethnischen Herkunft der Musikanten gemischt gewesen sein, auch wenn der Hausherr des „Schwedischen Hofes“ ein Deutscher (aus Reval/Tallinn) war. In unser Bild sei noch eingefügt, dass der junge Zar im selben Jahr 1691 in Hamburg eine große Orgel bestellte, und zwar bei keinem geringeren als dem berühmten Orgelbauer Arp Schnitger. Im Jahr darauf traf das vielregistrige, prachtvoll gestaltete Werk in Archangelsk ein.⁵⁸ Leonid Rojsman vermutet mit gutem Grund, dass bei dieser Bestellung Einflüsse aus der Kindheit des Zaren nachwirkten; westliche Instrumente gehörten zum Umfeld Peters wie der anderen Kinder von Aleksej Michajlovič.⁵⁹ Vieles ließe sich noch über die gegenseitige Kenntnisnahme von Musik sagen, wie sie sich im deutschen Schrifttum namentlich des 17. Jahrhunderts und in russischen Quellen spiegelt.⁶⁰ In der deutschen Russlandliteratur sind nicht wenige Informationen über die Musik in Russland zu finden. Von einmaligem Wert sind zwei Kupferstiche mit präzisen Darstellungen von Skomorochen im Russlandbuch des Adam Olearius, die in der wissenschaftlichen Literatur über das Skomorochentum sehr oft reproduziert werden. Besonders eindrucksvoll sind dort ein Ein-Mann-Puppentheater und Musizierende wiedergegeben.⁶¹ Bemerkenswert ist auch ein Passus über die russischen Glocken in einem Bericht des gebürtigen Nürnbergers Hans Moritz Ayrmann. Der Autor, der als Begleiter einer schwedischen Gesandtschaft 1670 nach Moskau kam, schrieb, sich auf das bei den Russen übliche Schwingen des Klöppels mit Hilfe eines Seils beziehend: „Sie . . . haben sehr viel klein u. große Glocken, derer Sie je eine nach der andern an absonderlichen Stricken So artlich zu leiten wißen, daß es einen rechten instrumentalischen thon giebet. Absonderlich haben Sie daselbst eine in der weldt unvergleichlich große Glocke, die der zu Erffurt (welche ich auch gesehen) weit in dem umbfang überlegen ist, So Sie nur an denen hohen Festen hören laßen.“⁶² Die Erwähnungen russischer Musik in deutschen Texten zeugen aber auch vielfach von Unverständnis. Auf russischer Seite trifft man erwartungsgemäß ebenfalls auf Ablehnungen

57 Vgl. Salmen, Russische Musik und Musiker, S. 178. 58 Rojsman, Orgel, 108f. 59 Rojsman, Orgel, 108f. Vgl. auch Petrovskaja, Drugoj vzgljad, S. 213f. 60 Vgl. Salmen, Russische Musik und Musiker in Deutschland; Klaus-Peter Koch, Russische und ukrainische Musik des 17./18. Jahrhunderts in deutschen Quellen, in: Germanija, Rossija, Ukraina. Muzikal󸀠 nye svjazi. Istorija i sovremennost󸀠 . Materialy meždunarodnogo simpoziuma, SanktPeterburg, 27 sentjabrja –1 oktjabrja 1994 g/Deutschland, Rußland und Ukraine – Musikbeziehungen in Vergangenheit und Gegenwart. Internationales Symposium, St. Petersburg, 27. September bis 1. Oktober 1994, red. von V. A. Garevič, St. Petersburg 1996, S. 10–22. 61 Olearius, Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, S. 20, 193. 62 Hans Moritz Ayrmanns Reisen durch Livland und Russland in den Jahren 1666–1670, hrsg. von Kurt Schreinert (Acta et Commentationes Universitatis Tartuensis (Dorpatensis) B. Humaniora, Bd. 40, 5), Tartu 1937, S. 50.

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der deutschen Musik, daneben aber auch recht oft auf Aufgeschlossenheit und Interesse. Dass eine solche Haltung bei Russen zu finden war, bildete ganz generell eine Grundbedingung für das Zustandekommen deutsch-russischer kultureller Beziehungen. Ein Beispiel für russische Aufgeschlossenheit findet sich in einem Bericht des Diplomaten und bedeutendsten deutschen Russlandautors Sigismund von Herberstein. In seiner Autobiographie heißt es, er habe 1518 beobachtet, dass russischen Gesandten, die in Hall am Inn auf Vorschlag des Kaisers an einem Gottesdienst teilnahmen, die Musik gut gefallen hatte.⁶³ Der Zar und seine nächste Umgebung wurden über die Rolle der Musik im Westen – namentlich bei der Repräsentation an ausländischen Höfen – durch Gesandtschaftsberichte und durch Vesti-kuranty informiert.⁶⁴ Die dem Zaren und seinen Beratern vorgelesenen Vesti-kuranty bestanden aus ins Russische übersetzten Artikeln westlicher, vor allem deutscher Zeitungen. Abschließend muss jedoch festgehalten werden, dass die deutsch-russischen Musikbeziehungen der vorpetrinischen Zeit noch relativ begrenzt blieben. Gründe dafür wurden bereits oben angeführt. Mit dem grundlegenden Transfer und den anhaltenden Kontakten auf dem Gebiet des Glockenwesens gehört jedoch ein sehr massives Phänomen in unseren Zusammenhang. Und der deutsche Anteil an der Bekanntschaft der Russen mit der westlichen Musik im 17. Jahrhundert und damit an der Entwicklung eines weltlichen Musikverständnisses ist ebenfalls durchaus bemerkenswert. Das letztere Urteil ließe sich durch Vergleiche bestätigen. Zwar waren die ukrainisch-weißrussischen und die polnischen musikalischen Verbindungen für Russland damals erheblich wichtiger als die deutschen – man denke besonders an die Vermittlung der Mehrstimmigkeit (partesnoe penie) im Kirchengesang –, aber kein einziger Musikant aus Italien, Frankreich oder England ist für jene Zeit am Moskauer Hof nachweisbar. Auf jeden Fall verdienen die älteren deutsch-russischen Kontakte auf musikalischem Gebiet Beachtung, zumal es hier auch um die Vorgeschichte der höchst bedeutsamen deutsch-russischen Wechselseitigkeit in der Musik seit dem 19. Jahrhundert geht.

63 Siegmund von Herberstein, Selbst-Biographie. 1486–1553, in: Fontes rerum Austriacarum. Österreichische Geschichts-Quellen, Abteilung I: Scriptores, Bd. 1, Wien 1855, S. 69–396, hier S. 132. 64 Hinweise auf die in beiden Textsorten starke Berücksichtigung von Musik, denen auch mit dem Blick auf Deutschland nachgegangen werden sollte, bei Irina L. Buseva-Davydova, Iskussvo Evropy glazami russkich ljudej XVII v, in: Drevnjaja Rus󸀠 i Zapad. Naučnaja konferencia. Kniga rezjume, red. von V. M. Kirillin, Moskva 1996, S. 180–182, hier S. 181; Jensen, Musical Cultures, S. 85.

Ljudmila Sukina

Der Zar als Gegner der Spielleute Eine Geschichte des Kampfes mit komödiantischen Formen der Musikkultur unter Aleksej Michajlovič

Zar Aleksej Michajlovič ist bekannt für seine Reformen auf dem Gebiet des Militärs, der politischen und sozialen Ordnung des Staates, des Geldverkehrs und der Liturgie. Seine Aktivitäten zur Regulierung verschiedener Lebensbereiche des andes erstreckten sich auch auf eine scheinbar so zweitrangige Frage wie die Musik der Wanderkomödianten. Der durchaus ernstzunehmende Kampf dieses Herrschers gegen die Spielleute führte dazu, dass die Bedeutung und der Einfluss der im Grunde durch nichts eingeschränkten mittelalterlichen komödiantischen Musiktradition geschwächt wurden. Sie wurde aus dem zentralen Bereich des Zarenhofs und der Elite des russischen Staates an die Peripherie des Alltagslebens der breiten Bevölkerung verdrängt. An ihre Stelle traten neue Formen der musikalischen Kunst, die von der weltlichen Gewalt unterstützt und kontrolliert wurden. Das Vorgehen Aleksejs und die unter seiner Herrschaft verabschiedeten legislativen Akte waren die logische Fortsetzung einer Verfolgungspolitik gegen die Spielleute, deren Anfänge schon in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreichen. In den Text- und Bildquellen des 16. und 17. Jahrhunderts sind nur äußerst dürftige Informationen über Spielleute und über die mit ihnen verbundene Musikkultur enthalten. Im vorliegenden Aufsatz sind die wenigen Quellen zu dieser Thematik, die der heutigen Forschung zugänglich sind, zusammengestellt, analysiert und zusammengefasst. Sie geben Aufschluss über das Verhältnis von Obrigkeit und Spielleuten im russischen Staat des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diese Frage wurde bisher in der (geschichts)wissenschaftlichen Literatur nur unzureichend erörtert, weil sich vorwiegend Spezialisten für das Gebiet der Folklore und des russischen Theaters mit der Erforschung des Wanderkomödiantentums beschäftigt haben, keine Historiker. Zwar haben die Autoren der bedeutendsten (geschichts)wissenschaftlichen Arbeiten das Thema behandelt. Aber sie haben es im Wesentlichen im Zusammenhang mit dem Verwestlichungs- und Modernisierungsprozess der russischen Kultur, im Zusammenhang mit dem Austausch ihrer traditionellen Bestandteile durch neue Elemente unter den ersten Zaren der Romanov-Dynastie betrachtet.¹ Im Gegensatz dazu wollen wir den Kampf des Staates mit den Spielleuten im Russland des 17. Jahrhunderts

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Vgl. Aleksej A. Belkin, Russkie skomorochi, Moskva 1975; Russell Zguta, Russian Minstrels: A History of the Skomorokhi, Philadelphia 1978; Zoja I. Vlasova, Skomorochi i fol󸀠 klor, Sankt-Peterburg 2001. DOI 10.1515/9783110520224-002

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in zwei Kontexten betrachten: zum einen im Rahmen der Herausbildung der „vorgeschriebenen Orthodoxie“, zum anderen im Rahmen des immer enger werdenden Zusammenwirkens von weltlicher und kirchlicher Macht bei der Einflussnahme auf verschiedene Lebensbereiche der russischen Gesellschaft. Das Wanderkomödiantentum war ein unverzichtbarer Bestandteil der russischen Musikkultur des Mittelalters. Wie Russell Zguta in einem treffenden Vergleich festgestellt hat, erfüllten die Spielleute die Rolle von „Russian minstrels“. Ihre Kunst wurde von der russisch-orthodoxen Kirche seit alters her negativ bewertet: als Ebenbild teuflisches Blendwerks, von dem (wie hagiografische Texte bezeugten) Heilige in Versuchung geführt wurden (Dämonen verwirrten sie durch wilden Gesang und Tanz, durch musikalische Missklänge). Auf diese Form der teuflischen Sinnestäuschung haben D. I. Antonov und M. R. Majzul󸀠 s in ihrem vor kurzem erschienenen Werk aufmerksam gemacht. Sie verwiesen dabei auf eine frühe Darstellung eines Teufelskonzerts in der Radziwiłł-Chronik.² Die russische Kirchenhierarchie war schon in den ersten Jahrhunderten nach der Annahme des Christentums durch die Rus󸀠 gegen die Teilnahme von Spielleuten an religiösen und weltlichen Festen eingetreten, und seit Beginn des 16. Jahrhunderts begann sie einen intensiven Kampf gegen das Wanderkomödiantentum.³ Aber die Tatsache, dass sie Normen und Regeln für die orthodoxe Frömmigkeit aufstellte, hieß noch lange nicht, dass sie von der gesamten Bevölkerung gewissenhaft befolgt wurden. Die Tatsachen, die in den Quellen der damaligen Zeit festgehalten wurden, beweisen das Gegenteil. Sie sind ein hervorragender Beleg für den Ausspruch einer Figur aus Umberto Ecos „Foucaultschem Pendel“ über den Inhalt schriftlicher Quellen, die aus dem Mittelalter überliefert sind: „Verboten kann man entnehmen, was die Leute gewöhnlich tun.“⁴ Mitte des 16. Jahrhunderts wurde auch die Staatsmacht dazu aufgerufen, sich am Kampf gegen komödiantische Formen der Musikkultur zu beteiligen. Zur damaligen Zeit war im russischen Staat nicht nur die politische Zentralisierung erreicht worden. Auch die innerkirchlichen Diskussionen, die Auseinandersetzungen mit verschiedenen häretischen Bewegungen über Fragen des Glaubens sowie der Kampf der kirchlichen Gruppierungen um Einfluss auf die weltliche Macht waren im Wesentlichen abgeschlossen. Die „Symphonie“ der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit, die sich im Ergebnis herausgebildet hatte, verlangte von der Institution Kirche, dass sie eine neue Funktion erfüllte – die Durchführung einer landesweiten Religionspolitik, die auf die

2 Vgl. Dmitrij I. Antonov/Michail R. Majzul󸀠 s, Mečtanija i „Illusions“: D󸀠 javol󸀠 skie navaždenija meždu knižnost󸀠 ju i ikonografiej, in: Rossija XXI 4 (2012), S. 112–137; Radzivillovskaja letopis󸀠 . Faksimil󸀠 noe vosproizvedenie rukopisi. Tekst. Issledovanie. Opisanie miniatjur, Sankt-Peterburg/Moskva 1994, Kn. 1, l. 112, m. 253. 3 Vgl. ausführlicher dazu: Zoja I. Vlasova, Skomorochi i fol󸀠 klor, Sankt-Peterburg 2001, S. 11f. 4 Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien 1992, S. 53.

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Vereinheitlichung der Konfession und auf die Kontrolle der Alltagsfrömmigkeit der Bevölkerung durch die kirchliche Hierarchie gerichtet war. Die Gestaltung einer erneuerten konfessionellen Ordnung, eines neuen Glaubensund Frömmigkeitsideals ist mit den Beschlüssen der Moskauer „Hundertkapitelsynode“ (russ.: „Stoglavyj sobor“) von 1551 verbunden. Außer Antworten auf zahlreiche Fragen zur Ordnung des Kirchenlebens und zum Funktionieren der kirchlichen Institutionen musste das Konzil auch die Normen für das Verhalten eines frommen orthodoxen Christen im weltlichen Leben festlegen und Regeln für sein Verhältnis zur Kirche aufstellen. Im Stoglav (deutsch: „Hundertkapitelsammlung“) – dem Sammelband mit den Beschlüssen der Hundertkapitelsynode aus dem Jahr 1551 – wird im Rahmen der Einführung einer „vorgeschriebenen Frömmigkeit“ auch dem Wanderkomödiantentum Aufmerksamkeit geschenkt. Das Werk enthielt ein ausdrückliches Verbot, Hochzeitsprozessionen zur kirchlichen Eheschließung vom Spiel und Gesang von Wanderkomödianten begleiten zu lassen. Diese Zeremonie sollte ausschließlich den religiösen Charakter der Vereinigung von zwei christlichen Seelen in Liebe und Treue haben. Deshalb waren bei der Eheschließung keinerlei komödiantischen Elemente des Volksfestes erlaubt. Dazu gehörten Lieder, Tänze und Witze mit explizit sexuellem Inhalt.⁵ Damals feierten die Laien in der Rus󸀠 nicht nur Hochzeiten, Geburten und Taufen von Kindern mit Spielleuten und Narren, sondern sogar große Kirchenfeste – auch solche, die von ihrer Bedeutung her keineswegs fröhlich waren. Dies war so üblich und weit verbreitet, dass die Kirchenoberen sich auf der Hundertkapitelsynode 1551 nicht einmal die Mühe machten, theologisch zu begründen, warum ein orthodoxer Christ keine „häretischen Schmähungen“ in Form heidnischer Handlungen zulassen dürfe, wozu auch das Musizieren gehörte. Sie verdammten einfach das Spiel von Wanderkomödianten beim Totengedenken am Pfingstsamstag, am Johannistag, an Weihnachten und am Dreikönigsfest. Aus kirchlicher Sicht verkörperten die Spielleute eine der „heidnischen Versuchungen“. Sie lenkten die Aufmerksamkeit der Laien von ihren spirituellen Pflichten ab, und die Priester in den Kirchengemeinden taten sich schwer, mit ihnen um die Gefühlswelt der einfachen Leute zu konkurrieren. Im Stoglav bittet die Kirche erstmals die weltliche Macht im Kampf mit den wandernden Komödianten um Hilfe. Aber der Umstand, dass die Spielleute die fromme Gesinnung des Kirchenvolks störten, war kein ausreichendes Argument, um ihre Verfolgung durch den Staat zu fordern. Deshalb bestimmte die Hundertkapitelsynode, dass es dem rechtgläubigen Zaren überlassen sei, nach eigenem Ermessen mit den Wanderkomödianten zu verfahren, weil diese angeblich zu zahlreich geworden waren und sie ganz unmittelbar der Landwirt-

5 Stoglav, Sankt-Peterburg 1863, S. 187. Vgl. für die deutsche Übersetzung: Hundertkapitelsammlung = Stoglaw, aus dem Altruss. übertragen, mit einem Nachwort sowie Erklärungen und einem Index versehen von Klaus Müller, Berlin 2000, hier S. 78f.

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schaft und dem Handel schadeten: „Gaukler pflegen in allerlei bunter Gesellschaft zu 60 und 70 und auch zu 100 Menschen durch ferne Länder zu streifen. Und in den Dörfern essen und trinken sie nach Kräften bei Christenmenschen, zudem stehlen sie aus der Vorratskammer Lebensmittel. Unterwegs rauben sie Leute aus.“⁶ Im „Domostroj“ (deutsch wörtlich: „Hausordnung“), den der Beichtvater des Zaren, der Priester der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml󸀠 , Sil󸀠 vestr, zur gleichen Zeit herausgab, wurden denjenigen, die christliche Feiertage gerne mit Wanderkomödianten, mit ihren Tänzen, Liedern und ihrer Instrumentalmusik begingen, für die Zeit nach ihrem Tod Höllenqualen und zu Lebzeiten die Verdammung durch die Kirche angedroht.⁷ Die Verurteilung des Wanderkomödiantentums und anderer ernster Verfehlungen gegen die orthodoxe Frömmigkeit, die dem Teufel gefällig seien, findet sich im Abschnitt „Ungerechter Lebenswandel“.⁸ Im „Schreiben“ des Zaren, das im vierten Kapitel des Stoglav enthalten ist, wird der Zusammenhang betont, der zwischen dem Machtantritt Ivans IV. und den Maßnahmen von Staat und Kirchenleitung zur Stärkung und Erneuerung der russischorthodoxen Kirche bestehe.⁹ Als er den Grund für die Einberufung eines neuen Konzils „im 21. Jahr seit seiner Geburt und im 18. Jahr seiner Herrschaft“ erklärt, wendet sich Ivan an die Teilnehmer des Konzils und äußert den Wunsch, den Segen der Kirche für das erneuerte Gesetzbuch des Jahres 1550 sowie für die Regulierungsurkunden zu erhalten und sich mit ihnen darüber zu beraten, wie die Sitten des kirchlichen und des weltlichen Lebens verbessert werden könnten. Diese seien „in den vergangenen Jahren verwahrlost[en . . . ], seit dem Tode meines Vater Wassili Iwanowitsch, oder sie wurden willkürlich und eigensinnig gehandhabt, die überlieferten Rechte wurden verletzt, das Pflichtgefühl schwand, den Geboten Gottes begegnete man mit Gottlosigkeit – und so geschah es [. . . ]“.¹⁰ Die Staatsmacht in Person des jungen Zaren fordert von den Kirchenoberen, dass sie gemeinsam mit dem Herrscher und seinen Bojaren „im Namen Gottes [. . . ] Ungerechtes als gute Taten [. . . ] gestalten“.¹¹ Indem er den Ursprung seiner Herrschaft auf göttliche Protektion zurückführt, hält sich Ivan IV. für berechtigt, nicht nur auf die weltlichen, sondern auch auf die kirchlichen „Verirrungen“ aufmerksam zu machen und die „Willkür“ seiner Untertanen in ihrem Verhältnis zum Glauben zu unterbinden, sofern sie zum „Verstoß“ gegen die göttlichen Gebote oder zu deren „Missachtung“ führt. Dabei sollten ihn die Kirchenoberen unterstützen, die Archimandriten der bedeutendsten Klöster, die Oberpriester, die obersten Geistlichen

6 Stoglav, in: Rossijskoe zakonodatel󸀠 stvo X-XX vekov, Moskva 1985, Bd. 2, S. 308. Hundertkapitelsammlung, S. 80. 7 Domostroj, Moskva 1990, S. 57. Vgl. für eine deutsche Übersetzung: Domostroj. Deutscher Text und Kommentar von Gerhard Birkfellner, 2 Bde., Osnabrück 1998. 8 Domostroj. Deutscher Text, Bd. 1, S. 261 (Inhaltsverzeichnis). Details s. Kapitel 23, S. 296. 9 Stoglav, Bd. 2, S. 266. Hundertkapitelsammlung, S. 15f. 10 Stoglav, Bd.2, S. 267. Hundertkapitelsammlung, S. 16. 11 Stoglav, Bd.2, Hundertkapitelsammlung, S. 16.

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und Diakone. Sie wurden dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass die Beschlüsse des Konzils eingehalten wurden und insgesamt zu beobachten, wie es um den Glauben des ihnen anvertrauten Kirchenvolks stand. Allerdings kamen viele dieser Anordnungen nicht über den Charakter von Deklarationen hinaus. Dies betraf nicht zuletzt den Kampf mit dem „gotteslästerlichen“ Muszieren und dem ausgelassenen Treiben der Spielleute. Die Hundertkapitelsynode gab der Kirchenobrigkeit zwar freie Hand. Sie war jetzt berechtigt, strenge Maßnahmen gegen Straßenmusiker und Schauspieler zu ergreifen – nicht nur auf dem Territorium, das von der Kirche kontrolliert wurde. Aber die von Forschern wiederholt zitierte, bekannte „Verurteilungsurkunde“ des Dreifaltigkeitsklosters von Sergiev Posad aus dem Jahr von 1555, in der von Unversöhnlichkeit und sogar Grausamkeit der Mönche gegenüber den Wanderkomödianten die Rede ist, betrifft nur den Bezirk Piseck, der dem Kloster gehörte: „Der Vorsteher (russ.: sotskij), in dessen Bezirk man einen Spielmann oder einen Zauberer oder eine Wahrsagerin festnimmt, [. . . ] der soll verprügelt und seines Eigentums beraubt und aus dem Amtsbezirk vertrieben werden; wandernde Komödianten dürfen nicht in den Amtsbezirk hineingelassen werden“.¹² Diese Praxis fand offenbar keine Verbreitung auf das gesamte Staatsgebiet, weil die weltliche Obrigkeit keinerlei ersthafte Schritte in diese Richtung unternahm. Trotz ihrer Verurteilung durch die Kirche waren in der Mitte und in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts komödiantische Formen des Musikschaffens nach wie vor üblich – nicht nur auf Jahrmärkten und Volksfesten, sondern auch am Zarenhof. Die zweite Novgoroder Chronik vermerkt 1571, dass man zu dieser Zeit in Novgorod und in allen Städten und Amtsbezirken der Umgebung zur Unterhaltung des Zaren „fröhliche Leute“ versammelte, die ein Beamter dann auf einem Fuhrwerk nach Moskau brachte.¹³ Ivan Groznyj selbst war das Possenreißen nicht fremd. Fürst Andrej Kurbskij erinnerte sich an die folgende Episode, die sich auf einem Fest bei Hofe abspielte: „Nachdem sich der Zar einen Rausch angetrunken hatte, fing er an, mit den maskierten Wanderkomödianten zu tanzen und die Anwesenden, die mit ihn feierten, auch“.¹⁴ 1573 nötigte der Monarch die Gäste und die dem Mönchsstand angehörenden Chorsänger, auf der Hochzeit seiner Großnichte Marija Vladimirovna Starickaja und des litauischen Königs Magnus zum rhythmischen Gesang des Psalms des heiligen Afanasij zu tanzen. Dieser wurde in der Rus󸀠 als Stütze des orthodoxen Glaubens verehrt.¹⁵ Ein anderes Mal machte Ivan an seinem Tisch Bojaren und Adlige aus seiner nächs-

12 Zitiert nach: Vlasova, Skomorochi, S. 13. 13 Aleksandr S. Famicin, Skomorochi, in: Russkij obraz žizni, Moskva 2007, S. 768. 14 Zitiert nach: Famicin, Skomorochi, S. 770. Für eine deutsche Übersetzung des Briefwechsels zwischen Fürst Andrej Kurbskij und Ivan IV. vgl.: K. Stählin (Hrsg./Übers.), Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij (1564–1579), Leipzig 1921. 15 Aleksandr S. Čumikov, Osada Revelja (1570–1571) gercogom Magnusom, in: Čtenija v Imperatorskom obščestve istorii i drevnostej rossijskich, Moskva 1891, Kn. 2, Otd. IV, S. 32.

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ten Umgebung völlig betrunken und provozierte sie dann zu obszönen Aussprüchen und Liedern. Als seine Vertrauten am nächsten Tag wieder nüchtern geworden waren, beschimpfte er sie wegen dieser Worte und machte ihnen Vorwürfe.¹⁶ Allerdings hatte sich Groznyj dies nicht alles selbst ausgedacht. Möglicherweise imitierte er den byzantinischen Kaiser Michael III., der im 11. Jahrhundert regierte. Dieser holte nicht nur „Satyren und schamlose Leute“ von der Straße an seinem Hof, sondern sang mit ihnen am Festtisch zur Zither Kirchenlieder und parodierte Kirchenprozessionen.¹⁷ Der eigentliche Kampf der weltlichen Macht mit dem Wanderkomödiantentum begann erst unter den ersten Zaren der Romanov-Dynastie, und besonders tat sich dabei der Monarch Aleksej Michajlovič hervor. Bis zu seinem Herrschaftsantritt hatten die Bemühungen der Kirche, das Spiel der Wanderkomödianten zu verbieten oder zumindest die Orte zu beschränken, an denen es stattfinden durfte, keinen besonderen Erfolg. Fast ein Jahrhundert, nachdem Aufführungen von Spielleuten mit Musik, dressierten Tieren, (Bären, Hunden, Ziegen), Tanz, Grimassenschneiden, Zauberkunststücken und Puppentheater verurteilt worden waren, fanden diese nach wie vor nicht wenige Zuschauer – an Sonn- und Festtagen sowie in Stadt und Land, und zwar unmittelbar nach dem Festgottesdienst in den Kirchen, nicht selten sogar während des Gottesdienstes. Immer noch luden Vertreter unterschiedlicher Bevölkerungsschichten des russischen Staates Spielleute auf ihre häuslichen Feste ein. Der holsteinische Gesandte in Russland Adam Olearius erwähnt in seiner „Außführliche(n) Beschreibung Der [. . . ] Reyse Nach Moscow [. . . ]“, dass er am 23. Juli 1634 in Ladoga Spielleuten begegnete: „Allhier hörten wir die erste russische Musik [. . . ], da wir über der Tafel sassen / zweene Russen mit einer Lauten und Geigen / den Herren [Gesandten, L.S.] auffzuwarten kamen / spielten und sungen von dem grossen Herrn und Zaar Michael Foedorowitz / und als sie vermerckten / dass sie wohl gelitten waren / machten sie dabei allerlei Kurtzweil mit Tantzen / zeigten darinnen allerlei Arten / welche so wol bei Weibes als auch Mannes Personen im Gebrauch“.¹⁸ Die Spielleute hatte der Sonderbeauftragte des Auswärtigen Amtes rufen lassen, der die Gesandten empfing. Er vertrat offiziell den russischen Staat und wollte die Ausländer mit dessen besten Traditionen und Sitten bekannt machen. Es ist bemerkenswert, dass die Spielleute ein

16 Polnoe sobranie russkich letopisej, St. Peterburg 1978, Bd. 34, S. 194. Siehe dazu auch: Ruslan G. Skrynnikov, Carstvo terrora, Sankt-Peterburg 1992, S. 502. 17 Fedor I. Uspenskij, Istorija Vizantijskoj imperii, Moskva 2011, S. 232. 18 Rossija XVII veka. Vospominanija inostrancev, Smolensk 2003, S. 272. Zitat nach dem deutschen Original: [Olearius, Adam], Adam Olearii Außführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien: So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft von Gottorff auß an Michael Fedorowitz den grossen Zaar in Muscow / und Schach Sefi König in Persien geschehen. . . / Adam Olearius. – Jetzo zum dritten und letzten mahl correct heraus gegeben. [Online-Ausg.]. – Schleßwig 1663, S. 19; Permalink: http://diglib.hab.de/drucke/xb-4f-140/start.htm, zuletzt angesehen am 22. 3. 2016.

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Lied über den Zaren Michail Fedorovič aufführten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Musikstück auch im Zarenpalast erklang und dann auf Bitten der Sonderbeauftragten, die in Ladoga und Narva häufig Gesandte empfingen, in das „Programm“ eines Auftritts von Spielleuten aufgenommen wurde. Die Musik der Spielleute entsprach auch der gesamten „ästhetischen“ Struktur des üppigen russischen Festmahls der damaligen Zeit. Adam Olearius erzählt, dass die Gespräche der Gastgeber und der Gäste auf Gelagen bei den vornehmsten Bojaren „dahin gerichtet“ seien „worzu sie ihre Natur und gemeine Lebensart veranlasset. Nemblich von Ueppigkeiten/schendlichen Lastern/Geilheiten und Unzucht / so theils von ihnen selbst/theils von andern begangen. Erzehlen allerhand schandbare Fabeln/ und wer die groebesten Zotten und Schandpossen darbey zureissen / und sich mit leichtfertigen Gebaerden heraus zu lassen weiß / der ist der beste und angenehmste; Dahin zielen auch ihre Däntze / welche sie zum theil mit ueppigen Bewegungen der Glieder verrichten. Es sollen bißweilen die herumb schweiffende Comedienspieler im dantzen gar den Hintersten / und weis nicht was mehr / entbloessen (. . . ).“¹⁹ Für manche reichen und vornehmen Leute waren die wandernden Komödianten (Musiker, Tänzer, Narren) Teil ihres alltäglichen Lebens. In der Bittschrift von Bauern aus dem Dorf Širinga im Kreis Jaroslavl󸀠 an den Zaren Aleksej Michajlovič aus dem Jahr 1625 heißt es, dass ihr Besitzer, Fürst Artemij Šejdjakov, neben anderem Unwesen, das er trieb, „zu seiner Unterhaltung ständig Komödianten bei sich hatte“.²⁰ Trinkgelage mit Spielleuten, die den heidnischen Totenfeiern entsprachen, wurden nach wie vor auch auf Friedhöfen abgehalten. Noch im Stoglav hieß es: „Am Pfingstsamstag kommen in den Dörfern wie Dorfgemeinden Männer und Frauen auf den Kirchhöfen zusammen und weinen mit großem Geheule an den Gräbern ihrer Verstorbenen. Und wenn die Skomorochen [= Spielleute, Anm. d. Übers.] ihre teuflischen Spiele zu treiben beginnen, hören jene auf zu weinen, beginnen ebenfalls zu springen und zu tanzen, klatschen in die Hände und heben teuflische Lieder an.“²¹ Ein besonderer Erlass (russ.: Ukaz) des Zaren Michail Fedorovič aus dem Jahr 1627 verbot es den Moskauern, sich mit Alkohol und mit Spielleuten „zum eitlen Treiben“ hinter dem alten Vagan󸀠 kovsker Friedhof zu treffen. Diejenigen, die gegen das Verbot verstießen, sollten festgenommen und auf Marktplätzen mit der Knute geschlagen werden.²² Die Anordnung des Zaren bezog sich auf die Hauptstadt, Patriarch Filaret hingegen verbot in seinem Erlass aus dem gleichen Jahr das Spiel von Wanderkomödianten und das Singen an Feiertagen prinzipiell in allen russischen Dörfern und Städten.²³ Aber die Schreiben der Zaren und Patriarchen aus der Folgezeit zeugen davon,

19 Rossija XVII veka, S. 359. Adam Olearii Außführliche Beschreibung, S. 192f. 20 Famicin, Skomorochi, S. 768. 21 Stoglav, in: Rossijskoe zakonodatel󸀠 stvo X-XX vekov, Bd. 2, Moskva 1986, S. 309. Hundertkapitelsammlung, S. 82. 22 Zakonodatel󸀠 nye akty russkogo gosudarstva. Teksty, Leningrad 1986, S. 129, Nr. 155. 23 Zakonodatel󸀠 nye akty russkogo gosudarstva, S. 137, Nr. 164.

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dass die Menschen trotz dieser Verbote überall weiter die kirchlichen Feiertage „mit Kneipentrank und mit Spielleuten“ begingen, unter anderem auch vor den Mauern hoch angesehener Klöster.²⁴ Die größten Schwierigkeiten machte der Kampf gegen die tief verwurzelte Tradition, dass wandernde Komödianten während der Hochzeitszeremonie aufspielten. Zwar gelang es offenbar, die oben erwähnte Sitte zu überwinden, dass die jungen Leute von ihren Gästen mit Wanderkomödianten zur kirchlichen Trauung begleitet wurden. Aber es gelang nicht, die Scharen von Spielleuten von den Hochzeitsfesten fernzuhalten. Adam Olearius, der sich in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts in Russland aufhielt, vermerkte Folgendes, als er das Fest nach der offiziellen Eheschließung in einem edlen und reichen Haus beschrieb: „Die folgenden zweene Tage werden mit grossem ueberfluessigem essen/trincken / tantzen und allerhand Lust / die sie nur erdencken können / zugebracht. Worbey sie allerhand Music gebrauchen / und unter andern ein Instrument / so sie Psaltir nennen / ist fast wie ein Hackebret / habens auff dem Schoß liegen und greiffens mit Fingern als eine Harffe (. . . ).“²⁵ Die Spielleute nahmen auch an traditionellen Hochzeitsritualen teil, etwa an der Begleitung der jungen Leute ins Schlafgemach und an der Waschung des Bräutigams und der Braut in der Banja. Sie spielten auf Guslis, Trompeten, Pauken, Trommeln und Leiern, sie tanzten und sangen Lieder mit Inhalten, die alles andere als sittsam waren. In dieser Hinsicht unterschied sich eine Zarenhochzeit kaum von einem Hochzeitsfest in den reichsten russischen Bojaren-, Adels- und Kaufmannshäusern. Der Verstoß gegen die Regeln der Frömmigkeit und derbe Vergnügungen galten genauso wenig als etwas Anstößiges wie zu Zeiten Ivan Groznyjs. Stefan Vonifat󸀠 ev, der Beichtvater des Zaren Aleksej Michajlovič und einer der bedeutendsten „Eiferer für althergebrachte Frömmigkeit“, die bestrebt waren, im russischen Staat die strenge Beachtung der Regeln für ein christliches Leben in der Kirche und im weltlichen Leben durchzusetzen, musste nicht unerhebliche Anstrengungen und rhetorisches Talent aufwenden, um im Umfeld des jungen Monarchen den orthodoxen Sitten zu stärkerer Geltung zu verhelfen. Während der Hochzeit Aleksejs mit Marija Il󸀠 inična Miloslavskaja im Januar 1648 konnte Stefan erreichen, dass die Hochzeitszeremonie in der Zarenfamilie so durchgeführt wurde, wie dies dem Geist der Orthodoxie entsprach. Der Zar war seinen Untertanen ein gutes Vorbild, verzichtete auf das Spiel von Wanderkomödianten und auf weltliche Vergnügungen mit Musik und „schändlichen“ Liedern. Stattdessen sangen auf der Hochzeitsfeier die Sänger des zarischen Kirchenchors, wobei sich die

24 Vgl. zum Beispiel das Schreiben des Zaren aus dem Jahr 1629 an das Jaroslavler Kloster Tolgsk (Carskie gramoty, žalovannye jaroslavskomu Tolgskomu monastyrju, in: Jaroslavskie eparchial󸀠 nye vedomosti, Čast󸀠 neoficial󸀠 naja 13 (1897), S. 200–202. 25 Zit. n. Rossija XVII veka, S. 379. Deutsche Originalfassung: [Olearius]. Außführliche Beschreibung. . . , S. 215.

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Stanizas (Fünfergruppen von Sängern) abwechselten, und die Zeremonie endete „in Stille und göttlicher Inbrunst und mit geistlichen Liedern und Gesängen“.²⁶ Adam Olearius gibt für diese betonte Frömmigkeit des Monarchen allerdings eine andere Erklärung. Oft verschafften sich mit den Scharen der Spielleute Zauberer und Zauberinnen, die von offenen und verborgenen Feinden der Jungvermählten oder von ihren nächsten Verwandten angeheuert worden waren, mit Masken und Kostümen getarnt Zutritt zu den Hochzeitsfesten. Wie Olearius behauptete, wurde die Zarenhochzeit aus diesem Grund „und zwar ohne sonderlich Gepränge in der stille“ gefeiert „damit wieder Braut und Braeutigam keine Zauberey / wie sonst ueblich / und man sich darfuer sehr zu fuerchten pflegt / veruebet werden moechte“,²⁷ denn es ging um die Notwendigkeit, die Zarendynastie zu bewahren und fortzusetzen. Der 22-jährige Zar, der unter dem starken religiösen Einfluss eines Beichtvaters stand, gab in demselben Jahr einen Erlass heraus, in dem das Spiel von Wanderkomödianten sowie heidnische Rituale und jeglicher Aberglaube verboten wurden. In diesem Dekret wurden die orthodoxen Gläubigen dazu verpflichtet, an Sonn- und Feiertagen die Kirche zu besuchen und „teuflische Spiele“ zu meiden. Diejenigen, die gegen den Erlass verstießen, sollten die ersten beiden Male auf Anordnung der lokalen Obrigkeit mit Stöcken geschlagen werden. Diejenigen hingegen, die auch danach bei der Zauberei, bei unanständigen Spielen und Festen der Spielleute ertappt wurden, sollten zu einer strengeren Bestrafung zu den Statthaltern geschickt werden; „und diejenigen Leute, die davon nicht lassen und ein drittes und viertes Mal dabei gesehen werden, die sollen in Städte im Grenzgebiet verbannt werden“.²⁸ Aber der Beschluss des Zaren stieß bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung auf Widerstand. Zu einer Zeit, als das Protestpotenzial unter den Stadtbewohnern zunahm, was sich in Form von Aufständen und Revolten äußerte, musste die Zarenmacht in diesem Bereich den Kompromiss suchen. Dies lässt sich an der Urkunde für die Einwohner Belgorods erkennen, die ebenfalls auf das Jahr 1648 datiert ist. Darin wendet sich der Zar an die Belgoroder, die nicht zum Gottesdienst gehen, sondern sich bei Aufführungen der Wanderkomödianten mit dressierten Bären und Hunden, beim Spiel auf Musikinstrumenten, bei Tänzen mit Masken und Faustkämpfen vergnügen, und er mäßigt seine Ansprüche im Hinblick auf die erlassenen Verbote. Weil er befürchtet, dass der radikale Appell, sich an Sonn- und Feiertagen in Frömmigkeit zu üben, wirkungslos verpufft, schlägt er den Belgorodern „aller Stände“ vor, nicht völlig auf das Feiern mit den Spielleuten zu verzichten, sondern die Feste auf die zweite Tageshälfte zu verschieben, nachdem der Gottesdienst beendet ist.²⁹

26 Ivan E. Zabelin, Domašnyj byt russkich caric v XVI i XVII stoletijach, Moskva 1869, S. 442. 27 Rossija XVII veka, S. 379. Deutsche Originalfassung: Adam Olearii Außführliche Beschreibung. . . , S. 252. 28 Akty istoričeskie, sobrannye i izdannye archeografičeskoj komissiej, Bd. 4, Sankt-Petersburg 1842, S. 124–126, Nr. 35. ˙ 29 Michail G. Rabinovič, Očerki etnografii russkogo feodal󸀠 nogo goroda, Moskva 1978, S. 150.

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Das strenge Vorgehen von Zar Aleksej Michajlovič gegen die Spielleute wird in der Regel mit dem Einfluss des Patriarchen Nikon und der religiösen Reformen erklärt, die dieser gemeinsam mit der Zarenmacht durchgeführt hat. Dabei entwickelte sich die Politik, die Frömmigkeit im Alltagsleben der Gesellschaft zu stärken, schon lange vor der kurzen Amtszeit dieses Patriarchen (1652–1658). Das Handeln des jungen Zaren ging seit den ersten Tagen nach seiner Thronbesteigung in dieselbe Richtung wie schon unter seinem Vater Michail Fedorovič und unter seinem Großvater, Patriarch Filaret. Am Anfang seiner Regierungszeit stützte er sich nicht nur auf die Meinung des allmählich immer mächtiger werdenden Nikon, sondern auch auf die Vorstellungen des einflussreichen Kreises „der Eiferer für die althergebrachte Frömmigkeit“, dem die profiliertesten Vertreter der russischen Geistlichkeit angehörten. Sie waren der Ansicht, dass im größten orthodoxen Staat, zu dem Russland inzwischen geworden war, Ordnung geschaffen werden müsse, um dessen politische und moralische Autorität zu stärken. Anders als seine Vorgänger regierte Aleksej Michajlovič zu einer Zeit, als die neue Dynastie der Romanovs ihre Macht bereits konsolidiert hatte. Daher konnte er sich im Vergleich zu früheren Herrschern aus diesem Hause größere Entschlossenheit, Härte und Konsequenz bei der Durchführung des komplizierten und widersprüchlichen Kurses erlauben, der auf soziokulturelle Transformationen im russischen Leben abzielte. Dieser Kurs, der die Stärkung und Reinigung der orthodoxen religiösen Tradition mit einer behutsamen, allmählichen Modernisierung der Kultur verband, orientierte sich am westeuropäischen Modell. Zar Aleksej Michajlovič war bestrebt, die Unterwerfung der Geistlichkeit und der Laien unter die Normen der orthodoxen Frömmigkeit zu erreichen – ein Vorhaben, mit dem seine Vorgänger keinen großen Erfolg gehabt hatten. Die von Patriarch Ioasaf I. zusammengestellte „Erinnerung an den Tiun [Statthalter, Anm. d. Übers.] Manojlov“ aus dem Jahr 1636 stellt fest, dass sich auch viele Jahre nach der Hundertkapitelsynode sogar in den Moskauer Kirchen nicht einmal die Priester die Konzilsbeschlüsse befolgten und dass sie die Laien ebenso wenig dazu anhielten. Die nachlässigen Seelsorger, die den Gottesdienst achtlos feierten und heimlich „trinkfreudige Sitten“ und „Faulheit“ an den Tag legten, konnten keinen guten Einfluss auf das Kirchenvolk haben. In Anwesenheit solcher Geistlicher „redeten“ die Laien „furchtlos und mit größter Geringschätzung während des heiligen Gesangs lachend über ungehörige Dinge“, die Kinder von Popen und Laien spielten während des Gottesdienstes auf dem Altar, „Räuber“ zettelten in den Kirchen Schlägereien „und einen großen Aufstand und Aufruhr“ an, indem sie die Betenden mit Schimpfworten beleidigten. Unbekannte sammelten von den Anwesenden Geld ein, angeblich für den Bau von Kirchen, echte und falsche Narren in Christo (russ.: jurodivye) und Bettler „krochen in den Kirchen herum, schrien und führten die einfachen Leute in große Versuchung“.³⁰

˙ 30 Akty, sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj imperii Archeografičeskoj ekspediciej Imperatorskoj Akademii nauk, Bd. 3, Sankt-Peterburg 1836, S. 401f., Nr. 264.

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Aber schon zu Beginn der Herrschaft von Aleksej Michajlovič, im Jahr 1646, lässt Patriarch Iosif in den Moskauer Kirchen einen Erlass verbreiten, in dem er den Befehl des Zaren an alle Geistlichen und Laien übermittelt, während des bevorstehenden Großen Fastens alle für diese Zeit geltenden Frömmigkeitsregeln einzuhalten und „in Reinheit, in völliger Enthaltsamkeit zu leben, und sich von der Trunksucht und von Unwahrheiten und von jeglicher Sünde fernzuhalten“. Während der Fastenzeit sollten sie „furchtsam und zitternd, mit Hingabe und schweigend, ohne jegliches Flüstern“ in den Kirchen stehen und dabei an nichts Irdisches denken, sondern „unter Tränen und mit Seufzen, mit einem demütigen und betrübten Herzen, ohne Bosheit und ohne Zorn“ beten. Diejenigen, die gegen den Erlass verstießen und weiterhin in der Kirche ihr Unwesen trieben, mussten die Priester dem Patriarchen persönlich melden.³¹ 1647 wurde an alle Eparchien und Klöster ein Beschluss des Monarchen, des Patriarchen und des Konzils der heiligen Hierarchen verschickt, der jegliche Arbeit und jeglichen Handel zwischen dem Beginn der Samstagsvesper und dem Ende des sonntäglichen Abendgottesdienstes verbot. Dieselbe Regel fand auch auf alle Festtage des christologischen Zyklus Anwendung.³² Der oben erwähnte Erlass des Zaren aus dem Jahr 1648, der Spiele von Wanderkomödianten, heidnische Rituale und Aberglauben verbot, muss folglich im Kontext dieser Handlungen der Staatsmacht betrachtet werden. Dies war der nächste entschlossene Schritt, das soziale Leben der Gesellschaft auf der Grundlage der Normen und Regeln zu ordnen, die für das fromme Verhalten eines orthodoxen Christen galten. All diese Dokumente fanden ihren Niederschlag im Text des Gesetzbuchs des Zaren Aleksej Michajlovič, das im September 1649 von der Ständeversammlung verabschiedet wurde. In den neun Artikeln des ersten Kapitels des Gesetzbuchs, das den Titel „Von Gotteslästerern und von kirchlichen Aufrührern“ trägt, werden faktisch die grundlegenden Anordnungen des Zaren und des Patriarchen aus den vorangegangenen drei Jahren wiederholt. Bemerkenswert ist, dass – anders als in den Artikeln des Stoglav, die praktisch keine drohenden Formulierungen enthalten – diesmal die Durchsetzung von Frömmigkeit mit strengen und sogar grausamen Maßnahmen betrieben wird. In den 1650er Jahren, unter dem Patriarchen Nikon, wurden die Beschlüsse der Staatsmacht zur Frömmigkeit von den höchsten Kirchenkreisen entschlossen unterstützt. 1650 wurde in Moskau das „Steuermannsbuch“ (russ.: „Kormčaja kniga“) ediert, das Nikon 1652–1653 vervollständigte und redigierte. In dieses Buch gingen einige religiöse Vorschriften ein, die das Verhältnis von Kirche und Kirchenvolk regelten und die am Vorrang des Kirchenrechts vor dem weltlichen Recht festhielten, sofern es um Glaubensfragen ging. Danach erschienen 1655 in Moskau die erneuerte „Agende“ (russ.: „Služebnik) und 1656 in Moskau die „Tafel“ (russ.: „Skrižal󸀠 “).

31 Akty, sobrannye, Bd. 4, S. 481f., Nr. 321. 32 Akty istoričeskie, Bd. 4, S. 28, Nr. 6: VI.

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Selbstverständlich waren diese Publikationen in erster Linie für Geistliche gedacht, aber durch ihre Vermittlung sowie durch die Neuordnung der Liturgie und der Normen der Alltagsfrömmigkeit sollten sie auch unter den einfachen Laien Verbreitung finden. Zar Aleksej Michajlovič schenkte diesen Fragen ebenfalls Beachtung. An seinem Hof wurden die Regeln der Frömmigkeit streng eingehalten. Auf Gastmähler und Feste bei Hof wurden Wanderkomödianten nicht mehr eingeladen. Ihren Platz nahmen voll und ganz die Chorsänger des Zaren ein, deren Musikrepertoire vorwiegend aus religiösen Liedern und aus Lobpreisungen des Herrschers bestand. Eine europäische Neuerung – das Theater – wurde zu derjenigen Vergnügung, die zum Vorteil des Monarchen und seiner Umgebung an die Stelle der „schamlosen“ Spiele der Wanderkomödianten trat, die aus den Zarenresidenzen verbannt worden waren. Die Bevölkerung der großen und kleinen Städte Russlands hingegen bevorzugte weiterhin die Musik und die Vorstellungen der wandernden Komödianten. Deshalb büßte der Kampf, den der Zar gegen die Spielleute führte, auch zehn Jahre nach seiner Inthronisierung nichts an Schärfe ein. 1655 schickte Aleksej Michajlovič dem Archimandriten des Klosters Gorick in Pereslavl󸀠 , Germogen, einen Erlass, der gegen die Wahrsager, Zauberer und Spielleute gerichtet war, die häufig die Stadt Pereslavl󸀠 -Zalesskij besuchten und die deren Einwohner mit ihren „teuflischen“ Handlungen „verführten“. Dass sich der Zar so um die Frömmigkeit der Einwohner von Pereslavl󸀠 kümmerte, erklärt sich daraus, dass Pereslavl󸀠 nicht nur zu den dreißig wichtigsten Handels- und Handwerksstädten des russischen Staates gehörte, sondern dass der Ort auch auf dem Pilgerweg des Monarchen zu den Heiligtümern des russischen Nordens lag. Seine Klöster waren eine Stütze der Obrigkeit in ihren religiösen Reformen. Im Erlass des Zaren wurden die Auftritte der Wanderkomödianten verboten, die in der Stadt anlässlich aller wichtigen Kirchenfeste und Hochzeiten stattfanden. Anders als im Fall der Einwohner von Belgorod dachte der Herrscher, dessen Macht sich inzwischen erheblich gefestigt hatte, nicht daran, Kompromissvarianten für die Lösung des Problems in Erwägung zu ziehen. Im Gegenteil: Er beschränkte sich nicht auf ein einfaches Verbot, sondern befahl dem Archimandriten, alle in Pereslavl󸀠 befindlichen Musikinstrumente einzusammeln und zu vernichten, damit die Leute nicht mehr in Versuchung kämen, Komödiantenspiele zu veranstalten.³³ Der vollständige Triumph, den der Zar und der Archimandrit in Pereslavl󸀠 -Zalesskij gegen die Spielleute errangen, erwies sich später für die kirchliche und weltliche Obrigkeit als Pyrrhussieg. Die Stadtbewohner verzichteten nun zwar darauf, an kirchlichen Feiertagen öffentliche „gemeinschaftliche Gelage“ auf der Straße mit Spielleuten zu organisieren, aber sie blieben bei ihrer Gewohnheit, an diesen Tagen maßlos zu trinken und zu randalieren. Nur taten sie dies nun bei sich zu Hause oder zu Gast

33 Dmitrij P. Lebedev, Sobranie istoriko-juridičeskich aktov I. D. Beljaeva, Moskva 1881, Nr. 11.

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bei Verwandten und Bekannten. An diesen Exzessen beteiligten sich nicht nur die einfachen Einwohner von Pereslavl󸀠 , sondern auch der lokale Dienstadel. So kam es am 6. August 1684 am wichtigsten Patronatsfest, am Tag der Verklärung des Herrn, im Haus von Anton Gračev, der Amtsschreiber im Amtssitz des Voevoden war, zu einer Schlägerei und Messerstecherei. Daran beteiligten sich der Statthalter Dmitrij Sanin, der Gerichtsbezirksälteste Ivan Čekin, zwei seiner Söhne und der Beamte Kuz󸀠 ma Ščapin. Während der Schlägerei tötete der Statthalter einen Sohn des Ältesten. Weil der Mord nicht in der Nähe der Kirche, sondern zu Hause geschehen war, maß die Obrigkeit ihm keine große Bedeutung bei, obwohl er an einem Patronatstag begangen worden war. Deshalb wurde Sanin nicht wegen eines Verstoßes gegen die Regeln der Frömmigkeit, sondern wegen eines Kriminalverbrechens verurteilt.³⁴ Aus der Gegend um Moskau zogen sich die Scharen der wandernden Komödianten in den Norden zurück, um auf diese Weise Schutz vor der Verfolgung durch die Obrigkeit zu finden. Aber auch dort erreichte sie der Arm der Kirche und verfuhr so mit ihnen, wie es der Zar angeordnet hatte. Am 23. Oktober 1657 sandte der Metropolit von Rostov und Jaroslavl󸀠 , Iona Sysoevič, der in der kirchlichen Hierarchie der damaligen Zeit den zweiten Platz nach dem beim Zaren bereits in Ungnade gefallenen Patriarchen Nikon einnahm, dem Beamten für die Angelegenheiten des Metropoliten in den Kreisen Ustjug und Sol󸀠 -Vyčegodsk Matvej Lobanov eine „Bekanntmachung“ folgenden Inhalts: „Es wird angeordnet, dass es im Marktflecken Ustjug und im Kreis Ustjug keine Wanderkomödianten und keine Bärentreiber geben soll und dass man weder auf der Gusli noch auf der Domra noch auf der Surna noch auf dem Dudelsack spielen soll und dass man auch keinerlei teuflischen Spiele spielen soll, dass man keine satanischen Lieder singen soll und dass man die Laien nicht verführen soll. Und wenn die Leute den Erlass [. . . ] nicht beachten oder wenn Laien diese wandernden Komödianten und Bärentreiber weiter mit ihren Bären in ihre Häuser lassen [. . . ], dann müssen diese Leute [. . . ] bezwungen und erbarmungslos bestraft und aus der Kirche Gottes ausgestoßen werden.“³⁵ Die Verfügung des Metropoliten sah also sowohl für die Wanderkomödianten als auch für die Leute, die ihre Musik und ihren Gesang hörten und sie in ihre Häuser ließen, eine äußerst scharfe weltliche und kirchliche Bestrafung bis hin zur Exkommunikation aus der Kirche vor. Die Wanderkomödianten und ihr Spiel wurden in der Regierungszeit Aleksej Michajlovičs auch in den damals verbreiteten „Synodika“ verurteilt. Dies waren literarischen Sammlungen, die als Vorwort zu kirchlichen Gedenkbüchlein dienten oder die als separate Bücher erschienen. Sie waren für die erbauliche, lehrreiche Lektüre oder als „Heilmittel für die Seele“ gedacht. In diesen Synodika waren als Illustration zum „Buch Jona“ in einer Miniatur nicht selten Spielleute mit Musikinstrumenten 34 Michail I. Smirnov, Pereslavl󸀠 -Zalesskij. Istoričeskij očerk 1934 goda, Pereslavl󸀠 -Zalesskij 1996, S. 187f. 35 Akty, sobrannye, Bd. 4, S. 138f., Nr. 98. Gusli: altrussisches Saiteninstrument, entspricht der Zither. Domra: Laute. Surna: russische Form der Oboe.

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abgebildet – und zwar in der Szene, die das Fest im Haus des „nicht gottgefälligen“, reichen Jona zeigt. Die Spielleute gehörten in dieser Darstellung zu denen, die während des sündigen Festes „den Teufeln zu Unterhaltung dienten“. Die wandernden Komödianten, ihre Musik und sogar ihre Musikinstrumente wurden verboten und von der staatlichen und kirchlichen Obrigkeit verfolgt. Man kann nur vermuten, wie viele Musikinstrumente vernichtet, wie viele menschliche Schicksale in diesem Kampf zerstört wurden. Dabei blieben die Absichten, die sich hinter dieser Feindseligkeit des Zaren und der Kirchenoberen den Spielleuten gegenüber verbargen, der großen Masse der Bevölkerung unverständlich. Die einfachen Leute liebten die Musik und die Aufführungen der wandernden Komödianten, und sie empfanden Sympathie für die Spielleute. Davon zeugt insbesondere eine interessante Fürbitte-Notiz von äußerst seltenem Inhalt, die sich im Synodikon des Nikita-Klosters in Pereslavl󸀠 -Zalesskij findet. In diesem Teil des Synodikons, der aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stammt, ist die Familie des Priesters der Nikol󸀠 sker Kirche am Stadttor, Vasilij, eingetragen. Der Pope Vasilij gab dem Kloster eine Spende von zwei Rubeln – für die damalige Zeit keine geringe Summe – mit dem Anliegen, es solle für drei Personen Fürbitte geleistet werden. Neben dem Namen einer dieser Personen – eines gewissen Leontij – steht der Zusatz „er war ein Wanderkomödiant“.³⁶ Wir wissen nicht, in welchem Verhältnis der Priester einer der wichtigsten und reichsten Kirchen der Stadt, Vasilij, und der wandernde Komödiant Leontij standen und was sie verband, ob sie Verwandte, Freunde oder einfach gute Bekannte waren. Offensichtlich ist nur, dass der Pope Vasilij sich nicht scheute, einen von der Obrigkeit verfolgten Spielmann für die Fürbitte in einem altehrwürdigen und berühmten Kloster einzutragen, zu dem russische Zaren und Mitglieder ihrer Familie pilgerten, und dass er nicht am Geld sparte und großzügig für die Fürbitte bezahlte. Durch die Anstrengungen von Zar Aleksej Michajlovič und seiner nächsten Umgebung wurden die wandernden Komödianten und ihre theatralisierte musikalische Unterhaltung offenbar endgültig von den Festritualen am Zarenhof, in der Kirche, im Geburts- und Dienstadel ausgeschlossen. Aber es gelang nicht, auch der gewöhnlichen Bevölkerung Russlands die Liebe zum Wanderkomödiantentum völlig auszutreiben. Die soziale Funktion der Wanderkomödianten, die Leidenden zu trösten und die Niedergeschlagenen aufzuheitern, wurde von den einfachen Leuten sehr geschätzt und oft mit dem Narrentum in Christo und mit dem Wirken von Heiligen gleichgesetzt. Mehr noch, das Wanderkomödiantentum erlebte in der „Unterhaltungs“-Welt unter der Herrschaft Peters I., des jüngsten Sohnes von Aleksej Michajlovič, seine ausgeprägte und unverhoffte Blütezeit.³⁷

36 Sinodik Nikitskogo monastyrja, XVI-XVII- vv., in: Pereslavl-Zalesskij muzej-zapovednik, Nr. 4206, L. 149 (Rückseite). ˙ 37 Ernst Zicer, Carstvo Preobraženija: Svjaščennaja parodija i carskaja charizma pri dvore Petra Velikogo, Moskva 2008.

Aleksandr Rogožin

Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“ in Russland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Im Verlauf der Jahrhunderte hat die Militärmusik die Kämpfe und Schlachten verschiedener Staaten und Völker begleitet. Die feierliche, Mut machende Militärmusik oder ihr Gegenstück, die polternd-kampfeslustige Militärmusik, die den Feinden Schrecken einjagte, gehörten zu den einfachsten und bekanntesten Mitteln, die Musikalität des Menschen zum Ausdruck zu bringen. In den ältesten Texten, in denen von Kämpfen und Schlachten die Rede ist, sind Musikinstrumente erwähnt, die im Militär Verwendung finden. Die Kiever Rus󸀠 , der Moskauer Staat und das Russische Reich waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Militärmärsche der russischen Armee, die vom 18. bis zum 20. Jahrhundert auf den Schlachtfeldern zu hören waren, sind in der ganzen Welt bekannt. Doch die Geschichte der Militärmusik vor Peter I. harrt noch ihrer Erforschung. Aleksandr Viskovatov widmete in seiner bekannten Arbeit Historische Beschreibung der Kleidung und Bewaffnung der Russländischen Streitkräfte der Militärmusik einen separaten Abschnitt,¹ der über hundert Jahre lang die meistgenutzte Informationsquelle zu diesem Thema blieb. Die ältesten Instrumente, die unmittelbar zur Militärmusik gehörten, waren Trompeten und Schellentrommeln (nakry) oder Tamburine (bubny). Sie werden schon in den Chroniken über die Fehden zwischen den Fürsten im 12. Jahrhundert erwähnt. Später kamen im russischen Heer Oboen (surnai), Holzflöten (sopel󸀠 ) Heerpauken (nabat) und Trommeln Trommeln auf.² Aber auch hier wartet eine unangenehme Überraschung. In der Historischen Beschreibung ist zwar die Rede von Musikinstrumenten im Kriegswesen Russlands, aber die Militärmusik des vorpetrinischen Russlands wird mit keinem Wort erwähnt. Insbesondere im Hinblick auf das 17. Jahrhundert wird nur darauf hingewiesen, dass Ausländer die Musik „laut, ohrenbetäubend und unharmonisch“ fanden. Sie sei nur für die Abschreckung des Feindes geeignet, aber nicht für den Musikgenuss. Wenn man die Erzähllogik der Historischen Beschreibung berücksichtigt, kann man davon ausgehen, dass sich diese Einschätzung auf die gesamte russische Militärmusik bis zum Anfang des Großen Nordischen Krieges 1700–1721 bezieht. So entsteht der Eindruck, als ob es während dieser

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Aleksandr V. Viskovatov, Istoričeskoe opisanie odeždy i vooruženija Rossijskich vojsk, s risunkami sostavlennoe po Vysočajšemu poveleniju, Čast󸀠 1. Sankt-Peterburg 1899, S. 61–64. 2 Viskovatov, Istoričeskoe opisanie. DOI 10.1515/9783110520224-003

Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“

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Zeit keinerlei bemerkenswerte Veränderungen gegeben hätte. Diese Herangehensweise blieb auch für die spätere Forschung charakteristisch. In einem der vergleichsweise neuen Überblicksaufsätze über die Geschichte der russischen Militärmusik geht der Autor sogar so weit zu behaupten, dass die Entstehung „der Militärmusik in Russland mit der Einrichtung einer regulären Armee durch Peter I. einherging“. Außerdem meint der Autor, den ersten „Militärmusikern“³ begegne man ebenfalls erst in petrinischer Zeit. Die meisten Arbeiten der letzten Jahre, die die Militärmusik in Russland im Kontext der einheimischen Musikkultur verschiedener Epochen untersuchen, lassen einen gewissen Bruch erkennen: In Übereinstimmung mit dem „petrinischen Paradigma“, das in der Geschichtswissenschaft lange Zeit tonangebend war, galten die Reformen Peters I. als Voraussetzung für die Entstehung einer Militärmusik westeuropäischen Stils. In seiner allerdings eher kultur- als geschichtswissenschaftlich ausgerichteten Arbeit stellt Timofej Majakin⁴ fest, dass die ersten Zaren aus der Romanov-Dynastie eine Vorliebe für westeuropäische Musik hatten. Es bleibt aber unklar, wie sich diese Vorliebe auf dem Gebiet der Militärmusik äußerte. Man kann seiner Behauptung zustimmen, dass die „Herausbildung einer militärmusikalischen Kultur mit dem Wirken Peters I. in Staat und Gesellschaft verbunden sind“⁵, doch die ins 17. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte der Entwicklung wurde von Majakin kaum untersucht. Analog dazu wird in den Forschungen von Il󸀠 ja Garbažej⁶ und ˙ Eduard Klejn⁷ eine Verbindung zwischen der altrussischen traditionellen Militärmusik und der Militärmusik der Epoche Peters I. hergestellt, aber ohne Schilderung der Übergänge. Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmen: Untersuchungen, in denen der Versuch unternommen wird, auf der Grundlage aller bekannten Quellen zu verstehen, was die Militärmusik vor dem 18. Jahrhundert ausmachte,⁸ aber insgesamt ist diese

3 N. N. Grjunberg, Istorija russkoj armii v voennoj muzyke, in: Voenno-istoričeskij žurnal 9 (2007), S. 67. 4 Timofej K. Majakin, Voenno-muzykal󸀠 naja kul󸀠 tura Rossii (istoriko-kul󸀠 turologičeskij analiz), Diss. Nižnij Novgorod 2010. 5 Majakin, Voenno-muzykal󸀠 naja kul󸀠 tura, S. 26. 6 Il󸀠 ja N. Garbazej, Voenno-muzykal󸀠 noe iskusstvo v žanrovoj sisteme massovych predstavlenij, Diss. Moskva 2005. ˙ 7 Eduard G. Klejn, Voennye orkestry kak fenomen provincial󸀠 noj kul󸀠 tury Rossii (na materialach Kostromskoj gubernii do 1917 goda), Diss. Kostroma 2005. 8 Vgl. insbesondere Irina F. Petrovskaja, Drugoj vzgljad na russkuju kul󸀠 turu XVII v. Ob instrumental󸀠 noj muzyke i o skomorochach. Istoričeskij očerk, Sankt-Peterburg 2013 oder V. I. Tutunov, Istorija voennoj muzyki Rossii, Moskva 2005. Allerdings interessiert den Autor der letztgenannten Arbeit im Hinblick auf die Militärmusik des 17. Jahrhunderts vor allem, welche neuen Musikinstrumente verwendet wurden. Außerdem unterscheidet er die Musik der Regimenter der „neuen Ordnung“ nicht vom gesamten Spektrum der Militärmusik, die für die erwähnte Periode charakteristisch war. Deshalb treffen einige seiner Beobachtungen beispielsweise zwar auf die vom Lehnsadel gestellte Kavallerie zu, aber nicht auf die Soldatenregimenter.

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Frage unerforscht geblieben. So entsteht der Eindruck, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts keine nennenswerten Entwicklungen zu beobachten waren. Aber eine solche Herangehensweise erscheint seltsam, wenn man bedenkt, dass die russische Armee in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wichtige Veränderungen durchmachte. Die Streitkräfte des russischen Staates übernahmen viele westeuropäische Erfahrungen und kombinierten sie mit anderen militärischen Traditionen. Nachdem die russische Regierung im Krieg von Smolensk 1632–1634 gegen die Rzeczpospolita mit Regimentern westeuropäischen Typs experimentiert hatte, machte sie Reiter-, Dragoner- und Soldatenregimenter zur Grundlage der Streitkräfte. Aber der westeuropäische Einfluss erstreckte sich nicht nur auf Bewaffnung und Taktik, sondern wirkte sich zwingend auch auf die Entwicklung der Militärmusik aus. In einer der neuesten Arbeiten, die sich mit der Geschichte der russischen Instrumentalmusik befassen, ist ein separater Abschnitt der Militärmusik gewidmet. Aber der westeuropäische Einfluss wird mit keinem einzigen Wort erwähnt,⁹ so dass sich sofort die vollkommen berechtigte Frage stellt: „Was spielten die Musiker aus den Regimentern der ‚neuen Ordnung‘, wie hörte sich ihre Musik an?“. Einschränkend muss gesagt werden, dass unsere Arbeit nur vorläufige Ergebnisse zu dieser speziellen Frage präsentiert und dass sie sich nur mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschäftigt. Dies ist eine wichtige Präzisierung, weil die Regimenter der „neuen Ordnung“, die während des Smolensker Kriegs von 1632–1634 eingerichtet wurden, entweder komplett oder zumindest auf der Führungsebene aus Ausländern bestanden. Dementsprechend orientierten sich die Musiker in diesen Regimentern unmittelbar an den westeuropäischen Traditionen, im Krieg Musikinstrumente einzusetzen, und zwar entweder als Signal oder zur Aufrechterhaltung des Kampfgeistes. Deshalb konnte die Musik dieser Regimenter in dieser Zeit wohl kaum besondere Merkmale haben, die sie von ihrem europäischen Pendant unterschieden. Offenbar spielten die Musiker die gleiche Musik, die auf den Schlachtfeldern und in den Armeelagern aller europäischen Staaten der damaligen Zeit zu hören war. Daher ist es interessanter, die Entwicklung der Militärmusik in Regimentern der „neuen Ordnung“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu untersuchen. Denn damals stieg der Anteil neuer Regimenter in der russischen Armee, die unteren Dienstgrade wurden mit Russen besetzt, und russische Vorgesetzte waren in diesen Regimentern fest etabliert. Leider sind aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts keine Noten von Militärmusik für die Regimenter der „neuen Ordnung“ überliefert. Daher werden viele unserer Überlegungen hypothetisch sein, denn wir können nur vermuten, wie die musikalische Begleitung des Dienstes in den Dragoner- oder Reiterregimentern geklungen hat. Hier sind die Aufzeichnungen, die von Ausländern über Russland angefertigt wurden, von unschätzbarem Wert, sofern sie ihr Augenmerk unter anderem auf die russische Musik gelegt und die Details bemerkt haben, die man in anderen Quellen vergebens

9 Petrovskaja, Drugoj vzgljad, S. 191–203.

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sucht. Die Militärmusik war das erste Phänomen aus der Welt der russischen Musik, mit dem Ausländer konfrontiert waren, für viele war es sogar das einzige. Denn Ausländer durften russische Gotteshäuser nicht betreten und hatten dementsprechend keine Möglichkeit, Kirchengesang zu hören, wenn sie sich nicht unter einem Vorwand Zutritt verschafften. Es gelang auch längst nicht allen, Bekanntschaft mit der Volksmusik zu machen. Die Bewegungsfreiheit ausländischer Botschafter und ihres Gefolges in Moskau war durchaus beschränkt, und nur einige wenige hatten die Möglichkeit, mit eigenen Augen die Feste des russischen Volkes beobachten, auf denen stets Instrumentalmusik gespielt wurde. Die Militärmusik der Regimenter der „neuen Ordnung“ hingegen war zugänglicher und fand weitere Verbreitung, weil deren Teilnahme an den feierlichen Empfängen für die ausländischen Gesandtschaften unverzichtbar war. Wenn man die Musiker in den Regimentern der „neuen Ordnung“ in den Blick nimmt, muss man zwischen ihrer Signalfunktion und ihrer musikalischen Funktion im engeren Sinne unterscheiden. Es versteht sich von selbst, dass Schlagzeug und Blasinstrumente in den russischen Truppen schon lange Zeit Verwendung fanden – in dieser Hinsicht unterschied sich Russland von Europa allenfalls im Hinblick auf die benutzten Instrumente. Denn es gab praktisch kein anderes Mittel, die Massen der Soldaten in der Schlacht zu lenken. Nach den Instrumenten zu schließen, die im altrussischen Heer bekannt waren, hatten sie in erster Linie eine Signalfunktion und wurden sie erst in zweiter Linie als eine Möglichkeit gesehen, Musik zu Aufführung zu bringen. Es gibt nicht einmal ausreichende Indizien für die Behauptung, dass ein erheblicher Teil der Instrumente im Heer der Kiever Rus󸀠 für andere Zwecke verwendet wurde als für die Lenkung des Heeres in der Schlacht und während des Marschierens. Der Heerführer hatte eine am Sattel befestigte große Trommel (tulumbas). Diese diente nicht etwa dazu, die Krieger mit Musik zu unterhalten, sondern ausschließlich dazu, das Signal zu geben, dass die Schlacht beginnt oder dass die Soldaten zum Appell antreten sollen.¹⁰ Dies war die übliche Aufgabe von Musikinstrumenten im Krieg. Nicht umsonst hieß es im Buch Lehre und List der Schlachtordnung für das Fußvolk¹¹ „dass das Trommelschlagen immer dazu dient, den zahlreichen und vielen Menschen, die weit voneinander entfernt stehen und die einander nicht hören können, wenn sie sich etwas zurufen, eine wichtige Nachricht durch Trommeln mitzuteilen“.¹² Uns soll nur die

10 Ein Tulumbas war eine mit Tierhaut bezogene Kupferschale. Darauf schlug man mit einer Voščaga – einer besonderen Peitsche, an deren Ende eine aus Riemen geflochtene Kugel befestigt war. Vgl. Viskovatov, Istoričeskoe opisanie, Bd. 1, S. 63. 11 Es handelte sich um die 1647 in Moskau gedruckte russische Übersetzung des Lehrbuches von Johann von Wallhausen, Kriegskunst zu Fuß. (Oppenheim 1615), dessen Autor von Johann von Nassau zum Direktor der Siegener Militärakademie ernannt worden war. Vgl. R. Brzezinski, The Army of Gustavus Adolphus (I). Infantry, London 1991, S. 7. 12 [Wallhausen] I. Ja. fon Val󸀠 gauzen, Učenie i chitrost󸀠 ratnogo stroenija pechotnych ljudej, Sanktpeterburg 1904, S. 270.

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Musik interessieren, die keinen streng funktionalen Zweck hatte wie etwa das Geben eines bestimmten Signals auf dem Schlachtfeld. Ohnehin beschränkte sich die Rolle der Militärmusik nicht auf den Kampfplatz. Die Regimenter der „neuen Ordnung“ nahmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts regelmäßig an verschiedenen Zeremonien teil, insbesondere an Empfängen für die ausländischen Gesandtschaften. Auf den Empfang ausländischer Gesandtschaften bereitete man sich lange vor, denn dies war eine Festveranstaltung, die die Pracht des Zarenhofs demonstrieren sollte. Für die Angehörigen des Dienstadels, die sich in der Hauptstadt aufhielten, war die Teilnahme an diesem Akt verpflichtend, und zwar nicht nur für Mitglieder des Moskauer Dienstadels, sondern auch für „hinzugeworbene“ Dienstleute. Grigorij Kotošichin schrieb, dass man beim Empfang der Gesandten „in der Stadt sowohl auf dem Platz als auch vor dem Gesandtenhof (posolskij dvor) die Strelitzen antreten lässt, so wie es bei den Soldaten Sitte ist“.¹³ Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehörten auch die Regimenter der „neuen Ordnung“ zu denjenigen, die am „Gesandtschaftsappell“ beteiligt waren. Die ersten Nachrichten über die Teilnahme von Regimentern der „neuen Ordnung“ an der Begrüßung von Gesandten beziehen sich auf das Jahr 1649, als das vor kurzem zusammengestellte Reiterregiment I. van Bokhovens an der Begrüßung des polnischen Gesandten Debeslav Czeklinski teilnahm. In den darauffolgenden Jahren waren die „Moskauer Reiter“, wie man dieses Regiment in der Hofordnung nannte, wiederholt an der Begrüßung von Gesandten – insbesondere an denen des polnischen Königs – beteiligt.¹⁴ In der zweiten Hälfte der 1650er Jahre lösten die Soldaten von Eliteregimentern die Reiter I. van Bokhovens in ihrer Eigenschaft als ständige Teilnehmer von Festveranstaltungen ab. Anfang Juni 1658 fand für die Eliteregimenter unter dem Kommando der Obersten Aggej Šepelev und Jakov Koljubakin der erste „Gesandtschaftsappell“ statt, an dem diese neuen Einheiten beteiligt waren. Damals kam der georgische König Teimuraz Davidovič mit der Bitte nach Moskau, man möge ihn im Kampf um den Thron unterstützen. Zu seinem Empfang standen die Eliteregimenter entlang Straße Spalier, die in die Hauptstadt führte. Nachdem die georgische Delegation vorbeigezogen war, stellten sich die Regimenter rasch und organisiert in Reih und Glied auf und marschierten dann neben der Kutsche des georgischen Königs her. Ihren neuen Platz nahmen sie dem Zeremoniell entsprechend ein. Den gesamten „Gesandtschaftsappell“ führten sie in voller Bewaffnung durch, mit Musketen und Lanzen, mit Fahnen und Trommeln.¹⁵

13 Grigorij K. Kotošichin, O Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviča, podg., publ., vvod. Stat󸀠 ja, komm. G. A. Leont󸀠 eva, Moskva 2000, S. 82f. Im Gesandtenhof, der auf Anordnung des Zaren Aleksej Michajlovič gebaut wurde, waren die ausländischen Gesandten und Boten untergebracht. 14 Dvorcovye razrjady, Bd. III, Sanktpeterburg 1852, Sp. 195, 210, 233. Zapisnaja kniga Moskovskogo stola 7157 goda (1648, sentjabr󸀠 – 1649, avgust, in: RIB, Bd. 10, Sanktpeterburg 1886, S. 471. 15 A. V. Malov, Moskovskie vybornye polki soldatskogo stroja v načal󸀠 nyj period svoej istorii 1656–1671 gg., Moskva 2006, S. 81–83.

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In der Folgezeit hing die Intensität der Teilnahme von Soldaten- und Reiterregimentern am Empfang von Gesandten vom Wunsch des jeweiligen Herrschers ab. Beim Einzug der Gesandten des schwedischen Königs nach Moskau im Februar 1662 wurden die Soldaten der Eliteregimenter nicht erwähnt. Die Krieger wurden durch Mundschenke, Hofpagen, Moskauer Adlige und andere Einwohner der Hauptstadt vertreten, die zu diesem Zweck zu Hundertschaften zusammengestellt worden waren. Aber schon einige Tage später, auf dem festlichen Empfang der schwedischen Gesandten durch Aleksej Michajlovič im Facettenpalast, standen vor der „Heiligen Diele“ die Obersten mit den Anführern der Strelitzen. Sie nahmen unmittelbar an diesem Akt teil, bei dem außer ihnen die gesamte Elite des russischen Staates anwesend war, von den Moskauer Beamten bis zu den Sekretären der Ämter, von den Kaufleuten bis zu den Kommandeuren der militärischen Einheiten. Die Soldaten wurden für die Teilnahme am „Begrüßungsappell“ „von der Freitreppe der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale bis zum Gesandtenhof abkommandiert. Strelitzen und Soldaten in bunten Uniformen standen auf beiden Seiten des Weges. Sie traten in Kampfformation und „mit Fahnen, Trommeln und Gewehren an“.¹⁶ Wir sehen, dass die Soldaten bei der Begrüßung der Gesandten Trommeln und offenbar auch andere Musikinstrumente mit sich führten, die man für eine entsprechende Musikbegleitung benötigte. Als etwa der niederländische Gesandte Coenraad van Klenck in Russland ankam, standen auf seiner Route Regimenter der „neuen Ordnung“. Sie ließen „ohne Unterlass“ Flöten, „Trommeln und Schalmeien erklingen, mit denen die Musiker vor den Kompanien standen“.¹⁷ Auf diese Worte des Sekretärs der niederländischen Gesandtschaft werden wir später zurückkommen. Einstweilen stellen wir lediglich fest, dass die in Hundertschaften aufgestellten Dienstleute der Moskauer Amtsträger und die Reiter, die die Gesandten begrüßten, auch Instrumente bei sich gehabt haben müssen. Aber die Musik, die ihnen gespielt wurde, unterschied sich von ihrem Charakter her grundlegend von der Musik in den Soldatenregimentern. Dies haben ausländische Beobachter wiederholt festgestellt. Allem Anschein nach war die russische Militärmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von der westeuropäischen sehr verschieden. Jene stützte sich auf fest gefügte Traditionen, wobei der Hauptakzent nicht auf den Melodien oder gar Harmonien lag, sondern auf der Lautstärke des Klangs, mit welcher die eigenen Truppen angefeuert und der Feind erschreckt werden sollte. Diese Schlussfolgerungen basieren auf Bemerkungen von Ausländern über Russland, die übereinstimmend davon sprechen, dass die russische Militärmusik für ihre Ohren seltsam klang. Ein unbekannter Beobachter des Feldzugs von Zar Aleksej Michajlovič im Jahr 1654 schrieb: „Hinter der Kutsche führte man weitere sechs reich geschmückte Pferde, hinter denen man acht

16 Dvorcovye razrjady, Bd. 3, Sanktpeterburg 1852, Sp. 544–546. 17 [Coenraad van Klenck], Posol󸀠 stvo Kunraada van-Klenka k carjam Alekseju Michajloviču i Feodoru Alekseeviču. Per. A. Lovjagina, Sankt Peterburg 1900, S. 390.

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große Trommeln herzog, die bei den Moskowitern Tulumbasy heißen; man kann nur jeweils eine von ihnen mit einem Pferd transportieren und sie schlagen. Dahinter folgten 20 kleine Trommeln, 12 kleine Schalmeien und 60 Trompeter, die zusammen mit den Trommeln und Schalmeien einen unerträglichen Krach und Lärm machten“ (Hervorhebung von A.R.).¹⁸ Der Beobachter war vermutlich ein Pole, und für ihn war diese Musik Lärm. In der Tat hatte jede Militärmusik vor allem die Aufgabe, den Feind abzuschrecken und die eigenen Kämpfer anzufeuern. Petrus Petraeus machte noch Anfang des 17. Jahrhunderts auf diese Aufgabe der Musik im russischen Heer aufmerksam: „Während der Schlacht schlägt man Trommeln und bläst man Trompeten, spielt man auf Schalmeien und anderen langgezogenen Instrumenten, die aus Kiefernholz gemacht sind: Sie erzeugen eine seltsame Melodie, die diejenigen zum Zittern bringt, die sie niemals zuvor gehört haben, und die ihnen die Ohren zerreißt“.¹⁹ Zu einer solchen Tendenz in der Musik trugen die verwendeten Instrumente einiges bei, denn sie bestanden größtenteils aus verschiedenen Schlaginstrumenten (Pauken, Trommeln) und aus relativ einfachen Blasinstrumenten, vor allem aus Trompeten. Samuel Collins, der englische Leibarzt des Zaren, stand der Musikalität der Russen besonders negativ gegenüber. In seinen Aufzeichnungen bemerkt er abschätzig, dass die Militärmusik „bei ihnen aus Trommeln besteht (deren dumpfe Klänge ausgezeichnet dem schwermütigen Charakter der Russen entsprechen) und aus Trompeten, die wahrscheinlich erst vor kurzem in Gebrauch gekommen sind, weil die Russen darauf schlechter spielen als unsere Schweinehirten auf ihren Hörnern.“²⁰ Von ihm stammt auch die gehässige Bemerkung, dass, wenn ein Ausländer einen Russen mit Musik erfreuen möchte, er am besten „Nachtigallen aus Billingsgate,²¹ einige Eulen, einige Stare, ein paar hungrige Wölfe, sieben Schweine, genauso viele Katzen mit ihren Gatten“ nimmt „und sie zum Singen zwingt: Dieses Konzert wird den Russen mehr begeistern als die gesamte italienische Musik, alle leichten französischen Arien, englischen Märsche oder schottischen Gigs“.²² Die schwach entwickelte Melodik der Militärmusik ließ sie für das ungeübte Ohr von Ausländern einschüchternd und unge-

18 Reljacija o voennom pochode ego carskogo veličestva Alekseja Michajloviča v Litvu protiv Pol󸀠 skogo korolja Jana Kazimira. 1654 g., in: Vitebskaja starina, Bd. IV, Otd. 2, Vitebsk 1885, S. 350. 19 [Petrus Petrejus], Petr Petrej, Istorija o Velikom knjažestve Moskovskom, in: A. Liberman (Hrsg.), O načale vojn i smut v Moskovii, Moskva 1997, S. 417. 20 [Samuel Collins], Nynešnee sostojanie Rossii. In: Utverždenie dinastii/A. Liberman. – Moskva 1997, S. 185–231. Online-Version: http://www.vostlit.info/Texts/rus11/Collins/text1.phtml?id=715 aufgerufen am 25. 4. 2016. 21 Billingsgate ist der Name eines Londoner Stadtteils, der für seinen Fischmarkt und den dort üblichen rauen Umgangston bekannt war (und ist). Die Frauen vom Fischmarkt, die – so sagt man – mit widerwärtigen Stimmen ihre Waren anpriesen, werden hier als „Nachtigallen von Billingsgate“ bezeichnet (Anm. d. Übers. nach Erläuterungen von P. Kireevskij und N. P. Solov󸀠 eva; vgl. hierzu Collins, Nynešnee sostojanie Rossii.) 22 [Collins], Nynešnee sostojanie Rossii, S. 197f.

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wohnt klingen. Dass sie bei Ausländern negative Reaktionen hervorrief, war deshalb zu erwarten, weil sie sich stark von der europäischen Musik unterschied, die in den Regimentern verschiedener Armeen gespielt wurde. Selbstverständlich hielten bei weitem nicht alle Ausländer die Militärmusik in Russland für barbarisch. Manche räumten ein, dass sich mit den bei den Russen weit verbreiteten Pauken und Trompeten durchaus der Eindruck eines feierlichen Moments erwecken ließ. Bernhard Tanner berichtete Folgendes vom Empfang einer Gesandtschaft: Dort „(. . . ) standen Soldaten und Trompeter, die uns mit feierlicher Musik willkommen hießen (. . . ). Das unaufhörliche Wiehern der galoppierenden Pferde, von denen die Straßen erfüllt waren, die feierlichen Klänge der Pauken und Trompeten machten den Einzug der Gesandtschaft für das Volk, das sich in der Stadt drängte, noch festlicher und unterhaltsamer.“²³ Aber die wichtigste musikalische Tendenz blieb dieselbe wie zuvor, und die Pauken und Trompeten wurden eher für das Spielen einer Hintergrundmusik genutzt als für das Spielen einer klaren Melodie. Diese Situation begann sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich zu ändern, und gerade die Regimenter der „neuen Ordnung“, die in der russischen Armee eine immer wichtigere Rolle spielten, wurden zu Vermittlern neuer Tendenzen in der Militärmusik. Unter diesen muss dabei streng zwischen Reiter- und Soldatenregimentern differenziert werden, die sich nicht nur durch Besonderheiten in der Kampftechnik unterschieden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden die für das russische Heer charakteristischen Musikinstrumente durch westeuropäische ersetzt. Unter Zar Aleksej Michajlovič wurden statt der einfachen alten, geraden, dreiteiligen Trompeten immer öfter Trompeten mit einer ovalen Form benutzt, die „Trompeten der Kampfeinheit“ hießen; sie wurden ausschließlich aus Metall gefertigt und waren eine Zeitlang militärische Importwaren, die in großen Mengen in den Niederlanden gekauft wurden. Aber bei der Verwendung dieser Instrumente stützte man sich auf russische Traditionen, und Ausländer hielten diese Musik nach wie vor für „Krach“. Die Instrumente, die in den Soldatenregimentern verwendet wurden, führten zu einer richtiggehenden „musikalischen Revolution“. In den Soldatenregimentern wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur Pauken und Trommeln verwendet, sondern auch Querflöten (sipovki), Oboen (sipoški) und sogar Fagotte, die die veralteten surnai und Schellentrommeln ersetzten.²⁴ Als in den Truppen die als „Rohrpfeifen“ bezeichneten Flöten weitere Verbreitung fanden, die kaum durch Dynamik Druck auf die Zuhörer ausüben konnten, aber dafür besser für das melodische Spiel geeignet waren, begann sich in der Musik der Soldatenregimenter eine Melodielinie abzuzeichnen. Die Zunahme der Flöten blieb den Ausländern nicht verborgen. Ein Ausländer aus dem Umfeld des britischen Botschafters Carlyle schrieb, dass man

23 [Bernhard Tanner], Opisanie putešestvija pol󸀠 skogo posol󸀠 stva v Moskvu v 1678 g. Per. I. Ivakina, Moskva 1891, S. 47, 50. 24 Vladimir I. Tutunov, Istorija voennoj muzyki Rossii, Moskva 2005, S. 42–44.

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in Russland „Tamburine, Trompeten und einige andere Musikinstrumente spielt, mit denen nur Lärm, aber wenig Harmonie erzeugt wird. Die Infanterie verwendet Flöten, was ich wesentlich angenehmer finde“.²⁵ Dies war ein Schritt in die Richtung der europäischen weltlichen Musik, ein Schritt, der in Russland noch vor den Reformen Peters I. und gleichsam durch die Soldatenregimenter vermittelt vollzogen wurde. Man kann davon ausgehen, dass ein erheblicher Prozentsatz der Musiker in den Regimentern der „neuen Ordnung“ aus Ausländern bestand. Sogar in den Moskauer Elite-Soldatenregimentern kamen die Musiker, insbesondere die Rohrpfeifenspieler (sipovščiki), aus Polen, obwohl eines der Grundprinzipien dieser Regimenter lautete, dass sowohl die unteren Ränge als auch die Kommandoebene mit Russen besetzt werden sollten.²⁶ Die russischen Musikanten in den Regimentern der „neuen Ordnung“ waren meistens Jungen im Alter von 13–16 Jahren, die noch nicht fähig waren, den eigentlichen Militärdienst zu leisten und die daher als Trommler oder als Rohrpfeifenspieler eingesetzt wurden. Die Musiker in den Regimentern der „neuen Ordnung“, die schon ein etwas reiferes Alter erreicht hatten, waren Ausländer, die gewissermaßen als Lehrer für die jungen Leute fungierten. Erst während des Großen Nordischen Krieges 1700–1721 ging man in der russischen Armee dazu über, vorwiegend erwachsene Musiker zu rekrutieren.²⁷ Zu den Moskauer Elite-Soldatenregimentern ist noch anzumerken, dass ein wichtiger Aspekt ihres Dienstes darin bestand, an zahlreichen Zeremonien teilzunehmen, in denen alle Anstrengungen der russischen Regierung darauf gerichtet waren, die Macht des Staates in Szene zu setzen. Dies wurde durch einen straff organisierten und prunkvollen Festakt unterstrichen. Ausländer für den Dienst zu verpflichten, die gekonnt auf Musikinstrumenten spielen konnten, war voll und ganz gerechtfertigt. Außerdem war die Anwesenheit von Ausländern als Musiker in den Regimentern der „neuen Ordnung“ nicht nur dringend notwendig, weil es den Russen an entsprechender Erfahrung fehlte. Dies war zudem eine europäische Mode, die auch Russland erobert hatte.²⁸ Mangelnde Qualität der Musikanten konnte den gesamten Eindruck von der Empfangszeremonie verderben. „Auf Schussentfernung von der bereits erwähnten Brücke empfingen uns diejenigen, die man uns zur Begrüßung geschickt hatte, mit zwei wunderbaren Schlitten, die mit Stoffen und Pelzen verziert waren: Der eine Schlitten war für den Begleiter, der andere für den Gesandten gedacht; ringsum standen bewaffnete Strelitzen und eine Gruppe von acht bis zehn Trompetern, die zwar viel Krach

25 Opisanie Moskovii pri reljacijach gr. Karlejlja. Per I. F. Pavlovskogo, in: Istoričeskaja biblioteka 5 (1879), S. 43. 26 Aleksandr V. Malov, Moskovskie vybornye polki soldatskogo stroja v načal󸀠 nyj period svoej istorii. 1656–1671 gg., Moskva 2006, S. 221f. 27 Roberto Palasios-Fernandes, Muzykanty vybornych moskovskich soldatskich polkov. K voprosu o nošenii zapadnoevropejskoj odeždy v Moskovii XVII v., in: Cejchgauz 7 (1991), S. 7. 28 Malov, Moskovskie vybornye polki, S. 223f.

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machten, aber sehr schlecht spielten“,²⁹ schrieb der Niederländer Nicolaas Witsen enttäuscht. Witsen berichtete vom Empfang der niederländischen Gesandtschaft durch die Strelitzen. Das bedeutet, dass die erwähnten Musiker aller Wahrscheinlichkeit nach Russen waren, die mit ihrem Spiel eindeutig nicht den gebührenden Eindruck auf die Ausländer machten. Später ließ die russische Regierung solche Fehler nicht mehr zu, und die niederländische Gesandtschaft Coenraad van Klencks wurde bereits von besser ausgebildeten Musikern empfangen. Die Ausländer waren beeindruckt: „Auf dem Boot gab es ebenfalls fünf oder sechs Trompeter, die recht gut und richtig spielten, außerdem vier oder fünf kleine Pauken, die einige Jungen ohne Unterlass ausgesprochen gut schlugen. . . Jedes Boot hatte seine eigene, besondere Flagge, die fast genauso bunt verziert war wie bei den Chinesen, und mit ihren Trommeln und Schalmeien machten alle einen unaufhörlichen Lärm; all dies war angenehm zu sehen und zu hören“.³⁰ Dies mag natürlich auch auf den wenig anspruchsvollen Geschmack der Niederländer zurückzuführen sein, denn weiter unten im Tagebuch der Gesandtschaft ist wörtlich Folgendes vermerkt: „Ihre Pauken, Trommeln und Schalmeien erklangen mit großer Gewalt, was unser Ohr erfreute (Hervorhebung A.R.)“.³¹ Die Musiker (von denen sich im Übrigen nicht genau sagen lässt, ob es Ausländer oder Russen waren), vermochten also inzwischen nicht nur einen guten Eindruck auf Ausländer zu machen, sondern auch schon mit westeuropäischen Musikern zu konkurrieren. Denn die ohnehin bereits begeisterte Gesandtschaft Coenraad van Klencks lebte im weiteren Verlauf des Empfangs sichtlich auf, ob nun wegen der Musik oder aus anderen Gründen: „Fröhliche Stimmung verbreitete sich auf dem gesamten Schiff, während Pauker und Trompeter von beiden Seiten laut bliesen und schlugen. . . Einige der russischen Trompeter, die mit mehreren Soldaten auf einem anderen Boot waren, in dem ein Offizier zu uns kam, spielten die ganze Zeit auf ihren Trompeten und stimmten dabei ihre Klänge mit den [Musikern, Anm. d. Übers.] ab, die bei uns standen“.³² Dies war ein deutlicher Fortschritt in der Entwicklung der russischen Militärmusik, aber endgültig sollte sich eine Militärmusik westeuropäischen Typs in Russland erst einige Jahrzehnte später herausbilden, nämlich mit dem Aufkommen der Märsche. Oben wurde bereits angemerkt, dass uns nicht eine einzige Partitur von Militärmusik für Regimenter der „neuen Ordnung“ überliefert ist. Vielleicht haben solche Noten auch nie existiert. Dies wirft die Frage nach der Tradition auf, in der die Militärmusik des 18. Jahrhunderts steht. Vladimir Tutunov meint, dass sich der Militärmarsch in Russland aus dem Canticon (kant), d. h., aus dem mehrstimmigen, vorwiegend religiösen Themen gewidmeten Gesang entwickelt hat.³³ Welche Anhaltspunkte gibt es für eine solche Schlussfolgerung? Tutunov verwies auf drei Einflüsse,

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Vitsen, Putešestvie v Moskoviju. Per. V. G. Trisman, Sankt Peterburg 1996, S. 67. [van Klenck], Posol󸀠 stvo Kunraada van-Klenka, S. 290. [van Klenck], Posol󸀠 stvo Kunraada van-Klenka, S. 295. [van Klenck], Posol󸀠 stvo Kunraada van-Klenka, S. 293, 295. Tutunov, Istorija voennoj muzyki, S. 68.

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die auf die Entstehung des russischen Militärmarsches eingewirkt haben: das feierliche oder panegyrische Canticon, die militärischen Signale und das Volkslied.³⁴ Dabei sei der Einfluss des panegyrischen Canticons am stärksten gewesen. Nicht umsonst hätten Canticon und Marsch musikalische Gemeinsamkeiten. So gebe es sowohl im Canticon als auch im Marsch eine klare metrische Gestaltung der Melodie und eine quadratische Struktur.³⁵ Aber damit diese Behauptung stichhaltig ist, muss ein klarer chronologischer Rahmen festgelegt werden. Das Canticon kam nicht vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Russland. Dies geschah unter starkem polnischem und ukrainischem Einfluss.³⁶ Es ist kaum möglich, dass es in dieser Zeit Militärmärsche gab, denn sogar der mutmaßliche „Verwandte“ des Marsches, das panegyrische Canticon, existierte damals noch nicht. Der starke Einfluss, von dem Tutunov spricht, ist frühestens im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts denkbar, in der Epoche der petrinischen Reformen. Damals wurde die Aufführung von panegyrischen Cantica im Rahmen verschiedener Feierlichkeiten zu einer fest etablierten Praxis, und die Annäherung des Canticons an den Marsch erscheint plausibel. Aber für das Ende des 17. Jahrhunderts ist es offensichtlich, dass man den Marsch auch direkt aus Westeuropa übernommen haben konnte.³⁷ Der Niederländer Cornelis de Bruin, der Anfang des 18. Jahrhunderts in Russland war, schrieb: „Herr de Win lud mich ein, mit ihm auf einer Barke, die mit 24 Rudern ausgestattet war, eine Spazierfahrt auf dem Fluss zu machen. Wir wurden von 44 Soldaten eskortiert, von zehn oder zwölf Flötisten und Oboisten und einigen Trommlern, die einen deutschen Marsch spielten (Hervorhebung A.R.)“. Michail Čertok hat in seiner Arbeit über den russischen Militärmarsch zu Recht Folgendes festgestellt: Selbst wenn es den Marsch als separate Gattung in Russland bis zum 18. Jahrhundert nicht gab, existierte dennoch schon früher Musik, die im weitesten Sinn eine ähnliche Funktion hatte: die Regimenter beim Marschieren zu begleiten.³⁸ Čertok selbst hat seine These im Hinblick auf die russische Armee des 17. Jahrhunderts mit keinen stichhaltigen Beweisen unterfüttert. Den oben zitierten Notizen von Ausländern nach zu schließen, gelangte der Marsch – wie überhaupt die Militärmusik der Regimenter der „neuen Ordnung“ – aus Europa nach Russland. Dementsprechend erscheint es plausibler, im russischen Marsch vom Anfang des 18. Jahrhunderts Einflüsse der westeuropäischen Militärmusik zu sehen, anstatt ein kompliziertes Schema vom Wandel des mehrstimmigen Liedes zu entwerfen.

34 Tutunov, Istorija voennoj muzyki, S. 71f. 35 Jurij.V. Keldyš, Rannij russkij kant, in: Ders., Očerki i issledovanija po istorij russkoj muzyki, Moskva 1978, S. 72. 36 Keldyš, Rannij russkij kant, S. 64. 37 [Cornelis de Bruin], Putešestvija v Moskoviju. Per. P. P. Barsova, in: Rossija XVIII v. glazami inostrancev, Leningrad 1989, S. 170. 38 Michail D. Čertok, Russij voennyj marš. K 100-letiju marša „Proščanie slavjanki“, Moskva 2012, S. 18.

Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“

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Es ist wichtig anzumerken, dass die Militärmusik nicht vom damals geltenden Verbot betroffen war, auf Festen unterschiedlichster Art zu musizieren. Das Verbot betraf in erster Linie die Spielleute, und die Kirche kämpfte damit vermutlich nicht gegen die Musik an sich, sondern gegen Musik im eindeutigen Kontext „Musik-HeiterkeitMüßiggang-Sünde“. Die Militärmusik jedoch, die eine andere Rolle spielte und die eine praktische Bedeutung hatte, konnte sich behaupten. Ohnehin wurden die Verbote, die von der Kirche inspiriert und von der Zarengewalt Mitte des 17. Jahrhunderts durchgesetzt wurden, von der Bevölkerung nur recht widerwillig eingehalten. Deshalb waren besonders eifrige Priester, die versuchten, jegliche Erscheinungsform des Wanderkomödiantentums zu bekämpfen, nicht selten gezwungen, der „Stimme des Volkes“ nachzugeben.³⁹ Außerdem verwendeten die Regimenter der „neuen Ordnung“ in ihrer Militärmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer öfter westeuropäische Instrumente, die beim einfachen Volk nicht verbreitet waren und die gewohnten russischen Instrumente verdrängten. Dies machte den Unterschied zwischen der Militärmusik und der einfachen Volksmusik, die ja bekämpft wurde, noch stärker. Aber auch wenn die Obrigkeit gegen die sündigen Volksfeste und dementsprechend auch gegen die Spielleute vorging, die ganz selbstverständlich zu diesen Feierlichkeiten dazugehörten, wandte sie sich nicht gegen die weltliche Musik als solche. Die russische Musikkultur hatte sich zwar so entwickelt, dass die weltliche Musik in Russland aus der Sicht des Volkes vorwiegend durch die Instrumentalmusik der wandernden Komödianten repräsentiert wurde, und das Verbot dieser Feste traf auch ihre musikalische Komponente. Aber dies war keine Einschränkung der Musik an sich. Die Militärmusik ließ sich nicht in die Antinomie „geistliche Musik – Volksfestmusik“ einordnen. Sie hatte rein praktischen Charakter, weil sie nicht zur Unterhaltung gespielt wurde, sondern zu dem Zweck, eine besonders feierliche Atmosphäre zu schaffen. In diesen Grenzen stand der Verwendung der weltlichen Militärmusik in der neuen Regimentern nichts im Wege. Die Musik der Regimenter der „neuen Ordnung“ gehörte nicht zum Alltag des Volkes und wurde von den Beschlüssen der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit nicht eingeschränkt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Kultur der Militärmusik in Russland weiter, und dieser Prozess war noch lange nicht abgeschlossen. Vorerst erfüllte die Militärmusik mehr oder weniger praktische Aufgaben. Majakin hat einige grundlegende Funktionen der Kultur der Militärmusik unterschieden: die Begleitung verschiedener Rituale und Zeremonien, das Geben von Signalen und die Stärkung des Kampfgeistes, die musikalische Begleitung der Truppen während des Feldzugs und im Lager, die Erziehung von Soldaten zur Vaterlandsliebe, die Vermittlung historischen Wissens in musikalischer Form und die Gestaltung von Freizeit und Erholung.⁴⁰ Wenn man dieses Schema als Arbeitsgrundlage benutzt und es auf die

39 Aleksej A. Belkin, Russkie skomorochi, Moskva 1975, S. 76–79, 86–88. 40 Majakin, Voenno-muzykal󸀠 naja kul󸀠 tura Rossii, S. 21.

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reale Militärmusik der Regimenter der „neuen Ordnung“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts anwendet, dann stellt man fest, dass diese Musik lediglich drei der oben genannten Funktionen erfüllte. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert wird man davon sprechen können, dass die Entstehungsphase der Kultur der Militärmusik in Russland zum Abschluss kam. Damals wurde die Militärmusik zu einem unverzichtbaren Bestandteil des kulturellen Lebens im Lande. Dass dieser Prozess langsam, aber sicher schon im der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann, wird man wohl kaum bestreiten können. Die Organisation von Regimentern der „neuen Ordnung“, der Wunsch der russischen Regierung, die militärische Erfahrung aus Europa zu nutzen, und das Anwerben von Ausländern für die Kommandoebene, die ihre eigenen Vorstellungen von Militärmusik mitbrachten, hatten konkrete Folgen: Es kamen Musikinstrumente auf, die für Russland neu, aber in Europa üblich waren. Sie wurden vor allem in den Soldatenregimentern in Gebrauch genommen. Die ausländischen Musiker, die für den Dienst in den Regimentern der „neuen Ordnung“ rekrutiert worden waren, fungierten als reale Vermittler musikalischer Innovationen. Allem Anschein nach war die Militärmusik in den Regimentern der „neuen Ordnung“ heterogen, denn man muss zwischen der Musik der Kavallerie- und der Soldatenregimenter unterscheiden. In den KavallerieRegimentern wurden Pauken und Trompeten verwendet. Dementsprechend basierte die Musik auf der Veränderung der Dynamik des Klangs und auf dem Rhythmus. In den Soldatenregimentern hingegen wurde mit der zunehmenden Verbreitung der als „Rohrpfeifen“ (sipovki) bezeichneten Flöten ein Schritt in die Richtung einer ausgeprägten Melodik gemacht. Bei der Erforschung der Militärmusik der neuen Ordnung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts setzen sich die Wissenschaftler unausweichlich der Gefahr aus, deren Bedeutung zu über- oder zu unterschätzen. Selbstverständlich sollte man den Durchbruch der russischen Musik auf diesem Gebiet nicht überbewerten – immerhin war die Verbreitung der Militärmusik westeuropäischen Typs begrenzt und ging nicht weit über die Grenzen des Armeemilieus hinaus. Die Musik der Regimenter der „neuen Ordnung“ stand erst am Anfang ihrer Entwicklung und der allmählichen Verwandlung der Militärmusik in eine relativ unabhängige Welt. Zu Beginn erfüllte sie lediglich eine Signalfunktion und wurde sie vorwiegend nur bei Festveranstaltungen gespielt. Aber andererseits wäre es ein Fehler, die Bedeutung der Musik der Regimenter der „neuen Ordnung“ für die Entwicklung der weltlichen Musik im neuzeitlichen Russland zu unterschätzen. Bis zur Hälfte des 17. Jahrhunderts waren Spielleute für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die wichtigste Möglichkeit, weltliche statt geistlicher Musik zu hören. Aber der fortwährende, manchmal abflauende, dann wieder aufflackernde Kampf der russisch-orthodoxen Kirche gegen die wandernden Komödianten schuf unvermeidlich eine Spannung bei der Wahrnehmung ihrer Musik. Die gewisse Aura des Verbotenen, die die Musik der Spielleute umgab, und die Distanz, die aus diesem Grunde zwischen dem Spielmann und dem Publikum existierte, führten zu Hindernissen im Kommunikationsweg zwischen „Interpret und Zuhörer“. Gewiss, die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist von der Verbreitung

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weltlicher Musik westeuropäischen Typs und der damit einhergehenden Verwendung von Instrumenten gekennzeichnet, die für Russland neu waren. Aber diese Musik verbreitete sich im Kreis der herrschenden Elite und auch da nur in einem begrenzten Teil von ihr. Die Militärmusik der Regimenter der „neuen Ordnung“, die zu verschiedenen festlichen Anlässen gespielt wurde, etwa bei Empfängen von Gesandten, war einem viel größeren Personenkreis zugänglich. Die Musik der Regimenter der „neuen Ordnung“ fungierte vor der Epoche der petrinischen Reformen als Vermittler der Errungenschaften der westeuropäischen Musik und hatte so die potenzielle Möglichkeit, den Musikgeschmack der Russen zu beeinflussen. Ob dieses Potenzial auch genutzt werden konnte, d. h., ob die Militärmusik der Regimenter der „neuen Ordnung“ tatsächlich auf die einen oder anderen Bevölkerungsgruppen Einfluss ausgeübt hat, indem sie deren Musikgeschmack veränderte – diese Fragen wird man erst durch weitere Forschungen beantworten können.

Andrej V. Topyčkanov

Die Musik in den ländlichen Zarenresidenzen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die Blütezeit der Zarenresidenzen. Wenn es 1613 gerade noch rechtzeitig zur Ankunft von Zar Michail Fedorovič gelang, einige Räume im Kremlpalast zu renovieren,¹ so hatten die Romanovs bis zum Ende des 17. Jahrhunderts das Gebäude bereits fertiggestellt und erweitert, den Kreml󸀠 verziert und rings um Moskau 22 Residenzen mit Holzhäusern und „kleinen Hütten für die Besuche des Herrschers“ geschaffen. Außerdem hatten sie Paläste in Troice-Sergiev, Savvino-Storoževsk, Novodevič󸀠 i und anderen Klöstern errichtet.² Mit der Entwicklung eines Netzes von Residenzen bildete sich dort eine ganz eigene Kultur heraus.³ Forschungen zur Raumaufteilung innerhalb der zarischen Landsitze haben ergeben, dass es innerhalb dieser Güter mehrere Bereiche gab: den Hof des Herrschers, die dörfliche Siedlung und das Territorium in deren Umgebung.⁴ Im Verlauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lief ein Differenzierungsprozess zwischen dem Hof des Herrschers und der dörflichen Siedlung ab, der freilich zum Ende des Jahrhunderts noch lange nicht abgeschlossen war. Deshalb blieb etwa der Platz vor dem Hof des Herrschers nach wie vor der wichtigste Ort im Dorf.

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Dvorcovye razrjady, Bd. 1: 1612–1628, Sankt-Peterburg 1850, Sp. 1153f. 2 Im Russland des 17. Jahrhunderts wurden die ländlichen Residenzen als Palast- oder Monarchendörfer bezeichnet. Es gab kein einheitliches Verzeichnis von Residenzen mit Palästen und „kleinen Hütten“. Ihre Zahl wurde anhand von Verzeichnissen und anhand der Baudokumentation des Amtes für Geheime Angelegenheiten sowie des Amtes des Großen Hofes errechnet, die von der Mitte der 1670er bis zu den 1690er Jahren reicht. Vgl. Russkaja istoričeskaja biblioteka, Bd. 21: Dela Tajnogo prikaza, Kn. 1, Sankt-Peterburg 1904, Sp. 200–275. Ivan E. Zabelin, Domašnij byt russkogo naroda v XVI i XVII st., Bd. 3: Domašnij byt russkich carej i caric v XVI I XVII st.: Materialy, Moskva 2003. 3 Vgl. O.R. Chromov, Podmoskovskaja votčina Alekseja Michajloviča. Predvaritel󸀠 nye tezisy k vosprijatiju stilja carskich usadeb, in: Germenevtika drevnerusskoj literatury, Sbornik 4, Moskva 1992, S. 286– 301. I.L. Buseva-Davydova, Carskie usad󸀠 by XVII v razvitii russkoj architektury, in: Russkaja usad󸀠 ba: Sbornik Obščestva izučenija russkoj usad󸀠 by, Vyp. 1 (17), Moskva/Rybinsk 1994, S. 140–144. Dies., Carskie usad󸀠 by XVII v. i ich mesto v istorii russkoj architektury, in: Architektura russkoj usad󸀠 by, Moskva 1998, S. 38–49. Andrej V. Topyčkanov, Povsednevnaja žizn󸀠 dvorcovogo sela Izmajlova v dokumentach prikaznoj izby poslednej četverti XVII veka, otv. red. Sigurd O. Šmidt, Moskva 2004. Ders., Povsednevnaja žizn󸀠 Kolomenskogo dvorca vtoroj poloviny XVII veka, Moskva 2010. 4 Vgl. ausführlicher zur Strukturierung der ländlichen Zarenresidenzen vgl. Andrej V. Topyčkanov, „Gosudarev dvor“ dvorcovoj usad󸀠 by vo vtoroj polovine XVII v. i ego posetiteli, in: E. A. Verchovskaja (Hrsg.), Kolomenskoe: materialy issledovanija, Vyp. 11, Moskva 2008, S. 16–21. Ders., Povsednevnaja žizn󸀠 Kolomenskogo dvorca vtoroj poloviny XVII veka, Moskva 2010. DOI 10.1515/9783110520224-004

Die Musik in den ländlichen Zarenresidenzen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts |

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Das Territorium des Herrscherhofs hatte die für Russland traditionelle Aufteilung in einen vorderen (Parade-)Hof und in einen hinteren (Wirtschafts-)Hof. Zwischen ihnen befand sich der Palast, an den sich in einer Reihe von Residenzen die Hauskirche anschloss. Wenn es auf dem Territorium des Herrscherhofs keine Kirche gab, wurde ein Kirchturm gebaut. Die Planung des Palasts entsprach der Struktur der Zarenfamilie: Jedem erwachsenen Familienmitglied stand ein eigenes Gebäude oder mehrere Räume innerhalb des Gebäudes zu. Diese Räume waren hintereinander angeordnet – „die Außentreppe“, „der hintere Flur“, „das Vorzimmer“, „das [erste] Zimmer“, „das zweite [Zimmer]“, „das dritte [Zimmer]“ und „das vierte [Zimmer]“. Die meisten Zimmer hatten eine feste Funktion: am vorderen Hauseingang fanden die Zeremonien statt: die öffentlichen Auftritte des Zaren vor allem an kirchlichen Feiertagen, die Verteilung von Piroggen an die Höflinge, wenn Mitglieder der Zarenfamilie Namenstag hatten. Die Audienzen fanden in der Regel im Vorzimmer statt, seltener im ersten Zimmer. Im dritten Zimmer war traditionell das Kreuz- oder Gebetszimmer untergebracht. Für Haushaltszwecke wurden der Hintereingang und der hintere Flur verwendet, die an der inneren Fassade lagen. An die Herrschergebäude des Palasts von Kolomenskoe grenzte der Speisesaal an, wo die Gastmahle des Zaren und andere Festzeremonien stattfanden. Im Flur vor dem Speisesaal tagten oft die Kommissionen der Bojaren. Die meisten Besucher des Palastes durften nur die Außentreppe, den vorderen Flur und das Vorzimmer des Herrschergebäudes betreten, außerdem den Flur vor dem Speisesaal und den Speisesaal selbst. Zutritt zu den anderen Räumen erhielt nur ein sehr kleiner Personenkreis: die Leiter der Hofkanzleien, die Kammerdiener, die Truchsesse und die Bediensteten. Die soeben vorgestellte räumliche Struktur der ländlichen Residenzen erlaubt es uns, die wichtigsten Hofzeremonien genauer zu lokalisieren, auch diejenigen, die von Vokal- und Instrumentalmusik begleitet wurden.

1 Vokalmusik Der Kirchengesang nahm in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Alltagsleben des Hofes einen wichtigen Platz ein. Am häufigsten wurden Lieder während der Gottesdienste gesungen. In den ländlichen Residenzen wurden die folgenden Gottesdienste gefeiert: der Abendgottesdienst (die kleine Vesper, die Nachtwache), die Morgenandacht, die Liturgie und die Andachten. Mit Ausnahme der Morgenandacht lassen sich alle anderen Gottesdienste genau lokalisieren. Der Abendgottesdienst und die Andachten wurden in der bei den Residenzen gelegenen Kirche, im Kreuz (bzw. Gebets-)zimmer oder im Speisesaal des Palastes abgehalten.⁵ Es ist ein Fall bekannt,

5 Vgl. für ein Verzeichnis der Kirchen: Vychody gosudarej, carej i velikich knjazej, Michaila Fedoroviča, Alekseja Michajloviča, Fedora Alekseeviča vseja Rusi samoderžcev (s 1632 po 1682), Moskva 1844.

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in dem ein Abendgottesdienst in einem Pavillon abgehalten wurde, der sich im Garten beim Palast Vorob󸀠 ev befand.⁶ Die Liturgie wurde nur in Kirchen gefeiert. Nicht selten besuchte der Zar die unterschiedlichen Gottesdienste des Tages an verschiedenen Orten: die Nachtwache im Palast außerhalb der Stadt und die Liturgie in der Mariä-Himmelfahrts-Kirche des Moskauer Kremls, in einem Kloster im Moskauer Umland oder auf einem anderen Landsitz. So war Zar Aleksej Michajlovič am 1. September, als Neujahr und der Namenstag der Prinzessin Marfa Alekseevna gefeiert wurden, oft zur Nachtwache in Kolomenskoe, während er die Liturgie und den Neujahrsgottesdienst in der Mariä-Himmelfahrts-Kirche des Moskauer Kremls beging. Danach kehrte er nach Kolomenskoe zurück, wo er seine engsten Vertrauten anlässlich des Namenstags der Prinzessin mit Piroggen beschenkte.⁷ Der Besuch der Gottesdienste in den ländlichen Residenzen wurde manchmal auf die Namenstage der Mitglieder der Zarenfamilie abgestimmt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildete sich die Tradition heraus, die Namenstage auf bestimmten Landsitzen zu feiern. So begingen die Zaren Fedor Alekseevič, Petr Alekseevič und die Prinzessin Feodossija Alekseevna ihre Namenstage anfangs in Vorob󸀠 ev,⁸ Zar Ivan Alekseevič, die Prinzessinnen Anna Michajlovna und Marfa Alekseevna hingegen in Kolomenskoe.⁹ Außer zu den Gottesdiensten kam der Zar in die ländlichen Residenzen, um an einigen anderen kirchlichen Zeremonien teilzunehmen. Vor allem war er bemüht, bei der Weihe der Kirchen seiner Residenzen anwesend zu sein. So war Zar Fedor Alekseevič etwa in der Residenz Izmajlovo bei der Weihe aller dortigen Kirchen präsent: bei der Weihe der Mariä-Schutz-Kathedrale (am 1. Oktober 1679), der oberen Apsis der Kirche des indischen Königssohns Josaphat (am 18.-19. November desselben Jahres), der unteren Allerheiligenkirche des indischen Königssohns Josaphat (am 5.-7. Juni 1680).¹⁰ Der Monarch kam auch zur Weihe der lokalen Dorfkirchen, die für die Bauern gedacht waren.¹¹ Vorwiegend in den ländlichen Residenzen wurde der Feiertag der Auffindung (des Hinaustragens) wahrhafter Stücke vom Kreuze des Herrn (am 1. August alten Stils) gefeiert. In Byzanz war es üblich, an diesem Tag ein Kreuz auf die Straße hinauszutragen, um Krankheiten abzuwenden und die Straßen und Plätze der Stadt zu weihen. Im russischen Kalender ist dieser Feiertag seit der vormongolischen Periode bekannt.

6 Vychody gosudarej, S. 671. 7 Vychody gosudarej, S. 362, 425, 447, 604. 8 Vychody gosudarej, S. 461, 576, 598, 599, 605, 700, 605, 685. 9 Vychody gosudarej, S. 162, 300, 361, 362, 381–382, 424, 425, 446, 447, 517, 558, 600, 603, 604, 674. 10 Dvorcovye razrjady, Bd. 4: S 1676 po 1701, Sankt-Peterburg 1855, Sp. 118–120, 127, 158–159. 11 Zar Fedor Alekseevič war zum Beispiel bei der Weihung der Dorfkirche des Heiligen Georgs des Siegers in Kolomenskoe anwesend (vgl. Vychody godusarej, S. 651. Pavel V. Sedov, Pochody carja Fedora Alekseeviča v selo Kolomenskoe, in: Kolomenskoe: Materialy i issledovanija, Vypusk 13, Moskva 2011, S. 301. RGADA, F. 396, op. 1, ed. chr. 17070).

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Seit dem 16. Jahrhundert begaben sich die Herrscher Russlands an diesem Tag in ein Kloster, wo Wasser geweiht wurde und man „in den Jordan“ eintauchte.¹² Zar Aleksej Michajlovič verlegte die Feier der Auffindung (des Hinaustragens) wahrhafter Stücke vom Kreuze des Herrn in die ländlichen Residenzen. An diesem Tag wurde gewöhnlich die feierliche Weihe des landwirtschaftlichen Nutzlands im Palastdorf Izmajlovo vollzogen. Zu diesem Zweck erstellte der Zar 1670 eigenhändig eine Gottesdienstordnung für die Weihe der Felder von Izmajlovo. Darin legte er die Funktion der zarischen Chorsänger und der Geistlichkeit fest.¹³ Der Chor des Monarchen nahm wiederholt an dieser Zeremonie teil.¹⁴ Fedor Alekseevič verlegte die Feier dieses Feiertags nach Kolomenskoe und schuf dafür eine neue Gottesdienstordnung. Nach dem Festgottesdienst in der Kazaner Hauskirche bewegte sich die Kirchenprozession zum Moskva-Fluss, wo in einer eigens errichteten bemalten Gartenlaube eine Andacht und die Wasserweihe stattfanden. 1679 nahm der Hofdichter Simeon Polockij an dieser Zeremonie teil. Er rezitierte ein „Gedicht am Tag der Auffindung des wahren und Leben spendenden Kreuzes des Herrn“, in dem er Christus bat, „das russländische Land vor dem Feind zu bewahren“, „das Heer durch die Kraft des Kreuzes zu stärken, damit es seine Gegner vernichtend schlägt“.¹⁵ Vor dem Ende der Herrschaft Fedor Alekseevičs wurde eine ähnliche Zeremonie regelmäßig in Kolomenskoe vollzogen. 1681 fand sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Speisesaal des Palasts von Kolomenskoe statt, weil sich der Zar unwohl fühlte. Eine Vorstellung von der Prozession des Zaren an den Moskva-Fluss vermittelt ein Zyklus von Gouache-Malereien aus den 1830er Jahren mit dem Titel „Ansicht vom Zarenpalast im Dorf Kolomenskoe“.¹⁶

12 Ivan E. Zabelin, Domašnij byt russkogo naroda v 16. i 17. St., T. 1: Domašnij byt russkich carej v XVI i SVII st. Č. 1, Moskva 2000, S. 450f. 13 Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (RGADA), F. 27, Op. 1, D. 347, L. 4 ob. Der Text wurde veröffentlicht in: Zapiski otdelenija russkoj i slavjanskoj archeologii Russkogo archeologičeskogo obščestva, Bd. 2, Sankt-Peterburg 1861, S. 702. Für Korrekturen an der Publikation vgl. Aleksandr I. Zaozerskij, Carskaja votčina XVII v. Iz istorii chozjajstvennoj i prikaznoj politiki carja Alekseja Michajloviča, Moskva, 2., durchgesehene und korrigierte Auflage 1937, S. 84. 14 Vgl. zum Beispiel: Nikolaj P. Parfent󸀠 ev, Professional󸀠 nye muzykanty rossijskogo gosudarstva XVIXVII vv.: Gosudarevy pevčie d󸀠 jaki i patriarščie pevčie d󸀠 jaki i podd󸀠 jaki, Čeljabinsk 1991, S. 130, 172, 176, 183, 201, 202, 323. 15 Otdel rukopisej Gosudarstvennogo istoričeskogo muzeja. Sinodal󸀠 noe sobranie. No 287. Simeon Polockij. „Rifmologion“, 1680 g., l. 641–648 ob. Siehe auch: Vladimir E. Suzdalev, Očerki istorii Kolomenskogo, Moskva, 4., erweiterte Auflage 2008, S. 123. Sedov, Pochody carja Fedora Alekseeviča v selo Kolomenskoe, Moskva 2011, S. 74, 78, 79. 16 M. N. Il󸀠 ina, Izobraženija kolomenskich dvorcov v sobranii Moskovskogo gosudarstvernnogo obedinennogo muzeja-zapovednika Kolomenskoe-Izmajlovo-Lefortovo-Ljublino, Moskva 2012, S. 36–40, Nr. 11–14. Diese Serie wurde in einigen Exemplaren hergestellt, die ebenfalls im Staatlichen Historischen Museum und im staatlichen Ščusev-Architekturmuseum für wissenschaftliche Forschung (beide in Moskau) verwahrt werden.

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Die Bilder, die von einem unbekannten Künstler fünfzig Jahre nach dem Abriss des Schlosses geschaffen wurden, zeigen den Palast und die Prozession mit erstaunlicher Genauigkeit. Offenbar hatte der Schöpfer dieses Zyklus bestimmte Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert vor Augen.¹⁷ Im Prozessionszug geht die Geistlichkeit mit Kirchenfahnen voran, dann folgt der Zar, der von Leibwächtern, Bojaren und anderen Personen umgeben ist. Am Rand der Prozession befinden sich Regimenter der Strelitzen. Auf der Gouache-Malerei fehlen die Chorsänger, die üblicherweise vor dem Zaren liefen. Es ist offensichtlich, dass die Prozession von Kolomenskoe in vielerlei Hinsicht die Prozession an den Moskva-Fluss wiederholte, die an Epiphanias stattfand und die aus Beschreibungen und Zeichnungen von Ausländern bekannt ist. Kirchengesänge begleiteten auch verschiedene Zeremonien, die keinen Gottesdienstcharakter hatten: Gastmahle und Paraden des Zaren, zum Beispiel die Militärparade von 1664 in Semenovsk, das sich in der Nähe der Residenz von Preobraženskoe befand.¹⁸. Die Chorsänger des Herrschers führten mitunter im Vestibül oder im Speisesaal des Palastes einige Werke vor dem Zaren auf. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts transferierte man manchmal Zeremonien, die von geistlichem Gesang begleitet wurden, aus Moskau in die ländlichen Residenzen. 1672 verlegte Zar Aleksej Michajlovič aus unbekannten Gründen den Ritus der weihnachtlichen Lobpreisung Christi in den soeben fertiggestellten Palast von Kolomenskoe.¹⁹ Ein anderes Beispiel für die Verlegung eines Zeremoniells fällt in die Zeit des Strelitzenaufstands von 1682, als die Zarenfamilie aus Angst vor der Rebellion der Strelitzen darauf verzichtete, nach Moskau zurückzukehren und das Neujahrsfest in Kolomenskoe verbrachte.²⁰ Aufgeführt wurden die Kirchengesänge meistens von den Sängern aus der Kantorei des Monarchen und insbesondere von den Kirchenbeamten (russ.: „krestovye d󸀠 jaki“), die die Zarenfamilie stets begleiteten. Sie verwahrten den Kirchenschatz, der alles enthielt, was für den Gottesdienst nötig war, und führten eine Menge privater Aufträge aus. Dass die Kirchenbeamten der Zarenfamilie nahestanden, bezeugt Boris Kurakin, der die Kirchenbeamten der Prinzessinnen als „Galane“ für ihre „Pläsiere“ bezeichnete.²¹ Möglicherweise war dies eine Anspielung auf engere Beziehungen zwischen den Kirchenbeamten und den Prinzessinnen. Entsprechende Gerüchte waren an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert verbreitet. In einer Gerichtsakte aus

17 Zur gleichen Zeit, in den 1830er Jahren, entstand ein Bild, das die Residenz Izmajlovo auf der Grundlage des Kupferstichs von Fedor Zubov „Izmajlovo“ aus den Jahren 1728–1729 darstellt (publiziert in: N. S. Datieva, Pokrovskij sobor v Izmajlove, in: Vsevolod P. Vygolov (Hrsg.), Pamjatniki russkoj architektury i monumental󸀠 nogo iskusstva: Goroda, ansambli, zodčie, Moskva 1985, S. 72). 18 Materialy dlja istorii, archeologii i statistiki goroda Moskvy, pod ruk. I. E. Zabelina, Teil 1, Moskva 1884, Sp. 1229–1237. 19 Parfent󸀠 ev, Professional󸀠 nye muzykanty, S. 42f. 20 Dokumente über die Verlegung des Festes sind publiziert in: Viktor I. Buganov/N. G. Savič (Hrsg.), Vosstanie v Moskve 1682 goda. Sbornik dokumentov, Moskva 1976. 21 Archiv kn. F. A. Kurakina, Sankt-Peterburg 1890, Kn. 1, S. 54–55.

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dem Jahr 1704 wird ein Gerücht erwähnt, dass „die Töchter des Monarchen angeblich mit den Chorsängern zusammenleben und Kinder zur Welt bringen und diese Kinder den Chorsängern überlassen.“²² Diese Gerüchte haben bisher keine Bestätigung gefunden. Das gerichtliche Untersuchungsverfahren zum Strelitzenaufstand von 1698 hat aber gezeigt, dass die Kirchenbeamten der Zarenfamilie tatsächlich nahestanden und streng geheime Aufträge ausführten.²³ In der Korporation der Sänger des Zaren taten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwei Ensembles hervor. Eines von ihnen führte traditionelle Lieder auf, während das andere auf (mehrstimmigen) Partes-Gesang spezialisiert war.²⁴ Die Rolle eines jeden Ensembles im Hofleben wurde sowohl von den Traditionen als auch von den persönlichen Vorlieben des jeweiligen Herrschers bestimmt. Großes Interesse für den mehrstimmigen Gesang hegte Zar Fedor Alekseevič, unter dessen Herrschaft 1678–1679 ein Chor für Partes-Gesang gegründet wurde. In diesem Ensemble spielten Sänger polnischer und ukrainischer Herkunft eine wichtige Rolle.²⁵ Eher selten wurden andere Gesangsensembles in die Zarenresidenzen eingeladen. Anfang der 1690er Jahre hörte die Zarenfamilie in der Residenz Izmajlovo den Chor der ukrainischen „Sänger“ des Bojaren Lev Kirillovič Naryškin, des Bruders der Zarin Natal󸀠 ja Kirillovna²⁶. Dieser Chor war Anfang der 1690er Jahre in Moskau recht bekannt.²⁷ Diese Einladung kam aufgrund der intensiven Kontakte zwischen den Zarenresidenzen und den Gütern Lev Naryškins zustande.²⁸ In den 1670er und 1680er Jahren erweitert sich das Repertoire der höfischen Vokalmusik: Nun gibt es Konzerte mit Partes-Gesang, Cantica, Gedichten sowie Lobreden, die vertont wurden oder die musikalische Einschübe enthielten – etwa die Vertonung des Psalters in Versen von Simeon Polockij.²⁹ Obwohl in diesen Werken die religiöse Thematik überwog, waren sie nicht für den Gottesdienst gedacht und können daher im Kontext der Säkularisierung der höfischen Kultur gesehen werden. Sie wurden im

22 Nikolaj Ja. Novombergskij, Slovo i delo gosudarevy, Bd. 2: Materialy; Priloženie. Koldovstvo v Moskovskoj Rusi XVII stoletija, Moskva 2004, S. 81. 23 Vgl. hierzu zum Beispiel die Biografie der Sänger aus der Kantorei des Zaren Ivan Podvinskij und Fedor Žuravskij, die unter den Prinzessinnen Sof󸀠 ja und Marija Alekseevna dienten: Parfent󸀠 ev, Professional󸀠 nye muzykanty, S. 210, 329. Marina V. Čistjakova, Monachini „s Beloj Rosi“ v Novodevič󸀠 em monastyre, Moskva 2000, S. 109–116. 24 Čistjakova, Monachini, S. 11–13. 25 Vgl. Pavel V. Sedov, Zakat Moskovskogo carstva. Carskij dvor konca XVII veka, Sankt-Peterburg 2007, S. 494. 26 Vgl. Sbornik vypisok iz archivych bumag o Petre Velikom, Bd. 1, Moskva 1872, S. 285. 27 Vgl. zum Beispiel: Georgij V. Forsten, Snošenija Švecii i Rossii vo vtoroj polovine XVII veka, 1648– 1700, in: Žurnal ministerstva narodnogo prosveščenija, Sept. 1899, S. 79f. 28 Diese Kontakte gab es nicht nur auf der Ebene der Gutsherren, sondern auch auf der Ebene der Beamten, der Handwerker und der Diener (vgl. zum Beispiel: RGADA, F. 159, op. 2, ed. chr. 4193, l. 9). 29 Parfent󸀠 ev, S. 42. Lidija I. Sazonova, Literaturnaja kul󸀠 tura Rossii. Rannee Novoe vremja, Moskva 2006, S. 331–335. Sedov, Zakat Moskovskogo carstva, S. 494–501.

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Vorzimmer und im Speisesaal von Palästen und in Kirchen aufgeführt. So wurde etwa das Gedicht zu Ehren des Heiligen Josaphat, des indischen Königssohns, in der Hauskirche der Residenz Izmajlovo vorgetragen.³⁰ Karion Istomins „Wohlgefälliger Gruß“ (russ.: „Želatel󸀠 noe privetstvo“) wurde im Vorzimmer des Palasts von Izmajlovo rezitiert. Das Werk war der Hochehrwürdigen Märtyrerin Evdokija und der Prinzessin gewidmet, die zu ihren Ehren auf den Namen Evdokija Fedorovna getauft worden war.³¹

2 Instrumentalmusik 1648 wurden durch einen Zarenerlass das Wanderkomödiantentum und die russische traditionelle Instrumentalmusik verboten. Ivan Zabelin, der sich auf Zeugnisse des deutschen Reisenden Adam Olearius stützte, war überzeugt, dass dieses Verbot zu völligen Abschaffung des Wanderkomödiantentums und der Instrumentalmusik bei Hof führte. Seiner Darstellung zufolge „verwandelte sich der Zarenpalast im Hinblick auf seine Sitten und Regeln allmählich in ein wahres Kloster“, und im Lustschloss blieben nur Hofbettler, die geistliche Lieder und altrussische Heldengedichte sangen und fromme Geschichten erzählten.³² Später stellte man fest, dass die Verbote des Zaren und des Patriarchen nur begrenzte Wirkung hatten und dass überall gegen sie verstoßen wurde.³³ Die Hofkomödianten überließen ihren Platz russischen und ausländischen Spielleuten, die dann ähnliche Funktionen erfüllten und ebenfalls im Lustschloss der Kremlpalasts Dienst taten. So befand sich während des Kupfergeld-Aufstands von 1662 gerade eine Truppe „deutscher Spielleute“ in der Residenz Kolomenskoe.³⁴ Welche Aufgaben sie hatten, kann man der Beschreibung des zarischen Vergnügungsprogramms vom 21. Oktober 1674 entnehmen. Nach dem Abendessen „geruhte“ Zar Aleksej Michajlovič, sich im Lustschloss des Kremlpalasts „an allen mög-

30 Aleksandr I. Kirpičnikov, Grečeskie romany v novoj literature. Povest󸀠 o Varlaame i Ioasafe, Char󸀠 kov 1876, S. 179f. Zur Rezitation von Versen in Kirchen vgl.: Sazonova, Literaturnaja kul󸀠 tura, S. 335–340. 31 Pamjatniki obščestvenno-političeskoj mysli v Rossii konca XVII v. Literaturnye panegiriki. Podg. teksta, predisl. i komment. A. P. Bogdanova, Moskva 1983, S. 232. Dvorcovye razrjady, Bd. 4, Sp. 469. 32 Zabelin, Domašnij byt russkogo naroda v XVI i XVII st., Bd. 1: Domašnij byt russkich carej v XVI I XVII st., Teil II, Moskva 2000, S. 291–297. Siehe auch: Aleksandr S. Famicyn, Skomorochi na Rusi, Sankt-Peterburg 1889, S. 183–188. 33 Vgl. zum Beispiel: Aleksej A. Belkin, Russkie skomorochi, Moskva 1975. Aleksandr M. Pančenko, Russkaja kul󸀠 tura v kanun petrovskich reform, Leningrad 1984. Vladimir V. Košelev, Skomorochi i skomoroš󸀠 ja professija, Sankt-Peterburg 1994. Vladimir V. Košelev (Hrsg.), Skomorochi: Problemy i perspektivy izučenija (k 140-letiju so dnja vychoda pervoj raboty o skomorochach): Sbornik statej i referatov meždunarodnogo simpoziuma (Sankt-Peterburg, 22–26 nojabrja 1994 g.), Sankt-Peterburg 1994. Vgl. für eine der neuesten Arbeiten: Claudia R. Jensen, Musical Cultures in Seventeenth-Century Russia, Bloomington 2009. 34 Vladimir I. Buganov (Hrsg.), Vosstanie 1662 g. v Moskve: Sbornik dokumentov, Moskva 1964, S. 93.

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lichen Spielen zu ergötzen: und die Deutschen spielten Orgel und Surna [russ. Form der Oboe, Anm. d. Übers.], bliesen in ihre Trompeten und spielten auf kleinen Surnas und schlugen auch so fest wie sie nur konnten auf ihre Trommeln und Pauken.“³⁵ So unterhielten die Spielleute (russ.: Potešniki) den Zaren mit Instrumentalmusik. Die Begeisterung des Zaren für Instrumentalmusik musste auch das Hoftheater befriedigen. Dessen Musikanten konnten singen und Orgel, Trompete, Flöte, Klarinette, Posaune, Geige, Viola da Gamba, „Trompetengeige“ (tromba marina) sowie weitere Instrumente spielen.³⁶ Das Theater wurde vom Bojaren Artamon Matveev am Hof Aleksej Michajlovičs gegründet und existierte etwas mehr als drei Jahre, von 1672 bis 1676, bis zum Tod des Zaren. Die Aufführungen fanden in Preobraženskoe und im Kremlpalast Ivan Miloslavskijs statt, der nun die Bezeichnung „Lustschloss“ (russ. „Potešnyj dvorec“) erhielt. Es ist bemerkenswert, dass der Zar an beiden Orten zunächst kein Theaterhaus in das Ensemble seiner Residenz aufnehmen ließ. Das Lustschloss im Kreml󸀠 und das „Komödienhaus“ (russ.: „Komedijnaja choromina“) in Preobraženskoe befanden sich nicht nur außerhalb des Palastes, sondern auch außerhalb des Zarenhofs, der den Palast umgab. Aber wegen der Kälte ordnete der Zar an, ein „Komödienhaus“ in den Zimmern über der Palastapotheke zu errichten.³⁷ Am bereits erwähnten Unterhaltungsprogramm für den Zaren vom 21. Oktober 1674 nahmen aller Wahrscheinlichkeit nach Musikanten des Hoftheaters teil, da der Bojar Artamon Matveev der Hauptorganisator des Konzerts war. Er versuchte, auch bei anderen Mitgliedern der Zarenfamilie Interesse für die Instrumentalmusik zu wecken. 1675 schenkte er dem Zarensohn Fedor Alekseevič Klavichorde und „zwei Ochtavkas“ (polnische Geigen).³⁸ Auch der Zarensohn Petr Alekseevič besaß Klavichorde.³⁹ Zu den Lieblingsinstrumenten des Zaren Aleksej Michajlovič gehörten tragbare Orgeln oder auch Orgelpositive.⁴⁰ Wie Nina Moleva festgestellt hat, gehörte schon in den 1650er Jahren zum Zuständigkeitsbereich der Palais-Kanzlei eine Werkstatt für Tasteninstrumente, in der Orgeln und Cembali hergestellt wurden – von „Vergnügungs“-Klavichorden bis zu großen tragbaren Orgeln.⁴¹ Welches hohe Niveau diese Werkstatt hatte, zeigt die Tatsache, dass sie Orgeln für den persischen Schah und für den Khan von Buchara herstellte. Zugleich wurden musikalische Tastenin-

35 Dvorcovye razrjady, Bd. 3 (S 1645 po 1676 g.), Sankt-Peterburg 1854, Sp. 1081. Vgl. für eine Beschreibung der Vergnügungen in Preobraženskoe: Dvorcovye razrjady, Bd. 3, Sp. 1131f. 36 Sergej K. Bogojavlenskij, Moskovskij teatr pri carjach Aleksee i Petre, Moskva 1914, S. 19, 31–32, 75–76. 37 Bogojavlenskij, Moskovskij teatr, S. 29–31. 38 Dvorcovye razrjady, Bd. 3 (S 1645 po 1676 g.), Sankt-Peterburg 1954, Sp. 1419. Zabelin, Domašnij byt, Bd. 3: Domašnij byt russkich carej i caric v XVI I XVII st.: Materialy, Moskva 2003, Pag. 2, S. 641f. 39 Zabelin, Domašnij byt, Bd. 3, S. 638. 40 Vgl. ausführlicher zu den Orgelpositiven im Russland des 17. Jahrhunderts: Leonid I. Rojzman, Iz istorii organnoj kul󸀠 tury v rossii (2 polovina XVII v.), in: Voprosy muzykoznanija, Bd. 3, Moskva 1960, S. 565–597. 41 Nina M. Moleva, Muzyka i zrelišča v Rossii XVII stoletija, in: Voprosy istorii 11 (1971), S. 153f.

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strumente in Europa eingekauft.⁴² Innerhalb des Kremlpalasts stand eine Orgel im Facettenpalast.⁴³ In den ländlichen Residenzen konnten die Orgeln im Palast verwendet werden (zum Beispiel, im Speisesaal des Palasts von Kolomenskoe) und im Komödienhaus in Preobraženskoe. Höchstwahrscheinlich wurde Orgelmusik gespielt, während der Zar in den Gärten und Hainen spazieren ging. Hierauf deutet die in den letzten Regierungsjahren Aleksej Michajlovičs und während der Herrschaft Fedor Alekseevičs übliche Praxis hin, im Garten, in den Hainen oder auf dem Deich am Fluß Jauza eine Tafelrunde abzuhalten.⁴⁴ Den Auftritten der Musikanten lauschte der Zar gewöhnlich nach dem Essen.⁴⁵ Während der Spaziergänge konnten auch andere Musikinstrumente zum Einsatz kommen, etwa Cembali, Geigen, Violen, Oboen, Waldhörner und Flöten, die im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts die traditionellen Musikinstrumente der Spielleute verdrängt hatten.⁴⁶ Den Hinweis, dass während des Spazierengehens mit Instrumenten aufgespielt wurde, kann man dem Bericht des Sekretärs des österreichischen Botschafters Johann Korb entnehmen, der Izmajlovo 1699 besuchte: „Hinter dem Botschafter liefen Musiker, um die harmonische Melodie ihrer Instrumente mit dem leisen Rauschen des Windes zu verbinden, der langsam von den Wipfeln der Bäume hinabsteigt. Die Zarin, der Zarensohn und die unverheirateten Zarentöchter gehen oft im Wäldchen spazieren und laufen gern auf den schmalen Fußwegen, um etwas Abwechslung in das ruhige Leben zu bringen, das sie an diesem bezaubernden Zufluchtsort führen. . . Es kam vor, dass die erlauchten Persönlichkeiten spazieren gingen, als plötzlich die lieblichen Klänge von Trompeten und Flöten ihr Ohr erreichten; dann blieben sie stehen, obwohl sie eigentlich schon in den Palast zurückkehren wollten. Als die Musiker sahen, dass man ihnen zuhörte, begannen sie noch schöner zu spielen. Einer versuchte den anderen zu übertreffen, damit ihr Spiel die allerdurchlauchtigsten Zuhörer veranlasste, noch länger an Ort und Stelle zu bleiben. Die Fürsten aus

42 Vgl. zum Beispiel: N. A. Baklanova, Privoznye tovary v Moskovskom gosudarstve vo vtoroj polovine XVII veka, in: Očerki po istorii torgovli i promyšlennosti v Rossii v 17 i v načale 18 stoletija, Moskva 1928, S. 104. 43 Zabelin, Domašnij byt, Bd. 3: Domašnij byt russkich carej, Pag. 1705, Pag. 3762. Im Palais des Bojaren und Fürsten Fürst Vasilij V. Golicyn stand die Orgel im Speisesaal, der dieselbe Funktion wie der Facettenpalast erfüllte, und im Schlafzimmer (Zabelin, Domašnij byt, Bd. 3, Pag. 1, S. 580, 590). 44 Vgl. zum Beispiel: Dvorcovye razrjady, Bd. 3, Sp. A.V. Topyčkanov, Povsednevnaja žizn󸀠 dvorcovogo sela Izmajlova, S. 144. 45 Vgl. Dvorcovye razrjady, Bd. 3, Sp. 1081. 46 Dazu gehören die folgenden Musikinstrumente: Blasinstrumente – Flöten (Pfeife, Panflöte, Sopel󸀠 (Holzflöte; in der russischen, ukrainischen und weißrussischen Volksmusik gebräuchliches Instrument)), Schalmeien (Surna, Dudelsack), Trompeten (Horn, Nefir󸀠 (in der Volksmusik gebräuchliches Instrument aus dem Kaukasus)); Saiteninstrumente (Gusli, Domra, Balalajka, Gudok (russisches Streichinstrument mit 3, seltener mit 4 Saiten), Smyk (altrussisches Streichinstrument), Geige) und Schlaginstrumente (Tamburine). Ausführlicher s.: Košelev, Skomorochi i skomoroš󸀠 ja professija, Sankt-Peterburg 1994, S. 7.

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der Zarenfamilie lobten die Kunst sämtlicher Musiker, nachdem sie eine Viertelstunde lang einer Symphonie gelauscht hatten.“⁴⁷ Vermutlich führten die ausländischen Gesandtschaften häufig das Spiel ihrer Musikanten vor. Zumindest warb das Gesandtschaftsamt zwei Musiker aus der Suite der kaiserlichen Gesandtschaft ab (sie nahmen den Platz der aus dem Hoftheater entlaufenen Musiker ein). Schließlich erklang Instrumentalmusik auch auf Militärparaden. Diese wurden in der Regel in der Nähe einiger Residenzen abgehalten: auf dem Devič󸀠 e-Feld gegenüber von Vorob󸀠 ev, auf den Wiesen der Kur󸀠 janovsker Flussniederung gegenüber Kolomenskoe und in der Nähe von Semenovsk. Zu Militärparaden wurden auf Trompeten und Trommeln gespielt. Das Interesse an Blasmusik nahm genau in dem Moment zu, als die Instrumentalmusik verboten wurde. Bereits in den 1660er Jahren entstand in Moskau die erste Schule für das Spiel auf Blasinstrumenten – die „Schule für die Unterweisung im Trompetenspiel“. In der Palais-Kanzlei, die für die Organisation des Alltagslebens am Zarenhof und in der Armee zuständig war, gab es eine große Nachfrage nach Trompetern.⁴⁸ Bis zur Schaffung der petrinischen Spielregimenter war in den Schlossresidenzen nur selten Trommelwirbel zu hören. Anfang der 1680er Jahre jedoch ließ Peter I. häufig Trommeln einsetzen, vor allem in Vorob󸀠 ev und in Preobraženskoe. Deshalb mussten häufig geplatzte Schlagfelle und gerissene Schnüre ausgewechselt werden.⁴⁹ Gegen Ende der 1680er Jahre nahm die europäische Instrumentalmusik wieder ihren berechtigten Platz in der höfischen Kultur ein. Karion Istomin hat in sein „Buch der Liebe zum Zeichen der ehrwürdigen Hochzeit“ (russ. „Kniga Ljubvi znak v česten brak“), das der Eheschließung Peters I. und Evdokija Fedorovnas im Jahr 1689 gewidmet war, Abbildungen von Musikern aufgenommen. Sie spielen die wichtigsten europäischen Musikinstrumente, die bei Hofe üblich sind.⁵⁰ Es ist bezeichnend, dass 41 Jahre zuvor, auf der Hochzeit des Zaren Aleksej Michajlovič mit Marija Il󸀠 inišna Miloslavskaja, anstatt Instrumentalmusik ausschließlich Kirchengesang zu hören gewesen war.

3 Fazit In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt sich die Vokal- und Instrumentalmusik in den ländlichen Zarenresidenzen räumlich folgendermaßen zuordnen: In den Kir-

47 Iogan Korb, Dnevnik putešestvija v Moskovskoe gosudarstvo, in: A. Liberman/S. Šokarev (Hrsg.), Roždenie imperii, Moskva 1997, S. 152. 48 Bogojavlenskij, Moskovskij teatr, S. 47f., 62f.; Moleva, Muzyka i zrelišča, S. 150 49 Grigorij V. Esipov, Sbornik vypisok iz archivnych bumag o Petre Velikom, Bd. 1, Moskva 1872, S. 24, 37f., 44, 45f. 50 Karion Istomin, Kniga Ljubvi znak v česten brak, Moskva 1989.

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chen, Palästen, Gartenlauben und auch während feierlicher Prozessionen ertönten geistliche Gesänge, von denen einige für den Gottesdienst gedacht waren und andere nicht. In den Palästen wurden für diese Aufführungen vorwiegend öffentliche Räume genutzt, zu denen die Mehrzahl der Höflinge Zutritt hatte: der Speisesaal und das Vorzimmer. Nur bestimmte Gottesdienste konnten im Kreuzzimmer (Gebetszimmer) – also in einem Innenraum des Palasts – stattfinden. Im Palast (im Speisesaal und möglicherweise im Vorzimmer) traten die Spielleute und die Organisten auf. Instrumentalmusik erklang während der Spaziergänge des Zaren in den Gärten und Hainen der Residenzen sowie bei Militärparaden. Im Theaterhaus in der Nähe des Zarenhofs wurden Instrumentalstücke und Lieder aufgeführt, die nicht für den Gottesdienst gedacht waren. Anhand der räumlichen Zuordnung der Aufführungen auf dem Territorium der ländlichen Zarenresidenzen lassen sich Unterschiede im Verhältnis des Hofes zur Vokal- und zur Instrumentalmusik erkennen. Über einen hohen Status verfügten die Gesänge, die für den Gottesdient gedacht waren. Sie wurden nicht nur bei öffentlichen Zeremonien, sondern auch in Kirchen und in Innenräumen des Palastes aufgeführt, etwa im Kreuz- oder Gebetszimmer. Die nicht für den Gottesdienst konzipierten religiösen Lieder, deren Formenvielfalt und Repertoire sich erheblich erweitert hatte, eroberten im Lauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich die Räumlichkeiten der für den Gottesdienst komponierten Musik. Nur eines gelang ihnen nicht: in die inneren Räume der ländlichen Residenzen vorzudringen, also in das Kreuz- oder Gebetszimmer. Nur in der Armee hatte die Instrumentalmusik öffentlichen Charakter. In der höfischen Kultur des 17. Jahrhunderts war das Spiel auf Musikinstrumenten lediglich im Palast, in den Gärten und im Komödienhaus erlaubt, also an den Orten der Zarenresidenzen, zu denen nur ein begrenzter Personenkreis Zutritt hatte. Das Spiel auf Musikinstrumenten hatte also einen niedrigeren Status als der Gesang. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erweiterte sich die Sphäre der Instrumentalmusik erheblich. Hierzu leisteten das Theater Aleksej Michajlovičs und die Kriegsspiele Peters I. einen wichtigen Beitrag. So wurde die Instrumentalmusik nach einer Reihe von Verboten rehabilitiert.

Irina Polozova

Musik am Zarenhof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Neue Tendenzen im gottesdienstlichen Gesang

Das siebzehnte Jahrhundert ist in der russischen, aber auch in der westeuropäischen Geschichte eine der wohl dramatischsten Epochen. Die Zeit der Wirren, die polnische Intervention, die schwierigen Anfänge der Romanov-Dynastie, Hunger, endlose Bauernunruhen. . . Zugleich spielte dieses instabile und dynamische Jahrhundert eine Schlüsselrolle in der Geschichte der russischen Staatlichkeit und gab ihrer Entwicklung eine neue Richtung. Wie Viktor Živov richtig festgestellt hat, deuten die radikalen Veränderungen in der russischen Kultur des 17. Jahrhunderts darauf hin, dass damals nicht nur „einzelne neue Phänomene entstanden (was natürlich in jeder Epoche geschieht), sondern dass sich die Grundprinzipien des Kulturschaffens wandelten“. Diese Veränderungen waren durch den Übergang der russischen Kultur vom Mittelalter zur Neuzeit angeregt worden und hingen „mit der religiösen oder moralischen Reform der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zusammen. Die Reform hatte das Ziel, die moralischen Werte und die Frömmigkeit wiederherzustellen, die während der Zeit der Wirren zerstört worden waren. Das Ergebnis war freilich nicht die Restauration des traditionellen Systems, sondern eine umfassende Revision des Erbes, das aus der Vergangenheit überliefert worden war. . . Die religiöse Reform führt zur Entwicklung des Persönlichkeitsprinzips, und dieses wiederum bedingt die Entstehung neuer Bereiche des Kulturschaffens.“¹ So gut wie alle Lebensbereiche des russischen Menschen wurden grundlegenden Veränderungen unterzogen: Religion, Weltempfinden, Verhaltensregeln, Alltag. . . Freilich dominiert der Traditionalismus, der die Einstellung der mittelalterlichen Gesellschaft geprägt hatte, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts unverkennbar und bremst revolutionäre Veränderungen in allen Bereichen der russischen Kultur ab. Darin zeigt sich auch die Widersprüchlichkeit, die Ambivalenz dieser Epoche: einerseits ihr Streben nach dem Neuen, andererseits der ständige Blick zurück in die Vergangenheit, die Rückkehr zur Tradition. Im vorliegenden Aufsatz beschäftigen wir uns mit der musikalischen Praxis, die in der Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am Zarenhof üblich war und die in den darauffolgenden Jahrhunderten fortgeführt wurde. Die Regierungszeit

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Viktor M. Živov, Religioznaja reforma i individual󸀠 noe načalo v russkoj literature XVII veka, in: Ders., Razyskanija v oblasti istorii i predystorii russkoj kul󸀠 tury, Moskva 2002, S. 319. DOI 10.1515/9783110520224-005

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des Zaren Aleksej Michajlovič (1645–1676) war also eine Übergangszeit in der Entwicklung der russischen Kultur und der russischen Geschichte insgesamt. Damals ließ sich einerseits ein Prozess der Säkularisierung beobachten und andererseits die Öffnung der russischen Kultur für westliche Traditionen. Wie viele andere russische Herrscher wurde Aleksej Michajlovič im Geist jahrhundertealter christlicher Traditionen erzogen, und sein Alltagsleben war eng mit dem orthodoxen Ritus verbunden. Es ist allgemein bekannt, dass der russische Gottesdienst im Mittelalter von außerordentlicher Pracht gekennzeichnet war. Von der Frömmigkeit des russischen Gottesdienstes lesen wir in den Aufzeichnungen Pauls von Aleppo, der Moskau Mitte der 1650er Jahre als Mitglied einer griechischen Delegation besuchte: „Der Eifer der Moskauer, die Kirche zu besuchen, ist groß, der Zar und die Zarin führen in ihrem Palast ein vollkommeneres Leben als Heilige: die ganze Zeit fasten und beten sie. . . Wir hatten uns nach der Messe kaum an den Tisch gesetzt, als es zur Nachtwache läutete. . . Wir betraten die Kirche um drei Uhr und verließen sie um zehn Uhr. . . Wir verließen die Kirche halbtot vor Müdigkeit. . . Während des Gottesdienstes stehen die Russen wie Statuen schweigend und still da und verbeugen sich unaufhörlich bis zum Boden. . . Mit ihrer Frömmigkeit übertreffen sie die Asketen in der Wüste. . . “.² Die Liebe und die Begeisterung für den Kirchengesang wurde von Kindheit an vermittelt, auch den Mitgliedern der Zarenfamilie. Viele russische Zaren beteiligten sich aktiv an der Einrichtung von Kirchenchören und sangen selbst im Chor. So „wirkte“ Zar Ivan Vasil󸀠 evič (der Schreckliche) „im Gottesdienst mit, sang im Chor, zitierte in seinen Sendschreiben Kirchenlieder, hatte genügend Wissen, Kenntnisse und Talent, um Texte und Gesangsmelodien zu schreiben“.³ Über ein solches Talent verfügte auch sein Sohn Ivan Ivanovič. Im 17. Jahrhundert sangen die Zaren Aleksej Michajlovič, sein Sohn Fedor Alekseevič und auch der zukünftige erste russische Kaiser Peter I. im Kirchenchor. Peter I. „sang die schwierigsten exzellentierenden Bässe aus Partes-Gesängen, als er sich auf einer Pilgerfahrt im Soloveckij-Kloster befand“, und Zarin Sof󸀠 ja fertigte Abschriften von Gesangsbüchern für den Gottesdienst an.⁴ Die Mitglieder der Zarenfamilie waren nicht nur äußerst erfahrene Sänger, sondern verfassten auch hymnographische Texte und Melodien. In Liedmanuskripten sind Melodien von Gesängen überliefert, die von russischen Autokraten einstudiert wurden. So soll Ivan der Schreckliche die Stichiren⁵ für den Metropoliten Petr sowie zum Fest der Ikone der Gottesmutter von Vladimir gesungen haben, ebenso das Troparion für Fürst Michail von Černigov und

2 Zitiert nach: Sergej A. Zen󸀠 kovskij, Russkoe staroobrjadčestvo. Minsk 2007, S. 111. 3 Natal󸀠 ja V. Ramazanova, Moskovskoe carstvo v cerkovno-pevčeskom iskusstve (na materiale rukopisej XVI–XVII vv.), Avtoreferat dissertacii na soiskanie doktorskoj stepeni. Moskva 2004, S. 38. 4 Vladimir I. Martynov, Istorija bogoslužebnogo penija, Moskva 1994, S. 108. 5 Stichiren: Bezeichnung für die Troparien, die zu den Versen der Lobpsalmen oder zum Abschluss des Gottesdienstes gesungen werden; vgl. hierzu: Karla Günther-Hielscher (Hrsg.), Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen. Wiesbaden 1995, S. 335.

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seinen Bojaren Fedor.⁶ Zar Aleksej Michajlovič verfasste eine Melodie für den feierlichen Gesang zu Ehren der Gottesmutter „Es ist würdig“ (russ.: „Dostojno est󸀠 “), außerdem schrieb er Liedmanuskripte ab und trug dort Korrekturen ein. Überdies gründeten die russischen Herrscher bedeutende Gesangsensembles. Das wichtigste von ihnen war die Kantorei des Zaren. Die ersten Zeugnisse für die Existenz dieses Chores finden sich in Quellen aus der Zeit des Großfürsten Vasilij III. (1505–1533).⁷ Als Vorbild für dieses Ensemble diente vermutlich der Chor, der beim Fürstenhaus der byzantinischen Kaiser existierte, an deren Traditionen sich der russische Hof stets orientierte. Die Sänger aus der Kantorei des Zaren konnten entweder Laien oder Geistliche sein und unterstanden zunächst direkt dem Großfürsten, später – dem Zaren. Selbstverständlich vergrößerte sich der Chor im Lauf der Zeit. Während Ivan dem Schrecklichen 1573 noch 27 Sänger zur Verfügung standen, so waren es 1678 schon 36. Auch im Umfeld anderer Mitglieder der Zarenfamilie wurden Chöre gebildet. In den 1690er Jahren bestand Ivans Chor aus 20 bis 24 D󸀠 jaken, unter Zar Peter hatte er 21 bis 26 Mitglieder. Die Chöre der Zarentöchter hingegen waren bescheidener: Evdokija standen 17 bis 19 Sänger zur Verfügung, Natal󸀠 ja acht bis 15; „den Chören der Zarinnen (Praskov󸀠 ja Fedorovna und Marfa Matveevna) gehörten jeweils höchstens 11 bis 12 Personen an, den Chören der Zarentöchter Anna Michajlovna und Tat󸀠 jana Michajlovna zusammen genommen ebensoviele“.⁸ Als der Zarenhof 1712 nach Petersburg umzieht, verlegt Petr Alekseevič auch die Sänger der Kantorei dorthin. Es ist anzunehmen, dass die Kantorei der Zaren hauptsächlich aus erfahrenen Meistern des Gesangs bestand, die aus verschiedenen Regionen des Landes stammten, die hervorragende Stimmen besaßen und eine gute Gesangsausbildung erhalten hatten. Die Musik am Zarenhof war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch eng mit den Traditionen des Kirchengesangs verbunden. Deshalb bestand die ursprüngliche und wichtigste Funktion der Kantorei des Zaren in der musikalischen Gestaltung der Gottesdienste, bei denen der Zar anwesend war. Dementsprechend führte der Chor des Zaren hauptsächlich gottesdienstliche Gesänge auf. Darüber hinaus hatte er auch die Aufgabe, die Polychronien (Hymnen für ein langes Leben) und die Zeremonie des „Trinkspruchs“ zu zelebrieren. Diese beiden Traditionen gingen auf die Kiever Rus󸀠

6 Bis heute ist sich die Forschung allerdings nicht einig darüber, ob die Autorenschaft des Zaren Ivan Vasil󸀠 evič authentisch ist (vgl. dazu ausführlicher Natal󸀠 ja V. Ramazanova, Moskovskoe carstvo v cerkovno-pevčeskom iskusstve XVI-XVII vekov, Sankt-Peterburg 2004, S. 152–159). 7 Ivan A. Gardner, Bogoslužebnoe penie Russkoj Pravoslavnoj Cerkvy, Bd. 1: Suščnost󸀠 , sistema i istorija, Moskva 2004, S. 351. Deutsche Ausgabe, vom Autor leicht gekürzt und aus dem Russischen übersetzt: Johann von Gardner, Gesang der russisch-orthodoxen Kirche, Bd. 1: Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1983, S. 218. Als Partes-Gesang (russ.: „partesnoe penie“) bezeichnete man freie, mehrstimmige Kompositionen. Vgl. Gardner, Bd. 2: Zweite Epoche: Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1918, Wiesbaden 1987, S. 34. 8 Nikolaj P. Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo v duchovnoj kul󸀠 ture Rossijskogo gosudarstva XVI-XVII vv., Sverdlovsk 1991, S. 51f., 55.

58 | Irina Polozova zurück und bildeten nach Ansicht von Nikolaj Parfent󸀠 ev die Grundlage für die russische panegyrische Chormusik: „Sowohl außerhalb der Klostermauern als auch in den Klöstern erlangte die Zeremonie des Trinkspruchs politische Bedeutung, weil sie als eine eigentümliche Demonstration von Untertänigkeit gegenüber der mächtiger gewordenen Autokratie und gegenüber der Kirche diente“.⁹ Die Kantorei des Zaren nahm an allen wichtigen innenpolitischen Ereignissen des Landes teil, die mit dem Leben der Zarenfamilie zu tun hatten. Dazu gehörten Eheschließungen und Taufen, Einführungen in das Amt des Monarchen oder des Patriarchen und Begräbnisse. Beispielsweise ist bekannt, dass „die Sänger der Kantorei des Zaren“ 1526 während der Hochzeit des Großfürsten Vasilij mit Elena Glinskaja „auf beiden Seitenflügeln“ der Kathedrale „das Mnogoletie intonierten“. Das Polychronion wurde auch 1547 im Rahmen der „Inthronisierungs“-Zeremonie Ivans des Schrecklichen aufgeführt, ebenso bei der Thronbesteigung Fedor Alekseevičs im Jahr 1676 – diesmal als demestischer Gesang (also in einem Stil, der bei den Altgläubigen üblich war). Viele Quellen berichten davon, dass die Kantorei des Zaren zur Taufe von Neugeborenen aus der Zarenfamilie sang. Bei wichtigen staatlichen Zeremonien trat die Kantorei des Zaren oft gemeinsam mit dem Chor des Patriarchen auf, der ebenfalls aus erfahrenen und stimmgewaltigen Sängern bestand. So „sangen“ zum Beispiel anlässlich der Inthronisation des Patriarchen Filaret Romanov im Jahr 1619 „die Mitglieder der Kantorei des Zaren rechts, die Sänger aus dem Chor des Patriarchen links vor der Königstür der Ikonostase.“¹⁰ Die Sänger aus der Kantorei des Zaren gestalteten nicht nur den Gottesdienst mit, sondern begleiteten die Zarenfamilie auch auf sämtlichen Reisen in die Städte und Klöster des Landes. Sie waren also nicht nur an Gottesdiensten beteiligt, sondern auch an anderen Veranstaltungen. So sorgte die Kantorei des Zaren beim Empfang von ausländischen Delegationen und Gesandten für die musikalische Untermalung, ebenso bei der Begrüßung hochgestellter Persönlichkeiten anlässlich ihrer Rückkehr von langen Reisen und bei anderen festlichen Ereignissen am Zarenhof. Weit verbreitet war die Praxis, „bei Tisch“ zu singen, also bei Festessen der Zarenfamilie mit geladenen Gästen. So kamen 1557 zum Essen des Zaren mit ausländischen Gästen „sechs Sänger, die sich mitten im Saal mit dem Gesicht zum Zaren aufstellten und drei Mal sangen“.¹¹ Während der Mahlzeiten des Zaren wurden vorwiegend Slavniki gesungen (d. h. Troparien, also kurze Gesänge zu den Mysterien der Heiligen Dreifaltigkeit). Diese waren nicht nur im Gottesdienst, sondern auch außerhalb des Gottesdienstes weit verbreitet. Hinzu kamen weitere gottesdienstliche Gesänge, zum Beispiel das Oster-Troparion „Christ ist erstanden“ oder die neunte Ode der Kanon-Hymne. „Gesang ‚bei Tisch‘ war unverzichtbar, und wenn dieser – aus welchen Gründen auch immer – fehlte, dann

9 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 176f. 10 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 63, 65f. 11 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 67.

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vermerkten die Schreiber in ihren Aufzeichnungen ausdrücklich: ‚Bei Tisch wurden keine Lieder gesungen‘“.¹² Bekanntlich hatte sich in der Rus󸀠 die Tradition von Weihnachts-, Oster- und anderen Festliedern eingebürgert. Sie war auch am Zarenhof verbreitet und wurde von Sängern aus der Kantorei des Zaren gepflegt. „An diesen [Fest-, I.P.]Tagen bei Hofe umringten die Sänger aus der Kantorei den Zaren und den Metropoliten (Patriarchen). Sie beglückwünschten die Mönche mit Festgesang, mit einer Lobpreisung zum Festtag. . . Am feierlichsten waren die Lobgesänge zu Weihnachten. Sie waren gleichsam ein eigenes musikalisches Fest, an dem sich viele Moskauer Chöre beteiligten: Die Kantorei des Zaren, des Metropoliten (Patriarchen) und der wichtigsten Kathedralen und Klöster, die kleinen Hauskapellen des Adels und auch die Chöre der Erzbischöfe aus den Diözesen, die zum Fest angereist waren.“¹³ Aus dem 17. Jahrhundert stammen erste Belege dafür, dass sich damals eine Praxis des Konzertlebens herauszubilden begann. N. Parfent󸀠 ev zitiert aufschlussreiche Quellen, die beweisen, dass einzelne Sänger vor dem Zaren auftraten: 1651 erhielt der Sänger aus der Kantorei des Patriarchen Fedor Koz󸀠 min Tuch im Wert von zwei Rubel dafür, dass er vor dem Zaren ‚im Speisesaal am 17. März für Aleksej, den Diener Gottes‘, einen Slavnik“ gesungen hat, und 1675 erhielten die Sänger aus der Kantorei des Monarchen in Anwesenheit des Zaren auf der steinernen Außentreppe jeweils sechs und zwei Rubel ‚für den Vers: O göttliches Wunder, wie sangen sie vor ihm, dem großen Herrscher, im Vestibül‘.¹⁴

Wie die oben genannten Beispiele zeigen, bestand das Repertoire der Kantorei des Zaren hauptsächlich aus Liedern für den Gottesdienst und aus paraliturgischen Kompositionen (beispielsweise aus geistlichen Gedichten oder Lobpreisungen). Dies entsprach zweifellos der dominierenden Rolle, die der gottesdienstliche Gesang und der Ritus im Bewusstsein des Menschen im 17. Jahrhundert spielten. Damals bestimmte die Kirche alle Aspekte seines Lebens und seiner Weltanschauung. Sie prägte nicht nur maßgeblich seine spirituelle Welt, sondern auch seine Existenz „im weltlichen Leben“. Wie bereits eingangs erwähnt, begann im 17. Jahrhundert eine allmähliche, aber grundlegende Umgestaltung aller Aspekte im Leben des russischen Menschen. Diese radikalen Veränderungen betrafen auch auf den musikalischen Aspekt des orthodoxen Gottesdiensts. Bekanntlich setzt sich in der Mitte dieses Jahrhunderts ein neuer Gesangsstil durch, der als Partes-Gesang bezeichnet wird. Zu seinen Anhängern gehörten Zar Aleksej Michajlovič und Patriarch Nikon. Während ihrer Regierungszeit findet der Partes-Gesang sehr schnelle Verbreitung. In vielerlei Hinsicht haben die gefestigten engen Kontakte mit dem Westen zur Expansion des Partes-Gesangs beige12 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 69. 13 Svetlana G. Zvereva, Monastyrskoe klirošane XVI-pervoj poloviny XVII v., in: Literatura Drevnej Rusi. Istočnikovedenie, Leningrad 1988, S. 117–128, hier S. 125. 14 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 69.

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tragen. Diese führten den russischen Menschen allmählich an die Praxis des Musizierens – unter anderem auch auf Musikinstrumenten – heran. Die frühesten Zeugnisse für die Präsenz europäischer Musikanten am Zarenhof stammen aus dem Jahr 1490, aus der Regierungszeit Ivans III. Damals kam der italienische Organist Giovanni Salvatore nach Moskau. Schon 1568 schickte die englische Königin der Zarin Irina Fedorovna (der Ehefrau des Zaren Fedor Ioannovič) eine Orgel und ein Klavichord. Zu dieser Zeit schrieb der englische Gesandte Jerome Gorsay: „In London habe ich die Einkäufe getätigt, die mir aufgetragen worden sind: Ich habe Orgeln, Klavichorde, Musiker besorgt“.¹⁵ Indirekt zeugt dies davon, dass sich damals in Russland eine Praxis der Instrumentalmusik herausbildete. Aufschlussreiche Hinweise auf die Verwendung von Musikinstrumenten am Zarenhof gibt Ivan Zabelin: „Anfang des 17. Jahrhunderts werden ‚Orgeln und Zimbeln‘ schon ganz selbstverständlich als Gegenstände genannt, die bei höfischen Vergnügungen zum Einsatz kommen. 1614 steht der Zimbelspieler Tomila Besov in Diensten des Hofes, und 1617 wird erwähnt, dass sich im Lustschloss Orgeln befinden; ferner wurde ‚zur Freude des Herrschers‘, also während der Hochzeit des Zaren, im Facettenpalast auf Zimbeln und Orgeln gespielt. . . Die Kunst des Orgelspiels hatte am Zarenhof inzwischen so stark Fuß gefasst, dass Zar Aleksej 1663 anordnete, ‚auf Vorrat die größten Orgeln anzufertigen, so groß es eben geht, und sie zwölfstimmig zu bauen, um sie dann in das Perserreich zu schicken‘“.¹⁶ Neben der Instrumentalmusik entsteht im 17. Jahrhundert in Moskau auch das erste professionelle Theater, in dem Stücke mit Musik- und Tanzeinlagen gespielt wurden. Es existierte nicht ganz fünf Jahre (von 1672 bis 1776). Nach dem Vorbild des Zaren-Theaters werden auch in einigen Bojarenhäusern Theateraufführungen veranstaltet. Allerdings dominierte damals in der Rus󸀠 zweifellos die Praxis des Chorgesangs. Im 17. Jahrhundert existierten zahlreiche Chorensembles, die aus professionellen und gut ausgebildeten Sängern bestanden. Nicht nur der Zar hatte seine eigene Kantorei, sondern auch die anderen Mitglieder der Zarenfamilie, der Patriarch, die Metropoliten und die bedeutendsten Würdenträger. Bekanntlich unterhielten die Bojaren A. Meščerskij, Fedor Rtiščev, Aleksej Trubeckoj und Petr Šeremet󸀠 ev bereits Mitte des Jahrhunderts in Moskau Chöre, die aus Meistern des Partes-Gesangs bestanden, und „komplettierten die besten Sänger die Kantorei des Patriarchen“. Mitte des Jahrhunderts bürgert sich der einstimmige, ursprünglich ukrainisch-polnische Partes-Stil ein, den der Patriarch Nikon sehr schätzte. Er förderte seine Einführung nicht nur in seiner eigenen Kantorei, sondern auch in den Klöstern, die zu den Gütern des Patriarchen gehörten (im Iverskij-Kloster im Valdaj-See und im Auferstehungskloster NeuJerusalem).¹⁷ Schon in der Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der Partes-Gesang in Moskau sowie in Novgorod, Smolensk, Sol󸀠 vyčegodsk, Tobol󸀠 sk und 15 Tat󸀠 jana F. Vladyševskaja, Muzykal󸀠 naja kul󸀠 tura Drevnej Rusi, Moskva 2006, S. 76. 16 Ivan E. Zabelin, Domašnyj byt russkich carej v XVI i XVII stoletijach. Kniga 1. Gosudarev dvor ili dvorec. Moskva 1990, S. 205f. 17 Zvereva, Monastyrskoe klirošane, S. 333. Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 212f.

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in anderen Städten weit verbreitet. Der Partes-Gesang wurde nicht nur sehr schnell Teil der russischen Gottesdienstpraxis, sondern erlangte auch eine besondere Beliebtheit. Als Peter I. seiner in Ungnade gefallenen Schwester Sof󸀠 ja Alekseevna den unfreiwilligenAufenthalt im Novodevič󸀠 i-Kloster besonders schwermachen wollte, beraubte er sie der Möglichkeit, dort Partes-Gesang zu hören.¹⁸ Mitte des 17. Jahrhunderts gelangen also verschiedene Arten des Musizierens an den Zarenhof: die Instrumental-, die Theater- und die Chormusik, wobei letztere eindeutig dominierte. Der Säkularisierungs- und Europäisierungsprozess, der von oben angestoßen wurde, wirkte sich selbstverständlich auf alle Bereiche der russischen Kultur aus, unter anderem auch auf die Gesangskultur im Gottesdienst. Dementsprechend erhielt die Tradition des mittelalterlichen russischen liturgischen Gesangs Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur einen ernsthaften Konkurrenten in „Person“ des neuzeitlichen Partes-Gesangs. Vielmehr wurde er auch von innen heraus grundlegend erneuert, indem er mit anderen Stilmerkmalen ausgestattet wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass die Wurzeln für diese stilistischen „Innovationen“ westeuropäischer Herkunft waren. Die Entwicklung der russischen Kultur wies also viele Gemeinsamkeiten mit kulturellen Tendenzen auf, die für ganz Europa kennzeichnend waren. In dieser Zeit erweiterte sich die Praxis des Kirchengesangs in Russland um neue Gesangsarten, die aus dem Südwesten (aus Kiev, Griechenland, Bulgarien) kamen und in denen sich Merkmale des mittelalterlichen Gesangs harmonisch mit Charakteristika des neuzeitlichen musikalischen Denkens verbanden. Diese neuen Gesangsarten wurden recht schnell in den gottesdienstlichen Ritus eingeführt. So war die damals beliebteste Kiever Gesangsart seit 1656 fester Bestandteil des Repertoires der Kantorei des Zaren. In diesem Stil wurden die Liturgie, das Polychronion und viele anderen liturgischen Texte gesungen. Wie Nikolaj Parfent󸀠 ev festgestellt hat, bestand „das komplette Gesangbuch ‚Obichod‘“ aus solchen Liedern.¹⁹ Durch ihren Wohlklang, aber auch durch ihren Lakonismus und ihre Einfachheit machte die Kiever Gesangsart viele Sänger auf sich aufmerksam. Einige Kompositionen, die zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert auf der Grundlage der Kiever Gesangsart entstanden sind, haben große Bekanntheit erlangt. Unter ihnen verdient das Werk des Zaren Fedor Alekseevič „Es ist würdig“ (russ.: „Dostojno est󸀠 “) besondere Beachtung. Im „Gesangbuch (russ.: „Obichod“) für den einfachen Kirchengesang, der am Allerhöchsten Hofe üblich ist“, wird die griechische, die bulgarische und insbesondere die Kiever Gesangsart wiederholt als vorbildlich bezeichnet. Der Obichod wurde am Zarenhof mehrmals neu aufgelegt, und die dort verzeichneten Gesänge waren unverzichtbarer Bestandteil des Gottesdiensts. Entsprechende Gesän˙ 18 Muzykal󸀠 naja estetika Rossii XI – XVIII vekov/Sostavlenie tekstov, perevody i obščaja vstupitel󸀠 naja stat󸀠 ja A. I. Rogova, Moskva 1974, S. 28. 19 Parfent󸀠 ev, Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo, S. 171. Der „Obichod“ war ein Gesangbuch für die Gottesdienste am Zarenhof. Es enthielt vorgegebene Melodien (im Gegensatz zum stärker improvisierten Partes-Gesang). Vgl. hierzu Gardner, Gesang der russisch-orthodoxen Kirche, Bd. 2, S. 34.

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ge entwickeln sich auch bei den „Eiferern für die Frömmigkeit“, den Verfechtern der Rückkehr zu den alten Zeiten, also bei den Altgläubigen. Bekanntlich versteht sich das Altgläubigentum in der gesamten Geschichte seiner Existenz seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als schützende Kraft, die das kulturelle Potenzial Russlands aus der Zeit vor den Kirchenreformen bewahrt. Dieser Schutzmechanismus erstreckt sich auf alle Bereiche des Gottesdiensts, auch auf den Gesang. Das Altgläubigentum akzeptierte weder den neuen Partes-Stil noch die Formen des homophon-harmonischen Denkens. Obwohl sich die Anhänger der „althergebrachten Frömmigkeit“ von den „Neuerungen Nikons“ lossagten, adaptierten sie in der Praxis einige Gesänge aus der Zeit nach den Kirchenreformen (also nach der Spaltung der russisch-orthodoxen Kirche in der Mitte des 17. Jahrhunderts). Im Folgenden sollen diejenigen Versionen dieser Gesänge vorgestellt werden, die für die Altgläubigen am typischsten sind. So ist noch den Altgläubigen der Gegenwart das JerusalemLied in der bulgarischen Gesangsart bekannt. Außerdem hat sich in der Gesangspraxis bis heute das Cheruvikon in der irgisischen²⁰ Gesangsart erhalten, das an der Wende von 19. zum 20. Jahrhundert unter den Altgläubigen weit verbreitet war. In Manuskripten und Büchern aus Saratover Klöstern, wo diese Version des Gesangs entstand, haben wir jedoch keine Hinweise auf die „irgisische“ Gesangsart gefunden. Durch textkritische Arbeit konnte festgestellt werden, dass diese bulgarische Version mit der Variante identisch ist, die in einer irgisichen Handschrift aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „wohlgestalt“ bezeichnet wird. Die Version des „wohlgestalten“ Gesangs war archaischer im Stil. Hier sind Merkmale der späten Gesangskultur nur latent vorhanden, während die „irgisische“ Gesangsart die Kultur der Neuzeit klarer zum Ausdruck bringt. Beim Cheruvikon in der irgisischen Gesangsart handelt es sich um eine adaptierte Variante des Liedes „Geschenk des Friedens“ (russ.: „Milost󸀠 mira“) in der Kiever Gesangsart. Auf die Grundlagen ihrer Intonation stützten sich vermutlich auch die irgisischen Sänger. Beide Lieder gehören zu den Texten, die während der Liturgie gesungen werden, und zeichnen sich durch Mehrstimmigkeit aus. Die Struktur des Liedes (d. h., des Cheruvikons in der irgisischen Gesangsart) ist typisch für den Stil der Kiever Gesangsart. Sie basiert auf der mehrmaligen Wiederholung des intonatorischrhythmischen Hauptteils, der aus drei Zeilen besteht. Bei der Darbietung des hymnographischen Texts werden Melodie und Rhythmus nur wenig variiert. Der Rhythmus erfährt lediglich dort geringfügige Veränderungen, wo die Melodie an den Text angepasst wird. Weil die Kiever Gesangsart auf dem Prinzip der ständigen Wiederholung

20 Irgiz war ein Netzwerk altgläubiger Klöster, die Popen aufnahmen, die zu den Altgläubigen übergelaufen waren. Diese Strömung innerhalb des Altgläubigentums hieß „beglopopovcy“ (die Altgläubigen mit „Läuflingspopen“) während die „bespopovcy“ („die Popenlosen“) keine Priester aufnahmen und das Priesteramt nicht anerkannten. Diese Klöster existierten von den 1860er bis zu den 1920er Jahren auf dem Territorium des Gouvernements Saratov und genossen bei der altgläubigen Bevölkerung Russlands erhebliche Autorität.

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basierte, war sie als Vorbild sehr geeignet. Denn je nach Umfang des hymnografischen Texts war eine wiederholte Rückkehr zur intonatorisch-rhythmischen Passage möglich, die am Anfang des Liedes steht. Es liegt auf der Hand, dass diese klare Struktur der Komposition des Cheruvikons von einem anderen Verhältnis zur Gestaltung des Gesangs geprägt ist als die „wohlgestalte“ Version des Cheruvikons: Es basiert auf dem Prinzip der Wiederholung. Diese Struktur war für die neuen Arten des liturgischen Gesangs typisch, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Verbreitung fanden. Die irgisische Gesangsart entspricht also der Gesangspraxis aus der Zeit vor den Kirchenreformen in einem Moment, als sich bereits die Kiever, die griechische und die bulgarische Gesangsart einbürgern. Mit diesen Gesangsarten erlangt das Prinzip der strukturellen Periodizität große Bedeutung. Für das Cheruvikon in der irgisischen Gesangsart ist eine syllabisch-melismatische Interpretation charakteristisch, wobei die Melodie jeweils kurz auf den Schlüsselbegriffen des Textes verweilt. Die zurückhaltende Verwendung von Melismen ist typisch für die späte altgläubige Tradition, in der die Stilistik der melismatischen Lieder vereinfacht wurde. Die Notation war in allen Versionen gleich: eine Stolp-Notation mit Anmerkungen und Zusatzzeichen, aber ohne Hinweise darauf, welche Passagen mit längeren und kürzeren Jubilationen (sogenannten „Fity“ und „Lica“) ausgeschmückt werden sollen.²¹ Dies war für die Interpretation von Gesängen durch die Gruppe der Altgläubigen, die das Priesteramt akzeptierte, im 19. und 20. Jahrhundert die Regel. Die Notation dieser Gesänge ist nicht identisch, aber sehr ähnlich. Sie basiert auf ein, zwei- und dreistufigen Zeichen. Die „wohlgestalte“ Variante der Cheruvikons entstand in der Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als die irgisischen Klöster das Priesteramt anerkannten. In dieser Periode war die altgläubige Gesangspraxis von der Integration neuer (bulgarischer, josephinischer, aus dem Kiever Höhlenkloster überlieferter und anderer) Intonationsvarianten in die konfessionelle Tradition des Gottesdienstes gekennzeichnet. Auch irgisische Liedmanuskripte spiegeln diese Tendenz wider. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet man in Manuskripten aus Klostersammlungen neuen Melodieversionen und Liedern in der bulgarischen Gesangsart. Die lokale „wohlgestalte“ Variante des Cheruvikons, die damals entstand, verbreitete sich recht schnell unter den Altgläubigen, und schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird es wiederholt als „Cheruvikon in der irgisischen Gesangsart“ bezeichnet. Die melodische Struktur der „wohlgestalten“ und der irgisischen Gesangsart weist mehrere Gemeinsamkeiten auf: Die Grundmelodie stimmt ebenso überein wie die Stimmlage und der Stimmumfang. Weitere Kongruenzen lassen sich im Hinblick auf die Grundtöne und die Verwendung der großen Tonart²² beobachten.

˙ 21 Vgl. dazu N. D. Uspenskij, Znamennyj raspev, in: Jurij V. Keldyš (Hrsg.), Muzykal󸀠naja enciklopedija, Moskva 1973–1982. 22 Die „große“ Tonart ist mit der Dur-Tonart weitgehend identisch.

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Das Kadenzmuster des wohlgestalten Gesangs unterscheidet sich allerdings etwas von dem des irgisischen, außerdem gibt es einige Unterschiede in der graphischen Notation der Gesänge. Die hier vorgestellten Versionen der wohlgestalten und der irgisischen Gesangsweise des Cheruvikons sind also Varianten des Liedes „Geschenk des Friedens“ in der Kiever Gesangsart. Die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Versionen liegen in verschiedenen strukturellen Eigenheiten der Gesänge: in den Mustern von Rhythmus und Intonation und in deren Kombination, in der Stimmlage, im Umfang von Melodie und Tonart sowie in den einzelnen Zeichen der Notation und deren Kombination. Dabei handelt es sich offensichtlich um Varianten einer Gesangsart, die beide mehr oder weniger stark von ihrem Vorbild abweichen. In stilistischer Hinsicht muss die Version des wohlgestalten Gesangs wohl als die archaichschste gelten. Hier sind die Charakteristika der irgisischen Gesangsart nur latent vorhanden. Andere Aufzeichnungen in der irgisischen Gesangsart sind stärker von der tonalen Zentralisierung und vom Einfluss der neuzeitlichen Kultur gekennzeichnet. Je „älter“ die Notation einer Melodie ist, desto mehr Abweichungen von ihrem Vorbild weist sie auf und umgekehrt. Folglich kann man davon ausgehen, dass auch die Stilistik des wohlgestalten und irgisischen Gesangs mit der Zeit einige Veränderungen durchmachte, weil sie sich in einem Prozess der Adaptation befand und, wenn auch unbewusst, zunehmend die Hörgewohnheiten der Moderne widerspiegelte. Folglich finden wir in der zeitgenössischen Gesangspraxis der Altgläubigen nicht nur die Bewahrung ritueller Normen des mittelalterlichen Gottesdiensts, sondern auch einen Widerhall der musikalischen Atmosphäre, die das Alltagsleben des russischen Menschen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts prägte – nicht zuletzt am Zarenhof.

Krzysztof Rottermund

Polnische Einflüsse auf die russische Musikkultur um 1700 Im Jahre 1645, als Zar Alexei I. der „Sanftmütige“ (1629–1676) den russischen Thron in Moskau bestieg, herrschte in Warschau der König Władysław IV. (Ladislaus IV.) aus der schwedischen Dynastie Wasa. Das Königreich Polen bestand seinerzeit aus zwei großen Nationen – Polen und Litauen. Der polnische Königshof war ein kulturelles Zentrum ersten Ranges. Die nächsten Jahrzehnte unter der Herrschaft von Johann II. Kasimir Wasa, Michał Korybut Wiśniowiecki, dann Johann III. Sobieski – trotz seines effektvollen Sieges über die Türken bei Wien (1683) – und vor allem die Herrschaft der Könige aus der sächsischen Dynastie der Wettiner (1697–1763) bedeuteten für den polnischen Staat eine Zeit des tiefen politischen Niedergangs. Das Land wurde in den Kämpfen rivalisierender Magnatengruppierungen hin und her gerissen und von den durchmarschierenden fremden Truppen ausgeplündert, und es verlor allmählich zugunsten der erstarkenden Nachbarstaaten immer neue Territorien. Der Dichter Wacław Potocki schrieb damals: „es schrumpfte der Ruhm, und es schrumpften die polnischen Grenzen“¹. König August II. „dem Starken“, ebenso wie seinem Sohn König August III., war das Schicksal des polnischen Staates und der polnischen Kultur ziemlich gleichgültig. Ihr Interesse für die Kunst beschränkte sich darauf, Operninszenierungen zu fördern, die von der Dresdener Oper aufgeführt wurden. Viele polnischen Musiker mussten sich notgedrungen mit der bescheidenen Existenz eines provinziellen Komponisten in einer der zahlreichen Kirchenkapellen begnügen². Es gab aber Ausnahmen, die zeigen, dass sich in diesen schwierigen politischen Zeiten auch im Bereich der Musikkultur herausragende Persönlichkeiten entwickeln konnten, welche Einfluss auf die Kultur in den östlichen Nachbarländern hatten. Die Herrschaft der Könige aus der sächsischen Dynastie, die sechsundsechzig Jahre dauerte, führte das einst glanzvolle Polen in den politischen Ruin. Die sich im Land ausbreitende Anarchie, in deren Gefolge jahrelang kein Sejm (Parlament) zustande kommen konnte, minderte die politische Autorität des Staates und seine militärische Kraft erheblich. In einer solchen Situation wurde – nach dem Ableben des Königs August III. – Stanisław August Poniatowski zum König gewählt, (er herrschte von 1764 bis 1795), ein überaus intelligenter Mann, vielseitig gebildet, ein glühender Verfechter der Ideologie der Aufklärung, die er auf seiner Reise durch Frankreich und Eng-

1 Ewa Obniska, Alte Musik, in.: Geschichte der polnischen Musik, Red. T. Ochlewski. Warschau 1988, S. 65. Der Titel der polnischen Originalausgabe: Dzieje muzyki polskiej w zarysie 2 Obniska, Alte Musik, S. 66. DOI 10.1515/9783110520224-006

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land kennengelernt hatte. Unter der Herrschaft Stanisław Augusts verwandelte sich Polen von einer rückschrittlichen Ständemonarchie in einen wahrhaft neuzeitlichen Staat. Der König war ein aufrichtiger Anhänger von Reformen wie auch ein großzügiger Mäzen der Wissenschaft und Kunst. Kein anderer polnischer Monarch hat einen so übermächtigen und zugleich so positiven Einfluss auf die Entwicklung des geistigen und kulturellen Lebens des Landes ausgeübt. Die rationalen, breit angelegten Pläne zur Reform des Staates musste Poniatowski unter außerordentlich schwierigen Bedingungen verwirklichen. Das sich aus der Rückständigkeit erhebende Land wurde durch die erste Teilung (1772) niedergeworfen, in deren Ergebnis Polen ein Drittel seiner Gebiete verlor. Preußen und Russland begründeten diesen Akt der Gewalt mit dem „vollständigen Zerfall des Staates“. Dieses tragische Ereignis, das in der gesamten Geschichte des Volkes keine Entsprechung hatte, vermochte jedoch nicht, den weiteren Prozess der positiven inneren Wandlungen zu hemmen³. Dieser Prozess wurde jedoch durch die zweite, und, nach dem Kościuszko-Aufstand von 1794 und dem polnischrussischen Krieg, die letzte, dritte Teilung Polens im Jahre 1795 völlig zerstört. Wenn es aber um die Entwicklung der polnischen Kultur geht, waren die Gegebenheiten des 17. und 18. Jahrhundert aus heutiger Perspektiven gar nicht so schlecht, auch in Bezug auf die polnisch-russischen Beziehungen und Kontakte. Der sowjetisch-russische Musikwissenschaftler Igor Bełza hat im Jahre 1963 sein Buch auf Polnisch Aus der Geschichte der polnisch-russischen Musikkontakte in Krakau veröffentlicht. Das war überhaupt die erste wissenschaftliche Arbeit, die sich mit diesem Thema auseinander setzte. Igor Bełza hat den chronologischen Rahmen seiner Arbeit eigentlich nur auf das 19. und 20. Jahrhundert begrenzt. Im Einführungskapitel hatte er aber einige Angaben über frühere russisch-polnische Beziehungen in diesem Bereich beigefügt. Für dieses Thema besteht nach wie vor noch viel Forschungsbedarf, deshalb sind die Forschungsperspektiven hier ziemlich groß. Auch die polnische Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa (1908–1980) gehörte zu den Forschern, die sich in ihrer Forschungsarbeit u. a. mit russischer Musikkultur beschäftigten. Lissa hat die erste polnische Monographie über russische Musik geschrieben: Historia muzyki rosyjskiej (Geschichte der russischen Musik), Kraków/Krakau 1955. Außerdem schrieb sie einzelne Kapitel über russische Musik im ersten und zweiten Band der Historia muzyki powszechnej (Allgemeine Musikgeschichte), Kraków/Krakau 1957, 1965, sowie Artikel in polnischen Musikenzyklopädien. Sie widmete sich auch der Musik im alten Russland. Lissa beschäftigte sich u. a. mit Nikolai Dylecki (Dileckij, Dilezki; ca. 1630 – ca. 1680 oder 1681), der Schlüsselfigur, wenn es um polnische Einflüsse auf die russische Musikkultur im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geht. Über diese interessante und wichtige Persönlichkeit in der Geschichte der Musikkultur in Russland wird auch in diesem Referat die Rede sein. Ich stütze mich aber lediglich auf die bescheidenen bisherigen Forschungsbeiträge, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dafür

3 Obniska, Alte Musik, S. 69.

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ist es noch zu früh. Vieles können wir lediglich vermuten, stellen nur Hypothesen auf, stützen uns auf Indizien. Bevor wir uns der Forschungsproblematik in unserem chronologischen Rahmen nähern, müssen wir wenigstens kurz die polnische Musikkultur im 16. und 17. Jahrhundert erläutern und ihre wichtigsten Protagonisten vorstellen. Mikołaj Gomółka war der bekannteste polnische Komponist des 16. Jahrhunderts. Er schrieb Kompositionen unter anderem zu den Gedichten von Jan Kochanowski („Melodie na Psałterz polski“). Andere wichtige Renaissancekomponisten am polnischen Königshof waren Wacław aus Szamotuły und Mikołaj Zieleński. Im Jahre 1628 wurde in Warschau die erste Oper aufgeführt. Die italienischen Komponisten Luca Marenzio, Giovanni Francesco Anerio, und Marco Scacchi waren zur Barockzeit in Warschau tätig. Während der relativ kurzen Regentschaft von Władysław IV. Wasa von 1634 bis 1648 wurden in Warschau mehr als zehn Opern dargestellt, womit Warschau zu dieser Zeit zum wichtigsten Opernzentrum außerhalb Italiens wurde. Die erste Opernkomponistin der Welt, Francesca Caccini, schrieb ihre erste Oper La liberazione di Ruggiero dall󸀠 isola d󸀠 Alcina für den polnischen König, als dieser noch ein Prinz war. Die polnischen Barockmusiker komponierten vor allem Kirchenmusik. Zu dieser Zeit entstand auch die Polonaise als Tanz an polnischen Höfen, während die bäuerliche Gesellschaft regional unterschiedliche Tänze wie die Mazurka, den Krakowiak, den sogenannten Chodzony und die auch aus Tschechien bekannte Polka entwickelte. Besonders die Polonaise wurde sehr populär in anderen Ländern, vor allem in Deutschland (Bach, Telemann), aber eben auch in Russland. Einer der hervorragendsten Komponisten religiöser Musik war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Jacek Różycki, der Kapellmeister der Königlichen Kapelle in Warschau. Annährend 50 Jahre bekleidetet er dieses Amt, indem er nacheinander den Königen: Johann Kasimir, Johann III. Sobieski und August II., „dem Starken“, diente, selbst dann, als der letztere mit der Kapelle und dem ganzen Hof nach Dresden umsiedelte. In seinem Schaffen überwiegen entschieden Vokal-Instrumentalwerke. Sie waren im Geist der Barockmusik gehalten – Kirchenkonzerte und konzertante Motetten. Die reiche Melodik seiner Werke, auch die sorgfältige Führung der Stimmen zeugen vorteilhaft von den Fähigkeiten und von der Ausbildung dieses Musikers. Różycki war ebenfalls der Autor von 13 Hymnen für vierstimmigen Chor a cappella, die sich durch die Einfachheit ihrer Mittel auszeichnen, was in gewissem Grade durch den Reiz der Melodik wettgemacht wurde.⁴ Jacek Różycvki ist deshalb eine wichtige Figur, wenn es um die polnischen Einflüsse auf die Musikkultur in Russland geht, weil er wahrscheinlich einer der Lehrer von Nicolai Dylecki war. Und Dylecki war der erste Musiktheoretiker, dessen Hauptwerk eine sehr wichtige Rolle in der Musik Russlands spielte. Dylecki hat bestimmt manche von Różyckis Werken kennengelernt, ebenso Stücke von

4 Obniska, Alte Musik, S. 62.

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Marcin Mielczewski, denn er schreibt in seiner theoretischen Arbeit darüber und fügt in seinem Werk entsprechende Notenbeispiele bei. Es ist wahrscheinlich, dass Dylecki, Różycki und Mielczewski sich persönlich kannten. Marcin Mielczewski (um 1600–1651) erfreute sich am Hofe Władysław IV. hohen Ansehens. Er hatte als Musiker die große Begabung, die Tonsprache des Barock gründlich zu beherrschen. Über sein Leben wissen wir sehr wenig. Der erste Hinweis auf Mielczewski stammt aus dem Jahre 1639, als er unter den Mitgliedern der Kapelle Władysław/Ladislaus IV. erwähnt wird. Im Jahre 1645 siedelte er über an den Hof des königlichen Bruders Karoł Ferdynand, des Bischofs von Płock, wo er die Stellung eines Kapellmeisters erhielt. Mielczewskis Schaffen zerfällt in zwei unterschiedliche Strömungen: Er kultiviert immer noch den besonders in der religiösen Musik stets lebendigen Stil der Renaissancepolyphonie a cappella und greift sogar auf Motive des Gregorianischen Chorals zurück. Ohne somit den alten Stil zu vernachlässigen, schrieb er auch Musik, die alle Merkmale der Klangsprache des Barocks aufweist⁵. Diese Haltung war sehr typisch für viele Komponisten des 17. Jahrhunderts. Den kontrapunktischen Stil der Renaissancepolyphonie repräsentieren vor allem die Messen Mielczewskis – alle für Männerchor bestimmt. Die wichtigsten Vertreter der Barockmusik waren in Polen der bereits erwähnte Jacek Różycki, Marcin Mielczewski, Bartołomiej Pękiel, und später Grzegorz Gerwazy Gorczycki. Als bedeutendster Komponist von Instrumentalmusik wurde Adam Jarzębski bekannt. Die beiden erstgenannten sind deshalb wichtig im Bezug auf polnischrussische Beziehungen und polnische Einflüsse auf die Musik in Russland, weil sie mit dem bedeutenden Musiktheoretiker der damaligen Zeiten – Nikolai Dylecki, dessen Werk eine enorme Rolle in der Musikkultur Russlands spielt, verbunden sind. Wir können hier die Frage stellen: Konnte die damalige polnische Musikkultur mit ihren bedeutenden Persönlichkeiten überhaupt Einfluss auf das Nachbarland Russland haben? Lange wussten wir nicht viel davon, denn nur wenige Musikforscher auf beiden Seiten der Grenze beschäftigten sich mit dieser Problematik. Aber zweifelsohne war das damalige Polen eine Brücke zwischen der westlichen und der östlichen Kultur. Dieter Lehmann, der sich viel mit russischer Musik beschäftigte, schrieb: „Nachdem Russland im 16. Jahrhundert unter Iwan IV. eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs erlebt hatte, der u. a. zu verstärkten Kontakten mit Westeuropa führte, und nachdem im Zuge dieser auch auf den kulturellen Bereich übergreifenden Entwicklung neben der bis dahin allein herrschenden vokalen Kirchenmusik am Moskauer Hof Orgel- und Virginalspiel bekannt geworden waren, liegen die eigentlichen Anfänge der Kunstmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Aus diesem Zeitraum datieren die ersten Leistungen auf dem Gebiet der religiösen Kunstmusik. Die wichtigste Brücke von der altrussischen liturgisch gebundenen Kirchenmusik zur neuzeitlichen Kunst-

5 Obniska, Alte Musik, S. 56.

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musik bilden das chorisch angelegte geistliches Konzert und insbesondere die sogenannten „Kanty“ (abgeleitet von lateinischem Cantus, geistliche Lieder in Strophenform), die sich beide (angeregt durch polnische und ukrainische Vorbilder) in Russland des späten 17. Jh. selbständig weiter ausbildeten. Übermittler waren polnische und ukrainische Musiker, die in Moskau und anderen russischen Städten wirkten. Einer dieser Ukrainer, Nikolai Dilezki, legte in seinem zuerst polnisch, dann mehrmals russisch hrsg. Traktat Musikijskaja Grammatika (1675, 1677, 1679, 1681) die technische Grundlagen zur Kompos. geistl. Konzerte dar.“⁶ (MGG alt, S. 1145). Und weiter schreibt Lehmann: „Die Rezeption westeuropäischer Musik setzte in Russland mit den Zaren aus dem Geschlecht der Romanow ein. Begünstigt von Michail Fedorovič (1613–1645) und Alexej Michailovič (1645–1676), verdrängten speziell aus den Niederlanden und Polen verpflichtete Musiker die traditionellen „Skomorochi“ (russ. Spielleute) vom Zarenhof und den Adelssitzen. Die Vorliebe, welche die Romanow und angesehene Moskauer Adelsfamilien der westeuropäischen Musik entgegengebrachten und die sich in der Gründung einzelner Hausorchester und Chöre äußerte, entsprang nicht zuletzt einem gesteigerten Repräsentationbedürfnis“⁷. Polen war zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein großer, mächtiger Staat. Typisch war damals das stolze Gefühl, dieser „Rzeczpospolita“ (Republik) anzugehören, die als „das Vorbild einer breit angesiedelten slawischen Nation“ bezeichnet wurde. Bestärkt wurde dies noch durch die feste Gewissheit von den hohen Werten der Gesellschaftsordnung in Polen, einer Monarchie, die begrenzt war durch die republikanischen Rechte des Adels, der in freier Wahl den König bestimmte. Anfang des 17. Jahrhunderts verlegte König Zygmunt III. Waza seine Residenz von Krakau nach Warschau, dem einstigen Sitz der Fürsten Masowiens⁸. In der polnischen Musik tauchten ziemlich früh Zeichen des neuen Stils auf – man findet sie bereits in den monumentalen Offertoria und Communiones des Mikołaj Zieleński (herausgegeben in Venedig 1611). In jener Zeit hatte Polen lebhafte kulturelle Beziehungen zu Italien. Drei Jahre lang (1595–1598) war Luca Marenzio, der berühmte Madrigalist, Gast König Zygmunt III. und Kapellmeister der königlichen Kapelle, die mit dem ganzen Hof nach Warschau umgezogen ist. Später, unter der Leitung von Marco Scacchi (1623–1649) zählte das Ensemble rund 50 Musiker und repräsentierte ein sehr hohes künstlerisches Niveau⁹. Zu dieser Zeit lebten in Polen viele hervorragende, höchst talentierte Komponisten, die bereits erwähnt wurden. Es gab auch viele kleine und bescheidene Episoden, wie die Zusammenarbeit zwischen Musikkapellen oder einzelnen Musiker beiderseits der Grenze. Polnische Musi-

6 Dieter Lehmann, Die Anfänge der Kunstmusik bis Glinka, in: Russland, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 11, Red. Friedrich Blume, Bärenreiter Kassel, Basel, London, New York 1963, S. 1145. 7 Lehmann, Die Anfänge der Kunstmusik, S. 1146. 8 Obniska, Op. Cit., S. 51f. 9 Obniska, S. 52f.

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ker waren tätig als Aushilfen für die benachbarten Kapellen in Russland und umgekehrt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sogar manche polnische Orgelkompositionen in Russland bekannt sein könnten. Der Hoforganist des Fürsten Albrecht Radziwiłł in Ołyka und Nieśwież war Andrzej Rohaczewski (17. Jh.). Seine zwei Stücke, die in der Orgeltabulatur von Pelplin (erst 1958 aufgefunden) erhalten sind: die Motette Crucifixus surrexit (neunstimmig) sowie eine vierstimmige Canzone für Instrumente, den kompositorischen Normen der Epoche entsprechend. Die Tätigkeit Rohaczewskis am Hofe Radziwiłłs, wo auch eine Musikkappelle unterhalten wurde, geschah doch an der Grenze zu Russland. Manche Musiker migrierten wegen der Arbeitssuche, was besonders in Grenzregionen ziemlich typisch war. Auch sehr große Episoden sind in diesem Bereich zu verzeichnen. Auf der höchsten Ebene gab es auch den „Export“ von Musikern aus Polen nach Russland. Beispielsweise gab es seit Mai 1730 Verhandlungen zwischen dem russischen Hof in Moskau und dem polnisch-sächsischen Hof in Warschau und Dresden, um westliche Musiker in der russischen Hauptstadt anzustellen. Die neue russische Zarin Anna Ivanovna wollte eine eigene Musikkapelle haben. So trat eine ganze Gruppe von Musikern verschiedener Nationalitäten, unter der Leitung des Italieners Tommaso Ristori Ende 1730 mit einer Eskorte die Reise von Warschau nach Moskau an. Damit ist neben neuer westlicher Barockmusik auch eine neue, in Russland bisher kaum bekannte Form – die Oper – exportiert worden. Die Musiker waren am russischen Hof bis Januar 1732 und sind dann nach Warschau zurückgekommen¹⁰. In Bezug auf die Musikkultur, war Riga eine interessante Stadt im russischen Reich. Die heutige Hauptstadt Lettlands hat viele politische, ökonomische und soziale Veränderungen durchlaufen, unter anderem auch im Hinblick auf die staatliche Zugehörigkeit. Jahrhundertelang war sie eine multikulturelle Stadt, in der Elemente der einheimischen, lettischen Kultur auf deutsche, polnische, jüdische und russische Kultur trafen. Gegründet im Anfang des 13. Jahrhunderts war sie Zentrum der deutschen Kolonisation in Kurland. Beherrscht durch den Marienorden, wurde sie nach seiner Säkularisation im 16. Jahrhundert unter polnischer Verwaltung ein Teil des Polnischen Reiches. Seit 1621 gehörte sie zu Schweden, seit 1710 zu Russland. Ihre Zugehörigkeit zur russischen Monarchie schuf eine gewisse gemeinsame Plattform zur kulturellen „Integration“ der einzelnen Nationen innerhalb des zaristischen Imperiums, ähnlich wie es sich mit der Zugehörigkeit des zentralen und östlichen Territoriums Polens seit der Teilung Polens Ende des 18. Jahrhunderts und dem Wiener Kongress (1815) verhielt. Diese Umstände führten dazu, dass Riga stets von Migration geprägt war. Angehörige verschiedener Nationen siedelten sich hier an, kamen teilweise aus sehr entlegenen Provinzen des russischen Reichs. Andere wiederum verließen die Stadt und suchten ihr Glück woanders, andere blieben hier nur für kurze

10 Alina Żórawska-Witkowska, Muzyka na dworze Augusta II w Warszawie (Musik am Hof von August II. in Warschau), Warszawa 1997, S. 197–198.

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Zeit. Die Migration betraf im Wesentlichen alle sozialen und beruflichen Schichten, darunter auch Musiker. Von dem reichen Musikleben Rigas im 18. Jahrhundert, und besonders von dem hohen Rang der Musiker aus dieser Stadt zeugt die Tatsache, dass Fürst Radziwiłł aus Nieśwież im Jahre 1730 für eine Redoute in Vilnius Musiker aus Riga (außerdem auch aus Königsberg) engagiert hat, die das Ensemble seiner eigenen, aus Italien stammenden Hofmusiker verstärken sollten¹¹. Im selben Jahr spielte eine „angemietete“ Kapelle aus Riga beim Einzug von Fürst Ogiński in Vilnius¹². Igor Belza behauptet, dass im 17. Jahrhundert manche polnische Musiker und Sänger nach Moskau kamen, außerdem auch ukrainische „wyspiewaki“¹³. Nach Angaben dieses Forschers kamen im 18. Jahrhundert, wie bereits früher, auch polnische Musiker nach Russland. Am Hof Peter I. spielte eine polnische Dudelsackkapelle, während der polnische König August II. sich für die „Janitscharen“-Musik faszinierte. In den Verzeichnissen der Hofmusiker in Sankt Petersburg finden wir Namen polnischer Musiker, beispielsweise den Trompeter Grzegorz Mazura, den Geiger Bartłomiej Szlakowski, den Kontrabassisten St. Delubowski und andere¹⁴. L. Sabaneev schreibt über die Musik in Russland: Außer den polnisch-ukrainischen [sic!] Komponisten Dilezki, Kolenda, Zibulski taten sich auf diesem Gebiete deren kernrussiche Schüler Bawykin, Titow, Redrikow, Belajew, Kalaschnikow u. a. hervor, die alle der zweiten Hälfte des 17. und der ersten des 18. Jahrhunderts angehören. Sie schrieben ‚Kantaten‘, ‚Psalmen‘, ja sogar ‚Mysterien‘ und ‚Mysterien-Spiele‘, die gewissermaßen einen Übergang von den Formen der geistlichen Musik zu denen des musikalischen Schauspiels bildeten. Während dieser ersten Periode des westeuropäischen ‚Durchbruchs‘ waren die polnischen Einflüsse auf die musikalische Kirchenmusik so sehr vorherrschend, dass sie zunächst keine anderen neben sich aufkommen ließen. Zur Zeit Peters des Großen, als der Import ausländischer Maestri immer mehr zunahm, gesellten sich dazu schon deutsche und italienische, die sich übrigens im Westen nur wenig von den, aus den gleichen Quellen hervorgegangenen, polnischen unterschieden¹⁵.

Ich möchte jetzt wieder auf Nikolai Dylecki zurückkommen und etwas mehr über ihn sagen. Nach Angaben von manchen Forschern studierte Dylecki 1651 bis 1658 in Warschau und danach in Vilnius (Wilna, polnisch Wilno)¹⁶. Seit 1678 lebte er als Chorlei-

11 Łukasz Gołębiowski, Gry i zabawy różnych stanów w kraju całym, lub niektórych tylko prowincyach, Warszawa 1831, S. 198. 12 „Kurier Warszawski“ Jg. 1825, Nr. 224, S. 1010. Angegeben nach: Jerzy Gołos, Wypisy źródłowe do historii kapel i instrumentów muzycznych, in: Organy zabytkowe. Ludowy Instytut Muzyczny, Zeszyty Naukowe 1, Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego, Łódź 1989, S. 42. 13 Igor Bełza, Z dziejów polsko-rosyjskich kontaktów muzycznych, Kraków 1963, S. 25. 14 Bełza, Z dziejów polsko-rosyjskich kontaktów muzycznych, S. 30 (nach Nikolai Findejzen, Ocerki po istorii muzyki v Rossii s drevnejsich vremen do konca XVIII veka, Bd. 2, Anmerkungen, S. VII, XII, Moskva 1929). 15 Leonid L. Ssabanejew, Geschichte der russischen Musik. Bearb. von Oskar von Riesemann. Härtel, Leipzig 1926, S. 185–186. 16 Zum Beispiel Igor Bełza, Istorija polskoj muzykalnoj kultury, Bd. 1, Moskwa 1954.

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ter und Musiklehrer in Moskau. Sein Kompositionslehrbuch Musikalische Grammatik (Grammatika musikiyskago peniya) bildete eine entscheidende Grundlage für die Reform des russischen Kirchengesanges durch den Patriarchen Nikon. Er komponierte geistliche Konzerte, die seine Kenntnis der westeuropäischen, darunter auch der polnischen Musikkultur, zeigen. Welche Nationalität Dylecki hatte, wissen wir nicht. Jetzt möchte ich einige und subjektive Bemerkungen einfügen, die Dyleckis Nationalität betreffen, auch in Bezug auf seinen Name und Vornamen. Im damaligen Polen war der Vorname Mikołaj (Nicolaus) sehr populär und verbreitet. Aus den Reihen der polnischen Komponisten können wir z. B. die folgenden nennen: Mikołaj aus Radom, Mikołaj aus Chrzanów, Mikołaj aus Kraków (Krakau), Mikołaj Gomółka, Mikołaj Zieleński, und noch viele polnische Musiker, die in verschiedenen Kirchen- und Hofkapellen tätig waren. Der Familienname Dylecki klingt typisch polnisch und ist in Polen nicht selten. Auch der Vorname Paweł, also der Vorname des Vater von Dylecki (Nikolai Pavlovic Dylecki) war und ist in Polen sehr populär. Auch die Tatsache, dass Dylecki einmal als Bürger von Kiev genannt wurde, fällt diesbezüglich nicht ins Gewicht. Im 17. Jahrhundert war das ukrainische Gebiet ein Teil des Königreichs Polen und Kiev gehörte als Teil des Großherzogtums Litauen in Rahmen der Rzeczpospolita Obojga Narodów – Republik der zwei Nationen, dazu. Die Ukraine musste sich über viele Jahrhunderte zwischen Polen und Russland gewissermaßen im Zick-Zack-Kurs bewegen, bis sie erst im Jahre 1991 endlich die Unabhängigkeit erlangte. Es gibt keinen rationalen, mit Quellen untermauerten Beweis, dass Dylecki wirklich gebürtiger Ukrainer war. Platzieren ihn in die Kreise der ukrainisch-russischen Komponisten und bezeichnet ihn als Russe oder Ukrainer, so basiert das nur auf Indizien. Zweifelsohne ist aber seine berufliche Haupttätigkeit in Russland gewesen, wo er große Anerkennung fand. Ich behaupte nicht, dass Dylecki ein Pole war, aber sein Name, sein Vorname, der Vorname seines Vaters, seine Ausbildung in Polen (in Wilna, vermutlich auch in Warschau) und seine polnischsprachigen Arbeiten lassen vermuten, dass er polnischer Abstammung gewesen sein könnte (oder aus einer Mischehe hervorgegangen sein könnte). Sehr interessant ist die Tatsache, dass er sein Traktat von 1679, welchen er in altrussischer Sprache geschrieben hat (aus dem Polnischen übersetzt), in lateinischer Form auf Polnisch unterschrieb.¹⁷ Ohne entsprechende neue Quellen wird das Problem wohl nie gelöst werden können. Wenn Dylecki wirklich in Kiev um 1630 geboren wäre (es gibt dafür jedoch keine Beweise), hätte er als polnischer Bürger die Welt erblickt. Kiev gehörte seit langem zum Großherzogtum Litauen, das seit der Union von Lublin im Jahre 1569 mit dem Königreich Polen vereinigt war, mit dem polnischen König als Staatsoberhaupt. Dylecki wäre dann also schon seit seiner Geburt polnischer Untertan, egal zu welcher Nationalität er wirklich gehörte oder sich zugehörig fühlte.

17 Vgl. die Abbildung: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4c/Diletsky_signature. jpg, abgerufen am 25. 11. 2016.

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In früheren Arbeiten über Dylecki, auch in Lexikonartikeln, wird meistens Kiev als Dyleckis Geburtsort genannt¹⁸. Jedoch in der neuen MGG schrieb Nina Gerasimowa-Persydska, dass weder Ort noch Datum seiner Geburt oder seines Todes bekannt sind¹⁹. Die einzige Erwähnung in Ioannikij Korenevs Traktat Musikija (Moskau 1671), dass Dylecki ein Bürger der Stadt Kiev war²⁰, beweist nämlich überhaupt nicht, dass er dort geboren wurde. Wir wissen, dass er am Jesuitenkollegium (Akademie) in Wilna (Vilnius) studierte und nach Abschluss des Kurses der Artes liberales einen akademischen Titel erhielt. Im Jahre 1675 schrieb er eine in polnischer Sprache verfasste Huldigung Toga złota w nowej świata metamorphosie (Die goldene Toga in der neuen Wandlung der Welt), die dem Magistrat von Wilna gewidmet war. Diese Schrift ist jedoch verloren gegangen. Im selben Jahr verfasste er in Wilna, ebenfalls in polnischer Sprache, sein theoretisches Hauptwerk, nämlich den musikalischen Traktat Gramatyka muzyki (Musikgrammatik). Diese wertvolle Schrift ist leider ebenfalls verloren gegangen. Der Musikwissenschaftler Jan Kazem-Bek, der sich wissenschaftlich auch mit Dylecki beschäftigte behauptet, dass zurzeit 27 Exemplare des Traktates existieren, die meisten davon sollen Abschriften sein²¹. Man kann unter ihnen drei Hauptfassungen unterscheiden, die zweite und die dritte sind verkürzte Versionen der ersten Fassung. Die erste Fassung wurde in polnischer Sprache verfasst, im damals polnischen Wilna (Wilno, Vilnius). Sie ist zwar verloren gegangen, aber wir kennen sie in der Übersetzung des Verfassers aus dem Jahre 1679 in die altrussische Sprache (die sogenannte slawische Sprache). Dass die erste Version des Traktates in Polnisch geschrieben wurde, beweist die Titelseite des Autorenexemplars aus dem Jahre 1677, auf der steht: „Grammatik (. . . ), verfasst in Wilna, verbessert in Smolensk im Jahre 1677 seit der Geburt Christus unseres Gottes durch Nikolai Dylecki, dann später in Moskau übersetzt aus dem Polnischen in die slawische Sprache durch ebendiesen Nicolai Dylecki im Jahre 1679 [. . . ]“²². Das ist die neueste Überarbeitung des Werkes, die sogenannte Moskauer Fassung, die im Jahre 1910 in Sankt Petersburg zum ersten Mal gedruckt wurde. Zur Illustration seines Traktats führt Dylecki Beispiele nicht nur aus eigenen Werken an, sondern auch von anderen Komponisten, wie Marcin Mielczewski, dem be-

18 Zum Beispiel: Mała encyklopedia muzyki, Red. Stefan Śledziński, Warszawa 1981; Encyklopedia muzyczna PWM, Red. Elżbieta Dziębowska, Bd. „cd“, Kraków 1985; Encyklopedia muzyki, Red. Andrzej Chodkowski, Warszawa 2001. 19 Nina Gerasimowa-Persydska, Dylec‘kyj, Dileckij, Mykola, Nikolaj (Pavlovic), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 5, Red. Ludwig Finscher, Bärenreiter, Kassel, Basel, London, New York, Prag 2001, S. 1797. 20 Gerasimowa-Persydska, Dylec‘kyj, Dileckij, S. 1797. 21 Jan Kazem-Bek, Mielczewski a Mikołaj Dylecki, in: M. Mielczewski. Studia. Red. Z. M. Szweykowski, Kraków 1999, S. 179. 22 Kazem-Bek, Mielczewski a Mikołaj Dylecki, S. 179. Vladimr Protopopov veröffentlichte im Jahr 1979 das Faksimile von Dyleckis Handschrift von 1679 und bearbeitete seinen Text wissenschaftlich. Außerdem übersetzte er den Text ins zeitgenössische Russisch. Vgl. Vladimir Protopopov, Nikolai Dileckij idea grammatiki musikijskoj. Moskva 1979.

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deutenden Schöpfer der Barockmusik in Polen, und Jacek Różycki, möglicherweise einer von Dyleckis Lehrern. Nach Lehmann studierte Dylecki Kontrapunkt in Wilna bei dem polnischer Musiker Mikołaj Zamarjewicz. In seinem Traktat erwähnt er ihn, zitiert auch kleine Fragmente von seinen Stücken, und erwähnt auch Jan Zjuska. Dylecki benutzt viele musikalische Termini als Übersetzung aus dem Lateinischen und Polnischen, z. B. Kadenz, Konkordanz, Takt, Kontrapunkt²³. Dylecki war eine sehr wichtige und bedeutende Persönlichkeit, die die Musik im damaligen Russland erneuert und auf bisher unbekannte Wege gebracht hat. So schreibt Aleksandra Całaj-Jakimienko über den Humanisten Dylecki: „Dylecki zeigt sich uns als ein gebildeter Mensch der neueren Zeit, der mehrere Sprachen beherrschte“²⁴. Natürlich beherrschte er auch, und das sogar sehr gut, die aus dem Westen stammende neue Musiksprache. Abgesehen von der weniger wichtigen Problematik der Nationalität Dyleckis können wir feststellen, dass seine großen Verdienste auf dem Gebiet der Erneuerung der russischen Musik liegen. Beide haben ihren Ursprung und ihre Quelle in der polnischen Musikkultur. Auf dem Gebiet der russisch-polnischen Beziehungen und Kontakte in der Musikkultur, insbesondere vor dem 19. Jahrhundert, gibt es für die Musikwissenschaftler noch viel zu tun und, hoffentlich, noch mehr zu entdecken. Die Forschungsperspektiven scheinen nicht begrenzt zu sein. Mit meinem bescheidenen Referat wollte ich auch eine gewisse Anregung für weitere Recherchen in diese Richtung schaffen, die vielleicht in Zukunft neue, interessante Ergebnisse bringen könnten.

23 Lehmann, Mikołaj Dylecki a muzyka polska w XVII wieku (Nikolai Dilezki und die polnische Musik im 17. Jh.), In: „Muzyka“ Jg. 1965, Nr. 3, S. 42. 24 Aleksandra Całaj-Jakimienko, A., Myśl muzyczno-teoretyczna na Ukrainie w XVII w. i prace Mikołaja Dyleckiego. In: Musica antiqua II, Acta Stientidica, Bydgoskie Towarzystwo Naukowe, Bydgoszcz 1969.

Maria Di Salvo

Moskau und das Moskauer Reich in den Memoiren des italienischen Sängers Filippo Balatri Anfang 1699¹ kam der Kastrat Filippo Balatri mit Petr Alekseevič Golicyn nach Moskau, wo er dann über zwei Jahre lebte. Er war sechzehn Jahre alt und begriff wenig von dem, was um ihn herum geschah. Die radikalen Reformen, die Peter I. in dieser Zeit in Russland anstieß, interpretierte er auf seine eigene Weise. Aber nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt war und dann einen Großteil seines Lebens in verschiedenen Ländern verbracht hatte in der Hoffnung, dort eine sichere Bleibe zu finden, wurde Balatri klar, dass seine frühen Moskauer Erfahrungen die wichtigste Zeit seines Lebens gewesen waren. Jedes Mal, wenn er Würdenträger traf oder von ihnen empfangen wurde, stellte man ihm ständig Fragen über dieses junge Land, über den Reformzaren und über die Veränderungen der Sitten in Russland. Diese Themen, aber auch die persönlichen Erlebnisse Balatris gingen in die Memoiren ein, die der Sänger dreißig Jahre nach seiner weiten Reise zu schreiben begann, zunächst in Prosa (1725–1732), später in Versen (1735). Er verfasste sie für einen anonymen „Freund“, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird. Das zweite dieser beiden Manuskripte I frutti del mondo (Die Früchte der Welt)² entdeckte der deutsche Philologe Karl Vossler in der Münchner Staatsbibliothek und veröffentlichte es 1924. Das erste (Vita e viaggi di Filippo Balatri, Leben und Reisen Filippo Balatris) wurde erst in den 1960er Jahren bekannt. Die Autorin dieses Beitrags

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Davon, dass Balatri und sein Gönner Ende Januar – Anfang Februar nach Moskau gekommen sind und nicht im Dezember 1698 wie Julija I. Gerasimova annahm (im Aufsatz: Julija I. Gerasimova, Vospominanija Filippo Balatri – novyj inostrannyj istočnik po istorii petrovskoj Rossii (1698–1701), in: Zapiski Otdela Rukopisej 27 (1965), S. 171), ist im Brief P. A. Golicyns vom 13. Februar 1699 an den toskanischen Herzog die Rede (ediert im Aufsatz: Maria Di Salvo, Vita e viaggi di Filippo Balatri (Preliminari all’edizione dell testo), in: Russica Romana 6 (1999), S. 51). Dort schreibt er, dass sie am 2. Februar angekommen sind. Die Schwankungen in der Datierung kommen daher, dass unklar ist, ob Golicyn den julianischen oder den gregorianischen Kalender verwendet. Dies ändert aber wenig, zumal in demselben Brief steht, dass die Reise drei Monate gedauert hat (und die Gruppe am 2. November aus Venedig abgereist ist). 2 Bereits zuvor hat Il󸀠 ja Šljapkin eine kurze Bemerkung über die Existenz dieser Handschrift gemacht, und zwar im Rahmen von Recherchen, die die Russische Akademie der Wissenschaften in verschiedenen europäischen Archiven angestellt hat, um Quellen über die Geschichte Russlands zu finden. Vgl. ˙ Il󸀠 ja A. Šljapkin, Neizvestnyj memuarist – ital󸀠 janec Petrovskoj epochi i otryvok russkoj pesni. Izvestija Otdelenija russkogo jazyka i slovestnosti imperatorskoj Akademii Nauk 3 (1908), S. 271–280. DOI 10.1515/9783110520224-007

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bereitet es zurzeit für die Publikation vor. Solche Memoiren sind eine Rarität, denn nach dem derzeitigen Kenntnisstand in der Musikgeschichte gibt es keine anderen Autobiografien von Kastraten. Die einzige Ausnahme sind einige Stanzen im 1662 erschienenen Gedicht La troja rapita (Das gestohlene Schwein) von Loreto Vittori. Leider wusste Vossler nur wenig über die Geschichte Russlands, und sein knapper Kommentar ließ vieles unerklärt. Dies betrifft vor allem die Beschreibung des Moskauer Reiches. Vollkommen zu Recht betonte Berngard Kafengauz, der sich schon früh für das Poem interessierte, dass Vossler sich bei der Herausgabe des Textes von wenig überzeugenden Prinzipien habe leiten ließ und dass sein Kommentar Fehler enthielt. Kafengauz, der die italienische Sprache anscheinend eigens lernte, um sich besser mit dieser Quelle vertraut machen zu können,³ bestand bis zum Ende seines Lebens darauf, dass sie unbedingt vollständig publiziert werden müsse. Der Historiker wies erstmals die Authentizität von Balatris Bericht nach und rekonstruierte den Kontext einiger Episoden. Allerdings stellte er offenbar in sowjetischen Archiven keine speziellen Nachforschungen über den Autor an. Weitere Reisen des Italieners durch verschiedene Länder Europas erzählte Kafengauz in Anlehnung an Balatris Worte nach. In den 1960er Jahren lernte Kafengauz ein anderes Werk desselben Autors kennen, das das bisherige Bild seiner Abenteuer um wichtige Züge ergänzte. Balatris Manuskript umfasste ursprünglich zehn Bände, von denen neun erhalten sind. Diese erhielt die Moskauer Lenin-Bibliothek 1962 anlässlich ihres Jubiläums von der Prager Volksbibliothek als Geschenk. Zu diesem Anlass forderte Kafengauz erneut, dass beide Werke Balatris publiziert werden müssten, und wieder vergeblich. Das Moskauer Manuskript enthält eine frühe autobiografische Erzählung in Prosa mit dem Titel Leben und Reisen Filippo Balatris. Erstmals schrieb die Bibliotheksmitarbeiterin Julija Gerasimova über deren Inhalt und Bedeutung. Sie tat dies in einem ausführlichen Artikel, der bis vor kurzem gemeinsam mit Vosslers Edition als wichtigste Quelle für biografische Informationen über den Kastraten diente.⁴ Vosslers Buch, das auf Italienisch erschien, war hauptsächlich Musikwissenschaftlern und Literaturhistorikern zugänglich. Der Artikel Gerasimovas hingegen, der umfangreiche (wenn auch leider keineswegs fehlerfreie) Zitate aus Zitate aus dem Werk Balatris enthielt, fand die Aufmerksamkeit von Historikern und machte so den Namen des Autors Lesern bekannt, denen der italienische Text sonst unzugänglich geblieben wäre. Ein noch breiteres Publikum begann sich für das Leben und die Abenteuer des italienischen Kastraten zu interessieren, nachdem das Buch der deutschen Schriftstellerin Christi-

3 Vgl. Kafengauz’ halb autobiografische Notiz im Wissenschaftlichen Archiv der Russländischen Akademie der Wissenschaften in Moskau (Fond 1580, Verzeichnis 1, Nr. 125, S. 12: „Istorija odnogo pevca. Fragment. Avtograf (ne pozdnee 1964)).“ Daraus geht hervor, dass Kafengauz sein gesamtes Leben lang an dieser Quelle über die petrinische Epoche interessiert blieb und dass er nicht müde wurde, sich für ihre Publikation einzusetzen. Den Hinweis auf diesen Archivbestand verdankt die Autorin Andrej Topyčkanov. 4 Gerasimova, Vospominanija Filippo Balatri

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ne Wunnicke erschienen war.⁵ Darin wird die Biografie des Sängers auf der Grundlage all seiner Werke lebendig und interessant geschildert. Balatris Leben war auf seine Weise außergewöhnlich, sogar für ein Jahrhundert, in dem – wie ein deutscher Wissenschaftler es ausdrückte – italienische Künstler über ganz Europa verstreut in der „Diaspora“ lebten. Dass er in der Musikgeschichte eine Spur hinterließ, hatte er nicht seiner Stimme zu verdanken wie etwa der berühmte Farinelli (den er singen hörte und über den er sich begeistert äußerte⁶) und auch nicht seinem engen Verhältnis zu einem berühmten Komponisten, wie dies bei Senesino und Händel der Fall war. Dennoch wird sein Name in den meisten Enzyklopädien, Lexika und überhaupt in den Nachschlagewerken zur Geschichte der europäischen Musik erwähnt. Die Artikel, die ihm gewidmet sind, zitieren in der Regel die leider nicht immer korrekten Angaben Vosslers. Beispielsweise datierte Vossler Balatris Geburt auf 1676 statt auf 1682. Nach aufwendigen Recherchen in Bibliotheken und Archiven verschiedener Länder hoffe ich, das Material schon bald beim Verlag einzureichen zu können. Nach meinen Berechnungen wird das Buch etwa 500 Seiten umfassen. Es wird den vollständigen Text Balatris enthalten, einen Kommentar und einen ausführlichen Artikel, in dem nach Möglichkeit Angaben zur Biografie Balatris präzisiert und die Besonderheiten seiner Werke charakterisiert werden. Darüber hinaus wird es eine Liste aller Opern umfassen, an deren Aufführung er beteiligt war, außerdem einige Illustrationen. Hier möchte ich kurz einige Ergebnisse der geleisteten Arbeit vorstellen und die Bedeutung, aber auch die Unzulänglichkeiten dieser Quelle aufzeigen. Um das Zeugnis Balatris einschätzen zu können, muss man vor allem das Genre seines Werkes im Blick haben. Wie aus Angaben im Text hervorgeht, wurde das Werk zwischen 1725 und 1732 verfasst. Damals waren schon viele Jahre seit den Ereignissen vergangen, die in ihm beschrieben sind. Noch größer war der zeitliche Abstand zum Poem „Die Früchte der Welt“, das der Sänger 1735 verfasste. Obwohl Balatri versichert, dass er zumindest während seines Russland-Aufenthalts ausführliche Notizen gemacht hat, um später seinem Gönner, dem toskanischen Herzog Cosimo III., alles genau erzählen zu können, wurden seine Erinnerungen intensiv literarisch überarbeitet. Anfang des 18. Jahrhunderts überschnitt sich das Genre der Autobiografie stark mit dem Genre des Romans und speziell im Fall Balatris mit dem Genre des komischen Schelmenromans. Die Autobiografie hatte damals noch nicht die charakteristische Form der ‚Geschichte einer Seele‘ bekommen, die ihr später Rousseau geben sollte. Am Anfang seines Werkes stellt Balatri fest, dass er sich bei der Beschreibung seiner Abenteuer nicht auf Barclay beziehen kann (also auf den Verfasser des berühmten didaktischen Ritterromans Argenis, den Vasilij Tred󸀠 jakovskij ins Russische

5 Christine Wunnicke, Die Nachtigall des Zaren. Das Leben des Kastraten Filippo Balatri. München 2001. 6 In seinen Memoiren bezeichnet er ihn als „un mangiamusica“, also als einen „Musikgourmet“. Vgl. Russländische Staatsbibliothek (RGB), Handschriftenabteilung, Fond 218, Nr. 1247, Bd. 9, f. 46v.

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übersetzt hat) und dass stattdessen der Schöpfer Truffaldinos, also ein Komödienautor, besser zu ihm passe. Außerdem schrieb Balatri seine Erinnerungen in einem Moment, als seine Qualität als Sänger nachließ und er schon Musiklehrer in der Familie des bayerischen Kurfürsten geworden war. Wie für viele professionelle Kastratensänger war die sicherste Perspektive für das Alter das Kloster, und dafür entschied sich Balatri schließlich auch. Seine Erinnerungen schrieb Balatri in der Form eines imaginären Gesprächs mit einem anonymen Freund, den man für fiktiv halten könnte, wenn der Autor ihn nicht an einigen Stellen als Abt oder Vorsteher ansprechen würde. Wahrscheinlich handelt es sich um den bayerischen Abt des Klosters von Fürstenfeld, in das Balatri eingetreten war und wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Nicht umsonst sind insbesondere die letzten Bände des Werks Leben und Reisen voll von religiös-didaktischen Exkursen. Es wäre nicht angemessen, sie zu kürzen oder zu entfernen, wie Vossler dies in seiner Ausgabe der Früchte der Welt getan hat. Gemeinsam mit den lebhafteren und interessanteren Erlebnisschilderungen sind sie ein unverzichtbarer, wenn auch schwer lesbarer Bestandteil des Gesamtwerks. Die Form des Schelmenromans, auf die der Titel Leben und Reisen verweist, entspricht hervorragend dem Inhalt des Buches: Es erzählt von den Reisen und den Streichen des jungen Balatri und von der Weisheit, die der Autor im Alter entwickelt hat. Wie Jean Starobinski treffend bemerkt hat⁷, beschreibt die Autobiografie das Leben aus der Sicht des Menschen, der Balatri zur Zeit der Niederschrift war. Balatri war zu dieser Zeit im Dienst eines Adligen und bereitete sich auf den Eintritt ins Kloster vor. Dementsprechend darf man von seinen Werken nicht die Präzision eines Tagebuchs erwarten. Der Autor sah seine Aufgabe eher darin zu zeigen, wie stark er sich von dem jungen „Ich“ unterschied, das die Hauptperson der Geschichte war. Deshalb häufen sich die moralisierenden Betrachtungen und Lektionen, während Details der künstlerischen Karriere ausgelassen werden, die ja schon der Vergangenheit angehört. Balatri nennt fast keinen der Sänger, mit denen er aufgetreten ist, obwohl Berühmtheiten dabei waren; er lässt auch oft die Namen der Personen aus, die er getroffen hat. Daher ähneln die meisten Episoden, die er erzählt, eher einer Anekdotensammlung als einer zusammenhängenden historischen Erzählung. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht immer der Autor, und was um ihn herum vor sich geht und wie er es auffasst. Den chronologischen Rahmen muss man anhand der wenigen Bezüge auf zeitgenössische Ereignisse rekonstruieren. Unter den Erlebnissen des Sängers gab es eines, das für die damalige Zeit recht exotisch war und das daher oft im Mittelpunkt seiner Erzählungen und Gespräche steht; deshalb nimmt es in seinen Memoiren erheblichen Raum ein (sechs von neun Bänden sind ihm gewidmet). Außerdem sind die entsprechenden Passagen erheblich stärker literarisch überarbeitet als die anderen. Sie handeln von den etwa zwei Jahren, die der junge Filippo im Moskauer Reich verbrachte (von 1699 bis Anfang 1701).

7 Jean Starobinski, L’occhio vivente. Torino 1975, S. 232–234

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Wie bereits erwähnt, lebte Balatri, der bei seiner Abreise aus Italien erst 17 Jahre alt war, in dieser Zeit unter außergewöhnlichen Umständen, teilweise am Hof Peters I., teilweise im Haus Petr Golicyns. Er war zwei Mal auf den Werften in Voronež – einmal im Sommer 1699, als er gerade anfing, Russisch zu verstehen und zu sprechen und ein zweites Mal im Frühjahr 1700 aus Anlass des feierlichen Stapellaufs des Schiffes Predestinacija (dt: Vorsehung). Er war Mitglied der katholischen Gemeinde in der deutschen Vorstadt Moskaus, besuchte gemeinsam mit dem Zaren dessen Geliebte Anna Mons, prügelte sich mit den Kammerdienern des Zaren, die sich über seinen katholischen Glauben lustig machten; es erscheint glaubhaft, dass er im späten Frühling 1700 mit Boris Golicyn an den Unterlauf der Volga fuhr, um mit dem Chan der Kalmücken zu verhandeln. Diese Mission Golicyns habe ich weder in der Literatur noch in den „kalmückischen Akten“ des Russländischen Staatsarchivs für alte Akten erwähnt gefunden. Es gibt Informationen über eine andere Mission, die im vorangegangenen Jahr stattgefunden hat. Aber es ist schwer zu sagen, ob sie mit der Episode identisch ist, die Balatri beschreibt. In Leben und Reisen folgt die Abreise zum Chan auf den Stapellauf der „Vorsehung“, sie findet also im Mai 1700 statt. Über die Ziele, die Golicyn dabei verfolgt und über die erzielten Ergebnisse schreibt Balatri nichts. Dies ist ein typisches Beispiel für den Charakter seines Werks. Der Autor erzählt in der Regel wenig vom politischen Leben der Länder, die er bereist hat. Sein Blick ist – anders als beim österreichischen Gesandtschaftssekretär Johann Korb – nicht der des Diplomaten oder eines Menschen, der das beschreibt, was ihm von seinem Beruf her nahe und vertraut ist; er hat viel gesehen, er hat es auf seine Art interpretiert und erzählt, aber er war ein Jugendlicher, den die Amouren mit der eigensinnigen Anna Mons weit mehr interessierten als ein historisch und ethnografisch präziser Bericht. Diese Eigenheiten blieben auch später bestehen, als er seine Memoiren schrieb. Sie passten gut zum Romangenre, das er gewählt hatte. Während sich in Archiven anderer Länder Angaben über Balatri erhalten haben, sucht man in Russland bisher vergeblich nach Spuren seiner Anwesenheit. Meines Erachtens liegt dies teilweise daran, dass sein Aufenthalt in Moskau keinen offiziellen Charakter hatte. Er gelangte mit Petr Golicyn ins Moskauer Reich, entweder als sein Gast oder als Teil seines Gesindes und zudem auf Befehl des Zaren. Deshalb brauchte er sich nicht beim Auslandsund Ausländeramt registrieren zu lassen. Sein Einkommen bezog er nicht als Honorar, sondern als Geschenk. Dementsprechend wird sein Name nicht in den Archiven der Rüstkammer erwähnt, wo Aufzeichnungen über Maler und Sänger gemacht wurden. Obwohl er nur bedingt an Wirtschaft und Politik interessiert war, liebte es Balatri in reiferem Alter zu reisen, und er beobachtete neugierig das Alltagsleben anderer Völker. Außer den Notizen über das Moskauer Reich findet sich in seinen Memoiren eine hochinteressante Beschreibung Londons. Dort hielt er sich 1714–15 auf, als nach dem Tod von Königin Anne die hannoversche Dynastie den Thron bestieg. Weniger lebendig und literarisch wirkt der letzte Band von „Leben und Reisen“, in dem der Autor von Bayern erzählt. Diesen Teil hat er wahrscheinlich analog zur Beschreibung anderer Länder verfasst, als würdige und gewissermaßen unverzichtbare Krönung sei-

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nes ausführlichen Werks, als Zeichen der Wertschätzung und der Dankbarkeit seinen letzten Gönnern gegenüber. Bei der Beschreibung des Moskauer Reiches (wie übrigens auch Englands) stehen die Themen im Vordergrund, die üblicherweise die Aufmerksamkeit der Reisenden erregten und die in der bereits existierenden Literatur oft bevorzugt behandelt wurden. An einer Stelle verweist der Autor den Leser auf einen Luxusfolianten, die in der Münchener Bibliothek des Theatinerordens⁸ aufbewahrt wurde. Aber die Erzählung basiert immer auf dem, was Balatri mit eigenen Augen gesehen hat und auf Episoden aus seiner persönlichen Erfahrung. Wie andere Autoren vor ihm, beschreibt er die Hinrichtung von Dieben und von untreuen Ehefrauen sowie die mit der Knute und mit Stöcken vollzogene Prügelstrafe. Dabei hält er stets die blutigen Details fest, die seine Fantasie besonders beeindruckt haben. Hinzu kommen das Erstaunen und eine gewisse naive Begeisterung für das Können der Henker und die Reaktion der Opfer. Wie bei vielen anderen Reisenden vor Balatri findet man in „Leben und Reisen“ ein Ritual der Brautwerbung und der Hochzeit beschrieben, das sich etwas von der traditionellen russischen Hochzeit unterscheidet, das in ethnografischen Studien festgehalten ist. Dabei muss man berücksichtigen, dass das Ritual, das der Italiener beobachtet hat, im Haus eines Bojaren stattgefunden hat. Die Braut war eine junge Frau aus der Suite von Dar󸀠 ja Golicyna, die die Rolle ihrer Mutter einnahm, und im Vergleich zur dörflichen Tradition gab es sicherlich einige Neuerungen. Solche Veränderungen hat auch der niederländische Russland-Reisende Cornelis de Bruijn registriert, der nur einige Jahre später bei einem solchen Fest anwesend war. Natürlich haben die Begräbnis- und die Klagerituale die besondere Aufmerksamkeit Balatris erregt, und er beschreibt sie in dem scherzhaften Ton, der für ihn typisch ist. In seinen Werken war er immer bestrebt, Pathos zu vermeiden oder dieses zumindest mit Humor zu kombinieren: So spielte er stets auf seine Befindlichkeit als Kastrat an und so erzählte er von den dramatischsten Abenteuern, ohne zu vergessen, dass er Truffaldino war und nicht die Hauptperson eines erhabenen Romans. Dementsprechend betont er in seiner Erzählung stark den theatralischen Charakter des Hochzeitsrituals und der Klagelieds: In Balatris Darstellung bedient sich die Person, die das Ritual vollzieht (manchmal ein Mann, öfter – eine Frau) eines regionalen (toskanischen) Dialekts. Durch die distanzierte Schilderung entsteht der Eindruck einer Farce. Das Theater war Balatris Lieblingsgenre. Sein letztes erhaltenes Werk war bekanntlich ein religiöses Drama über die heilige Margarita von Cortona, das für die Aufführung vor den Mitbrüdern im Fürstenfelder Kloster gedacht war.⁹

8 Fond 218, Nr. 1247, Bd. 6, f. 61v. Welchen Titel Balatri im Auge hatte, ließ sich nicht rekonstruieren. 9 Das Manuskript wurde im 19. Jahrhundert von der Stadtbibliothek Cortona erworben und unter der Redaktion von Divo Falossi und Maria Angela Mazzei herausgegeben, die eine fundierte Diplomarbeit über den Sänger verfasst hat. Vgl. Maria Angela Mazzei, F. Balatri, S. Margherita da Cortona. Istoria sacra da rappresentarsi, Cortona 1982.

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Je stärker der Autor mit der Rückständigkeit oder einfach mit der Andersartigkeit der Moskauer Sitten im Vergleich zum engen Horizont seiner Heimatstadt konfrontiert war, desto notwendiger und unausweichlicher schienen ihm die Reformen Peters I. In seinem vereinfachten Verständnis lief die Tätigkeit des Zaren darauf hinaus, Europa ins Moskauer Reich zu bringen. Dementsprechend sah er auch sich selbst in der Rolle eines Kulturträgers. Hieraus erklären sich die Schlägereien mit den Kammerdienern, die sich über seinen katholischen Glauben lustig machten, die Konflikte mit den Repräsentanten der russisch-orthodoxen Kirche und der Spott über die alten Bojaren im Haushalt der Golicyns. Aber er fühlte sich geschmeichelt, dass man ihn bat, von der Musik, von den Feiertagen und den Sitten Italiens zu erzählen. Hier konnte er als Träger und Vermittler einer anderen, erlesenen Kultur auftreten, obwohl er – wie er freimütig zugibt – von vielem nur vom Hörensagen sprechen konnte, weil er zur damaligen Zeit nur über eine sehr begrenzte Lebenserfahrung verfügte. Am aufmerksamsten hörten ihm die Frauen zu, insbesondere die wissbegierige Dar󸀠 ja Golicyna und die jungen Damen aus ihrem Gefolge, in deren Gemächern er ganze Tage verbrachte. Dass der Sänger häufig mit Frauen Umgang hatte, betonten alle Forscher, die sich bisher mit den Erinnerungen Balatris beschäftigt haben. Alle Leser sind einig darüber, dass sie sich von anderen Memoiren über das petrinische Russland dadurch unterscheiden, dass sie das Leben des weiblichen Teils der Gesellschaft lebhaft beschreiben, mit dem sich der Autor aufgrund seines Alters und Status als Mitglied der Familie Golicyn intensiver vertraut machen konnte. Diese Frage soll hier nicht eigens vertieft werden, weil sie im häufig zitierten, ausführlichen Aufsatz von Daniel Schlafly¹⁰ behandelt wird. Es sei nur angemerkt, dass der Text „Leben und Reisen“ eine frauenfeindliche Tendenz hat, die literarisch überhöht ist. Vielleicht wurde sie auch von der Zeit inspiriert, in der die Memoiren geschrieben wurden und davon, dass der Adressat ein Vertreter des katholischen Klerus war. Dennoch hatte der Autor ein besonderes Interesse für Frauen und war sogar Liebesaffären nicht abgeneigt, wie die Geschichte seiner Beziehung zu Anna Mons zeigt. Im Hinblick auf die Thematik des Sammelbands soll hier auf die – allerdings spärlichen – Informationen über das Musikleben an der Wende vom 17 zum 18. Jahrhundert hingewiesen werden, die man den Erinnerungen entnehmen kann. Wie bereits erwähnt, schreibt der Autor nicht ausführlich über sein Berufsleben, so dass man bei vielem auf Vermutungen angewiesen ist. Die erste Frage, die man sich stellen kann ist die, welches Verhältnis Peter I. zur Musik hatte: Denn üblicherweise wird angenommen, dass der Zar eine Vorliebe für Märsche, Militärmusik, Pauken und Trompeten hatte, und dass der italienische Sänger etwas völlig anderes mitbrachte, nämlich Arietten und Lieder. Erinnern wir uns zunächst, dass er nur durch puren Zufall Moskauer Reich gelangte, weil sich Petr Golicyn 1698 in Florenz aufhielt. Wie alle „Navigatoren“,

10 Daniel L. Schlafly Jr., A Muscovite Boiarynia faces Peter the Great’s Reforms: Dar󸀠 ia Golitsyna between Two Worlds, in: Canadian-American Slavic Studies, Jg. 31, 3 (1997), S. 249–268.

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die der Zar nach Venedig schickte, sollte dieser nicht nur verschiedene Fertigkeiten und Fähigkeiten erlernen, sondern auch lokale Meister für die Arbeit in Russland anwerben. Wie viele andere Russen wurde Golicyn feierlich von Herzog Cosimo III. empfangen. Dieser versuchte die internationale Rolle der Toskana in einem schwierigen Moment ihrer Geschichte zu verteidigen, und wollte zu diesem Zweck für die florentinischen Kaufleute privilegierten Zugang zu den russischen Märkten aushandeln. Einer von ihnen, Francesco Guasconi, der häufig in Balatris Manuskript erwähnt wird, hatte sich schon vor langer Zeit in der deutschen Vorstadt niedergelassen. Dort wurde er neben General Patrick Gordon zu einem wichtigen Repräsentanten der katholischen Gemeinde und diente als Mittelsmann zwischen dem Moskauer Reich und den italienischen Staaten.¹¹ Neben anderen Spezialisten suchte Golicyn für den Zaren Sänger und Musikanten. Weil die Erfahrensten unter ihnen sich weigerten, in so ein fernes Land zu reisen, dachte der Herzog an den jungen Filippo, den seine Eltern nach der Kastration in Florenz bei einem guten Lehrer untergebracht hatten. So erzählt es Balatri, und diese Version erinnert möglicherweise an den Bericht von Jacob von Staehlin, der in seinen „Originalanekdoten von Peter dem Großen“¹² vermerkt, dass der Zar wünschte, während der „Großen Gesandtschaft“, die durch baltische und deutsche Städte reiste, zu seiner Unterhaltung solche Musikanten bei sich zu haben (Anekdote 103).¹³ Allerdings meinte Staehlin Musikanten aus den Städten selbst, aber vielleicht brachte diese „Offenbarung“ des Zaren seine Vertrauten zur Überzeugung, dass auch der Moskauer Staat solche Spezialisten brauchte. Wie auch immer: Diejenigen „Navigatoren“, die sich eine Zeitlang in Venedig, in Florenz und in Rom aufhielten, lernten dort die Rolle der Musik für die Bildung von Adligen und für das gesellschaftliche Leben eines Landes schätzen. Wie Balatri erzählt, wurde Golicyn selbst zu einem großen Musikliebhaber, und in der großen Karawane von Personen, die in den Dienst des Zaren gestellt wurden und die Anfang November 1698 mit ihm nach Moskau fuhren, waren drei Mitglieder des Gefolges, die in Italien – wenn auch nicht sonderlich erfolgreich – gelernt hatten, auf der Theorbe zu spielen: Einer von ihnen spielte wohl gut, konnte aber nicht begleiten, ein anderer hatte schon alles vergessen, als er in Wien angekommen war, und ein dritter konnte nicht einmal mehr sein Instrument stimmen, nachdem er zwei Monate in Moskau verbracht hatte.¹⁴

11 Vgl. dazu: Maria Di Salvo, Florence, Amsterdam, Moscow: a Russian Merchant in Peter the Great’s Time, in: Emmanuel Waegemans (Hg.), Russia and the Low Countries in the Eighteenth Century/ Rossija i Niderlandy v XVIII veke, Groningen 1998, S. 89–95, und Stefano Villani, Ambasciatori russi a Livorno e rapport tra Moscovia e Toscana nel XVII secolo, in: Nuovi Studi Livornesi XV/2008, S. 37–95. 12 Erstpublikation: Jacob von Staehlin, Originalanekdoten von Peter dem Großen Leipzig 1785. Neuauflage: München 1968. 13 Staehlin, Originalanekdoten von Peter dem Großen, Leipzig 1785, S. 297–302 14 RGB, Handschriftenabteilung, Fond 218, Nr. 1247, Bd. 1, f. 52. Die Theorbe ist ein Bassinstrument und gehört zur Familie der Lauten.

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Balatri wurde Golicyn unter der Bedingung übergeben, dass man ihm erlaubte, in seine Heimat zurückzukehren, sobald seine Eltern ihn brauchten. Als überzeugendes Argument, ihn nach Moskau zu schicken, diente die Tatsache, dass Golicyn Cosimo einen lange gehegten Wunsch erfüllen konnte, indem er ihm zwei kalmückische Jungen schenkte. Dieser Austausch war, wie sich herausstellte, auch zum Nutzen des jungen Filippo, weil er in Moskowien luxuriöser lebte als er es sich in der verarmten Toskana je zu erträumen gewagt hätte. Aber trotz aller Privilegien, die er am Zarenhof genoss, war er dort ein genauso interessanter und exotischer Gegenstand wie die samojedischen Jungen¹⁵, die sich Cosimo III. in seinen Briefen an Petr Golicyn so dringend erbeten hatte. Ihn luden Vertreter adliger Familien, die Schwestern des Zaren und der Zarewitsch ein, bei ihnen zu Hause zu singen. Alle belohnten ihn reichlich dafür, aber wenn man die Erinnerungen liest, hat man nicht den Eindruck, dass jemand Filippuškas (wie man ihn in Moskau nannte) Kunst besonders lieb gewonnen hätte oder dass man ihn aus anderen Erwägungen eingeladen hatte als aus Neugier oder um dem Zaren zu gefallen. Etwa Ende 1699 kam zu den üblichen Verpflichtungen, die mit der Anwesenheit bei Hof verbunden waren, noch eine andere hinzu, als der Zar seine Geliebte Anna Mons ins Haus brachte und anordnete, dass Balatri ihr Gesangsunterricht gab. Der Unterricht mit ihr wurde bald eingestellt, weil sie sich als unbegabte und desinteressierte Schülerin herausstellte. Interessant ist jedoch der Bericht darüber, dass Balatri, als er in das Haus der Familie Mons in der deutschen Vorstadt kam, zu seiner großen Freude dort ein Cembalo fand. Er begann fröhlich darauf zu spielen und war so begeistert von dieser Möglichkeit, dass er auch noch anfing zur instrumentalen Begleitung zu singen. Wie er schrieb, hatte er bis dahin „irgendwie auf zwei Beinen singen“ müssen „wie ein Hahn, weil in diesem Land niemand solche Instrumente kannte und man zur Begleitung von Tänzen Orgeln und Geigen verwandte und es wenige adlige Häuser gab, wo keine Orgel vorhanden war“.¹⁶ Im typischen scherzhaften Stil von „Leben und Reisen“ bestätigte der Autor hier zwei bekannte Tatsachen: dass in Moskau Orgeln weit verbreitet waren und dass man in der deutschen Vorstadt Gegenstände fand, die in europäischen Häusern üblich waren, aber hier sogar in den Häusern von Würdenträgern Seltenheitswert hatten (andere Gegenstände dieser Art, die er im Haus eines italienischen Dandys gesehen hatte, beschreibt Balatri an anderer Stelle: Betttücher, die mit rosa Schleifen verziert waren, Romane, die auf dem Tisch lagen, sowie Miniaturbilder von eroberten Liebhaberinnen). Andererseits war der Sänger verwundert, dass es in den orthodoxen Kirchen keine Begleitung durch Instrumentalmusik gab – anders als in der katholischen und in der lutherischen Kirche, in die er eingeladen wurde, um zu deren Gründungsjubiläum zu singen.

15 Als Samojeden werden einige indigene Volksgruppen aus dem Norden Russlands bezeichnet. 16 Fond 218, Nr. 1247, Bd. 2, f. 104.

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Es wäre interessant mehr darüber zu erfahren, wie Balatris Gesang wahrgenommen wurde. Obwohl er noch jung war, muss die Qualität seiner Stimme einen besonderen Eindruck hinterlassen haben, zumal Kastratensänger im damaligen Moskauer Reich noch unbekannt waren (erst unter Anna I. traten sie häufiger auf). Russische Zuhörer müssen den seltsamen Klang von Balatris Stimme wohl für eine persönliche Merkwürdigkeit gehalten haben. Davon schreibt der Autor nichts: Seine sexuelle Identität erwähnt er nur im Scherz oder gar nicht – denn das war kein passendes Thema für eine gewöhnliche Erzählung. Außerdem war es in der Gesellschaft, in der er vor und nach seiner Moskauer Zeit lebte, eine leider „normale“ Tatsache, deren Existenz man nicht zu erwähnen oder gar zu erläutern brauchte: Nicht umsonst war dem oben bereits erwähnten italienischen Dandy alles klar, so dass er boshaft über die Naivität der Mädchen in der Vorstadt und über ihre Fantasien lachte, Filippuška habe eine Verlobte. Für Peter I., der vor kurzem in Westeuropa Raritätenkabinette besucht hatte und der angefangen hatte, seine eigene Kollektion anzulegen, war Filippuška eine genauso exotische und seltsame Erscheinung wie die Samojeden für den toskanischen Herzog oder die anatomischen Präparate von Frederik Ruysch. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Zar wusste, was es mit dem jungen Sänger auf sich hatte; auch Petr Golicyn, der die Musik in Italien liebgewonnen hatte, war auf dem Laufenden. Aber weder Anna Mons, die mit Balatri kokettierte und ihm Andeutungen über eine mögliche Eheschließung machte, wusste Bescheid, noch ihre Freundin, die arglos versuchte, die Eifersucht ihres früheren Liebhabers zu wecken, indem sie Filippuška zum Schein einen Antrag machte. Überhaupt blieb es den Frauen unverständlich, warum man über ihn sagte, für ihn sei eine Heirat nichts. Diejenigen, die den Grund kannten, hätten offenbar nur ungern mit einer Frau über dieses Thema geredet. Wahrscheinlich wusste auch Golicyns Frau, Dar󸀠 ja, nicht alles: Jedenfalls war Balatri ein gern gesehener Gast im weiblichen Teil des Hauses, wo er – wie oben bereits erwähnt – sang, Späße machte, die Hausherrin und ihr Gefolge unterhielt. Es lässt sich kein vollständiger Eindruck vom gesamten Inhalt dieser Erinnerungen vermitteln, zumal ihr wesentliches Charakteristikum die farbige idiomatische Sprache Balatris ist. Ich habe selbst in verschiedenen Kontexten versucht, andere interessante Eigenheiten dieser umfangreichen Quelle herauszuarbeiten. Jetzt ist es an der Zeit, sie allgemein zugänglich zu machen, um sie von ihrem mythischen Nimbus zu befreien und den Lesern die Möglichkeit zu geben, ihre Vorzüge und Schwächen selbst zu beurteilen.

Ljudmila Posochova

„Im Kiever Partes-Gesang ausgebildet“: Ukrainische Sänger in der Hofkapelle des Zaren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Der höfische Chor war für eine recht lange Zeit ein wichtiger Bestandteil des Lebens am Zarenhof. Seine Bedeutung nahm vor allem am Ende des 17. bzw. am Anfang des 18. Jahrhunderts zu. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Vokalkapelle immer öfter zur Teilnahme an Feierlichkeiten herangezogen, weshalb die Zahl der Sänger erhöht werden musste.¹ Zudem erlangte in derselben Zeit der Partes-Gesang bei Hof immer größere Beliebtheit, der sich in der Ukraine im 17. Jahrhundert eingebürgert hatte und auf der Tradition der Rzeczpospolita basierte.² Diese beiden Umstände führten dazu, dass man in den Hofchor verstärkt Sänger aufnahm, die die „Kiever Gesangsschule“ repräsentierten. Sie stammten vor allem aus dem Hetmanat und aus der Sloboda-Ukraine.³ Der Transfer des Partes-Gesangs durch kleinrussische Sänger in die Hauptstadt und in andere Zentren des russländischen Staates ist ein interessantes kulturelles Phänomen der frühen Neuzeit. Da die Musik ein wichtiger (wenn auch bisher wenig erforschter) Aspekt der Kulturkontakte ist, macht es die wissenschaftliche Untersuchung der Verbreitung und Adaptation verschiedener Formen des Musiklebens in unterschiedlichen Regionen Europas möglich, den Charakter und Sinn vieler Prozesse zu begreifen. Die Musik ist einer jener Schlüssel, die die Tür öffnen können, die uns von vergangenen Epochen trennt. Indem wir die Welt der Musik verstehen, können wir insbesondere die komplizierten historisch-kulturellen wechselseitigen Einflüsse verstehen, die auf dem weitläufigen europäischen Territorium wirksam waren. Die Erforschung von Fragen des Kulturtransfers und von historischen Beziehungen zwischen nationalen

Übersetzt von Isabelle de Keghel. 1 Einen Überblick über die Forschung zum russischen Partes-Gesangsstil um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert enthält: Natal󸀠 ja Jur󸀠 evna Plotnikova, Russkoe partesnoe mnogogolosie konca XVII – serediny XVIII veka: istočnikovedenie, istorija, teorija, avtoreferat dissertacij na soiskanie stepeni doktora iskusstvovedenija, Moskva 2013. 2 Die Entstehung und Entwicklung des Partes-Gesangs in der Ukraine ist von der ukrainischen Historiografie erforscht worden. Vgl. Oleksandra Calaj-Jakimenko, Muzično-teoretična dumka na Ukrajini v XVII st. ta praci M. D. Dilec󸀠 kogo, in: Ukrajins󸀠 ke muzikoznavstvo 6 (1971), S. 32–40. Dies., Kijuvs󸀠 ka škola muzyki XVII stolittja, Kijiv 2002. Miroslav Antonovič, Musica sacra. Sbirnik statej z istoriji ukrajins󸀠 koji cerkovnoji muziki, L󸀠 viv 1997, S. 142f. 3 Das Hetmanat war eine territoriale Verwaltungseinheit innerhalb des Russländischen Reiches. Es umfasste den zentralen Teil der heutigen Ukraine, der von einem Hetman regiert wurde und der sich im Hinblick auf das Verwaltungssystem auch in einigen anderen Punkten unterschied. Die SlobodaUkraine war ein historisch-geografisches Gebiet im östlichen Teil der heutigen Ukraine. DOI 10.1515/9783110520224-008

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und regionalen Kulturen hat in den letzten Jahrzehnten (vor allem in Deutschland, Österreich und Frankreich) großes Interesse gefunden und ist zum zentralen Thema vieler Konferenzen geworden. Neben anderen Themen wird heute intensiv die Rolle des Westens bei der „ideellen Durchdringung“ der russischen Kultur im Zeitalter der Aufklärung untersucht, ebenso die Adaptation westeuropäischer Ideen im Russländischen Reich des 18. Jahrhunderts und der gegenseitige Einfluss, den die verschiedenen Kulturen im gesamten europäischen Raum aufeinander ausübten.⁴ Dabei haben einige Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit schon lange auf die Phänomene der Begegnung, des gegenseitigen Einflusses und der Synthese kultureller Traditionen aus dem Westen und aus dem Osten Europas in den Gebieten der Ukraine gerichtet, die zunächst zur Rceczpospolita gehörten und dann zum Moskauer Staat.⁵ Bekanntlich sollte man bei der Erforschung verschiedener Aspekte des „Transfers“ verstärkt den „Ausgangspunkt“, die Verbreitungs-„Kanäle“, die „Sender“ und die „Empfänger“ bestimmter Kulturphänomene in den Blick nehmen. Im diesem Beitrag, der sich mit der Übertragung und Verbreitung der musikalischen Tradition des Partes-Gesangs auf dem Territorium des Moskauer Staates beschäftigt, werden wir unsere Aufmerksamkeit auf die Interpreten konzentrieren, die als Sänger der Hofkapelle engagiert wurden. Vor allem werden wir versuchen, die Parameter dieser sozialen Gruppe zu skizzieren sowie die Kriterien und die Mechanismen, die bei der Auswahl und bei der Ausbildung der Sänger für die Hofkapelle angewandt wurden. Schließlich sollen auch die Gründe für ihre Fluktuation untersucht werden. Eine äußerst wichtige Frage besteht zudem darin, die wichtigsten „Quellen“ zu eruieren, aus denen die Kapelle neue Sänger rekrutierte. Die Forschung hat sich auf die Rekonstruktion und auf die kulturhistorische Analyse der Mikrogruppe der „kleinrussischen“ Sänger konzentriert, insbesondere auf die Klärung ihrer quantitativen Größe und des Niveaus ihrer musikalischen Bildung. Unseres Erachtens wird es auf dieser Grundlage möglich sein, den Hofchor genauer im kulturellen und politischen Leben Russlands zu verorten und

4 Vgl. dazu [Claus Scharf ], Klaus Šarf, Monarchija, osnovannaja na zakone, vmesto despotii. Transfer ˙ ˙ i adaptacija evropejskich idej i evoljucija vozzrenij na godudarstvo v Rossii v epochu Prosveščenija, in: Andrej Doronin (Hrsg.), „Vvodja nravy i obyčaj Evropejskie v Evropejskom narode“: k probleme adaptacii zapadnych idej i praktik v Rossijskoj imperii, Moskva 2008, S. 9–45, hier S. 14f. Andrej Doronin (Hg.), „Byt󸀠 russkim po duchu i evropejcem po obrazovaniju“: Universitety Rossijskoj imperii v obrazovatel󸀠 nom prostranstve Central󸀠 noj i Vostočnoj Evropy XVIII – načala XX v., Moskva 2009. 5 David Saunders, The Ukrainian Impact on Russian Culture, 1750–1850, Edmonton 1985. Ihor Ševčenko, Ukraine between East and West. Essays on Cultural History to the Early Eighteenth Century, Edmonton/Toronto 1996. Liudmyla Sharipova, Latin Books and the Eastern Orthodox Clerical Elite in Kiev, 1632–1780, Manchester 2006. Natalja Jakovenko, Paralel󸀠 nij svit. Doslidžennja z istoriji ujavlen󸀠 ta ideju v Ukrajini XVI–XVII st., Kijiv 2002, S. 336–365. Giovanna Brogi Bercoff, Rus, Ukraine, Ruthenia, Wielkie Ksiestwo Litewskie, Rzeczpospolita, Moskwa, Rosja, Europa Srodkowo Wschodnia: o wielowarstwowosci I polifunkcjunalizme kulturowym, in: Alberto Alberti (Hrsg.), Contributi italiali al XIII congresso internazionale degli slavisti, Pisa 2003, S. 325–387.

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auch die Richtungen und Formen kultureller Einflüsse in Osteuropa in der frühen Neuzeit genauer zu bestimmen. Die Erforschung des Transfers und der Adaptation neuer musikalischer Formen im Russländischen Reich des 18. Jahrhunderts ist mit der Suche nach spezifischen Quellen verbunden, die es erlauben, einschlägige Untersuchungen im Bereich der Musik und der Kunst durchzuführen. Auf dieser Grundlage können die „persönlichen Geschichten“ einzelner berühmter und – was besonders wichtig ist – „durchschnittlicher“ Sänger analysiert werden. Zugleich ist es unerlässlich, den uns zur Verfügung stehenden Bestand an Akten und an Quellen privater Herkunft (Briefe, Memoiren) neu zu interpretieren. So lässt sich der Prozess der Erweiterung der höfischen Gesangskapelle durch die Rekrutierung „kleinrussischer“ Sänger auf der Grundlage verschiedener Akten rekonstruieren. Als Quellenbasis dienen Aufzeichnungen der Allgemeinen Heereskanzlei (russ.: General󸀠 naja vojskovaja kanceljarija), der Kiever Akademie und der orthodoxen Kollegien sowie Dokumente der Kanzleien der Diözesen und der Kanzlei des Heiligsten Regierenden Synods der Russisch-Orthodoxen Kirche. Ein Urteil über das Ausbildungsniveau der Sänger und über den Charakter der musikalischen Werke, die sie aufführten, bevor sie in den Hofchor kamen, kann man sich anhand der Aufzeichnungen in handgeschriebenen Codices sowie anhand von EgoDokumenten bilden. Die meisten Forscher haben nur gelegentliche, lückenhafte Angaben zur Entsendung von Sängern aus dem Hetmanat und aus der Sloboda-Ukraine gemacht. Zudem finden sich in ihren Publikationen lediglich einzelne Fakten über die Beteiligung einiger Interpreten am Hofchor. Daher lässt sich bis heute nicht einmal annähernd bestimmen, welches Ausmaß dieses Phänomen hatte.⁶ Der Eindruck wird zusätzlich verfälscht, wenn Forscher, die sich nicht eigens mit der Frage der „Repräsentanten“ des Partes-Gesangs beschäftigen, schlussfolgern, dass Sänger „aus den unterschiedlichsten Orten“ an die Hofkapelle kamen. Solche Behauptungen, die in der Musikgeschichte durchaus verbreitet sind, dienen fälschlicherweise als Orientierungspunkt. Genau deshalb ist die Frage nach den „Vermittlern“ und den „Verbreitungs“-Kanälen des Partes-Gesangs wichtig – nicht nur für das Verständnis dieses Phänomens, das in der Hofkapelle Verbreitung fand, sondern auch für das Verständnis der Innovationen, die darauf folgten.

6 Im Anhang der Studie von Irina Čudinova findet sich ein „Chronotop“ derjenigen, die in den Petersburger Kirchen, auch in den Hofkirchen, Dienst taten. Allerdings ist dort bei Weitem nicht immer angegeben, woher die einzelnen Sänger kamen. Vgl. Irina A. Čudina, Penie, zvony, ritual. Topografija cerkovno-muzykal󸀠 noj kul󸀠 tury Peterburga, Sankt-Peterburg 1994, S. 135–162.

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1 Die Suche nach Sängern für die Hofkapelle in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Das lebhafte Interesse der herrschenden Kreise in Moskau für den „kleinrussischen“ Partes-Gesang ist seit Mitte des 17. Jahrhunderts belegt. Anfang 1652 wurde laut einer Urkunde des Zaren der Priester Ivan Kurbatov nach Kiev geschickt, um Bücher einzukaufen und Sänger anzuwerben. Er brachte elf Personen mit nach Hause, unter anderem den Schöpfer des Zeilengesangs (russ.: stročnoe penie) Fedor Ternopol󸀠 skij, und im März desselben Jahres trafen weitere acht Sänger ein.⁷ „Diskante“ und „Bässe“ ließ man auch auf Empfehlung der Erzbischöfe der ukrainischen Diözesen und von Klostervorstehern kommen⁸ – manchmal auf Empfehlung derer, die immer wieder verschiedene Angelegenheiten in der Hauptstadt zu erledigen hatten. So hatte der Bischof von Černigov, Lazar󸀠 Baranovič, der 1666 in Moskau lebte, einen Chor von acht Personen bei sich. Ihm gehörte der Kantor Simeon Pekalickij an, der mehrstimmige Chorwerke komponiert hat. Dieser Mann war 1673 wieder in Moskau, und einige Jahre später schickte man ihn wieder mit Frau und Kindern nach Moskau.⁹ Die Moskauer Bojaren, die damals nicht selten in das Hetmanat geschickt wurden, um dort verschiedene Aufträge zu erledigen und die dort längere Zeit lebten, legten sich vor Ort kleine Chöre mit Sängern zu, die sie später nach Moskau mitnahmen. Bekanntlich hatten die Adligen der Hauptstadt in ihren Häusern auch polnische Musikanten, die ihnen das Musizieren auf Saiteninstrumenten und den Gesang beibrachten.¹⁰ Die Regierungszeit von Fedor Alekseevič, der die westliche Kultur schätzte, brachte einen Fortschritt in der Entwicklung von Sympathie für die westliche Musik. Zar Fedor gab ebenfalls den Auftrag, im Hetmanat nach Sängern zu suchen. So wurde zum Beispiel der Unterdjak der Kleinrussischen Kanzlei Michail Savin in das MolčanskijKloster in Putivl󸀠 geschickt, um von dort „zwei Jungen“ mitzubringen, „die schöne und hohe Stimmen haben“.¹¹ In den darauf folgenden Jahren verlief die Suche und Anwerbung der Sänger hauptsächlich nach den Vorstellungen der Erzbischöfe. So erhielt der Erzbischof von Černigov, Lazar󸀠 Baranovič, im Sommer 1682 eine entsprechende An7 Vukov M. Undol󸀠 skij, Zamečanija dlja istorii cerkovnogo penija v Rossii, Moskva 1846, S. 16. Antonin Preobraženskij, Iz pervych let partesnogo penija v Moskve, in: Muzykal󸀠 nyj sovremennik 3 (1915), S. 32– 40, hier S. 34. ˙ 8 Vitalij O. Ejngorn, Očerki iz istorii malorossii v XVII v. Vypusk 1. Snošenija malorossijskogo duchovenstva s moskovskim pravitel󸀠 stvom v carstvovanie Alekseja Michajloviča, Moskva 1899, 1009f. ˙ 9 Ejngorn, Očerki iz istorii malorossii S. 378. Volodimir Protopopov, Pro chorovu bagatogolosu kompoziciju XVII – počatku XVIII st. ta pro Simeona Pekalic󸀠 kogo, in: Ukrains󸀠 kie musikoznavstvo 6 (1971), S. 73–100, hier S. 91. 10 Konstantin V. Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie na velikorusskuju cerkovnuju žizn󸀠 , Bd. 1, Kazan󸀠 1914, S. 322. 11 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 324.

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weisung. Im August schickte er die Sänger, die er „an seiner Seite“ hatte (das heißt, im erzbischöflichen Chor).¹² Einige Sänger kamen durch die Protektion ihrer Landsleute, die schon früher dort aufgenommen worden waren, in den Hofchor.¹³ Häufige, wenn auch unregelmäßige Anordnungen der Moskauer Obrigkeit an die Erzbischöfe oder Äbte von Klöstern der ukrainischen Diözesen, dem Hof Sänger zur Verfügung zu stellen, führten dazu, dass es in diesen Gebieten sogar ein Defizit an solchen Fachkräften gab. Einmal antwortete der Kiever Metropolit auf die Bitte, einen seiner Sänger zur Verfügung zu stellen: „Wir kommen im Kloster nicht ohne ihn aus“.¹⁴ Die Sänger für die Kapelle wurden auch aus erzbischöflichen Chören der großrussischen Diözesen angeworben,¹⁵ sie kamen aber häufig ursprünglich aus dem Hetmanat. Es sind nicht wenige Beispiele dafür bekannt, dass kleinrussische Erzbischöfe ihre eigenen Sänger an ihre neuen Aufenthaltsorte mitnahmen. Als etwa der Metropolit Filofej Leščinskij nach Tobol󸀠 sk berufen wurde, ließ er seine Sänger aus Kiev nachkommen.¹⁶ Genauso hielten es Ioann Maksimovič und später auch Antonij Stachovskij.¹⁷ Jacob von Staehlin hat Aufzeichnungen darüber hinterlassen, dass die Erzbischöfe, Metropoliten und Äbte im 18. Jahrhundert Kapellen hatten, die aus zehn bis zwanzig und mehr Personen bestanden. Von der Mitwirkung am Gottesdienst abgesehen, hätten sie „fast täglich für den Erzbischof oder den Archimandriten gesungen“, unter anderem auch bei Essen, die sie für Gäste veranstalteten.¹⁸ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts repräsentierten also die Chöre, die aus Sängern der „Kiever Gesangsart“ (aus „kleinrussischen Sängern“) bestanden und die beim Moskauer Adel und auch bei den Erzbischöfen tätig waren, den Partes-Gesang. Sie brachten die Mode des Partes-Gesangs auf und förderten sie, und sie verbreiteten ihn weiter. Die Aufführung weltlicher Musik, vor allem von Cantica, durch diese Chöre wurde allmählich Teil des Alltags der Oberschicht des geistlichen und weltlichen Adels. Angesichts der zunehmenden Nachfrage und Popularität nutzte man für eine optimale Lösung des Problems der „Rekrutierung“ von Sängern für die Hofkapelle auch ein „Stimmen“-Reservoir wie die Kiever Mohyla-Akademie, im 18. Jahrhundert auch die orthodoxen Kollegien. Diejenigen, die diese Schulen besuchten, hatten die notwendige musikalische Bildung und waren „vor Ort“, so dass man leicht die nötigen 12 Andrej Stradomskij Lazar󸀠 Baranovič, archiepiskop Černigovskij i Novgorodseverskij, in: Žurnal Ministerstva narodnogo prosveščenija 75 (1852), S. -104, hier S. 98f. 13 Entsprechende Fakten finden sich in den von V. Undol󸀠 skij veröffentlichten Bittbriefen von Sängern. Vgl. Undol󸀠 skij, Zamečanija dlja istorii cerkovnogo penija, S. 27, 29f., 32. 14 Preobraženskij, Iz pervych let partesnogo penija, S. 35. 15 Dmitrij V. Razumovskij, Patriaršie pevčie diaki i poddiaki i gosudarevy pevčie diaki, Sankt-Peterburg 1895, S. 77f. 16 Nikolaj Oglobin, Bytovye čerty načala XVIII veka, in: Čtenija v obščestve istorii i drevnostej rossijskich, 1 (1904), S. 1–21, hier S. 15f. 17 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 835f. 18 Jakob Štelin [Jacob von Staehlin], Muzyka i balet v Rossii XVIII veka, Leningrad 1935, S. 57.

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Stimmen auswählen konnte. Das Wichtigste aber war, dass sie den Ansprüchen der damaligen Zeit, der Mode und den neuen ästhetischen Anforderungen entsprachen, die in den Begleitdokumenten dieser Studenten wie folgt formuliert waren: „Er beherrscht den Partes-Gesang“.¹⁹ Die Mohyla-Akademie in Kiev und in früherer Zeit auch die Bruderschulen (russ.: bratskie školy) spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer professionellen Musik und bei der Verbreitung des Partes-Gesangs in der Ukraine.²⁰ Insbesondere Kiev wurde bereits im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum des Partes-Gesangs,²¹ weshalb man eigens „Kiever“ Sänger nach Moskau zu holen begann. Solche Einladungen von Sängern in die Hauptstadt intensivierten sich unter dem Hetman Ivan Mazepa. Am 24. April 1688 schickte der Hetman sechs Personen für den Hofchor. Einer von ihnen kam aus dem Kiever Höhlenkloster, die anderen aus der Kiever Akademie. In einem Brief an den Fürsten Vasilij Golicyn schrieb Ivan Mazepa, dass es schwierig war, Sänger ausfindig zu machen, weil die Studenten gewöhnlich ab Sommerbeginn in unterschiedliche Städte Kleinrusslands, Litauens und Polens geschickt wurden. Im gegebenen Fall wurden Gesangsstudenten, die schon nach Černigov abgereist waren, mit Kleidung ausgestattet und in die Hauptstadt geschickt.²² Als Peter I. 1706 zum ersten Mal nach Kiev kam, fiel ihm die hervorragende Stimme des achtjährigen Schülers der Kiever Mohyla-Akademie Timofej Ščerbackij auf. Auf seine Anordnung hin wurde der Junge in den Hofchor geschickt. Dort sang er, bis er „die Stimme verlor“, dann kehrte er in die Akademie zurück.²³ Häufig wird in den Quellen nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Sänger Schüler der Kiever Mohyla-Akademie waren. Dies muss man eigens ermitteln. So bedankte sich zum Beispiel die Zarin Ekaterina I 1716 beim Metropoliten Ioasaf Krokovskij für die erfolgreiche Suche nach Sängern,²⁴ die an der Akademie studierten. Die Anzahl der „gelieferten“ Sänger war unterschiedlich groß. Manchmal waren es ein bis zwei Personen, aber häufig erheblich mehr. 1735 schickte der Kiever Erzbischof zwölf Personen an den Hof, die ein „Inspektor“ begleitete – der ehemalige Theologiestudent der Kiever Mohyla-Akademie, Jakov Veličkovskij.²⁵ Unter ihnen war der Student und Philosoph Andrej Baranovskij, der mit der Zeit selbst die Ausbildung von Sängern übernahm. 19 Undol󸀠 skij, Zamečanija dlja istorii cerkovnogo penija, S. 32. ˙ 20 Onisija Šreer-Tkačenko, Rozvitok ukrajins󸀠 koji kul󸀠 turi v XVI-XVIII storiččjah, in: Bratstva i 󸀠 󸀠 ukrajins ka musična kul tura XVI–XVIII st., in: Ukrajins󸀠 ke muzikoznavstvo 6 (1971), S. 48–57. 21 Calaj-Jakimenko, Muzično-teoretična dumka, S. 34. Dies., Kijivs󸀠 ka škola muziki, S. 33, 35. 22 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 326. 23 Später wurde Timofej Ščerbackij zum Metropoliten von Kiev. Vgl. I. Graevskij, Kievskij mitropolit Timofej Ščerbackij, in: Trudy Kievskoj duchovnoj akademii 1 (1910), S. 97–126, hier S. 98. 24 Pis󸀠 mo caricy Ekateriny k kievskomu mitropolitu Ioasafu Krokovskomu, in: Kievskaja starina 5 (1902), S. 6. 25 Vgl. für eine Beschreibung der Dokumente, die im Archiv des Heiligsten Regierenden Synod lagern: Opisanie dokumentov i del. V 50 tt., Sankt-Peterburg/Moskva 1885–1916, Bd. 15 (1735), d. 401, Spalte 566.

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2 Die Häufigkeit und Dynamik der Rekrutierung von Sängern für die Hofkapelle im 18. Jahrhundert Schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts lassen sich bei der Rekrutierung von Sängern einige Neuerungen beobachten, die auf eine professionellere Auswahl der Kandidaten abzielten. Man kann erkennen, dass nun die Kantoren des Hofchors oder erfahrene Sänger in das Hetmanat geschickt wurden, um Sänger zu rekrutieren. So wurden im August 1714 mit dem Kantor der Zarin Ekaterina Alekseevna, Ivan Petrovič Popovskij, fünf Personen an den Hof geschickt (ein Bass, ein Tenor und drei „Burschen“).²⁶ 1742 wurde der Bassist des Hofchors Gavrila Golovnja, losgeschickt, um Sänger zu anzuwerben.²⁷ Unter den Sängern, die er auswählte, waren der spätere herausragende ukrainische Philosoph Grigorij Skorovoda, der Schüler des Kollegiums von Perejaslavl󸀠 V. Kalinovič und andere. Im Dezember 1747 kam der höfische Vorsänger Kačenovskij für die Auswahl von Sängern nach Kiev, und im März 1748 brachte er Kirill Ivanovič Golovačevskij (russ.: Glovačevskij), Anton Pavlovič Losenko, Ivan Semenovič Sablučko (russ.: Sablukov) nach Petersburg mit. Weil sie sich auch in der bildenden Kunst als talentiert erwiesen, schickte man sie zu Ivan Argunov und später in die Kunstakademie, um malen zu lernen.²⁸ Der Theologiestudent Kirill Florinskij²⁹ wurde 1754 als Sänger engagiert, verließ den Chor aber bald wieder und wurde Student des Akademischen Gymnasiums. In den Jahren 1735, 1747, 1754 und 1758 wurden besonders viele Sänger aus der Kiever Mohyla-Akademie angeworben.³⁰ In den 1760er Jahren und später suchte der Komponist Andrej Račinskij, der Kantor des Chors des damals in Gluchov ansässigen Hetmans Kirill Razumovskij, die Sänger aus.³¹ Aus den anderen Kollegien schickte man in der Regel ein bis zwei Sänger (und Musiker). So entsandte der Hetman Daniil Apostol 1730 den „Gusli-Spieler“ und Rhetorik-Dozenten der Akademie von Černigov, Petr Petrunkevič, an den Hof.³² Im Mai 1747 wurden zwei Sänger aus dem Kollegium von Char󸀠 kov für die Hofkapelle ausgewählt.³³ Aus den Kollegien schickte man in der Regel

26 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 822. 27 Akty i dokumenty, otnosjaščiesja k istorii Kievskoj akademii, Otd. II (1721–1795), T. I (1721–1750gg.), Č. 1, Kiev 1904, S. 298. 28 Ivan Božerjanov, Kirill Ivanovič Globačevskij, in: Kievskaja starina 2 (1995), S. 308–317, hier S. 308f. Später wurden sie bekannte Maler. 29 Später wurde Kirill Florinskij Bischof von Sevsk und Brjansk. 30 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 824f. 31 Oglobin, Ljudi staroji Ukranjini, München 1959, S. 208. 32 Opisanie dokumentov i del, Bd. 16 (1736), d. 87, Sp. 114. 33 Central󸀠 nyj gosudarstvennyj istoričeskij archiv Ukrainy v g. Kieve (CGIAUK), F. 1973, op. 1, d. 49, l. 1.

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nur ein bis zwei Personen nach Moskau, dabei wählte man aber Sänger mit Stimmen von seltener Schönheit aus.³⁴ Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass die Zahl der Sänger, die an den Hofchor „geliefert“ wurden, unterschiedlich groß war und dass die Rekrutierung sporadisch erfolgte. In der Historiografie begegnet man nicht selten der Behauptung, dass die „Berufungen“ aus der Ukraine aus politischen Gründen ganz eingestellt oder zumindest seltener wurden.³⁵ Man muss jedoch berücksichtigen, dass auch die Größe der Hofkapelle selbst erheblich schwankte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts zählte der Chor bis zu 70 Personen, die auf verschiedene Kirchen aufgeteilt waren. Der eigentliche Chor des Monarchen umfasste 28 Personen.³⁶ 1726 wurde der Hofchor von 44 auf 26 Personen verkleinert,³⁷ und dabei blieb es bis 1740.³⁸ Ab 1741, seit der Thronbesteigung Elizaveta Petrovnas und in der darauffolgenden Zeit, lag die Größe des Chors immer über diesem „Personalbestand“.³⁹ Jacob von Staehlin schrieb, dass dem Chor in den 1760er Jahren bis zu hundert Personen angehörten, „ganz ausgezeichnete, auserlesene Sänger, größtenteils Ukrainer“.⁴⁰ Im Hinblick auf die Sänger, die im Hetmanat rekrutiert wurden, ist es wichtig anzumerken, dass man sie beim Eintritt in den Hofchor nicht selten mit einem neuen Familiennamen registrierte, der vom Vatersnamen abgeleitet war. So wurden aus ihnen „russische“ Sänger („Petrov“, „Fedorov“ usw.). Auf diesen bezeichnenden Umstand hat schon Konstantin Charlamovič aufmerksam gemacht und ihn anhand eines konkreten Beispiels belegt.⁴¹ Wie paradox das auch sein mag, haben bisherige Forscher bei der Analyse der Zusammensetzung des Chores den wichtigen Punkt übersehen, dass der Chor sich vom Alter her sowohl aus „kleinen“ als auch aus erwachsenen Sängern zusammensetzte. Aus der Kiever Mohyla-Akademie und aus den Kollegien konnte man sowohl „kleine“ Sänger (aus den unteren Grammatikklassen; in den Dokumenten wurden sie als „Burschen“ bezeichnet) als auch erwachsene junge Männer rekrutierem. So konnte man den Bedarf des Chors an allen Stimmlagen decken. Die Schule von Gluchov hingegen, von der später die Rede sein wird, besuchten faktisch nur „kleine“ Sänger. Um uns ein Bild von der Korrelation zwischen den „kleinen“ und den erwachsenen

34 CGIAUK, f. 1973, op. 1, d. 370, l. 6. 35 Antonovič, Musica sacra, S. 197. 36 Nikolaj D. Izvekov, Pridvornye pevčie i krestovye svjaščenniki i djaki v XVII veke, in: Bogoslovskij vestnik 10 (1903), S. 255–294, hier S. 257, 260. 37 Charlampovic, Malorossijskoe vlijanie, S. 823. 38 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva s 17-go oktjabrja 1740 goda po 25-e nojabrja 1741 goda, po dokumentam, chranjaščimsja v Moskovskom archive Ministerstva justicii, Moskva 1880–1886, Kn. 1, S. 61. 39 Zum Umfang des Hofchors vgl.: Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 829. Čudinova, Penie, zvony, ritual, S. 108–110. 40 Štelin, Muzyka i balet, S. 58. 41 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 826.

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Sängern zu machen (die ebenfalls schwankte), greifen wir auf die Erinnerungen Jacob von Staehlins zurück. Er stellte fest, dass die Kapelle Mitte der 1760er Jahre aus 74 erwachsenen Sängern und aus fast ebenso vielen jungen Zöglingen bestand.⁴² Einige blieben jahrzehntelang im Dienst, manche aus verschiedenen Gründen nur für sehr kurze Zeit.

3 „Sie ließen auf der Laute ein Canticon erklingen und sangen harmonisch in ungeordneter Weise“ Die Kiever Mohyla-Akademie und die Kollegien wurden also zu einer zuverlässigen Ressource für den sängerischen Nachwuchs des Hofchors. Dementsprechend ist es wichtig, das Niveau der musikalischen Bildung zu rekonstruieren, die die Sänger an diesen Institutionen erhielten. In der Spezialliteratur, die der Hofmusik gewidmet ist, wird die Gesangserfahrung von „Kiever“ Sängern in der Regel nur anhand sehr allgemeiner Bemerkungen über die „kleinrussischen“ Traditionen und die „angeborene Musikalität der Kleinrussen“ abgehandelt. Aber die Erforschung des Unterrichtsprozesses in den Kollegien⁴³ ermöglicht es, unter anderem auch die Gesangsausbildung der Schüler zu rekonstruieren. Es sei daran erinnert, dass diese Lehranstalten zu den sogenannten „Lateinschulen“ gehörten. Sie wurden nach dem Muster der europäischen humanistischen Schulen, vor allem der Jesuitenkollegien, gestaltet. Die Musik spielte in diesem Erziehungssystem durchaus eine Rolle. Dennoch wurden im 19. Jahrhundert und werden auch heute noch Zweifel daran geäußert, dass in diesen Lehranstalten überhaupt Gesangsunterricht stattfand. Denn Gesang gehörte nicht zu den üblichen Disziplinen, die an der Akademie und an den Kollegien unterrichtet wurden (die sogenannten „Klassen“: Syntax, Grammatik, Poetik, Rhetorik, Philosophie, Theologie). In den Instruktionen, die Professoren vorschrieben, was und wie sie in der Akademie bzw. in den Kollegien unterrichten sollten, waren keine Hinweise zum Unterricht in „außerordentlichen“ (d. h., zusätzlichen) Disziplinen enthalten. Andere Quellen handeln diese Frage äußerst kurz ab. Und doch lässt sich dieses wichtige Problem erforschen. Schon in der Lobrede für Petr Mogila (ukr.: Petro Mohyla) aus dem Jahr 1632, in der jeder Wissenschaft einige Verse gewidmet waren, findet sich auch die folgende Passage: „Sie ließen auf der Laute ein Canticon erklingen und sangen harmonisch in

42 Štelin, Muzyka i balet, S. 59. 43 Zur Spezifik des Modells des Kollegiums und über die Unterrichtspraxis in den orthodoxen Kollegien vgl. ausführlicher: Ljudmila Ju. Posochova, Na perechresti kul󸀠 tur, tradicij, epoch: pravoslavni kolegium Ukrajini naprikinci XVII – na počatku XIX st., Charkiv 2011. Dies, Pravoslavnye kollegiumy Rossijskoj imperii (vtoraja polovina XVIII – načalo XIX vv.): meždu tradicijami i novacijami, v: Ab Imperio 3 (2010), S. 85–112.

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ungeordneter Weise“.⁴⁴ Natürlich kamen diese Worte nicht von ungefähr. Im Kollegium Kievs und anderer Städte gab es stets einen Schülerchor, der sich regelmäßig an der Gestaltung der Gottesdienste in den Kirchen des Kollegiums und an der Gestaltung von Stadtfesten beteiligte. „Gesang“ als separate „Schule“ oder „Klasse“ gab es im 18. Jahrhundert nicht, man lernte jedoch „nach der praktischen Methode“ zu singen: durch die Teilnahme am Chor der Akademie oder des Kollegiums. Die „Klasse“ war also lange Zeit der Chor, der aus dem Leben der Kollegien nicht wegzudenken war. Bekanntlich wurde in diesen Chören sowohl Partes-Gesang als auch einfacher „Stimmgesang“ (russ.: „glasovoe penie“) praktiziert.⁴⁵ Viele Sänger der Hofkapelle erhielten ihren ersten Unterricht im Chor der Akademie. Bekannt ist dies insbesondere von Ivan Golenevskij,⁴⁶ Grigorij Skovoroda⁴⁷ und Mark Poltorackij,⁴⁸ der später zum Kantor des Hofchors wurde. Als Maksim Berezovskij an der Akademie studierte, sang er nicht nur im Chor, sondern schrieb auch Werke für ihn.⁴⁹ Ferner gibt es Hinweise darauf, dass es an der Akademie auch ein Orchester gab.⁵⁰ Darüber hinaus finden sich in den Quellen Angaben dazu, dass die Schüler nicht selten privaten Musikunterricht auf verschiedenen Musikinstrumenten nahmen. Dies wurde ihnen von der Leitung der Akademie und der Kollegien erlaubt. So erhielt zum Beispiel der Sohn des Protopopen Romenskij vom Rektor des Kollegiums in Char󸀠 kov die Erlaubnis, private KlavichordStunden zu nehmen (er hatte ein eigenes Instrument).⁵¹ Bekanntlich gestalteten die Schüler der Akademie und der Kollegien nicht nur die Gottesdienste mit, sondern führten auch Cantica und Hymnen zur Begrüßung wichtiger Persönlichkeiten sowie zur Unterhaltung der Studenten, der Lehrer und der Gäste während der Schulpausen auf. An Feiertagen sangen die Schüler Fest- und Begrüßungscantica, wobei sie von Haus zu Haus gingen und den Stadtbewohnern Glückwünsche überbrachten (und der Tradition entsprechend dafür eine Belohnung erhielten). Hierüber haben sich Erinnerungen von Schülern erhalten, außerdem finden sich Beschreibungen solcher Auftritte in der schönen Literatur (bei Nikolaj Gogol󸀠 , Vasilij Narežnyj, Grigorij Kvitka-Osnov󸀠 janenko u. a.). Während der Ausbildung an der Akademie und an den Kollegien führten die Schultheater Dramen auf, die auch Musik-

44 Stefan T. Golubev, Istorija Kievskoj duchovnoj akademii, Kiev 1886, S. 54. 45 Pilip O. Kozic󸀠 kij, Spiv i musika v Kijivs󸀠 kij akademiji za 300 rokiv ijij isnuvannja, Kijiv 1971, S. 59. 46 Viktor I. Askočenskij, Kiev s drevnejšim ego učiliščem Akademieju: v 2 č., Kiev 1856, č. 2, S. 280f. Im Jahr 1744 schickte Graf A. G. Razumovskij Ivan Golenevskij an die Hofkapelle, in der er 26 Jahre lang als Sänger tätig war. ˙ 47 Onisija Šreer-Tkačenko, Grigorij Skovoroda – muzikant, Kijiv 1972, S. 8. 48 Mark Poltorackij (1729–1795) ist als Sänger der Hofkapelle und später als ihr Kantor bekannt. 49 Lidija Kornij, Istorija ukrajins󸀠 koji muziki, T. 1, Č. 2, Kijiv 1998, S. 172. Maksim Berezovskij (1745– 1777) wurde 1758 in den Hofchor geschickt. Mit der Zeit wurde er zu einem bekannten Komponisten. 50 Kozic󸀠 kij, Spiv i muzika, S. 53. 51 Preosvjaščennyj Samuil, episkop Belogradskij. Ego pis󸀠 ma k archimandritu Lavrentiju (1770–1774), in: Kurskie eparchial󸀠 nye vedomosti. Čast󸀠 neoficial󸀠 naja 3 (1888), S. 52–60, hier S. 56.

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stücke enthielten. Diese Stücke beeinflussten damals Theateraufführungen in Moskau und Rostov.⁵² Außerdem haben viele Lehrer Cantica verfasst. Roman Cebrikov, Mitglied der Russländischen Akademie und Übersetzer, schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Rektor des Kollegiums in Char󸀠 kov, Vasilij Basil󸀠 evič, sich für Vokalmusik begeisterte und einige geistliche Konzerte schuf, deren Aufführung den Einwohnern von Char󸀠 kov in Erinnerung blieb.⁵³ Grigorij Skorovoda schrieb seinem Schüler Michail Kovalinskij 1762, als er am Char󸀠 kover Kollegium unterrichtete: „Ich selbst werde den Kindern Orgelunterricht geben, stelle du dich einstweilen darauf ein, unseren kleinen Maksim ein wenig auf das Singen nach Noten vorzubereiten“ und später: „Ich werde auch einen Großteil des Chores mitbringen, das heißt, meine Sänger-Jungen“.⁵⁴ Als wichtiges Ergebnis ist festzuhalten: Die Analyse privater Quellen deutet darauf hin, dass die Musik ein nicht wegzudenkender Bestandteil der geistigen Welt der Schüler war. Belege hierfür sind auf den Seiten von Mitschriften der Schüler und in anderen handschriftlichen Quellen „verstreut“, in denen man Zeichnungen von singenden und spielenden Personen findet (s. Abb. 1, 2). Besonders interessant ist das Loblied zu Ehren des Archimandriten Timofej (Maksimovič), das im Jahr 1730 Schüler des Černigover Kollegiums vorbereiteten, deren Schulbesuch durch seine Spenden finanziert wurde. Bemerkenswert daran sind nicht nur Verse, in denen die Schüler Timofej (Maksimovič) als Mäzen und Aufklärer rühmten, sondern auch ein wunderschön gestaltetes Bild des Olymps und der antiken Götter. Dort sind die Gönner der Wissenschaft und der Kunst Athena und Apollon zu sehen und am Fuße des Olymps – die neun Musen, die auf verschiedenen Musikinstrumenten spielen: auf einer Geige, einer Laute, einer Lyra, einem Cello, Zimbeln und kosakischen Kriegstrompeten (s. Abb. 3).⁵⁵ Die Kombination von Gesangs- und Instrumentalunterricht kann als Unterscheidungsmerkmal der Kiever Akademie und der Kollegien gelten. Dies zeugt auch vom Einfluss der westlichen Musikkultur und bedeutete einen wichtigen Fortschritt in der Musikdidaktik. Natürlich war es ein großer Erfolg, in den handschriftlichen Aufzeichnungen der Schüler aus dem Unterricht Werke zu finden, die im Umfeld der Akademie entstanden und von den Schülern aufgeführt wurden. Besonders wichtig ist es, für die Forschung die handschriftlichen Skripte der Vorlesungen zu nutzen, in denen die von den Schülern aufgeführten Werke genannt sind. So brachten zum Beispiel die Schüler im

52 Nikolaj F. Findejzen, Očerki po istorii muzyki v Rossii s drevnejšich vremen do konca XVIII veka, Moskva/Leningrad 1928–1929, Bd. 1, S. 342–344. 53 CGIAUK, F. 2040, op. 1, d. 99, l. 3. 54 Grigorij S. Skovoroda, Pis󸀠 ma k M. I. Kovalinskomu, in: Ders., Sočinenija: V 2 tomach, Moskva 1973, Bd. 2, S. 218–359, hier S. 192, 238. 55 Die Zeichnung ist publiziert in: Grečeskie muzy v malorusskom izobraženii, in: Kievskaja starina 4 (1884), S. 709–714, hier S. 714.

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Abb. 1: Titelblatt eines Vorlesungsmanuskripts im Fach „Poetik“ (Černigover Kollegium, 1736).

Černigover Kollegium 1706 ein Schauspiel auf die Bühne, zu dem auch ein Canticum gehörte. Darin wurde die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass „der russländische Zar den schwedischen Löwen“ besiegen werde.⁵⁶ Dies war eines der ersten Cantica, die im russländischen Reich zu Ehren der Siege Peters I. aufgeführt wurden (das Manuskript hat die Autorin dieses Beitrags entdeckt; s. Abb. 4). Dabei hatten Musikwissenschaftler und Historiker im Verlauf des 20. Jahrhunderts und bis in die heutige

56 Institut rukopisi Nacional󸀠 noj biblioteki Ukrainy imeni V. I. Vernadskogo, F. 1, d. 206, l. 48–49 ob.

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Abb. 2: Titelblatt eines Vorlesungsmanuskripts im Fach „Poetik“ (Černigover Kollegium, 1730).

Zeit angenommen, dass in schulischen Theateraufführungen keine Musikstücke vorkamen.⁵⁷ Von Nikolai Dileckij, dem Sänger und Leiter des Hofchors Gavril Golovnja und von Stepan Biškovskij ist eine Reihe von Traktaten zum Musikunterricht (bzw. zum PartesGesang) bekannt, die auch im Milieu der Akademien verbreitet waren.⁵⁸ Die sängerische und allgemeine musikalische Ausbildung der Schüler der Akademie ermöglichte es ihnen zweifellos, in der Hofkapelle ohne aufwändige Vorbereitung mit der Interpretation von Partes-Werken zu beginnen.

57 Findejzen, Očerki po istorii muzyki, Bd. 1, S. 344. Lidija Kornij, Ukrajins󸀠 ka škil󸀠 na drama i duchov󸀠 kie Vidrodžennja ta ukrajins󸀠 ka literatura XVI-XVIII st., Kijiv ˙ na muzyka XVII–XVIII st., in: Evopejs 1993, S. 194–214, hier S. 201. 58 Calaj-Jakimenko, Kijivs󸀠 ka škola muzyki, S. 411.

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Abb. 3: „Die neun Musen“. Zeichnung aus der Lobschrift auf Timofej Maksimovič, Lehrer am Černigover Kollegium (1730).

Obwohl die Akademie und die Kollegien zu zuverlässigen Quellen für die Rekrutierung von Nachwuchs für die Kapelle geworden waren, machte sich ein zunehmender Bedarf an guten „Stimmen“, vor allem an Sopran- und Altstimmen, bemerkbar. 1728 bat die Zarentochter Ekaterina Ioannovna den Hetman Daniil Apostol um einen vielseitig gebildeten Mann „für die Suche nach zwei Alceste-Sängern“ für ihren Diener V. Evstratov. Der Hetman versprach, selbst zwei Personen ausfindig zu machen und sie an den Hof zu schicken, wobei er übrigens anmerkte, dass viele Leute nach Kleinrussland kämen, um Sänger zu suchen. Sie fügten den Einheimischen nicht wenige Kränkungen zu und nähmen gegen Bestechungsgelder sogar ungeeignete Burschen.⁵⁹

59 Petr Efimenko, Škola dlja obučenija pevčich, naznačavšichsja ko dvoru, in: Kievskaja starina 5 (1883), S. 169–174, S. 169.

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Abb. 4: Canticum (Kant). Aus dem handgeschriebenen Vorlesungsmanuskript (Černigover Kollegium, 1706).

Als er nach Gluchov zurückgekehrt war, schickte er zwei Sänger und darüber hinaus zwei Diskante in den Hofchor, damit sie dort singen lernten. Bemerkenswert ist die Erklärung des Hetmans, dass er noch unausgebildete Altsänger schicke, „da es jetzt überaus schwer ist, ausgebildete ausfindig zu machen, weil es hier, in Kleinrussland, keine eingesungenen Männer mehr gibt“.⁶⁰ 1730 schickte man weitere elf Sänger, die unter der Aufsicht des Bürgermeisters und Musikkenners Nikifor Šolupin ausgebildet worden waren.⁶¹ Die Akten der Kollegien zeigen, dass der Hetman keineswegs „dick auftrug“, sondern vielmehr ein realistisches Bild dessen entwarf, dass es angesichts

60 Efimenko, Škola dlja obučenija pevčich, S. 170. 61 Volodimir F. Ivanov, Spivac󸀠 ka osvita v Ukrajini. X-XVIII st., Kijiv 1992, S. 16.

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des großen Bedarfs auch in den ukrainischen Diözesen nicht genügend Sänger gab. In einer Anordnung des Bischofs Epifanij Tichorskij vom September 1727 heißt es, dass im Chor des Erzbischofs „Mangel“ an Sängern „für Partes-Gesang“ herrsche, vor allem „in den Tenorstimmen und bei den Burschen“. Der Ukaz enthielt die Forderung, solche Sänger dringend ausfindig zu machen und dann herzuschicken.⁶²

4 Die Gründung einer Musikschule in Gluchov Um solche Krisensituationen in Zukunft zu vermeiden, wurde für die spezielle Ausbildung von Sängern die Musikschule in Gluchov gegründet.⁶³ Gemäß dem Erlass des Zaren vom 14. September 1738 wurde eine „kleine Schule“ gegründet, die für Kinder von Geistlichen, Kosaken, Kleinbürgern, aber auch für Kinder anderer Herkunft gedacht war.⁶⁴ Bis zu zwanzig Personen, die über die besten Stimmen verfügten, sollten die Schule besuchen. Es wurde angewiesen, sie im „Kiever und Partes-Gesang“ zu unterrichten, um auf diese Weise kunstfertige Meister „aus dem Ausland und aus Kleinrussland“ zu finden. Die Schüler sollten auch Unterricht auf Streichinstrumenten erhalten, und zwar „auf der Geige, auf der Gusli und auf der Bandura, damit sie auf diesen Instrumenten nach Noten spielen können“.⁶⁵ Von denjenigen, die die Gesangsausbildung abgeschlossen hatten, sollten jedes Jahr zehn Personen an den Hof geschickt werden. An ihre Stelle sollten neue Schüler aufgenommen werden. Eine Anweisung des Regenten Kleinrusslands, Aleksandr Rumjancev, die von der Allgemeinen Heereskanzlei erteilt wurde, präzisierte einige Details: Die Schule sollte einen Kantor haben, aber einen, der „im vierstimmigen und Partes-Gesang“ geübt war, und die Schüler sollten aus ganz Kleinrussland kommen.⁶⁶ Die Kanzlei der ministeriellen Verwaltung für kleinrussische Angelegenheiten setzte in einer speziellen Anordnung die Einzelheiten bezüglich Ausbildung und Alimentation der Schüler fest.⁶⁷ Noch im August 1738 schickte man von den Zöglingen, die für die Schule ausgewählt worden waren, elf Personen mit dem Kantor Fedor Javorskij mit.⁶⁸ Um eine ausreichende Zahl von Schülern zu finden, entsandte Aleksandr Rumjancev einen Kantor und vier Sänger in verschiedene Ecken des Landes. Sie brachten 80 Leute zusammen und wähl-

62 CGIAUK, f. 2009, op. 1, d. 244, l. 1. 63 In Gluchov befand sich die Residenz des Hetmans. Bekanntlich wurde die Schule faktisch bereits 1730 gegründet (Ivanov, Spivac󸀠 ka osvita, S. 16). 64 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, s 1649 goda, Sankt-Peterburg 1830, (PSZ), T. X (1737– 1739), № 7656, S. 613f. 65 PSZ, T. X (1737–1739), № 7656, S. 613f. 66 Order pravitelja Malorosii S. Rumjanceva ob ustrojstve pevčeskoj školy v Gluchove, in: Kievskaja starina 11 (1886), S. 579f. 67 Efimenko, Škola dlja obučenija pevčich, hier S. 171–173. 68 Efimenko, Škola dlja obučenija pevčich, S. 170.

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ten 33 von ihnen für die Ausbildung aus.⁶⁹ Wie der Bericht des Generals Jakob von Keith zeigt, erfüllte die Schule ihre Aufgaben zur Zufriedenheit,⁷⁰ und die Zahl der ausgebildeten Sänger ging in die Dutzende. Wie aus den Anweisungen hervorgeht, erfolgte die Rekrutierung nicht nur in den Ländern des Hetmanats, sondern auch in der Sloboda-Ukraine.⁷¹ In den Anordnungen der Allgemeinen Heereskanzlei (die die Tätigkeit der Schule kontrollierte und finanzierte) hieß es unermüdlich, man müsse die „kunstreichsten Burschen“ und die „besten Diskante“ suchen. Für den Fall, dass die Anordnung nicht ausgeführt wurde, wurden Geldstrafen für die Verantwortlichen festgelegt.⁷² Und man fand die gewünschten Talente. So besuchte zum Beispiel Dmitrij Bortjanskij die Schule.⁷³ Er wurde im Alter von sieben Jahren in die höfische Gesangskapelle aufgenommen. Allerdings mangelte es sogar trotz der kontinuierlichen Arbeit der Gluchover Schule nach wie vor manchmal an Sängern, weil sie weiterhin nach den „alten“ Methoden dort rekrutiert wurden, wo dies früher üblich gewesen war. So wurde im Februar 1758 der Hofsänger Stepan Andrievskij nach Kiev und Kleinrussland geschickt, um „sowohl in den Klöstern als auch in den Häusern der Erzbischöfe und Archimandriten, in kleinrussischen Regimentern und an anderen Orten nach jungen Sängern zu suchen und sie an den Hof seiner kaiserlichen Hoheit zu bringen“.⁷⁴ Im April entsandte er zwei Sänger in die Hauptstadt, während er 14 Personen in der Schule von Gluchov unterbrachte.⁷⁵ 1756 schrieb der Leiter der Hofkapelle, Mark Poltorackij, als er den Archimandriten des Kiever Höhlenklosters Luka um die Entsendung von jungen Sängern an den Hof bat, dass es „in der Musik keine besseren gibt als unsere Kleinen“.⁷⁶ Man kann also nicht der Meinung der Forscher zustimmen, die behaupten, dass mit der Schaffung der Gluchover Schule die besondere Rolle der Kiever Mohyla-Akademie und der Kollegien als Rekrutierungsorte für qualifizierte Nachwuchssänger für die Hofkapelle völlig zunichte gemacht wurde.⁷⁷ Freilich trug die Gluchover Schule unbestreitbar dazu bei, das Problem der dringenden Suche nach Chorsängern zu entschärfen. Außerdem gab sie dem Hetman die Möglichkeit, immer eine gewisse Zahl

69 Efimenko, Škola dlja obučenija pevčich, S. 173. 70 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 65. 71 CGIAUK, f. 51, op. 3, d. 6718, l. 59. 72 CGIAUK, F. 64, op. 1, d. 896, l. 1 ob., 3 ob. 73 Dmitrij Bortnjanskij (1751–1825) wurde später ein bekannter Komponist. Vgl. dazu: Marina G. Rycareva, Kompozitor D. Bortnjanskij: Žizn󸀠 i tvorčestvo, Leningrad 1979. Jurij V. Keldyš, D. S. Bortnjanskij, in: Istorija russkoj muzyki: V 10 tomach, Moskva 1985, Bd. 3: XVIII vek, Č. 2, S. 161–193. Volodimir F. Ivanov, Dmitro Bortnjanskij, Kijiv 1980. 74 CGIAUK, F. 59, op. 1, d. 3148. 75 Nabor v Kieve pevčich dlja pridvornoj kapelly v 1758 godu, in: Kievskaja starina 3 (1891), S. 512f., hier S. 512f. 76 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 831. 77 Kozic󸀠 kij, Spiv i muzika, S. 80.

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„kleiner“ Sänger „an der Hand“ zu haben, die für die Entsendung an die Hofkapelle zur Verfügung standen.

5 Beurteilung des Rekrutierungssystems für den Hofchor In der aktuellen ukrainischen und russländischen Historiografie ist das Rekrutierungssystem für Sänger wiederholt ausgesprochen negativ bewertet worden. Dabei wurde insbesondere betont, dass die Kinder ohne ihr Einverständnis und in Begleitung von Soldaten in den Chor entsandt wurden.⁷⁸ Natürlich berücksichtigen die Forscher dabei nicht in ausreichendem Maße die Realien der damaligen Zeit – die einst üblichen Praktiken, Kinder in Schulen zu schicken. Unseres Erachtens ist es aber wichtig, auch die soziale Zusammensetzung der Sänger zu analysieren, die für die Kapelle ausgewählt wurden. Denn die soziale Herkunft ist für die Bewertung dieser Art von Rekrutierung ein wichtiger Faktor. Dies gilt umso mehr, weil die Musikhistoriker diesen Aspekt bisher nicht eigens erforscht haben. Um diese Aufgabe zu realisieren, wurde von der Autorin dieses Beitrags eine Datenbank von den Sängern der Kapelle angelegt, die Ende des 17. Jahrhunderts oder in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Hetmanat und aus der Sloboda-Ukraine dorthin berufen worden sind. Die Schaffung einer solchen Datenbank war notwendig, um die einzelnen Fakten der persönlichen Geschichten zu systematisieren mit dem Ziel, dann die typischen Verläufe der Sängerbiografien herauszuarbeiten. Die Datenbank wurde auf der Grundlage eines problemorientierten Zugangs zusammengestellt. Die Haupttabelle enthält folgende „Attribute“: Geburts- und Sterbedatum, soziale Herkunft des Sängers, Ort und Zeit der Ausbildung, Bildungsstand (Klasse, wenn es um Schüler von Akademien und Kollegien ging), Aufenthaltsdauer im Hofchor, Ort der Ausbildung bzw. des Dienstes nach dem Verlassen des Chors u. ä. Die Felder der Eingabemaske wurden ausschließlich anhand der Quellen entwickelt. Aufgrund dieser Herangehensweise konnte die Information so strukturiert werden, dass sich die „typischen“ Züge einer „Kollektiv“-Biografie erkennen lassen. Die gesammelten Daten (bisher wurden über vierzig Personalien in die Datenbank eingegeben) zeigen, dass in der Gruppe der Sänger das gesamte soziale Spektrum der Gesellschaft repräsentiert war. Hier einige typische Beispiele: Ivan Golenevskij stammte aus dem „polnischen Kleinadel“, und Kirill Golovačevskij war der Sohn eines Priesters und adliger Herkunft.⁷⁹ Viele herausragende Sänger stammten aus Kosakenfamilien: Maksim Berezovskij,

78 Kornij, Istorija ukrajinskoji muziki, T. 1 Č. 2, S. 55; Čudinova, Penie, zvony, ritual, S. 118. 79 Božerjanov, Kirill Ivanovič Glovačevskij, S. 308f.

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Grigorij Skorovoda, Anton Trocina,⁸⁰ Petr Petrunkevič⁸¹ und Ioasaf Popov.⁸² Timofej Ščerbackij kam aus einer Familie von Kleinbürgern.⁸³ Wie aus den Dokumenten hervorgeht, war in den ersten Jahrgängen der Gluchover Schule die überwältigende Mehrheit der Jungen Kinder von Kleinbürgern.⁸⁴ Mark Poltorackij und Vasilij Ivanov waren Kinder von Geistlichen.⁸⁵ Es ist wichtig zu betonen, dass traditionell Kinder aller Stände die Akademie und die Kollegien besuchten. Eine solche Art der Rekrutierung kann man als „offen“ bezeichnen, weil man Vertreter aller Stände in die Hofkapelle aufnahm. Außerdem wurde die Auswahl für einen Platz im Chor ganz entschieden auf der Grundlage der Gesangsqualitäten getroffen. Das Talent bestimmte auch im Chor über den weiteren Aufstieg, bis hin zur Möglichkeit, den Chor zu leiten oder in einem anderen Bereich „Karriere zu machen“, indem man die Protektion wichtiger Persönlichkeiten nutzte. Übrigens kann die Anordnung, den 1741 neu in den Hofchor aufgenommenen Sängern ukrainischer Herkunft Fest- und Alltagskleidung auszuhändigen, die „in čerkassischer (d. h., in ukrainischer, L.P.) Manier“ geschneidert ist, als interessantes Zeugnis für die Anerkennung der regionalen Herkunft der Neuzugänge gelten.⁸⁶

6 Muster und Häufigkeit der Fluktuation von Sängern; Beendigung des Dienstes Die geschaffene Datenbank ermöglicht auch die Feststellung, dass der wichtigste, häufigste Grund für die Entlassung der Sänger ihre Unfähigkeit und der „Verlust ihrer Stimme“ war.⁸⁷ Im Januar 1741 kehrte der Sänger Žukovskij⁸⁸ an die Kiever MohylaAkademie zurück, weil er seine Stimme verloren hatte, und mit ihm wurden weitere fünf Personen nach Hause geschickt.⁸⁹ In der überwältigenden Mehrheit der Fälle ging es um „kleine“ Sänger, bei denen die Phase des „Stimmbruchs“ begonnen hatte. Aus diesem Grund verließen im Durchschnitt jedes Jahr nicht weniger als zehn Personen den Chor. Wie schon erwähnt, wurden die Sänger nicht selten entlassen, um

80 Trociny, in: Kievskaja starina 11 (1893), S. 321–324, hier S. 321f. 81 Opisanie dokumentov i del, Bd. 16 (1736), d. 87, Sp. 114. 82 Er war im Chor zunächst Bass, dann Kantor. Vgl.: Opisanie dokumentov i del, Bd. 20 (1749), d. 378, Sp. 385. 83 Graevskij, Kievskij mitropolit Timofej Ščerbackij, S. 97. 84 CGIAUK, f. 51, op. 3, d. 6718, l. 57. 85 Opisanie dokumentov i del, Bd. 19 (1739), d. 560, Sp. 642. 86 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 67. 87 Vgl. zum Beispiel: Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 70. 88 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 825. 89 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 66.

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ihre Ausbildung fortzusetzen oder nachdem sie sich eine gute Stelle in der Hauptstadt gesucht hatten. Die Systematisierung der Daten erlaubt es, einige Schlussfolgerungen zu widerlegen, die sich in der wissenschaftlichen Literatur festgesetzt haben – etwa darüber, dass es für einen erwachsenen Sänger außerordentlich schwierig war, die Entlassung aus dem Chor zu erreichen.⁹⁰ Obwohl einige Sänger tatsächlich mehrmals um die Erlaubnis bitten mussten, entlassen zu werden, und dann gezwungen waren, lange auf eine Entscheidung zu warten, verließen nicht wenige von ihnen diesen Dienst ohne nennenswerte Probleme. Vor dem Hintergrund der häufigen natürlichen Fluktuation der „kleinen“ Sänger werden die Verläufe der Gesangskarrieren der erwachseneren jungen Leute verständlicher. Ein erheblicher Teil von ihnen blieb nur für einige Jahre im Chor (Grigorij Skovoroda war zum Beispiel von 1742 bis 1744 Sänger). Allerdings gibt es auch nicht wenige Beispiele für einen langjährigen Dienst im Chor, und dann war die Belohnung bei einer Entlassung überaus großzügig. Die Praxis, die Sänger in den Adelsstand zu erheben, war recht verbreitet. So wurden 1743 die Sänger Grigorij Ljubistkov, Fedor Božkov, Petr Čiževskij, Fedor Kačenovskij, Kirill Rubanovskij⁹¹ und Jakov Šubskij⁹² für ihren „langjährigen und treuen“ Dienst mit der Erhebung in den erblichen Adelsstand belohnt. Der höfische Vorsänger Mark Poltorackij sowie Grigorij Ljubistkov erhielten bei ihrer Entlassung den Rang eines Obersten, F. Kačenovskij und S. Rubanovskij den Rang eines Oberstleutnants. Nicht wenige Sänger bekamen den Titel eines KosakenOffiziers (russ.: „sotnik“; dies entsprach dem Rang eines Leutnants der Infanterie) oder eines persönlichen Begleiters des Hetmans (russ.: bunčukovyj tovarišč).⁹³ Es sind Beispiele dafür belegt, dass Sänger noch während ihrer Tätigkeit im Chor ihre Gönner um eine Gunst für Familienmitglieder baten, die in der Heimat geblieben waren und die dann die neuen Möglichkeiten nutzten, die ihnen ihre Familie bot. So setzte sich Anton Trocina für seinen Vater ein. Dieser erhielt den Rang eines KosakenOffiziers im Prilukskij-Regiment. Er selbst kam dann nach seiner Entlassung im Dienst der Allgemeinen Heereskanzlei unter.⁹⁴ Eine gängige Belohnung für Sänger war die Erlaubnis, in ein bekanntes und reiches Kloster einzutreten oder Priester zu werden (in der Regel baten sie darum, in ukrainische Diözesen berufen zu werden). Hierfür gibt es sehr viele Beispiele: 1741 wurde der Sänger Matvej Podol󸀠 skij⁹⁵ entlassen, damit er Mönch werden konnte; Kirill Florinskij⁹⁶ durfte den Chor verlassen, um in das Kiever Höhlenkloster einzutre-

90 Čudinova, Penie, zvony, ritual, S. 188f. 91 Opisanie dokumentov i del Bd. 23 (1743), d. 180, Sp. 254. Dmitrij Miller, Očerki iz istorii i juridičeskogo byta staroj Malorossii, in: Kievskaja starina 1 (1897), S. 1–31, hier S. 216. 92 Findejzen, Očerki po istorii muzyki, T. 2, S. 38. 93 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 832. 94 Trociny, S. 321f. 95 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 2, S. 232. 96 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 69–71; Kn. 2, S. 232.

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ten; der Sänger und Vorsänger Fedor Žuravskij, der 56 Jahre Dienst getan hatte, wurde bei seiner Entlassung mit hundert Rubeln belohnt⁹⁷ und trat ins Kiever Höhlenkloster ein.⁹⁸ In den 1740er Jahren wurde auf Anordnung der Zarin zur Belohnung für Verdienste als Sänger das Priesteramt vergeben.⁹⁹ 1741 schied Jakov Multjanskij nach fünf Jahren wegen Krankheit aus dem Dienst aus, kehrte in seine Heimat zurück und wurde Priester (es gab Probleme, als er versuchte, eine Stelle zu erhalten, aber er sicherte sich durch Briefe die Unterstützung hochgestellter Persönlichkeiten bei Hofe)¹⁰⁰; Leontij Balanovskij war in den 1690er Jahren Mitglied der Chores, und als er 1702 den Dienst quittierte, wurde er Hofgeistlicher.¹⁰¹ Natürlich sind einige Sänger durch eine besonders erfolgreiche Karriere bekannt geworden. Im 18. Jahrhundert nahm der Sänger Aleksej Razumovskij eine bedeutende Stellung in der Gesellschaft ein.¹⁰² Aber es gibt auch andere Beispiele dafür, dass die Verdienste der Sänger mit besonders großzügigen Belohnungen und Auszeichnungen vergolten wurden. So schrieb der Leiter des Chores, der Mönchpriester Gerasim Zavadovskij, zum Tag der Thronbesteigung Anna Ioannovnas ein Konzert, und nach seiner Entlassung im Jahr 1740 wurde er zum Archimandriten des Kiever Mežigorskij-Klosters ernannt.¹⁰³ Der Status des Hofsängers gab das Recht auf Befreiung der erwachsenen Sänger von den „allgemeinen Dienstpflichten“. Die Familien der „kleinen“ Sänger des Hofchors erhielten bei deren Dienstantritt Vorzugsbedingungen, indem durch entsprechende Gnadenbriefe die „Elternhäuser“ von Abgaben befreit wurden. Entsprechende Entscheidungen wurden sowohl in Einzelfällen¹⁰⁴ getroffen als auch bezogen auf die gesamte soziale Gruppe. So hieß es am 5. November 1750 in der Gnadenurkunde von Elizaveta Petrovna für den Hetman Kirill Razumovskij, die Elternhäuser aller minderjährigen Sänger seien von „jeglichen Abgaben, Einquartierungen von Soldaten und Diensten“ befreit.¹⁰⁵ Aufgrund der Erforschung des Rekrutierungssystems von Sängern aus der Ukraine sowie der darauffolgenden Karriere von Vertretern dieser sozialen Gruppe lässt sich mit Gewissheit sagen, dass die vertikale soziale Mobilität von Vertretern dieser Gruppe in der Ständegesellschaft des Russländischen Reiches im 18. Jahrhundert relativ

97 Vnutrennyj byt Russkago gosudarstva, Kn. 1, S. 49f. 98 Opisanie dokumentov i del, Bd. 21 (1741), d. 157, Sp. 141. 99 Čudnikova, Penie, zvony, ritual, S. 114. 100 Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 825. 101 Opisanie dokumentov i del, Bd. 6 (1726), S. d. 304, Sp. 530. 102 Vgl. zu seiner Person: Aleksandr A. Vasil󸀠 čikov, Semejstvo Razumovskich: v 5 t., Bd. 1, SanktPeterburg 1880. 103 Opisanie dokumentov i del, Bd. 20 (1740), d. 378, Sp. 385. 104 Čudinova, Penie, zvony, ritual, S. 115. 105 Michail G. Kurdjumov, Opisanie aktov, chranjaščichsja v Imperatorskoj Archeografičeskoj komissii za 1904 god, 17 (1907), S. 1–594, hier S. 197 (Dokument Nr. 609).

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groß war. Der Hofchor wurde für viele Sänger zu einem sozialen Sprungbrett. Indem sie dieses nutzten, stiegen sie im Vergleich zu ihrer ursprünglichen gesellschaftlichen Stellung auf eine erheblich höhere Stufe auf. Zugunsten dieser Schlussfolgerung lassen sich auch Argumente anderer Art anführen. Die Untersuchung des Kreises der bekannten Sänger des Hofchores und ihres Freizeitverhaltens zeigt, dass sie mit Leuten verkehrten, die einen hohen sozialen Status hatten. Private Quellen sind voll von Zeugnissen darüber, dass sich die Vertreter der Elite gerne mit den Sängern der Kapelle trafen, dass Kosaken-Majore mit ihnen Kontakt hielten. So notierte der Oberst Petr Apostol (ein Sohn des Hetmans) in seinem Tagebuch, dass am 11. November 1725 ein Hofsänger zu ihm gekommen sei und dass er am 10. Januar selbst beim Sänger Luk󸀠 jan gewesen sei.¹⁰⁶ Der Generalfahnenträger Nikolaj Chanenko schrieb am 8. Juni 1732 in sein Tagebuch, dass ein junger Sänger der Hofchors und der blinde Bandura-Spieler Grigorij Michajlov ihn besucht hätten. Am 23. Juli waren der Chorleiter Ivan Petrovič und zwei Sänger bei ihm zu Gast, und am 13. Juli besuchte er selbst die Hofsänger.¹⁰⁷ Der Generalschatzmeister Jakov Markovič traf sich im Juni 1742 in seiner Moskauer Wohnung mit den Hofsängern und mit dem blinden Bandura-Spieler, und sie hatten Umgang miteinander („sie zechten miteinander“). Im Mai 1743 vermerkte er die Neuigkeit, dass der Hofsänger Fedor Božkov in den Adelsstand erhoben worden sei.¹⁰⁸

7 „Sie sangen einige Verse und Konzerte“ Mit diesen Worten beschrieb der Korrespondent der „Sankt Peterburger Nachrichten“ (russ.: „Sankt-Peterburgskie vedomosti“) einen Auftritt von Sängern und Musikanten des Hetmans Kirill Razumovskij zu Ehren „des Erhabenen Geburtstags“ der Zarin.¹⁰⁹ Jacob von Staehlin erwähnte ebenfalls einen Auftritt dieses Chors in Moskau im Jahre 1753, der in Anwesenheit des Hofes und hochgestellter Persönlichkeiten stattfand, und dass der Gesang mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.¹¹⁰ Obwohl es nicht zu den Aufgaben dieser Studie gehört, das Repertoire des Hofchors zu untersuchen, lässt sich aufgrund der Analyse der musikalischen Ausbildung der Sänger, die in der Ukraine rekrutiert wurden, mit Sicherheit feststellen, dass sie imstande waren, Werke des Partes-Gesangs aufzuführen. Diese Schlussfolgerung wird

106 Petr Apostol, Dnevnik Petra Daniloviča apostola (maj 1725 b. – maj 1727 g.), in: Kievskaja starina 7–8/1895), S. 100–155, hier S. 124, 133. 107 Nikolaj D. Chanenko, Dnevnik general󸀠 nogo choružogo Nikolaja Chanenka. 1727–1753, Kiev 1884, S. 53, 61, 63. 108 Jakov A.Markovič, Dnevnik general󸀠 nogo podskarbija Jakova Markoviča, Moskva 1859, Č. 2, S. 169, 191. 109 Zitiert nach: Findejzen, Očerki po istorii muzyki, Bd. 2, S. X–XI. 110 Štelin, Muzyka i balet, S. 90.

Ukrainische Sänger in der Hofkapelle des Zaren | 107

auch dadurch bestätigt, dass einige Sänger der Kapelle nicht nur als Interpreten, sondern auch als Komponisten polyphoner Musik bekannt sind. Der bereits erwähnte Sänger und Chorleiter, der Mönchspriester Gerasim Zavadovskij, „komponierte“ 1735 zur Inthronisierung der Zarin Anna Ioannovna das Konzert „Über die Inthronisierung der Russländischen Macht“.¹¹¹ Obwohl sich sein Talent erst später voll entfaltete, begann Maksim Berezovskij Chorwerke zu schreiben, solange er noch die Kiever Akademie besuchte, und er setzte diese Tätigkeit an der Hofkapelle fort. Die Brüder Timofej und Osip Belogradskij, ebenfalls Sänger, wurden seinerzeit durch die Komposition von Liedern und Romanzen bekannt, die sehr große Beliebtheit erlangten.¹¹² Übrigens unterrichtete Osip Belogradskij seine Tochter Elizaveta in der Gesangskunst. Sie sang in der ersten russischen Oper „Cephalus und Procris“ den Part der Procris.¹¹³ Ein wichtiger Indikator dafür, welchen Platz der Hofchor unter den neuen kulturellen Tendenzen im Musikleben der Hauptstadt einnahm, war die Tatsache, dass der Chor seit der Regierungszeit Elizaveta Petrovnas anfing, neben Kirchenmusik auch Kammer- und Theatermusik zu singen.¹¹⁴ Von der aktiven Beteiligung der Hofkapelle am weltlichen Musikleben zeugt die Teilnahme von Sängern an Opernaufführungen bei Hofe. Es ist bemerkenswert, dass die Sänger schon 1733–1735 begannen, sich an Theaterinszenierungen bei Hofe zu beteiligen. Diejenigen, die ein Musikinstrument spielen konnten, verstärkten die Orchester der Hoftheater.¹¹⁵ Im Jahr 1742 waren die Sänger der Kapelle erstmals an der Aufführung der italienischen Oper „La Clemenza di Tito“ (dt. „Die Milde des Kaisers Titus“) beteiligt, und in den darauffolgenden Jahren nahmen sie regelmäßig an Operninszenierungen teil, in denen ein Chor vorgesehen war.¹¹⁶ Von diesen Neuerungen, an denen er selbst unmittelbar beteiligt war, schrieb Jacob von Staehlin in seinen Erinnerungen. Später glänzten Sängergruppen aus der Kapelle und einzelne Sänger auch als Solisten im Rahmen von Opernaufführungen. So trat 1764 der dreizehnjährige Sänger Dmitrij Bortnjanskij im männlichen Tenor-Hauptpart der Oper „Alceste“ von Hermann Raupach auf.¹¹⁷ Es ist bemerkenswert, dass einige Sänger, die Mitte des 18. Jahrhunderts aus der Ukraine an die Hofkapelle geholt wurden, bereits „auf Italienisch“ singen konnten.¹¹⁸ Es ist allgemein bekannt, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Geisteskultur des Russländischen Reiches bedeutende Veränderungen vor sich gingen. Im vorliegenden Beitrag standen Prozesse im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die man unter Vorbehalt als „musikalische Wende“ bezeichnen kann. Unseres Erachtens wa-

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Charlampovič, Malorossijskoe vlijanie, S. 824. Findejzen, Očerki po istorii muzyki, Bd. 2, S. 26. Štelin, Muzyka i balet, S. 91. Štelin, Muzyka i balet, S. 91. Findejzen, Očerki po istorii muzyki, Bd.2, S. VIII (Anm. 20). Štelin, Muzyka i balet, S. 60f. Findejzen, Ocerki po istorii muzyki, Bd. 2, S. 261. Vgl. zum Beispiel: Čudinova, Penie, zvony, ritual, S. 158.

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ren ihre hervorstechenden Merkmale die Synthese und die bizarre Verflechtung von geistlichen und weltlichen Musiktraditionen und -innovationen (mit einer Tendenz zur Erweiterung der weltlichen Komponente im Bereich der Musik). Der Transfer des Partes-Gesangs durch „kleinrussische“ Sänger in die großrussischen Zentren, ist ein anschauliches Beispiel für kulturellen Einfluss und für die Wechselbeziehung kultureller Prozesse. Die höfische Gesangskapelle war unmittelbar an dieser „musikalischen Wende“ beteiligt und repräsentierte diese in beträchtlichem Maße, indem sie den „Ton“ der musikalischen Veränderungen vorgab. Die Erforschung des Rekrutierungsprozesses für den Hofchor lässt den Schluss zu, dass dieser keine geschlossene Gesellschaft war, sondern eine recht offene Struktur, die auf die Herausforderungen der Zeit reagierte. Deshalb befand sich die Hofkapelle an der Spitze der modischen Tendenzen des Musiklebens. In der höfischen Gesangskapelle wurde die bewegliche „Grenze“ zwischen geistlicher und weltlicher Musik sichtbar. Dass die Sänger nicht nur Kirchenmusik, sondern auch weltliche Musik aufführten, und dass sie an Opernund Theaterinszenierungen beteiligt waren, belegt deutlich, dass die „kirchliche“ und die „weltliche“ Komponente des Musiklebens sich gegenseitig beeinflussten. Zu einer Art Brücke zwischen ihnen wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Konzert und das Canticon. Die in der Literatur zur Bildungsgeschichte geäußerte These, dass die orthodoxen Kollegien und Akademien, die nach dem Vorbild jesuitischer Kollegien bzw. Universitäten gegründet wurden, die südwestliche Variante des Modells der europäischen mittelalterlichen Universität verkörperten,¹¹⁹ lässt sich um die Ansicht ergänzen, dass dieser „südliche Weg“ auch für die Verbreitung anderer kultureller Innovationen in den ostslavischen Ländern wichtig war.

119 Posochova, Na perechresti kul󸀠 tur, tradicij, epoch, S. 326. Dies., Pravoslavnye kollegiumy, S. 111. In: Andreev A. (Hrsg.), Universitet v Rossijskoj imperii XVIII – pervoj poloviny XIX veka, Mosvka 2012

Natalija Ogarkova

Die musikalischen Panegyriken Vasilij Trediakovskijs am Hof Annas I. Vasilij Kirillovič Trediakovskij (1703–1769) nimmt in der russischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts einen besonderen Platz ein¹. Er war nicht nur ein herausragender Gelehrter und Schriftsteller und Dichter, sondern auch ein Komponist. Trediakovskij komponierte geistliche Werke – partesnye koncerty, Psalmen, beherrschte die Praxis, Lieder „nach der Stimme“ zu schreiben, indem er, wie damals üblich, zur Vertonung seiner poetischen Werke bekannte Melodien auswählte oder bereits vorliegenden Weisen (napevy) selbst geschriebene Verse unterlegte². Schon vor seiner Abreise ins Ausland 1725, noch als Schüler der Slavisch-griechisch-lateinischen Akademie, schrieb er das Lied (pesenka): Winter muss dem Frühling weichen (Vesna katit, zimu valit) nach der deutschen Volksweise Kraut und Rüben³. Im weiteren vervollkommnete er seine Fertigkeit, Lieder „nach der Melodie“ zu verfassen, wobei er die Themen des deutschen Liedes und des französischen Chansons aufgriff. Trediakovskijs literarische Karriere wurde bereits von zahlreichen Forschern untersucht.⁴ Sie verlief ähnlich wie an deutschen Fürstenhöfen, deren soziale Realität von russischen Verhältnissen nicht weit entfernt war. Doch Trediakovskij ist auch als Persönlichkeit interessant, die ihr musikalisches Talent für ein klar definiertes Ziel eingesetzt hat – er wollte die Aufmerksamkeit des Hofs auf sich ziehen, um in den Wis-

Übersetzt von Lorenz Erren. 1 Trediakovskij, Vasilij Kirillovič (22 Februar 1703, Astrachan – 6. August 1769, St. Petersburg), Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Komponist von Cantica, Psalmen, Partes-Konzerten. Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 2 Siehe dazu im Einzelnen: Nina Gerasimova-Persidskaja, Partesnyj koncert v istorii muzykal󸀠 noj kul󸀠 tury. Moskva: Muzyka 1983; M. M. Sochranenkova, V. K. Trediakovskij kak kompozitor. In: Pamjatniki kul󸀠 tury. Novye otkrytija: Pis󸀠 mennost󸀠 . Iskusstvo. Archeologija. 1986. Leningrad: Nauka 1987, S. 210–221. 3 Dieses populäre Lied wurde vor einer Cantica-Anthologie in den nächsten übernommen. Doch obwohl es in der für Cantica traditionellen, dreistimmigen Partitur notiert wurde, entspricht die Aufzeichung des Frühlingslieds keineswegs der für cantica typischen Dreistimmigkeit mit ihren charakteristischen Oktav- und Quintverzweigungen, Unisoni, strengen Terz- und Sext-Intervallen in den Oberstimmen. Trediakovskij Lied ist ein Musterbeispiel des Akkordtyps der Notenschrift im Geist des deutschen Solo-Kunstlieds mit Klavierbegleitung. Insofern der Autor nicht nur die Melodie eines deutschen Liedes, sondern auch die Art des harmonischen Arrangements übernahm. Offenkundig unterlegte Trediakovskij seinen Reimtext einer populären Volksweise. 4 Siehe z. B. Viktor Živov, Pervye russkei literaturnye biografii kak social󸀠 noe javlenie: Trediakovskij, Lomonosov, Sumarokov. In: Novoe literaturnoe obozrenie. 1997, Nr. 25, S. 24–83. DOI 10.1515/9783110520224-009

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Abb. 1: Vasilij K. Trediakovskij, Lied zum Anlass der Krönungsfeier ihrer Kaiserlichen Majestät der allrussischen Selbstherrscherin Anna I. am 10. August 1730 n.St. In Hamburg. Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Abteilung für Musikdrucke und Tonaufzeichungen.

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senschaften, der Literatur und im Leben Erfolg haben zu können. Dabei spielten diese von ihm in Form „musikalischer Widmungen“ zu Ehren der Zarin Anna I. geschaffenen musikalischen Panegyriken eine nicht zu übersehende Rolle:⁵: Das „anlässlich der Krönungsfeier Ihrer Kaiserlichen Majestät der allrussischen Selbstherrscherin Anna I. am 10. August 1730 n.St. in Hamburg“ komponierte Lied und das Trediakovskij zugeschriebene Willkommensständchen für die aus Moskau nach St. Petersburg zurückgekehrte Kaiserin Anna vom 15. Januar 1732⁶. Die Tradition, zu Ehren der Herrscher musikalische Panegyriken für zeremonielle Feierlichkeiten zu verfassen, war schon unter Peter I. entstanden. Doch erst unter Anna nahm das Hofzeremoniell feste Formen an, erhielten die höfischen, bühnenartig inszenierten Solennitäten und Feierlichkeiten Spezifik und Charakter, verfestigten sich die Verhaltensnormen der höfischen Etikette heraus. Wie Viktor Živov festgestellt hat, begann sich gerade unter Zarin Anna die höfische Gesellschaft herauzubilden, nicht infolge bewusster Politik, sondern gewissermaßen von selbst, weil man ebenso leben wollte wie die Höfe in Europa. „Das Modell war für alle war der Hof von Ludwig XIV. Obwohl Anna nicht die Gloire des Sonnenkönigs beanspruchte, so akzeptierte sie ihn doch als Vorbild, von dessen Glanz das deutsche Hofleben nur einen Schatten abgab. Als Schatten dieses Schattens bildete sich die höfische Gesellschaft in Russland, weswegen die Deutschen in ihm eine wichtige Rolle einnahmen, und, ohne die russischen Eigenheiten ganz auszumerzen, ihm deutsche Gebräuche einimpften (weshalb man später von der „Deutschen Vorherrschaft unter Zarin Anna“ sprach)⁷. Seit dieser Zeit bildeten sich Regeln heraus, nach denen dynastische Staatsfeiertage abgehalten wurden – darunter die höchstfeierlichen Feste (Thronerhebungen, Krönungen, Geburts- und Namenstage „Ihrer Kaiserlichen Majestät“ und ihrer Familienangehörigen), die triumphalen (zur Erinnerung an militärische Siege), die chevaleresken (der Ritterorden vom Weißen Adler, von Aleksandr Nevskij und vom Heiligen Andreas dem Erstberufenen) sowie die militärischen Feierlichkeiten der kaiserlichen Garderegimenter.⁸

5 Anna I. (28. Januar 1693 in Moskau – 17. Oktober 1740, St. Petersburg), Kaiserin, mittlere Tochter Ivans V. Und Praskov󸀠 ja Fedorovna, Nichte Peters I. 1710 wurde sie mit Herzog Friedrich Wilhelm Kettler von Kurland verheiratet. Bis 1730 lebte sie mit ihrem Hofstaat in Mitau (Kurland). Nach dem Tod Peters II. wurde sie zur russischen Zarin gekrönt. Am 15. Februar 1730 hielt sie feierlichen Einzug in Moskau, am 20.-21. Februar leisteten hier die Militärs und Beamte den Treueid, die Krönung fand am 28. April in Moskau in der Mariä-Entschlafungskathedrale statt. 6 Siehe Boris Vol󸀠 man, Russkie pečatnye noty XVIII veka. Moskva: Muzgiz 1957, S. 28–30, S. 208. 7 Živov, Pervye russkie literaturnye biografii kak social󸀠 noe javlenie: Trediakovskij, Lomonosov, Sumarokov. In: Novoe literaturnoe obozrenie, 1997, Nr. 27, S. 32. 8 Zum russischen Hofzeremoniell des 18. Jahrhunderts im Einzelnen: Natal󸀠 ja A. Ogarkova, Ceremonii, prazdnestva, muzyka russkogo dvora. XVIII – načalo XIX veka. Sankt-Peterburg 2004, S. 11–111.

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Die etablierte Ordnung zur Durchführung dieser Feiern, welche das „Paradeporträt“ des 18. Jahrhunderts darstellten, blieb im Weiteren nahezu unverändert.⁹ Das Zeremonial umfasste einige elementare „Akte“, von denen jeder wiederum ein streng festgelegtes Programm enthielt: 1) Prozession in die Kathedrale 2) Gottesdienst 3) Militärparade 4) Festmahl im Palast 5) Beglückwünschung des Monarchen durch die Untertanen 6) Großer Ball 7) Illumination und Feuerwerk. Dazwischen ließen sich einfügen: Theateraufführungen als Emblem der offiziellen Panegyrik (Tragödie, Drama, opera seria) und Unterhaltungen wie leichte Bälle, Maskaraden, Bühnendarbietungen (Zwischenspiele, Komödien, komische Opern, Ballett, Konzerte, Gartenfeste). Dieses allgemeine Schema wurde einerseits laufend mit Inhalten ausländischer Herkunft erneuert, behielt andererseits seine feste Verbindung mit der nationalen Tradition, mit der (lange vor Peter entstandenen) orthodoxen Liturgie und religiösen Gebräuchen. Das kirchliche Ritual, dem eine feste liturgische Ordnung zugrunde lag, nahm in diesen Feierlichkeiten eine zentrale Stellung ein. Die Geschichte der Krönungszeremonien des 18. Jahrhunderts, welche die alleroffiziellsten Vorstellungen vom russischen Staat abbildeten, zeugt von einer Konsolidierung der Macht des weltlichen Monarchen, der nun statt dem Klerus die Hauptrolle spielte. Der Tag der Krönung bestand aus einer Abfolge von Elementen, die ihrerseits einem genau festgelegten Zeremoniell folgten. Die obligatorische, durch hochamtlichen Festklang „aller Glocken“ eingeläutete, vorabendliche Vigil in allen Kirchen und Kathedralen; die zeremonielle Prozession zur Kathedrale der Entschlafung Mariä; die Krönungsliturgie einschließlich der Salbung und der Kommunion; die feierliche Prozession zu den Kathedralen des Erzengels Michael und der Verkündigung; zur Verneigung vor den „Gräbern der Vorväter“; der als Gnadenerweis gegegenüber den Untertanen aufgefasste Eintritt Herrschers in den Facettenpalast des Kreml; schließlich die Speisung des Volks. Auf diesen ersten „Akt“ des Krönungsspektakels folgten am nächsten oder den nächsten beiden Tagen die zeremonielle Beglückwünschung der Kaiserin oder des Kaisers durch die Untertanen nebst den obligatorischen Illuminationen Feuerwerken. Krönungsfeierlichkeiten, wie andere Zeremonien auch, wurden von Musik begleitet; von kirchlicher und weltlicher (opera seria, komische Oper, Ballett, Kantaten, Gesellschaftstänze) wie auch vom Läuten der Glocken. Eine besondere Stellung in der musikalischen Begleitung der höfischen Zeremonien nahmen diejenigen Genres ein, panegyrische Texte enthielten: Kantaten, szenische Vorspiele, kanty (cantica) und Lieder¹⁰. Es war also kein Zufall, dass Trediakovskij, in Hamburg ein Lied schrieb, um die Feier zu untermalen, die der russische Gesandte Johann Friedrich Böttinger dort am

9 Die grundlegenden Dokumente zu den erwähnten Zeremonien befinden sich im Russländischen Historischen Staatsarchiv: RGIA, F. 473, Ceremonial󸀠 naja čast󸀠 , Op.1. 10 Dazu genauer: Natal󸀠 ja A. Ogarkova, Ceremonii, prazdnestva, S. 35–111.

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11. August 1730 aus Anlass von Annas Zarenkrönung veranstaltete. Nach seiner Rückkehr aus Hamburg nach Russland im September 1730 mühte er sich um die Weiterentwicklung des panegyrischen Genres, um seine Prätention auf das hier noch unbekannte Amt eines Hofpoeten zu untermauern. Gleich bei seiner Ankunft erschien das Lied in Petersburg bei der Akademie der Wissenschaften in Form eines opulent gestalteten Widmungsblatts mit Notenschrift und Text (der erste Musikdruck in Russland überhaupt),¹¹ das im Umfeld des Hofes ziemlich schnell Verbreitung fand. Wie Trediakovskij am 18. Januar 1731 an Johann Daniel Schumacher schrieb, wurde er von vielen Höflingen nach dem Lied gefragt und am 27. Januar bat er darum, ihm „einige Seiten“ seines „opus“ zu schicken.¹² Die Popularität des Liedes brachte Trediakovskij aber auch ernste Schwierigkeiten ein, da im Text nicht wie gewohnt von der Imperatrica (Kaiserin) sondern der Imperatrix die Rede war, weswegen er bei der Geheimkanzlei in den Verdacht der Majestätsbeleidigung geriet. Trediakovskij schrieb er deren Leiter Andrej Ušakov, dass Imperatrix „originales Latein“ sei, von dem das russische Imperatrica herrührte und dass er diese Form verwendete, weil das „Versmaß“ und überhaupt die „Verskunst“ dieses erforderten.¹³ Im Zusammenhang mit der Zeremonie ihres feierlichen Einzugs in St. Petersburg entstand das bereits erwähnte, Trediakovskij zugeschriebene, Willkommensständchen für die aus Moskau nach St. Petersburg zurückgekehrte Kaiserin Anna Ivanovna. Die Fassung, wie sie Vol󸀠 man anhand von Kupferstichen rekonstruiert hat, bestand aus dem Notenteil eines Widmungsblattes (genau wie beim anlässlich der Krönung verfassten Lied) mit zwei Zeilen Notenschrift und dem folgenden Textanfang: „Вожделенна грядеши! С тобой веселье и всю нашу радость Столь преславно ведеши Едина сущи россиян всех сладость.“

Ersehnte, Du nahst! Fröhlichkeit und all unsre Freude Bringst Du so wunderbar uns mit, Du Einzige Süßigkeit aller Russen

Eine Anweisung Schumachers vom 14. Januar 1732 belegt, dass dieses Widmungsblatt dazu bestimmt war, im Zusammenhang mit dem feierlichen Einzug der Kaiserin in Petersburg veröffentlicht zu werden: „Das neu geschriebene Willkommenslied über den Einzug ihrer Kaiserlichen Majestät nach Petersburg soll in der russischen Typographie gedruckt werden“.¹⁴

11 Dieses rare Exemplar befindet sich in der Russischen Nationalbibliothek (ONIiMZ RNB). Siehe auch: Dom Romanovych 400 let. Notnye izdanija iz sobranija Rossijskoj nacional󸀠 noj biblioteki. T. 2, S. 57. 12 Trediakovskij: [Pis󸀠 ma], S. 44. 13 Siehe dazu den genauen Kommentar von Alekseeva, N: Trediakovskij. Sočinenija, T.2, 2009, S. 620– 622. 14 Vol󸀠 man, Russkie pečatnye noty XVIII veka, S. 28. Leider war kein gedrucktes Exemplar aufzufinden.

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In seinen musikalischen Panegyriken preist Trediakovskij, wie das Genre es erfordert, die verschiedenen Tugenden der Zarin. In der vierten Strophe des Krönungsliedes heißt es: „Речныя в брегах станут своих токи, Выбегут все мерзки пороки; ПРАВДА, БЛАГОЧЕСТИЕ АННУ окружают! ЛЮБОВЬ к подданным, СУД и МИЛОСТЬ Из всех сердец гонят УНЫЛОСТЬ; Тем АННУ прославляют!“

Die Flüsse in ihren Betten schwellen an Schwemmen alle üblen Laster hinfort; WAHRLICH, sie umhüllen die TUGEND ANNAS! Die LIEBE zu den Untertanen, GERECHTIGKEIT und GNADE Aus allen Herzen verjagt sie die TRÜBSAL; So preisen sie ANNA!

Die stilistischen Besonderheiten des Krönungslieds entsprechen voll und ganz den Traditionen der panegyrischen Cantica der petrinischen Epoche. Das Lied ist zweistimmig: jede Stimme ist in einer eigenen Linie notiert, eine im Violin-, die andere mit Bassschlüssel. Das Blatt enthält Angaben zur Takt („vier viertel“) und Taktstriche. Unterhalb der Noten befindet sich der in vier Spalten gegliederte Text, mit je zwei Strophen in einer Spalte. Der feierliche Stil der Musik ist typisch für die cantica-Tradition der Stimmführung – die Bewegung der parallelen Quinten und Oktaven, in der Melodie – die „Fanfaren“-Sprünge auf die steigende Quart in die fallende Quint, die Tonbeziehung von C-Dur und G-Dur. Die „Leerstellen“ der parallelen Quinten und Oktaven, die „Entfernung“ der in sehr hohen Register klingenden Oberstimme von der Basslinie erweckt den Eindruck der Weiträumigkeit. Wie und auf welche Weise mochte die Zarin Trediakovskijs musikalisch-panegyrisches „Opus“ kennengelernt haben? Wozu waren die Widmungsblätter mit Notenschrift bestimmt? Zum Lesen oder zum Singen? Und wenn sie gesungen wurden, dann von wem? Auch wenn sich solch schwierige Fragen nicht immer beantworten lassen, muss man es doch zumindest versuchen. Das Krönungslied besteht aus einem Widmungsblatt, welches unter der Überschrift zwei Zeilen parallel angeordneten Notentextes enthält. Der Text ist in Schönschrift geschrieben.¹⁵ Wie Vol󸀠 man gezeigt hat, wurde die Notenlinien in Kupfer graviert, der wörtliche Text – mit Lettern gesetzt.¹⁶ Das Krönungslied, wie auch das Begrüßungsständchen, wurden in geringer Auflage auf Satin und auf französisches Papier gedruckt,¹⁷ und

15 Ebenso sieht das Widmungsblatt mit dem Notentext unter dem Titel „Aria o Menuet“ aus, das zum Jahrestag der Krönung Annas I. (dem 28. April 1734) im Namen des Grafen Karl Ernst Birons gedruckt wurde. 16 Vol󸀠 man, Russkie pečatnye noty XVIII veka, S. 57. 17 In Schumachers Verantwortung erfolgte hinsichtlich der Publikation des Begrüßungsständchens die Anweisung zum Druck: „Auf Atlaspapier 4, auf französisches Papier 50, auf gewöhnlichem Papier 200, insgesamt 254. (Zit. n. Vol󸀠 man, Russkie pečatnye noty XVIII veka, S. 29.)

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taugten als Souvenirgeschenke für einen ausgewählten Personenkreis, Reliquien zur Verewigung der mit dem Namen der Zarin verbundenen feierlichen Ereignisse. Zweifellos waren diese Widmungsblätter eine modische Neuheit aus Europa und markierten den Beginn des Brauchs, der kaiserlichen Familie Musikstücke zu widmen. So gab es im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts einerseits mit Notenlinien beschriftete Prachtmanuskripte, die künstlerische oder kalligraphische Meisterstücke darstellten und, nachdem sie einmal den Akt der Übergabe hinter sich hatten, die zarische Bibliothek schmückten, aber nicht zur Aufführung gedacht waren. Daneben gab es auch Musikgeschenke, die tatsächlich aufgeführt werden wollten und ein unverzichtbares Attribut der aristokratischen Zerstreuung darstellten. Drittens schließlich sind die Manuskripte zu erwähnen, die in die Hände von Kapellmeistern, der Intendanten und Orchestermusikern gelangten, wiederholt von Komponisten oder Interpreten überarbeitet wurden und ein aktives musiktheatralisches Leben verbrachten. Derartige Gaben waren mehr als ein Akt der Übergabe irgendwelcher teurer Gegenstände – sie waren ein klar definiertes Ritual, bei dem beide Seiten ihre Motive hatten. Sowohl für den Gebenden, bei dem es sich oft um eine Privatperson handelte, die das Recht erlangt hatte, der Zarin (oder dem Zaren) ein Musikstück zu widmen und darzureichen, meist mit der Absicht, die allerhöchste Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, für die Gabe ein Gegengeschenk zu erhalten und auf diese Weise ihren sozialen Status und ihre materielle Lage zu verbessern. Die Reaktion des Zaren oder des Mitglieds der Zarenfamilie war vom Ritual der Wertschätzung des Geschenks begleitet, der Begutachtung seiner künstlerischen oder sonstigen Qualitäten, seiner Tauglichkeit als sozialer Prestigefaktor.¹⁸ Zu Trediakovskijs Zeiten bildete sich diese Praxis gerade erst heraus, und er war der erste, der sie sich nicht nur aneignete, sondern aktiv ins Leben rief. Seine Widmungsblätter waren aus meiner Sicht Geschenke „zum Andenken“, und nicht zur Aufführung gedacht. Zur Eigenreklame, zur Steigerung seines eigenen Prestiges, brachte Trediakovskij das Krönungslied in Umlauf, was nicht nur für den Schenkenden, sondern auch die Beschenkten eine Neuheit darstellte. Viktor Živov führt ein interessantes Zeugnis an, wie Graf Semen Andreevič Saltykov auf den Erhalt der 1732 bei der Akademie der Wissenschaften gedruckten Panegyrik¹⁹ reagierte, die Trediakovskij ihm im Rahmen seiner großen Verteilungsaktion als Geschenk übergeben hatte: er war sichtlich verlegen und wusste überhaupt nicht, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Nachdem er Trediakovskij mit einem Dankschreiben geantwortet hatte, fragte Saltykov in einem Brief an seinen Sohn: „Als dieser Trediakovskij den adligen Herren solche Büchlein austeilte, haben sie ihm dann

18 Dazu genauer: Ogarkova, Notnye rukopisi kak „relikvii imperatorskogo doma“, In: Rukopisnye pamjatniki, Vyp. 10, 2006. S. 87–107. 19 [Trediakovskij]: Panegirik, ili Slovo . . . 1732.

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dafür auch was geschenkt, und wenn ja, was, und was gehört sich in so Fällen? – So schenk du ihm doch auch was Passendes. . . “²⁰ Dass die Zarin das Krönungslied irgendwie als Geschenk überreicht bekam, steht außer Frage, wenn auch nicht von ihm, einem in Russland wenig bekannten Autor, sondern von irgendeiner Person am Hofe, womöglich von Trediakovskijs Patron, dem Fürsten Aleksandr Borisovič Kurakin.²¹. Jedenfalls kann der Dichter seine erste persönliche Begegnung mit der Zarin vor 1732 gehabt haben, als sie nach Petersburg umzog. Zu diesem Anlass sollte das von Vol󸀠 man entdeckte Begrüssungsständchen herausgegeben werden. Zur gleichen Zeit wurde auf Bestellung der Zarin die erwähnte Panegyrik verfasst und herausgegeben, die auch die Verse zum Lob auf die Allergnädigste Frau Kaiserin und allrussische Selbsthalterin Anna Ioannovna enthielt, wie auch das Epigramm, das Ihrer Kaiserlichen Majestät vorgetragen wurde, als ich erstmals zum Küssen ihrer kaiserlichen Majestät Hände zugelassen zu werden die Gnade hatte und die Verse zum Lob auf Ihre Hoheit die Frau Zarentochter und Großfürstin Katharina Ioannowna, der Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, zu ihrer glücklichen Ankunft in St. Petersburg, verfasst und ihrer Hoheit dargebracht, ebenso wie die Beglückwünschung Ihrer Kaiserlichen Majestät zur ihrer glücklichen Ankunft in Sankt Petersburg.²² Evgenij Matveev ist davon überzeugt, dass die Lobreden vom Autor nicht in Gegenwart der Zarin vorgetragen, sondern ihr überreicht wurden – mit Ausnahme der im Buch enthaltenen Begrüssungsrede. Nach Matveev geht dies aus dem Text Letzterer selbst hervor: „Obwohl, Allergnädigste Frau Kaiserin, nur ich jetzt diese Rede vortrage [Hervorhebung von E. Matveev], so bringe ich der MAJESTÄT doch zweifellos die die heißen Wünsche und freuderfüllten Herzen aller dar.“²³ Doch vielleicht wurde das Epigramm, nach Trediakovskij eigenen Worten, während der Audienz bei der Zarin vorgetragen, die er zwischen Januar und Anfang Februar 1732 erhielt. Von ihr und dem Vortrag vor der Zarin zeugt die Überschrift: Epigramm, vor Ihrer Kaiserlichen Majestät vorgetragen, als ich erstmals zum Küssen Ihrer Kaiserlichen Majestät Hände zugelassen zu werden die Gnade hatte“. Elena Pogosjan behauptet, dass das Krönungslied bei der Feier aufgeführt wurde, die in Hamburg zu Ehren Annas stattfand. Das in Hamburg komponierte Lied steht etwas abseits. Die Zarin bekam es nie zu hören. Dennoch wurde es im Rahmen der höchst offiziellen Feierlichkeiten vorgetragen, die der russische Gesandte in Hamburg veranstaltete (wobei man im Auge behalten muss, dass nach diplomatischem

20 Zit. n.: Živov, Pervye russkie literaturnye biografii . . . , S. 31. 21 Kurakin, Aleksandr Borisovič (31. Juli 1697–2. Oktober 1749), Fürst, Diplomat, Wirklicher Staatsrat, Oberstallmeister, Senator. 22 Herzogin Katharina Ioannovna (Ekaterina Ivanovna, 1691–1733) war Annas ältere Schwester und seit 1716 Ehefrau des exzentrischen Herzogs Karl Leopold von Mecklenburg. 23 Zit. n. Evgenij M. Matveev, Russkaja oratorskaja proza, S. 106.

Die musikalischen Panegyriken Vasilij Trediakovskijs am Hof Annas I. |

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Gebrauch der Gesandte bei zeremoniellen Handlungen die Person des Monarchen im Ausland „darstellte“).²⁴ Für die Hamburger Aufführung habe ich keine Belege gefunden. Stattdessen ist bekannt, dass „der hochfestliche Tag mit einem Prolog, der Aufführung von Telemanns Oper Margaretha, Königin in Castilien (nach einem Libretto von Johann Hamann), nebst anschliessendem Bankett, Ball und Feuerwerk“ begangen wurde.²⁵ Zu solchen Zeremonien wurde gewöhnlich nur die höfische Elite zugelassen, weswegen der Name Trediakovskij auf der Liste der Eingeladenen fehlt.²⁶. Von wem und in welcher Sprache hätte das Lied von Trediakovskij in Hamburg vorgetragen werden können? Eine schwierige Frage. Doch in Russland verbreitete sich das Krönungslied schon nach der Publikation im städtischen Milieu und wurde zweifellos in privaten Haushalten gesungen.²⁷ Hat Trediakovskij irgendeines seiner Vokalwerke der Zarin selbst vorgetragen? Da er in kirchlichem Umfeld eine musikalische Ausbildung erhalten hatte, verfügte er sicherlich über eine Sängerstimme. Er war musikalisch begabt und trug in privatem Umfeld seine Psalmen und Cantica vor. Überliefert ist die Episode von einer abendlichen Gesellschaft, die in der Vorstadt beim Aleksandr-Nevskij-Kloster stattfand, wo er in Gegenwart des Archimandriten Petr Smelič und des ganzen Heiligen Synod einen selbst komponierten Psalm vorsang, was bei den Anwesenden Anstoß erregte.²⁸ Mit Berufung auf Trediakovskij kann man annehmen, dass er vor der Zarin das Lied Neujahr 1733 vortrug, das er nach einer Weise geschrieben hatte: „Solche von mir Lied genannte Strophen, die mit den Worten beginnen Das Jahr bricht an, Freude versprechen wir jedermann habe ich zur Begrüßung des neuen Neuen Jahres geschrieben, ihnen eine Melodie unterlegt und vor Ihrer Kaiserlichen Majestät Anna Ioannovna, der Allrussischen Selbstherrscheirn, der Allergnädigsten unserer Herrin am allerersten Tag des Jahres 1733 vorgesungen.“²⁹ Die Frage, ob Trediakovskij oder überhaupt jemand

24 Elena Pogosjan, Vostorg russkoj ody i rešenie temy poeta v russkom panegirike. 25 C. Heithus, V. K. Trediakovskij und Hamburg. In: Die Welt der Slawen: Halbjahresschrift für Slavistik. 23 (N.F.2) 1978, S. 310. 26 Heithus, Trediakovskij und Hamburg, S. 310. Derselbe Autor nimmt an, dass es hier in Hamburg zu Begegnungen zwischen Trediakovskijs mit Telemann kam, der den Posten eines Musikdirektors innehatte und Werke „auf Vorrat“ schrieb. Unter ihnen waren auch „russische“ Stücke, die vom Komponisten schon vor dem Auftrag Böttingers aufgeführt wurden: Eine Serenade zur Feier des RussischSchwedischen Friedens (1721), ein uns unbekanntes Werk zur Feier der Hochzeit Anna Petrovna, der Tochter Peters I., mit dem Herzog von Holstein-Gottorf (1725). Heithus, Trediakovskij und Hamburg, S. 311. 27 Darauf weist Findejzen hin, der hervorhebt dass die (in der Sammlung Buslaevs befindliche) Handschriftensammlung „Erbauliche Psalmen“ eine dreistimmige Version des Cantus für Diskant, Tenor und Bass enthält (OR RNB, F. 550, QXIV.141 Bl.223). Findejzen, Očerki po istorii muzyki, Bd.2, Anmerkung 4. 28 Uspenskij und Šiškin, Trediakovskij i Jansenisty. In: Simvol, 1990, Nr. 23, S. 156. 29 Trediakovskij, Sočinenija. Perevody kak stichami, tak i prozoju. Sankt-Peterburg 2009, S. 379.

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seine Panegyriken am Hof als Gesang vortrug, muss also mit großer Vorsicht behandelt werden, bevor man einen Zusammenhang zur Aufführungstradition von Cantica herstellen will, die sich in den 1730er Jahren herausbildete.³⁰ In stilistischer Hinsicht entsprechen die Notentexte des Krönungslieds wie des Begrüssungsständchens ganz dem Muster der panegyrischen Cantica-Tradition, die unter Peter I. entstand und unter Elisabeth I. wie Katharina II. fortlebte. Bekanntlich ist der panegyrische Cantica-Gesang ein Genre, das nicht von einem Solisten, sondern von einem Chorensemble vorgetragen wird und auf ein- beziehungsweise dreistimmiger Textur beruht. Diese Cantica wurden für Triumphmärsche, Monarchenempfänge, oder Jubiläumsfeiern militärischer Siege komponiert, sie verherrlichten die Angehörigen der Zarenfamilie, wurden unter freiem Himmel aufgeführt (am häufigsten vor eigens aufgebauten Triumphbögen), vor einer riesigen, gedrängten Volksmenge, im Wechsel mit Kanonen- und Gewehrsalven, Trompeten- und Posaunenstößen. An dynastischen Feiertagen beschallten sie die Festtafeln. Überwiegend wurden sie vom Klerus und den Eleven der Slawisch-griechisch-lateinischen Akademie komponiert und aufgeführt (in der Regel von etwa vierzig Mann). Die Plakativität und das Profil der Melodiebildung, der durch streng rhythmischen Wechsel von einfacher und betonter Silbe im Rahmen des viermal betonten Metrums erzeugte Marschcharakter verschaffen Trediakovskijs Cantica-Musik, dem Krönungslied wie dem Begrüssungsständchen, ihren festlich-hymnischen Charakter. Musikstilistisch blieb Trediakovskij mit seinen panegyrischen Cantica im Fahrwasser seiner namenlosen Vorläufer, indem er weiterhin sowohl geistliche Psalmen wie auch das laut gerufene „Vivat!“ der petrinischen Siegesfeiern anklingen ließ. Somit kann man sagen, dass Trediakovskij mit seinen musikalischen Panegyriken zwar Geschenkartikel im europäischen Sinn anfertigte, als praktischer Musikant jedoch ganz innerhalb der russischen Tradition verblieb.

30 Auf ähnliche Behauptungen stößt man in verschiedenen Publikationen, z. B. in der erwähnten Arbeit von Elena Pogosjan. Auch Živov äußert die Annahme, die gereimten Texte, in die Panegyrik von 1732 aufgenommen wurden, „zum lesen und nicht zum singen bestimmt“ waren. (Živov, Pervye russkie literaturnye biografii. . . , S. 69, Anmerkung 8).

Sabine Ehrmann-Herfort

Der russische Hof entdeckt die italienische Oper – ein Prestigeobjekt Das weitläufftige und mächtige Rußland hat unter der glorieusen Regierung Sr. ietzlebenden Czaarischen Majestät, so viele merckwürdige Veränderungen erfahren, daß es gegen die vorigen Zeiten sich fast nicht mehr ähnlich siehet, und diejenigen Schrifften, welche von diesem Staate gehandelt haben, nunmehro fast gäntzlich unbrauchbar werden.¹

So urteilt der Reisende John Perry 1717 in der deutschen Fassung seiner Reportage über Russland zur Regierungszeit Peters des Großen und beteiligt sich damit an der Flut propagandistischer Reiseberichte über das „neue Russland“, die um 1700 beträchtlich zunimmt.² Mit Peter dem Großen (1672–1725) setzen intensive kulturelle Beziehungen zwischen Russland und den italienischen Städten ein.³ Zar Peter selbst unternimmt in den Jahren 1697 bis 1698 eine Reise in den europäischen Westen, die „Große Gesandtschaft“⁴, die ihn allerdings letztendlich dann doch nicht nach Italien führt. Das freilich erledigen seine Diplomaten für ihn.

1 John Perry, Der ietzige Staat von Rußland oder Moscau unter ietziger Czarischen Majestät. Zweyter Theil. Leipzig 1717. An den Leser, fol. 2verso, 3recto (MDZ, Zugriff am 31. 07. 2013). Der englische Originaltext ist unter dem Titel „The State of Russia, under the present Czar“. London 1716, erschienen. 2 Vgl. zuvor bereits auf Italienisch: Johann C. Wartis, Relazione geografica storicopolitica dell’imperio della Gran Russia, ò sia Moscovia con le vite, & azioni piu memorabili de’ passati Regnanti sino al tempo di S. M. Cz. Pietro primo oggi dominante. Mailand [1713]. 3 Jacob von Stählin, Zur Geschichte des Theaters in Rußland. Nachrichten von der Tanzkunst und Balletten in Rußland. Nachrichten von der Musik in Rußland. Leipzig 1982, II, S. 76. Zuvor gibt es nur sporadisch Kontakte. Vgl. Claudia Piovene Cevese, Il viaggio in Italia di P. A. Tolstoj (1697–1699). Genf 1983, S. 16. 4 Diese Reise führte über Riga, Königsberg, Berlin, Amsterdam, London, Hamm, Bielefeld, Halle (Saale), Leipzig, Dresden, Wien und Polen zurück nach Moskau. Venedig und Rom standen zunächst auch auf dem Reiseplan, wurden dann jedoch aus politischen Gründen wegen der Aufstände der Strelitzen gestrichen (vgl. Wikipedia, Art. Große Gesandtschaft, Zugriff am 01. 08. 2013). Vgl. auch: Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Göttingen 1964. Bd. 1, S. 129–167. In Venedig waren für den Empfang der Russen bereits umfangreiche Vorbereitungen getroffen worden. DOI 10.1515/9783110520224-010

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1 Erste Kontakte: Russische Diplomaten auf Italienreise Für den Beginn der russisch-italienischen Kulturkontakte in der Zeit um 1700 soll der Blick zunächst auf Venedig und Rom gerichtet werden, denn zu beiden Städten werden die Beziehungen von russischer Seite in dieser Zeit intensiviert. Zu engen Kontakten zwischen Moskau und Venedig führt seit den 1680er Jahren insbesondere der gemeinsame Kampf gegen die Türken. Viele russische Diplomaten und Intellektuelle fahren nun nach Venedig, denn Zar Peter betrachtet die Stadt mit großem Interesse und ist fasziniert von der mächtigen venezianischen Flotte.⁵ Außerdem wird das 1703 gegründete Sankt Petersburg ganz bewusst als zweites Venedig erbaut.⁶ Die zweite italienische Stadt, zu der Russland enge Kulturkontakte pflegt, ist Rom. Auch an den Verbindungen nach Rom hat Zar Peter zunächst ein genuin politisches Interesse. Er bemüht sich um diplomatische Beziehungen zwischen Russland und dem Papsttum. Die Kontakte zu beiden italienischen Städten basieren also zunächst auf dem politischen Reformprogramm Peters des Großen, führen aber in einem weiteren Schritt insbesondere auch zu musikalischen Austauschprozessen.

2 Beispiel 1: Petr Andreevič Tolstoj (1646–1728) Am 26. Februar 1697 verlassen rund 30 junge russische Adlige auf Befehl des Zaren Moskau in Richtung Venedig. Bedeutende Persönlichkeiten wie Petr Golicyn, Boris Šeremetev, Boris Kurakin und Petr Tolstoj gehören dazu. Der Diplomat Tolstoj ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil er über seine von 1697 bis 1699

5 Tolstoj, Petr A., Il viaggio in Italia, In: Cevese, Il viaggio in Italia di P. A. Tolstoj (1697–1699), S. 34ff. Überhaupt hatten Venedig und das dortige politische Leben für viele absolutistische Herrscher eine Vorbildfunktion. So imitierte beispielsweise auch August der Starke den Dogen, indem er zur Hochzeit seines Sohnes einen Bucintauro einsetzte. Außerdem setzte er Gondeln für den Transport auf der Elbe zwischen Dresden und Schloss Pillnitz ein. 6 Friedrich C. Weber, The present state of Russia. London 1723, S. 190: „Petersbourg, with what I once heard the Prince Menzicoff say, viz. that Petersbourg should become another Venice, to see which Foreigners would travel thither purely out of Curiosity.“ Der Geschmack des Zaren war freilich sehr „vermischt“ ausgerichtet, so sollte sein Lustschloss Strelnamuse ein neues Versailles sein, vgl. Weber, The present state, S. 42: „Strelnamuse, where I saw last Year ten thousand Men [. . . ] employed, who are like to make another Versailles of that Place.“ Als Architekten für die neue Stadt Petersburg hatte Peter der Große den Italiener Domenico Trezzini engagiert. Zu Venedig und Hasse vgl. auch: Reinhard Wiesend, Die Rolle Venedigs für die internationale Karriere des Musikerehepaares Faustina Bordoni und Johann Adolf Hasse, in: Peter Schreiner (Hrsg.), Il mito di Venezia. Una città tra realtà e rappresentazione. Rom und Venedig 2006, S. 103–121.

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dauernde Italienreise ein Tagebuch verfasst hat, das auch ins Italienische und Englische übersetzt wurde. Am 15. Juni 1697 erreicht die Gruppe Venedig. Schon bald kommt Tolstoj mit einem der wichtigsten römischen Impulsgeber für Oper und Oratorium in Kontakt, mit dem Kardinal und päpstlichen Vizekanzler Pietro Ottoboni (1667–1740). Dessen Lebensmittelpunkt liegt zwar inzwischen in Rom, zeitlebens aber hält er Kontakt zu seiner Heimatstadt Venedig.⁷ Neben visuellen sind es insbesondere akustische und musikalische Eindrücke, die Tolstojs Blick auf Venedig bestimmen. Die groß besetzte und von mehreren Ensembles ausgeführte Kirchenmusik macht auf ihn mächtigen Eindruck.⁸ Erst gegen Ende seines Venedig-Berichts und an herausgehobener Stelle kommt Tolstoj auf Komödien und Opernaufführungen zu sprechen.⁹ Sie beschreibt er nur in Superlativen. Er schildert die prächtige Ausstattung der Operntheater, die Kostüme der Protagonisten, geschneidert aus den wertvollsten Stoffen. Des Weiteren nennt Tolstoj auch Produktionskosten der „Inszenierungen“, informiert über die Spielzeiten und beschreibt, wie das Publikum maskiert in die Opernhäuser kommt. Auch die Musik sei sehr schön, werde von etwa 50 Musikern auf verschiedenen Instrumenten gemacht: „A Venezia si danno meravigliose commedie e opere, quali nessuno può descrivere adeguatamente. In nessun posto al mondo si può assistere a rappresentazioni di così divina bellezza. Durante il mio soggiorno a Venezia si davano contemporaneamente cinque spettacoli. [. . . ] I costumi sono bellissimi, fatti con stoffe preziose intessute d’oro e d’argento, e spesso resi più ricchi da pietre preziose: brillanti, talvolta anche diamanti e perle. Recitano queste opere in forma di storie antiche e nel suo teatro ognuno mette in scena la storia che più gli piace. Anche la musica che accompagna questi spettacoli è molto bella; essa viene eseguita da 50 e più suonatori, con diversi strumenti. [. . . ] Le commedie sono in genere più scadenti delle opere, ma tuttavia molto divertenti.“¹⁰ Demnach ist Tolstoj insbesondere von den optischen Reizen und dem Unterhaltungsfaktor fasziniert. Im Blick auf die Musik jedoch scheinen ihm Vokabular und Differenzierungsvermögen noch zu fehlen.¹¹ Für die Zeit seines Aufenthalts in Venedig in den Jahren 1697 und 1698 führt Tolstoj Aufführungen von fünf verschiedenen Opern an. Zieht man die Chronologie der

7 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 131. 8 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 172: „Celebrò la Messa lo stesso patriarca; all’inizio il principe di Venezia in persona si avvicinò all’altare, si mise in ginocchio e servì la Messa al posto del chierichetto. Circa 130 tra cantori e musici accompagnarono questa Messa solenne: così si usa a Natale.“ 9 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 181ff. Der Bericht über Venedig kulminiert dann in der Beschreibung einer Schule für Kriegskunst und in der Präsentation des gelehrten Mönchs Coronelli, eines Fachmanns für Mathematik und Himmelskarten. Der Bericht darüber ist natürlich Bestandteil von Tolstojs „Forschungsauftrag“. 10 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 181f. 11 Zur Unterscheidung von opera und commedia bei anderen russischen Autoren dieser Zeit vgl. Marialuisa Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani alla corte russa (1731–1738). Rom 2000, S. 215. Für den Hinweis auf diese Publikation danke ich Anna Giust sehr herzlich.

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venezianischen Opern in der betreffenden Periode zu Rate und subtrahiert die Zeiten, zu denen sich unser Diplomat außerhalb Venedigs auf Reisen befindet, so kommt man tatsächlich auf fünf Bühnenwerke. Drei stammen vom damaligen Hauskomponisten des Teatro San Giovanni Grisostomo,¹² Carlo Francesco Pollarolo (oder sind ihm zugeschrieben), eines ist Tomaso Albinoni und ein weiteres Marc’Antonio Ziani zugeschrieben. Tab. 1: Opernaufführungen in Venedig zwischen dem 15. Juni 1698 und dem 29. Mai 1698. Werk

Komponist

Librettist

Uraufführung

Opernhaus

Tito Manlio. Dramma per musica

Carlo Francesco Pollarolo

Matteo Noris zugeschrieben

26. 12. 1697

San Giovanni Grisostomo

Odoardo. Dramma per musica

Marc’ Antonio Ziani zugeschrieben

Apostolo Zeno

4. 1. 1698

Sant’Angelo

L’ingratitudine gastigata. Dramma per musica

Tomaso Albinoni zugeschrieben

Francesco Silvani

17. 1. 1698

San Cassiano

La forza d’amore. Dramma per musica

Carlo Francesco Pollarolo zugeschrieben, nicht erhalten

Lorenzo Burlini

17. 1. 1698

SS. Giovanni e Paolo

Marzio Coriolano. Dramma per musica

Carlo Francesco Pollarolo zugeschrieben, nicht erhalten

Matteo Noris

18. 1. 1698

San Giovanni Grisostomo

Insgesamt sieht unser Gast im Kulturleben Venedigs ein großes Maß an Freiheit verwirklicht. Das unterscheidet aus seiner Sicht Venedig auch von Rom, wo Tolstoj dann am 13. August 1698 eintrifft. Bereits fünf Tage später wird er die Stadt am Tiber nach einem dichten Besichtigungsprogramm wieder verlassen. In Rom nimmt Tolstoj sogleich Kontakt mit den wichtigsten römischen Adligen auf. So fährt er an Ferragosto (Mariä Himmelfahrt) hinaus nach Frascati zur prächtigen Villa Aldobrandini von Kardinal Benedetto Pamphilj (1653–1730). Wieder zurück in Rom, stattet er wiederum Pietro Ottoboni einen Besuch ab und besichtigt dessen Amtssitz, die Cancelleria. Ob er selbst am römischen Musikleben teilgenommen hat, verrät Tolstoj nicht. Angesichts seines übervollen Besichtigungsprogramms ist das

12 Es gehörte den Brüdern Grimani. Carlo Francesco Pollarolo war einer der bevorzugten Komponisten von Kardinal Pietro Ottoboni in Rom und in den Jahrzehnten nach 1690 auch eine der prägenden Gestalten im Musikleben Venedigs (vgl. Dubowy, Norbert, Art. Carlo Francesco Pollarolo, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil 13, Kassel 2005, Sp. 732–736).

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auch eher unwahrscheinlich. Aber was Opernaufführungen angeht, weist Tolstoj auf die restriktive Handhabung dieser Vergnügungen durch Papst Innozenz XII. hin (1691– 1700). Opernaufführungen habe der Papst in der Stadt verboten, nur Oratorien dürften gegeben werden, wenn sie entsprechend kurz seien. Im Karneval jedoch gäbe es Ausnahmen. Insgesamt gesehen wird Rom aus der Sicht Tolstojs, anders als das von Vergnügen und Freiheit geprägte Venedig,¹³ von den strengen Normen des Papstes gelenkt: „Il papa attuale [Innozenz XII.] ha vietato in città l’allestimento di opere e di commedie profane; solo quelle di argomento religioso possono essere rappresentate e anche queste devono essere brevi. [. . . ] Durante il Carnevale vengono rappresentate opere e commedie, ma brevi e per di più di argomento religioso, perchè questi sono gli ordini del papa.“¹⁴

3 Beispiel 2: Boris Ivanovič Kurakin (1676–1727) Boris Kurakin, der russische Chefdiplomat und Schwager von Zar Peter dem Großen, wird ebenfalls bereits 1697 nach Italien geschickt, um dort die italienische Sprache und den Schiffsbau zu studieren. Aus diesem Anlass hält auch er sich in Rom auf. Hier begegnete er ebenfalls den Protagonisten der römischen Musikszene. Dazu gehört der bereits genannte Kardinal Pietro Ottoboni (1667–1740), der selbst Libretti geschrieben hat und zahlreiche Werke an seinem Hof aufführen ließ.¹⁵ Im Jahr 1707 hält sich Kurakin ein weiteres Mal in der Papststadt auf, jetzt in diplomatischer Mission.¹⁶ Auch diesmal sucht er den Kontakt mit Förderern der Opernund Bühnenszene, so beispielsweise mit Kardinal Vincenzo Grimani.¹⁷ Nach den Tagebucheinträgen des römischen Chronisten Francesco Valesio wird Kurakin bereits am 12. April 1707 von Papst Clemens XI. in einer Audienz fürstlich empfangen.¹⁸ Anschließend hat der Diplomat die Gelegenheit, das Osterfest in Rom mitzuerleben. Es ist also

13 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 182. 14 [Tolstoj], Il viaggio in Italia, S. 307–309. 15 Vgl. den Brief aus der Nuntiatur in Wien vom 5. März 1707, zitiert nach: Augustin Theiner (Hrsg.), Monuments historiques relatifs aux règnes d’Alexis Michaélowitch, Féodor III et Pierre le Grand, Czars de Russie. Rom 1859, S. 408: „Il principe [Kurakin] è stato in Roma sotto la s. m. d’Innocenzo XII. asserendo haver riportato dei favori dal sig. cardinale Ottoboni, e mostra desiderio di ritrovare in Roma il sig. cardinale Orazio Spada.“ 16 Er sollte den Papst davon überzeugen, den Kandidaten von Charles XII., Stanisław Leszczyński, als König von Polen nicht anzuerkennen. Vgl. Ludwig Bittner (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). Bd. 1. Berlin 1936, S. 438. 17 Vgl. beispielsweise den Brief vom 5. März 1707, in: Theiner, Monuments historiques, S. 408. 18 Francesco Valesio, Diario di Roma, hrsg. von Gaetana Scano in Verbindung mit Giuseppe Graglia, Bd. 3: 1704–1707, S. 793f., 12. April 1707: „Questa mattina fu introdotto all’udienza di S. Beatitudine per la prima volta il prencipe Corakzin, spedito dal czar di Moscovia, ricevuto con ogni cortesia e benignità da S. Beatudine. Erasi molto contrastato circa il ceremoniale e sopra il baciare il piede, essendo egli

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gut möglich, dass Kurakin in der Osterzeit diverse lateinische Oratorien in SS. Crocifisso gehört hat. So wird in der Chronik der „Avvisi Marescotti“ hervorgehoben, dass sich am 15. April 1707 zur Aufführung des von Carlo Cesarini vertonten lateinischen Oratoriums Divus Alexius „Geistliche und viele Adlige im Oratorium von SS. Crocifisso einfanden“, unter anderen auch der bereits als Ansprechpartner Kurakins genannte Kardinal Grimani.¹⁹ Es liegt also nahe, dass sich Kurakin diesen Event nicht hat entgehen lassen. Am Gründonnerstag, 21. April 1707, ist Kurakin offenbar an von Papst Clemens XI. zelebrierten Gottesdiensten beteiligt.²⁰ Zum Osterfest ist die Reihe dann an Marchese Francesco Maria Ruspoli (1672–1731), einem weiteren prominenten Förderer römischer Musik. Ruspoli gibt in seinem Palazzo ein italienisches Oratorium, auch dies wieder mit großer Publikumsbeteiligung.²¹ Und spätestens in Ruspolis Palazzo könnte Kurakin auch mit Georg Friedrich Händel zusammen getroffen sein, der sich in dieser Zeit in Ruspolis Diensten in Rom aufhielt. Schon in der Osterzeit 1707 bieten sich Kurakin also vielfältige Gelegenheiten, mit dem spezifisch römischen Musikrepertoire in Kontakt zu kommen: Zwar sind das in diesen Jahren keine Opern, dafür aber sozusagen als „Ersatz“ italienische und lateinische Oratorien.²² In jedem Fall erlebt der Diplomat bei seinem Besuch das intensive Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Musik, wie es die römische Musikszene dieser Zeit prägt. Nach seiner letzten Papstaudienz am 19. Oktober 1707 hat Kurakin Rom dann wieder verlassen.²³ Danach geht er zunächst als russischer Botschafter nach Hannover.²⁴ Dann hält er sich von 1710 bis 1712 in London auf, wo eben erst die italienische Oper Fuß zu fassen

scismatico; ma finalmente vi si indusse et entrò all’uso de’ prencipi grandi con la spada al fianco, havendo prima presentate lettere credenziali di sua persona del czar, ma senza alcun carattere d’inviato o altro.“ 19 Gloria Staffieri, Colligite Fragmenta. La vita musicale romana negli „Avvisi Marescotti“ (1683–1707), Lucca 1990, S. 172, 16. April 1707: „Hieri sera col concorso di diversi porporati, e molta nobiltà si fece in San Marcello un bellissimo oratorio, e fra primi vi furono gli em.mi Grimani et Acquaviva in una carrozza“. 20 Valesio, Diario di Roma, Bd. 3, S. 797, 21. April 1707 (Gründonnerstag): „Fatte a S. Beatitudine hoggi con indefessa fatica e singolare devozione le sacre funzioni con l’intervento dello scritto soggetto moscovito et altri forastieri et in specie officiali tedeschi, diede la consueta benedizzione dalla loggia di S. Pietro al popolo e, doppo havere assistito alle tavole, mandò il giorno in regalo al sudetto prencipe Coraczin moscovito cinque portate di trionfi, dolci e frutti freschi.“ 21 Staffieri, Colligite Fragmenta, S. 172, 23. April 1707: „In questa sera è stato fatto un bellissimo oratorio in casa del sig.re marchese Ruspoli con gran concorso di nobiltà et anco ne hà fatto altro l’em.mo Ottoboni.“ 22 Zum Musikprogramm dieser Zeit vgl. die Aufstellungen bei Staffieri, Colligite Fragmenta, S. 50f. 23 Vgl. Bittner (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter, Bd. 1, S. 438. 24 Bittner (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter, Bd. 1, S. 439.

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beginnt.²⁵ Der gewaltige Erfolg von Händels Oper Rinaldo im Jahr 1711 trägt dann zur vollständigen Etablierung des neuen Genres in London bei. An Kurakin ist dieses viel kommentierte Ereignis mit Sicherheit nicht unbemerkt vorbeigegangen, auch wenn dazu derzeit keine Dokumente Kurakins greifbar sind.²⁶ Beide, Tolstoj und Kurakin, reisen nach Italien. Dort haben beide an musikalischen Aufführungen teilgenommen. Tolstoj erwähnt als einen der Höhepunkte seiner Venedig-Erfahrungen die Operndarbietungen. Auch Kurakin hatte im April 1707 in Rom die Gelegenheit, das ganze musikalische Osterprogramm mitzuerleben. Von anderen russischen Rombesuchern weiß man, dass sie am 18. Januar 1698 im römischen Teatro Capranica die Oper La rinovata Camilla Regina de Volsci. Dramma per musica besuchten, wo sie offenbar insbesondere von den beiden zwischen den Akten eingefügten Intermezzi begeistert waren.²⁷ Diese Intermezzi hatte Filippo Acciaioli mit spektakulären szenischen Effekten auf die Bühne gebracht. Auf solche Vorlieben für das komische Genre wird weiter unten zurückzukommen sein. Kurz vor den ersten Opernaufführungen, die dann in Russland selbst stattfanden, wird im Jahr 1729 die Leserschaft der Zeitung Sankt-Peterburgskie Vedomosti eigens über die römische Darbietung von Giovanni Battista Costanzis Carlo Magno informiert,²⁸ eine glanzvolle „festa teatrale“, die der Frankreich freundliche Pietro Ottoboni anlässlich der Geburt des französischen Thronfolgers in der römischen Cancelleria aufführen ließ.²⁹ Man war zu dieser Zeit in Russland also gut informiert über musikalische Ereignisse in Rom, zumal wenn sie politisch motiviert waren. Überhaupt scheint Ottoboni nicht nur

25 Die erste vollständig italienische Oper war Francesco Mancinis Idaspe fedele aus dem Jahr 1710, der Erfolg von Händels Rinaldo im darauffolgenden Jahr dann ein wichtiger Schritt zur vollständigen Etablierung der italienischen Oper. 26 Vgl. auch dazu Reinhold Kubik, Händels Rinaldo: Geschichte, Werk, Wirkung. Neuhausen-Stuttgart 1982, S. 14. 27 Vgl. Evgenij F. Schmourlo, Recueil de Documents relatifs au règne de l’Empereur Pierre le Grand, Bd. 1, 1693–1700, Youriev 1903, S. 343f.: Notiz, Rom, 8. Februar 1698: „Quatro altri cavalieri Moscoviti sono giuntj per veder Roma e sono conforme gl’attri regalatj e assistitj dal sig. Urbano Rozzi d’ordine di Nostro Signore, et essendo statj all’opera in musica nel teatro Capranica. Sono restati molto sodisfattj di tante maravigliose trasformationi degl’intermedij del sig. cav. Avinioli [der für die Ausstattung zuständige Filippo Acciaioli?].“ Den Hinweis auf dieses Zitat bei Schmourlo verdanke ich Silke Reich. Auch François Raguenet, Défense du parallèle des italiens et des français en ce qui regarde la musique et les opéra, Paris 1705, S. 135, erwähnt diese Aufführung von Camilla im Teatro Capranica in Rom. Die Oper Camilla auf den Text von Silvio Stampiglia stand im Oktober 1698 auch im Teatro Vendramin in Venedig auf dem Programm und wurde bis 1726 an zahlreichen anderen Orten mit der Musik Giovanni Bononcinis mit großem Erfolg aufgeführt. Vgl. dazu Lowell E. Lindgren, I trionfi di Camilla, in: Studi musicali 6/1977, S. 89–160. 28 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani S. 215. 29 Nach Maria Lopriore, Art. Costanzi, Giovanni Battista, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 30, Rom 1984, S. 380–383, hier S. 380, fand die erste Aufführung am 9. Oktober 1728 statt. Weitere Aufführungen folgten, und Saverio Franchi, Drammaturgia Romana II (1701–1750). Rom 1997, S. 254, nennt das Aufführungsdatum des 24. November 1729.

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ein wichtiger Sponsor musikalischer Events in Rom selbst gewesen zu sein, sondern zugleich auch ein erfolgreicher Vermittler römischer Musik ins Ausland, so beispielsweise nach Russland. Auch Giovanni Battista Costanzi, als hochgeschätzter Musiker und Komponist in Diensten Ottobonis, pflegte vielfältige Kontakte ins Ausland. Ob er auch mit russischen Rombesuchern in Verbindung stand, bleibt zu prüfen. In der Zwischenzeit sucht man am Zarenhof über vielfältige Festformate den Anschluss an westliche Feierpraxis zu gewinnen. So wird der triumphale Einzug des Zaren in Moskau im Jahr 1710 prächtig und mit Musik zelebriert und scheint zudem andernorts üblichen Festveranstaltungen abgeschaut zu sein.³⁰ Unter dem Datum des Juli 1714 beschreibt der Gesandte Friedrich Christian Weber, der sich von 1714 bis 1719 als diplomatischer Vertreter Hannovers in Russland aufhält,³¹ eine adlige Unterhaltung in Sankt Petersburg und kommt angesichts der anwesenden Petersburger Schönheiten, die nach französischer Mode gekleidet sind, zu dem Schluss, die Szene könne sich ebenso gut in London oder Paris abspielen.³² Eine Besonderheit sind auch vom Zaren seit 1719 in Petersburg initiierte und von Weber als „assembly“ bezeichnete Veranstaltungen,³³ die eine Plattform für sehr verschiedene Betätigungen bieten: Vergnügen, Geschäftsverhandlung, Tanz, Kartenspiel, Rauchergruppe, Diskussionsforum, Spieleraum oder Musikdarbietungen. Alles läuft parallel in verschiedenen Räumen ab und ist in seiner simultanen Vielfalt einzigartig – und offenbar anders als die Akademien Italiens, bei denen keine solch vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten beschrieben werden. Im Jahr 1725 stirbt Peter der Große. Falls er an eine Oper für Russland gedacht hat, dann vorrangig unter dem Gesichtspunkt, dass es sich dabei um eine angesagte Gattung westlicher Musik handelt, die mit viel Prestige verbunden ist.³⁴ Der Hannoveraner Gesandte Weber jedenfalls ist der Meinung, Zar Peter halte „von der Oper so wenig wie von der Jagd“.³⁵ Da passt es ins Bild, dass in den Reiseberichten aus Peters Regierungszeit im Zusammenhang mit Musik meist Peters Schwester genannt wird und

30 Vgl. Jean Rousset de Missy, Memorie del regno di Pietro il Grande, Bd. 3, Venedig 1736, S. 147–149. 31 Bittner, Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder, Bd. 1, S. 77. 32 Friedrich C. Weber, The present state of Russia, Bd. 1, London 1723, S. 26f.: „Princess Natalia, the Czar’s own Sister, gave a noble Entertainment at Petersbourg, which was an Opportunity for me to observe the Russian Customs in Feasting. [. . . ] However, the like Prepossessions have since been so far removed, that a Stranger, who comes into a polite Assembly at Petersbourg, will hardly believe he is in Russia, but rather, as long as he enters into no Discourse, think himself in the midst of London or Paris.“ 33 Vgl. Weber, The present state of Russia, S. 186–190. 34 Margery S. Selden, Opera in early eighteenth century Russia, in: Music and Man, 1975, I, S. 293–303. 35 Vgl. Weber, The present state of Russia, S. 188f.: „Operas and Plays will also be i[n] Fashion in Process of Time, and they are [n]ow looking out for a Fund for those Diversions, though the Czar himself has as little Inclinations that Way as he has for Hunting, or the like. His Subjects indeed have made some Attempts for acting on the Stage, but with very indifferent Success, for want of proper Rules.“

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nicht der Zar selbst.³⁶ Unter Peter dem Großen gibt es jedenfalls am russischen Hof keine einzige Opernaufführung. Die Situation ändert sich erst, als reisende Musikergruppen nach Russland kommen. Dazu sind auch die im Umfeld der Oper gebräuchlichen Begrifflichkeiten allererst in das neue russische Ambiente zu transferieren.³⁷

4 Calandro (1731). Commedia per musica Es gibt zwei Arten, auf die ein Fürst seine Macht vergrößern kann: die eine besteht in Eroberungen [. . . ]; die andere beruht auf guter Regierungsführung, und zwar wenn ein fleißiger Fürst in seinen Ländern alle Künste und Wissenschaften zum Erblühen bringt, die sie dann mächtiger und zivilisierter werden lassen. [. . . ] Das sicherste Kennzeichen dafür, daß ein Land einer klugen und glückhaften Regierung untersteht, ist die Tatsache, daß sich in seinem Schoß die schönen Künste entfalten: sie sind wie Blumen, die in einem fetten Erdreich und unter strahlendem Himmel gedeihen, die aber bei Trockenheit, oder wenn der Nordwind bläst, dahinwelken. Nichts zeichnet eine Regierung mehr aus als die Künste, die unter ihrem Schirm blühen.

Mit diesen Worten bringt Friedrich der Große aus dem benachbarten Preußen auf den Punkt, was für die Regierungszeit der russischen Zarin Anna I. nur partiell zutrifft. Zwar hat Anna sowohl mit Eroberungen als auch mit der Musik versucht, ihre Macht zu vergrößern und Hofkultur als Herrschaftszeichen zu nutzen. Doch hat sie sich der Kunst keinesfalls im Sinne einer guten Regierungsführung bedient, eher ging sie als rücksichtslose und grausame Herrscherin in die Annalen ein.³⁸

36 Ob das mit seiner von Marina Ritzarev (Eighteenth-century Russian music, Aldershot. Hampshire 2006, S. 35ff.) konstatierten anti-italienischen Haltung zusammenhängt, wäre genauer zu prüfen. 37 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 212ff., hat sich auch mit der Migration der Begrifflichkeiten und mit den Übertragungswegen der Opernterminologie in die russischen Kontexte beschäftigt. 38 Zit. nach Panja Mücke, Johann Adolf Hasses Dresdner Opern im Kontext der Hofkultur. Laaber 2003, S. 93. Das französische Originalzitat lautet: „Il y a deux manières par lesquelles un prince peut s’agrandir: l’une est celle de la conquête [. . . ] l’autre est celle du bon gouvernement, lorsqu’un prince laborieux fait fleurir dans ses États tous les arts et toutes les sciences, qui les rendent plus puissants et plus policés [. . . ] Ces manières donc de faire prospérer un État sont comme des talents confiés à la sagesse du souverain, qu’il doit mettre à usure et faire valoir. La marque la plus sûre qu’un pays est sous un gouvernement sage et heureux, c’est lorsque les beaux-arts naissent dans son sein: ce sont des fleurs qui viennent dans un terrain gras et sous un ciel heureux, mais que la sécheresse ou le souffle des aquilons fait mourir. Rien n’illustre plus un règne que les arts qui fleurissent sous son abri.“ Zit. nach: Œuvres de Frédérick le Grand – Werke Friedrichs des Großen. Digitale Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier, Bd. 8, S. 153 und 155. Bereits die in Hamburg anlässlich ihrer Krönung am 10. August 1730 aufgeführte Festoper Margaretha, Königin in Castilien vermittelt diese Botschaft. Vgl. dazu Dorothea Schröder, Oper als politischer Protest: Margaretha (1730). Das Hamburger Krönungsfest für Zarin Anna Ivanovna, in: Dies., Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienste von Politik und Diplomatie (1690–1745), Göttingen 1998, S. 269–281.

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Freilich gewinnt unter Annas zehnjähriger Regentschaft der westeuropäische Kurs Peters des Großen erneut an Bedeutung. Besonderen Einfluss in der Regierung der Zarin erhält der deutschbaltische Adel, insbesondere Reichsgraf Ernst Johann von Biron.³⁹ Biron war zunächst Sekretär, danach Hofmeister der Witwe des Herzogs von Kurland und späteren Zarin Anna I. Gekrönt wird sie am 28. April 1730 und hält sich danach einen Teil des Jahres in Sankt Petersburg und den anderen in Moskau auf.⁴⁰ Biron, den sie 1737 ebenfalls zum Herzog von Kurland gemacht macht, überlässt sie de facto die Regentschaft. Da außer ihm auch sonst viele Adlige Deutsche sind, ist unter Annas Regentschaft am russischen Hof von einer deutschsprachigen Musikund Bühnenkultur auszugehen. Das bestätigt für das Theater auch Jacob von Stählin, der Deutsch als Bühnensprache mit den mangelnden Sprachkenntnissen der Zarin in Verbindung bringt.⁴¹ Freilich beginnt mit Anna I. am russischen Hof mit Blick auf die Aufführung von Bühnenwerken auch eine neue Ära. Das lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass die Zarin 1730 in Moskau ein neues Theater errichten lässt, welches das erste, 1702 erbaute Moskauer Theater ersetzen soll.⁴² Dabei bevorzugt der russische Hof, wie bereits erwähnt, zu Beginn der Operntradition das komische Genre. Das hat nicht zuletzt den einfachen Grund, dass man dazu in der Regel nicht allzu viel Personal braucht. Mit Beginn ihrer Regentschaft sucht Anna I. intensive Kontakte zum polnischen König August II. („der Starke“), der als Friedrich August I. zugleich Kurfürst von Sachsen war. Aus seinen Hofhaltungen in Dresden und Warschau reisen in der Folgezeit viele italienische Musiker und Komödianten nach Moskau. So wird nach langen Verhandlungen auch Tommaso Ristoris Truppe zu Beginn des Jahres 1731 nach Russland geschickt, wo sie ein ganzes Jahr im Dienst der Zarin bleiben soll. Denn der sächsische Hof gibt sich großzügig, will die Gunst der neuen Kaiserin gewinnen, womöglich aber auch seine etwas in die Jahre gekommene Truppe auf elegante Weise „weiterreichen“.⁴³ Später reist die Truppe von Moskau aus nach Sankt Petersburg und War-

39 Vgl. Heinrich Laakmann, Art. Biron, Ernst Johann Reichsgraf von, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 260. Christoph H. von Manstein, Historische, politische und militärische Nachrichten von Rußland, von dem Jahre 1727 bis 1744, Leipzig 1771, S. 55ff. 40 Vgl. Daniel E. Wagner, Geschichte des russischen Reiches von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten. Neu bearbeitet und bis zum Tilsiter Frieden fortgesetzt, Bd. 5, Hamburg 1810, S. 15. 41 Jakob von Stählin, Zur Geschichte des Theaters in Rußland. Riga 1769, Nachdruck Leipzig 1982, S. 403: „Die Herzogin von Kurland wollte eine deutsche Schaubühne haben, weil sie weder Französisch noch Italienisch verstund“. 42 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani alla corte russa, S. 28, S. 36f., Anm. 38. 1730 war Moskau die Hauptstadt. Die Rückverlegung des Hofs nach Sankt Petersburg fand erst 1732 statt. Vgl. Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani alla corte russa, S. 19, Anm. 5. Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, Petersburg 1769, Nachdruck Leipzig 1982, S. 83, nennt für den Umzug nach Petersburg dagegen das Jahr 1730. 43 Vgl. Wolfgang Hochstein, Art. Ristori, Giovanni Alberto, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil 14, Kassel 2005,

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schau weiter. Der Tod August des Starken 1733 und der folgende Regierungswechsel am Sächsischen Hof bedeuten schließlich das Aus für die Musiker, mit denen Ristori am Zarenhof aufgetreten war. Zarin Anna musste sich um neue Musikerkontakte kümmern.⁴⁴ Im Jahr 1731 findet in Moskau die wohl erste Opernaufführung statt. Es ist eine Commedia per musica: Giovanni Alberto Ristoris Calandro.⁴⁵ Das Libretto stammt vom Dresdner Hofpoeten Stefano Pallavicino, einem Mitglied der dortigen Accademia dell’Arcadia,⁴⁶ die Dresdner Handschrift des Werks liegt in einer einbändigen Partitur vor.⁴⁷ Im Jahr 1719 hatte August der Starke in Dresden ein neues Operntheater eröffnet. Dort gibt es glanzvollste Opernaufführungen mit hervorragenden Musikern. Seit 1717 ist am sächsischen Hof Giovanni Alberto Ristori, der Sohn Tommaso Ristoris und Mitglied der italienischen Schauspieltruppe seines Vaters, als Komponist für italienische Musik angestellt. Zugleich ist Giovanni Alberto Kapellmeister einer neugegründeten polnischen Kapelle, die den Kurfürsten auch zu seiner zweiten Residenz in Warschau begleitet. Ristori stammt aus Oberitalien und hat bereits für venezianische Theater vielbeachtete Opern komponiert. Sehr viel Aufmerksamkeit erfährt seine komische Oper Calandro bei ihrer Erstaufführung auf Schloss Pillnitz bei Dresden am 2. September 1726.⁴⁸ Bei einer weiteren Aufführung im Karneval 1728 ist auch der spätere Preußenkönig Friedrich II. unter den Gästen und von dem Stück so begeistert, dass er sich eine Kopie erbittet.⁴⁹ Die italienische Truppe der beiden Ristori trifft am 4./15. Februar 1731 in Moskau ein,⁵⁰ Ende August 1731 stößt eine weitere Gruppe von Musikern dazu, die Johann Hübner, der Kapellmeister der Zarin, in Deutschland rekrutiert hat.⁵¹ Am 30. November/

Sp. 191–196. Vgl. auch Jaroslav Bužga, Die Musik-, Theater- und Opernaufführungen der höfischen Musiker, Sänger und Schauspieler außerhalb Dresdens, in: Günther Stephan (Hrsg.), Dresdner Operntraditionen, Teil 1, Die Dresdner Oper von Heinrich Schütz bis Johann Adolf Hasse, [Dresden 1986], S. 139–146; Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 27 und S. 36. 44 Freilich hat Ristori noch 1736 zum Jahrestag der Krönung Anna Ivanovnas eine Sinfonia D-Dur verfasst (als Autograph in D-Dl). Zur weiteren Entwicklung vgl. Robert A. Mooser, Annales de la musique et des musiciens en Russie au XVIIIe siècle, Bd. 1. Genf 1948, S. 54. 45 Einem Wasserpalais Augusts des Starken an der Elbe (auch Canale Grande genannt). 46 Zu Tommaso Ristoris Truppe vgl. Moritz Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen und Könige von Polen, Teil 2. Dresden 1862, S. 95f. 47 Vgl. C. Rudof Mengelberg, Giovanni Alberto Ristori. Ein Beitrag zur Geschichte italienischer Kunstherrschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert, Diss. Leipzig. Leipzig 1916, S. 16. Sächsische Landesbibliothek Dresden (D-Dl), Ristori Mus. 2455-F-1. Ob auch in Moskau noch Aufführungsmaterial vorhanden ist, konnte bisher nicht geklärt werden. 48 Im Jahr 1727 folgt Un pazzo ne fà cento ovvero Don Chisciotte. 49 Vgl. Mengelberg, Ristori, S. 6; Hochstein, Art. Ristori, S. 191. 50 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 23 und S. 31. 51 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 41.

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11. Dezember 1731 findet dann die Aufführung der Commedia per musica Calandro⁵² in Moskau statt.⁵³ Der Hof äußert sich anschließend mit großer Genugtuung über die erfolgreiche Darbietung.⁵⁴ Das Stück, das zugleich die Schlussvorstellung der Truppe in Moskau darstellt, ehe sie Mitte Januar nach Petersburg weiterzieht,⁵⁵ spielt mit Topoi, wie sie in der damaligen venezianischen Oper üblich sind: Jagdarie, OmbraSzene, Liebessehnsucht und vieles mehr. Freilich wird alles mit komischen Elementen durchmischt, keine Rolle ist völlig ernsthaft und keine nur lächerlich. Dabei waren es wohl insbesondere die komischen Partien, die dem Hofpublikum geholfen haben, sich mit der Gattung der Oper erst einmal vertraut zu machen. In Calandro treten fünf singende Personen auf: der „Philosoph“ Calandro ist ein Bass, der Hirte Alceste ein Tenor, sein Sohn Nearco ein Alt, der als Licisco verkleidete Agide ein Sopran, die verlassene Braut Clizia ebenfalls ein Sopran. Außerdem hat ein Bär (Orso) eine stumme Rolle. Das Stück versetzt Arkadien ins Elbtal, das auf diese Weise zum arkadischen Tempetal wird. Das schafft die Kulisse für eine mit Fürstenverherrlichung verbundene Pastorale⁵⁶ und bietet mit seinen Verwechslungen und Vertauschungen vielfältige Reize.⁵⁷ Die Handlung ist schnell erzählt und doch einigermaßen verwickelt: Calandro ist ein etwas seltsamer Philosoph, der die Gesellschaft der Menschen meidet und viel mehr seinen Tanzbären liebt, mit dem er durch die Gegend streift.⁵⁸ Natürlich ergeben sich daraus Konflikte, weil die anderen Protagonisten dafür kein Verständnis aufbringen. Die anderen sind: Der adlige Agide, der sich, als Schäfer getarnt, den Hirten im Tempetal angeschlossen hat. Er macht sich Hoffnungen auf die Hirtin Timea und versucht so, seiner Verlobten Clizia zu entkommen. Die ist aber eigens aus der Stadt herangeeilt, um den untreuen Liebhaber aufzuspüren. Ehe es zu einem Happy ending zwischen Agide und Clizia kommen kann, müssen Verwechslungen und Verkleidun-

52 Partitur in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, Mus. 2455-F-1. 53 Mooser, Opéras, intermezzos, ballets, cantates, oratorios. Joués en Russie durant le XIIIe siècle. Basel 1964, S. 25. Als die Operntruppe Ristoris in Moskau ankam, war das eben im Bau befindliche Theater noch nicht fertiggestellt. So war die Dresdner Truppe gezwungen, auf einer transportablen Bühne entweder in einem Saal des Kreml󸀠 oder an anderen Orten aufzutreten. Vgl. dazu Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 36f., Anm. 38. 54 Mooser, Annales, Bd. 1, Genf 1948, S. 47. 55 Mengelberg, Ristori, S. 8. 56 Strohm, Johann Adolph Hasses Oper „Cleofide“ und ihre Vorgeschichte, in: Christoph Wolff (Hrsg.), Johann Sebastian Bachs Spätwerk und dessen Umfeld: Perspektiven und Probleme. Kassel 1988, S. 170–176. 57 Bezeichnenderweise besaß auch Apostolo Zeno ein Textbuch dieses Werks, das sich heute in der Biblioteca nazionale Marciana in Venedig befindet. 58 Vgl. Ortrun Landmann, Die Komische Italienische Oper am Dresdner Hof in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Günther Stephan (Hrsg.), Dresdner Operntraditionen, hrsg. von Günther Stephan und Hans John, Dresden 1986, S. 121–139.

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Abb. 1: Calandro, Librettodruck von 1726, Titelblatt und Personenverzeichnis; Staatsbibliothek zu Berlin – PK, http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/?PPN=PPN627496601.

gen durchschaut werden, und selbst Calandros Tanzbär muss sich eine Kostümierung gefallen lassen. Zu den Interpreten in Moskau gehören die professionellen Intermezzisten des Dresdner Hofes, Margherita (Cosma) und Cosimo Ermini.⁵⁹ Sie singen, wie schon in Dresden, die Rollen von Clizia und Calandro. Als Instrumentarium setzt Ristori ein Streichorchester mit Basso continuo ein, zusammen mit zwei Flöten und zwei Hörnern. Alles in allem also eine eher sparsame Besetzung. Bereits die Dichtung Stefano Pallavicinos bedient sich lautmalerischer Effekte, die als typisch komisch konnotiert sind. So beschreibt beispielsweise Calandro in einer Arie (Nr. 8) die Idylle des Tempetals und imitiert mit seinem Gesang auch die ihn umgebenden Ziegen und Kühe. Die das Stück beschließende Licenza ist in der Dresdner Fassung eine Huldigung an den aus Polen heimkehrenden Kurprinzen Friedrich August II. (1696–1763), der als großer Jäger gepriesen wird. Auch bei diesem Stück wäre aufschlussreich zu wissen,

59 Zu den beiden vgl. Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani alla corte russa, S. 31.

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Abb. 2: Calandro, Scena IV, Libretto S. 37f.; Staatsbibliothek zu Berlin – PK, http://digital. staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/?PPN=PPN627496601.

was für die Aufführung in Moskau verändert wird. Jedenfalls richtete sich bei der Moskauer Aufführung die Licenza mit Sicherheit direkt an die Zarin. Dazu hat man Arkadien vermutlich auch schnell mal an die Moskva verlegt. Bereits in Dresden war die Commedia per musica, wie sie Ristoris Calandro repräsentiert, im Repertoire ein Ausnahmestück.⁶⁰ Dass gerade diese Oper dann auch in Moskau aufgeführt wird, zeigt die enge Kopplung der Werkauswahl an die entsprechende Operntruppe. In den folgenden Jahren muss Anna I. noch mehrfach Spezialisten nach Venedig schicken, um herausragende Musiker für ihren Hof zu rekrutieren.⁶¹

60 Nach Landmann, Die Komische Italienische Oper, S. 125, haftete ihr, ausgehend von ihrer Herkunft aus dem neapolitanischen Teatro fiorentino, der Geruch des Zweitrangigen, minder Vornehmen und für höchste Kreise somit nicht Standesgemäßen an. 61 Johann Hübner ist einer von ihnen. Zu Johann Hübner vgl. Rivista musicale italiana 45, Fasc. 5–6, S. 270; vgl. Robert Eitner, Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon. Bd. 5. Graz 1959, S. 221: Hübner wurde 1696 in Warschau geboren, ab 1714 lebt er in Wien, wo er Violine bei Rosetti studiert. Mit ihm reist er nach Russland, wo er eine Anstellung beim Grafen von Kinsky erhält und später als

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Abb. 3: Licenza, Libretto S. 71f.; Staatsbibliothek zu Berlin – PK, http://digital.staatsbibliothekberlin.de/dms/werkansicht/?PPN=PPN627496601.

Ein weiteres am Zarenhof in diesen Jahren beliebtes Format sind die Intermezzi. Bereits 1731 gibt es in Moskau zahlreiche Intermezzo-Aufführungen, ab 1733 dann auch Aufführungen in Sankt Petersburg. Bei den Intermezzi handelt sich um komplett komische Stücke, ihre Besetzung ist gegenüber dem eben besprochenen Calandro noch weiter reduziert: In der Regel treten nur zwei singende Personen auf,⁶² außerdem eine stumme Rolle, ferner üblicherweise nur Streicher und Basso continuo. Mit ihrer bescheidenen szenischen Ausstattung sind diese Intermezzi ideal als Repertoire für die reisenden Ensembles der Comici italiani.⁶³ In Venedig und Neapel sind Intermezzi im frühen 18. Jahrhundert weit verbreitet,⁶⁴ an Höfen wie Dresden sind sie ebenfalls

Konzertmeister bei Anna I. tätig wird; dazu auch Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, Petersburg 1769, S. 84. 62 Vokalbesetzung: S bzw. A und B bzw. Bariton. 63 Landmann, Die Komische Italienische Oper, S. 123. 64 Insbesondere am Teatro San Cassiano. vgl. Daniel Brandenburg, Das frühe Intermezzo (1700–1740), in: Die Oper im 18. Jahrhundert. Laaber 2001, S. 108.

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sehr erfolgreich. Intermezzi sind ihren Sänger-Interpreten sozusagen auf den Leib geschrieben,⁶⁵ und auch am russischen Hof sind es vorrangig die Stars der Operntruppen, die den Erfolg dieser Intermezzi garantieren.⁶⁶

5 Künstlermigration in Europa: die Operntruppe des Girolamo Bon Die nach Ristoris Ensemble in dieser Zeit wichtigste Operntruppe am russischen Hof ist die von Girolamo Bon. Bon ist ein international agierender Allroundkünstler. Der aus Venedig stammende Schauspieler, Komponist, Operndirektor, Bühnenarchitekt, Maler und Textdichter (um nur einige seiner zahlreichen Berufe zu nennen) reist mit seiner Operntruppe quer durch Europa. Zu seinem Familienunternehmen gehört seine Frau, Rosa Ruvinetti-Bon, eine hervorragende und weithin bekannte Sängerin, die in komischen Intermezzi brilliert und deren Talente im komischen Genre allenthalben gerühmt werden⁶⁷). Außerdem ist der „vortreffliche Bassist“⁶⁸ Domenico Cricchi ein Mitglied des Ensembles und auch die Komikerin Zanetta Casanova, die Mutter Giacomo Casanovas, die zuvor bereits mit verschiedenen Truppen durch Europa gezogen war und auf Venedigs Theaterbühnen in dieser Zeit ebenfalls als Star gilt. Typisch für Bons Operntruppe ist ihre Vielseitigkeit,⁶⁹ wobei auch die schauspielerischen Qualitäten beachtlich gewesen sein müssen.⁷⁰ Angeworben werden die Künstler von dem aus Neapel stammenden und in Venedig aktiven Pietro Mira (genannt Pedrillo). 1735 trifft die Künstlertruppe in Russland ein.⁷¹ Ihr Engagement am Zarenhof scheint für die Gruppe das ideale Sprungbrett für viele weitere Einladungen an andere Fürstenhäuser gewesen zu sein. So finden wir sie danach in Dresden am Hof des Kurfürsten von Sachsen,⁷² Rosa Bon und Domenico Cricchi später auch in Potsdam.⁷³ Beim Publikum hatten die beiden Sänger komischer

65 Brandenburg, Das frühe Intermezzo, S. 107. 66 Insbesondere am Teatro San Cassiano, vgl. Brandenburg, Das frühe Intermezzo, S. 108. 67 Ernst L. Gerber, Historisch-Biographisches Lexikon der Tonkünstler, (1790–1792), Teil 1, Graz 1977, Sp. 183: „eine ausnehmend geschickte komische Sängerin“. 68 Carl M. Plümicke, Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin, Berlin und Stettin 1781, S. 140. 69 Heute würde man auch von Interdisziplinarität sprechen. Solche Operntruppen gab es bereits Mitte des 17. Jahrhunderts in Italien. Benedetto Ferraris und Francesco Manellis Opernensemble bildet hier den Anfang des öffentlichen Opernwesens in Venedig. 70 Plümicke, Entwurf einer Theatergeschichte, S. 140. 71 Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 50ff. 72 Vgl. Moritz Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen. Dresden 1861–1862, II, S. 246. 73 Dort beschreibt sie Gotthold E. Lessing in seinen Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters, Erstes Stück. Stuttgart 1750 (Reprint Stuttgart/Weimar 1996), S. 131–136, folgendermaßen: „Beide

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Partien offenbar in allen Städten größte Erfolge. Im Jahr 1752 wirken sie in Antwerpen bei der Einweihung des dortigen Opernhauses mit. Für eine Karnevalssaison engagiert auch Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth die Sängerin Ruvinetti-Bon. Danach sind Bon und Cricchi bei Intermezzo-Aufführungen in Wien zugegen,⁷⁴ und schließlich tritt Girolamo Bon gegen Ende seines Lebens auch noch in die Dienste des Fürsten von Esterházy. Die bewegte Geschichte dieser Truppe zeigt, dass die Darbietungen der am russischen Hof aufgeführten Intermezzi keinesfalls isoliert zu betrachten sind, sondern vielmehr als gesamteuropäisches Phänomen untersucht werden müssen. Denn Moskau und Sankt Petersburg sind nur zwei Stationen auf den Migrationswegen dieser wandernden Künstlergruppen und Intermezzistenpaare. Ab 1740 ist dann allerdings die Hauptblütezeit der Intermezzi bereits vorbei, da wundert es nicht, dass am russischen Hof künftig neue Opernformen nachgefragt sind.

6 Fazit Bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert habe russische Diplomaten die italienische Oper vor Ort in Venedig und Rom kennen- und als Prestigeobjekt schätzen gelernt. Trotzdem etabliert sie sich in Russland erst auffallend spät unter Zarin Anna Ivanovna. Es ist anzunehmen, dass das russische Hofpublikum mit dem neuen Genre in der Regel noch wenig vertraut war und deshalb einer Gewöhnungsphase bedurfte. So haben zunächst die komischen Intermezzi großen Erfolg, wie sie gleich zu Beginn der Regentschaft von Zarin Anna I. gegeben werden. Danach folgt als erstes größer besetztes musikalisches Bühnenwerk die beschriebene Commedia per musica von Giovanni Alberto Ristori. Dabei sind die komischen Stücke am Zarenhof beim Publikum zunächst besonders beliebt, bringen sie doch viele derbe Szenen auf die Bühne. Auch Ristoris Calandro steht in dieser Tradition der Commedia dell’arte-Aufführungen. Am Sankt Petersburger Hof findet dann die Einführung der opera seria im Jahr 1736 beim Publikum zunächst offenbar weniger Beifall, als die in den Jahren zuvor am Hof aufgeführten komischen Gattungen, die einfach populärer waren. Diese zunächst vorhandene Vorliebe für das komische Genre bezeugt auch General von Manstein, der in seinen „Historischen, politischen und militärischen Nachrichten von Rußland, von dem Jahre 1727 bis 1744“ nicht zuletzt das kulturelle Leben am russischen Hofe beschrieben hat. An der Zarin selbst mag es nicht gelegen haben, die „eine Liebhaberin der

sind fähig, den ganzen Schauplatz vor Lachen ausser sich zu setzen. Besonders ist Herr Cricchi, welcher einen starken Baß singt, zur comischen Oper gemacht“, zit. nach: Christoph Henzel, Quellentexte zur Berliner Musikgeschichte im 18. Jahrhundert. Wilhelmshaven 1999, S. 29. 74 Vgl. dazu Sabine Henze-Döhring, Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik. Bamberg 2009, S. 117. Zur Vita von Rosa Bon vgl. Henze-Döhring, Markgräfin Wilhelmine, S. 118f.

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Schauspiele und der Musik [war], und [. . . ] alle dazu nöthige Leute aus Italien kommen [ließ]“. Eher machte wohl das Publikum einen Strich durch die Rechnung, das sich offenbar zunächst nur schwer mit der neuen italienischen Gattung anfreunden konnte: „Im Jahre 1736 ward die erste Oper zu Peterburg vorgestellt. Sie ward wohl ausgeführt; fand aber weniger Beyfall, als die Komödie und das italiänische Zwischenspiel.“⁷⁵ Anders sieht das freilich Jacob von Stählin, der rückblickend die Aufnahme der ersten italienischen Oper folgendermaßen beurteilt: „Der Hof beehrte die Aufführung dieser ersten Oper mit öfterm Händeklatschen und vollem Beifall: und so wohl die gestürzt vollen Logen, als das erstaunliche Gedränge des Parterre, bezeigte seine Entzückung über dieses neue Singspiel, welches auch etliche Male, immer mit gleicher Bewunderung, aufgeführt werden mußte.“ Für Stählin beginnt hier die Erfolgsgeschichte der Oper am russischen Hof. Manstein dagegen bewertet die Anfänge der Bühnengattung etwas differenzierter. Hier könnten eine Untersuchung der Protokolle des Hoflebens und die Dokumentation möglicher Publikumsreaktionen auf die ersten russischen Opernaufführungen weitere Erkenntnisse vermitteln.⁷⁶ Auch die Verflechtungen zwischen den italienischen Musikzentren und Russland wären in diesem Zusammenhang genauer unter die Lupe zu nehmen.

75 Christoph H. Manstein, Historische, politische und militärische Nachrichten von Rußland, von dem Jahre 1727 bis 1747. Leipzig 1771, S. 337. 76 Tägliche Protokolle des Hoflebens, von 1695–1818, aufgeschrieben in den Kamer-fur󸀠 erskye žurnaly.

Roland Pfeiffer

Ein Neapolitaner in Sankt Petersburg: Francesco Arajas frühe Opernproduktionen am russischen Hof In der Literatur zum russischen Musikleben besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass wir dem neapolitanischen Komponisten Francesco Araja die erstmalige Konfrontation des russischen Hofpublikums mit der Gattung der italienischen opera seria verdanken. Ende Januar 1736 erklang den Quellen zufolge in Sankt Petersburg mit La forza dell’amore e dell’odio die vermutlich erste italienische Oper auf russischem Boden überhaupt, wenn man mal von einigen komischen Intermezzi der unmittelbar vorausgehenden Jahre (und von Giovanni Alberto Ristoris Opera buffa Calandro, Moskau 1731) absieht. Im Folgejahr 1737 hielt man Arajas Oper einer Wiederholung für würdig; zuvor aber noch brachte Araja mit Il finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta eine weitere ernste Oper auf die Bühne des kaiserlichen Hofes.¹ Diese beiden Opern gehören zu den wenigen Werken Arajas, von denen sich außer den Libretti auch handschriftliche Partituren erhalten haben.² Ziel dieses Beitrags ist es, eine stilistische Einordnung dieser Opern vorzunehmen und auf ortsabhängige Besonderheiten ihrer Auf1 Zu den Datierungen vgl. Marina Ritzarev, Eighteenth-Century Russian Music. Aldershot 2006, S. 44, bzw. Robert-Aloys Mooser, Annales de la musique et des musiciens en Russie au XVIIIme siècle, Bd. 1. Genf 1948, S. 123 (zu den Intermezzi siehe S. 111–117), sowie folgende Anm. Siehe ferner Margery S. Selden, Opera in Early Eighteenth Century Russia, in: Music and Man 1975, S. 293–303. 2 Die einzige bislang bekannt Partitur von La forza dell’amore e dell’odio befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Signatur: Ms. 19232); auf dem Titelblatt ist dabei die ursprüngliche Jahreszahl 1736 sichtbar nachträglich (und irrtümlicherweise) in 1739 abgeändert worden. Jeweils eine Partitur von Il finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta besitzen die Staatsbibliothek Berlin (Signatur: Mus.ms. 760; RISM–Nr. 452002510) und die British Library London (Signatur: R.M.22.a.6; RISM–Nr. 800252220), beide mit dem Titel La Semiramide riconosciuta. Die Partituren in Wien und Berlin (sie scheinen vom gleichen Kopisten geschrieben zu sein) bezeichnen die jeweilige Oper als Auftragswerk der russischen Herrscherin (Fatta per ordine. . . ); die Londoner Partitur gibt als Anlass der Aufführung ihren Geburtstag an (28 Gennaro 1737; Angabe nach dem julianischen Kalender = 7. Februar 1693 nach dem gregorianischen Kalender). Gedruckte, zweisprachige Textbücher (italienisch-russisch) von La forza dell’amore befinden sich im Zentralen staatlichen Bachruschin-Theatermuseum (Gosudarstvennyj centralnyj teatral󸀠 nyi muzej im. Aleksej A. Bachrušina; www.gctm.ru) und in der Öffentlichen staatlichen Historischen Bibliothek Russlands (Gosudarstvennaja publičnaja istoričeskaja biblioteka Rossii; www.shpl.ru) in Moskau. Exemplare eines ähnlich gestalteten Librettos von Il Finto Nino liegen in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften (Biblioteka Rossijskoj akademii nauk) sowie in der Russischen Nationalbibliothek (Rossijskaja nacional󸀠 naja biblioteka, www.nlr.ru) in Sankt Petersburg. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass diese Auflistung (basierend auf dem Repertorium von Claudio Sartori, I libretti italiani a stampa delle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici, 7 Bde., Cuneo 1990–94, ergänzt durch DOI 10.1515/9783110520224-011

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führung einzugehen, um herauszustellen, mit welcher Art italienischer Opernmusik der russische Hof seinerzeit in Berührung kam. Wer war Francesco Araja, und wie kam er im Jahre 1735 zu seiner Stellung als Kapellmeister am russischen Hof?³ 1709 in Neapel geboren und rasch als hochbegabt eingestuft, brachte er dort vermutlich im Alter von 20 Jahren seine erste und einzige komische Oper zur Aufführung, der rasch weitere Aufträge in Florenz, Rom, Mailand und Venedig folgten. Als seine mutmaßlichen Lehrer werden manchmal Leonardo Vinci und Leonardo Leo genannt, beide bedeutende Opernkomponisten der neapolitanischen Sphäre. Zwar sind von Arajas Produktionen in Italien nur sehr wenige Quellen überliefert, doch die Tatsache, dass er für das Amt am russischen Hof in Betracht gezogen wurde, lässt stark vermuten, dass diesem Angebot bereits auf ein erfolgreicher Karriere-Start und ein guter Ruf in Italien vorausgingen. Nachdem das Echo der italienischen Oper bereits in den ersten Jahrzehnten des 18. Jh. bis nach Russland vorgedrungen war, führte die Regierungszeit der Zarin Anna Ivanovna in den 1730er Jahren zu einer allmählichen Italienisierung des bislang eher deutsch dominierten Musiklebens am Hof. Die Jahre von Annas Regentschaft (und auch die von Kaiserin Elisaveta Petrovna, ab 1741) sind durch die Tendenz gekennzeichnet, nahezu alle offiziellen Anlässe wie Jubiläen oder Krönungsfeierlichkeiten von Musik italienischer Gattungen umrahmen zu lassen. Im Rahmen der Intensivierung des Austauschs von Musikern zwischen Russland und Italien beauftragte man im Jahre 1734 den bereits am Hof tätigen Geiger Pietro Mira mit der Rekrutierung einer Operntruppe in Italien.⁴ Bei diesem Projekt wollte man ursprünglich Nicola Porpora als Kapellmeister geworfen, doch als sich diese Bemühungen zerstreuten, wählte man mit Araja einen keineswegs zweitrangigen Kandidaten. Gemeinsam mit ihm trafen im Frühjahr oder Sommer 1735 diverse Sängerinnen und Sänger (sowie Tänzerinnen und Tänzer) in Sankt Petersburg ein, die dann offenbar auch tatsächlich bei Arajas erster Opernproduktion zum Einsatz kamen.⁵

persönliche Hinweise) noch unvollständig ist und dass sich weitere Exemplare in anderen russischen Bibliotheken erhalten haben. 3 In Ermangelung einer detaillierten Biografie können zwei Lexikonartikel als gültige, wenngleich natürlich ergänzungsbedürftige Referenzwerke gelten: Michael F. Robinson/Pietro Gargiulo, Art. Araja, Francesco, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 2001, Bd. 1, S. 834f. und Domenico Antonio D’Alessandro, Art. Araja, Francesco, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., Aufl., Personenteil Bd. 1. Kassel 1999, Sp. 838–840. 4 Vgl. Ritzarev, Eighteenth-Century Russian Music, S. 39. Die Wirkungsgeschichte der diversen Kompagnien italienischen Ursprungs unter Anna Ivanovna wurde ausführlich behandelt von Marialuisa Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani alla corte russa (1731–1738), Rom 2000; vgl. auch den Beitrag von Sabine Ehrmann-Herfort im vorliegenden Band. 5 Eine Namensliste mit kurzen Hinweisen zur Herkunft der Künstler findet sich bei Jacob von Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, Leipzig 1982, S. 84f. u. 90f.; Mooser, Annales de la musique et des musiciens, S. 142–145, bestätigt und ergänzt die von Stählin angeführten Informationen über die Sänger.

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Was die Aufführung dieser Oper betrifft, so stellen die Schriften des Gelehrten und Zeitgenossen Jacob von Stählins Quellen ersten Ranges dar. Zwar datierte er, offenbar irrtümlich und im Gegensatz zu allen anderen Quellen, in seiner 1770 gedruckten Schrift die Erstaufführung beider Opern auf ein Jahr später (d. h. auf 1737 und 1738).⁶ Aber wir verdanken ihm wir die Namen der meisten mitwirkenden Sänger; unter Einbeziehung weiterer, von Robert-Aloys Mooser zusammengetragener Informationen kann relativ leicht rekonstruiert werden, welche/r Sänger/in der Truppe welchen Part übernommen hat. Eine andere Schrift Stählins, bereits 1738 zweisprachig gedruckt,⁷ kann nicht nur als Kommentar eines Zeitzeugen, sondern darüber hinaus auch als Art ‚Werbeschrift‘ für die am Ort neue italienische Oper gelesen werden, in welcher der Autor, bedingt durch seine Rolle als gut informierter Verantwortlicher für das Musiktheater am Hof, detaillierte Informationen zu Handlung und Inszenierung von La forza dell’amore e dell’odio veröffentlicht. Die visuell wahrnehmbaren Ereignisse auf der Bühne erfahren in dieser Schilderung eine starke Berücksichtigung. Es mag bezweifelt werden, ob 1736 wirklich echte „mit holzernen Thürmen besetzte Elephanten“⁸ auf der Bühne gestanden haben; grosso modo kann Stählins Bericht aber als authentisch gelten. Er bestätigt auch, was in den überlieferten Textbüchern angemerkt wird, nämlich dass das Publikum außer den Opern ebenfalls Ballette zu sehen bekam: genau wie in Italien üblich wurden derer zwischen den Akten der Opern jeweils eines eingefügt.⁹ Die Handlung der Oper La forza dell’amore e dell’odio sei hier nur in Grundzügen umrissen. Das exotische Bezi(e)ra wird von den Indern unter König Sofite belagert. Wie oft in zeitgenössischen Opernstoffen üblich, entstammen die Personen zwei gegnerischen Lagern, sind aber zugleich teilweise miteinander verwandt oder durch Liebesbeziehungen verbunden. Im Laufe der Handlung (reich an Intrigen, und an visuellen Effekten wie z. B. Schlachtenbildern) manifestieren sich in den Arien Äußerungen

6 Vgl. Stählin, Nachrichten von der Musik, 1982, S. 90f. 7 Jakob von Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung von der Opera, in: Anmerckungen über die Zeitungen, 17.–21., 33.–34., 39.–49. Stück, 27. Februar – 19. Juni 1738. Der Bericht zur Oper Arajas erschien im 48. und 49. Stück (12. und 19. Juni 1738), S. 191–196. 8 Anmerckungen über die Zeitungen, 49. Stück, S. 192. Die Angaben beider Libretti (Mailand 1734 und Sankt Petersburg 1736; vgl. Anm. 10 und 11) zum Bühnengeschehen stimmen jedenfalls mit Stählins Bericht genau überein. So heißt es in der Beschreibung der Schlacht am Ende der 2. Szene des 1. Aktes, auf welche sich Stählins Äußerung bezieht: „Allo strepito di molti stromenti esce dal Campamento di Sofite tutto l’esercito tripartito, e si porta all’assalto della città. Da una parte si veggono diversi Elefanti, con sopra il dorso Torri di legno, dalle quali vengono scagliate diverse armi dai Soldati di Sofite contro i Difensori delle Mura [. . . ] Nell’improvisa sortita restano atterrati gl’Elefanti, ma infine respinti [. . . ].“ Besagte ‚Turm-Elefanten‘ werden dann später wieder in das Bühnenbild des 3. Aktes integriert (vgl. Übersicht im Anhang). 9 Stählin gibt mit Antonio Rinaldi detto il Fusano auch den Ballettmeister an, und nennt die Namen einiger Tänzer, darunter Rinaldis Frau Giulia; vgl. Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 191.

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des Hasses und der Liebe (nicht ohne Zwischentöne des Zweifels). Am Ende hat der Hass (verkörpert durch Sofite) das Nachsehen, und im Sinne eines lieto fine triumphiert die Liebe mit der Vereinigung zweier Paare, deren Heirat nach Überwindung zahlreicher Widerstände nichts mehr im Wege steht. Arajas erste zwei Bühnenwerke in Sankt Petersburg können nicht zur Gänze als Neuschöpfungen betrachtet werden. La forza dell’amore e dell’odio erlebte ihre Uraufführung bereits 1734 am Teatro Regio in Mailand. Während uns dort das Libretto die Sänger nennt,¹⁰ ist dies beim Sankt Petersburger Druck¹¹ nicht der Fall. Tragen wir jedoch die weiteren Quellen zusammen, ergibt sich die nur geringfügig lückenhafte Zuordnung in Tabelle 1.¹² Im Vergleich beider Besetzungen fällt auf, dass die Partie des Abiazare – zeitweise wurde die Oper auch unter diesem Personennamen als Titel bekannt – in Mailand vom berühmten Altkastraten Antonio Bernacchi, in Petersburg dagegen von der Altistin Caterina Giorgi dargestellt wurde, welche laut Mooser hier ausnahmsweise eine ‚Hosenrolle‘¹³ übernahm. Araja scheint, wie oft bei Wiederaufnahmen von Opern üblich, die Komposition den Erfordernissen und Fähigkeiten der Sänger entsprechend angepasst zu haben, vielleicht auch in der Absicht, sein eigenes Werk verbessern zu wollen: Von den 22 Arien der Mailänder Originalversion werden gut 10 durch Neuschöpfungen in Text und Musik ersetzt, so dass wir von einer zumindest zur Hälfte neuen Oper für den russischen Hof sprechen können. Die neuen Arien finden sich aber nicht in der Partie des Abiazare, der nun von einem weiblichen anstatt von einem männlichem Alt übernommen wurde – wobei die Geschlechterfrage bei der Besetzung bzw. die (zumindest nach heutigem Empfinden) von ihr abhängige ‚Wahrhaftigkeit‘

10 La forza dell’amore, e dell’odio. Drama Da rappresentarsi del Regio Ducal Teatro di Milano sotto il reale patrocinio della Sacra Reale Maestá di Carlo Emanuele Re di Sardegna, di Cipro [. . . ] Nel Carnovale dell’Anno 1734. In Milano [. . . ] (Sartori Nr. 10857), S. 11. Laut einer Fußnote bei Robert-Aloys Mooser (Opéras, intermezzos, ballets, cantates, oratorios joués en Russie durant le XVIIIe siècle, Basel 1964, S. 60), die ihrerseits auf einer Anmerkung der Goldoni-Gesamtausgabe (Mailand 1854, Bd. 1, S. 1095) rekurriert, könnte sich hinter der Angabe des Mailänder Librettos zur Autorschaft des Textes („Poesia del Sig. C.F.P.“; siehe dort, S. [IV]) der Mailänder Graf Francesco Prata verbergen (zu dieser Person und ihrer Erwähnung in Goldonis Mémoires vgl. Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 35, Anm. 33). Stählin teilt hingegen mit: „Die Poesie ist in Rom [. . . ] verfertigt worden.“ (Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 191). Das Sankt Petersburger Libretto (Titel vgl. folgende Anm.) übernahm die Angabe „C.F.P.“ auf S. 6 offenbar aus dem Mailänder Druck. 11 La forza dell’ amore e dell’odio. Drama per ordine della Sacra Imperial Maesta di Anna Giovannona [. . . ] Nel Nuovo Imperiale Teatro di S. Pietroburgo Nell Anno 1736 (Sartori Nr. 10858; Bestand s. Anm. 2). 12 Die Partien werden in der Reihenfolge des Mailänder Librettos aufgelistet. In Fettdruck die Arienanzahl der ‚bedeutenderen‘ Personen. Es kann stark vermutet werden, dass Domenico Cricchi, der auch bei Stählin (Nachrichten von der Musik in Russland, S. 90) erwähnt wird, den Barzante sang. Mooser (Annales de la musique et des musiciens, S. 142 u. 145) nennt Cricchi und Pertici als Mitwirkende der Oper, die allerdings nur eine Basspartie vorsieht. 13 Als solche bezeichnet man Rollen, bei denen eine männliche Person von einer Sängerin dargestellt wurde (z. B. die Partie des Cherubino in Mozarts Le nozze di Figaro).

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Tab. 1: Francesco Araja, La forza dell’amore e dell’odio: Handelnde Personen und Besetzungen Mailand 1734, Sankt Petersburg 1736. Sänger in Mailand 1734 Angelo Amorevoli

Handelnde Personen (Stimmlage) – Sänger in Sankt Petersburg 1736 Anzahl der Arien

SOFITE (T) Re dell’Indie – 4 Antonio Bernacchi ABIAZARE (A) (Altkastrat) Sposo di Nirena – 4 Antonia Negri Tomi, detta NIRENA (S) la Mestrina Figlia di Sofite – 5 Anna Landuzzi TALESTRI (S) Sorella di Abiazare – 3 Giuseppe Appiani BARZANTE (B) Principe confederato di Sofite – 2 Agostino Fontana TAXILE (S) (Soprankastrat) Nipote di Barzante – 4 Eleonora Sermantina MERINDO (S) Polacca Confidente di Sofite – 2

Filippo Giorgi Caterina Giorgi Caterina Mazary ? (Vermutlich) Domenico Cricchi (oder Pietro Pertici) Pietro Morigi (Soprankastrat) ?

der Darstellung seinerzeit kaum eine Rolle spielte – sondern konzentrieren sich vor allem auf die Partien von König Sofite (Tenor), seiner Tochter Nirena (weiblicher Sopran) und Taxile, Neffe von Sofites Verbündetem Barzante (Soprankastrat in beiden Versionen). Für die Partie des Taxile, in Petersburg offenbar vom Bologneser Pietro Morigi gesungen, laut Stählin „ein Castrat von erstaunlich hohem Soprano“¹⁴, sieht Araja einige extrem virtuose Arien mit ausgedehnten Koloraturen vor. Arajas Kompositionsweise muss vor dem Hintergrund zweier ästhetisch-stilistischer (untereinander nicht deckungsgleicher) Gegensätze der Zeit betrachtet werden: Zum einen stehen sich die Begriffe stile patetico und stile d’agilità, zum anderen die Komponisten Leonardo Vinci und Nicola Porpora gegenüber. In einer namentlich durch Pierfrancesco Tosi angestoßenen Debatte im Italien der 1720er Jahre wurde ein älterer stile antico oder patetico einem stile moderno oder d’agilità gegenübergestellt.¹⁵ Während dem älteren Stil die Tendenz zum Kontrapunkt, zu langsameren Tempi, zu wenigen ‚kleineren‘ cantabile-Verzierungen und langen Schwelltönen im Gesang zugeschrieben wurde, galten rasche Tempi, extremer Gebrauch von langen Koloraturketten, Stoßtönen und ‚akrobatischen‘ Verzierungen aller Art als Merkmale des von Tosi als kalt und ausdrucksarm kritisierten, der ‚Geläufigkeit‘ zugeneigten moderneren Stils. Die Vertreter der neapolitanischen Schule, und somit auch Araja, werden zu Recht mit dem jüngeren, virtuoseren Stil in Verbindung gebracht. Doch

14 Vgl. Stählin, Nachrichten von der Musik in Russland, S. 84. 15 Vgl. Pierfrancesco Tosi, Opinioni de’ cantori antichi e moderni o sieno Osservazioni sopra il canto figurato, Bologna 1723.

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können derartige Zuordnungen nicht mit Ausschließlichkeit vorgenommen werden, handelt es sich doch bei genannter Dichotomie um ein typisches Produkt der zeitgenössischen ästhetischen Theorie; kein Komponist schreibt nur in dem einen oder anderen Stil, vielmehr lassen sich unterschiedlich gewichtete Tendenzen einer Mischung beider Stile ausmachen. ‚Spezialisierungen‘ gab es eher im Bereich des Gesangspersonals: so beherrschten viele Kastraten die Verzierungskunst des neuen stile d’agilità ausgezeichnet, manche Sängerinnen und Sänger wiederum hatten eher andere Schwerpunkte vorzuweisen. Vinci und Porpora, beide Neapolitaner, galten als Konkurrenten, zeichneten sie doch quasi zeitlich, in Rom und Venedig, für die ersten Vertonungen einiger Metastasio-Texte verantwortlich.¹⁶ Während Porpora sich oft eines dichten und teils virtuosen Orchestersatzes bedient, dessen Motivik von einem die Textgestaltung recht frei behandelnden Gesang unabhängig bleibt, ist bei Vinci die Gesangslinie das treibende Element des musikalischen Gedankens, das auch die Gestaltung der sie unterstützenden Orchesterbegleitung maßgeblich konditioniert. Araja gilt als Schüler von Leonardo Vinci, und der Einfluss seines Lehrers scheint sich im Stil seiner Arien-Vertonungen widerzuspiegeln. Die Violinen spielen grundsätzlich im unisono mit dem Gesang, auffindbar sind aber auch akkordisch ‚klopfende‘, den Gesang ausschmückende oder mit ihm dialogisierende Begleitmodelle – jedoch ohne dass letztgenannte Fälle eine separate, den Text eigenständig interpretierende Orchester-Ebene zur Folge hätten, wie dies bei Porpora der Fall ist. Wenngleich sich in Arajas frühen Opern durchaus Beispiele ‚virtuoser Gesangsakrobatik‘ im Sinne des stile d’agilità finden, dominiert doch insgesamt ein recht ausgewogenes Bild: das Selbstdarstellungsbedürfnis der Sänger geht somit nicht auf Kosten des musikalischen Affektgehaltes. Ein großer Erfindungsreichtum in Rhythmik und Motivik lassen die Arien von La forza dell’amore e dell’odio als qualitativ erstrangige Werke der Zeit erscheinen. Die unterschiedlichen, vom Text evozierten emotionalen Zustände der Personen spiegeln sich in einem breiten musikalischen Ausdrucksspektrum wider.¹⁷ Kantable Momente introvertierten Charakters mit langsamen, klangorientierten Melismen (durchaus im Sinne eines stile patetico) wie in seiner letzten Arie (O su ´l soglio, o in campo armato, vgl. Abb. 1) dominieren die Partie des oft sein Schicksal beklagenden Abiazare. Die durch lombardische Rhythmen gekennzeichneten absteigenden Motive

16 Gegenüberstellungen textgleicher Vertonungen finden sich u. a. bei Friedrich Lippmann, Porpora und einige Zeitgenossen, in: Studi musicali 32 (2003), S. 349–405. Siehe ferner Diana Blichmann, Espressione affettiva e rappresentazione psicologica nella Semiramide riconosciuta del Metasttasio. Le intonazioni di Leonardo Vinci e Nicola Porpora, in: Gaetano Pitarresi (Hrsg.), Leonardo Vinci e il suo tempo (Kongressbericht Reggio Calabria 2002 und 2004). Reggio Calabria 2005 17 Vgl. diesbezüglich auch den Kommentar aus Stählins späterer Schrift: „Die Musik war sehr einnemend, und den vorkommenden Leidenschaften gemäß gesetzt.“ (Nachrichten von der Musik in Russland, S. 90).

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Abb. 1: Francesco Araja, La forza dell’amore e dell’odio, Arie Abiazare O su ´l soglio, o in campo armato (3. Akt), Österreichische Nationalbibliothek Wien, Musiksammlung, Mus.Hs. 19232.

Abb. 2: Francesco Araja, Arie Abiazare Care luci io partirò (2. Akt).

Abb. 3: Francesco Araja, Duett Nirena-Abiazare Prendi l´estremo addio (1. Akt).

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seiner Auftrittsarie (Care luci io partirò, vgl. Abb. 2 könnten quasi als ‚Schluchzer‘ interpretiert werden; Stählin spricht von „einer beweglichen [gemeint ist wohl: bewegenden] Arie“.¹⁸ Den Moment vor der Befreiung Abiazares aus dem Gefängnis im 2. Akt vertont Araja in Form eines kurzen Arioso (Tempo Larghetto) in für Ombra-Arien typischer Tonart Es-Dur (Larve ch’a me d’intorno). Das dominantisch offene Ende des Nachspiels, welches quasi ins Secco-Rezitativ hinüber zu gleiten scheint, kann als seltenes Beispiel einer stärker szenenorientierten Verkettung von Elementen innerhalb der musikalischen Anlage gelten. Ein Moment der Klage über das grausame Schicksal („fato si spietato“) ist ebenfalls das Abschieds-Duett von Abiazare und seiner Geliebten Nirena (Prendi l´estremo addio), welches mit seiner häufig verminderten Harmonik und einer dialogisierenden melismatischen Passage (vgl. Abb. 3) für einen klanglich eindrucksvollen Abschluss des 1. Aktes sorgt und von Stählin als „wohlgesetzte[s] Duetto“¹⁹ bezeichnet wird. Im Übrigen reflektiert die musikalische Charakterisierung Nirenas ein Alternieren zwischen Momenten des Leidens (vgl. etwa die Arie Vado a morir im 2. Akt, in ‚ergebenem‘ f-moll, oder auch Infelice invan mi lagno im 1. Akt) und der das lieto fine (den glücklichen Ausgang) antizipierenden Zuversicht (etwa in Form tänzerischer Rhythmen und jubilierender ‚Schleifer‘ ihrer ersten Arie Ch’io doni il core a te im 2. Akt). Doch auch Elemente kriegerischen Impulses finden in Arajas Vertonung ausreichend Berücksichtigung, etwa in der Tenor-Partie von König Sofite, insbesondere bei denjenigen Arien, die Araja eigens für den Petersburger Tenor Filippo Giorgi schrieb: man betrachte etwa, abgesehen von den ‚harschen‘ Punktierungen vieler Arien, den ausgiebigen Corno-da-caccia-Einsatz in seiner Arie Leon distruggi altero im 1. Akt. Gleichnisarien (arie di paragone) bemühen Naturbilder (z. B. das bewegte Meer), um einen Gefühlszustand zu beschreiben, oft unter Zuhilfenahme langer Koloraturketten; dies ist auch in Sofites Arie des 2. Aktes Chi provato a la procella der Fall. Am deutlichsten wahrnehmbar ist der Hang zur Virtuosität mit zahlreichen Herausforderungen rhythmischer, harmonischer, und das Stimmvolumen strapazierender Art jedoch in einer Gleichnisarie für Taxile im 2. Akt (Cadrò, ma qual si mira). Anlässlich der Petersburger Neufassung übernahm Araja diese Arie für den Soprankastraten Pietro Morigi aus seiner schon älteren Oper Berenice, die er 1730 für das Theater der Villa Medici in Pratolino bei Florenz geschrieben hatte.²⁰ Die zahlreichen Koloratur- und Trillerketten, Stoßrhythmen und martellato-Noten²¹ lassen diese Arie

18 Vgl. Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 192. 19 Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 192 20 Die Arie taucht außerdem im Londoner Manuskript von Arajas zweiter hier besprochener Oper auf, wo sie im 3. Akt Mirteo zugeordnet wird, allerdings an einer Stelle, wo sowohl das Libretto von Arajas neapolitanischer Erstfassung von 1731 als auch das italienisch-russische Libretto von 1737 sowie die Berliner Partitur keine Arie vorgesehen hatten (vgl. Übersicht im Anhang). 21 Darunter versteht man mit der Brust ‚geschlagene‘ Wiederholungen desselben Tons. Auch der Soprankastrat Agostino Fontana, welcher den Part des Taxile bei der Mailänder Uraufführung sang, schi-

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Abb. 4: Francesco Araja, Arie Taxile Cadrò, ma qual si mira (2. Akt; ursprünglich aus Berenice, 1730).

als zeittypisches Beispiel für den Verzierungsreichtum des stile d’agilità erscheinen (vgl. Abb. 4). Zugleich ist sie nicht unbedingt repräsentativ für die Partie des Taxile, da diese, als Ganzes betrachtet (wie die Oper überhaupt) zwar anspruchsvoll gestaltet, aber nicht übermäßig akrobatisch angelegt ist. So erhält der Sänger in anderen Arien ausgiebig Gelegenheit zu zeigen, dass er auch Schwierigkeiten anderer Art als die des agilità-Typus zu bewältigen in der Lage war: In Non disperi pellegrino (1. Akt)²² ist es die synkopische Verschiebung des Kopfmotivs gegenüber dem Orchesterbass, in Colle procelle in seno (2. Akt; übrigens eine weitere Arie mit unüberhörbarem HornEinsatz) sowie in Se è ver che t’accendi (3. Akt) dagegen sind es konzentriert auftretenden Schleifer-Noten in Aufwärtsbewegung, die den Sänger vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Unter formalen Aspekten betrachtet weisen Arajas Arien fast immer eine Da Capo-Struktur auf (oder ihre Variante Da Capo al segno). Auch die harmonische Anlage bleibt auf der Makro-Ebene im Rahmen zeittypischer Standard-Pläne, allerdings sorgen zahlreiche Ausweichungen (meist von der Dauer eines ganzen oder halben Taktes)

en einem Hinweis von Giambattista Mancini zufolge auf diese Art von typischer agilità-Verzierungen spezialisiert gewesen zu sein; vgl. ders., Riflessioni pratiche sul canto figurato, Mailand 1777, Reprint Bologna 1970, S. 199f., zitiert bei Corinna Herr, Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur‘? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte, Kassel 2013, S. 129. 22 In beiden Libretti wird diese Arie irrtümlich Nirena zugeschrieben.

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Abb. 5: Francesco Araja, Quartett Non mi spaventa il tuo furore (D-Dur, 3. Akt).

oft für Überraschungseffekte. Ein ausgeprägter Hang zur Variantenbildung in Rhythmik und Motivik trägt bedeutend zum Raffinement der Komposition bei. Ein außergewöhnliches Element stellt das Quartett im 3. Akt (Non mi spaventa il tuo furore) dar, sind doch derartige Ensembles noch recht selten zu einer Zeit, in der eine Oper ganz überwiegend aus Arien besteht. Diese Besonderheit ist auch Stählin nicht entgangen: Er spricht von „einem unvergleichlichen Quatro oder einer Arie von 4 Stimmen“, welches „sowohl die Stärcke der Composition als die ungemeine Wirkung in der Ubereinstimmung der verschiedenen Abwechslung“ zeige.²³ In der Struktur des Ensembles (ebenfalls als Da Capo angelegt) dominiert zu Beginn der Wechselgesang einzelner Personen, doch kommt es bald auch zu Gruppenbildungen: Sopran und Alt (Taxile und Abiazare) gegen Tenor und Bass (Sofite und Barzante). Auf diese Weise sind einerseits alle Stimmregister vertreten, andererseits werden die gegensätzlichen Affekte amore und odio, repräsentiert durch die beiden Gruppen, programmatisch gegenüber gestellt (vgl. Abb. 5). Stählin weiß über die Aufführung zu berichten: „Der Hof beehrte die Aufführung dieser ersten Oper mit öfterem Händeklatschen: und so wol die gestürzt vollen Lo-

23 Vgl. Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 195. In der russischen Version dieser zweisprachig erschienenen Abhandlung lautet der Passus (hier behutsam modernisiert): „Svoi reči iz󸀠 javljaut oni v nesravnennoj arii sočinennoj na četyrech golosach, kotoraja velikoe iskusstvo v sočinenii i udiviel󸀠 noe soglasie raznych meždu soboju smešannych golosov soveršenno pokazyvaet.“

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gen, als das erstaunliche Gedränge des Parterre bezeigte seine Entzückung über dieses neue Singspiel, welches auch etliche male, immer mit gleicher Bewunderung, aufgeführt werden musste.“²⁴ Die Inszenierung der Oper beschreibt er als sehr prachtvoll. Vor allem den pantomimischen Schlachtszenen widmet er großen Raum, wobei die angedeutete Mitwirkung zahlreicher Komparsen zur Darstellung von Volk und Soldaten durchaus glaubwürdig ist. Besondere Aufmerksamkeit in der Beschreibung widerfährt dem letzten Bühnenbild, ein „Saal der Königl. Burg, an dessen Hintergrund durch die treffliche Architectur eine weit ausgehende Galerie nebst einer grossen Colonnade [. . . ] angebracht ist“. Darüber „sind zwey Stockwercke von offenen Ober-Sälen und Galerien biß an die Decke der Schaubühne gebaut, von welchen zwey mit prächtigen Statuen und Vasen besetzte Treppen biß an die Vörder-Säulen des unteren Saales gehen“.²⁵ Nach dem versöhnlichen Ende der Handlung „kommen mehr als hundert Personen von den Obern-Stockwercken des prächtigen Gebäudes herunter, und formiren nach der Melodie des Schluß-Chors und der Einstimmung des ganzen Orchesters ein angenehmes Ballet und das Ende dieser prächtigen Oper“.²⁶ Aus diesen Sätzen, mit denen Stählins Bericht endet, können wir entnehmen, dass das Ballett ohne Herablassen des Vorhangs direkt an den Chor angeschlossen, ja gewissermaßen mit diesem szenisch verbunden wurde. Bei Arajas zweiter Petersburger Oper, Il finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta, basierend auf dem Sujet von Pietro Metastasio, ist die Quellenlage im Vergleich zu La forza dell’amore nahezu identisch. Auch diesen Stoff hatte Araja bereits in Italien vertont (erhalten ist nur das Textbuch dieser Erstfassung, aufgeführt in Neapel 1731²⁷) und dann auf dieser Basis eine Neubearbeitung für Sankt Petersburg angefertigt (mit insgesamt 10 neuen Arien und einem zusätzlichen Terzett), von der uns sowohl das Textbuch als auch zwei Partituren überliefert sind.²⁸ Araja dürfte auch die vormali-

24 Vgl. Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, S. 91. 25 Vgl. Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 196. In der russischen Version: „žal’ i vyvodit ee iz temnicy kak oni ottuda vyšli, to peremenjaetsja teatr vo korolevskij dom i predstavljaet bogatuju zalu, u kotoroj v zadnej storone čerez izrjadnuju architekturu pokazana daleko rasprostranjajuščajasja galereja, imejuščaja množestvo v nadležaščem porjadke postavlennych stolbov, i dvoi sii, čerez kotorye est󸀠 chod vo mnogie drugie pokoi. Vverchu nad seju galereeju, sdelany ešče dva jarusa so stolbami i galereami, kotorye vozvedeny do samogo potolka teatra, a ot obeich onych verchnich galerej do samich perednich stolbov v nižnej zale, sdelany lestnicy, ukrašennye statuami i vazami.“ 26 Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 196. In der russischen Version: „Potom schodjat bol󸀠 še sta čelovek s verchnej galerei sego velikolepnogo stroenija i tancujut pri soglasnom penii dejstvujuščujut person i pri igrajuščej muzyke vsego orkestra prijatnyj balet, kotorym končitsja sija slavnaja opera.“ 27 Pietro Metastasio, Semiramide Riconosciuta Dramma per musica di Pietro Metastasio [. . . ] Da rappresentarsi Nel Teatro di San Bartolomeo [. . . ] il dì I.d’Ottobre 1731 [. . . ] In Napoli 1731 (Sartori Nr. 21539). Exemplare befinden sich in der Nationalbibliothek Prag und in der New York Public Library for Performing Arts, Music Division. 28 Titel des zweisprachigen Textbuches (italienisch-russisch): [Metastasio], Il Finto Nino overo La Semiramide riconosciuta Drama per musica Di [!] rappresentarsi per ordine della Sacra Imperial Maestà

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ge Fassung von Leonardo Vinci gekannt haben, die erste Vertonung des Semiramide-Stoffes überhaupt.²⁹ Mit dieser hat sein Finto Nino stilistische und konzeptionelle Ähnlichkeiten, ohne deshalb an Originalität und Eigenständigkeit einzubüßen. Was die Mitwirkenden an der russischen Aufführung von Arajas Semiramide betrifft, so sind die Angaben des zweisprachigen Textbuches genauso unvollständig wie bei dem Druck von La forza dell’amore: in beiden Fällen werden Textdichter, Komponist, Szenenmeister (Girolamo Bon) und Ballettmeister (Antonio Rinaldi) genannt, aber von den Namen der Sängerinnen und Sänger fehlt jede Spur. Die Beschreibung der Rollen stimmt sowohl mit dem Librettodruck von Vincis Semiramide als auch mit dem von Arajas neapolitanischer Erstfassung überein (s. Tab. 2) Tab. 2: Francesco Araja, Il finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta: Handelnde Personen und Rollenbeschreibungen. Handelnde Personen (Stimmlage) – Anzahl der Arien (in St. Petersburg)

Beschreibung der Rollen in allen Libretti

SEMIRAMIDE (S) – 5*

in abito virile sotto nome di Nino Rè degl’Assiri, Amante di Scitalce conosciuto, ed amato da lei antecedentemente nella Corte d’Egitto come Idreno Principe reale d’Egitto, fratello di Semiramide da lui non conosciuta, ed Amante di Tamiri Principe Scita, Amante di Tamiri Principe Reale d’una parte dell’Indie, creduto Idreno da Semiramide, pretensore di Tamiri ed Amante di Semiramide Principessa Reale de’ Battriani, amante di Scitalce Confidente ed amante occulto di Semiramide

MIRTEO (S) – 4* IRCANO (T) – 4* SCITALCE (A) – 5 TAMIRI (S) – 4 SIBARI (S) – 3

Die Zählung der Arien erfolgte anhand des zweisprachigen Sankt Petersburger Librettos und der Berliner Partitur; der Ablauf der Oper ist in beiden Quellen identisch. Die drei mit * gekennzeichneten Personen hatten in Metastasios von Vinci vertonter Originalfassung insgesamt 6 Arien (2 pro Akt) zu singen. Jeweils eine davon fällt in Sankt Petersburg (im 2. Akt) einem neu eingefügten Terzett zum Opfer (vgl. Anm. 34). In Arajas neapolitanischer Erstfassung wurde die Anzahl der Arien für Mirteo und Ircano aber bereits auf 5 bzw. 4 reduziert.

di Anna Giovannona [. . . ] nel Nuovo Imperiale Teatro di S. Pietroburgo Nell Anno 1737 (Sartori Nr. 10639; Bestand s. Anm. 2). Während es auf S. 8 schlicht heißt „Poesia del Sign. Abbate Pietro Metastasio“, wird die Umarbeitung für Sankt Petersburg in modernen Lexikonartikeln stets Francesco Silvani zugeschrieben. Als Verfasser der russischen Version wird im Libretto (S. 8) explizit der Übersetzer der Kompagnie Petr Medvedev genannt; zu dieser Person vgl. auch Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 55. 29 Titel des gedruckten Textbuches: [Metastasio], Semiramide Riconosciuta Dramma per musica di Pietro Metastasio [. . . ] | Da rappresentarsi Nel Carnevale dell’Anno 1729. Nel Teatro Detto Delle Dame. [. . . ] In Roma [. . . ] (Sartori Nr. 21534).

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Stählin erwähnt lediglich die Prima Donna der Kompanie, Costanza Piantanida, als Darstellerin der Hauptrolle.³⁰ Da auch die von Mooser aus diversen Quellen zusammengetragenen Informationen spärlicher sind als im Falle von Arajas vorhergehender Oper, kann lediglich die Besetzung des Ircano mit dem Tenor Filippo Giorgi und die des Scitalce mit seiner Frau Caterina Giorgi als ziemlich sicher gelten.³¹ Die Handlung dieses häufig vertonten Textes von Pietro Metastasio dreht sich um die babylonische Königin Semiramide, welche sich zu Beginn als ihr eigener Sohn Nino ausgibt, da sie ihn des Regierens noch nicht für fähig hält: daher der alternative Titel Il finto Nino. In der Vorgeschichte, die nicht Teil der Handlung ist, war sie mit ihrem Geliebten Scitalce, einem indischen Prinzen, den sie nicht heiraten durfte, geflohen; dieser allerdings schenkte einer Intrige seines Nebenbuhlers Sibari Glauben, hielt sich für verraten und hat daraufhin Semiramide getötet (so zumindest glaubt er). Nun halten am Hof von Semiramide alias Nino drei Prinzen um die Hand ihrer Tochter Tamiri an: Mirteo (Semiramides Bruder), Ircano, und besagter Scitalce, welcher seine ehemalige tot geglaubte Geliebte sofort wiedererkennt. Die Heiratspläne für Tamiri werden dadurch verkompliziert, dass diese sich zunächst ausgerechnet für Scitalce entscheidet. Semiramides Bestreben besteht demnach darin – zunächst unter Aufrechterhaltung des Incognitos – einerseits ihr eigenes Interesse zu wahren (sie begehrt Scitalce nach wie vor für sich) ohne andererseits das Wohl ihrer Tochter Tamiri aus den Augen zu verlieren. Bis zur Auflösung der diversen Intrigen und des Incognitos der Hauptperson während der letzten Szene ist die Handlung der Oper – außer durch Semiramides ‚inneren Kampf‘ und die Selbstreflexionen der anderen Personen – stark durch die Konflikte zwischen den Verehrern Tamiris geprägt, welche mehr oder weniger offen ausgetragenen werden – Duelle eingeschlossen. Im Vergleich zur Schablonenhaftigkeit der Forza dell’amore e dell’odio bietet die Textvorlage Metastasios prinzipiell mehr Möglichkeiten zur psychologisierenden Darstellung (sofern man zur Zeit Arajas von einer solchen sprechen kann) des Empfindens der handelnden Personen. Dies dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass der Text im Laufe von gut hundert Jahren häufig vertont worden ist. Vor allem die Intensität und Wechselhaftigkeit der Gefühle, welche die Hauptperson durchläuft, bot vielen Komponisten Anlass zur kontrastreichen Gestaltung der Partie. Auch Arajas Vertonung zeigt die Person der babylonischen Königin in typischer Weise von ganz verschiedenen Seiten, ausgehend von den unterschiedlichen Situationen, in welchen Metastasio ihre Arientexte ansiedelt. So versucht Semiramide mit der ersten, an ihre Tochter gerichteten Arie Non sò se più t’accendi diese vor der endgültigen Wahl Scitalces zu ihrem Bräutigam zur Besonnenheit zu mahnen; die Königin möchte diesen insgeheim lieber für sich selbst freihalten. Ähnlich, aber extremer

30 Vgl. Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, S. 91: „eine so treffliche Sängerin als Actrice.“ Zu dieser Sängerin vgl. kurz Ferrazzi, Commedie e comici dell’arte italiani, S. 272, Anm. 7. 31 Vgl. Mooser, Annales de la musique et des musiciens, S. 143f.

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Abb. 6: Francesco Araja, Il finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta, Aria Semiramide Tradita, spezzata (2. Akt), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus.ms. 760.

noch als sein Lehrer Leonardo Vinci, isoliert Araja im Sinne einer Hervorhebung die Imperative „pensaci“ und „intendi“ innerhalb des musikalischen Flusses nicht nur durch mehrfache Wiederholungen, sondern auch durch deutliche, teils mit Fermaten versehene Pausen-Zäsuren. Dass die erzwungene, Verstellung implizierende Rede Semiramides aber auch mit innerer Unruhe einhergeht, wir durch die deutlich rascheren punktierten Rhythmen der einleitenden und abschließenden Phrasen der Arie angedeutet. Ehrlicher zeigt sich Semiramide in ihrer mit atemlosen Melodiebruchstücken einsetzenden Arie Tradita, spezzata im 2. Akt, in der sie gegenüber Scitalce den durch sein Unverständnis hervorgerufenen Schmerz äußert, nachdem sie ihm zuvor ihre wahre Identität gestanden und ihre andauernde Liebe beteuert hat. Der Rahmen von Tonart und Tempo – f-moll, Presto (alla breve) – machen die Aufgewühltheit der Protagonistin deutlich, während ihre Klage stellenweise mithilfe dissonanter Schmerzensharmonik akzentuiert wird (vgl. Abb. 6). Nicht Virtuosität dominiert ihre Vokalpartie, sondern Emphase im Sinne eines stile patetico. Dass Zweifel und innerer Kampf Semiramides bis zum erlösenden Ende der Oper andauern, offenbart das kurze monologische Arioso Fra tanti affanni miei zu Beginn der 12. Szene des 3. Aktes, in dem ihre Unentschiedenheit durch Schwanken zwischen d-moll und F-Dur, ‚gequält‘ absteigende Chromatik und Wiederholungen der Worte „vorrei“ und „palpitando“ (vgl. Abb. 7) musikalisch verdeutlicht wird. Zwischenzeit-

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Abb. 7: Francesco Araja, Arioso Semiramide Fra tanti affanni miei (3. Akt).

lich werden aber auch andere Töne hörbar, etwa wenn sie Scitalce in Fuggi dagli occhi miei zu Beginn des 3. Aktes voller Zorn des Verrats anklagt: eine volltaktig einsetzende Arie mit energischem Impetus und aufbrausender, quasi befehlsartiger musikalischer Gestik. Wie in Semiramides Auftrittsarie wird hier ebenfalls ein ‚ermahnender‘ Imperativ („ricordati“) rhythmisch isoliert und hervorgehoben. Das Selbstmitleid der Protagonistin kommt auch hier kurz zur Geltung, und zwar innerhalb des knappen Mittelteils („Misera a chi serbai“), welcher in der Tonikaparallele c-moll beginnt und in Tempo und Takt (Larghetto C) zu dem rasch dahinströmenden A-Teil (Allegro assai 3/8) einen deutlichen Gegensatz bildet, eine Kontrastwirkung, die ansonsten in Arajas Arien eher selten ist. Das Abtrennen bedeutender Worte durch vorausgehende Pausen-Fermaten findet sich auch in der Arie Se intende si poco von Semiramides ehemaligem Geliebten und zukünftigem Angetrauten Scitalce (eine Alt-Partie³²); die den Pausen folgenden Sätze, die Scitalce „da se“ (= für sich) spricht, und mit denen er Semiramides Reaktion auf sein Werben um Tamiri kommentiert („sospira l’ingrata, contenta non è“), werden auf diese Weise als die eigentlich bedeutsamen herausgestellt, auch mittels einer ungewöhnlichen Unisono-Begleitung durch die Streicher. Im Übrigen bleiben die Arien Scitalces (die denen Semiramides in der Abfolge der Musiknummern fast immer unmittelbar nachfolgen oder vorausgehen) hinsichtlich der Vielfalt des Ausdrucks und der Trefflichkeit bei der Umsetzung des Textgehaltes deutlich hinter denen der Protagonistin zurück.

32 1731 wurde die Partie in Neapel vom berühmten Kastraten Nicolò Grimaldi gesungen.

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Abb. 8: Francesco Araja, Arie Mirteo La tortora innocente (f-moll, 1. Akt).

Bei der Charakterisierung von Tamiris übrigen Verehrern setzen Text und Musik durchaus unterschiedliche Akzente. So reflektiert ihr Onkel Mirteo in seinen vier Arien ausschließlich über verschmähte Liebe und die Konsequenzen für das eigene Befinden. Araja vertont dies ganz überwiegend mithilfe langsamer Tempi und diatonischer cantabile-Melodik. Eine wichtige Rolle bei der Betonung einzelner Schlüsselwörter spielen Gruppen melismatischer Verzierungen unterschiedlicher Länge, die teilweise durch Chromatik (vgl. die introvertierte Gleichnisarie La tortora innocente in f-moll, Abb. 8) und teilweise durch wiederholte Aufwärtssprünge (Arie Siete barbare amate stelle) gekennzeichnet sind. Aufgrund der meist langsamen Tempi zielt die Wirkung aber eher auf Klanglichkeit als auf virtuose Effekte. Selbstbewusst, heiter und weitaus extrovertierter als Mirteo wird dagegen Ircano von der Musik charakterisiert. Drei der vier Arien dieser einzigen Tenor-Partie verweisen mit gemäßigt raschen Tempi und geläufigen melismatischen Abschnitten auf einen recht entspannten Gemütszustand des Fürsten. Talor se il vento freme im 1. Akt ist dagegen eine deutlich virtuose Gleichnisarie, in welcher der Protagonist seine Wut mit kräftigem Wind vergleicht. Rasche, ausgedehnte, von Trillern gefolgte Koloraturketten, sequenzierte Intervallfolgen und absteigende Passagen mit Oktavumfang³³ (vgl. Abb. 9) verleihen der Arie, in Kombination mit einem markanten Corno-da-

33 Ähnliches Figurenwerk hatte der Sänger Filippo Giorgi bereits im Jahr zuvor in Sofites Arie 2. Aktes Chi provato a la procella im 2. Akt von La forza dell’amore e dell’odio (vgl. dort) zu bewältigen.

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Abb. 9: Francesco Araja, Arie Ircano Talor se il vento freme (1. Akt).

caccia-Einsatz, einen Charakter von männlich-kämpferischer Entschlossenheit und Siegesgewissheit. Semiramides von allen begehrte Tochter Tamiri hat in ihren stets dialogisch ausgerichteten Arientexten oft die Liebe zu kommentieren. Meistens ist es die ihrer Verehrer, die sie zurückweist; manchmal aber auch sind es ihre eigenen, teils widerstreitenden Gefühle, die sie für Scitalce empfindet, doch stets spiegelt sich in der Musik eine gewisse ‚jugendliche‘ Unbeschwertheit wider: quasi tänzerische 3/8- oder 12/8-Rhythmen werden mit moderaten Tempi und einer eher für eher leichte Tongebung geeigneten Melodik mit kleinen ausgeschriebenen Verzierungen kombiniert. Davon abgesehen hat Tamiri aber auch – analog zu der von Ircano, doch ohne Koloraturen – eine die Hörner in die Begleitung integrierende Wutarie im Presto-Tempo zu

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Abb. 10: Francesco Araja, Arie Tamiri Tu mi disprezzi ingrato (2. Akt).

singen (Tu mi disprezzi ingrato, 2. Akt), in der sie Scitalce, von dem sie sich beleidigt fühlt, mit resolutem Impetus und anfangsbetonten Phrasen entgegentritt. Schlüsselwort ist der häufig wiederholte Imperativ „trema“, der nicht nur mittels längerer Trillernoten im Gesang zu Ende des A-Teils (vgl. Abb. 10), sondern auch – zeitgleich und eigenständig – mithilfe von Tremoli der Violinen auf onomatopoetische Weise in Musik gesetzt wird. Die wichtigste Neuerung der Sankt Petersburger Fassung der Oper besteht in der Einfügung eines Terzetts in die 4. Szene des 2. Aktes. Es ersetzt drei Arien, die in der ursprünglichen Fassung von 1731 in den Szenen 4–6 angesiedelt und von Ircano, Mirteo und Semiramide zu singen waren (Szenen 5 und 6 entfallen 1737).³⁴ Für diese drei Partien wird nun eine ensemblegeeignete Konfliktsituation geschaffen: die Konkurrenten Mirteo und Ircano wollen sich duellieren, und Semiramide versucht mit mäßigem Erfolg, sie zu beruhigen. Diese unterschiedlichen Interessen spiegeln sich in einer musikdramaturgisch treffenden ‚2 gegen 1‘-Konstellation der Beteiligten wider. Die einander ähnlichen Phrasen der Duellanten gipfeln in teils parallelen, teils sukzessiven Koloratur- bzw. Triller-Passagen über dem Wort „trionfar“: in ihrer kämpferischen Ab-

34 Das Terzett findet sich sowohl im italienisch-russischen Libretto von 1737 als auch in der Berliner Partitur; es kann demnach davon ausgegangen werden, dass es in Sankt Petersburg tatsächlich gesungen wurde. Die Londoner Partitur belässt es dagegen bei den ursprünglichen Szenen mit Einzelarien für die drei Personen: Ircano singt Saper bramate (der Text wurde sowohl von Vinci als auch von Araja 1731 für Neapel vertont) und Mirteo Amor che nasce (sonst nirgends auffindbar). Für Semiramide ist in dieser Partitur (wie bereits im Libretto für Neapel) Ritorna ai dì sereni vorgesehen, wobei der fälschliche Zusatz „Aria Talestri“ verrät, dass die Arie auch für die Sankt Petersburger Fassung von La forza dell’amore e dell’odio (2. Akt, 9. Szene) verwendet wurde. Diese Arie erscheint erstmals in Arajas Oper Ciro riconosciuto, aufgeführt im römischen Teatro alle Dame im Karneval 1731 (Sartori Nr. 5691, RISMNr. 452502252 und 800238807; vgl. Übersicht im Anhang). Der Text der zweiten Strophe weicht in Neapel und Sankt Petersburg von dem der römischen Erstfassung ab. Mit noch stärker modifiziertem Text (Felice ai dì sereni) wurde die Arie schließlich in einem Londoner Pasticcio verwendet und anschließend dort gedruckt; vgl. The Favourite Songs in the Opera call’d Orpheus, Walsh, London [1736], S. 5[– 7]: „Sung by Sig.ra Cuzzoni in Orpheus by Sig.r Araja“, Exemplare in Paris, Oxford, London, Berkeley, Cambridge (US), Seattle sowie im Museo internazionale e biblioteca della musica in Bologna (I-Bc), Signatur: DD.37 (online im Catalogo Gaspari: http://www.bibliotecamusica.it/cmbm/scripts/gaspari/).

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Abb. 11: Francesco Araja, Terzett Vieni a pugnar (2. Akt).

sicht sind sich Mirteo und Ircano auch musikalisch einig. Demgegenüber unterscheiden sich die Beiträge der besorgten Semiramide vor allem durch Ausweichungen in den moll-Bereich, wodurch ihre Betrübung über diese Eskalation zum Ausdruck gebracht wird; im gemeinsamen Gesang kann sich ihre ‚für sich‘ geäußerte Ratlosigkeit („Numi! Che deggio far!“) kaum gegenüber dem melismatischen Wechselgesang der vermeintlichen Triumphatoren behaupten (vgl. Abb. 11). Ihre verzweifelten Versuche, der Kampfeslust Einhalt zu gebieten, werden schließlich gegen Ende des B-Teils überdeutlich hörbar, wenn sie die Kadenz der beiden Konkurrenten mehr als einmal durch einen Trugschluss aufhält. Die Ausnahmestellung dieses durch die Kombination dreier verschiedener Stimmtimbren (Kastrat, weiblicher Sopran, Tenor) auch klanglich sehr reizvollen Ensembles wird einmal mehr durch die Beteiligung der Corni da caccia hervorgehoben. Selbige sind zum allerersten Mal in der Oper während des Marsches hörbar, der zum Einzug der Rivalen erklingt (1. Akt, 2. Szene) und mit dem eine Art Bühnenmusik simuliert wird.³⁵ Außerdem sind sie in allen drei Chören präsent, welche von Text und Partitur

35 So heißt es sowohl im Libretto der Uraufführung von Metastasios Semiramide-Text (mit Musik von Leonardo Vinci, Rom 1729) als auch in der neapolitanischen Fassung von 1731 (mit Musik von Araja): „[. . . ] preceduti dal suono d’istrumenti barbari passano il ponte Mirteo, Ircano e Scitalce col loro seguito [. . . ]“ (vgl. Libretti, S. 13 bzw. S. 9). Im Sankt Petersburger Libretto, welches normalerweise die Regieanweisungen der früheren Aufführungen recht wörtlich übernimmt, wird die Formulierung da-

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für besonders festlichen Momente vorgesehen sind. Bei dem ersten (2. Akt, 2. Szene) handelt es sich der Regieanweisung zufolge³⁶ um einen ‚echten‘ Chor, mit welchem nach Tamiris Wahl dem künftigen Paar – zu diesem Zeitpunkt scheint noch Scitalce der Bräutigam zu werden – gratuliert wird (Il piacer la gioia scenda). Bei den Chören der letzten Szene, mit denen der Königin Semiramide gehuldigt wird – eigentlich ein einziges Stück in ABA-Form, welches nach dem ersten A-Teil vom Rezitativ unterbrochen wird – wurden in der Partitur die Namen aller Protagonisten vor die Systeme geschrieben. Solche kleinbesetzten ‚Chöre‘, die nur aus den handelnden Personen bestanden, waren zu dieser Zeit eher die Regel als die Ausnahme; wenn wir allerdings aus Stählins bereits zitiertem Passus zur Inszenierung von La forza dell’amore e dell’odio³⁷ eine Mitwirkung vieler Choristen ableiten wollen, so könnte vermutet werden, dass in Sankt Petersburg auch bei der Aufführung des Finto Nino eine gleichfalls zahlreiche Beteiligung von Chorsängern vorgesehen war. Dies widerspräche dann aber Stählins zweifacher Behauptung in seiner Spätschrift, derzufolge erst 1742 bei der Aufführung von Hasses La clemenza di Tito (anlässlich der Krönung von Kaiserin Elisaveta) „zum erstenmal die Hof-Kirchensänger etliche und 50 an der Zahl angestellt, und also eine Choral-Musik bei der Oper eingeführt [wurde], dergleichen man, an Stärke und Menge auserlesener Stimmen, nicht leicht anderswo in Europa antrifft.“³⁸ Im Vergleich der beiden Opern hinterlässt die Durchsicht von Arajas Musik zu La forza dell’amore e dell’odio einen insgesamt ‚dynamischeren‘ Eindruck als die des in Sankt Petersburg später aufgeführten Finto Nino, ovvero La Semiramide riconosciuta, und dies trotz der eigentlich linearen, mitreißenderen und weitaus realistischeren Handlung der Metastasianischen Vorlage. Die Differenz könnte damit zusammenhängen, dass in beiden Fällen mehr als die Hälfte der Musiknummern aus Arajas Erstfassung der jeweiligen Oper herrührt. Diese geht im Falle der 1736 in Russland auf-

gegen in „preceduti da strumenti barbari“ (S. 16) abgeändert: könnte dies bedeuten, dass hier nicht nur der Klang der Instrumente, sondern auch diese selbst dem Einzug der Könige vorausgingen, also auf der Bühne eingesetzt wurden? Auszuschließen ist es jedenfalls nicht. 36 „In tanto sinfonia Choro e Ballo“ (vgl. Libretto 1737, S. 74). Die überlieferten Partituren sehen keine Ballettmusiken vor, was aber nicht bedeutet, dass es sie nicht gegeben hat; oft wurden im 18. Jh. zu diesem Zweck (vor allem zwischen den Akten) auch Musiken anderer Komponisten herangezogen. In der Tat heißt es im Libretto in der Regianweisung zu Beginn der Szene: „Semiramide, Tamiri, Mirteo, Scitalce. Preceduti da Ballerini, seguiti da Paggi Caualieri e detti.“ (Unterstreichung von mir). 37 Vgl. Stählin, Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 196 (s. Anm. 26). Natürlich ist anzunehmen, dass mit den „mehr als hundert Personen“ in erster Linie die Balletttänzer gemeint sind. 38 Vgl. Stählin, Nachrichten von der Musik in Rußland, S. 94. Siehe auch S. 59: „Bei der ersten OpernProbe fand ich gar zu lächerlich, dass der Kaiser Titus den vorkommenden Coro, oder Lobgesang auf seine Gütigkeit, mit seinem Vertrauten und den drei übrigen Personen (denn mehr Personen noch andre Sänger waren da nicht) selbst absingen sollte. Auf die Vorstellung dieser Unschicklichkeit befahl die Kaiserin, dass die Hofkapell-Sänger zum Orchester genommen werden, und die vorkommenden Cori absingen sollten. Das geschah.“

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geführten Forza dell’amore auf das Jahr 1734 zurück; seine erste Semiramide schrieb Araja dagegen schon 1731: sie liegt also in seiner stilistischen und kompositorischen Entwicklung schon etwas weiter zurück als die Erstfassung von La forza dell’amore e dell’odio. Ein Vergleich mit der dritten in Sankt Petersburg aufgeführten opera seria Arajas, Artaserse (1738) – hier scheint es sich um eine Neukomposition ohne Vorgänger-Fassungen gehandelt zu haben – bleibt uns bedauerlicherweise verwehrt, da sich von diesem Werk offenbar keine Partitur erhalten hat.³⁹ Können wir, ausgehend von Arajas hier untersuchten Werken und ihrem Aufführungsort, von einer ‚typisch russischen‘ Form der opera seria sprechen? Auch wenn die zwei ersten Opern Arajas in Sankt Petersburg als Neufassungen erklangen, unterscheiden sie sich in stilistischer und dramaturgischer Hinsicht kaum von einer zeittypischen Oper in Italien (übrigens auch nicht hinsichtlich der von der Partitur vorgeschriebenen Instrumentation⁴⁰). Es gibt also am Ende der 1730er Jahre noch keine italienische Oper Sankt Petersburger Prägung. Jacob von Stählins Beschreibungen lassen vermuten, dass es sich um visuell sehr eindrucksvolle, vielleicht auch vielen italienischen Bühnen überlegene Inszenierungen gehandelt haben könnte. Das musikdramatische und kompositorische Modell der opera seria wird jedenfalls in identischer Form von Italien nach Russland exportiert. Für diese Art von Kulturtransfer kann der Komponist Francesco Araja als eine wichtige Schlüsselfigur betrachtet werden.

1 Anhang: Struktur der Opern und Übersicht der Musiknummern Diese Synopsen basieren auf den für Sankt Petersburg eingerichteten Fassungen beider Opern. Titel, Zusammenfassungen der Handlung und Beschreibungen der Bühnenbilder wurden den bei der Druckerei der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften hergestellten zweisprachigen Librettodrucken von 1736 bzw. 1737 entnommen. Für die Transkription des russischen Textes ist der Autor Larissa Khalfina zu Dank verpflichtet. Die Angaben zur Musik der ersten Oper entstammen dem Manuskript der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (A-Wn), im Fall der zweiten

39 Das Repertorium RISM online (opac.rism.info) verzeichnet unter Nr. 190002139 lediglich Rezitativ und Arie für Sopran und Orchester Eccomi alfine Pallido il sole. 40 Was die Anzahl der Instrumentalisten betrifft, so spricht Stählin 1770 von der Mitwirkung von „etlich und 40 Personen von den obgemeldeten Virtuosen und Kammer-Musicis“ (Nachrichten von der Musik in Rußland, S. 90): demnach dürfte das Orchester größer gewesen sein als in vielen Theatern Italiens. In seiner früheren, den Aufführungen zeitlich näher stehenden Schrift ist allerdings von „ungefehr aus 30 Personen“ (darunter sowohl viele Italiener als auch Deutsche) die Rede (Versuch einer Historischen Abhandlung, S. 191).

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Oper der Handschrift in der Staatsbibliothek Berlin (D-B); auf die wenigen Abweichungen des Manuskriptes der Londoner British Library (GB-Lbl) wird in Klammern hingewiesen. Mit einem * sind diejenigen Musiknummern gekennzeichnet, die Araja erstmals für die Sankt Petersburger Fassung der jeweiligen Oper vorgesehen hat. Die Grundtonart steht dann in eckigen Klammern, wenn sie nicht in am Systembeginn so vorgezeichnet ist, sondern sich aus den Vorzeichen der einzelnen Takte ergibt. Tab. 3: La forza dell’amore e dell’odio LA FORZA DELL’AMORE E DELL’ODIO Drama per ordine della Sacra Imperial Maestà di ANNA GIOVANNONA Imperatrice di tutte le Russie Da rappresentarsi Nell Nuovo Imperial Teatro Di St. Pietroburgo Nell Anno 1736 S. Pietroburgo Nella Stamperia dell’Academia delle Scienze ARGOMENTO Abiasare essendo Gouernatore di Beziera città al fiume Coaspe per parte di Sofite Ré dell’Indie, sposò Nirena Figlia del detto Sofite senza saputa del Padre, mentre Essa ritornaua alla Reggia paterna Vedoua d’Oxiatre defonto Ré de Mexicani. Adirossì Sofite per queste Nozze: mà finalmente si placò, concedendo ad Abiasare la Figlia, e per dote il Regno di Beziera; Si finge, che Sofite facesse venire in suo aiuto Barzante Ré oltre il fiume Idaspe, al di cui Nipote Taxile auesse già destinata Nirena per moglie, dand[o]si principio al Drama coll[’] assedio, e mossa dell’armi di Sofite contro Abiasare &c.

СИЛА ЛЮБВИ И НЕНАВИСТИ ДРАМА НА МУЗЫКЕ Представленная На новом Санктпетербургском Императорском ТЕАТРЕ по указу ЕЯ ИМПЕРАТОРСКОГО ВЕЛИЧЕСТВА АННЫ ИОАННОВНЫ САМОДЕРЖИЦЫ ВСЕРОССИЙСКИЯ 1736 печатано в Санктпетербурге при Императорской Академии Наук СОДЕРЖАНИЕ ВСЕЙ ДРАМЫ А Биазар, будучи Губернатором в столичном городе Безиер, царства, лежащего при реке Коаспес, от Софита, Индийского царя, женится тайным образом на Нирене, дочери своего государя в то самое время, как она возвращалась ко двору своего отца, оставшись вдовою по смерти мужа своего Оксиатра Мексиканского Царя. Софит, разгневавшись за сие, и желая казнить Абиазара за его толикую продерзость, призывает в помощь Барзанта, царя в той части Индии, которая лежит за рекой Гудаспом, за которого племянника, именем Таксила, обещал было он отдать вторым браком Нирену. Барзант и Таксил прибыли в тот самый день, в который Софит намерился учинить генеральный приступ к городу Безиеру, в котором Абазар сидел. Сим и начинается действие всей драмы.

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Art der Musiknummer und mitwirkende Person(en)

Textincipit der Musiknummern *= neu für Sankt Petersburg

Atto I Accampamento militare: da un Lato mura di Città alle sponde del Fiume Coaspe: sopra le mura Soldati disposti alla discesa, con diverse machine guerriere &c. Ponte pratticabile con Porta della detta Città; in prospetto diverse Colline fortificate &c. Aria Merindo Sinfonia [militare]

Allegro e con spirito Andante ma non presto

C; D-Dur C/; G-Dur

Кабинет внутри Царских палат у Абиазара, и прочая.

Aria Abiazare Aria Talestri Aria Barzante

*Care luci io partirò Amico, Tiranno Nocchier, che con timore

Aria Sofite Aria Taxile

Pensa, ch´io ti son padre *Non disperi pellegrino

Aria Nirena

*Infelice invan mi lagno

Giardino delizioso con varie fontane, grottesche etc. Aria Sofite

Сад с приятными фонтанами, и прочая.

Duetto (Abiasare, Nirena)

Prendi l´estremo addio

*Leon distruggi altero

Atto II Grande anfiteatro cinto di varie loggie, per le quali si sparge il Popolo. In Prospetto arco Trionfale, che serve d’ingresso nel detto Anfiteatro, da un lato magnifico Trono vicino al quale si vede un simulacro d’oro rappresentante Ercole col suo piedistallo cinto all’intorno da diverse armi, bandiere et altre Spoglie.

Takt und Tonart

действие первое Театр показывает воинский лагерь, с другой стороны стены городские при реке Коаспес, на стенах многих Солдат готовых к защите города со многими военными орудиями; так же подъемный мост при городских воротах; а в дали многие маленькие холмики.

All’armi alla vendetta

Gabinetto nell’interno della Reggia d’Abiasare ornato &c. con da una Parte, Sedia e Tavolino.

Tempobezeichnung

Larghetto Allegro Andante spiritoso Andante Andante e non presto Andante e non presto

Allegro assai e staccato Andante giusto

3/8; A-Dur 2/4; G-Dur C/; C-Dur C/; B-Dur C/; G-Dur C/; A-Dur

2/4 [C]; D-Dur C/; G-Dur

действие второе Театр показывает пространный Амфитеатр, окруженный Галереями, в которых народ садится; в проспекте видны триумфальные ворота, через которые приходят в амфитеатр. С одной стороны видится трон, богато убранный, близ которого стоит золотая статуя, показывающая Геркулеса. Пьедестал ее украшен многими оружиями, знаменами, и прочая.

160 | Roland Pfeiffer

Sinfonia Aria Abiasare

Aria Nirena Aria Taxile

Aria Barzante Aria Sofite

*Ecco alle mie catene

Ch´io doni il core a te *Cadrò, ma qual si mira [ursprünglich aus Berenice, 1730] Sarò riparo al fier torrente *A questo seno ritorni

Cortile all’intorno fortificato con cancelli, ed altri ripari, in prospetto luogo forte ad uso di carcere con porta in mezzo. Aria Talestri

Arioso Abiasare Aria Merindo

C; D-Dur 3/8 – C – 3/8; B-Dur 2/4; A-Dur 2/4; G-Dur

Allegro

2; E-Dur C; B-Dur

Театр показывает двор, окруженный балясами, а в проспекте видится некоторый род темницы с дверями посередине.

*Ritorna ai dì sereni [ursprünglich aus Ciro riconosciuto, 1731; auch im neapolitanischen Libretto von 1731 und im Londoner Ms. der Semiramide: vgl. Anm. 34] Larve che a me d´intorno *Di giusto sdegno acceso

Galleria tutta ornata di statue rappresentanti le Province sogette all’Impero di Sofite: all’intorno diverse Battaglie scolpite in bronzo.

Allegro Allegro – Larghetto – Allegro Allegro Allegro

Allegretto

3/8; F-Dur

Larghetto

C; [Es-Dur ] 3/8; F-Dur

Театр показывает Галерею, украшенную многими статуями, изображающими подданные провинции Империи Софитовой; а кругом изображены разные баталии.

Aria Nirena

Vado a morir

Larghetto

Aria Sofite Aria Taxile

*Chi provato a la procella *Colle procelle in seno

Allegro

Atto III Vasta campagna alle sponde del Fiume Coaspe, ai lati della campagna discesi in longo ordine le tende, et accampamento de Soldati di Barzante, nel mezzo della gran piazza l’esercito schierato in uso di Battaglia. A suo loco disposti si veggono gl’Elefanti colle loro Torri ripiene d’arcieri, et in mezzo la statua d’Ercole, con l[’]insegne e bandiere militari &c.

6/8; [f-moll] C; G-Dur C/; D-Dur

действие третье Театр показывает великое поле при берегах реки Коаспес; при которой по обеим сторонам видится лагерь Барзанта, а его войско, стоящее в строю купно со слонами с башнями. Посередине Статуя Геркулесова с изображениями и знаменами воинскими.

Ein Neapolitaner in Sankt Petersburg: Francesco Arajas frühe Opernproduktionen | 161

Aria Abiasare Quartetto (Taxile, Abiasare, Sofite, Barzante) Aria Talestri Steccato fitto ad uso di carcere, chiuso all’intorno con cancelli di ferro etc. Aria Nirena Aria Taxile Aria Nirena

O su ´l soglio, o in campo armato Non mi spaventa il tuo furore Voglio stragi, e morte voglio Театр показывает ограду темничную всю окруженную железными балясинами. In sí crudel tormento *S´è ver che t´accendi Scherza la pastorella

Luogo magnifico nella Reggia con logie [!] etc. Coro

Andante

C/; C-Dur

Allegro e con spirito Allegro assai

2/4 [C]; D-Dur 3/8; F-Dur

Andante Allegretto

C; A-Dur 3/8; B-Dur 3/8; F-Dur

Место, богато убранное в Царской палате.

Viva amore, e la sua face

3/8; D-Dur

162 | Roland Pfeiffer

Tab. 4: Il finto Nino, ovvero la Semiramide riconosciuta. Art der Musiknummer und mitwirkende Person(en)

Textincipit der Musiknummern *= neu für Sankt Petersburg (vgl. Anm. 28)

Tempobezeichnung

Takt und Tonart

Atto I

действие первое

Gran Portico del Palazzo Reale corrispondente alle Sponde dell’Eufrate. Trono da un lato, alla sinistra del quale un Sedile più basso per Tamiri in faccia al sudetto Trono tre alteri Sedili. Ara nel mezzo con simulacro di Belo deità dei Caldei. Gran Ponte praticabile con Statue. Navi sul fiume. Vista di tende e Soldati sull’altra Sponda.

Великии сии палаты Королевские проходные на берегу реки Ефрата, престол в одной стороне, а по левую сторону того один стул стоящий ниже для Тамиры, а против того престола другие три cтула, Алтарь посреди со статуей белой бога Халдейского, великий мост переходный со статуями; корабли на реке, видность лагерей и солдат на другом берегу.

Marcia Aria Semiramide Aria Scitalce

Non sò se più t’accendi Vorrei spiegar l’affanno

Aria Tamiri Aria Ircano

Che quel cor, quel ciglio altero *Amar voglio a mio talento

Aria Mirteo Giardino. Aria Sibari

Bel piacer faria d’un core Театр показывает сад. Come all’amiche arene

Aria Scitalce

Se intende si poco

Aria Semiramide Aria Ircano Aria Mirteo

*Voi non sapete quanto Talor se il vento freme *La tortora innocente

Atto II Sala reggia illuminata in tempo di notte: Varie credenze intorno con Vasi trasparenti, Gran Mensa imbandita nel mezzo con quattro sedili intorno ed una sedia in faccia.

Allegretto Andante e non Presto Allegretto Allegretto e non presto Larghetto Allegro ma non presto Andante spiritoso Allegretto Allegro Andante spiritoso

C/; G-Dur C; A-Dur C/; B-Dur 3/8; C-Dur 2/4; G-Dur C/; A-Dur 3/8; B-Dur C; F-Dur 2/4; E-Dur C; D-Dur C 2; [f-moll]

действие второе Зал королевский со многими свечами во время ночи, разные поставцы, а кругом многие кубы, сквозь которые видно, великий стол с кушанием в середине с четырьмя стульями в круг, да один стул против того стола.

Ein Neapolitaner in Sankt Petersburg: Francesco Arajas frühe Opernproduktionen | 163

Coro Aria Tamiri Aria Scitalce Terzetto (Mirteo, Semiramide) Ircano)

Aria Sibari Aria Ircano Aria Mirteo Aria Tamiri

Il piacer, la gioia scenda Tu mi disprezzi ingrato Voi, che le mie vicende *Vieni a pugnar [im Londoner Ms. stattdessen drei Arien; vgl. Anm. 34] Театр показывает апартаменты подземные. Vieni: che poi sereno *Al fin restate in pace *Siete barbare amate stelle *All´idol mio narra

Aria Semiramide Aria Scitalce

*Tradita, spezzata *Gemo in un punto

Gabinetto

Atto III Campagna su le rive dell’Eufrate con navi che sono incendiate mura de’ Giardini reali, con cancelli aperti.

Allegro Allegretto Largo Andante giusto Presto Allegro

3/8; D-Dur 3/4; F-Dur C; Es-Dur C; D-Dur

C; G-Dur 3/8; A-Dur C; B-Dur 3/8; A-Dur C/; [f-moll] C; D-Dur

действие третье Театр показывает поле близ берега реки Ефрата с кораблями заженными, стена вокруг садов Королевских, с одной сторон решетки отперты.

Aria Ircano

*Tu mi disarmi il fianco

Aria Mirteo [nur im Londoner Ms.; vgl. Anm. 20] Aria Sibari

Cadrò, ma qual si mira [ursprünglich aus Berenice, 1730] Quando un fallo è strada al Regno

Gabinetti reali

Presto Presto Allegro

Andante ma non presto Allegro

C; G-Dur

Allegretto

C; G-Dur

2/4; G-Dur

Театр показывает кабинет королевский

Aria Semiramide

Fuggi dagl’occhi miei

Aria Scitalce Aria Tamiri

Odi quel fasto? *Dall´alma mia costante

Aria Mirteo

*Ad altro laccio

Anfiteatro con i cancelli chiusi dai lati e Trono da una parte.

Allegro assai – Larghetto – Allegro assai Andante Tempo giusto Allegretto

3/8 – C – 3/8; Es-Dur

3/8; D-Dur 12/8; G-Dur C/; B-Dur

Театр показывает Амфитеатр с решетками запертыми, и престол в одной стороне.

Arioso Semiramide

Fra tanti affanni miei

Coro Coro

Viva lieta, e sia Regina Donna illustre il ciel destina

Andante e non presto

C; F-Dur 3/8; D-Dur 3/8; D-Dur

Anna Giust

Die Rezeption der italienischen opera seria von Anna I. bis zu Katharina II. Lange Zeit wurde die Geschichte des russischen Musiklebens als eine Geschichte der italienischen Musik in Russland betrachtet. Die russische Musikgeschichte schien in zwei Epochen zu zerfallen: Vor und nach dem kompositorischen Werk von Michail Glinka. Er galt als Begründer der russischen Musik zu einer Zeit, als der Hof, wie es schien, immer noch „ausschließlich die italienische Musik förderte“.¹ Diese traditionelle Sichtweise wurde von europäischen Musikkreisen fast kritiklos übernommen, vermittelt durch herausragende Werke der historischen Musikkritik wie La musique en Russie von César Cui (Paris 1880), The Russian Opera von Rosa Newmarch (London 1914) und Masters of Russian Music (von Michel Dimitri Calvocoressi und Gerald Abraham, London/New York 1936) und A Survey of Russian Music von Michel Dimitri Calvocoressi (Harmondsworth 1944).² Ihre Verfasser übernahmen die Sicht Vladimir Stasovs auf das Musikleben. Dieser hatte festgestellt: Die wenigen Versuche und Probestücke der dilettantischen Komponisten (Fomin, Nikolaev, Matinskij, Pašskevič, Kavos, Aljabev, Verstovskij und andere) aus der Zeit Katharinas, Pauls, Alexanders und Nikolajs waren völlig unbedeutend, schwach, farblos und stümperhaft. Diese Leute versuchten nur die Ausländer nachzuahmen, weshalb ihnen selbst niemals etwas gelang. Die russische Oper war blass, dürftig und kraftlos, Instrumentalmusik fehlte völlig.³

Nach dieser traditionellen Ansicht gab bis zum Auftreten des russischen Komponisten Glinka und der Aufführung seiner Opern Das Leben für den Zaren (Žizn󸀠 za carja, 1836) und Ruslan und Ludmila (Ruslan i Ljudmila, 1842) ausschließlich die italienische Musik den Ton an, die auf der Bühne durch die opera seria und die opera buffa reprä-

Übersetzt von Lorenz Erren und Isabelle de Keghel. 1 Michel D. Calvocoressi, Panorama della musica russa. Milano 1947, S. 25 2 César Cui, La musique en Russie. Paris 1880; Rosa Newmarch, The Russian Opera. London 1914. Michael D. Calvocoressi/Gerald Abraham, Masters of Russian Music. London/New York 1936; Michael D. Calvocoressi, A Survey of Russian Music. Harmondsworth 1944. 3 Vladimir V. Stasov, Iz knigi „Izkusstvo XIX veka“, in: Stat󸀠 i o muzyke. Vyp.5. Moskva 1980, S. 61. Stasov versuchte, das musikalische Erbe Glinkas zu überhöhen, um die Überlegenheit seiner Musik und der „Gruppe der Fünf“ herauszustreichen. DOI 10.1515/9783110520224-012

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sentiert wurde.⁴ Solche Einschätzungen trugen dazu bei, dass lange Zeit wenig über das Musik- und Theaterleben im Russland des 18. Jahrhunderts geschrieben wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Musikwissenschaftler, sich für das Musikleben Russlands vor Glinka zu interessieren, zunächst unter historischem, dann auch unter ästhetischem Aspekt. Bald veröffentlichten Musikwissenschaftler wie Nikolaj Findejzen, Stepan Smolenskij und Aleksandr Ossovskij ihre Forschungsarbeiten in der Russischen Musikzeitung (Russkaja muzykal󸀠 naja gazeta) und in der Zeitschrift Der musikalische Zeitgenosse (Muzikal󸀠 nyj sovremennik).⁵ Von 1940 an fanden die Musikwissenschaftler der Gruppe um Boris Asaf󸀠 ev die Tendenz zu einem objektiveren (wissenschaftlicheren) Zugang zur Epoche des russischen Musiklebens, die Glinkas Schaffensperiode vorausging.⁶ In den 1950er und 1960er Jahren erschien eine Reihe von einschlägiger Monographien, etwa Das russische Musiktheater von seinen Anfängen bis Glinka von Abram Gozenpud und Russische Musikdrucke des 18. Jahrhunderts von Boris Vol󸀠 man.⁷ Die ‚Entdeckung‘ des russischen Erbes aus dem 18. Jahrhundert in den siebziger Jahren führte zur Renaissance solcher Werke wie Le fils rival von Bortnjanskij, Die Kutscher auf der Poststation (Jamščiki na podstave) und Orpheus und Eurydike (Orfej i Evridika) von Fomin, die damals im Moskauer Glinka-Museum für Musikkultur aufgeführt wurden. Le foucon von Bortnjanskij und Der Geizige (Skupoj) von Paškevič wurden vom Moskauer Kammermusiktheater aufgeführt. Die Partituren dieser Werke erschienen in der Serie Denkmäler russischer Musikkunst. (Pamjatniki russkogo muzykal󸀠 nogo iskusstva).⁸ In den 1980er Jahren richtete die Musikwissenschaft ihre Aufmerksamkeit

4 Sogar der Titelgebung von Lehrbüchern lag dieses Schema zugrunde, wie etwa bei Abram A. Gozenpud, Muzykal󸀠 nyj teatr v Rossii. Ot istokov do Glinki, Leningrad 1959) und Aleksandr S. Rabinovič, Russkaja opera do Glinki. Moskva 1948. 5 Das bekannteste Werk dieser Generation von Musikwissenschaftlern ist der Zweibänder von Nikolaj Findejzen, Očerki po istorii muzyki v Rossii s drevnejšich vremen do konca XVIII veka.Tt.1–2. Moskva 1928–29, dessen zweiter Band ausschließlich dem 18. Jahrhundert gewidmet ist. 6 Dieser Ansatz lag etwa einer dreibändigen Chrestomatie zugrunde, die vom Professor des Leningrader Konservatoriums, Semen L. Ginzburg, herausgegeben wurde: Istorija russkoj muzyki v notnych obrazcach, Moskva/Leningrad 1940–1949. In diesem Werk ediert er Noten, die sich aus jener Zeit erhalten haben, und stellt sie in Begleittexten vor. Derselbe Autor publizierte auch: Russkij muzykal󸀠 nyj teatr 1700–1835. Chrestomatija. Leningrad/Moskau: Iskusstvo 1941. Seiner Generation sind auch die Werke zuzurechnen: Rabinovič, Russkaja opera do Glinky (Anm.4) und Tamara N. Livanova, Russkaja muzykal󸀠 naja kul󸀠 tura XVIII veka v ee svjazi s literaturoj, teatrom i bytom. Moskva 1952–1953. In letzterem wird die Musik gemeinsam mit der Literatur und dem Drama behandelt. 7 Abram A. Gozenpud, Muzykal󸀠 nyj teatr vo Rossii. . . ; Boris L. Vol󸀠 man, Russkye notnye izdanija XIX – načala XX veka, Neuauflage Leningrad 1970. Jurij V. Keldyš publizierte 1965 sein Werk Russkaja muzyka XVIII veka. Moskva 1965), das die Themen des musikalischen Stils, des Genres, der künstlerischen Richtungen und Persönlichkeiten behandelte und dabei bestrebt war, die russische Musikkultur in den allgemein europäischen Kontext einzuordnen. Mit diesem neuen Ansatz wollte er allmählich die alte Tendenz überwinden, diese Gegenstände isoliert zu betrachten. 8 Pamjatniki russkogo muzykal󸀠 nogo iskusstva. V 12 vypuskach. Moskva 1972–88.

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auf diejenigen Tendenzen russischer Musikwerke, die sie in ästhetischer, nicht politischer, Hinsicht für fortschrittlich hielt. In der Folge maß die Geschichtsschreibung der italienischen Musik weniger Bedeutung bei. Neben autonomen und lokalen Zügen des russischen Musiklebens wurde aber nach wie vor die Bedeutung fremder Einflüsse hervorgehoben. Unter den jüngsten Forschungen ist die Enzyklopädie Das musikalische Petersburg zu nennen, die vom Russländischen Institut für Kunstgeschichte in St. Petersburg redigiert wurde,⁹ ebenso die von Ljudmila M. Starikova zusammengestellten Bände über das Theaterleben in Russland unter den Zarinnen Anna und Elisabeth. In ihnen wurden Originalquellen in verschiedenen russischen Archiven zusammengetragen und in eine systematische Ordnung gebracht. Diese Werke stehen der Forschung jetzt als bequemes Hilfsmittel zur Verfügung.¹⁰ Im Westen hat der Schweizer Gelehrte Robert-Aloys Mooser einige wertvolle Arbeiten publiziert: L’opéra-comique français en Russie au XVIIIe siècle (Genf/München 1932), Opéras, intermezzos, ballets, cantatas oratorios joués en Russie durant le XVIIIe siècle (Genf 1945) und die dreibändigen Annales de la musique et des musiciens en Russie au XVIIIe siècle (Genf 1948–51), nebst einer Reihe monographischer Artikel über Musikanten, die am russischen Hof gedient haben. Dies ist ein für das letzte Jahrhundert fast einzigartiges Beispiel eines westlichen musikwissenschaftlichen Werks, das dem Musikleben Russlands im 18. Jahrhundert gewidmet war. Darum kann man behaupten, dass die Musik vor Glinka außerhalb Russlands lange Zeit praktisch unbekannt war. Außerdem studierte und arbeitete Mooser in St. Petersburg, so dass man ihn in gewisser Weise ebenfalls als Vertreter der russischen Musikwissenschaftstradition betrachten kann. In seinen Arbeiten findet man eine Fülle von Information über viele Künstler (Musikanten, Sänger, Librettisten und Bühnenbildner), die seit Peter dem Großen bis zu Paul I. an den Hoftheatern wirkten. Die Wirksamkeit der traditionellen Auffassung von der Geschichte des russischen Musiklebens hat auch auf das Bild abgefärbt, das man sich von der Tätigkeit der ausländischen Künstler in Russland machte – also derjenigen, denen die dominierende Stellung zugeschrieben wurde. Die Idee vom Vorrang der italienischen Musik am russischen Hof entsprach gewissermaßen den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Kreise in dieser Hinsicht. Entsprechend viel Arbeit blieb Forschern, die sich mit der Rezeption ausländischer Vorbilder in Russland befassen, noch zu tun übrig. Insbesondere über die zeitgenössische Rezeption der italienischen Musik im Russland des 18. Jahrhunderts ist bislang wenig geschrieben worden. Das hängt nicht nur mit dem

9 Anna L. Porfir󸀠 eva, (Hrsg.): Muzykal󸀠 nyj Peterburg. Enciklopedičeskij slovar󸀠 v 7 tomach. SanktPeterburg 2000–2002 10 Teatral󸀠 naja žizn󸀠 Rossii v epoche Anny Ioannovny. Dokumental󸀠 naja chronika 1730–1740. Vyp. 1, Moskva 1995; Teatral󸀠 naja žizn󸀠 Rossii v epoche Elizavety Petrovny: dokumental󸀠 naja chronika 1741– 1750“. Vyp.II, čast󸀠 I-II, Moskva 2003–2005. Teatral󸀠 naja žizn󸀠 Rossii v epoche Elizavety Petrovny: dokumental󸀠 naja chronika 1751–1761, vyp. III., čast󸀠 I. Moskva 2012

Die Rezeption der italienischen opera seria von Anna I. bis zu Katharina II. |

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Fortwirken besagter Sichtweise auf die russische Musikgeschichte in Russland zusammen, sondern auch mit der schlechten Überlieferung von Quellen zum russischen Musikleben des 18. Jahrhunderts. Man kann die Situation nicht mit der in anderen europäischen Länder vergleichen, die zur selben Zeit über ein ähnlich lebendiges Musikleben verfügten. Ol󸀠 ga Levaševa zufolge wurden musikalische Quellen in russischen Archiven oft nicht mit der nötigen Sorgfalt oder nur unvollständig bewahrt. Ein großer Teil der Werke aus der Zeit Katharinas ist verschollen, und aus der ersten Jahrhunderthälfte ist kaum etwas übriggeblieben. Levaševa macht für diese Nachlässigkeit die Monarchie verantwortlich, in der die Musik nur dem Alltagsgebrauch dienen sollte und nicht als bewahrenswert galt. Wie auch Komponisten in Libretti nur selten namentlich erwähnt wurden, und Noten nur durch Zufall im Archiv erhalten blieben.¹¹ Aus dieser Position hört man die sowjetische Voreingenommenheit gegenüber der imperialen Epoche heraus: betont wird die schlechte soziale Lage der Musikanten und die Vernachlässigung der Musik im kulturellen Leben. Tatsächlich waren Musiker damals mit Ausnahme italienischer maestri als Lakaien angestellt;¹² aber das war keine russische Besonderheit, sondern die unterm Ancien Régime in ganz Europa übliche Anstellungspraxis von Musikanten – zumindest bis zu dem Moment, in dem sich die Idee des Schöpfertum des Künstlers in der Kunstwelt durchsetzte. In Italien – einem Land, aus dem eine enorme Anzahl von Künstlern nach Russland berufen wurde, um den Zarenhof zu unterhalten – existiert bis heute keinerlei systematische Forschung zum Thema der Rezeption der italienischen Oper im Russland des 18. Jahrhunderts. Moosers Artikel in der Zeitschrift Rivista musicale italiana kamen dem Thema relativ am nächsten – doch handelte es sich bei ihnen um monographische Forschungen zu verschiedenen Musikanten, aber nicht zum Thema der Rezeption. So besteht die allgemeine und dabei sehr vage Vorstellung weiterhin fort, der zufolge die italienische Oper und italienische Komponisten, wie Araja, Galuppi, Paisiello, Cimarosa, Traetta und andere die russischen Bühnen völlig beherrscht hätten. Es stimmt zwar, dass sie zur Unterhaltung des Zarenhofs nach Russland eingeladen wurden, und, oftmals von den Zarinnen reich beschenkt, ihre die Heimat zurückkehrten. Doch obwohl die italienische Oper zweifellos erfolgreich war, so kann ein näherer Blick auf die Werke, die am russischen Hof unter Anna, Elisabeth und Katharina, aufgeführt wurden, ein genaueres Bild von der Publikumsrezeption vermitteln. Wobei der Begriff „Publikum“ zunächst genauer bestimmt werden muss, zumal die

11 Ol󸀠 ga E. Levaševa, Vvedenie, in: Keldyš, Jurij V. (Hrsg.), Istorija russkoj muzyki. XVIII vek. Čast󸀠 pervaja, Tom 2, Moskva: Muzyka 1984, S. 9 12 Levaševa, Vvedenie, S. 10.

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Rezeption der opera seria unmittelbar von der Aufführungspraxis abhing. Der vorliegende Artikel ist dieser Frage gewidmet. Die ersten Opern wurden in Russland in den 1730er Jahren aufgeführt, als Zarin Anna I. italienische Schauspieler einlud, die bis dahin am Hof des polnischen Königs Augusts des Starken gedient hatten. Die ersten Ensembles zeigten Zwischenspiele, von denen nur Titel oder Programmzettel überliefert sind. Die erste Truppe führte 1731 die Oper Calandro nach einem Libretto von Stefano Benedetto Pallavicino auf, das der Musik von Giovanni Alberto Ristori unterlegt wurde. Dies gilt als die erste Opernaufführung in Russland überhaupt. Nachdem in den Jahren 1731 und 1733 zwei in Moskau Truppen gastiert, aber keinen ständigen Spielbetrieb aufgenommen hatten, gründete Anna 1734 schließlich eine dauerhaft am Hof angestellte Operntruppe unter dem Namen „italienische Kompanie“. Ihr Ensemble wurde auf Wunsch des Hofes vom Geiger und Sänger Pietro Mira in Italien zusammengestellt. Gemeinsam mit diesen Künstlern gelangte als ihr erster Kapellmeister auch Francesco Araja an den russischen Hof, um hier die berühmte italienische Operntradition zu begründen. Die Aufführungen fanden im Winter im Palast und im Sommer im Holztheater des Sommergartens statt. Mit der Gründung eines Musiktheaters entwickelte sich auch der Fachwortschatz zur Bühnenpraxis. Es ging darum, Begriffe für neue Aufführungstypen zu finden und diese der kritischen Reflexion zugänglich zumachen. Die russische Sprache wurde um Fachbegriffe bereichert, überwiegend um aus dem Deutschen übersetzte Begriffe und Komposita wie: „Schau-Spiel“ (russ: „pozoriščnye igry“), „Tragödie, Kömödie“ („tragedija, komedija“) wie auch „Trauer-“ und „Lust-Spiel“ („pečalnaja/uveselitel󸀠 naja igra“); die „Mittelform“ zwischen ihnen („posredstvennye rody pozoryščnych igor“), „Auftritte“ („osoblivye dejstvija“) oder „Akte“ („aktusy“); das „Vorspiel“ („vstuplenie“), die Exposition („učreždenie“), die Katastrophe („uničtoženie“) und die „Auflösung“ („razrešenie“); der „Handlungszustand“ („sostojanie priključenija“), die „Übereinstimmung“ („soglasie“) und die „Einheit von Zeit, Raum und Handlung“ („edinstvo“ vremeni, mesta i „dejstvija“); „sprechende Personen“ („govorjaščie persony“) oder einfach nur „Personen“ („persony“). Diese Lexik spiegelt das Bedürfnis wieder, das neue Phänomen zu erfassen und in frühen kritischen Traktaten darüber zu reflektieren. Aus demselben Bedürfnis entstand der von Akademiemitglied Strube de Piermont verfasste Abriss „Vom Nutzen der theatralischen Aufführungen und der Komödie, zur Beherrschung der menschlichen Leidenschaften.¹³ Der Dichter Kantemir fügte in seine Werke ebenfalls Verweise auf die Oper ein, die als „lebendiges Abbild einer wichtigen Sache“ bestimmte.¹⁴ Dies ist das bislang einzi-

13 Primečanija na vedomosti za 1739 god, Čast󸀠 85. Strube de P󸀠 ermon, O pol󸀠 ze teatral󸀠 nych dejstv i komedij, k vozderžaniju strastej čelovečeskich, in: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 , . . . 1730–1740, Nr. 330, S. 577–581. 14 Antioch D. Kantemir, Razgovory o množestve mirov gospodina Fontonella Parižskoj akademii nauk sekretarja, s franzuzskogo perevel i potrebnymi primečanijami iz󸀠 jasnil knjaz󸀠 Antioch Kantemir v Moskve 1730 godu. In: A. Efremov (Red.), Sočinenija, pis󸀠 ma i izbrannye perevody knjazja Antiocha Dmitrieviča Kantemira, Tom 2, Sankt-Peterburg 1869, S. 403.

Die Rezeption der italienischen opera seria von Anna I. bis zu Katharina II. |

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ge Detail, welches die Oper vom dramatischen Theater unterscheidet: „im Schauspiel reden die Darsteller nur, aber in der Oper tun sie es singend (pojuči). [Hervorhebung durch die Autorin]“¹⁵ Einen ähnlichen Gedanken drückte Jacob Stählin in seinem Versuch einer historischen Abhandlung von der Opera aus, in der er schrieb, . . . dass die Oper eine Theateraufführung solcher Art ist, die von singenden Personen dargestellt wird, und dass in ihr nicht nur das Ohr durch den ständigen Zusammenklang der singenden Stimmen mit der Instrumentalmusik, sondern auch das Auge durch die scharfsinnige Inszenierung von Maschinen auf ganz außerordentliche Weise erfreut wird, wovon zu erzählen sich heutzutage fast schon erübrigt.¹⁶

Zur selben Zeit ergänzt der Memoirist, dass die Oper sich „von anderen regelkonformen Theateraufführungen, namentlich der Tragödie und Komödie, sowohl durch ihren Namen und ihre Absicht unterscheidet, wie auch durch den Inhalt und die Aufführung“. Weiter vergleicht er verschiedene Bühnengenres nach Inhalt und Funktion: Oper heißt die Darstellung der Handlung durch Gesang; Tragödie das Trauerspiel; und die Komödie ist das lustige Spektakel [. . . ] von diesen beiden Formen des Schauspiels unterscheidet sich die Oper gänzlich. Außer Göttern und tapferen Helden duldet sie niemanden auf der Bühne. Alles an ihr ist vornehm, großartig und wunderbar. In ihrer Handlung kann es nichts geben als hohe und unvergleichliche Handlungen, göttliche Eigenschaften bei Menschen, sie zeigt eine glückliche Welt im wahrhaft goldenen Zeitalter. Zur Darstellung des ersten Zeitalters der Welt und der Gnade des unverdorbenen Menschengeschlechts treten in ihr manchmal glückliche Schäfer und vergnügte Schäferinnen auf. Durch ihre gefälligen Lieder und artigen Tänze zeigt sie das Vergnügen der freundschaftlichen Geselligkeit unter gutartigen Menschen. Mit ihren raffinierten Maschinen zeigt sie uns am Firmament die Größe und Schönheit des Alls; auf der Erde die Kraft und Stärke, die Menschen bei der Belagerung von Städten an den Tag legen; auf der stürmischen See die Angst und mehr noch die dumme, dreiste Widerwärtigkeit, und durch den Sturz des Phaeton den sinnlosen Stolz. Der leidenschaftliche Ausdruck der Rede findet mit Hilfe der Musik zur höchsten Vollendung; und der Klang erweckt durch die Blasinstrumente bei den Zuhörern dieselben Gefühle, die sich zugleich vor ihren Augen auftun.¹⁷

Der anonyme Artikel Von Schauspielen oder Komödien und Tragödien, der 1733 in den Anmerckungen über die Zeitungen erschienen ist, enthält kritische Fragen zur Aufführungssprache der Oper: Die „höfische Sprache“ im Munde der „sprechenden Personen“, der Griechen, Römer und anderer Völker wird vom Autor (also vermutlich Stählin selbst) als Einbuße an Realitätsnähe wahrgenommen:

15 Kantemir, Sočinenija, Tom 2, S. 403. 16 Jakob Štelin [Jacob von Stählin], Istoričeskoe opisanie teatral󸀠 nogo dejstvija, kotoroe nazyvaetsja opera, in: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1730–40. Nr. 327, S. 533. (Übersetzt aus dem Russischen – der deutsche Originaltext lag nicht vor. Anm. d.Übers.). 17 Štelin [ Stählin], Istoričeskoe opisanie, S. 533.

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Selbst ihre Reden und Äußerungen ihrer Gedanken entsprechen möglichst dem Stand und der Geisteshaltung der Figuren, wobei auch zu beobachten ist, dass ihre Reden allzeit klug und passend wirken, während in der Handlung selbst doch wohl oft Reden geführt wurden, die weniger geschliffen klangen oder zum Zweck und zur Einheit der Handlung gar nicht passten. Noch realitätsferner wirkt die Rede dadurch, dass sie in Versen vorgetragen wird, die, wenn sie mit Musikbegleitung gesungen werden, eine Oper erzeugen.¹⁸

Vermutlich verweist diese Frage hier auf das, was der Schauspieler und Theoretiker des Theaters Luigi Riccoboni in seinem Werk Dell’arte rappresentativa (1728) schrieb, wo er hervorhob, das die Italiener Rezitative benutzt haben, um die antike griechische Tragödie nachzuahmen, doch einen Aufführungstyp hervorbrachten, das den Zuschauern besondere Mühen auferlegt.¹⁹ Und so werden die Besonderheiten der Rezeption der italienischen Oper auf der russischen Bühne von Anfang an anhand der Aufführungspraxis dargestellt. Nach dem Studium der Opernpartitur von La forza dell’amore e dell’odio (1736) von Francesco Araja hat Vsevolodskij-Gerngross festgestellt, dass nur ein Teil des Textes tatsächlich gesungen wurde. Die lyrischen Stellen, die gewöhnlich am Ende der Aufführung sich befinden, wurden in der russischen Aufführung verschoben und gesungen, die Handlung aber „in Umgangssprache“ aufgeführt.²⁰ Dieselbe Praxis bemerkte Vsevolodskij-Gerngross in der Oper desselben Komponisten Il finto Nino ovvero La Semiramide riconosciuta (1737).²¹ Wenn Gerngross Recht hatte, so kann man die Entscheidung, Rezitative aufzuteilen, mit dem erwähnten Faktor erklären: mit der Notwendigkeit, das Publikum zu entlasten, welches lange Rezitative nur mit Mühe ertrug (an die sich, wie Riccoboni anmerkt, nicht alle Zuschauer gewöhnen konnten), mit geringem Interesse an der Form des recitativo secco oder der Auffassung von der opera seria als einer nicht dramatischen, sondern rein musikalischen Bühnenform – eines Singspiels im eigentlichen Sinn. Ähnliche Bemerkungen finden sich in Arbeiten, welche die Epoche Elizaveta Petrovnas betreffen. Ihre Herrschaft begann 1742 mit der Aufführung von La clemenza di Tito aus Anlaß der Krönung. Die Historiker der italienischen Oper Lucker und Susidko sehen in dieser Aufführung einen bedeutenden Schritt der Aneignung europäischer theatralischer Formen im russischen Kontext.²² Tatsächlich unterstreicht diese Auf-

18 Štelin [Stählin], O pozoriščnych igrach ili komedijach i tragedijach, in: Primečanija na vedomosti za 1733 god. Nr. 44–46, in: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1730–1740, Nr. 305, S. 517. 19 Luigi Riccoboni, Dell’arte rappresentativa. Bologna 1979 20 Vsevolodskij-Gerngross: Teatr v Rossii pri imperatrice Anne Ioannovne i imperatore Ioanne Antonoviče. Sankt-Peterburg 1914, S. 57–63. 21 Vsevolodskij-Gerngross, Teatr, S. 59. 22 Susidko/Lucker: Johann Adolf Hasse in der russischen Musikkultur. In: Reinhard Wiesend (Hrsg.), Johann Adolf Hasse in seiner Zeit. Bericht über das Symposium vom 23. bis 26. März 1999 in Hamburg. Stuttgart 2006, S. 193–206.

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führung die Rolle der opera seria als panegyrisches Genre des Hoflebens. Doch die Musikwissenschaftler heben vor allem die Gewohnheit hervor, die Vokalpartien an die lokale Truppe anzupassen, was aber eine allgemein europäische Tradition war. Der Unterschied in den Partituren hängt nicht nur vom stimmlichen Potential der Truppe ab, sondern auch von verschiedenen benutzten Libretti. Stählin schreibt, dass er selbst den von Metastasio verfassten Text redigierte.²³ Beim Vergleich der Originalversion mit der Moskauer Librettofassung stellt man fest, dass die finale Licenza durch den Prolog La Russia afflitta e riconsolata ersetzt, eine neue Musik komponiert und der Text gekürzt wurde.²⁴ Dieselbe Besonderheit wird auch in den folgenden Jahren beibehalten. Im „Vorwort“ zum Libretto von Mitridate (1747) erinnert der Autor Giuseppe Bonecchi an einige Kürzungen, die er bei einer Aufführung in Italien vorgenommen hätte.²⁵ Stellt man die bisherigen Erfahrungen in Rechnung, so kann man die Verweise Bonecchis auf „Kürze“ vor allem auf Rezitative beziehen. Außerdem unterstreicht Bonecchi, dass dem Libretto Modelle des französischen Theaters zugrunde lagen – insbesondere die Tragödie von Racine Mithridate (1673) – da man aus jeder vollendeten französischen Tragödie mit Hilfe kleinster Veränderungen eine vollkommene italienische Oper machen kann, die nicht nur die Gefühle durch angenehmen Gesang verzückt, sondern bei der auch der Verstand auf seine Kosten kommt.“²⁶ Ich deute dies als einen Hinweis auf die Vorlieben des russischen Publikums, das offenbar auf die Dramatik und die Entwicklung der Handlung mehr Wert legte als auf den Gesang als solchen, mit dem die italienische Oper traditionell assoziiert wird, oder zumindest eine klare Abgrenzung zweier Momente wünschte: Handlung und Gesang. Darüber hinaus fehlen in der Partitur, die in der Bibliothek des Santa Cecilia in Rom aufbewahrt wird, die Rezitative, wie im erwähnten Il finto Nino (1737). In anderen erhaltenen Quellen dieser Zeit kann man das Fehlen von Rezitativen in der Literatur feststellen. Das gilt für die festa teatrale L’asilo della pace (1748), die Araja für einen Text von Bonecchi komponierte, ebenso die Oper Bellerofonte (1750), Eudossa incoronata (1751), und Scipio (1745). Im Libretto der Oper Alessandro nelle In-

23 Siehe Štelin [Stählin]: Zapiski Štelina o Petre Tret󸀠 em, Imperatore Vserossijskim. In: Čtenija, 1866, kn. 4, S. 67–118, und: Donesenie Štelina v Komissiju. Štelin [Stählin]: Zapiski Štelina o Petre Tret󸀠 em, S. 119–123 24 Zum Vergleich wurde eine Librettoversion herangezogen, die in die 1780 erschienene Pariser Werkausgabe Metastasios veröffentlicht wurde. Siehe Pietro Metastasio, Darmmi per musica, A cura di Anna Laura Bellina, tom 2, Venezia 2003, S. 373–444. 25 [Guiseppe Bonecchi]: Prefazione. In: Mitridate. Dramma per musica da rappresentarsi all’Imperial Corte die Russia il dì XXV aprile MDCCXLVII. Per festeggiare l’annua solennità dell’incoronazione di Sua Maestà Imperiale Elisabetta Petrowna Imperadrice die Tutte le Russie &c. La poesia è del Signor Dottor Giuseppe Bonecchi Fiorentino Poeta di Sua Maestà Imperiale &c. La musica è del Signor Francesco Araya Napolitano Maestro die Cappella di Sua Maestà Imperiale &c. In St. Pietroburgo, Nella Stamperia dell’Accademia Imperiale delle Scienze il di 25 Aprile 1747. S.pag. 26 [Bonecchi]: Prefazione.

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die präzisiert Metastasio folgendes: „Wenn Dir, lieber Leser, im Drama Abweichungen vom Original auffallen sollten, so schreib dies bitte der Notwendigkeit zu, Platz zu schaffen für die Arien der handelnden Personen.“²⁷ Die letzte Oper der elisabethanischen Zeit war Siroe (1760) von Friedrich Raupach, die nach einem Libretto von Metastasio geschrieben wurde. Was von der Partitur erhalten blieb, wurde kürzlich veröffentlicht: Rezitative fehlen, und in einigen Arien wurden Kürzungen vorgenommen.²⁸ Das Fehlen von Rezitativen beweist keinesfalls, dass sie im Original nicht vorhanden waren, sondern es ist anzunehmen, dass das Libretto wie im Falle von La clemenza di Tito kürzungsbedingt überarbeitet wurde, wie es Bonecchi und Stählin in Bezug auf die Aufführung der italienischen Oper als Singspiele erwähnt haben. Auf jeden Fall führen diese Beobachtungen zum Gedanken, dass die italienische Oper, obwohl sie das geeignetste Genre war, den Hof und seine Macht zu inszenieren, dennoch als Unterhaltung angesehen wurde, die der Leichtigkeit und Einfachheit bedurfte, in die man Änderungen einführen durfte, ohne die Handlungslogik im Ganzen zu zerstören. So wie Mooser später, um es vorwegzunehmen, die Praxis der Kürzung von Opernlibretti in der Epoche Katharinas wieder antreffen wird. Im Fall der Opern Il re pastore von Baldassare Galuppi (1766), Antigono von Tommaso Traetta (1770), Achille in Sciro (1778) und Demetrio (1779) von Paisiello, der Opern Gli amanti consolati (1784) und Castore e Polluce (1786) von Giuseppe Sarti sowie La vergine del sole von Domenico Cimarosa (1789) hat der Schweizer Musikwissenschaftler die Kürzung der Libretti von drei auf zwei Akte festgestellt.²⁹ In seinem Brief an den Abt Galiani von 1781, in dem er auf die Frage einging, welche Anforderungen an ein Opernlibretto zu stellen wären, verband der Komponist Paisiello den Wunsch nach Kürze erneut mit den Rezitativen und verweist auf die pragmatische Auffassung des russischen Hofes von Opernaufführungen konstatiert: Quello poi che dovrà raccomandarglisi è la brevità perché non deve durare più di un’ora e mezza e se sarà più breve più si farà onore. Non deve essere che in un solo atto, o pure due, solamente a cinque o quattro personaggi, [. . . ] Gli avverto, pochi, pochissimi recitativi, perché non s’intende la lingua; pezzi di musica quanti ne vuole, in arie, cavatine, duetti, terzetti e finali all’uso di Napoli.³⁰

27 [Metastasio], Alessandro nell’Indie dramma per musica da reppresentarsi all’Impérial Corte di Russia il di XVIII. Decembre MDCCLV. Per festaggiare l’annua solennita della nascita di Sua Maestà Impériale Elisabetta Petrowna, imperadrice di tutte le Russia etc., etc., etc. La poesia è del Signor Francesco Araya Napolitano, maéstro di capella die Sua Maestà Impériale. In St. Pietroburgo, Nella stamperia dell’Accademia Impériale delle Science il di 18. Decembre 1755, . . . S. pag. 28 Im Vergleich mit dem Original von Metastasio fehlen zwölf Arien. Siehe Raupach, Siroe. Partitur. Nach dem Manuskript revidiert und herausgegeben von D. Lomtev, Moskva 2000. 29 Mooser, Annales . . . Bd. 2. Mooser hat dieselbe Praxis auch im Fall von komischen Opern festgestellt, wie Lucinda e Armidoro und Il mondo della luna von Paisiello sowie I finti eredi von Sarti. 30 Zit. n. Salvatore Panareo, Paisiello in Russia (dalle sue lettere al Galiani). Trani 1910, S. 26.

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Diese Aufführungen hatten zum Ziel, die Grandeur des Imperiums (imperial sublime) zu inszenieren, nach dem Modell des monarchischen Absolutismus der europäischen Höfe.³¹ Selbst Stählin gibt in seiner „Beschreibung“ die Funktion des Musiktheaters seiner Zeit wieder. Gerade deswegen waren diese Aufführungen auf das Publikum des Hofes selbst angewiesen, der sich auf der Bühne wie im Spiegel betrachtete. Unter Anna wurden italienische Opern ausschließlich für höfische Kreise aufgeführt: Für Mitglieder der Zarenfamilie, ausländische Gesandte, Adlige, Würdenträger und Offiziere der höheren Ränge, – alle hatten freien Eintritt in die Vorstellungen und wurden von der Zarin persönlich eingeladen, weshalb sie auch zum Kommen verpflichtet waren. Die Zarin selbst, in Verbindung mit der offiziellen Rolle der Aufführungen, war persönlich anwesend oder wurde durch ein Mitglied der Zarenfamilie vertreten. Elisabeth entschied zu ihrer Zeit, wann die Vorstellungen zu beginnen hatten, oder wann sie abgesetzt werden mussten; die Archivdokumente belegen, dass sie bei den Proben der Opern „ganz bis zum Schluss“ anwesend war, „mit besonderer Aufmerksamkeit Musik hörte“, „mit großer Befriedigung die Maschinen betrachtete, die zur Dekoration aufgebaut waren“.³² Die Kaiserin unterschrieb sogar Einladungen für Zuschauer, und wollte, dass bis zur Premiere niemand außer den Künstlern bei den Proben anwesend war, wohl um den Effekt der ersten Aufführung zu steigern.³³ Nichtsdestoweniger zeigen die Quellen dieser Zeit, dass die Adligen nicht immer an Theateraufführungen interessiert waren, und dass vor allem Elisabeth öfter leere Plätze im Theater zu beklagen hatte, und jede einzelne ihrer Hofdamen persönlich einladen musste, wie die Hofchronik zu berichten wusste.³⁴ Mooser erklärt den Absentismus der Adligen eben mit ihrer Unfähigkeit, Aufführungen der opera seria zu auszuhalten und zu verstehen.³⁵ Vor allem seitdem das Ensemble Locatelli Ende der 1750er Jahre die opera buffa in Petersburg etabliert hatte, begann das Publikum das komische Genre zu bevorzugen. Stählin zufolge hatten die Aufführungen Locatellis „in Betracht der muntern Musik, der lustigen Scenen und [des] vortrefflichen Balletts einen so allgemeinen Beifall, dass gemeiniglich das Parterre von Zuschauern starzte“.³⁶ Die Zarin selbst besuchte diese Aufführungen gemeinsam mit ihrer großfürstlichen Verwandtschaft oder inkognito. Es war kein Zufall, dass Araja sich 1759 zum Verlassen Russlands entschloss, vermutlich aufgrund verringerter Aufträge. Folglich kann man die Besonderheiten der russischen Aufführungspraxis des Musiktheaters –

31 Peter Burke, The Fabrication of Louis XIV. New Haven 1992 32 Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1741–1750, vyp. II, č,1, Nr. 1, 7, 9. 33 Siehe: Iz kamer-fur󸀠 erskogo žurnala za 1750 god. In: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1741–1750, vyp.2, č.1, Nr.200, S. 171, und Iz imjannych ukazov, zapisannych v Pridvornoj kantore 1750 godu. Iz kamerfur󸀠 erskogo žurnala za 1750 god, Nr. 345, S. 363–364. 34 Siehe z. B. Ceremonial󸀠 nyj, banketnyj i pochodnyj žurnal 1755 goda. 35 Mooser: Annales. Tom 1. 36 Stählin, Nachrichten von der Musik in Russland, S. 112f.

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die Streichung von Rezitativen und ihre Ersetzung durch Prosatexte – als Versuch begreifen, offizielle Aufführungen nicht nur prächtiger, sondern auch attraktiver fürs Publikum zu gestalten. In dieser Hinsicht war die Rezeption der italienischen opera seria in Russland nicht immer, jedenfalls nicht immer spontan „gastfreundlich“. Vermutlich war die Unlust der Höflinge, offizielle Aufführungen zu besuchen, auch der Grund dafür, dass sich der Kreis der Zuschauer unter Elisabeth auf weniger privilegierte Kreise ausweitete, die bis dahin keinen Zutritt gehabt hatten. Von diesem Aspekt des Musiklebens legte auch die Hofchronik Zeugnis ab.³⁷ Im Jahr 1750 . . . „geruhte ihre Kaiserliche Majestät allergnädigst den am Hof Wachdienst habenden Herren Ober-Offizieren der Leibgarde den Besuch der Komödie zu erlauben“³⁸ . . . die das Theater bis dahin manchmal ohne Erlaubnis besucht hatten.³⁹ Manchmal war „jeglicher Adel“ eingeladen, mitunter gar „die vornehme Kaufmannschaft“.⁴⁰ Die Ankündigung einer Aufführung von Bellerofont wurde erstmals, nicht nur der St. Petersburger Zeitung, sondern auch mit Plakaten angekündigt. Auf diese Weise wurden die im Publikum neu vertretenen Schichten ebenfalls zu Adressaten der „Scenarios of Power“,⁴¹ und die Vorstellungen dehnen sich aus. Unter Katharina II. setzt sich dieser Prozess mit der Eröffnung öffentlicher Theater in Petersburg und Moskau fort, die eine neue Einstellung gegenüber der Bühnenpraxis hervorbrachte, auch vom Standpunkt der Theaterkritik aus. Das neue Publikum verlangte nach einem anderen Repertoire, was vor sich vor allem auf dem Gebiet der literarischen Stoffe bemerkbar macht. Unter Elisabeth wurde die Handlung einiger Opern, die für den russischen Hof komponiert waren, aber in italienischer Sprache aufgeführt wurden und ein ausgeprägt italienisches Kolorit aufwiesen, nach Russland verlegt. So spielt die Handlung von Zuflucht des Friedens nach Librettoanweisung „im russischen Dorf“, obwohl die Handlung von griechischen Göt-

37 „Am Nachmittag des 26. April wurde anläßlich des Krönungstages Ihrer Kaiserlichen Majestät ein „Pastorale“ gennantes italienisches Stück mit dem Titel aufgeführt: Zuflucht des Friedens (Pribežišče mira), das in Gegenwart Ihrer Kaiserlichen Majestät, ihrer Kaiserlichen Hoheit gezeigt wurde, während Ihre Hoheit der Herrin Großfürstin wegen Krankheit nicht zu kommen geruhte. Einlass . . . erhielten: Personen der ersten sechs Rangklassen beider Geschlechter und Stabsoffiziere, Oberoffiziere der Garden, Unteroffiziere der Leibkompanie ohne Eintrittskarte, und nahmen im Parterre und den Logen der zweiten Etage nach Aufschrift, jeder nach seinem Rang, Platz; für die Plätze in den höheren Logen und Balkonen wurden vom Hof Ihrer Kaiserlichen Majestät Eintrittskarten ausgegeben.“ Iz kamerfur󸀠 erskogo žurnala za 1748 god. In: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1741–50, vyp. II, č.1, Nr. 11, S. 138f. 38 Iz „Žurnala dežurnych pri dvore Eja Imperatorskogo Veličestva general-ad󸀠 jutantov“ za 1750 god. In: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1741–50, vyp.II. č.1, Nr. 197/b, S. 170. 39 Siehe z. B. „Iz žurnal󸀠 nych zapisok 1744 godu po ceremonial󸀠 noj časti“. In: Teatral󸀠 naja žizn󸀠 . . . 1741–1750, vyp. II., č.1, Nr. 17, S. 78f. 40 Auch Bühnenschaffende erhielten Zutritt, wohl vor allem damit sie ihre Kunst am Vorbild ausländischer Meister vervollkommnen konnten. 41 Richard S. Wortman, Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Peter the Great to the Abdication of Nicholas II. Princeton 2006.

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tern bestritten wird.⁴² In Locatellis Pastorale Il retiro degli dei (1757) spielt die Handlung an der baltischen Küste vor Petersburg.⁴³ In der nach einem Libretto von Lazzaroni komponierten Oper Il giudizio d’Aminta (1758) des schwedischen Komponisten Ferdinand Zellbell „vollzieht sich die Handlung in der Umgebung Petersburgs“.⁴⁴ In der Oper I puntigli domestici (1752), deren russische Librettofassung 1773 veröffentlicht wurde, verlegte ein anonymer Übersetzer die Handlung von Neapel nach Moskau.⁴⁵ Diese frühen Anzeichen einer Adaption des ausländischen Schauspiels an russische Realien muss im Kontext einer literarisch ausgerichteten Übersetzungspraxis betrachtet werden, die dazu neigte, russische Vorstellungen zu reproduzieren. Im letzten Viertel des Jahrhunderts lässt sich für russische Bühnen eine Koexistenz original russischer und übersetzter Libretti feststellen.⁴⁶ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es Mode, ausländische Stoffe im Zuge der Übersetzung zu russifizieren, durch einen Austausch von Namen, typischer Eigenschaften der handelnden Personen, von Handlungsorten und sozialen Markern durch russische Entsprechungen. Diese Art von Übersetzung war insbesondere im Genre der Komödie üblich. Der Theaterwissenschaftler Simon Karlinsky schreibt Ivan Elagin das erste Beispiel einer solchen Adaption zu, und zwar von Jean de France

42 Wörtlich heißt es: „L’azione si rappresenta in una campagna della Russia“. Giuseppe Bonecchi, L’asilo della pace, Festa teatrale da rappresentarsi in musica all’imperial corte di Russia il dì XXV aprile MDCCXLVIII per festeggiare l’annua solennità dell’incoronazione di Sua Maestà Imperiale Elisabetta Petrowna Imperadrice di tutte le Russia &c. &c. &c., La poesia è del Signor Dottore Giuseppe Bonecchi Fiorentino Poeta di Sua Maestà Imperiale &c., La musica è del Signor Francesco Araya Napolitano Maestro di Cappella di Sua Maestà Imperiale &c. In St. Peterburgo Nella Stamperia dell’Accademia Imperiale delle Scienze, s.d. 43 [Locatelli]: Il retiro degli Dei, composizione Drammatica, che introduce un Ballo die Deità maritime. Das Libretto befindet sich in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg. 44 „La scena si finge in un bosco nelle vicinanze di S. Pietroburgo.“ [Lodovico Lazzaroni]: „Il giudizio d’Aminta, Festa teatrale celebrandosi il di XVIII decembre il gloriosissimo giorno natalizio di Sua Maestà Imperiale Elisabetta I Imperatrice di tutte le Russie &c. &c. &c. In St. Petroburgo l’anno 1758“. 45 Rajsa M. Gorochova, Dramaturgija Gol󸀠 doni v Rossii XVIII veka. In: Epocha prosveščenija. Iz istorii meždunarodnych svjazej russkoj literatury. Sost. M. P. Alekseev. Leningrad 1967, S. 325. 46 In russischen Bibliotheken und Archiven befinden sich die Partituren ausländischer Opern, denen nachträglich russische Übersetzungen hinzugefügt wurden. Darunter befinden sich folgende Werke aus dem 18. Jahrhundert: Vincente Martin y Soler, Redkaja vešč󸀠 . Komičeskaja opera v 2-ch aktach, Partitura. s.d. Handschrift in russischer Sprache. (GCMMK, f. 187, ed. hr. 9); Giovanni Paisiello, Služanka-gospoža [La serva padrona] komičeskaja opera v 2-ch aktach. Partitura, postavlena v Peterburge v 1781 g. (GCMMK, f. 187, ed. hr. 14). Kopie einer Handschrift in russischer Sprache; Paisiello, Opera russkaja pritvornaja ljubovnica, v dvuch dejstvijach. Muzyka sočinena Gym Paizielogom [sic] Slova položeny na muzyku s italjanskogo na ruskoj Gym Kryžanovskim [1780 g.], rukopisnaja kopija partitury, Otdel rukopisej Rossisjkoj Nacional󸀠 noj Bibliotheki Sankt-Peterburga (RNB OR, f. 550, OSRK, II 279f. XII, 63); Martin y Soler, Redkaja vešč󸀠 , [una cosa rara], rol󸀠 Korrado, fragement, rukopis󸀠 naja kopija, otdel rukopisej archiva GCTM; Paisiello, Neizvestnaja opera 18 veka, partija dlja golosa. (GCTM, OR, f. 577, op. 38.). Man identifiziert dieses Werk leicht als die Rolle des Uberto aus Paisiellos La serva padrona.

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(1746).⁴⁷ Die Theorie wurde vom Dramaturgen und Übersetzer Vladimir Lukin formuliert, der als erster einen klaren Unterschied zwischen der „exakten Übersetzung“, die „zur Lektüre und dazu taugt, den Autor originalgetreu darzustellen“ und der „Überarbeitung“, welche sich „für Theateraufführungen“ als bequemer erweist.⁴⁸ Überarbeitungen sollten den Zuschauern ein tieferes Verständnis des Werks ermöglichen. Übersetzer waren davon überzeugt dass dem Theater im Sinne der europäischen Aufklärung eine belehrende Funktion zukam, erkannten aber, dass die Werke einem anderen kulturellen Kontext entstammten. In der großen Anzahl der Übersetzungen erscheint dieses Verfahren bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich geblieben zu sein.⁴⁹ So erscheint die Überarbeitung als Verfahren, sich ein ausländisches Repertoire anzueignen und sie in ein nationales Repertoire umzuformen. Ebenso wurde im Musiktheater verfahren, wobei jedoch die genretypischen Eigenschaften des Opernlibrettos im Auge behalten werden müssen. Im Musiktheater stellt sich das Problem, dass die übersetzte Versversion den richtigen Takt haben muss, damit zur Musik passt.⁵⁰ Natürlich war es schwierig, völlige Übereinstimmung zu erzielen. Die Übersetzer waren sich dieser Problematik bewusst, die der Übersetzer am „Hof“ des Grafen Petr Borisovič, Griogrij Voroblevskij, anhand Alexandre Fridzeris Oper Les souliers mordorés aufwarf, deren Libretto von Alexandre Leblanc de Ferrières stammte. Im Gefühl seiner Überforderung schrieb er an seinen Herrn: Letztes Jahr haben Euer Durchlaucht geruht mir zu befehlen, diese lyrische Komödie aus dem französischen ins russische zu übersetzen, um sie im Haustheater Euer Durchlaucht aufzuführen, was ich auch, wie befohlen, versucht habe, sofern dies in meinen Kräften stand; denn Verse habe ich schon dreißig Jahre nicht mehr geschrieben, und niemals Arien oder auch nur Lieder, um sie einer Musik zu unterlegen, die ich nicht kenne.⁵¹

47 Simon Karlinsky, Russian Drama from its Beginnings to the Age of Pushkin. Berkeley 1985, S. 92f. 48 Zit. n. Aleksandr A. Derjugin, Soderžanie perevodčeskogo priema „Sklonenie na naši (russkie) nravy“. In: Izvestija Akademii nauk, Serija literatury i jazyka, t. 54, Nr.5, sentjabr󸀠 -oktjabr󸀠 1995, S. 61. 49 Einen weiteren Beitrag zu dieser Theorie leistete später der Übersetzer Aleksandr Fedorovič Labzin, der seinen Standpunkt im Vorwort zu Merciers Drama Le déserteur (Beglec, 1788) darlegte. Darin erklärte er, dass er vom Original abgewichen war, um seinen Text zu russifizieren, erörterte die Forderung nach Russifizierung der Namen und der sozialen Lage der handelnden Personen, und warf die Frage nach der Übersetzung von Redewendungen auf, wobei er darauf bestand, dass man die „natürliche französische Rede“ möglichst durch natürliche russische Sprache ersetzen solle. (Derjugin: Soderžanie . . . , S. 63.) 50 Das Problem der Metrik in der russischen Reimübersetzung italienischer Libretti erörterte der italienische Russist Stefano Gardzonio, Stich poetičeskich perevodov ital󸀠 janskich opernych libretto, in: Russian Verse Theory. Proceedings of the 1987. Conference at the UCLA, Columbus. Slavica 1989, S. 107– 132 und weiteren Artikeln. 51 Zit. n. Aleksandr I. Kuz󸀠 min: Krepostnyj literator V. G. Vorblevskij, in: XVIII vek, Sbornik 4, Moskva 1959, S. 150–151.

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Solche Schwierigkeiten zwangen die Übersetzer auf „genaue“ Übersetzungen zu verzichten, wobei sie statt gereimter Rezitative, in der Prosa oft die Umgangssprache wählten. Beispielsweise gibt es in den russischen Versionen von Una cosa rara (Redkaja vešč󸀠 ) und La serva padrona (Služanka gospoža) keine gereimten Rezitative, und man kann annehmen, dass diese in der Aufführung durch Prosatexte ersetzt wurden. Zugleich kann man die Ausschaltung der Rezitative dem Einfluss neuer komischer Genres zuschreiben, die in Europa verbreitet waren, wie der opéra-comique, der opera buffa, dem Singspiel. Die Praxis der Aufführung ausländischer Opern auf Russisch brachte die Dramaturgen auf die Idee, ein original russisches Repertoire zu schaffen.⁵² Das geschah unter Katharina II. im komischen, nicht im ernsten Genre; doch im Urteil der Zeitgenossen finden sich einige der Ideen, welche für die Rezeption der italienischen opera seria dieser Zeit typisch waren. Die patriotischen und ästhetischen Anforderungen, an die sich die Dramaturgen halten mussten, drückte unter anderem der Schauspieler-Dramaturg Petr Alekseevič Plavil󸀠 ščikov in den 1780er und 1790er Jahren in seiner Zeitschrift Utra und in Ivan Krylovs Zeitschrift Zuschauer aus. Da er gemeinsam mit seinem Bruder Vasilij einen Theaterverlag besaß, begann er seine Tätigkeit als Theaterkritiker 1782 mit Beiträgen in Utra⁵³ wo „. . . alle Arten von Werken und einige Übersetzungen gedruckt wurden“.⁵⁴ In Artikeln wie „Einiges über die angeborenen Eigenheiten der russischen Seelen“, „Theater“ oder „Komödie“, die 1791–1792 erschienen, verteidigte Plavil󸀠 ščikov die Entwicklung der originalen nationalen Kultur, und forderte dazu auf, ausländischen Werken keinen übermäßigen Beifall zu zollen. Einerseits erkannte er den Wert von Übersetzungen an, als Mittel zum Kennenlernen ausländischer Literatur.⁵⁵ Zugleich trat er gegen die Verwendung ausländischer Muster auf und wies darauf hin, dass Nachahmungen immer schlechter sind als Originale, und zur Vervollkommnung des nationalen Theaters nichts beitragen.⁵⁶ Der Autor hatte dabei gerade die Praxis der „anpassenden“ Übersetzung im Sinn. „Wenn das russische Theater durchaus auf Nachahmungen angewiesen ist, so wäre es doch gefälliger, den Charme und die Schönheit der Werke nachzuahmen, als durch pedantische Übertragung fremde Eigenheiten in völlig unangebrachter Manier an unsere Sitten anzupassen, und dabei weder ersteres noch letzteres zu erreichen.“⁵⁷

52 Vgl. Karlinsky: „Because of the continuing orientation toward Parisian tastes and the widespread practice of „adaptation to our customs“, it was inevitable that Russian comic opera would materialize. (Russian Drama, S. 119). 53 Utra, 1782, Nr.3¬5. Maj, I¬4, Ijun󸀠 , I,3¬4, Ijul󸀠 , I¬5, Avgust, I¬3, Sentjabr󸀠 . Die Zeitschrift erschien von Mai bis September 1782 einmal wöchentlich. 54 Sankt-Peterburgskie vedomosti, 3. Maja 1782. 55 Plavil󸀠 ščikov, Nečto o perevodach. In: Utra, List 4, Ijul󸀠 1782 g., S. 57–60 56 Plavil󸀠 ščikov, Teatr. In: Plavil󸀠 ščikov, Sobranie dramatičeskich sočinenij. Sankt-Peterburg 2002, S. 543. 57 Plavil󸀠 ščikov, „Zritel󸀠 “, zit. n. Irina A. Krjažimskaja, „Iz istorii russkoj teatral󸀠 noj kritiki konca XVIII – načala XIX veka“, in: XVIII vek, 4 (1959), S. 215.

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Er dachte, dass die Entwicklung von Geschmack und Kunst durch die ewige Abhängigkeit von ausländischen Vorbildern nur behindert würde, da letztere vom russischen Leben weit entfernt waren. Der Dramaturg riet dazu, die Stoffe aus der russischen Geschichte zu schöpfen, da nur diese dem Interesse und den Erfahrungen der Russen entgegenkommen könnten: Bühnenwerke müssen vor allem den Bezug zum Vaterland herstellen. Was hat der Russe davon, dass irgendein tatarischer Tschingis-Khan China eroberte und dort viele große Dinge vollbrachte? Es berührt die Kinder viel mehr, ihren Vater groß zu sehen als jemand anderen; gute Werke sind überall bewundernswert und anziehend; doch üben fremde gute Werke auch eine fremde Wirkung auf die Herzen aus, zumal in Russland nicht alles gut ist, was man in anderen Ländern dafür hält. Was haben wir davon, irgendeine Dido zu sehen, die vor Liebe zu Änäas dahinschmilzt, oder eine Iarba, die vor Eifersucht rast? Wozu brauchen wir die unversöhnliche Feindschaft, von der die Veroneser Grabsteine zeugen? Wir müssen zunächst wissen, was in unserem Vaterland geschah. Der Kaufmann Kuz󸀠 ma Minin ist überaus würdig, auf Bühnen verherrlicht zu werden: Seine Tapferkeit und Vaterlandsliebe, der zuliebe er alles opferte, was er besaß. Der unüberwindliche Mut des Fürsten Požarskij und sein edles Verhalten bei der Thronerhebung des rechtmäßigen Erben müssten allen Zuschauern Tränen entlocken, ihre Seelen und Herzen mit Begeisterung erfüllen; das alles ergäbe eine vollkommene Schule der Vaterlandsliebe.⁵⁸

Eben dies scheinen die erwähnten ausländischen Autoren und die Übersetzer der Libretti verstanden zu haben, die ihre Handlungsstoffe nun von einem unbestimmten klassischen („kosmopolitischen“) Umfeld nach Russland verlegten. Diese Praxis kam scheinbar den patriotischen Forderungen nach, die erst anschließend, in diesen Artikeln formuliert wurde. Vom russischen Charakter abgesehen, erstreckten sich die Anforderungen auch auf rein szenische Fragen. Insbesondere die „Natürlichkeit“ und die „Gefälligkeit“, sogar wenn dies eine Abweichung von den Regeln des klassischen Theaters voraussetzte. In seinen „Betrachtungen über Bühnenwerke“ überwindet Plavil󸀠 ščikov die klassische Regel der „Einheit von Zeit, Raum und Handlung“, und verteidigte um der Realitätsnähe willen nur die letztere. Er forderte sogar, dass die Handlung unmittelbar auf der Bühne stattfinden und nicht von den handelnden Personen berichtet werden sollte, wie es im klassischen Theater üblich war.⁵⁹ Dieselbe Problematik sprach der Schauspieler Volkov 1774 an: „Jeder wird mir zustimmen, dass unsere Gefühle stärker angeregt werden, wenn wir ein Abenteuer direkt miterleben als wie wenn man uns von

58 Plavil󸀠 ščikov, Teatr, S. 535. 59 Plavil󸀠 ščikov: Rassuždenie o zreliščach, in: Utra. August, Blatt 1, S. 61–63, „Prodolženie o zreliščach. Plavil󸀠 ščikov: Rassuždenie o zreliščach, S. 67–72 und August, Blatt 2, S. 73–79. Zritel󸀠 . Zit. n. Irina A. Krjažimskaja, Iz istorii russkoj teatral󸀠 noj kritiki konca XVIII – načala XIX veka, in: XVIII vek, Sbornik IV. Moskva 1959, S. 215.

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ihm erzählt.“⁶⁰ Nach Meinung von Plavil󸀠 ščikov mussten Aufführungen ein „Spiegel des menschlichen Lebens“ sein und die Zuschauer ganz in den Bann der Handlung ziehen, sie vergessen lassen, dass sie sich im Theater befanden. In den „Fortsetzungen“ zum Artikel „Betrachtungen über Bühnenwerke“ unterstrich der Schauspieler die Unangemessenheit von „wunderhaften Abenteuern“ und zu vielen Bühnenumbauten (Dekorationswechseln) in derselben Handlung, und forderte, dass die handelnden Personen sich in „einfacher Umgangssprache“ ausdrücken sollten.⁶¹ Weiter behauptete er, dass sich die handelnden Personen um der größeren Realitätsnähe willen in Prosa, nicht in Reimen ausdrücken sollten, weil eben der Vers dem Theater die Realitätsnähe nahm.⁶² Gerade dies aber waren die charakteristischen Aspekte der italienischen opera seria nach dem Modell von Metastasio. Zu den charakteristischen Eigenschaften des ausländischen Theatern, die Plavil󸀠ščikov als fremd empfand, gehörte der Gesang in der Oper, den er als eine Entartung empfand. In seinen „Betrachtungen über Bühnenwerke“ verwies der Schauspieler auf die Oper Der Müller als Zauberer, der Betrüger und der Kuppler (Mel󸀠 nik-koldun, obmanščik i svat) von Aleksandr Ablesimov (1779) in Verbindung mit der Frage nach der Musik im Theater: „. . . Die Musik lenkt den Zuschauer immer von den Verwicklungen der Handlung ab. . . “⁶³ Nach den Worten des Theoretikers und Schauspielers, . . . drängt in der Musik, so nahe sie dem Gedanken der Rede auch kommen mag, sich immer die Kunst des Komponisten und Spielers in den Vordergrund, vor den natürlichen Ausdruck irgendeiner Gefühlsbewegung; dabei erinnert mich jede Aria und jeder Gesang daran, dass ich mich in einer Theateraufführung befinde, wonach sich die Fesselung an die Handlung in meinem Herzen ganz verliert. Mir scheint, dass es angenehmer wäre, die Musik zwischen den Akten zu hören; und den Gesang im Konzert.⁶⁴

Offensichtlich sah Plavil󸀠 ščikov in der Musik ein überflüssiges Element im Drama: Viele leidenschaftliche Musikliebhaber, die in der Oper diese Schwäche erkannt haben, haben sich ein anderes Bühnengenre ausgedacht, wo der Schauspieler seinen Monolog hält, und das Orchester anschließend wie eine Art Echo mit Tönen antwortet, die zur Äußerung passen. Das nennt man ein „Duodrama“. Doch können Reden und Musik auf das Herz des Zuschauers nie dieselbe Wirkung erzielen wie die Komödie oder Tragödie. Denn das eine stört das andere: Denn wenn das Schauspiel gut und natürlich geschrieben wurde, so benötigt es weiter keine Erläuterungen und keinen musikalische Attraktivität – wenn es aber ein schwaches Stück ist, so kann die Musik es nicht verschönern.⁶⁵

60 Über Dmitrievskijs Position zu dieser Frage siehe Čajanova: Teatr Maddoksa v Moskve, in: Moskva 1927, S. 121. 61 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 67–76. 62 Plavil󸀠 ščikov, Teatr. . . , S. 542. 63 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 70. 64 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 70. 65 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 70.

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Damit erklärte er auch, warum kein Librettoschreiber je Erfolg hatte (!): Gibt es denn auch nur einen Autor, dem die Schöpfung einer Oper Ruhm einbrachte? Man muss zugeben, dass dies nicht der Fall ist. Ebenso wenig kann man bestreiten, dass der italienische Metastasi mit seinen Opern, der in seinem Vaterland alle anderen übertraf, mit den allerbesten Tragöden verglichen wurde. Doch er selbst sah sich angesichts des in seinem Vaterland vorherrschenden Geschmacks gezwungen, Opern zu schreiben, wo er sich immer an die Regeln der Tragödie zu halten bemüht war. Was die komische Oper betrifft, so opfern die italienischen Reimschmiede der Musik dort einfach alles, einschließlich des gesunden Menschenverstands.⁶⁶

Die Überlegenheit des dramatischen Theaters gegenüber der Oper wird mit der Tradition des Kastratengesangs in Beziehung gesetzt, derentwegen Italien als barbarisches Land eingestuft wird: Auch in diesem Teil des Schauspiels gab und gibt es viele große Leute. Keiner von ihren Sängern und Sängerinnen denkt daran, sich mit jenen in dieser Kunst berühmten Leuten zu vergleichen, außer denen, die Italien hervorbrachte; doch in Italien ist die Musikliebe allgemein, dort lebt man in der Musik, ernährt sich von der Musik und für die Musik. Um einem Mann eine fesselnde weibliche Stimme zu geben, raubt man ihm für das ganze Leben Gesundheit, Kraft und Lebensfreude; und um einen solchen zu erhalten, tötet man viele hundert Menschen. Und daraus kann man meiner Meinung nach den fundierten Schluss ziehen, dass die Komödie und die Tragödie als Genre alle anderen übertreffen, obwohl auch eine gut gemachte Oper ihren Wert hat.⁶⁷

Plavil󸀠 ščikov beschäftigte sich mit dem dramatischen Theater und verteidigte es, doch seine Urteile erstrecken sich auch auf musikalische Aufführungen, da zu seiner Zeit die Kritik noch keine genauen Kriterien zwischen verschiedenen Kunstformen etabliert hatte, und die Künstler beider Genres identisch waren. Darüber hinaus bezieht er sich sogar auf die russische komische Oper, die man als Mittelding zwischen rein musikalischem und rein dramatischem Theater betrachten kann. Wie sehr man den Schauspieler als Vertreter der russischen Kritik seiner Zeit betrachten kann, äußert sich darin, dass er die Oper nach denselben Kriterien wie das dramatische Theater betrachtet. Die Bemerkungen Plavil󸀠 ščikovs erinnern den gegenwärtigen Musikwissenschaftler an die Polemik des 19. Jahrhunderts, die die Oper mal abwechselnd als rein „musikalisches“ oder „dramatisches“ Werk einstufte. Wenn der Streitapfel in dieser Polemik Glinkas Oper Ruslan und Ludmila war und solche Kreise zog, dass sich der Musikwissenschaflter Richard Taruskin zur Erklärung veranlasst sah, dass sich die russische Oper weniger auf den Erfolg von Das Leben für den Zaren gründete als auf den Durch-

66 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 71f. 67 Plavil󸀠 ščikov, Prodolženie. . . , S. 73.

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fall von Ruslan,⁶⁸ so erfüllte im vorangegangenen Jahrhundert kein bestimmtes Werk, aber die ganze Tradition der italienischen opera seria eine ähnliche Funktion. Rückt man die Besonderheit der russischen Rezeption der italienischen Oper – vor allem die Kürzung der Rezitative, ihre Ersetzung durch Prosatexte und russifizierte Stoffe – in den Kontext der gesamten hier zitierten Bemerkungen über das Theater, so zeigt sich, dass die italienische Oper im Russland des 18. Jahrhunderts zur Reflexion über das Musiktheater anregte, und nicht nur direkt, sondern auch mittelbar und „ex negativo“ zur Geschmacksbildung des Publikums beitrug. Folglich beeinflusste sie indirekt die Herausbildung des russischen Musiktheaters schon vor der zweiten großen Welle der italienischen Oper im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und vor der Entstehung von Glinkas Opernwerk.

68 Richard Taruskin, Glinkas Ambiguous Legacy and the Birth Pangs of Russian Opera. In: 19th Century Music 1 (1977), Nr. 2, S. 161.

Larisa Khalfina

Die Zarin Elisabeth und die italienische opera seria In diesem Beitrag sollen einige Besonderheiten der Existenz und Entwicklung der opera seria unter Zarin Elisabeth betrachtet werden, und zwar die Änderungen, die mit der Hervorhebung des allegorischen Charakters der Opernaufführungen wie auch der wachsenden Bedeutung des Chors auf der Bühne einhergingen. Es soll herausgestellt werden, dass diese beiden Phänomene, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, auf dieselbe Ursache zurückgehen.

1 Die Verstärkung des allegorischen Charakters von Opernaufführungen Unter Elisabeth beginnen Opernaufführungen eine ganz bestimmte Rolle im höfischen Leben einzunehmen – sie begründen und legitimieren politische Veränderungen im Land, überhöhen das herrschende Regime und verherrlichen die Kaiserin. Bezeichnenderweise findet sich in jeder Oper, die für Elisabeth aufgeführt wird, also in La Clemenza di Tito (Titus’ Milde, Miloserdie Tita 1743), (Seleuco, (Seleukios, Selevk 1744), Scipione (Skipion, Scipio, 1745), Mitridate (Mithridates, Mifridat, 1747), Zuflucht des Friedens (L’asilo della pace, Pribežišče mira 1748), Bellerofonte (Bellerophon, Bellerofont, 1750) und in Eudossa incoronata o sia Teodosio II (Die gekrönte Eudoxia, Evdoksija venčannaja, 1751) Gelegenheit, der Kaiserin ein eigenes Loblied zu singen. Das heißt, in einer Reihe mit allegorischen Lobgesängen, die zum Genre der opera seria gehören, werden Lobgesänge aufgeführt, die sich an die Zarin persönlich wenden. In La Clemenza di Tito, der ersten Krönungsoper, tritt der allegorische Charakter sowohl der Oper und des Prologs klar genug hervor – die Machtergreifung Elisabeths soll gerechtfertigt werden.¹ Als Tochter Peters des Großen und Katharina I. hat Elisabeth rechtlichen Anspruch auf den russischen Thron; man erwartet von ihr, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, das Reformwerk ihres Vaters fortzusetzen, und die alte Größe Russlands wieder herzstellen. Im Prolog wird die Thronerhebung Elisabeths als Rettung Russlands bezeichnet: „Ihre Thronbesteigung glich dem Aufgang der Sonne,

Übersetzt von Lorenz Erren. 1 Nach dem Tod der Zarin Anna I. (1730–1740) fanden in Russland drei Palastrevolutionen statt, von denen die letzte am 25. November 1741 zur Thronerhebung Elisabeths I. führte, der Tochter Peters des Großen. DOI 10.1515/9783110520224-013

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welche die Finsternis vertreibt, die dem Land aufs Gemüt drückte; der Chor der Völker Afrikas, Asiens, Amerikas und Europas – aller damals bekannten Kontinente – staunt über das ungesehene Wunder: wilde Wälder verwandeln sich in einem Augenblick in blühende Gärten.“² Auf dem Höhepunkt des Prologs erscheint ein Monument auf der Bühne, mit der Aufschrift: „Glücklich lebe Elisabeth, die würdigste, heiß geliebte, gekrönte allrussische Kaiserin, die Mutter des Vaterlandes, die Freude des Menschengeschlechts, der Titus unserer Zeit“.³ Eine solch explizite Lobpreisung der Zarin war keine ganz gewöhnliche Erscheinung. Es verdient eine nähere Betrachtung, weshalb plötzlich ins Gefüge des Opernschauspiels Elemente besonderer Lobpreisungen eindringen, die dem Genre der opera seria fremd sind, und woher diese kamen. Man sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass im Russland des 18. Jahrhunderts die Funktion der Lobpreisung von panegyrischen Oden ausgefüllt wurde. Man erinnert sich an die zahlreichen Oden, die Michail Lomonosov Zarin Elisabeth widmete. Eine der ersten von ihnen wurde Anfang Februar 1742 aus Anlass der der Ankunft Petr Fedorovičs⁴ aus Holstein verfasst. In ihr präsentiert die „von der Sonne weltweiten Ruhmes beschienene“ Elisabeth dem jungen Petr Fedorovič die unermessliche Weite der nördlichen Länder, welche dermaleinst zu verschönern ihm als Erben bestimmt ist. „Я Деву в солнце зрю стоящу, Рукою Отрока держащу И все страны полночны с ним. Украшена кругом звездами, Разит перуном вниз своим, Гоня противности с бедами. И вечность предстоит пред Нею, Разгнувши книгу всех веков, Клянется небом и землею О счастье будущих родов, . . . “⁵

In der Sonne seh’ ich die Frau Die den Knaben auf dem Arme hält Und alle Länder des Nordens mit ihm. Wie sie, im Schmuck des Sternenkranzes, Nach unten Blitze schleudert, Widrigkeit und Elend zu verjagen. So steht die Ewigkeit vor ihr Offen liegt das Buch aller Zeiten Und beschwört bei Himmel und Erde Das Glück der kommenden Geschlechter

Von hier aus wohl nimmt auch die Lobpreisung Elisabeths im Prolog von La Clemenza di Tito ihren Anfang. Denn zwei Wochen nach Verfassen dieser Ode erhält er von Johann Schumacher, dem Verwaltungschef der Akademie, den Auftrag, die genannte Oper mitsamt ihrem Prolog aus dem Französischen zu übersetzen. Er braucht dafür nicht mehr Zeit als vom 24. Februar bis zum 15. März (1742). Verwendung finden wird

2 Pavel Lucker/Irina Susidko, „Miloserdie Tita“ v Rossii, in: Starinnaja Muzyka. 3 (1999), S. 9. 3 Zit n. Teatral󸀠 naja žizn󸀠 v Rossii v epochu Elizavety Petrovny. 1741–1750. Vyp. 2, čast󸀠 1/Sost. Ljudmila Starikova. Moskva 2003, S. 60. 4 Zar Peter III. (1761–1762) war in 1728 Kiel als Herzog Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf zur Welt gekommen. 1742 wurde er zum russischen Thronfolger ernannt und lebte bis zu seinem Machtantritt 1761 als „Großfürst Petr Fedorovič“ in St. Peterburg. 5 Information aus Lebedev, Lomonosov, S. 82

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indessen nur seine Übersetzung des Prologs, da seine Fassung des Hauptteils als zu akademisch empfunden wird.⁶ Doch wie wir sehen, befindet sich die Lobpreisung, um die es uns hier geht, eben im Prolog.⁷ In allen folgenden Opern, die für die Zarin geschrieben wurden, mit Ausnahme der beiden letzten, Cefal󸀠 i Prokris (Céphale und Procris)⁸ und Alessandro nell’Indie (Aleksandr v Indii)⁹, wird diese Erscheinung – die besondere Lobpreisung der Zarin – Fortsetzung finden. Daran wird bereits ihr Hoflibrettist Guiseppe Bonecchi seinen Anteil haben. In Seleuco (Seleukios), der ersten Oper, die Bonecchi 1744 für Elisabeth verfasste, fügt er eine ausgedehnte Lobpreisung ein, wo man ihr „Vivat!“ akklamiert: „Не можно Тя мператрица героям прежним уподобить Твое Величество и храбрость Твои победы и щедроты Их честь и память омрачают Театр явив похвальна князя Явил тебе не для примеру, Но только лишь к твоей забаве. Ни действия, ни стихотворство, Глас звонкий жительниц Парнасских Тебе подобия не сыщет, Похвальной такову Тя видя Молчать и молча удивляться. Молчите дерзкие языки, Хвалить Ея не ваше дело, Единой только мне удобно Питающей мужей великих, Ея служительнице верной, Гласить Ея вселенной имя Краса! Краса всея природы Пример живых и честь бессмертных Хвала текущего днесь века, В ТЕБЕ святая добродетель Всегдашне сонмище иметь, ТВОЕ превосходяще имя, до самых вышних звезд восходит, И ТЯ, о МАТЕРЬ! Отделяет твоими мудрыми делами от человеческой природы;

Nicht früheren Helden Gleichst Du, Kaiserin Deine Majestät und Tapferkeit Deine Siege und Dein Großmut Verdunkeln deren Ruhm und Andenken. Das Schauspiel, welches Fürsten schmeichelt, War Dir kein Vorbild, Sondern nur Zerstreuung. Weder die Handlung noch die Dichtkunst, Noch der Stimmenklang der Parnassiden Kennen etwas, das Dir ähnelt. In Deinem Anblick gebührt ihnen Schweigen und stummes Staunen. Schweigt, Ihr Lästerzungen! Sie zu loben ist nicht Eure Aufgabe Allein scheint es mir geboten, In Kenntnis der großen Männer Als ihre Treue Dienerin Ihren Namen in die Welt rufen. O Zierde! Zierde der Schöpfung, Beispiel der Lebenden, Ruhm der Unsterblichen, Lob des laufenden Jahrhunderts In DIR hat die heilige Tugend Allzeit ihren Tempel, DEIN hervorragender Name, Erhebt sich zu den höchsten Sternen Und DICH, o Mutter! Unterscheidet er Durch Deine weisen Taten Von der menschlichen Natur.

6 Der Text der eigentlichen Oper wurde von Ivan Merkur󸀠 ev erneut übersetzt. 7 Information aus Natal󸀠 ja A. Fedorovskaja, Neizvestnyj perevod Lomonosova: Prolog k opere Miloserdie Tita, in: Kniga v Rossii. Vek Prosveščenija. Leningrad 1990, S. 19f. 8 Nach dem Libretto von Aleksandr Sumarokov. 9 Nach dem Libretto von Pietro Metastasio.

Die Zarin Elisabeth und die italienische opera seria

А ТЫ толику честь имуща Прими днесь имени драгому И ТВОЕМУ незлобну нраву Хвалу достойную по праву.“¹⁰

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Und DU nur, die Ehre habend, Nimm jetzt des teuren Namens Und DEINER gütigen Art Das Lob an, das der Würdigen gebührt.

Ihre Fortsetzung findet diese Lobpreisung in der Schlussarie: „Кто очи обратит на ТЯ ИМПЕРАТРИЦА, Познает без труда, ВЕЛИЧЕСТВО увидив, Какой ТЫ похвалы во веки быть достойна. И зря ТЕБЯ богам подобну Почувствует в горящем сердце Утеху, страх, любовь, почтенье, верность.“¹¹

Wer die Augen richtet auf DICH, KAISERIN, Erkennt mühelos, im Anblick der MAJESTÄT, Welchen Lobes DU ewig würdig bist. DU scheinst ja den Göttern gleich, Man fühlt im heißen Herzen Trost, Furcht, Liebe, Achtung, Treue.

Man beachte folgende Zeile: „DU scheinst ja den Göttern gleich“ – Also mit dem Göttern vergleicht Bonecchi Elisabeth. So und nicht anders steht es da. Später wird klar werden, warum ein solcher Vergleich der Regel entsprach; an dieser Stelle halten wir es nur fest. Über die Oper Bellerofonte (Bellerophon, Bellerofont 1750) hieß es in der Petersburger Zeitung vom 11. Dezember 1750, dass ihr Komponist die Absicht hatte, „im Bild dieses Helden die lobenswerten Eigenschaften unserer allergnädigsten Kaiserin darzustellen“.¹² Wer aber ist der Held, der zum Abbild ausgewählt wurde? Im Libretto charakterisiert Bonecchi ihn so: „Bellerophon, der Sohn von Glaukos, des Königs von Epiros oder Korinth, war ein hochberühmter Held der Antike, von fast allen Skribenten einmütig als solcher Herr dargestellt, der in seiner Person die hervorragendste Tugend verkörperte; und wegen seiner ruhmwürdigen Taten zu den Halbgöttern gezählt zu werden verdient . . . begabt mit Schönheit und Weisheit in Verbindung mit einer beim Menschengeschlecht unvergleichlichen Tapferkeit.“¹³ Bonecchi verweist auch darauf, dass „der Chor unter dem Namen Bellerophons Ihrer Kaiserlichen Majestät das Lob singt, in welcher Minerva ihre Tugenden deutlich zeigt.¹⁴ In der Synopse erinnert er erneut umständlich daran, dass die Zarin „alle Hindernisse glorreich überwand, die Unrecht und Neid vor ihr aufgebaut hatten, den allzeit in Ruhm erstrahlenden väterlichen Thron erklamm, dessen Schönheit sie durch ihre Tugenden vielfach vermehrt.“¹⁵ Die Ruhmestaten Elisabeths, in der schon Lomonosov die Forsetzerin des Werks ihres Vaters erkannte, werden also nicht verkannt. In der

10 [Giuseppe Bonecchi], Džuzeppe Boneki, Selevk. Sankt-Peterburg 1744, S. 52f. 11 [Bonecchi], Boneki, Selevk, S. 54. 12 Zit. n. Irina F. Petrovskaja, Elizaveta Petrovna. Muzykal󸀠 nyj Peterburg XVIII vek. Enciklopedičeskij slovar󸀠 . Sankt-Peterburg. Kompozitor, 2000, T.1, S. 338. 13 [Bonecchi], Džuzeppe Boneki, Bellerofont. Sankt-Peterburg 1757, S. 5. 14 [Bonecchi] Boneki, Bellerofont, S. 21. 15 [Bonecchi], Boneki, Bellerofont, S. 11

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Oper Eudossa incoronata, o sia Teodosio (Die gekrönte Eudoxia oder Theodosius der Zweite, Venčannaja Evdokija ili Feodoc Vtoroj)¹⁶, die am 25. April 1751 am russischen Zarenhof erstmals, zum feierlichen Andenken an die Krönung ihrer kaiserlichen Majestät Elisabeth, der allrussischen Selbstherrscherin, aufgeführt wurde¹⁷ gibt es am Ende des Librettos eine ebensolche Stelle. Dort fügt Bonecchi seinen „Gruß“ ein: „Ich gestehe, dass sich hinter dem Namen Eudoxia meine Ehrerbietung verbirgt. Was meine Verse beschreiben ist etwas Größeres. Wenn ich ihren unsterblichen Ruhm, ihre heldenhaften und den Thron schmückenden Tugenden vorstelle, so sagt mein Mund Eudoxia, doch meint mein Herz Elisabeth“.¹⁸ Im Operntext heißt es, dass „Eudoxia, die Gemahlin des Kaisers Theodosius II., bei allen als äußerst scharfsinnige und tugendhafte Persönlichkeit galt. Die damaligen Geschichtsschreiber bezeugen übereinstimmend, dass die Zeitgenossen sie nicht nur unbedingt für eine Persönlichkeit hielten, die über ein auf besten geistigen Anlagen beruhendes Urteilsvermögen verfügte, sondern die auch im ganzen Reich des Ostens für ihre überwältigende Schönheit berühmt war, wie sie ihr Geschlecht immer nur auszeichnen mochte.“¹⁹ Mit all dem sollten für die russische Herrscherin schmeichelhafte Analogien hergestellt werden. Eine Sonderstellung nehmen die letzten beiden Opern ein, die der Hofkomponist Araja für Elisabeth schrieb: Cefal i Prokris und Alessandro nell’Indie (beide 1755). Da Bonecchi Russland 1752 verlassen hatte und als Librettist nicht mehr zur Verfügung stand, griff Araja auf Libretti von Sumarokov beziehungsweise Mestastasio zurück. Darum finden wir nichts mehr, was an die früheren Lobpreisungen der Zarin erinnert. In Cefal i Prokris läßt sich der begeisterte Sumarokov sogar dazu hinreißen, statt der Zarin nun dem Komponisten ein Madrigal zu widmen: „Арайя изъяснил любовны в драме страсти И общи с Прокрисой Цефаловы напасти Так, сильно, будто бы язык он русский знал, Иль паче, будто сам их горестью стенал.“²⁰

Im Drama erhellt Araja die Leidenschaft der Liebe Erfuhr mit der Prokris die Widrigkeit des Kephalos Gerade so als könnte er Russisch Ja, als müsste stöhnend sie er selbst durchleiden.

Auch im Libretto der Oper Alessandro nell’Indie findet sich nichts mehr von dem, was bei Bonecchi üblich war. Natürlich werden der „Großmut“ und die erstaunliche Milde

16 So lautet der Originaltitel des 1751 gedruckten Librettos. 17 [Bonecchi], Boneki, Evdoksija venčannaja ili Feodosij vtoroj. Sankt-Peterburg 1751 18 [Bonecchi], Boneki, Evdoksija, S. 70 19 [Bonecchi], Evdoksija, S. 3 20 Aleksandr P. Sumarokov, Polnoe sobranie sočinenii. Č. IX, Sanktpeterburg 1787, S. 145, zit. n. Jurij Dimitrin, Libretto vo sne i najavu, na osnove teksta Ščerbakovoj. http://www.ceo.spb.ru/libretto/ classic/do_glinki/tsefal.

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Alexanders gepriesen, der „dem mehrmals von ihm besiegten und gefangenen König Poros jedes Mal sein Reich und die Freiheit zurückgab“.²¹ Aber das war nur ein gewöhnliche Allegorie und nicht auf die Zarin persönlich gemünzt. Im ersten Akt sagt Alexander: „Groß wie mein Sieg sei meine Milde“. Im dritten Akt kommt es zu folgendem Wortwechsel: Alexander (zu Poros): In maßlosem Stolz sprichst Du zu mir. Poros (zu Alexander): Das weiß ich wohl und harre meines Todes. Nur soll mein Schicksal eines Königs würdig sein! Alexander: Das soll es! So gebe ich Dir Deinen Thron, Dein Reich, Deine Braut und die Freiheit zurück.²²

Wie wir sehen, verherrlichten alle bisher aufgezählten Opern in verschieden allegorisierter Form die Tugenden der Zarin, ihre weise Politik und die Fortsetzung der ruhmreichen Taten ihres großen Vaters, doch nur in den Opern ihres Hoflibrettisten Bonecchi nahm diese Panegyrik einen stark persönlichen Charakter an. Die Fortsetzung der Tradition besonderer Lobeshymnen finden wir in den Werken, die Katharina II. gewidmet sind. Beispielsweise in der Ode, die der Oper Antigone von Coltellini-Traetti²³ vorangestellt wird, der Kantate Sopernica (Die Rivalin) ihres Hoflibrettisten Ladzarioni.²⁴ Man muss in Erinnerung behalten, dass es nur die unmittelbar am Zarenhof beschäftigten Librettisten waren, die sich um die Fortsetzung dieser Tradition der besonderen, an die Kaiserin persönlich gerichteten Lobpreisung bemühten. Betrachten wir nun die zweite Besonderheit der opera seria unter Elisabeth.

21 Pietro Metastasio, Aleksandr v Indii. Sanktpeterburg: Imp. Akad nauk, 1759, S. 5 22 Metastasio, Aleksandr v Indii, S. 5 23 Ihr Hofpoet schrieb: „Apoll und im Chor mit ihm die hellstimmigen Musen stimmen indessen herrliche und göttliche Freudengesänge an; und inmitten der Lobpreisungen und Glückwünsche, die den Olymp mit dem weithin klingenden Namen Katharinas erfüllen, . . . durchdringt sie mit Hilfe des Lichts der Weisheit, das von ihr ausgeht, den heiligen Schleier, der die Bestimmung früherer Geschickte verbirgt und sieht die Frucht der großen Taten eilig reifen. Unwissende wilde, in dunklen Wäldern hausende Völker wird es nicht mehr geben; diese werden sich zu gesitteten, arbeitsamen, weisen, wohlhabenden, starken Leuten wandeln, berühmt durch ihre großen Taten; und die Stadt des unsterblichen PETER wird ihr Haupt über viele starke Reiche erheben, wie Babylon einst oder Rom über der befriedeten Welt.“ Zitat aus: [Marco Coltellini], Marko Koltellini, Antigona. Sanktpeterburg 1772, S. 7f. 24 Ausgedehnte Lobpreisungen an Katharina in Jupiters Namen: „Obgleich Jupiter ich bin und Vater der Götter, weiß ich die Frage nicht zu lösen [den Streit zwischen Venus und Minerva, ob die Weisheit der Schönheit vorzuziehen sei oder umgekehrt?]. Schönheit, Würde und andere Gaben sehe ich im höchsten Maß vereint, sie stören sich nicht. Keine von ihnen kann vollkommener sein als die anderen, weshalb sie einander gleichen. Darum ehrt in dieser großen Göttin das Bild Jupiters selbst, und erstaunt über die Vereinigung von Schönheit und Weisheit, die ihr in ihrem Antlitz und ihrem großmütigen Herzen erblickt.“ Zit. n. Lodoviko Ladzaroni, Sopernicy. Sanktpeterburg 1765, S. 23. Im Konvolut mit: P󸀠 etro Metastasio, Ostavlennaja Didona. Sanktpeterburg 1766.

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2 Die Aufwertung der Rolle des Chores auf der Opernbühne Unter Elisabeth kommt es zu einer nicht unerheblichen Neuerung: Der Hofchor wird zum Teilnehmer der Opernaufführung, beginnend schon mit ihrer Krönungsoper La Clemenza di Tito. Schon beim Hören der ersten Probe empfand der Regisseur Jacob von Stählin²⁵ es als kurios, dass Kaiser Titus mitsamt seinen Vertrauten und drei weiteren Personen (mehr Figuren gab es nicht) sich selbst ein Loblied oder Choral singt. Um dieses Problem auszuräumen befahl die Zarin, Sänger aus der Hofkapelle ans Orchester abzustellen und alle Chöre einzustudieren. So geschah es dann: italienische Wörter wurden mit russischen Buchstaben in die vierstimmige Partitur hineingeschrieben und in einer Serie von Proben über fünfzig ausgewählte Sänger ausgebildet. Die Zarin nahm selbst an einer dieser Proben teil und erlebte mit, welche hervorragenden Resultate der Chor erreichte. Nicht umsonst bezeichneten ausländische Gesandtschaften, vor denen er später auftrat, ihn zu Recht als unvergleichlich. Nach dieser Vorstellung wurden die Kirchensänger bei allen Opern eingesetzt, wo Chöre auftraten, ebenso bei großen Hoffesten und in der Kammermusik“²⁶ Wir heben Stählins Aussage hervor, nach welcher der Hofchor für sämtliche Opernchorauftritte herangezogen worden sei. Anna Porfir󸀠 eva²⁷, die verantwortliche Herausgeberin der Enzyklopädie Das musikalische St. Petersburg des 18. Jahrhunderts²⁸ äußert sich im Araja gewidmeten Artikel etwas vorsichtiger. Sie geht davon aus, dass der Opernauftritt von fünfzig der besten Kirchensänger in Cefal󸀠 i Prokris (1755) mit hinreichender Sicherheit belegt sei und die Kirchensänger folglich auch in anderen Araia-Opern mit Choreinlagen aufgetreten sein könnten. „Die Orchestrierung solcher Nummern mit hinzugezogenen Trompeten, Waldhörnern und Pauken stützt diese Annahme. Zu derartigen Chorauftritten während der Apotheose oder Schlußzene kommt es in den Opern Mitridate, Eudossia incoronata, Alessandro nell’Inide; im Libretto der Oper Scipione findet ein ‚Ballett mit Chorbegleitung‘ Erwähnung, das in der Partitur nicht eingetragen wurde.“²⁹ In der Oper Bellerofonte folgt eine Chorszene der nächsten, bedingt durch eine Handlung, die aus einer

25 Staehlin, Jacob von (1709–1785) – bedeutender Mitarbeiter der Russischen Akademie der Wissenschaften in der Frühphase ihres Bestehens; Wirklicher Staatsrat (seit 1768); Graveur, Medailleur, „Feuerwerksmeister“; Memoirist. 26 Stählin, Nachrichten von der Musik, S. 94 27 Anna Leonidovna Porfir󸀠 eva – wissenschaftliche Mitarbeiterin, Leiterin des Sektors für Musik am Russländischen Institut für Kunstgeschichte (St. Petersburg), verantwortlicher Redakteur der Enzyklopädie: „Das musikalische St. Petersburg im 18. Jahrhundert“. (russ.: Muzykal󸀠 nyj Peterburg. XVIII vek. Sankt-Peterburg: Kompozitor 2000). 28 Muzykal󸀠 nyj Peterburg. XVIII vek. 29 Anna Porfir󸀠 eva, Araja. In: Muzykal󸀠 nyj Peterburg XVIII vek. Sankt-Peterburg, Kompozitor 2000, T. 1, S. 59.

Die Zarin Elisabeth und die italienische opera seria

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Abfolge vieler übernatürlicher Ereignisse bestand,³⁰ wie auch in der Oper Seleucio, deren Handlung dadurch hervorsticht, dass der Chor gewissermaßen die Rolle eines unabhängigen Kommentators der Handlung spielt. Die Einbeziehung des Hofchors wirkte sich auf den Umfang der Inszenierungen aus – sie gewannen an Gewicht und Pomp. Etwas später wird Baldassare Galuppi, der vom Klang des Hofchors beeindruckte Hofkomponist Katharinas II., die Oper Ifigenia in Tauride (1768, nach dem Libretto von M. Kol󸀠 tellini) eigens wegen ihrer zehn Chorauftritte zur Aufführung auswählen. Katharina II. persönlich verfasste das Libretto zur Aufführung von Načal󸀠 noe upravlenie Olega (Oleg tritt die Herrschaft an), die im dritten Akt drei und im fünften Akt vier Chorauftritte enthielt, worin sich ihre Anerkennung der Bedeutung von Chorepisoden im Theater ausdrückte.³¹ „Die Choreinlagen werden von den Kirchensängern Ihrer Kaiserlichen Majestät bestritten“ – auch diese Bemerkung, die sich in manchen Libretti findet, zeugt vom Fortbestehen der Tradition, den Chor in die Oper einzubeziehen unter Katharina II.³² Hierin lag also eine Besonderheit der opera seria in Russland. Sie wurzelt in der besonderen Auffassung von der Gottähnlichkeit der Herrscherperson. Diese das ganze 18. Jahrhundert hindurch bestehende Auffassung ging auf die Zeit Peters I. zurück, als dieser im Jahr 1700 das Patriarchat abgeschafft hatte: „der Zar wurde als Oberhaupt der Kirche wahrgenommen, und das steht in unmittelbarer Beziehung zum Verhältnis des Zaren zu Gott.“³³ In eben diesem Zusammenhang mit dem Monarchenkult, dieser Sakralisierung seiner Persönlichkeit, entsteht die Tradition der religiösen Verehrung des Monarchen. Es ist nun von „den Großfeiertagen“³⁴ die Rede, die zu offiziellen Kirchenfeiertagen erhoben wurden. Beginnend mit der Zeit Annas I. werden solche Feiern auf besondere Weise gestaltet: Der erste Tag ist der religiösen Huldigung des Monarchen vorbehalten, dem Festgottesdienst in der Kirche; der zweite dem Staatsfeiertag, der säkularen

30 Lois Rosow/Marita McClymonds Bellerophon/The New Grove Dictionary of Opera. Oxford University Press, 1997. V. 1, S. 388 31 Sie sind ihr so wichtig, dass sie sogar den Komponisten Cimarosa, dessen Chormusik des fünften Aktes ihr nicht gefiel, durch Sarti ersetzte, der dem wählerischen Geschmack der Zarin besser zu entsprechen wusste. 32 Eine solche Angabe findet sich in folgenden Opern: Alkid pri rasputii (Alcide al bivio, Achill am Scheideweg, von Metastasio, Paisiello), Achill vo Scire (Achille in Sciro, Achill auf Skyros, Metastasio, Paisiello), Orfej i Evridika (Orfeo ed Euridici, Orpheus und Eurydike, Calzabigi, Gluck) Ifigenija v Tavride (Ifigenie in Tauride, Iphigenie auf Tauris, Coltellini, Galuppi, Olimpiada (L’Olimpiade, Olympiade) Metastasio, Traetta), Antigona (Antigona, Antigone Coltellini, Traetta); Die russischen Titelfassungen werden hier wie in den Originaldrucken der Libretti wiedergegeben. 33 Viktor Živov, Boris Uspenskij, Car󸀠 i Bog. Semiotičeskie aspekty sakralizacii monarcha v Rossii. In: Jazyk i kul󸀠 tura i problem ich perevodimosti. Moskva 1987, S. 93. Zit. n. Elena Chodorkovskaja, Opera Seria, in: Muzykal󸀠 nyj Peterburg XVIII vek. Sankt-Peterburg, Kompzitor 2000, T.20, S. 290. 34 Zu den Großfeiertagen (russ.: Velikotoržestvennye dni) gehörten Geburts-, Namens- und die Jahrestage der Thronerhebung wie der Krönung.

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Huldigung – dem Vortrag von Oden und der Vorstellung der opera seria. Die Ode, „die als Teil der weltlichen Feier erscheint, . . . wird zum Gegenstück der panegyrischen Predigt im Gottesdienst. . . “³⁵, und die opera seria, durch die Einbeziehung desselben Hofchors, der die kirchlichen Zeremonien begleitete, wird zum weltlichen Gegenstück der Feiertagsliturgie.³⁶ Außerdem verschiebt der doppelte Einsatz des Hofchors in Gottesdienst und Oper den Höhepunkt von der religiösen zur weltlichen Zeremonie – zur Aufführung der opera seria – und vereint beide zu einem gemeinsamen Ganzen. Man muss ergänzen, dass die Einbeziehung des Hofchores, der den Russen gut vertraut war, in das für sie noch ungewohnte Genre dazu beitrug, die Einbürgerung der Oper zu erleichtern. All das wird Elisabeth wohl kaum im Sinn gehabt haben, als sie auf Vorschlag Stählins ihren geliebten Chor dazu anwies, in La Clemenza di Tito aufzutreten. Dennoch wird die Einbeziehung des Chors in Opernaufführungen von da an zu einer Tradition, der alle italienischen Kappellmeister folgen, die am russischen Hof dienen. Dadurch werden sie „in bestimmter Weise das formieren, was später, im Zusammenhang mit den Errungenschaften Glinkas, einmal als „Oratoriumstil der russischen Oper“ bezeichnet werden wird.³⁷ Abschließend sei ein weiteres Mal daran erinnert, dass die Änderungen, welche die Oper zur Zeit Elisabeths erlebte, wie die nun in die Handlung eingefügten, an Oden gemahnenden Lobpreisungen der Zarin, die dadurch bewirkte Stärkung des allegorischen Charakters der Aufführung, wie auch die Einbeziehung des Hofchors in Opernaufführung und die durch sie bewirkte Aufwertung unmittelbar dazu tendierte, die Hoffeiern zu einem Akt der Sakralisierung der Herrscherperson werden zu lassen.

35 Živov/Uspenskij, Car󸀠 i Bog. Semiotičeskie aspekty sakralizacii monarcha v Rossii. In: Jazyk i kul󸀠 tura i problem ich perevodimosti. Moskva 1987, S. 93. Zit. N. Chodorkovskaja, E.: Opera Seria, in: Muzykal󸀠 nyj Peterburg XVIII vek. Sankt-Peterburg, Kompzitor 2000, T.20, S. 290. 36 Information aus: Chodorkovskaja, Opera Seria, S. 285–293 und Anna Porfir󸀠 eva, Kommentar zu meinem Vortrag auf der Konferenz „Formen des musikalischen Glücks: Die Opernbühne in Erzählungen und Mythen. St.Petersburg, Mai 2013. 37 Chodorkovskaja, Opera Seria, S. 289f.

Francesco Paolo Russo

Festa teatrale: repraesentatio maiestatis in eighteenth-century Russia As part of the court ceremonial, the musical opera-celebratory in italian language during the seventeenth and eighteenth centuries in Europe was one of the rites of the privileged repraesentatio maiestatis: a place of political liturgy, moral debate, education and entertainment, a representation of the hierarchical structure and a tool of consensus. It is no coincidence, therefore, that such a model was also adopted in countries such as Russia, where the penetration of Italian opera culture, although hampered by language and cultural preventions, was at the beginning of the eighteenth century constant and tenacious. It is not surprising, therefore, that scholars may find a series of celebratory poems or similar performances, organized by the Russian court during the most solemn occurrences.¹ Started in Vienna in 1668 with the representation of the Festa teatrale Il Pomo d’oro by Sbarra/Cesti this spectacle did not take long to spread in the main Italian and European courts. The political use of music drama was now facilitated by a format more suitable to the needs of the court in terms of duration and spectacularity. The need to adapt to the requirement of the single courts explains the extreme variety of musical forms that this type of performance takes: it goes from Cantata for one or two voices to the operatic performance through a series of intermediate forms which reflect an ability of adaptation that has allowed a long duration of this type of entertainment. Even the Russian court is not free from this practice which apparently dates back to the years following the death of Peter the Great and precisely to the ascent to the throne of Empress Anna Ioanovna; the italianization of Russian court music begun during her reign from 1730 to 1740. This was the period when the Italian theatrical forms like Commedia dell’arte, intermezzos, opera seria, spread in Russia; likewise Italian musicians, along with other theater specialists, were invited to S. Petersburg.² At first, Russian diplomats invited them from the courts of Saxony and Germany but later directly from Italy itself. It was then that such famous

1 On celebratory poems in eighteenth-century Europe see Jacques Joly, Les fêtes théâtrales de Metastase à la cour de Vienne (1731–1767). Clermont-Ferrand 1978, Raymond Monelle, Gluck and the „Festa Teatrale“, „Music and letters“, LIV, n. 3, 1973, pp. 308–325 and Annarita Colturato (Ed.), La festa teatrale nel Settecento dalla corte di Vienna alle corti d’Italia, Atti del convegno internazionale di studi, Reggia di Venaria 13–14 novembre 2012. Lucca 2011. 2 We can find some informations on penetration of italian music culture in Russia in Robert A. Mooser, Annales de la musique et de musiciens en Russie au 18.e siècle, 3 voll. Genève 1948–1951, (in particular the first volume, Des origines à la mort de Pierre III.). See also Marina Ritzarev/Anna Porfireva, The italian diaspora in eighteenth-century Russia, in: Reinhard Strohm, The eighteenth-century diasDOI 10.1515/9783110520224-014

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virtuosi as the cellist Giovanni Piantanida, and violinists Luigi Madonis and Pietro Mira (the famous Petrillo) arrived with a group of players probably headed by the eminent Arlecchino Antonio Sacco. Mira was sent to Italy to engage the best possible Italian opera cast. After unsuccessful attempts to court Nicola Porpora, Mira’s mission resulted in an invitation to Francesco Araja who became maestro di cappella at the Russian court. According to the model of the european courts, Italian opera became a centre of Russian court musical life. Finance, manpower, aesthetics, education, ballet – everything revolved around the opera theatre, eventually establishing it as the main institution of art-music. Empress Elizabeth Petrovna who reigned from 1741 to 1761 greatly contributed to the consolidation of Italian music in Russia. Under her reign, the representations of musical feasts increased significantly. As can be seen in the table in the annex, one can get an idea of the spread of the musical celebration between Moscow and St. Petersburg.³ Between 1731, when we have the first evidence of a celebratory musical composition, and 1761 we find thirteen poems related to major events such as parties for the coronation (1731 coronation of Anna Iovanovna, 1742 coronation of Elizabeth), coronation anniversaries (1736, 1748, 1757, 1761) as well as birthdays (1758) and name days of the Tsars (1731, 1757, 1760). The table shows how this type of spectacle was closely linked to the slow penetration of Italian poets and operatic troupes at Russian court at that time. In particular the emphasis should be posed on the difficulty to identify a literary figure who could play a role similar to that of the Viennese Poeta Cesareo. The service at the court of the Florentine poet Giuseppe Bonecchi was brief,⁴ while for the rest, at least until the arrival of Casti in the seventies, the librettists of these compositions were scholars such as Jacob von Stählin or impresarios such as Antonio Denzio, Giovanni Battista Locatelli and Ludovico Lazzaroni. Furthermore, the introduction in Russia of a spectacle of this kind had been too recent for it to become fully established. The most important celebratory poems of Metastasio, thus setting a in Europe a cultural mode were imported during the fifties. The situation is different with regard to the composers involved in these encomiastic spectacles. As we can see, the composition of the music of most of them is assigned to the musician who at the time held the position of Kapellmeister: this is for example Francesco Araja 1736–1757 (5 items) as well as Vincenzo Manfredini in the early sixties (2 items). The task of writing other musical compositions was given to foreign guests such as Ferdinand Zellbell (Kapellmeister in Sweden) and Giovanni Antonio Ristori; conductors such

pora of italian music and musicians. Turnhout 2001, pp. 211–253; Marina Ritzarev, Eighteenth-century russian music, Aldershot 2006. 3 The list is incomplete: the sources are Mooser, Annales de la musique, and Claudio Sartori, I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800, 7 voll. Cuneo 1991–1997. 4 On Bonecchi see Dizionario biografico degli italiani, vol. XI, Roma, Istituto dell’Enciclopedia Italiana, 1969, pp. 741–743.

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Francesco Zoppis and court orchestra musicians who for the occasion became composers such Giovanni Verocai and Domenico Dall’Oglio. In the third column of the table in the annex, we can see the type of celebratory poems next to the occasion on which they were performed. We can immediately see how almost all the poetic forms of this type of spectacle are present in the table. It starts with a Cantata for the coronation of Anna Ioanovna entitled Fedeltà e amor vassallo with music of Verocai, then we move on to a Serenata, a Prologo, a Festa teatrale, Pastorale, Pastorale eroica and then to the more generic titles Composizione drammatica and Componimento drammatico used as introductory essays to ballets. Missing in this small review is the name Azione teatrale which was widespread in European theaters during this period. 1748 is an important year for the establishment of celebratory musical compositions in Russia. For the first time a Festa teatrale is represented: L’asilo della pace, text by the court poet Giuseppe Bonecchi and music by the maestro di cappella Francesco Araja on the anniversary of the coronation of Empress Elizabeth. The term Festa teatrale was sometimes used to describe works which marked state occasions. The subject was usually taken from classical mythology, or was an allegorical concept based on characters from ancient history. The Festa teatrale plot used an allegorical and moralistic theme, with mythical or historical characters, as a vehicle for musical and visual splendour. The amount of action and the introduction of sub-plots were restricted by the elaborateness of musical development; the psychological tangles and deathly conflicts of opera seria did not appear. The language of these works was substantially pastoral, full of images taken from nature and its elements; and since composers often used such images as occasions for special musical effects, Feste contain more than their share of realistic orchestral textures, arie di bravura and sensational accompagnati. Long choral sequences were an ingredient of the Festa teatrale and so were ballets. All these things enhanced the element of spectacle, and so did the elaborate choruses, which often personified the ninfe, pastori, cacciatori, typical of the pastoral fable. The free use of accompagnato extended to sections of arias, so that passages of accompanied recitative would be heard before the reprise of the first part of an aria. Accompagnato was much more extensive than it ever was in the true opera, extending even to dialogue. The exit-aria convention was not observed in Feste; aria and arioso could thus be used more freely; for instance, the big coral sequences sometimes included sections for soloists. The Festa were usually divided into two parts. But since the work was really spectacular rather than dramatic, the accompaniments tended to be illustrative rather than emotional: that is, the images presented by the text, battles or sunrises, were literally echoed by the orchestra. The most sumptuos Feste, in common with the other short occasional genres like the dramma pastorale, called for a big orchestra.⁵

5 See Monelle, Gluck and the „Festa Teatrale“, p. 310 ss.

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The composition of the libretto of L’asilo della pace was assigned to Giuseppe Bonecchi, Florentine poet who was in S. Petersburg where he took refuge after a series of misfortunes. After a short period in Poland, Bonecchi joined the troupe of Italian musicians who went under the service of Tsarina Elizabeth. Here he worked as librettist but was also appointed official poet of the court thanks to the protection of Francesco Araja. For the neapolitan composer he wrote the librettos Seleuco (1744) Scipione (1745), Mitridate (1747), Bellerofonte (1750), and Eudossia incoronata (1752). He remained in Russia for about seven years and in 1752 moved to Vienna where he met Metastasio, who being pleased with his work and put him in touch with the Portuguese court. Due to the devastating Lisbon earthquake of 1755, Bonecchi returned to Italy, first to Florence and then to Naples, where he staged Bellerofonte at the Teatro S. Carlo with music by Misliveček and then took up a diplomatic career. A great connoisseur of musical poetry of his time, Bonecchi did not hesitate to use all his knowledge for the preparation of the text of L’asilo della Pace in 1748. The title of the libretto reveals instantly the model. Putting aside all references to the Viennese tradition of Zeno and Pariati, Bonecchi looks to Metastasio for the composition of his text. The drama shows a strong influence of Festa teatrale L’asilo d’amore which the Poeta Cesareo wrote in 1732 for a performance with music by Caldara in Linz on the birthday of Empress Elizabeth, wife of Charles VI. The choice of model is accurate: Bonecchi knew very well the importance of this theatrical feast in the development of Metastasian poetic. Although L’asilo d’amore was commissioned to celebrate the birthday of Empress, like La contesa dei numi and Il tempio dell’eternità, the Roman poet had given evidence of originality and artistic consistency that situate the small work alongside the most successful great operas. The structure of the Festa itself is quite simple. In a prologue with two characters (Venere and Amore) and an ending where all the characters (except for Amore) are grouped together on stage, the central part of the Festa consists of a debate between deities and Venere about Amore. The allegory behind this structure is quite clear: it is the double meaning of Amore as son of a goddess (Venere) and as a passion felt by men. The final exaltation of the Empress sounds like the ultimate end of everything that preceded it, a sort of captatio benevolentiae that surprises the viewer and at the same time reveals the secret that underlies the pièce: a celebration of Elizabeth as a regulator of relations between the celestial spheres and the affairs of men. Metastasio inserted here some elements of drama and baroque feast in particular as regards to decoration and the elements related to the light in the scene. The prologue begins in „Parte interna d’un antro incavato nelle viscere d’un monte senza soccorso dell’arte. [. . . ]. Non sarà il luogo rischiarato da altro lume se non da quello che penetrando debolmente da alcune rotture dell’antro, non giunge ad introdurvi il giorno, ma basta a discacciarne la notte.“ This „rocky“ decoration composes a picture in full rococo style but at the end of the prologue it will be contrasted by th e appearance of the wonderful and splendid palace of Venere which immediately sweeps away any remaining baroque style.

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There are many points of contact between the play by Metastasio and that by Bonecchi. First, the setting takes some elements of the Metastasian model eliminating elements of baroque thus making room for the typical classicity of the encomiastic poems of the sixties. The action now takes place in a forest near S. Petersburg. The caption broadly reflects that of the original, with the setting of the Arcadian nymphs and shepherds. Nell’alzar della tenda comparirà un ameno e delizioso boschetto irrigato dall’acque di varj ruscelli et adombrato da folte piante che lo circondano. Da un lato si vede il simulacro di Pale dea dei pastori, e dall’altro l’ingresso di rustica grotta vagamente adorno di festoni, di fiori e di trofei boscarecci. Sarà il bosco suddetto tutto ingombrato da liete schiere di ninfe e pastori che intrecciano allegre danze al suono di varj stromenti secondati dal canto seguente.

The palace of Venere now becomes the palace of Giove „una reggia magnificamente adorna“ at the beginning of the second part. Second, the subject of the drama contains the key element of the semantic structure of L’asilo d’amore. In Bonecchi’s play Pace finds, after several conflicts with Marte, a worthy asylum at the court of the Empress Elizabeth, and, under the supervision of Giove, will find protection in Marte himself. The model here is certainly another play by Metastasio: La contesa dei numi represented in 1729 in Rome with music of Leonardo Vinci. In this pièce, Giove is forced to resolve a conflict between Pace, Marte, Apollo, Astrea and La Fortuna who all want to take care of the infant Dauphin of France. The similarity with Metastasio’s plays, however, does not end with the adoption of common issues. Even from the point of view of the verse, Bonecchi seems respectful of the model. The character of the arias maintains a constant stylistic balance that brings him closer to versification of Metastasio. See in this regard the two arias of Pace that seem to come directly from a Festa Teatrale of the Viennese Poeta Cesareo: Alla foresta amica fa l’augellin ritorno, in placido soggiorno sicuro a riposar. Riede serena in fronte l’amata pastorella al prato, al colle, al fonte l’agnelle a pascolar.

Se quel crudele seguir vi piace, cercate invano riposo e pace: più non sperate di respirar. Ché sol mercede ottien d’affanno chi sotto il giogo di quel tiranno corre i perigli ad incontrar.

A final reference to Metastasio is in the second part of the Festa, which Bonecchi inserted the aria Varca il mar di sponda in sponda that we can find in the Festa teatrale Galatea performed in Naples in 1722.

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L’asilo della pace, like most the Feste of the period, presents two ballets at the end of the two parties. The final one depicts the joy of the followers of the deities who dance to celebrate the glory of Elizabeth. However the first ballet is more interesting since it stages a mock battle organized by the followers of Marte: „I seguaci di Marte formano una festa d’armi che rappresenta un finto combattimento e con questo termina la prima parte.“ Unfortunately we do not have the score of these two ballets. We just know the choreographer „sig. Fossano“, a pseudonym of the italian dancer Antonio Rinaldi much appreciated in France and Maestro of the first russian dancers. As in the musical drama of the period, also in this Festa teatrale the role of the singers is very important. In particular, the castrato Lorenzo Saletti took a prominent role.⁶ He was given the most important aria of the Festa Varca il mar di sponda in sponda in which Araja used a rich instrumentation by way of trumpets, horns and timpani. In the score of L’asilo della pace two arias – the text of which was already established in the libretto by Bonecchi – are replaced with others that the singer had in his repertoire and wanted to perform in front of the Russian court. It is Tornate sereni that replaced Ritorni la calma (we can find it in Achile in Sciro of 1736) and Mai l’amor mio verace that replaced Mai di quell’astro amico (we can find it in Ipermestra of 1744). The work of Araja appears respectful of the tradition of musical drama at the time. The Neapolitan musician compose all the arias in the Da Capo form bringing down to two the number of repetitions of part A and adding difficult coloraturas that reveal the technical possibilities of the singers. In this Festa we can find few choral interventions. There are only two and they are located at the beginning and at the end of the Festa. Araja considers the chorus as an independent element. In the first chorus we can only find the soprano, alto and bass voices. It is characterized by a short and simple musical texture in which the homophony between the high voices contrasts with the conduct of the low, different from the point of view of rhythm. As stated in the libretto, Bonecchi planned to use the opening chorus as a frame by placing a repetition of it after the first aria of Pace. We obtain a scene in which Pace is surrounded by joyful peasants celebrating the arrival of Pale, opened and closed by the chorus. In the score, which lacks the recitatives, there is no indication of repetition of the ballet and therefore it is not known whether the intervention of the choir has been replicated. The second and last chorus is the final one. Generally the final chorus of the Feste has the function of License, or open praise to the sovereign accomplished through a direct praise and at least one comparison to a deity. The final chorus of L’asilo shows a scoring that, in addition to strings, trumpets and timpani, also presents four vocal parts which are grouped in two with imitations and which close at the end in perfect homophony. After this episode we find a solo section in which a bass voice sings accompanied only by

6 Saletti was one of the most famous castrati of the period. He was born in Florence, the city where he had also studied and had soon conquered the stages of Venice, Madrid and Rome. A caricature of this castrato by Pier Leone Ghezzi is now published in Giancarlo Rostirolla, Il „Mondo novo“ musicale di Pier Leone Ghezzi, Milano 2001, p. 197.

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the strings: this being the last song of praise to the sovereign. The repetition of the first chorus, without instrumental introduction, marks the end of the Festa. Let’s look now at the second Festa teatrale: Il giudizio di Aminta. It was performed on the occasion of Empress Elizabeth’s birthday in 1758, a period in which laudatory poems became very popular during royal house celebrations. The simultaneous absence of the official court composer Araja, who left the service to return to Italy in 1757, and of a theatrical poet able to provide texts set to music (Bonecchi had left St. Petersburg in 1752) caused the Russian court to engage personalities of secondary importance. In particular, as already mentioned, literary texts were commissioned to the impresarios who succeeded each other at the helm of the troupes of italian singers. As for the musicians, the Russian court chose composers temporarily in S. Petersburg. This is the case of Ferdinand Zellbell whose collaboration with the Russian court was limited to the composition of this Festa teatrale. Here is briefly the plot of the Festa: The shepherd Aminta wanders alone through a forest in the vicinity of S. Petersburg. He is tired and falls asleep. The Goddess Diana enters and praises the beauty of these woods, thus glorifying the birthday of Elisabetta. She comes across Aminta, who is awakened and tells Diana of his fate: he was compelled to leave his home, in the Adriatic Sea, and has been wandering unhappily in this unknow country. Diana informs him where he is and suggests he should go to the Empress Elisabetta and ask her for help. The goddess Giunone appears, as well as the allegorical figure of Il tempo, who reminds them of the transience of time. Giunone and Diana reveal that even if time passes, Elisabetta’s fame and memory will still remain. A dove appears above the scene, carrying a garland of flowers with the inscription: „Heaven has donated this precious collar for her who is most worthy“. Diana speculates who this may be and wonders who should be a new Paris, to make such choice. She begs Giove not to start a new war, as when Paris made his choice with the golden apple. The God Mercurio enters and informs that Aminta shall be the one to make this choice. Giunone thinks she already knows who will be the winner. Long discussions and arguments are brought to an end when the stage changes to a „Tempio della Gloria“, in wich Aminta finally makes his choice: it is the Empress Elisabetta who is worthy of the garland of flowers. In this libretto too we can find some influences of Metastasian Feste. Already from the title we can associate the Festa by Lazzaroni to those theatrical pieces inspired by Tasso which had found in Il re pastore of Metastasio one of the main reference points. Metastasio’s libretto was conceived as a true musical drama but, as represented in the garden of Schonbrunn in Vienna in 1751, it had been transformed into a Festa teatrale and, by means of some adjustments, had spread throughout Europe.⁷ The reference

7 Hasse represented his version of Il Re pastore in this form at the Royal Hunting Palace of Hubertusburg in 1755. Lazzaroni was in Dresden at that time. See Raffaele Mellace, Le feste teatrali viennesi

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to the Re pastore is evident by the presence of the character of Aminta. Thanks to his status as a king/shepherd Aminta can be the recipient of a very important mission: as a new Paris is called by the gods to choose the most deserving person to receive a garland of flowers deposited at his feet by a white dove sent by Giove. In Lazzaroni’s Festa we also find the character of Tempo, who regulates the course of events: he is opposed to the building of a temple which would testify to the eternal greatness of the Empress. Scene V of the second part, however, marks his defeat: the temple is nothing more than an allegory of the glory that posterity will give to the sovereign author of so many extraordinary deeds. Tempo is therefore obliged to succumb to the apparition of the Temple of glory. Here, too, the model is once again Metastasio. In the Festa Teatrale Il tempio dell’eternità, written by the Poeta Cesareo in 1731 in Vienna to celebrate the birthday of Empress Elisabeth, there are at least two interesting elements for our analysis. The character of Tempo – a Baroque legacy of the oratorios of the seventeenth century – warns the characters of the transience of things, and even in this situation he is resoundingly defeated (in the second part of the poem) at the appearance of the „Carro dell’eternità“ (chariot of eternity) that rescues Aeneas and Anchises removing them from local tyranny. In the text of Lazzaroni the constant references to Metastasian models contrast with other theatrical elements. The most important of them is a return to baroque themes that indicate a certain distance of the genre of Festa teatrale from the musical drama of the period. Meanwhile, we can emphasize the use of a theme that dates back to the earliest example of Festa, Il Pomo d’Oro by Cesti and Sbarra of 1668 considered the first exemple of the genre. Aminta is forced to choose who is most worthy to receive the garland just as Paris had been called upon to give the Apple to the most representative goddess. Regarding the versification, Lazzaroni used irregular meter and strophic structures distant from the development of contemporary dramma per musica. The arias in two isometric stanzas are rare, while there are mostly stanzas of truncated quinarios; we may also find settenarios with strange combinations of accentuation. We can see the aria of Aminta at the end of the second scena of the first part: Così non è talvolta bramata in tempo estivo la pioggia dal cultor. Allor che langue il fior e vede ancora il frutto del suo sudor mancar.

Ogni rumor che ascolta si riconsola e crede che sia il fragore che il fresco umore venga a portar.

These type of verses seems more appropriate to the contemporary commedia per musica than to the aulic atmosphere of Festa teatrale. While Bonecchi in L’asilo della Pace

di Metastasio e Hasse, in Elena Sala di Felice (Ed.) Il melodrama di Pietro Metastasio. La poesia, la musica, la messa in scena e l’opera italiana nel Settecento, Roma 2001, pp. 467–492.

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carefully avoids naming the Empress in the pieces before the final License, Lazzaroni, instead, never misses an opportunity to glorify Elizabeth with almost every pièce breaking the implicit metastasian rule which provided a sort of suspense regarding the appearance of the name of the sovereign. We can see an exemple in the dialogue of Diana and Aminta in the second scene of the first act in which Elizabeth is also celebrated as daughter of Peter the Great. We can see also in this passage the use of capital letters for any reference to the Empress: DIANA: [. . . ] Se cerchi, Aminta, qualche riparo alle sventure tue, qui più ch’altrove splende astro benigno in ciel per gl’infelici: ELISABETTA ha nome questo sole che il ciel russiano onora. [. . . ] E pur ciò che la fama narra delle SUE lodi sola è un’ombra del ver. Creolla Giove per delizia del mondo unendo in LEI beltà, virtù e angelici costumi ha un’alma in sen da far invidia ai numi. [. . . ] Nella città vicina che del GRAN PADRE SUO col nome s’orna l’ALTA DONNA soggiorna.

The dramatic structure that Lazzaroni prepares for Zellbell is organized according to the post-metastasian model. The Festa preserves the structure into two parts. Each of them presents a division into scenes (six each) with few captions and placing the arias at the end of the scene, sometimes also in the middle. A significant reference to the techniques of contemporary music drama lies in the change of scene at the end of the fifth scene of the second part. Here the sylvan setting gives way to the magnificent Temple of Glory built in honor of Elizabeth. The Feast is lacking the ballets that had characterized the opening and closing of Bonecchi’s libretto. The interventions of the choir are finally located at the end of each part: the second of them has the function of License. Not much is known about the life of Ferdinand Zellbell (son) apart from a short autobiography, written in 1764 in order to obtain access to the „Timmenmansorden“, one of the secret freemasonic-like orders in Stockholm at that time. Even though his father Ferdinand Zellbell had been born in Uppsala, he had German roots, both on his father’s and on his mother’s side. His grandfather had come to Sweden from the German town of Zelle in Lower Saxony, and this might explain the name Zellbell. Ferdinand received his first musical training from his father, and at the age of 11 he could help his father as organist at Stockholm’s Storkyrka. In 1738 he left Sweden for a threeyear long journey through Northern Germany to study music. When he returned, he

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was refused a lucrative post at the Royal Orchestra which had been promised by influential Baron von Düben. He then decided to abandon music completely. However in 1749, due to various circumstances, he changed his mind and returned to his former activity as Concert-master at the Royal Orchestra. In 1756 Zellbell decided to leave the country, and with the support of music-patron Patric Alstömer he was allowed to travel to S. Petersburg, where Tzarina Elisabetta asked him to write the music for the Festa Teatrale Il giudizio d’Aminta.⁸ The Festa opens with an instrumental introduction, a „Ouvertura“ conceived by Zellbell in one great movement with a large use of instruments that gives us an idea of the celebratory effort deployed by Elizabeth’s court. While L’asilo della pace presents a more conventional scoring, here we have 3 trumpets, timpani, two oboes, two horns and the instruments for the basso continuo indicated in the score. The pièce, articulated in 250 bars, is divided into three sections: a martial Allegro, a candenza in three bars in Adagio and an Andante with a very gallant theme of four-bars transposed in the high register according to the technique of contemporary instrumental music. The unfamiliarity of the Swedish musician with the theatrical genre, however, is demonstrated by the fact that he places a second instrumental introduction at the beginning of the second part of the Festa. It is an operatic „Sinfonia“ in three movements (Allegro-Andante-Allegro) that, in addition to the strings, presents two horns in extreme movements and two flutes in the intermediate. As is known, in no dramma per musica there is such an abundance of instrumental introductory episodes. We can assume that Zellbell wanted to demonstrate his proficiency in both models of the symphony as if he wanted to propose himself as a candidate Kapellmeister. The accompanied recitative, a traditional element of the dramaturgy of the Festa, is used in only two occurrences. At the beginning of the drama Lazzaroni depicts the loneliness and disorientation of the shepherd Aminta advancing uncertainly in the woods by a sequence of settenarios and hendecasyllabes. Zellbell sets to music this verses in an accompanied recitative of 31 bars instrumented with strings. In it we see the contrast between the usual staccato formulas and a legato melody repeated several times. The recitative does not introduce any arias or duets, because the next scene, in which Diana comes across the sleeping shepherd, is set to music in secco recitative. Shorter but functionally more important, is the accompagnato of Giunone (scene IV of the Second part interpreted by „The Farinella“) introducing the aria Per lei divien maggiore. Although the text contains words like „terror“, „fright“, „with a hundred trumpets“, Zellbell writes a short passage of 23 bars in which the repetition of an initial musical figuration made of trills is opposed to a series of conventional figures useful for a quick declamation of text.

8 The score was published by the Swedish publisher Gran Tonante: Ferdinand Zellbell, Il giudizio di Aminta dramma per musica da rappresentarsi nel Teatro del Giardino Imperiale di Corte il 22 dicembre 1758, Älgarås, 2009. I wish to thank the editor Holger Schmitt-Hallenberg for sending me the volume.

Festa teatrale: repraesentatio maiestatis in eighteenth-century Russia

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The choir is another important element for this Festa Teatrale. It should be pointed that the composer has not provided a chorus of professional singers and the same librettist offers him few opportunities to engage in choral moments. The choir here is essentially a union of solo singers. The first chorus is set to close the first part of the Festa. There are involved only three of the five characters caught in the moment in which Giove announces the defeat of Glory at the hands of Time. Zellbell sets to music the text of Lazzaroni in only 82 bars divided into two sections: the second is the repetition of the first with some variation. The scoring includes horns and oboes while the voices are clearly homorhythmics, sometimes interrupted only by a few imitations. The second choral intervention coincided with the License and is therefore placed at the close of the Festa. In spite of the instrumentation that returns to the initial sparkling symphony, even here there is a distinction in two sections: the second presents minimal changes compared to the first. The Festa – except for a short arioso of few bars – shows an alternation of recitatives and arias interrupted by a duet. Regarding the arias Zellbell assigns to each character a suitable number of pieces. The most famous singers receive the same number of pieces as other less know colleagues, and are not even gratified by virtuoso pieces. This did definitely displease to the virtuosi and did not help a possible recruitment of the musician by the court of the Empress. Maybe not yet aware of the vocal qualities of each singer, Zellbell wrote an operatic coloratura of medium difficulty despite having excellent professional singers and conceived almost all the arias with the „da capo“ form (many of which with „dal segno“, without instrumental introduction). Few exceptions can be found in the three arias assigned to bass Ignaz Doll who played the role of Mercurio. They are located in the sixth scene of the first act („Gran diva non temer“ with AABB form), in the first scene of the second act („Del tuo glorioso nascere“ with AABAAB form) and in the sixth scene of the second act („Come il destin volea“ with AA’B form). In conclusion we can say that the only two Feste represented at the Russian court during the period 1731–1762 are still very strong evidence of a link with the literary model of Metastasio and with the musical pattern that many composers had established in the Feste performed in the courts of Naples and Vienna. Of the two Feste only Il giudizio di Aminta offers some new elements that can be traced into the division in scenes and in the composition of new forms of arias. These elements, which would bring this Festa closer to the changes that Gluck and Calzabigi were to introduce in the Festa Orfeo e Euridice in 1762, however, are contradicted by a constant reference to the Baroque style and by a musical setting tenaciously close to an outdated tradition.

„Oh raggi di splendor celeste“ + Fedeltà e amor vassallo

Serenata a tre voci (Lidia, Daliso e Momo) + Cantata „È pur bel un regal soglio“

La gara dell’amore e del zelo

La Russia afflitta e riconsolata

L’asilo della pace

1731

1731

1736

1742

1748

1751? La corona di Alessandro Magno

Title

Year

Coronation anniversary of Elizabeth –

Serenata

Coronation day of Elizabeth

Coronation anniversary of Anna Ioannovna

Nameday of the King of Poland August II

Coronation day of Anna Ioannovna

Occasion

Festa teatrale

Prologo to Hasse’s La clemenza di Tito

Cantata a due voci

Serenata – Cantata

Cantata

Description

Giuseppe Bonechi

Giuseppe Bonechi

St. Petersburg

St. Petersburg

Jacob von Stählin

?

?

Antonio de Wolsky (?)

Text

Moscow

St. Petersburg (?)

Moscow

Moscow

Place

Francesco Araja (?)

Francesco Araja

Domenico Dall’Oglio

Francesco Araja

Giovanni Alberto Ristori

Giovanni Verocai

Music

Cast: Caterina Giorgi (Alessandro), Nunziata Garrani (Zemira), Pietro Compassi (Otanasar), Filippo Giorgi (Efesto), M. Poltoratzky (Clito), Lorenzo Saletti (Eumene)

Cast: Lorenzo Saletti (Giove); Caterina Mazany (Pace); Cristina Rothenstein Passarini (Marte). Ballets: Fossano (A. Rinaldi)

Cast: Caterina Giorgi (Rutenia), Rosa Ruvinetti (Astrea)

Cast: La Fama (S), La Gloria (S)

Cast: Margherita Ermini (Lidia); Johann Wilcke (Daliso); Cosimo Ermini (Momo)

Cast: Ludovica de Wolsky (?, S)

Remarks

202 | Francesco Paolo Russo

1 Annex: Musical celebrations in Moscow and St. Petersburg

Title

Amor prigioniero

Urania vaticinante

Il retiro degli Dei

Il giudizio d’Aminta

La Galatea

La musica trionfante

Le cinesi

Year

1755

1757

1757

1758

1760

1761

1761

Componimento drammatico che introduce un ballo

Pastorale

Pastorale eroica

Festa teatrale

Composizione drammatica che introduce un ballo di deità marine

Cantata con cori ad introduzione d’un ballo di popoli esultanti

Dialogo per musica

Description

Coronation anniversary of Elizabeth

_

Nameday of Elizabeth

Birthday of Elizabeth

Coronation anniversary of Elizabeth

Nameday of Grand Duke Peter



Occasion

S. Petersburg

S. Petersburg

St. Petersburg. Opera Buffa Theatre

St. Petersburg

St. Petersburg, Court Theatre

Oranienbaum

Oranienbaum

Place

Pietro Metastasio

Vincenzo Manfredini (?)

Vincenzo Manfredini

Francesco Zoppis

Pietro Metastasio

Ludovico Lazzaroni

Ferdinand Zellbell

Francesco Zoppis (Giovanni Rutini)?

Francesco Araja

Francesco Araja

Music

Ludovico Lazzaroni

Giovanni Battista Locatelli („direttore dell’opera buffa“)

Antonio Denzio

Pietro Metastasio

Text

Cast: Leonilde Brugioni (Lisinga); Antonio Massi (Silango); Francesca Buini (Tangia); Violante Massi (Siveno). Scenes: A. Carboni.

?

Cast: Leonilda Burgioni (Galatea); Antonio Massi (Acide); Gabriele Messieri (Polifemo); Violante Massi (Glauce)

Cast: Antonio Massi (Aminta); Francesca Buini (Diana); Maria Camati „La Farinella“ (Giunone); Matteo Buini (Il tempo); Ignaz Doll (Mercurio)

Cast: Maria Camati (Astrea); Rosa Costa (Minerva); Giovanna Locatelli (Apollo); Giovanna Vigna (Erilde); Andreas Elias Erhardt (The Neva river). Ballets: A. Sacco; Scenes: A. Peresinotti.

Cast: Nunziata Garrani (Urania). Ballets and scenes: A. Rinaldi.

Scenes: G. Valeriani and A. Parisinotti

Remarks

Festa teatrale: repraesentatio maiestatis in eighteenth-century Russia |

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Christoph Flamm

Peter III. – Macht und Ohnmacht der Musen Zar Peter III. saß vom 25. Dezember 1761 bis zum 29. Juni 1762 auf dem russischen Thron, insgesamt 186 Tage. Dann wurde er gestürzt – auf Betreiben und zugunsten seiner Gemahlin und Nachfolgerin, Katharina der Großen. Die Forschung¹ konzentrierte sich auf die folgenden Aspekte seines Lebens und Wirkens: Erstens auf die 1742 erfolgte Ernennung des vierzehnjährigen, voll verwaisten Herzogs Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorp zum russischen Thronfolger durch seine Tante, die kinderlose russische Zarin Elisabeth. Zweitens auf die 1745 geschlossene Ehe mit Prinzessin Sophie Auguste von Anhalt-Zerbst-Dornburg, der späteren Zarin Katharina der Großen. Diese Verbindung, aus der immerhin der spätere Zar Paul I. hervorging, litt unter zunehmender Entfremdung und war bald völlig zerrüttet. Die maliziösen Erinnerungen Katharinas zeichnen ein ebenso verheerendes wie einseitiges Bild von der menschlichen Unreife ihres Gatten, die sie durch strategische Liebschaften kompensierte. Drittens blieb Peter aufgrund seiner fanatischen Prussophilie in Erinnerung. Diese äußerte sich in seiner bedingungslosen Begeisterung für Friedrich den Großen wie in seiner 1500 Mann starken, überwiegend deutsch rekrutierten Garde wie seiner Vorliebe für preußische Uniformen und das Militär überhaupt. Viertens beachtete die Forschung die kurze Regierungszeit Peters wegen einiger politischer Handlungen: Durch Reforminitiativen wie die Abschaffung der Geheimen Kanzlei und der Folter erscheint Peter als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, zugleich vollzog er eine außenpolitische Kehrtwende. Der russische Friedensschluss mit Preussen läutete im Frühjahr 1762 das Ende des Siebenjährigen Krieges ein. Fünftens schließlich konzentrierte sich die Forschung auf das dramatische Ende seiner Herrschaft: Auf den Staatsstreich am 28. Juni (9. Juli) 1762, den anschließenden Thronverzicht Peters, seine Ermordung sowie das offizielle Manifest, das seinen Tod als Folge einer „hämorrhoidal verursachten Kolik“ hinstellte. Dabei war weithin bekannt, dass die Mörder dem Umkreis der Liebhaber und Günstlinge Katharinas angehörten und wenn nicht in ihrem Auftrag, so doch mit ihrer Billigung zu Werke gegangen waren.² Dieser letzte und spektakulärste Aspekt in der Biografie Peters III. ist einerseits durch die Vernichtung und Fälschung von Dokumenten und Urkunden,

1 Für eine ältere, aber noch immer grundlegende Gesamtdarstellung siehe Hedwig Fleischhacker, Porträt Peters III., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 5 (1957), S. 127–189. 2 Jüngere Forschungen gehen allerdings davon aus, dass Peters Tod eher nicht auf Anweisungen Katharinas zurückzuführen ist. Vgl. Claus Scharf, Tradition – Usurpation – Legitimation. Das herrscherliche Selbstverständnis Katharinas II., in: Russland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus, hrsg. von Eckhard Hübner, Köln 1998, S. 41–101, hier S. 65 (mit speziellen Literaturhinweisen). DOI 10.1515/9783110520224-015

Peter III. – Macht und Ohnmacht der Musen | 205

andererseits durch die Widersprüche in der Memorialliteratur und in Zeitzeugenberichten zu einer abenteuerlichen Herausforderung für Historiker geworden, die mit detektivischem Scharfsinn versuchen, sowohl die Faktenlage zu rekonstruieren wie auch diese Vorgänge, ihre Protagonisten und die betroffenen Parteien hinter ihnen zu interpretieren und bewerten. Insgesamt jedoch litt die Forschung zu Peter III. bis in die jüngere Zeit an einer noch unzureichenden Aufarbeitung der Archivquellen: So hat Marc Raeff 1995 das Paradoxon beschrieben, dass die so negativen Bilder von der Person des Zaren zur Bilanz seiner tatsächlichen Regentschaft in einem Widerspruch stünden, der bislang nicht aufgelöst werden könne, da die nötige Archivarbeit noch ausstünde.³ Tendenziell bildete in der westlichen Forschung die Rekonstruktion und Beurteilung der politischen Aktivitäten Peters III. sowie ihrer Auswirkungen, insbesondere im innenpolitischen Bereich, einen Schwerpunkt,⁴ während in der postsowjetischen Historik die Beschäftigung mit der Frage nach den Ursachen und Vorgängen des Sturzes Peters sowie nach dem Verhältnis zu seiner Frau Katharina im Vordergrund stand.⁵ In den letzten Jahren haben sich insbesondere russische Historiker um eine dokumentarische Aufarbeitung und zugleich um eine Rehabilitierung Peters bemüht. Das von Katharina so erfolgreich in die Welt gesetzte Bild vom holsteinischen Säufer, vom unflätigen Kindskopf, dessen chaotische Regentschaft das russische Reich in den Abgrund gestürzt hätte und zu dessen Sturz es im Sinne des Allgemeinwohls keine Alternative gegeben habe, musste inzwischen stark korrigiert werden. Jüngste Versuche, das Bild ganz umzudrehen und aus Peter III. eine tragische Heilsgestalt zu machen, stammen nicht aus der Feder seriöser Wissenschaftler, sondern von Journalisten⁶ oder Romanschriftstellern.⁷ Doch schon Peters Sohn und Nachfolger Katharinas auf dem Thron, Paul I., hatte jenes Zerrbild mit Nachdruck bekämpft und sich wie sein ermordeter Vater erneut leidenschaftlich nach Deutschland orientiert. Heute verfügen wir über einen insgesamt objektiveren Blick auf Peter III. Neben seinen unbestrittenen persön-

3 Viele Züge Peters werden sowohl von seinen Freunde wie Gegnern erwähnt und können kaum in Abrede gestellt werden. Marc Raeff, Peter III. 1761–1762 in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 1995, S. 219–231, hier S. 223 und 231. 4 Beispiele hierfür sind u. a. Claus Scharf, Die Regierung Peters III. in: Klaus Zernack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2: 1613–1856, Stuttgart 1986, S. 520–526 (mit weiterführender Literatur); Carol S. Leonard, Reform and Regicide. The Reign of Peter III of Russia, Bloomington 1993 (auf Grundlage der Diss. A Study in the Reign of Peter III of Russia, Ph.D. Indiana Univ. 1976). 5 Neuere russische Studien sind: Aleksandr Myl󸀠 nikov, Petr III. Povestvovanie v dokumentach i versijach, Moskva 2002; Oleg A. Ivanov, Ekaterina II i Petr III. Istorija tragičeskogo konflikta, Moskva 2007; Ol󸀠 ga I. Eliseeva, Tajna smerti Petra III, Moskva 2010. 6 Elena Palmer, Peter III. Der Prinz von Holstein, Erfurt 2005. 7 Gregor Samarov, Petr III. Na trone velikogo deda. Roman, Moskva 2002.

206 | Christoph Flamm

lichen Schwächen⁸ finden nun auch etliche wertvolle und weitsichtige Entscheidungen Berücksichtigung, doch bestehen weiterhin Unklarheiten. Etwa in Bezug auf die Frage nach dem persönlichen Einfluss des Zaren auf die fortschrittliche Gesetzgebung, die nach wie vor eher seinen Beratern zugeschrieben wird.⁹ So oder so sticht eine humane Grundtendenz ins Auge: „Die gesetzgeberischen Akte Peters III. waren durchdrungen vom hohen Geist der Menschenliebe und der Verbundenheit mit dem Vaterland. Und man kann es nur bedauern, dass das Schicksal so grausam zu diesem für Russland ungewöhnlichen Herrscher war.“¹⁰ Wie nun auch immer die menschlichen und die politischen Seiten Peters III. zu definieren und zu bewerten sein mögen: seine Bedeutung für die Musikgeschichte Russlands ist bisher nicht wirklich erschlossen worden, auch nicht durch die jüngeren russischen Arbeiten.¹¹ Zwar ließe sich im Hinblick auf die halbjährige Herrschaftszeit Peters III. von einer musikgeschichtlichen Marginalie sprechen, doch hat er schon in als Großfürst und Thronfolger viele Spuren in der russischen Musikgeschichte hinterlassen. Das Schloss Oranienbaum, das die Zarin ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, wurde bald zu einem musikalischen Zentrum. Welche Musik hier erklang, ist nur lückenhaft dokumentiert; auch Peters musikkulturelles Wirken während seiner kurzen Herrschaft liegt mehr oder weniger im Dunkeln.¹² Die Probleme sind dieselben wie in der allgemeinen historischen Forschung: Die Memorialliteratur ist widersprüchlich und problembehaftet, die eigentlichen Archivalien dagegen sind noch nicht weit genug erschlossen, sofern sie nicht für allgemeine russische Musikgeschichten des 18. Jahrhunderts von Bedeutung waren.¹³ Die Grundlage für eine weiterführende Beschäftigung mit Peters musikalischem Wirken bildet bislang der Eintrag, den Michail Voznesenskij 1999 in der mehrbändigen Enzyklopdie Muzykal󸀠 nyj Peterburg verfasst hat. Auch er ist zum Großteil auf die Ausführungen des Jacob von Stählin angewiesen, den universell gelehrten Erzieher und späteren Berater des Thronfolgers, kann diese Abhängigkeit aber durch Konfrontation mit der zeitgenössischen Petersburger Presse und anderen Dokumenten zumindest relativieren.¹⁴

8 Vgl. die kurze Charakterskizze bei Lindsey Hughes, Peter III, in: Encyclopedia of Russian History, hrsg. von James R. Millar, Bd. 3: M-R, New York 2004, S. 1173–1175. 9 Raeff, Peter III. 1761–1762 S. 223. Ebenso: Scharf, Tradition – Usurpation – Legitimation, S. 73. 10 V. A. Tomsinov, Zakonodatel󸀠 stvo imperatora Petra III: 1761–1762 gody. Zakonodatel󸀠 stvo imperatricy Ekateriny II: 1762–1782 gody, Moskva 2011 S. XXIII. 11 In der neuesten und umfassendsten Monographie nimmt die musikalische Facette des Protagonisten kaum zwei Seiten ein: Myl󸀠 nikov, Petr III., S. 71–72. 12 In Bezug auf Kunst und Architektur wurde Peters Oranienbaumer Zeit durch einen Kongress beleuchtet: V. I. Gribanov, u. a.: Zabytyj imperator. Materialy naučnoj konferencii, 11 nojabrja 2002 g., Sankt-Peterburg 2002. 13 Eine grundlegende spätere Einführung ist Robert-Aloys Mooser, Annales de la musique et des musiciens en Russie au XVIIIme siècle, Bd. 1, Des origines à la mort de Pierre III, 1762, Genève 1948. ˙ 14 Michail Voznesenskij, Art. Petr III, in: Muzykal󸀠 nyj Peterburg. Enciklopedičeskij slovar󸀠 Tom I: VIII vek, hrsg. von A. L. Porfir󸀠 eva, Kniga 2, Sankt-Peterburg 2000, S. 362–365.

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Am Wirken Peters besteht besonderes Interesse, weil dieser Zar im Gegensatz zu seinen Vorgängern an Musik nicht nur passiv interessiert war, also nicht nur im großen Stil Kammer- und Bühnenwerke erklingen ließ und mit hohem Aufwand Musiker engagierte, sondern als dilettierender Geiger Musik selbst aktiv ausübte, und das in großem Umfang. Dieser persönliche, unmittelbare Bezug zum Musizieren sowie die musikalischen Vorlieben des Großfürsten und Zaren, wie sie sich in seiner kulturellen Personalpolitik äußern, gestatten es, Gedanken allgemeinerer Art über den Stellenwert der Musik für Peter III. anzustellen. Dieser Beitrag möchte auf der Basis eines kurzen Porträts Perspektiven andeuten, wie sich Peters musikalische Interessen im „Interregnum“ zwischen Elisabeth und Katharina II. einordnen lassen und wie sie kulturgeschichtlich zu interpretieren sind, auch im Hinblick auf Katharinas konträre Geschmacksbildung. Seine musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten verdankte Peter III. einerseits dem Violinunterricht bei Johann Wilde (ab 1744) und Pietro Peri, andererseits den musikästhetischen und im weitesten Sinne musiktheoretischen Unterweisungen durch Jacob von Stählin in den 1740er Jahren. Über Stählins Unterricht sind wir durch dessen eigene Aufzeichnungen recht gut informiert. Die Erziehung hingegen, die Peter zuvor in seiner holsteinischen Heimat durch Oberhofmarschall Otto von Brümmer erhalten hatte, wird oft als brutal und verderblich beschrieben. Musik spielte in ihr jedenfalls keine besondere Rolle. Ein französischer Hoftanzmeister zwang den Prinzen, mit Hofdamen zu tanzen, die das Alter einer Großmutter hatten, was Peters lebenslange Abneigung gegen den Tanz erklärlich macht.¹⁵ Von der Abneigung seines Zöglings gegen das Tanzen (der darin ein ein Sinnbild französischer Kultur sah) zeugt auch ein Bericht Stählins über die Erziehung des Großfürsten in den 1740er Jahren: „Alle bemühten sich, gut zu tanzen, deshalb musste auch der Prinz seine Beine verbessern, obwohl er dazu kein Verlangen hatte. Viermal in der Woche quälte ihn dieser [Tanzmeister Jean-Baptiste] Landé und wenn er nach dem Essen mit seinem Geiger Gaillard erschien, so musste ihre Hoheit alles stehen und liegen lassen und tanzen gehen. Das reichte bis zu Balletten. Der Prinz musste auf den Hofmaskeraden mit den Fräulein tanzen, obwohl er dazu nicht im geringsten geneigt war. Den Aufzug der Soldaten während der Parade zu sehen, bereitete ihm weitaus grösseres Vergnügen als alle Ballette, wie er mir selbst bei gegebenem Anlass sagte.“¹⁶ Die Großfürstin Katharina dagegen entdeckte damals, in direktem Gegensatz zu ihrem Gatten, ihre Leidenschaft gerade für das Tanzen.

15 Vgl. dazu G. V. Kalašnikov, Zametki ob obrazovanii buduščego imperatora Petra III, in: Archeografičeskij ežegodnik za 2003 god, Moskva 2004, S. 131–148, hier S. 139–140. 16 [Jacob von Stählin]: Zapiski Štelina [o Petre III], in: Utro. Literaturnyj i političeskij sbornik 3, Moskva 1868, S. 309–362, hier S. 319. Die ausländischen Namen sind in der russischen Version oft fehlerhaft und entstellt. Ob der Geiger „Gajja“ tatsächlich Gaillard hieß, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden.

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Trotz seiner Abneigung gegen den Tanz war Peter stark an der Tonkunst interessiert, keinesfalls amusisch – auch dies wiederum in erklärtem Gegensatz zur Gattin Katharina. Dass innerhalb seiner enzyklopädischen Erziehung 1742–1745 auch die Musik einen gewissen Stellenwert besaß, mag angesichts des Übermaßes anderer Fächer und Inhalte nicht viel bedeuten. In einer wohl für die Zarin erstellten kurzen Zusammenfassung der Lerninhalte durch Stählin heißt es zur Musik: „Alle Arten und Stile der heutigen Musik und alle Musikinstrumente erklärt.“ Und zu Komödien und Opern: „Die Unterschiede zwischen Komödie und Tragödie und ihre wichtigsten Regeln gezeigt.“¹⁷ In der Musik galt Peters Vorliebe offenkundig den Italienern, die für ihn eine Art Kontrastfolie zu den Franzosen darstellen mochten. Stählin lässt dies in seinen Aufzeichnungen erahnen, wenn er nach einer weiteren Anekdote, die Peters Hass auf „diese ignoranten Franzosen“ zum Ausdruck bringt, anführt: „Aber umso mehr ist er den Italienern gewogen, und insbesondere den Musikern; seinen ehemaligen Lehrer auf der Violine, Peri, ernennt er zum Kapellmeister und entlässt den bisherigen ([Josef] Starzer aus Wien); er spielt selbst die erste Geige am Hof, unter der Leitung von Peri, und wünscht, dass alle vornehmen Dilettanten, die einst in seinem Konzert spielten, auch an den Hofkonzerten teilnehmen, nämlich die beiden Brüder [Aleksandr und Lev Aleksandrovič] Naryškin (beide Ritter des Andreas-Ordens), der wirkliche Staatsrat [Adam Vasil󸀠 evič] Olsuf󸀠 ev, die Staatsräte [Grigorij Nikolaevič] Teplov und Stählin, einige Gardeoffiziere und andere. Er besitzt einen Vorrat ausgezeichneter Geigen, von denen manche um 400 bis 500 Rubel kosten. Er möchte aus Padua den alten [Giuseppe] Tartini nach Peterburg verschreiben, zu dessen Schule er auch sich zählt. Aus Bologna kehrt der Kapellmeister [Gaillard] zurück.“¹⁸ In seinen Nachrichten von der Musik in Russland porträtiert Jakob von Stählin die geigerischen Fähigkeiten seines ehemaligen Zöglings und Dienstherrn mit wohlwollender Ironie, hinter der aber unverkennbar eine ernste Passion aufscheint: „Dieser Herr hatte zum Zeitvertreib von einigen Italienern so viel Violin spielen gelernt, daß er eine Sinfonie, Ritornellen zu Italienischen Arien etc. mitspielen konnte. Und weil, wenn er auch zuweilen falsch griff, oder über eine schwere Stelle wegrutschte, seine Italiener doch immer einmal darzwischen zu rufen pflegten: bravo, Altezza, bravo! so glaubte er bei seinem durchdringenden Bogenstrich selbst, er spiele mit so viel Richtigkeit und Schönheit, als er wirklich Geschmack in der Musik besaß. Dahero wurde auch die Musik überhaupt, und besonders die Violin, bei ihm zu einer der stärksten Leidenschaften. Wo er nur von einer vortrefflichen Violin hörte, mußte sie ihm werden, sie mochte auch kosten, was sie wollte. Er besaß also nach und nach einen rech-

17 [Stählin], Zapiski Štelina, S. 359. 18 [Stählin], Zapiski Štelina, S. 345.

Peter III. – Macht und Ohnmacht der Musen |

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ten Schatz kostbarer alten Cremoneser, Amiatischen, Stainer, und andrer berühmten Meister Geigen, deren er manche zu 4, 5, und mehr hundert Rubeln bezahlt hatte.“¹⁹ Stählin beschreibt auch Peters aktive Mitwirkung an der Musikpflege am Großfürstlichem Hof in Oranienbaum. Im Winter gab es dort einmal pro Woche ein großes Konzert von 4 Uhr bis 9 Uhr abends. Hier spielten und sangen Musiker, die der Großfürst selbst in seine Dienste genommen hatte, aber auch die Kastraten und italienischen Musiker der zarischen Kammerkapelle, und vor allem: Peter selbst an prominentester Stelle. „Der Großfürst selbst spielte allezeit die erste Violin, vom Anfang des Concerts bis ans Ende, mit, und Seiner Kaiserlichen Hoheit zu Gefallen verschiedene Hof-Cavaliers, Officiere, und andre Dilettanti von Stande, auf den Instrumenten, worinn sie geübt waren: so daß das Concert selten unter 40 bis 50 Personen begriff.“²⁰ Auch Stählin nahm als Flötist regelmäßig an diesen Konzerten teil. Die Integration adliger Dilettanten in ein Ensemble von Berufsmusikern ist natürlich kein Einzelfall (noch Glinka wird ja seine musikalische Erziehung in solchen gemischten Dilettantenorchestern auf adligen Landsitzen absolvieren), aber das Ausmaß, mit dem Peter wöchentlich fünfstündige Konzerte am Pult der 1. Violine bestritt, scheint doch beispiellos zu sein. Dass seine geigerischen Qualitäten den Werken und Hörerwartungen nicht gerecht wurden, hat Stählin, wie oben zitiert, mit feinem Humor kommentiert. Peters Gemahlin und spätere Zarin Katharina dagegen sprach davon mit unverhohlener Häme, so dass die Vorstellung entstand, Peter habe sie geradezu absichtlich mit seinem Violinspiel gequält. So berichtet sie in ihren Memoiren von einem Aufenthalt in Moskau im Winter 1748: „Der Großfürst kannte damals nur zwei Beschäftigungen: einmal, auf seiner Violine zu kratzen, und dann Hunde, sogenannte Charlots, für die Jagd abzurichten. So mußte ich mir von sieben Uhr morgens bis sehr spät in die Nacht meine Ohren entweder von den Mißtönen, die er mit gewaltiger Energie seiner Geige entlockte, zerreißen lassen, oder von dem Gebell und dem entsetzlichen Geheul der fünf oder sechs Hunde, die er den übrigen Teil des Tages hindurch grausam verprügelte. Ich muß sagen, ich war außer mir und litt schrecklich unter beiden Sorten von Musik, die von früh an bis spät in die Nacht mein Trommelfell peinigten. Höchstens die Hunde ausgenommen, war niemand so unglücklich wie ich.“²¹ Aber solchen Schilderungen stehen eben durchaus anderslautende Ohrenzeugenberichte gegenüber, beispielsweise die Erinnerung des späteren Agrarwissenschaftlers Andrej Bolotov an seine zur Militärzeit erfolgten Besuche der Courtage des Zarenhofs 1762: „Ich sah, wie

19 Stählin, Zur Geschichte des Theaters in Rußland. Nachrichten von der Tanzkunst und Balletten in Rußland. Nachrichten von der Musik in Rußland, in: August Ludwig Schlözer (Hrsg.), Johann Joseph Haigold’s Beylagen zum Neuveränderten Rußland, Tl. 1, Riga u. a. 1769, Faksimile-Nachdruck hrsg. von Ernst Stöckl, Leipzig 1982, II, § 41. 20 Stählin, Zur Geschichte des Theaters in Rußland, § 41. 21 [Katharina II.] Memoiren der Kaiserin Katharina II. Nach den von der Kaiserlich Russischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichten Manuskripten übersetzt und herausgegeben von Erich Boehme, Bd. 1, Leipzig 1913, S. 208.

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man dort Karten spielte und wie man tanzte, lauschte der schönen Musik, an der der Herrscher selbst teilnahm und auf der Violine zusammen mit den übrigen Konzerte spielte, und zwar ziemlich gut und geläufig.“²² Bei den repräsentativsten und kostspieligsten musikalischen Unternehmungen, also dem Musiktheater, setzte Peter in Oranienbaum starke Akzente. 1755 ließ er durch Rinaldi ein hölzernes zweistöckiges Logentheater im italienischen Stil erbauen, in dem jährlich Opern aufgeführt wurden. Stählin zufolge saß auch hier im Orchester allemal, „neben dem Concertmeister, bei der ersten Violin, der Großfürst selbst, der die ganze Oper hindurch eifrigst mitspielte, und sich einmal gar bei einer Arie mit einer allein accompagnirenden Violin (Violino solo accompagnante), und am Schluß der Arie mir einer künstlichen Cadenz hören ließ; die denn allemal mit dem Händeklatschen der Logen und des Parterrs begleitet ward“.²³ Die Besetzung dieser Oranienbaumer Opernaufführungen war, wie Marina Ritzarev ausführt, multinational: „Die meisten Sänger waren Italiener, die Musiker überwiegend deutsch und die Balletttänzer (etwa 24) waren russisch, ausgenommen sieben französische und italienische Solisten.“²⁴ Die Leitung oblag dem Hofkapellmeister Francesco Araja. Dieser kehrte aber nach fast einem Vierteljahrhundert Petersburg den Rücken und nach Italien zurück, weil das Interesse an der Opera seria schwand und weil man sich am Hof plötzlich für den deutschen Hermann Friedrich Raupach begeisterte und damit Arajas Stolz verletzte. Raupach erhielt unter Elisabeth zunächst Arajas Posten. Doch sofort nach dem Tod der Zarin entließ Peter III. Raupach wieder zugunsten von Vincenzo Manfredini. Manfredini war Ende der 1750er Jahre mit Locatellis Opera-buffa-Truppe nach Russland gekommen und hatte hier 1760 mit seiner ersten Opera seria Semiramide riconosciuta einigen Erfolg gehabt. Peters persönliche Vorlieben führten nicht nur zu dieser Umbesetzung, sondern auch dazu, dass sein ehemaliger Violinlehrer Peri Konzertmeister und Araja erneut aus Neapel bestellt wurde; Giuseppe Tartini und Baldassare Galuppi kamen auf die Wunschliste. Im Gegenzug gegen diese Invasion von Italienern befahl Peter, die Gespräche über eine Verlängerung des Vertrages der französischen Operntruppe abzubrechen.²⁵ Manfredini schrieb eine Trauermusik auf den Tod von Elisabeth, die im Februar 1762 aufgeführt wurde, sowie eine Festkantate zum Abschluss des Friedens mit Preußen, La pace degli eroi, die am 3. Juni 1762 zu Gehör gebracht wurde.²⁶ Dass diese Veranstaltungen stattfanden, obwohl das vorgeschriebene Trauerjahr für

22 Andrej T. Bolotov, Žizn󸀠 i priklučenija Andreja Bolotova, opisannye samim im dlja svoich potomkov, 1738–1793, Bd. 2, Sankt-Peterburg 1871, Sp. 199. 23 Bolotov, Žizn󸀠 i priklučenija, Bd. 2, Sp. 199. 24 Marina Ritzarev: Eighteenth-Century Russian Music, Aldershot 2006, S. 67. 25 Nach Voznesenskij, Petr III, S. 363. 26 Zu Inhalt und Überlieferung der für Peter geschriebenen Festkantaten (darunter L’Union de l’amour et du mariage zur Hochzeit am 21. August 1745 und Urania vaticinante zum Namenstag des Großfürsten am 7. Juli 1757) vgl. Natalija A. Ogar󸀠 kova: Ceremonii, prazdnestva, muzyka russkogo dvora. XVII – načalo XIX veka, Sankt-Peterburg 2004, S. 50–55 und S. 72–73.

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Elisabeth eigentlich absolute Stille verlangte, war nichts Außergewöhnliches: Als Katharina wenige Monate später den Thron bestieg, durchbrachen die Festklänge ihrer Inthronisierung ebenfalls die Totenruhe (und zwar vom 22. bis 29. September sowie am 1. Oktober).²⁷ Inwiefern ist Peters musikbezogene Personalpolitik das Resultat persönlicher Kontakte und individueller Vorlieben, inwiefern spiegelt sie allgemeine Stilentwicklungen und Rezeptionsformen wider? Dass er den Deutschen Raupach bei erster Gelegenheit entlässt, zeigt zumindest, dass die Liebe zur deutschen Kultur auf dem Gebiet der Musik an ihre Grenzen stieß. Die Einsetzung sowohl von Manfredini als auch von Peri als Konzertmeister sind sicherlich auf die engen persönlichen Beziehungen zurückzuführen: beides waren in gewisser Weise ‚seine‘ Musiker. Und mit dem Wunsch, unter anderem Galuppi zu gewinnen, verband sich die Erkenntnis, dass die Opera seria zu einem steifen Auslaufmodell zu werden drohte, während das Bedürfnis nach Delektion zunehmend von der Opera buffa geweckt und gedeckt wurde. Was sich in Peters Handlungen also abzeichnet, ist eine Mischung aus individuellem Interesse und allgemeinem Geschmack. Araja folgte Peters Rückruf nach Petersburg tatsachlich, er musste aber nur wenige Monate spater nach dem Tod des Zaren wieder abreisen, diesmal endgültig. Denn Katharina drehte so manches Rad, das ihr unfreiwillig aus dem Leben geschiedener Gatte bewegt hatte, wieder zurück. In Michail Voznesenskijs Artikel zu Peter III. ist zu lesen: „Der Bestand seiner Musiker, Tänzer und Künstler wurde zum größten Teil von Katherina II. aufgelöst (Erlass vom 8. August 1762).“²⁸ Allerdings findet sich weder im 1830 publizierten 16. Band der Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, noch in den 1904 im 11. Band des Senatskij archiv veröffentlichten staatlichen Erlassen von Katherina II. aus dem Jahr 1762 ein Dokument, das diesen Vorgang konkret benennen würde: Am 8. August wurde zwar tatsächlich eine stattliche Reihe von Erlassen verkündigt, in denen Entscheidungen Peters III. rückgängig gemacht wurden, etwa in der Militärorganisation, so im Gesetz Nr. 11 640 über die Rückführung der Kadettenkorpusse in den Stand unter Zarin Elisabeth.²⁹ Von irgendwelchen Musikern ist hier jedoch nie die Rede. Möglicherweise kann hier eine noch tiefere Durchleuchtung der Akten für Klärung sorgen. Es scheint sich aber doch abzuzeichnen, dass von einer gezielten und sofortigen Zerschlagung der kulturellen Strukturen am Hof Peters III. nicht wirklich die Rede sein kann. Ein persönlicher Racheakt, der sich spontan entladen hätte, ist auf diesem Gebiet nicht erkennbar, ebenso wenig wie sie „mit den Parteigängern ihres Gemahls konsequent abgerechnet hätte“.³⁰ Aber mittelfristig mag Katharina durchaus eine geschmackliche Abgrenzung von den Vorlieben des verhassten Ehemanns vollzogen haben. So erneuerte sie den Ver27 28 29 30

Nach Ogar󸀠 kova, Ceremonii, S. 28. Voznesenskij, Petr III. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii s 1649 goda, Bd. 16, Sankt-Peterburg 1830, S. 48. Scharf, Tradition – Usurpation – Legitimation, S. 67.

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trag der französischen Truppe, den Peter III. nicht verlängern wollte. Doch seit der unter Anna Ivanovna 1735 zum Kapellmeister berufene Francesco Araja die russische Hofmusik italianisiert hatte, war es Anliegen des russischen Hofes geblieben, dem europäischen Geschmack zu entsprechen und die aktuelle Mode aufzugreifen. Das Leitbild blieb das italienische Musiktheater. Die französische Oper war zu diesem Zeitpunkt eher isoliert, die deutsche selbst stark italianisiert. In der allgemeinen Ausrichtung der Hofmusik an der italienischen Oper gibt es zwischen Elisabeth, Peter III. und Katharina II. kaum gravierende Unterschiede: In ihrer Funktion als Signal für europäisches Niveau wie auch durch ihre musikgeschichtliche Aktualität blieb Italiens Musik der Maßstab, ganz gleich wie sehr die russischen Herrscher persönlich eher die deutsche oder die französische Kultur bevorzugten. Während die immense kulturelle Bedeutung und Ausstrahlung des großfürstlichen „kleinen Hofes“ in Oranienbaum kaum zu bezweifeln ist, bleibt das kulturelle Wirken Peters III. als Zar umstritten. Die Musikhistorikerin Tamara Livanova hat die von Stählin beschriebene Funktion eines „Beschützers der Musen“ als reine Legende abgetan.³¹ In seinen Gesetzen und Erlassen werden die Künste, Musik und Musiker so gut wie nie erwähnt, abgesehen von der Gewährung eines Privilegs für Aufführungen deutscher Komödien an Johann Friedrich Neuhoff und seine Frau Johanna Eleonore im Erlass Nr. 11483 vom 22. März (2. April) 1762.³² Bei der Festlegung einer jährlichen Summe von 260.000 Rubel für den Hofstaat im Erlass Nr. 11307 vom 7. (18.) Januar 1762 werden als Verwendungszweck unter anderem auch „Theatersachen“ (teatral󸀠 nye vešči) genannt.³³ Welche musikalischen Spuren hat Peter also tatsächlich hinterlassen – und welche wurden ausgewischt? Verbergen sich hinter den abrupten Umwälzungen der Hofmusik sowohl bei seinem Antritt auf dem Zarenthron 1761 wie auch bei der Beseitigung seiner Person und Taten 1762 ästhetische Interessen, oder handelt es sich nicht eher um machtpolitische Manöver der Vergeltung? Wenn die Musik für Peter III. eines der wichtigsten Merkmale der Selbstidentifikation gewesen sein sollte, konnte Katharina dann mit dem kulturellen Konterfei ihres Gegners zugleich dessen politische Fußabdrücke auslöschen? Solche und ähnliche Fragen bedürfen weiterer Forschung. Die Beschäftigung mit Peter III. und seiner Musikliebe ist interessant jedenfalls auch im Hinblick auf die Selbstdarstellung Katharinas. Es scheint, als habe sie umso vehementer ihre eigene Unmusikalität thematisiert, je übertriebener Peter seine Musikalität herausstellte. Selbst ihre ostentativ zur Schau gestellte Liebe zum Tanz sticht geradezu programmatisch von der Tanzaversion Peters ab. Ihre Rhetorik der Unmusikalität hat jüngst Melanie Wald-Fuhrmann als Regierungstaktik gedeutet:³⁴ Während alle anderen durch

31 Nach Voznesenskij, Petr III, S. 365. 32 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii s 1649 goda, Bd. 15, Sankt-Peterburg 1830, S. 954. 33 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii s 1649 goda, Bd. 15, Sankt-Peterburg 1830, S. 883. 34 Melanie Wald-Fuhrmann, Ratio vs. sensus: Katharinas II. Rhetorik der Unmusikalität als aufklärerischer Diskurs?, in: Die Tonkunst 7 (2013), H. 1, S. 17–22.

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Musik subjektiv berührt und damit gelenkt würden, stehe sie selbst abgeklärt über solchen Empfindungen und behalte gerade dadurch die Zügel der Ratio in der Hand. Ihre sogenannte Unmusikalität wirkt aber darüber hinaus wie ein bewusster Gegenentwurf zu Peter, der als Orchestergeiger zwischen Musikern und Offizieren ja auch seine Herrscherstellung permanent preisgab, sich im Musizieren gemein machte, eine Tendenz zur spielerischen oder inszenierten Enthierarchisierung, über die sich Katharina in ihren Memoiren mehrfach entsetzte. Katharinas eigene Einstellung gegenüber der Musik ist daher wohl ein echter, wenn auch möglicherweise unbewusster Reflex auf ihre Zeit als Großfürstin in Oranienbaum. Das wäre dann tatsächlich ein schönes Beispiel für die Macht und Ohnmacht der Musen: Während die Musik offensichtlich Peter ganz erfüllte und seinen Lebensstil prägte, war er politisch eine eher schwache, zumindest leicht angreifbare Figur; Katharina dagegen war keine inspirierte Führerin der Musen wie Apoll, sondern ihre nüchterne Befehlshaberin – und erwies sich vielleicht gerade darin als starke Politikerin. Welche Entwicklung aber Russlands Musikkultur genommen hätte, wenn Peter III. auf dem Thron geblieben wäre, lässt sich kaum ausmalen. Schon Stählin nannte Peters Regentschaft einen „Zeitpunkt, der für die Musik in Rußland unfelbar der ansenlichste worden wäre, den sie jemals wo in Europa gehabt haben mag, und der sie vielleicht bis zur Ausschweifung vermert und erhöhet haben würde, wenn er seinen Bestand erlebt hätte.“³⁵ Vielleicht wäre Petersburg nicht nur ein, sondern das europäische Musikzentrum des 18. Jahrhunderts schlechthin geworden. Vielleicht hat Katharinas Kulturpolitik, betrachtet aus der Perspektive Peters III., keine Beschleunigung, sondern eine gewisse Drosselung der russischen Musikentwicklung bewirkt, womöglich gespeist aus dem in ihrer eigenen Biografie wurzelnden Wunsch nach Invertierung der Werte des gemeuchelten Gatten, nach einer Auslöschung seiner Person über den Tod hinaus.

35 Stählin, Zur Geschichte des Theaters in Russland, II, § 54.

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Autorenverzeichnis Norbert Angermann, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Ostberlin und Hamburg, 1977–2002 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Schwerpunkt: Osteuropäische Geschichte am Hamburger Historischen Seminar. Forschungsgebiete: Geschichte der Baltischen Länder, des hansischen Osthandels und der älteren deutsch-russischen Kulturbeziehungen. Maria Di Salvo studierte Slawistik in Florenz (Abschluss 1970). Als Professorin unterrichtete sie in Genua, Pavia, Pisa und Mailand, wo sie emeritierte. Sie ist Autorin zahlreicher Arbeiten über die russische Literatur und die russisch-europäischen Kulturbeziehungen der Neuzeit. Sabine Ehrmann-Herfort studierte Musikwissenschaft und klassische Philologie und Philosophie an den Universitäten Tübingen und Freiburg i. Br., wo sie 1986 mit einer Arbeit zu Monteverdi promoviert wurde. Seit 2002 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Christoph Flamm ist Professor für Musikwissenschaft an der Musikhochschule Lübeck. Er arbeitete als Redakteur der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, als wissenschaftlicher Angestellter an der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom und lehrte an den Universitäten Saarbrücken, Berlin (UdK) und Klagenfurt. Anna Giust studierte die Fächer Slawistik, Musikologie (Abschlüsse in Venedig 2004, 2008) und klassische Gitarre (Vicenza 2008). An der Universität Padua promovierte sie zum Thema „Towards Russian Opera: Growing National Consciousness in 18thCentury Operatic Repertoire“ (2012). Seitdem erfüllte sie Lehraufträge und Fellowships an verschiedenen italienischen und Schweizer Universitäten. Larisa Khalfina verfügt über Studienabschlüsse in Orchestermusik (Staatliche Musikhochschule „Gnesin-Institut“, 1987), Linguistik und interkulturelle Kommunikation (Moskauer Staatsuniversität, 1999), sowie Musicology and Performance (Oxford 2005). Sie unterrichtet derzeit am Lyceum der Higher School of Economics. Natalija Ogarkova ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin der Musikabteilung des Russischen Instituts für Kunstgeschichte und Professorin an den Lehrstühlen für interdisziplinäres Studium und Praxis in der musischen Abteilung der Staatlichen Universität St. Petersburg sowie für Erziehung und Berufsausbildung an der Staatlichen Pädagogischen Universität „Alexander Herzen“.

234 | Autorenverzeichnis

Roland Pfeiffer studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Vergleichende Religionswissenschaft in Bonn und Perugia. 2007 promovierte er in Köln über Opern des italienischen Komponisten Giuseppe Sarti. 2008–2015 hat er an der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziertes Projekt zur Erschließung, Auswertung und Digitalisierung zweier römischer Privatsammlungen von Opernmanuskripten geleitet und das Material für die Datenbanken RISM und Partitura aufgearbeitet. Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei der Oper des 18. und 19. Jahrhunderts. Irina Polozova hat sich in Kunstgeschichte habilitiert und ist Professorin am Lehrstuhl für Musikgeschichte des Staatlichen Konservatoriums Saratov. Ljudmila Posochova studierte in Char󸀠 kov, wo sie 1996 promoviert wurde und sich 2012 habilitierte. Derzeit ist sie Professorin am Lehrstuhl für ukrainische Geschichte der Nationalen Vasilij-Karazin-Universität Char󸀠 kov. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Char󸀠 kover Bildungseinrichtungen seit dem 17. Jahrhundert und deren Bedeutung für die Aufklärung in der Ukraine und dem übrigen Russischen Reich. Aleksandr Rogožin promovierte 2014 über die Geschichte des russischen Militärs im 17. Jahrhundert. Er arbeitet als Dozent am Musikalischen College Orel. Krzysztof Rottermund studierte in Wrocław (Breslau) Musiktheorie und wurde in Warschau promoviert. 2006 habilitierte er sich wiederum in Wrocław und ist derzeit Professor an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań (Posen). Seine Forschungsschwerpunkte sind der Musikinstrumentenbau und die polnische Musikkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Francesco Paolo Russo studierte in Pavia (Abschluss 1988), wurde 1996 in Cremona mit einer Arbeit über Giovanni Paisiello promoviert und unterrichtete seitdem an den Universitäten Cosenza, Rom und Valladolid (Spanien). Sein Forschungsschwerpunkt sind Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts wie Paisiello und Nicolò Piccinni. Ljudmila Sukina ist habilitierte Historikerin und Professorin an der Moskauer Pädagogischen Staatsuniversität (Filiale in Sergiev Posad) sowie Leiterin der geisteswissenschaftlichen Sektion der privaten Hochschule Pereslavl󸀠 -Zalesski. Andrej Topyčkanov ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Politik der Politologischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität.

Personenverzeichnis A Ablesimov, Aleksandr Onisimovič (1742–1783), russischer Dramatiker, Satiriker und Komödienautor 179 Acciaioli, Filippo (auch Acciaiouli; 1637–1700), italienischer Dichter, Librettist 125 Ackermann, Christoph 11 Albinoni, Tommaso (1671–1751), italienischer Violonist und Komponist aus Venedig 122 Aleksej Michajlovič (auch Aleksej I.; 1629–1676), 1645–1676 Zar von Russland, Vater Peters I.; Musikliebhaber, Komponist 10, 13, 14, 25, 29, 35, 37, 46–48, 50–54, 56, 57, 59, 60 Aljabev, Aleksandr Aleksandrovič (1787–1851), russischer Komponist, Pianist, Dirigent 164 Alstömer, Patric 200 Amorevoli, Angelo (1716–1798), italienischer Opernsänger aus Venedig 141 Andrej Bogoljubskij (1111–1174), Großfürst von Kiev 1 Andrievskij, Stepan, Hofsänger 101 Anerio, Giovanni Francesco (1567–1630), italienischer Komponist aus Rom 67 Anna (I.) Ivanovna (auch Anna Ioannovna; 1693–1740), 1730–1740 Zarin von Russland, Tochter von Ivan (V.) Alekseevič, Nichte Peters I. 70, 84, 105, 107, 111, 118, 127–129, 132, 135, 138, 166–168, 173, 189, 191–193, 212 Anna Michajlovna (1630–1692), Tochter des Zaren Michail Fedorovič 46, 57 Anne I. (1665–1714), 1700–1714 Königin von Großbritannien, Musikliebhaberin, Förderin der Oper 79 Antonij (Stachovskij) (1671–1740), russischer Mönch und Hierarch, Erzbischof von Černigov, später Metropolit von Sibirien (Tobol󸀠 sk) 89 Antonov, Dmitrij Igor󸀠 evič russischer Historiker (20./21. Jh.) 17 Apostol, Daniil Pavlovižč (1654–1734), ukrainischer Kosakenführer, 1727–1734 Hetman der linksufrigen Ukraine 91, 98 Apostol, Petr Danilovič (gest. 1758), Sohn des Hetmans, ukrainischer Kosak 106

Appiani, Guiseppe, Opernsänger 141 Araja, Francesco (1709–ca. 1770), italienischer Komponist aus Neapel, begründete in den 1730er Jahren die Oper in St. Petersburg 137, 157, 167, 168, 170, 171, 173, 186, 188, 192–194, 196, 197, 210–212 Argunov, Ivan Petrovič (1729–1802), russischer Porträtist, Leibeigener der Grafen Šeremetev 91 Asaf󸀠 ev, Boris Vladimirovič (1884–1949), russischer Musikwissenschaftler 165 August II. „der Starke“ (1670–1733), 1694–1733 Kurfürst „Friedrich August“ von Sachsen, seit 1697 zugleich König „August II.“ von Polen 65, 67, 71, 128, 129, 168 Ayrmann, Hans Moritz (1641–1710), Soldat aus Estland, hinterließ Aufzeichnungen von Reisen nach Russland 14 B Bach, Johann Sebastian 67 Balanovskij, Leontij 105 Balatri, Filippo (1682–1757), Opernsänger, Kastrat, Memoirist 84 Baranovič, Luka 88 Barclay, John (1582–1621), schottischer Dichter und Satiriker, Autor des Ritterromans „Argenis“ 77 Basil󸀠 evič, Vasilij Rektor des Kollegiums in Char󸀠 kov 95 Bawykin 71 Belajew 71 Belogradskij, Osip (geb. 1715), ukrainischer Sänger, Chorleiter und Komponist am russischen Hof 107 Belogradskij, Timofej (ca. 1700–1760), ukrainischer Sänger und Komponist, Bruder Osips 107 Bełza, Igor, sowjetischer Musikhistoriker 66 Berezovskij, Maksim Sozontoviž (1745–1777), ukrainisch-russischer Komponist 94, 102, 107 Berge, Gottfried 11 Bernacchi, Antonio Maria (1685–1756), italienischer Opernsänger aus Bologna, Altkastrat 140, 141

236 | Personenverzeichnis

Bernardi, Francesco (auch „Senesino“; 1686–1758), Kastratensänger aus Siena 77 Besov, Tomila, Zimbelspieler, 1614 am russischen Hof 60 Biron, Ernst Johann von, Günstling der Zarin Anna I., seit 1737 Herzog von Kurland, 1740 Regent Russlands, Graf des Heiligen Römischen Reiches, 1740–1761 in Verbannung 128 Biškovskij, Stepan 97 Bokhoven, Cornelius van (gest. 1678) 34 Bon, Girolamo, Leiter einer Operntruppe 135, 148 Bondarenko, Anna F., Historikerin 3, 5 Bonecchi, Giuseppe, Librettist 171, 172, 184–187, 192, 193, 197–199 Boris „Rimljanin“ (um 1340), Glockengießer 8 Bortnjanskij, Dmitrij Stepanovič (1751–1825), russischer Komponist 107, 165 Böttinger, Johann Friedrich (gest. 1731), russischer Gesandter in Hamburg (1709–1731) 112 Božkov, Fedor 104, 106 Bruijn, Cornelis de, Künstler, Reiseschriftsteller aus den Niederlanden 80 Buturlin, Ivan Andreevič (gest. nach 1672), Stol󸀠 nik am Zarenhof 10 C Caccini, Francesca (1587–1640), Komponistin aus Florenz 67 Całaj-Jakimienko, Aleksandra 74 Caldara, Antonio (1670–1736), italienischer Komponist aus Venedig 194 Calvocoressi, Michel Dimitri (1877–1944), Kritiker 164 Calzabigi, Ranieri de (1714–1795), italienischer Dichter und Librettist aus Livorno 201 Casanova, Giacomo (1725–1798), italienischer Abenteurer, Bibliothekar, Erfolgsautor 134 Casanova, Zanetta, Komikerin, Bühnenstar, Mutter von Giacomo 134 Casti, Giovanni Battista (1724–1803), italienischer Dichter und Librettist 192 Cebrikov, Roman Maksimovič (1763–1817), Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, Memoirist 95 Čekin, Ivan, Gerichtsbezirksältester in Pereslavl󸀠 -Zalesskij 28

Čertok, Michail Davidovič, Musik- und Militärhistoriker 40 Cesareo, Wiener Poet 192, 194, 195, 198 Cesarini, Carlo, italienischer Komponist 124 Cesti, Antonio 191, 198 Chanenko, Nikolaj Danilovič (1691–1760), Generalfahnenträger 106 Charlamovič, Konstantin Vasil󸀠 evič (1870–1932), russischer Historiker zur Kirchen- und Geistesgeschichte 92 Cimarosa, Domenico (1749–1801), italienischer Komponist 167, 172 Clemens XI. (1649–1721), 1710–1721 Papst 123, 124 Čochov, Andrej (1545–1629), russischer Glocken- und Kanonengießer 9 Collins, S., Leibarzt des Zaren Aleksej (I.) Michajlovič 36 Coltellini, Marco (1724–1777), Librettist 187 Cosimo III. de Medici (1642–1723), Großherzog von Toscana 77, 82, 83 Costanzi, Giovanni Battista (1704–1778), italienischer Komponist aus Rom 125, 126 Cricchi, Domenico, Opernsänger 134, 135 Cui, César Antonovič (1835–1918), russischer Komponist und Kritiker 164 Czeklinski, Debeslav, polnischer Botschafter 34 D Dall’Oglio, Domenico (1700–ca. 1764), italienischer Komponist 193 Darkevič, Vladislav Petrovič, russischer Historiker 5 Delubowski, St. 71 Denzio, Antonio (um 1730), Komponist und Opernsänger 192 Düben, Baron von, Musikförderer in Schweden 200 Dylecki, Nikolai A. (auch Dileckij; 1631–1681), Musiktheoretiker, Komponist aus Kiev, lebte später in Moskau 66–68, 71, 74, 97 E Eco, Umberto (1932–2016), italienischer Schriftsteller und Philosoph 17 Ekaterina Alekseevna 116 Elagin, Ivan Perfil󸀠 evič, russischer Beamter, Literat, Übersetzer 175

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Elisabeth I. (auch Elizaveta Petrovna; 1709–1761), 1741–1761 Zarin von Russland, Tochter Peters I. und Katharinas I. 118, 166, 167, 173, 174, 182, 190, 192–200, 204, 207, 210–212 Epifanij (Tichorskij), Bischof 100 Ermini, Cosimo 131 Ermini, Margherita 131 Esterházy, Fürst von 135 Evdokija Fedorovna (1669–1731), Tochter des Zaren Fedor Michajlovič 50, 53, 57 Evfimij II., 1429–1458 Erzbischof von Novgorod 8 Evstratov, V., Diener der Zarentochter Ekaterina Ivanovna, Herzogin von Mecklenburg 98

F Falk, Hans 9 Farinelli (eigtl. Carlo Maria Broschi; 1705–1782), italienischer Kastratensänger 77 Fedor Alekseevič (auch Feodor III.; 1667–1682), 1676–1682 Zar von Russland 46, 47, 49, 51, 52, 56, 58, 61, 88 Feodossija Alekseevna (1662–1713), Tochter des Zaren Aleksej I. 46 Filaret (Romanov) (1553–1633), Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche (1619–1633), Vater des 1613 gewählten Zaren Michail Fedorovič 22, 25, 58 Findejzen, Nikolaj Fedorovič (1868–1928), Musikhistoriker 3, 8, 165 Fioravanti, Aristotele (1415–1486), italienischer Baumeister aus Bologna, leitete den Bau der Moskauer Kremlkirchen 9 Florinskij, Kirill, Theologiestudent 91, 104 Fomin, Evstignej Ipat󸀠 evič (1761–1800), russischer Komponist 164, 165 Fontana, Agostino, Opernsänger, Soprankastrat 141 Fridzeri, Alexandre 176 Friedrich August von Sachsen 65 Friedrich I. „Barbarossa“ (1122–1190), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 1 Friedrich II. „der Große“ (1712–1786), König von Preußen 127, 129, 204 Friedrich Wilhelm (1620–1688), Kurfürst von Brandenburg, „Großer Kurfürst“ 11 Frjazin, Petr, Glockengießer 9

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G Galiani, Abt 172 Galuppi, Baldassare (1706–1785), italienischer Komponist aus Venedig 167, 172, 189, 210, 211 Ganusov, Kašpir, Kanonengießer 9 Garbažej, Il󸀠 ja N. 31 Gerasimova, Julija, Bibliothekarin 76 Gerhardt, Paul, Komponist evangelischer Kirchenlieder 10 Germogen, Archimandrit des Klosters Gorick in Pereslavl󸀠 -Zalesskij 27 Giorgi, Caterina, Opernsängerin 140, 141, 149 Giorgi, Filippo, Opernsänger 141, 144, 149 Glinka, Michail Ivanovič (1804–1857), russischer Komponist 164–166, 180, 181, 190, 209 Glinskaja, Elena (1508–1538), zweite Ehefrau des Großfürsten Vasilij (III.) Ivanovič, Mutter Ivans (IV.) „des Schrecklichen“ 58 Gluck, Christoph Willibald (1747–1787), deutscher Komponist 201 Gogol󸀠 , Nikolaj Vasil󸀠 evič (1821–1852), ukrainisch-russischer Schriftsteller 94 Golenevskij, Ivan, Sänger in Gluchov 94, 102 Golicyn, Boris Alekseevič (1651–1714), russischer Fürst, Bojar, Vertrauter Peters I. 79 Golicyn, Petr Alekseevič (1660–1722), russischer Fürst, Diplomat, Gönner von Filippo Balatri 75, 79, 83, 84, 120 Golicyn, Vasilij Vasil󸀠 evič (1643–1714), russischer Fürst, Bojar; Favorit der Regentin Sofija Alekseevna 10, 90 Golicyna, Dar󸀠 ja Lukinišna (geb. Ljapunova), Ehefrau des Fürsten Petr Golicyn, Gönnerin Filippo Balatris 80, 81, 84 Golovačevskij, Kirill Ivanovič (1735–1823), russischer Künstler, Grafiker, Porträtist 91, 102 Golovnja, Gavrila, Bassist, später Leiter des Hofchors 91, 97 Gomółka, Mikołaj (1535–1591), polnischer Komponist 67, 72 Gorczycki, Grzegorz Gerwazy 68 Gordon, Patrick (1635–1661), schottischer Offizier, seit 1661 in russischem Dienst, später General und Patron der katholischen Gemeinde in der Moskauer deutschen Vorstadt; Memoirist 82

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Gozenpud, Abram Akimovič (1908–2004), russischer Musikhistoriker 165 Gračev, Anton, Amtsschreiber in Pereslavl󸀠 -Zalesski 28 Gregorii, Johann Gottfried 12 Grimani, Vincenzo (1655–1710), Kardinal, Diplomat, Librettist 123, 124 Guasconi, Franceso, um 1700 in Moskau tätiger florentinischer Kaufmann 82 H Hamann, Johann Georg (1697–1733), Schriftsteller, Librettist für Telemann 117 Händel, Georg Friedrich (1685–1759), deutscher Komponist aus Halle 77, 124, 125 Hasenkroegh, Dirk, Hamburger Kaufmann 10 Hasse, Johann Adolph (1699–1783), Komponist 156 Herberstein, Sigismund von, kaiserlicher Diplomat, Publizist 15 Hertzberg, Casper, Musikant, Angehöriger der holsteinischen Gesandtschaft 11 Hesse, Hermann Dietrich 11 Hübner, Johann, Kapellmeister der Zarin 129 I Innozenz XII. (1615–1700), 1691–1700 Papst 123 Ioann (Maksimovič) 89 Ioasaf (Krokovskij) (gest 1718), Mönch, Hierarch, Gelehrter, 1708–1718 Metropolit von Kiev 90 Ioasaf I. (gest. 1640), Patriarch von Moskau (1634–1640) 25 Iona Sysoevič (1607–1690), Metropolit von Rostov und Jaroslavl󸀠 28 Irina Fedorovna (ca. 1557–1603), Ehefrau des Zaren Fedor Ivanovič, Schwester des Zaren Boris Godunov 60 Istomin, Karion (1640–1717), Dichter am Hof Fedor Ivanovičs 50, 53 Ivan (III.) Vasil󸀠 evič (1440–1505), Großfürst von Moskau (1462–1505) 9, 60 Ivan (IV.) Vasil󸀠 evič „der Schreckliche“ (1530–1584), 1547–1584 Zar von Russland 19, 20, 23, 56–58 Ivan (V.) Alekseevič (1666–1696), älterer, aber geistesschwacher Halbbruder von Peter I., gemeinsam mit diesem Zar von Russland (1682–1696) 46

Ivan Ivanovič (1554–1581), Sohn Ivans IV., von diesem erschlagen 56 Ivanov, Vasilij 103 J Jarzębski, Adam (1590–1649), polnischer Violonist und Komponist 68 Javorskij, Fedor 100 Jensen, Claudia, amerikanische Historikerin 3, 12 Johann II. Kasimir Wasa (1609–1672), 1648–1668 König von Polen 65, 67 Johann III. Sobieski (1629–1696), 1674–1696 König von Polen 65, 67 K Kačenovskij, F., Vorsänger am Hof 91, 104 Kafengauz, Berngard B. (1894–1969), russischer Historiker 76 Kalinovič, V. 91 Kantemir, Antioch Dmitrievič (1708–1744), russischer Diplomat und Dichter, Sohn Dmitrij Konstantinovič Kantemirs 168 Karlinsky, Simon (1924–2009), russisch-amerikanischer Theaterhistoriker 175 Karoł Ferdynand, Bruder von König Władysław, Bischof von Płock 68 Katharina I. (gest. 1727), 1725–1727 Zarin von Russland 182 Katharina II. (1729–1796), 1762–1796 Zarin von Russland 118, 167, 172, 174, 177, 187, 189, 204, 205, 207–209, 211–213 Katharina Ivanovna (1691–1733), Tochter des Zaren Ivan Alekseevič, seit 1716 Ehefrau Herzog Karl Leopold von Mecklenburgs, Großmutter des russischen Zaren Ivan (VI.) Antonovič 116 Kavos, Katerino Al󸀠 bertovič (1777–1840), italienischer Komponist 164 Kazem-Bek, Jan 73 Keith, Jacob (James) Francis Edward (1696–1758), schottischer General(-Feldmarschall) in russischem Dienst 101 ˙ Klejn, Eduard G. 31 Klenck, Coenraad van, niederländischer Kaufmann, Diplomat, Schriftsteller 35, 39 Kloljubakin, Jakov 34

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Kniper, Thomas, schwedischer Gesandter in Moskau 13 Kochanowski, Jan (1530–1584), polnischer Dichter 67 Kolenda 71 Korb, Johannes (1672–1741), Gesandtschaftssekretär, Buchautor 52, 79 Korenev, Ioannikij Trofimovič (gest. ca. 1681), russischer Musiktheoretiker 73 Kotošichin, Grigorij Karpovič (gest. 1674), russischer Diplomat, Emigrant 34 Kovalinskij, Michail, Schüler am Kollegium von Char󸀠 kov 95 󸀠 Koz min, Fedor, Sänger in der Kantorei des Patriarchen 59 Krokovskij, Ioasaf 95 Krylov, Ivan Andreevič (1769–1844), russischer Schriftsteller 177 Kurakin, Aleksandr Borisovič (1697–1749), russischer Diplomat, Sohn von Boris 116 Kurakin, Boris Ivanovič (1676–1727), Schwager Peters I., russischer Botschafter in Paris, Memoirist 48, 120, 125 Kurbatov, Ivan, Priester, vom Zaren nach Kiew geschickt 88 Kurbskij, Andrej (1528–1583), Fürst, Publizist, Emigrant, Kritiker Ivans IV. 20 Kvitka-Osnov󸀠 janenko, Grigorij Fedorovič (1778–1843), ukrainischer Schriftsteller, Dramatiker und Journalist 94 L Landuzzi, Anna, Opernsängerin 141 Lazar󸀠 (Baranovič) (1616–1693), ukrainischer Mönch, Hierarch und Gelehrter; Erzbischof von Černigov und Novgorod-Severskij 88 Lazzaroni, Lodovico, italienischer Librettist 175, 192, 197–201 Leblanc de Ferrières, Alexandre 176 Lehmann, Dieter 68, 69, 74 Leo, Leonardo (1694–1744), italienischer Komponist, wirkte in Neapel 138 Leščinskij, Filofej (1650–1727), russischer Mönch und Hierarch, seit 1702 Metropolit von Sibirien und Tobol󸀠 sk 89 Levaševa, Ol󸀠 ga Evgen󸀠 evna (1912–2000), russische Musikwissenschaftlerin (20. Jh.) 167 Lissa, Zofia (1908–1980) 66

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Ljubistkov, Grigorij 104 Lobanov, Matvej 28 Locatelli, Giovanni Battista (1713–1790), italienischer Operndirektor, wirkte um 1760 in St. Petersburg 173, 175, 192, 210 Losenko, Anton Pavlovič (1737–1773), ukrainisch-russischer Schriftsteller, Historienmaler 91 Lucker, Pavel Val󸀠 erevič, russischer Musikhistoriker (20./21. Jh.) 170 Ludwig XIV. (1638–1715), 1643–1715 König von Frankreich 111 Luka (Belousovič) (1752–1761), Archimandrit des Kiever Höhlenklosters 101 Lukin, Vladimir Ignat󸀠 evič (1737–1794), russischer Schriftsteller, Literaturtheoretiker, Freimaurer 176

M Madonis, Luigi (1690–ca. 1770), Komponist, Violonist 192 Magnus von Livland (1540–1583), dänischer Prinz, von Zar Ivan IV. zum „König von Livland“ ausgerufen 20 Maksimovič, Ioann 20 Manfredini, Vincenzo (1737–1797), iItalienischer Komponist und Musiktheoretiker aus Pistoia 192, 210, 211 Manojlov, Statthalter 25 Manstein, Christoph Hermann von (1711–1757), russischer General, Memoirist 135, 136 Marenzio, Luca (1533–1599), italienischer Komponist und Sänger aus Rom 67, 69 Marfa Alekseevna (1652–1707), Tochter des Zaren Aleksej Michajlovič, Halbschwester Peters I. 46 Marfa Matveevna (geb. Apraksina) (1664–1715), Ehefrau des russischen Zaren Fedor (I.) Alekseevič 57 Margarita von Cortona (1247–1297), italienische Ordensfrau, Franziskanerin, 1728 heiligesprochen; Titelheldin eines von Balatri verfassten Stücks 80 Marija Il󸀠 inična (Miloslavskaja) (1624–1669), erste Ehefrau des russischen Zaren Aleksej Michajlovič 23 Marija Vladimirovna (Starickaja) (ca. 1560–1597), russische Prinzessin,

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verheiratet mit König Magnus von Livland 20 Markovič, Jakov, Generalschatzmeister 106 Matinskij, Michail Alekseevič (1750–1820), russischer Komponist, Dramaturg, Übersetzer, Librettist 164 Matveev, Artamon Sergeevič (1625–1682), Bojar, Leiter des Außenamtes, Günstling des Zaren Aleksej Michajlovič, während des Strelitzenaufstands ermordet 10, 51 Matveev, Evgenij M. 116 Maximilian III. (1727–1777), Kurfürst von Bayern, Gönner von Filippo Balatri 11 Mazary, Caterina, Opernsängerin 141 Mazepa, Ivan Stepanovič (1639–1709), ukrainischer Hetman, Verbündeter Karls XII. 90 Mazura, Grzegorz, Trompeter 71 Menzies, Paul, schottischer Major, um 1672 in russischem Dienst 12 Meščerskij, A., Bojar, unterhielt einen Chor 60 Metastasio, Pietro (1698–1782), italienischer Librettist aus Rom, wirkte vornehmlich in Wien 142, 147, 149, 171, 172, 179, 192, 194, 195, 197, 198, 201 Meyerberg, Augustin, kaiserlicher Gesandter in Moskau 14 Michael III. (840–867), Kaiser von Byzanz 21 Michail (I.) Fedorovič (1596–1645), 1613–1645 Zar von Russland 22, 25, 44, 69 Michajlov, Grigorij, Bandura-Spieler 106 Michał Korybut Wiśniowiecki (1640–1673), 1669–1673 König von Polen 65 Mielczewski, Marcin (1600–1651), polnischer Komponist 68, 73 Mikołaj z Chrzanowa (1485–1562), polnischer Komponist und Organist 72 Mikołaj z Krakowa (16. Jh.), polnischer Komponist und Organist 72 Miloslavskij, Ivan Danilovič (ca. 1595–1668) Bojar, Vater der ersten Ehefrau des russischen Zaren Aleksej Michajlovič 51 Minin, Kuz󸀠 ma Ankudinovič (gest. 1616), russischer Kaufmann und Nationalheld, Organisator der antipolnischen Bewegung 1612 178 Mira, Pietro (genannt „Pedrillo“) 134, 138, 168, 192

Misliveček, Josef (1737–1781), böhmischer Komponist 194 Moleva, Nina Michajlovna (geb. 1925), Historikerin 51 Mons, Anna (1672–1714), Geliebte Peters I. 79, 81, 83, 84 Mooser, Robert-Aloys (1876–1969), Schweizer Musikhistoriker 139, 140, 149, 166, 167, 172, 173 Morigi, Pietro, Soprankastrat 141, 144 N Narežnyj, Vasilij Trofimovič (1780–1825), russischer Schriftsteller, Romancier 94 Naryškin, Lev Kirillovič (1664–1705), Bojar, Onkel Peters des Großen 49, 208 Natal󸀠 ja Alekseevna (1673–1716), russische Zarentochter, Schwester Peters I., Förderin des Theaters 57 Natal󸀠 ja Kirillovna (1651–1694), zweite Ehefrau von Zar Aleksej Michajlovič, Mutter Peters des Großen 49 Newmarch, Rosa (1857–1940), englische Musikwissenschaftlerin 164 Nikolaev, Leonid Vladimirovič (1878–1942), russischer Komponist, Pianist, Musikpädagoge 164 Nikon (1605–1681), Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche (1652–1666), Kirchenreformer, Förderer des Partes-Gesangs 25, 26, 28, 59, 60, 62, 72 O Oberacker, Niklaus, Glockengießer 9 Ogiński, litauischer Magnat, Fürst 71 Olearius, Adam (1599–1671), deutscher Schriftsteller, Gelehrter und Diplomat 11, 14, 21–24, 50 Olovjanišnikov, Nikolaj, Gelehrter 4 Ossovskij, Aleksandr Vjačeslavovič, Musikwissenschaftler 165 Ottoboni, Pietro (1667–1740), Kardinal, päpstlicher Vizekanzler 121–123, 125, 126 P Paisiello, Giovanni (1740–1816), Komponist 167, 172 Pallavicino, Stefano Benedetto (1672–1742), Librettist 129, 131, 168

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Pamphilj, Benedetto (1653–1730), Kardinal 122 Parfent󸀠 ev,

Nikolaj, russischer Musikwissenschaftler 58, 59, 61

Pariati, Pietro (1665–1733), italienischer Librettist, wirkte in Modena, Venedig und Wien 194 Paškevič, Vasilij Alekseevič (1742–1797), russischer Komponist 165 Paul (I.) (1754–1801), 1796–1801 Zar von Russland, Sohn Katharinas II., ermordet 164, 166, 204, 205 Paul von Aleppo (1627–1669), Archidiakon aus Aleppo, bereiste 1654–1656 das Moskauer Reich 56 Pekalickij, Simeon, Kantor 88 Pękiel, Bartłomiej 68 Perry, John, englischer Schiffbaumeister in Russland, Publizist 119 Peter I., „Peter der Große“ (auch Petr Alekseevič; 1672–1725), 1682–1725 Zar von Russland 1, 2, 13, 14, 29–31, 38, 46, 51, 53, 54, 56, 57, 61, 71, 75, 81, 84, 90, 96, 111, 112, 118–120, 123, 126–128, 166, 182, 189, 191, 199 Peter III. (1728–1762), 1761–1762 Zar von Russland, Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf 1739–1762, Musikliebhaber, Förderer der Oper 213 Petr (Metropolit) (gest. 1326), Metropolit von Kiev; verlegte seinen Amtssitz 1325 nach Moskau; Heiliger der russisch-orthodoxen Kirche 56 Petr (Smelič) (gest. 1744), russischer Mönch und Hierarch, seit 1721 Mitglied des Hl. Synods, seit 1725 Archimandrit des Petersburger Aleksandr-Nevskij-Klosters, seit 1736 Erzbischof von Belgorod und Obojanskij 117 Petraeus, Petrus (1570–1622), schwedischer Diplomat und Publizist 36 Petrovič, Ivan, Chorleiter 106 Petrunkevič, Petr 91, 103 Philips, Jacob 11 Piantanida, Costanza Posterla, Opernsängerin 149 Piantanida, Giovanni Gualberto Maria (1706–1773), Violonist 192 Platenschleger, Friedrich 11

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Plavil󸀠 ščikov, Petr Alekseevič (1760–1812), russischer Dramatiker, Schauspieler, Publizist, Übersetzer 177–180 Podol󸀠 skij, Matvej 104 Pogosjan, Elena, russische Historikerin, Philologin (20./21. Jh.) 116 Polacca, Eleonora Sermantina, Opernsängerin 141 Pollarolo, Carlo Francesco (1653–1723), italienischer Komponist und Organist aus Brescia, wirkte vornehmlich in Venedig 122 Poltorackij, Mark Fedorovič (1729–1795), Hofsänger, seit 1763 Leiter des Hofchors 94, 101, 103, 104 Popov, Ioasaf 103 Popovskij, Ivan Petrovič 91 Porfir󸀠 eva, Anna Leonidovna 188 Porpora, Nicola (1686–1766), italienischer Kapellmeister und Komponist aus Neapel 138, 141, 142, 192 Potocki, Wacław 65 Povetkin, Vladimir Ivanovič (1943–2010), russischer Musikwissenschaftler 3, 8 Praskov󸀠 ja Fedorovna (geb. Saltykova) (1664–1723), Ehefrau des russischen Zaren Ivan (V.) Alekseevič 57 R Racine, Jean (1639–1699), französischer Dramatiker 171 Račinskij, Andrej 91 Radziwiłł, Albrecht (1717–1790), polnisch-litauischer Magnat 71 Raupach, (Hermann) Friedrich (1728–1778), deutsch-russischer Komponist, wirkte in St. Petersburg 107, 172, 210, 211 Rautenfels, Jacob 12 Razumovskij, Aleksej Grigor󸀠 evič (1709–1771), ukrainischer Sänger, Favorit und heimlicher Ehemann der Zarin Elisabeth I. 105 Razumovskij, Kirill Grigor󸀠 evič (1728–1803), Bruder Aleksejs, russischer Offizier, Hetman der Ukraine 91, 105, 106 Redrikow 71 Riccoboni, Luigi, Autor, Dramaturg 170 Rinaldi, Antonio (1710–1794), italienischer Architekt, wirkte vornehmlich in St. Petersburg 210 Rinaldi, Antonio, Ballettmeister 148, 196

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Ristori, Giovanni Alberto (1692–1753), italienischer Komponist, Sohn von Tommaso; wirkte vornehmlich am sächsischen Hof 129, 131, 132, 134, 135, 137, 168, 192 Ristori, Tommaso 70, 128, 129 Rohaczewski, Andrzej, polnischer Komponist und Organist 70 Rojsman, Leonid 14 Romanov (Familie), russische Bojarenfamilie, stellte seit 1613 den Zaren 25, 44 Romanov, Nikita Ivanovič (1607–1645), Bojar, Verwandter der Zarenfamilie 10 Romenskij, Protopop am Kollegium in Char󸀠 kov 94 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778), Schweizer Philosoph 77 Różycki, Jacek (1635–1703), polnischer Komponist, Kapellmeister am Warschauer Hof, mutmaßlich Lehrer von Dylecki 67, 68, 74 Rtiščev, Fedor Michajlovič (1628–1673), Bojar, unterhielt einen Chor 60 Rubanovskij, Kirill 104 Rubanovskij, S. 104 Rumjancev, Aleksandr Ivanovič (1680–1749), russischer Offizier und Diplomat 100 Ruspoli, Francesco Maria (1672–1731), römischer Mäzen 124 Ruvinetti-Bon, Rosa, Opernsängerin, Ehefrau von Girolamo Bon 134, 135 Ruysch, Frederik (1638–1731), niederländischer Anatom, Botaniker, Sammler 84

S Sabaneev, Leonid Leonidovič (1881–1968), russischer Musikwissenschaftler, Kritiker, Komponist 71 Sablučko, Ivan Semenovič (1735–1777), ukrainisch-russischer Porträtmaler 91 Sacco, Antonio, Schauspieler, Komiker, Darsteller des Harlekin bzw. Truffaldino 192 Saletti, Lorenzo 196 Salmen, Walter (1926–2013), deutscher Musikhistoriker 2, 3 Saltykov, Semen Andreevič (1672–1742), Stadtkommandant von Moskau, Offizier

des Garderegiments „Preobraženskoe“, Verwandter und Günstling von Anna I. 115 Salvatore, Giovanni (1611–1688), italienischer Organist, um 1530 in Moskau 60 Sanin, Dmitrij, Statthalter 28 Sarti, Giuseppe (1729–1802), italienischer Komponist 172 Savin, Michail, Unterd󸀠 jak der kleinrussischen Kanzlei 88 Sbarra 198 Scacchi, Marco (1602–1662), italienischer Komponist, wirkte vornehmlich in Polen und Litauen 67, 69 Ščapin, Kuz󸀠 ma, Gerichtsbezirksältester in Perslavl󸀠 -Zalesski 28 Ščerbackij, Timofej, Sänger der Kiever Mohyla-Akademie 90, 103 Schlafly, Daniel L., Historiker 81 Schnitger, Arp (1648–1719), Hamburger Orgelbauer 14 Schumacher, Johann Daniel (1690–1761), Direktor der Bibliothek der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 113, 183 Schütz, Heinrich (1585–1672), deutscher Komponist, wirkte vornehmlich in Sachsen 12 Šejdjakov, Artemij, Fürst 22 Šepelev, Aggej Alekseevič (gest. 1688), russischer General, Mitglied der Bojarenduma 34 Šeremetev, Boris Petrovič (1652–1719), russischer Bojar, Feldmarschall, seit 1698 Ritter des Malteserordens 120 Šeremetev, Petr Borisovič (1713–1788), russischer Graf, General, Oberkammerherr 60 Sigismund (III.) Wasa 15 Sil󸀠 vestr, Beichtvater des Zaren Aleksej Michajlovič 19 Simeon (Polockij) (1629–1680), gelehrter Mönch, Schriftsteller, Dichter, Theologe, unterrichtete die Kinder des Zaren Aleksej (I.) Michajlovič 47, 49 Simeon Ivanovič „Gordij“ (1317–1353), Großfürst von Moskau 8 Skovoroda, Grigorij Savvič (1722–1797), ukrainischer Gelehrter, Lehrer am Kollegium in Char󸀠 kov 94, 104 Smelič, Petr 104

Personenverzeichnis

Smolenskij, Stepan Vasil󸀠 evič (1848–1909), russischer Musikwissenschaftler 165 Sof󸀠 ja Alekseevna (1657–1704), Tochter des Zaren Aleksej Michajlovič, Halbschwester Peters I., 1682–1689 faktische Regentin von Russland; 1698 zwangsweise zur Nonne geschoren 56, 61 Šolupin, Nikifor, Bürgermeister von Gluchov, und Musikkenner 99 Ssabanajew, L. 174 Staden, Nikolaus von, Offizier im russischen Dienst 11 Stählin, Jacob von (1709–1785), deutscher Literat, Gelehrter, Musiker und Theaterkritiker, wirkte in Russland 128, 136, 139, 141, 144, 146, 147, 149, 156, 157, 169, 171–173, 188, 190, 192, 206–210, 212, 213 Stanisław August Poniatowski (1732–1798), als „Stanisław II.“ 1764–1795 letzter König von Polen 65, 66 Starikova, Ljudmila Michajlovna, Musikwissenschaftlerin 166 Starobinski, Jean 78 Stasov, Vladimir Vasil󸀠 evič (1824–1906), Kritiker 164 Stefan (Vonifat󸀠 ev) (gest. 1656), Pfarrer der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml󸀠 , Beichtvater des Zaren Aleksej I. 23 Stöckl, Ernst, Musikhistoriker 2 Strube de Piermont, Frederic Henri (1704–1790), Staatsrechtler, Philosoph, Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 168 Sumarokov, Aleksandr Petrovič (1717–1777), russischer Dichter und Dramatiker 186 Susidko, Irina Petrovna, Musikhistorikerin 170 Szlakowski, Bartłomiej, Geiger 71

T Tanner, Bernhard, polnischer Diplomat, Publizist 37 Taruskin, Richard 180 Tasso, Torquato (1544–1959), italienischer Dichter 197 Tat󸀠 jana Michajlovna, Tochter des Zaren Michail Fedorovič 57

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Teimuraz I. (1589–1663), König von Kachetien 1605–1648 und Kartli 1625–1633 (Teilreiche in Georgien) 34 Telemann, Georg Philipp (1681–1767), deutscher Komponist, wirkte in Hamburg 67 Ternopol󸀠 skij, Fedor 88 Timofej (Maksimovič), Archimandrit 95 Titov, V. P., Komponist 71 Tolstoj, Petr Andreevič, Graf, russischer Diplomat, Chef der Geheimkanzlei 123, 125 Traetta, Tommaso Michele Francesco Saverio (1727–1779), italienischer Komponist aus Neapel 167, 172 Trediakovskij, Vasilij Kirillovič (1703–1769), Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Komponist 109 Trocina, Anton 103, 104 Trubeckoj, Aleksej Nikitič (1600–1680), Bojar, unterhielt einen Chor 60 Tutunov, V. I., Musik- und Militärhistoriker 39, 40 U Ušakov, Andrej Ivanovič (1672–1747), russischer Offizier und Beamter; Leiter der Geheimkanzlei 113 V Valesio, Francesco 123 Vasilij (III.) Ivanovič (1479–1533), 1503–1533 Großfürst von Moskau, Vater Ivans (IV.) Vasilévičs „des Schrecklichen“ 9, 57, 58 Vasilij, Priester in Pereslavl󸀠 -Zalesskij 29 Veličkovskij, Jakov 90 Verocai, Giovanni (1700–1745), italienischer Komponist, wirkte in St. Petersburg und Braunschweig 193 Verstovskij, Aleksej Nikolaevič (1799–1862), russischer Komponist und Bühnenschaffender 164 Vinci, Leonardo (1690–1730), italienischer Komponist aus Neapel 138, 141, 142, 148, 150, 195 Viskovatov, Aleksandr Vasil󸀠 evič (1804–1858), Militärhistoriker 30 Vittori, Loreto (1604–1670), italienischer Dichter, Kastratensänger und Komponist, wirkte vornehmlich in Rom 76

244 | Personenverzeichnis Vol󸀠 man, Boris L., russischer Musikhistoriker 113, 114, 116, 165 Volkov, Fedor Grigor󸀠 evič (1729–1763), Theaterorganisator, Regisseur, Schauspieler 178 Voroblevskij, Grigorij, russischer Librettist, wirkte in Moskau, Leiter der Bibliothek im Hause Šeremetev 176 Vossler, Karl, Philologe, Musikhistoriker 75–78 Vsevolodskij-Gerngross, Vsevolod Nikolaevič, russischer Musikwissenschaftler 170 Vyezžev, R. I., russischer Archäologe 4 W Wacław z Szamotuł (1524–1560), polnischer Komponist 67 Waldonn, Johann 11 Weber, Friedrich Christian, hannoverscher Gesandter in St. Petersburg 126 Wilhelmine von Preußen (1709–1758), Markgräfin von Bayreuth 135 Witsen, Nicolaas (1641–1717), Bürgermeister von Amsterdam, niederländischer Diplomat, Mentor Peters I., Publizist 39 Władysław IV. Waza (1595–1648), 1638–1648 König von Polen, Sohn Zygmunts III., 1610 als russischer Zar designiert 65, 67, 68 Wunnicke, Christine, Schriftstellerin, Musikhistorikerin 77

Z Zabelin, Ivan Egorovič (1820–1908), russischer Historiker und Archivar 50, 60 Zamarjewicz, Mikołaj 74 Zavadovskij, Gerasim, Mönchspriester 105, 107 Zellbell, Ferdinand (1719–1780), schwedischer Komponist 175, 192, 197, 199–201 Zeno, Apostolo (1668–1750), italienischer Dichter, Librettist und Journalist aus Venedig 194 Zguta, Russell, ukrainisch-amerikanischer Historiker, Folklorist 6, 17 Ziani, Marc’ Antonio (1653–1715), italienischer Komponist aus Venedig, wirkte in Wien 122 Zibulski 71 Zieleński, Mikołaj (ca. 1550–ca. 1616), polnischer Komponist 67, 69, 72 Živov, Viktor Markovič (1945–2013), russischer Historiker 55, 111, 115 Zjuska, Jan 74 Zoppis, Francesco (geb. 1715), italienischer Komponist aus Venedig 193 Žuravskij, Fedor 105 Zygmunt III. Waza (1566–1632), 1587–1632 König von Polen, 1592–1599 König von Schweden 69